Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO) [1 ed.] 9783428516551, 9783428116553

Kai Schollendorf untersucht, mit Hilfe welcher Methoden das höchste "Schiedsgericht" der Welthandelsorganisati

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Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO) [1 ed.]
 9783428516551, 9783428116553

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Rechtsfragen der Globalisierung Band 12

Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO) Von

Kai Schollendorf

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

KAI SCHOLLENDORF

Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO)

Rechtsfragen der Globalisierung Herausgegeben von Prof. Dr. Karl Albrecht Schachtschneider, Erlangen-Nürnberg

Band 12

Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge in der Spruchpraxis des Appellate Body der Welthandelsorganisation (WTO)

Von

Kai Schollendorf

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2005 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1619-0890 ISBN 3-428-11655-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Sommersemester als Dissertation angenommen. Sie befindet sich im wesentlichen auf dem Stand März 2003. Neuere Berichte des Appellate Body und ausgewählte Literatur wurden bis Anfang 2004 berücksichtigt. Bei der Anfertigung der Arbeit hat mich eine Vielzahl von Menschen unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte: Herzlich danken möchte ich meinem Doktorvater Professor Dr. Udo Fink, von dem ich viel Anregendes über das Völkerrecht gelernt habe. Während der Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Göttingen und Mainz hat er mir stets den erforderlichen zeitlichen und auch geistigen Freiraum gelassen und so erheblich zum Gelingen der Dissertation beigetragen. Bedanken möchte ich auch bei Professor Dr. Dieter Dörr – nicht nur für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens, sondern auch für die angenehme lehrstuhlübergreifende Zusammenarbeit in Mainz. Bei Professor Dr. Karl Albrecht Schachtschneider bedanke ich mich für die Aufnahme der Arbeit in die von ihm herausgegebene Schriftenreihe Rechtsfragen der Globalisierung. Besonders danken möchte ich Elke Hofmeister für ihre große Unterstützung sowie für viele kritische und anregende Gespräche während der vielleicht bisweilen endlos erscheinenden Promotionsjahre. Sie hat auch die Last des Korrekturlesens auf sich genommen. Dank sagen möchte ich auch den Mitarbeitern des Instituts für Völkerrecht der Georg-August-Universität Göttingen, von dessen Bibliothek ich auch nach meinem Wechsel nach Mainz reichlich profitieren durfte. Die Arbeit wurde im Juli 2004 mit dem Dissertationspreis der Peregrinus-Stiftung ausgezeichnet, wofür ich der Peregrinus-Stiftung sowie Herrn Professor Dr. Hartwig Bartling herzlichen Dank sage. Ebenso herzlich danke ich dem Auswärtigen Amt in Berlin, das die Publikation der Arbeit durch einen Druckkostenzuschuß gefördert hat. Die Arbeit widme ich meinen Eltern. Sie haben mir eine umfassende Ausbildung ermöglicht und diese stets ideell und materiell gefördert. Dafür bin ich dankbar. Mainz, im Oktober 2004 Kai Schollendorf

Inhaltsverzeichnis Einleitung

23

A. Erkenntnisleitendes Interesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

1. Teil Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

27

1. Kapitel Die theoretischen Grundlagen

27

A. Der Begriff der Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Das Objekt der Auslegung im Völkerrecht – der völkerrechtliche Vertrag . 28 C. Die Subjekte der Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Internationale Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 29 30 31

D. Subjektive und objektive Auslegungstheorie im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . I. Subjektive und objektive Auslegung als allgemeines Problem juristischer Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Subjektive und objektive Auslegungstheorie in den nationalen Rechtsordnungen am Beispiel der Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die subjektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die objektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Subjektive und objektive Auslegungstheorie im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundpositionen der beiden Auslegungstheorien. . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Hintergrund des Theorienstreites im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Gegensatz von Parteiwille und Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die subjektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die objektive Auslegungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs – Die teleologische Auslegungstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die praktische Bedeutung der theoretischen Auseinandersetzung . . . . . 4. Die Einordnung des Theorienstreits in allgemeine völkerrechtliche Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 32 33 33 33 34 34 35 35 36 39 41 42 43

10

Inhaltsverzeichnis

E. In claris non fit interpretatio?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 2. Kapitel Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

45

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 B. Die Wortlautauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 C. Die Systematische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 I. Der syntaktische Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 II. Der Sinnzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 D. Die Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Prämissen der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Ablauf der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ermittlung des Vertrags- oder Normzwecks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Prognose über die Zweckerreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die expansive Wirkung der teleologischen Auslegung und deren Grenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51 51 52 52 53 54

E. Die spätere Praxis der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 F. Die Historische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 G. Sonstige Erkenntnisquellen der Vertragsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die den auszulegenden Vertrag umgebende Völkerrechtsordnung . . . . . . . 1. Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Besonderheiten bei der Berücksichtigung völkerrechtlicher Verträge und partikulären Gewohnheitsrechts im Rahmen der Auslegung . . . . . a) Das Konsensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Grundsatz der Integrität multilateraler Verträge . . . . . . . . . . . . . aa) Verpflichtungsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorbehalte, Vertragsänderungen und inter se-Modifikationen. 3. Die Wörterbuchfunktion völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegungsübereinkünfte und Auslegungserklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Effektivitätsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Der Grundsatz in dubio mitius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Regeln der Grammatik und Regeln der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 60 60 61 62 63 63 64 65 65 66 68 69

H. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 I. Der Ablauf des Auslegungsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 I. Die Anwendung der Auslegungsmethoden auf den auszulegenden Text . . 70 II. Die Grenzen der Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72

Inhaltsverzeichnis

11

3. Kapitel Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

73

A. Die Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 31 WVRK – Allgemeine Auslegungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Artikel 32 WVRK – Ergänzende Auslegungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Position von Artikel 31 und 32 WVRK im Streit um subjektive und objektive Auslegungstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73 74 77

B. Die Regeln des Völkergewohnheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationale Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Völkerrechtliches Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Eigene Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79 80 82 87 89

78 79

C. Die Bedeutung der Rechtsnormen der Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

2. Teil Der Appellate Body als Interpret der Vorschriften der WTO-Rechtsordnung

97

1. Kapitel Die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung als Gegenstand der Auslegung

97

A. Die formale Struktur der WTO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 B. Die materiellen Regeln des Welthandelsrechts in den WTO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 I. Die Grundprinzipien des Welthandelsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 a) Meistbegünstigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 b) Inländerbehandlung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Der Grundsatz der Öffnung der Märkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 II. Die Regelungsbereiche der einzelnen WTO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . 103 1. Der Handel mit Waren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Der Grundsatz der Zollbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Das Verbot nicht-tarifärer Handelshemmnisse und die tariffs only-Maxime. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen in Art. XI GATT 1994 und in den Bereichen Landwirtschaft und Textilhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

12

Inhaltsverzeichnis bb) Die Regelung technischer Handelshemmnisse durch TBT und SPS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Schutz des Warenhandels durch Wettbewerbssicherung. . . . . . aa) Das Antidumpingübereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die wesentlichen Ausnahmen von den materiellen Verpflichtungen im Bereich des Warenhandels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die sogenannten „Waiver“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Art. XIX GATT 1994 und das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. XX GATT 1994 und Art. XXI GATT 1994 . . . . . . . . . . . 2. Der Handel mit Dienstleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Schutz des geistigen Eigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

112 114 115 117

C. Die Welthandelsorganisation als organisationsrechtlicher Rahmen für die materiellen Regeln des Welthandelsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Aufgaben und Funktionen der Welthandelsorganisation . . . . . . . . . . . . II. Die Organe der Welthandelsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Beschlußfassung in der Welthandelsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . .

118 119 120 123

106 108 109 110 111 111

2. Kapitel Der Appellate Body

124

A. Der Appellate Body im Streitbeilegungsverfahren der WTO. . . . . . . . . . . . I. Das Streitbeilegungsverfahren im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlagen des Streitbeilegungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organisatorische Aspekte des Streitbeilegungsverfahrens . . . . . . . . . . . 3. Überblick über den Gang des Verfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Stellung des Appellate Body im Streitbeilegungsverfahren . . . . . . . . . 1. Hintergründe und Motive der Einrichtung des Appellate Body . . . . . . 2. Aufgabe und Bedeutung des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Zusammensetzung des Appellate Body. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Ablauf des Verfahrens vor dem Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . .

125 125 126 129 130 136 137 144 146 150

B. Die vom Appellate Body zu beachtenden Auslegungsvorschriften . . . . . . . I. Art. 3.2 Satz 2 DSU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verständnis des Appellate Body von Art. 3.2 Satz 2 DSU . . . . . . 2. Hintergrund und Motive von Art. 3.2 Satz 2 DSU . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsmethoden der GATT 1947-Panels. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Reformen des Streitbeilegungssystems in der UruguayRunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs – Die Bedeutung von Art. 3.2 Satz 2 DSU jenseits der Auslegungstätigkeit des Appellate Body. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

152 153 153 157 157 162 164

Inhaltsverzeichnis

13

II. Art. XVI.1 WTO und Art. 3.1 DSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Art. 3.2 Satz 3 DSU und Art. 19.2 DSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 C. Das Verhältnis des Appellate Body zu den übrigen Interpreten der WTO-Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

3. Teil Die Auslegung des Appellate Body

172

1. Kapitel Die Wortlautauslegung

172

A. Bestimmung der Wortbedeutung mit Hilfe von Wörterbüchern . . . . . . . . . 172 I. Die Verwendung allgemeinsprachlicher Wörterbücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 II. Die Verwendung fachsprachlicher Wörterbücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 B. Bestimmung der Wortbedeutung mit Hilfe anderer völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 C. Weitere Techniken zur Bestimmung der Wortbedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I. Eigendefinitionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 II. Bedeutungsübertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 D. Berücksichtigung des Bedeutungswandels bei der Auslegung – United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products . . . 190 I. Der Bericht des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 II. Die Argumentation des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Die Qualifizierung des Begriffs natural resources als evolutiv und die sich daraus ergebenden Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2. Die aufgrund des evolutiven Charakters zu berücksichtigende Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. Bewertung der Argumentation des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Die Qualifizierung des Begriffs natural resources als evolutiv. . . . . . . 200 2. Die aufgrund des evolutiven Charakters zu berücksichtigende Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 3. Abschließende Betrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Exkurs – Vorbilder des Appellate Body in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 1. Das Namibia-Gutachten des Internationalen Gerichtshofes . . . . . . . . . . 204 2. Der Streit um den Festlandsockel in der Ägäis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 3. Das Verhältnis der beiden Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes zum Bericht des Appellate Body im Shrimp-Fall . . . . . . 213 E. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 I. Wortlautauslegung und Ordinary Meaning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 II. Die Verwendung von Wörterbüchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

14

Inhaltsverzeichnis 2. Kapitel Die Systematische Auslegung

218

A. Der auslegungsrelevante Kontext im allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der syntaktische Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Sinnzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Norminterner Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertragsinterner Zusammenhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vertragsübergreifender Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

218 219 221 221 224 226 227

B. Die Argumentationsweise des Appellate Body im Rahmen der systematischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Argumentation mit Hilfe etablierter Argumentationsmuster . . . . . . . . . . . . 1. Verwendung von Auslegungsvermutungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verwendung von Regeln der Logik (Umkehrschluß). . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zuhilfenahme von Regeln der Grammatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Anstellen „vernünftiger Überlegungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

228 228 228 233 237 237 247

C. Die Bestimmung des auslegungsrelevanten Kontextes im Einzelfall . . . . . I. Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Kriterien des Appellate Body zur Bestimmung des auslegungsrelevanten Kontextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definitionsnormen und Verweise als ausdrückliche Anordnung zur Kontextauswahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Identische oder verwandte Regelungsgegenstände als Kriterium für die Aufnahme in den auslegungsrelevanten Kontext. . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verbot der Vermischung materieller und verfahrensrechtlicher Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs – Einordnung des Problems in einen weiteren rechtlichen Zusammenhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247 247 250 250 252 257 260 262

D. Das Vorgehen des Appellate Body bei der systematischen Auslegung im Lichte der völkerrechtlichen Methodenlehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 I. Die Argumentationsweise des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 II. Die Auswahl des auslegungsrelevanten Kontextes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 E. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Inhaltsverzeichnis

15

3. Kapitel Die Teleologische Auslegung

268

A. Die Verwendung von Normzweck und Vertragszweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 I. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck einzelner Vorschriften . . . . . . . 268 II. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck der multilateralen Übereinkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 III. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck des WTO-Übereinkommens . 273 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 B. Quellen für die Bestimmung von Normzweck und Vertragszweck . . . . . . . 276 I. Der Vertragstext als Grundlage der Bestimmung von Normzweck und Vertragszweck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 II. Außervertragliche Grundlagen der Bestimmung von Normzweck und Vertragszweck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 1. Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 2. Verwendung von Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 a) Selbstreferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 b) Berufung auf Berichte von GATT 1947-Panels. . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 III. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 C. Die Argumentationsweise des Appellate Body im Rahmen der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 I. Zielerreichung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 II. Zielverfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 D. Die Wirkung der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 I. Expansive Wirkung der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 1. Japan – Taxes on Alcoholic Beverages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Korea – Taxes on Alcoholic Beverages. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3. Korea – Definitive Safeguard Measures on Import of Certain Dairy Products . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 II. Die Beachtung der Grenze der expansiven Wirkung der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 1. Japan – Taxes on Alcoholic Beverages und Korea – Taxes on Alcoholic Beverages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 2. European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 3. European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304 4. Zusammenfassung und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 III. Restriktive Wirkung der teleologischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 E. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

16

Inhaltsverzeichnis 4. Kapitel Das Effektivitätsprinzip

A. Der effet utile-Gundsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Das Verbot, Vorschriften im Wege der Auslegung zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Verbot, die auszulegende Vorschrift zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verbot, andere Vorschriften zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung und Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Verhältnis von effet utile-Grundsatz und systematischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis von effet utile-Grundsatz und teleologischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Gebot der harmonischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311 311 312 312 315 319 319 321 323

B. Der Grundsatz ut res magis valeat quam pereat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 C. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 5. Kapitel Die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien

330

6. Kapitel Die zwischen den Vertragsparteien anwendbaren Völkerrechtssätze A. Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Völkerrechtliche Verträge als „rules“ im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Beteiligungsgrad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Besondere Aspekte des WTO-Systems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verpflichtungsstruktur der materiellen Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Grundsatz der Integrität in den organisationsrechtlichen Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Außerrechtliches Erfüllungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

335 335 335 337 340 342 343 343 346 347

B. Völkergewohnheitsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 I. European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 II. United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Inhaltsverzeichnis

17

1. Die Ausführungen des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350 2. Analyse des Berichts des Appellate Body. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 III. Canada – Term of Patent Protection. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 IV. United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 V. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 C. Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 D. Abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

7. Kapitel Die Historische Auslegung

367

A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 B. Elemente der historischen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 I. Die travaux préparatoires des GATT 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 II. Die travaux préparatoires der Übereinkommen der Uruguay-Runde. . . . . 370 III. Die Umstände und Hintergründe des Vertragsschlusses. . . . . . . . . . . . . . . . . 371 C. Stellenwert der historischen Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 I. Funktionen der historischen Auslegung in der Spruchpraxis des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1. Bestätigung eines eindeutigen Auslegungsergebnisses . . . . . . . . . . . . . . . 377 2. Beseitigung von Unklarheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 II. Ausdrückliche Stellungnahmen in der Spruchpraxis des Appellate Body . 383 D. Abschließende Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

8. Kapitel Die Sonstigen Erkenntnisquellen

385

A. Die Verwendung von Präzedenzfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 I. GATT 1947-Präjudizien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 II. WTO-Präjudizien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 B. Einseitige Äußerungen einer Vertragspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 C. Der Grundsatz in dubio mitius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 D. Die restriktive Auslegung von Ausnahmevorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 E. Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403

18

Inhaltsverzeichnis 9. Kapitel Der Ablauf des Auslegungsvorganges

404

A. Entwicklung einer Normhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 B. Überprüfung und Konkretisierung der Normhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . 406 C. Korrektur der Normhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408 D. Die Grenzen der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 E. Das Verhältnis der Auslegungsmethoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415

Zusammenfassung der Erkenntnisse

417

Verzeichnis der zitierten Entscheidungen

422

A. Berichte der Streibeilegungsorgane der Welthandelsorganisation (WTO) 422 I. Berichte des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 II. Panel-Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 B. GATT 1947-Panel-Berichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 C. Urteile und Gutachten internationaler Gerichte und Schiedsgerichte. . . . I. Ständiger Internationaler Gerichtshof (StIGH/PCIJ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Internationaler Gerichtshof (IGH/ICJ). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Schiedsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425 425 425 426 426 426

D. Urteile nationaler Gerichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 I. Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426 II. Vereinigte Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

Literaturverzeichnis

427

Sachverzeichnis

443

Abkürzungsverzeichnis Abs.

Absatz

Abschn.

Abschnitt

AEMR

Allgemeine Erkärung der Menschenrechte

Afr.MRK

Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (Afrikanische Menschenrechtskonvention)

AJIL

American Journal of International Law

AMRK

Amerikanische Konvention über Menschenrechte

Ann.IDI

Annuaire d’Institut de Droit International

ARIEL

Austrian Review of International and European Law

Art.

Artikel

AVR

Archiv des Völkerrechts

Bd.

Band

BerDtGesVR

Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

BGBl. II

Bundesgesetzblatt Teil II

BISD

Basic Instruments and Selected Documents

BYIL

British Yearbook of International Law

CML Rev.

Common Market Law Review

Col. J. Transnat’l. L.

Columbia Journal of Transnational Law

Cornell I.L.J.

Cornell International Law Journal

ders.

derselbe

DVBl.

Deutsches Verwaltungsblatt

EJIL

European Journal of International Law

EMRK

(Europäische) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten

EPIL

Encyclopedia of Public International Law

EuGRZ

Europäische Grundrechte Zeitschrift

EuR

Europarecht

EuZW

Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht

Fordham Int’l.L.J.

Fordham International Law Journal

Fn.

Fußnote

FS

Festschrift

GYIL

German Yearbook of International Law

20 Hrsg. ICJ ICLQ IGH ILC I.L.M. Int’l.Law. IPbpR JA JbUTR JIEL Jura JWT JZ LJIL Mich. J. Int’l. L. Minn. J. Global Trade m. w. N. NILR NVwZ NYIL ÖZÖR PCIJ RdC Rdnr. Rep. RGBl. RIW R.J.T. S. StIGH SVB UNTS UNYB VerwArch Vgl./vgl. VN

Abkürzungsverzeichnis Herausgeber International Court of Justice International and Comparative Law Quarterly Internationaler Gerichtshof International Law Commission International Legal Materials The International Lawyer Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des Umwelt- und Technikrechts Journal of International Economic Law Juristische Ausbildung Journal of World Trade Juristenzeitung Leiden Journal of International Law Michigan Journal of International Law Minnesota Journal of Global Trade mit weiteren Nachweisen Netherlands International Law Review Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Netherlands Yearbook of International Law Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht Permanent Court of International Justice Recueil de Cours de l’Academie de droit international de la Haye Randnummer Report(s) Reichsgesetzblatt Recht der Internationalen Wirtschaft Revue Juridique Themis Seite Ständiger Internationaler Gerichtshof Satzung des Völkerbunds United Nations Treaty Series Yearbook of the United Nations Verwaltungs-Archiv vergleiche Vereinte Nationen

Abkürzungsverzeichnis Vol. VVDStRL WdV WVKIO

WVRK YBILC ZaöRV ZEuS ZfZ ZVglRWiss

21

Volume Veröffentlichungen der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer Wörterbuch des Völkerrechts Wiener Übereinkommen über Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen oder zwischen Internationalen Organisationen Wiener Vertragsrechtskonvention (Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge) Yearbook of the International Law Commission Zeitschrift für ausländisches öffentliches Rechts und Völkerrecht Zeitschrift für Europarechtliche Studien Zeitschrift für Zölle und Verbrauchssteuern Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft

Einleitung A. Erkenntnisleitendes Interesse Völkerrechtliche Verträge stellen heute mehr denn je das Instrument zur Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen dar. Mit Hilfe völkerrechtlicher Verträge lassen sich internationale Beziehungen schneller und präziser in rechtsverbindlicher Weise regeln als dies mit den übrigen Instrumenten des Völkerrechts möglich ist.1 Allerdings verbleiben trotz aller Bemühungen um sprachliche Präzision auch bei völkerrechtlichen Verträgen oftmals Unsicherheiten über das genaue Ausmaß der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien. Dafür sind eine Reihe von Faktoren verantwortlich: Zum einen wohnen jeder Form des sprachlichen Ausdrucks gewisse Defizite inne, die darauf beruhen, daß Sprache niemals dasselbe Maß an Exaktheit erreichen kann wie Zahlen. Daneben bewirken auch die vielen Vertragsschlüssen zugrunde liegenden politischen Kompromisse oftmals die Verwendung unpräziser Ausdrücke. Schließlich lassen auch neu auftretende Sachverhalte, die die Vertragsparteien bei Vertragsabschluß nicht vorhergesehen haben, Zweifel über die vertraglichen Rechte und Pflichten entstehen. In diesen Fällen kommt der Vertragsauslegung die Bedeutung zu, die Vorschriften des Vertrags für den Einzelfall zu konkretisieren und die Rechte und Pflichten der Parteien zu bestimmen. Damit erfüllt die Vertragsauslegung während der Geltungsdauer eines jeden Vertrags eine immens wichtige Aufgabe im zwischenstaatlichen Verkehr der Vertragsparteien. Aus der wichtigen Bedeutung, die der Vertragsauslegung für den Umfang der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien zukommt, erwächst die Forderung nach einem klaren Regelwerk für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge. Das Fehlen eines solchen Regelwerks liefe nämlich dem mit dem Regelungsinstrument „völkerrechtlicher Vertrag“ verfolgten Ziel, eine verläßliche Grundlage für zwischenstaatliche Beziehungen zu schaffen, zuwider. Dabei ist bereits an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß ein solches Regelwerk keineswegs nur für die gerichtliche Praxis von Bedeutung ist. Jedem Akt der Vertragsanwendung durch eine Vertragspartei ist ein Akt der Vertragsauslegung vorgeschaltet, in dem die jeweilige Partei ihre Rechte und Pflichten bestimmt. 1

Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn., Rdnr. 113.

24

Einleitung

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß die Völkerrechtswissenschaft seit jeher darüber diskutiert, wie völkerrechtliche Verträge auszulegen sind.2 Dabei standen und stehen eine Reihe kontroverser Fragen im Mittelpunkt dieser Diskussion, die praktisch von erheblicher Bedeutung sind. Ihren bisherigen Höhepunkt erlebte diese Diskussion im Vorfeld der Kodifikation des Völkervertragsrechts in der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969. Obwohl in diese Konvention drei Artikel, die sich speziell dem Problem der Vertragsauslegung widmen, aufgenommen wurden, ist diese Diskussion seither nicht verstummt. Zum einen ist die Wiener Vertragsrechtskonvention weder auf existierende Altverträge noch durchgehend auf alle seit ihrem Inkrafttreten im Jahr 1980 abgeschlossenen Neuverträge anwendbar. Insofern stellt sich also die Frage nach den außerhalb des Geltungsbereichs der Konvention anzuwendenden Auslegungsregeln. Innerhalb des Anwendungsbereichs der Konvention ist zu konstatieren, daß die Konventionsregeln ihrerseits auslegungsfähig und auslegungsbedürftig sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, daß eine Reihe internationaler Gerichte die relevanten Vorschriften der Konvention je unterschiedlich verstehen.3 Insgesamt ist damit die Diskussion um die Auslegung völkerrechtlicher Verträge auch mehr als 30 Jahre nach der Kodifikation der Auslegungsregeln nicht beendet. Durch die Gründung der Welthandelsorganisation (WTO), die dem gesamten Welthandelsrecht eine verstärkte Aufmerksamkeit in der Völkerrechtswissenschaft beschert hat, hat auch die Diskussion um die Auslegung völkerrechtlicher Verträge einen neuen Impuls erhalten.4 Die Mitglieder der Organisation haben sich einem quasi-gerichtlichen Streitbeilegungsverfahren unterworfen, das im internationalen Bereich nur wenige Parallelen findet. Eines der zentralen Elemente dieses Verfahrens ist die Errichtung einer Rechtsmittelinstanz, des sogenannten Appellate Body, deren Aufgabe unter anderem darin besteht, Entscheidungen der ersten Instanz auf Fehler bei der Auslegung der WTO-Übereinkommen zu überprüfen. Die im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens tätigen Organe der WTO, allen voran der Appellate Body, sind aufgrund einer Vorschrift der Verfahrensordnung (Art. 3.2 des Dispute Settlement Understanding) dazu verpflichtet, die zum System der WTO gehörenden Abkommen mit Hilfe der Auslegungsregeln des Völkergewohnheitsrechts auszulegen.5 Der Appellate 2

Vgl. den Überblick bei Bernhardt, S. 5 ff. Vgl. die eingehende Untersuchung bei Charney, RdC 271 (1998-I), S. 101 (139–188); vgl. allgemein zu den Folgen und Gefahren der Proliferation internationaler Gerichte Guillaume, ICLQ 44 (1995), S. 848 ff. (860 ff.). 4 So bereits die Feststellung von McRae, RdC 260 (1996-IV), S. 99 (177) relativ kurze Zeit nach Errichtung der WTO. 3

Einleitung

25

Body hat seit Aufnahme seiner Tätigkeit mehrfach betont, daß er die völkergewohnheitsrechtlichen Regeln der Vertragsauslegung als mit den Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention identisch erachtet. Binnen kurzer Zeit hat die häufige Inanspruchnahme des Appellate Body durch die Mitglieder der Welthandelsorganisation zur Entwicklung einer umfangreichen Spruchpraxis zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge geführt. Damit hat der Appellate Body über die Grenzen der WTO hinweg einen wesentlichen Beitrag zur Konkretisierung und Verfestigung des bestehenden Regelwerkes geleistet. Die Darstellung der Spruchpraxis des Appellate Body steht im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung.

B. Gang der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung besteht aus drei Teilen. Der erste Teil beschäftigt sich mit einigen zentralen Fragen der Auslegung völkerrechtlicher Verträge. Dabei ist es keineswegs das Ziel dieses Teils, den Diskussionsstand der zahlreichen theoretischen Probleme im Zusammenhang mit der Vertragsauslegung vollständig wiederzugeben. Vielmehr geht es darum, in einer Art „Allgemeinem Teil“ die im Verlauf der Arbeit verwendeten Begrifflichkeiten zu erläutern und diejenigen Aspekte der Diskussion näher zu beleuchten, die auch in der Spruchpraxis des Appellate Body eine Rolle spielen. Zunächst werden die theoretischen Grundlagen der Vertragsauslegung im Überblick dargestellt (Kapitel 1). Daran schließt sich eine Beschreibung der bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge üblicherweise angewendeten Methoden an. Diese Darstellung konzentriert sich auf den in der wissenschaftlichen Literatur vorzufindenden Konsens, ohne die bestehenden Divergenzen im einzelnen herauszuarbeiten (Kapitel 2). Abschließend wird untersucht, wie diese Methoden der Vertragsauslegung rechtlich zu qualifizieren sind (Kapitel 3). Der zweite Teil der Untersuchung beschäftigt sich mit dem Appellate Body als Interpreten des Welthandelsrechts. Zunächst werden die Grundzüge des materiellen Welthandelsrechts erläutert. Nach einem Überblick über das institutionelle Gefüge der Welthandelsorganisation stehen diejenigen Regelungsbereiche im Vordergrund der Darstellung, die auch Gegen5 Art. 3.2 des Dispute Settlement Understanding lautet: The dispute settlement system of the WTO is a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system. The Members recognize that it serves to preserve the rights and obligations of Members under the covered agreements, and to clarify the existing provisions of those agreements in accordance with customary rules of interpretation of public international law. Recommendations and rulings of the DSB cannot add to or diminish the rights and obligations provided in the covered agreements (Hervorhebung vom Verfasser).

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Einleitung

stand der im dritten Teil der Untersuchung analysierten Berichte des Appellate Body sind (Kapitel 4). Daran schließt sich eine vertiefende Darstellung des Appellate Body an (Kapitel 5). Zunächst wird dessen Stellung im Streitbeilegungsverfahren der WTO erörtert. Anschließend werden die in der Rechtsordnung der WTO verankerten Auslegungsvorschriften, die der Appellate Body bei seiner Tätigkeit zu beachten hat, beschrieben. Schließlich wird das institutionelle Verhältnis des Appellate Body und den übrigen Interpreten des WTO-Rechts dargestellt, soweit dieses Verhältnis für die Auslegungstätigkeit des Appellate Body relevant ist. Im dritten Teil der Arbeit werden schließlich die Methoden untersucht, mit deren Hilfe der Appellate Body die Vorschriften des Welthandelsrechts auslegt (Kapitel 6 bis 14). Die Vorgehensweise des Appellate Body im Zusammenhang mit jeder einzelnen Auslegungsmethode wird ausführlich herausgearbeitet. Dabei liegt ein deutlicher Schwerpunkt der Untersuchung auf der Darstellung der Argumentationsstrukturen des Appellate Body im Zusammenhang mit der Verwendung einzelner Auslegungsmethoden. Auf diese Weise soll veranschaulicht werden, wie der Appellate Body den Argumentationsspielraum, den die überkommenen Auslegungsmethoden jedem Interpreten belassen, ausfüllt. Es soll deutlich gemacht werden, wie die Verwendung bestimmter Methoden das konkrete Auslegungsergebnis beeinflußt. Damit soll der gedankliche Schritt verdeutlicht werden, der zwischen der Anwendung einer bestimmten Methode und dem unter Zuhilfenahme dieser Methode erzielten Auslegungsergebnis liegt. Weiterhin wird untersucht, welchen Stellenwert der Appellate Body den einzelnen Methoden im Rahmen des Auslegungsvorgangs einräumt. Dabei geht es nicht so sehr um die Frage der Ausfüllung vorhandener Spielräume, sondern eher um die Frage, inwieweit der Appellate Body die insofern eindeutigen rechtlichen Vorgaben befolgt. Den Abschluß der Untersuchung bildet eine Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse.

1. Teil

Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge 1. Kapitel

Die theoretischen Grundlagen A. Der Begriff der Auslegung Mit den Begriffen Auslegung beziehungsweise Interpretation1 wird sowohl der Akt als auch das Ergebnis des Verstehens sinnhaltiger Strukturen bezeichnet.2 Sinnhaltige Strukturen sind jedwede Art sprachlicher und nichtsprachlicher Symbole.3 Da Recht nur in Sprache gefaßt und durch Sprache vermittelt werden kann,4 geht es bei der juristischen Auslegung um das Verstehen sprachlicher Ausdrücke.5 Als sprachliche Ausdrücke und damit als Objekt der Interpretation im Bereich des Rechts kommen sämtliche Rechtsnormen im weiteren Sinne, das heißt Satzungen, Rechtsverordnungen, Gesetze, Verfassungstexte, ebenso auch Willenserklärungen, richterliche Urteile und Verwaltungsakte und schließlich auch völkerrechtliche Verträge in Betracht.6 Eine Rechtsnorm zu verstehen bedeutet, ihren Inhalt zu erfassen beziehungsweise festzustellen,7 also die Tatsachen-, Wert- und Sollensvorstellungen verständlich zu machen, die durch die Rechtssätze bezeichnet werden sollen.8 Auch im Bereich des Völkerrechts ist Auslegung das Feststellen des Gehaltes von Rechtsnormen. Die Auslegung im Völkerrecht unterscheidet sich insofern nicht von der sonstigen juristischen Auslegung.9 1 Die beiden Begriffe Interpretation und Auslegung werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet. Dies entspricht der gängigen sprachlichen Übung; vgl. statt vieler: Köck, S. 56 et passim; Koller, S. 200. 2 Brockhaus Enzyklopädie, 10. Band, Herr–Is, Stichwort Interpretation; Koller, S. 200; ähnlich auch Kelsen, S. 349. 3 Zur Vielzahl sinnhaltiger Formen, vgl. Betti, S. 42 f. 4 Rüthers, Rdnr. 150. 5 Koller, S. 200. 6 Vgl. Kelsen, S. 346. 7 Vgl. allgemein Coing, S. 261; Larenz, S. 204; Mennicken, S. 10; speziell für den Bereich des Völkerrechts Bernhardt, S. 1. 8 Zippelius, S. 42.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Die Verwendung von Sprache führt nahezu unweigerlich zur Auslegungsbedürftigkeit des aus sprachlichen Zeichen zusammengefügten Textes. Rechtstexte, also auch völkerrechtliche Verträge, fassen die subjektiven Vorstellungen ihrer Urheber in Worte. Die Sprache ist das Mittel zur Objektivierung der rechtlichen Vorstellungen der Urheber. Allerdings sind Wörter und Sätze in ihrer Bedeutung stets mehrdeutig, ungenau und wandelbar.10 Viele Wörter lassen sich mit unterschiedlichen Vorstellungsinhalten verbinden.11 Dies bedeutet, daß Wörter die Vorstellungen ihrer Urheber, etwa der Vertragsparteien völkerrechtlicher Verträge, nicht exakt auszudrücken vermögen.12 Es besteht eine Divergenz zwischen Auszudrückendem und Ausdruck. Die Auslegung ist bemüht, diese Divergenz zu überbrücken.13

B. Das Objekt der Auslegung im Völkerrecht – der völkerrechtliche Vertrag Gegenstände der Auslegung im Völkerrecht sind rechtlich relevante Texte. Im Mittelpunkt des Interesses stehen vor allem schriftlich14 abgefaßte völkerrechtliche Verträge.15 Völkerrechtliche Verträge sind zwischen mindestens zwei Völkerrechtssubjekten geschlossene rechtlich verbindliche Vereinbarungen, die dem Völkerrecht unterstehen und aus der sich für mindestens eine Partei Rechte oder Pflichten ergeben.16 Ähnlich wie im nationalen Recht können völkerrechtliche Verträge formfrei geschlossen werden17, allerdings ist die Schriftform üblich.18 Ein völkerrechtlicher Vertrag kann nur zwischen Völkerrechtssubjekten abgeschlossen werden, also zwischen Staaten, internationalen Organisationen und den sonstigen anerkannten Völkerrechtssubjekten.19 Voraussetzung 9

Rest, S. 6. Koller, S. 205; Rüthers, Rdnr. 164, 165. 11 Rüthers, Rdnr. 153; Zippelius, § 4 I, S. 20. 12 Gern, VerwArch. 1989, S. 415 (416). 13 Schneider, VVDStRL 20 (1963), S. 4 (5). 14 Auch die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 (WVRK; Vienna Convention on the Law of Treaties [UNTS 1155, S. 331]; Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge [BGBl. 1985 II, S. 926]) bezieht sich gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. a nur auf schriftlich abgeschlossene Verträge, ohne jedoch die Existenz oder die Gültigkeit nicht schriftlich geschlossener Verträge in Abrede zu stellen; vgl. Art. 3 WVRK; so auch Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 9 Rdnr. 1. 15 Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1417). Allerdings gibt es im Völkerrecht eine Reihe anderer rechtlich relevanter Dokumente, für die besondere Auslegungsregeln gelten und die deshalb hier unberücksichtigt bleiben, vgl. Bernhardt, a. a. O. 16 Bernhardt, EPIL IV (2000), S. 926 (927); Verdross/Simma, § 534. 17 Brownlie, Principles, S. 610. 18 Bernhardt, EPIL IV (2000), S. 926 (927); Jennings/Watts, Bd.1.2, S. 1207. 10

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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für den Vertragsschluß ist der übereinstimmende Wille der Vertragsparteien, der darauf gerichtet ist, völkerrechtliche Rechte und Pflichten zwischen den Vertragsparteien zu begründen, zu ändern oder aufzuheben.20 Der Wille der Vertragsparteien, sich rechtlich zu binden, ist von Fall zu Fall dem Vertragstext und den Umständen des Vertragsschlusses zu entnehmen.21

C. Die Subjekte der Auslegung völkerrechtlicher Verträge I. Die Vertragsparteien Die wichtigsten Subjekte der Auslegung völkerrechtlicher Verträge sind die Vertragsparteien, also Staaten und die als Vertragspartner auftretenden internationalen Organisationen.22 Die Parteien sind aus einem Vertrag berechtigt oder verpflichtet. Vor der Ausübung eines vertraglichen Rechtes beziehungsweise vor der Erfüllung einer vertraglichen Pflicht steht notwendigerweise ein Auslegungsvorgang, in dem der einzelne Vertragspartner sein individuelles Verständnis der vertraglichen Norm ermittelt, um sein Verhalten an dem Inhalt der Norm auszurichten.23 Neben dieser individuellen Interpretation steht die kollektive Interpretation aller Vertragsparteien. Diese liegt vor, wenn die Vertragsparteien den Inhalt einer Norm übereinstimmend und verbindlich für alle Vertragsparteien festlegen. Dies kann bereits bei Abschluß des Vertrages oder auch im Laufe der Vertragsdauer geschehen. Dabei können die Parteien entweder einen formellen Auslegungsvertrag abschließen oder sich konkludent auf eine bestimmte Auslegung einigen.24 Diese für alle Vertragsparteien über 19 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 9 Rdnr. 2. Die WVRK bezieht sich gem. Art. 2 Abs. 1 lit. a ausschließlich auf Verträge zwischen Staaten. Verträge zwischen Staaten und internationalen Organisationen und Verträge zwischen internationalen Organisationen regelt die Wiener Konvention über das Recht der Verträge zwischen Staaten und Internationalen Organisationen oder zwischen Internationalen Organisationen (WVKIO) (I.L.M. 25 [1986], S. 543 ff. [englisch]; BGBl. 1990 II, S. 1414 [deutsch]). 20 Case Concerning Maritime Delimination and Territorial Questions between Qatar and Bahrain (Qatar v. Bahrain), ICJ Rep. 1994, S. 121; Berber, Bd. 1, S. 440; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1201 f.; vgl. dazu auch die Kommentare Australiens und Österreichs zum ILC Draft 1962 der WVRK, in denen beide Staaten betonten, daß der Entwurf, der später auch fast wörtlich in Art. 2 Abs. 1 lit. a WVRK übernommen wurde, das Element des Rechtsbindungswillens nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck bringe; abgedruckt bei Rauschning/Wetzel, S. 75. 21 Aegean Sea Continental Shelf Case, ICJ Rep. 1978, S. 39; Dupuy, § 39; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1202. 22 Reuter, § 138. 23 Bernhardt, S. 43 f.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

den Einzelfall hinaus verbindliche Auslegung wird als authentische Auslegung bezeichnet.25 Sie zeichnet sich dadurch aus, daß sie auf derselben Rangstufe steht wie der ausgelegte Vertrag selbst und daß ihr daher auch dieselbe Verbindlichkeit zukommt wie dem Vertrag, den sie interpretiert.26 II. Internationale Organisationen Wie soeben gesehen sind internationale Organisationen insofern an der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages beteiligt als sie als Vertragspartner auftreten. Darüber hinaus legen die Organe internationaler Organisationen im Rahmen der Erfüllung ihrer Aufgaben das Gründungsstatut der jeweiligen Organisation, jedenfalls die den Aufgabenbereich der einzelnen Organe betreffenden Vorschriften,27 aus.28 Denn auch hier ist das Verständnis einer Norm Voraussetzung für deren Anwendung. Darüber hinaus weisen die Gründungsverträge einer Reihe von internationalen Organisationen bestimmten Organen die ausdrückliche Kompetenz zur Auslegung der Bestimmungen des Gründungsstatuts der jeweiligen Organisation zu. Zum Teil sehen die Gründungsverträge richterliche Organe vor, die Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten, Konflikte zwischen der Organisation und Mitgliedsstaaten oder Konflikte der Organe untereinander lösen sollen.29 Das prominenteste Beispiel eines innerhalb einer internationalen Organisation errichteten richterlichen Organs ist der Internationale Gerichtshof (IGH) als Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen (vgl. Art. 92 SVN). Vor allem innerhalb regionaler internationaler Organisationen existieren eine ganze Reihe richterlicher Organe, die zur Auslegung des Gründungsstatuts der jeweiligen Organisation befugt sind.30 Teilweise ist die ausdrückliche Kompetenz zur Auslegung der Gründungsverträge nicht auf ein richterliches Organ, sondern auf ein politisches Organ übertragen. Bekanntestes Beispiel dafür sind die im Statut des Internationalen Währungsfonds enthaltenen Auslegungsbefugnisse des Board of Governors (vgl. Art. XXIX(b) IWF-Statut).31 Aber auch andere weltweite Finanz- und Rohstofforganisationen sehen ähnliche Vorschriften vor.32 24

Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1268. Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1423); Brötel, Jura 1988, S. 343 (344); Reuter, § 139. 26 Bernhardt, S. 44. 27 Reuter, § 139. 28 Amerasinghe, S. 24 f.; Bernhardt, S. 46; Klein, in: Graf Vitzthum, 4. Abschn. Rdnr. 41; Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, S. 255, § 167; Schermers/Blokker, § 1360. 29 Bindschedler, EPIL II (1995), S. 1289 (1304). 30 Vgl. die Liste bei Schermers/Blokker, §§ 618–641. 31 Gold, EPIL II (1995), S. 1271 (1272). 25

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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Während somit geklärt wurde, welche Organe einer internationalen Organisation zur Auslegung des Gründungsvertrages berechtigt sind, besagt diese Kompetenzzuweisung nichts darüber, ob und gegebenenfalls für wen die Auslegung durch das jeweilige Organ auch Verbindlichkeit erlangt.33 Vor allem die Auslegungsentscheidungen der richterlichen Organe der internationalen Organisationen wirken nur zwischen den Konfliktparteien und nur im jeweiligen Einzelfall.34 Nur in Ausnahmefällen erlangen die Entscheidungen der zur Auslegung berufenen Organe über den Einzelfall hinaus und für alle Mitgliedstaaten der Organisation Verbindlichkeit. Prominentestes Beispiel hierfür sind wiederum die Auslegungsbeschlüsse des Board of Governors des Internationalen Währungsfonds und anderer internationaler Finanz- und Rohstofforganisationen.35 Diese auch für Mitgliedstaaten verbindliche Auslegung wird in der Regel indes nicht als authentische Interpretation bezeichnet, weil die Auslegung nur insoweit für die Mitgliedstaaten verbindlich ist, wie sie sich im Rahmen der dem Organ zuvor verliehenen Auslegungsbefugnis bewegt.36 Anders als die Auslegungskompetenz der Vertragsparteien ist sie damit jedenfalls theoretisch begrenzt. III. Internationale Gerichte Eine wichtige Rolle bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge spielen internationale Gerichte. Diese lassen sich in Schiedsgerichte und ständige Gerichte einteilen. Schiedsgerichte werden stets durch die Parteien eines Streites eingesetzt.37 Dies kann entweder ad hoc in einem compromis geschehen, nachdem eine Streitigkeit bereits entstanden ist, aber auch im voraus. Dabei besteht wiederum die Möglichkeit, daß die Parteien für einen bestimmten Bereich ihrer vertraglichen Beziehungen Schiedsvereinbarungen treffen oder für alle zukünftigen Streitigkeiten, einschließlich sämtlicher Streitigkeiten im Bereich ihrer vertraglichen Beziehungen, ein Schiedsabkommen schließen.38 Von der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ist die Streitbeilegung durch ständige internationale Gerichte zu unter32

Vgl. die Nachweise bei Amerasinghe, S. 27 f.; Schermers/Blokker, § 1365 mit Fn. 64 & 65. 33 Vgl. zu dieser Differenzierung Klein, in: Graf Vitzthum, 4. Abschn. Rdnr. 41. 34 Schermers/Blokker, § 693; 35 Amerasinghe, S. 27. 36 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 3; kritisch auch Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1423); vgl. auch Nguyen Quoc/Daillier/Pellet, S. 255, § 167. 37 Schlochauer, EPIL I (1992), S. 215 (215). 38 Fischer, in: Ipsen, § 62 Rdnr. 26 f.; Schröder, in: Graf Vitzthum, 6. Abschn. Rdnr. 68.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

scheiden.39 Die Zuständigkeit der ständigen Gerichte erstreckt sich zumeist nur auf die Beilegung von Streitigkeiten bezüglich eines oder einiger weniger Verträge und damit auch nur auf deren Auslegung. Oftmals sind diese ständigen Gerichte innerhalb einer internationalen Organisation angesiedelt und fallen damit in die oben genannte Kategorie der richterlichen Organe.40 Eine Ausnahme davon bildet der IGH. Zwar ist auch er das Hauptrechtsprechungsorgan einer internationalen Organisation, darüber hinaus können die Staaten – nicht jedoch internationale Organisationen41 – die Zuständigkeit des IGH aber auch für Streitigkeiten, die nicht die Charta der Vereinten Nationen betreffen, und damit auch für Streitigkeiten über die Auslegung anderer völkerrechtlicher Verträge, anerkennen. Dies kann durch einen Schiedskompromiß der Streitparteien, durch die antizipierte Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des IGH in einem bi- oder multilateralen Vertrag oder durch eine einseitige Staatenerklärung nach Art. 36 Abs. 2 des IGH-Statuts geschehen.42 Internationale Schiedsgerichte und der IGH legen sowohl bilaterale als auch multilaterale Verträge aus. Teilweise enthalten auch einige Gründungsverträge internationaler Organisationen Vorschriften, die die Kompetenz zur Auslegung des Gründungsstatutes auf den IGH oder alternativ auf Schiedsgerichte übertragen.43 Dabei fungiert der IGH teilweise als Berufungsinstanz.44

D. Subjektive und objektive Auslegungstheorie im Völkerrecht I. Subjektive und objektive Auslegung als allgemeines Problem juristischer Interpretation In nahezu allen Rechtsordnungen45 und bei nahezu allen Rechtsnormen stellt sich die Frage, welcher Stellenwert dem Willen des Normsetzers46 39 Kritisch zu einer strikten Trennung unter dem Hinweis auf die institutionalisierte Schiedsgerichtsbarkeit, Brownlie, Principles, S. 707. 40 Vgl. die Aufzählungen bei Fischer, in: Ipsen, § 62 Rdnr. 35. 41 Vgl. Art. 34 IGH-Statut und dazu Fischer, in: Ipsen, § 62 Rdnr. 43. 42 Brownlie, Principles, S. 716 ff.; Schröder, in: Graf Vitzthum, 6. Abschn. Rdnr. 82. Daneben besteht die Möglichkeit, daß eine Streitpartei die Zuständigkeit des IGH nach Klageeinreichung durch die andere Partei ausdrücklich oder stillschweigend (forum prorogatum) genehmigt. Daneben kann sich die Zuständigkeit des IGH auch aus einer Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des StIGH ergeben, Art. 36 Abs. 5, 37 IGH-Statut; vgl. Brownlie, a. a. O. 43 Vgl. dazu mit Beispielen Amerasinghe, S. 28 f. 44 Schermers/Blokker, § 1358 m. w. N. 45 Daran daß es eine Spannung zwischen subjektiv und objektiv bestimmter Auslegung auch in anderen Disziplinen gibt, erinnert Lüderitz, S. 8 ff.

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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gegenüber dem Normtext bei der Auslegung einzuräumen ist.47 Dabei wird die Auffassung, die dem Willen des Normsetzers stärkeres Gewicht einräumt, als subjektive Auslegungslehre, die Auffassung, die dem Normtext stärkeres Gewicht beimißt, als objektive Auslegungslehre bezeichnet. II. Subjektive und objektive Auslegungstheorie in den nationalen Rechtsordnungen am Beispiel der Gesetzesauslegung 1. Die subjektive Auslegungstheorie Nach der subjektiven Auslegungstheorie ist es Ziel der Gesetzesauslegung, den historisch tatsächlichen „Willen des Gesetzgebers“ zu ermitteln. Die Ansichten und Absichten des Gesetzgebers und seine Wertvorstellungen sollen erforscht werden.48 Für diese Auffassung werden drei Begründungen genannt:49 Zunächst verstehen die Vertreter der subjektiven Theorie das Gesetz als Willensakt des Gesetzgebers. Aus diesem Verständnis heraus ist es konsequent, den Willen des Gesetzgebers ermitteln zu wollen. Ferner wird argumentiert, daß die subjektive Theorie der Rechtssicherheit dient, da nur sie die Ermittlung eines historisch feststehenden Gesetzessinnes erlaubt, nach dem sich jeder Rechtsunterworfene richten kann. Zuletzt wird darauf hingewiesen, daß es die Gewaltenteilung gebietet, daß der Richter sich bei der Auslegung auf historisch Verläßliches stützt und so nicht der Gefahr unterliegt, bei der Auslegung Rechtsfortbildung zu betreiben und sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen. 2. Die objektive Auslegungstheorie Nach der objektiven Auslegungslehre ist es das Ziel der Auslegung, den „normativen Sinn des Gesetzes“ beziehungsweise den „Willen des Geset46 Hier wird der Begriff „Wille des Normsetzers“ unabhängig von der Zahl der am Normsetzungsprozeß beteiligten Rechtssubjekte verwendet. 47 Belgien: Dekkers, S. 29 f., § 29; England und Wales: Lloyd of Hampstead, S. 863 ff.; Frankreich: Ghestin/Goubeaux, S. 110 f., § 151; Kanada: Gall, S. 315 ff. Zur Auslegung von Rechtsgeschäften vgl. Lüderitz, Auslegung von Rechtsgeschäften; zur Auslegung von Satzungen (Statuten) vgl. Hüppi, Die Methode zur Auslegung von Statuten; zur Auslegung von Gesetzen vgl. statt vieler Mennicken, Das Ziel der Gesetzesauslegung; zur Auslegung der Verfassung vgl. Schneider, in: VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff.; zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge vgl. Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge. 48 Koller, S. 205; Mennicken, S. 19 f. 49 Die folgende Darstellung orientiert sich an der Übersicht Mennicken, S. 21 ff.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

zes“, also einen objektiv entnehmbaren Gehalt, zu ermitteln.50 Der Wille des Gesetzgebers spielt hier keine Rolle mehr, vielmehr trägt das Gesetz nach der Publikation seinen Sinn in sich selbst.51 Drei wesentliche Begründungsstränge lassen sich für die objektive Theorie finden:52 Zunächst argumentieren die Vertreter der objektiven Theorie, daß sich das Gesetz mit seiner Veröffentlichung von seinen Autoren löst und daß sich nach der Veröffentlichung der im Gesetz manifestierte Rechtsgedanke „in der Welt“ verfestigt. Daneben reklamieren die Vertreter der objektiven Theorie ebenfalls, daß ihre Auffassung von der Rechtssicherheit gefordert wird: nur der Wortlaut des Textes, nicht aber die Materialien, derer es bedarf, um den Willen des Gesetzgebers zu erforschen, ist allen Rechtsunterworfenen zugänglich und darf daher Grundlage der Auslegung sein. Schließlich wird für die objektive Theorie angeführt, daß sie den Interpreten zur Rechtsfortbildung befähigt und es ihm so ermöglicht, auf neue Entwicklungen und neue Rechtsbedürfnisse zu reagieren. III. Subjektive und objektive Auslegungstheorie im Völkerrecht Auch im Völkerrecht stehen sich subjektive und objektive Auslegungstheorie gegenüber, die sich dadurch unterscheiden, daß sie in je unterschiedlichem Maße den Willen der Vertragsparteien oder den Text des auszulegenden Vertrages in den Mittelpunkt der Auslegung rücken. 1. Die Grundpositionen der beiden Auslegungstheorien Die subjektive Auslegungslehre im Völkerrecht ist psychologisch und empirisch ausgerichtet. Die einzelnen Auslegungskriterien werden von ihr als Indizien verstanden, mit deren Hilfe der Parteiwille nachgewiesen werden soll.53 Gerade darin besteht das erklärte Ziel der Vertreter der subjektiven Auslegungstheorie.54 Der Vertragstext ist dabei der Ausgangspunkt der Erforschung des Parteiwillens, daneben werden aber andere Indizien herangezogen, vor allem die Materialien, die Auskunft über die Entstehung der auszulegenden Verträge geben, die sogenannten travaux préparatoires.55 Nach Ansicht der objektiven Theorie besteht das Ziel der Auslegung in der 50

Bydlinski, S. 428; Fikentscher, Bd. 3, S. 662; Koller, S. 205. Fikentscher, Bd. 3, S. 664; Mennicken, S. 25. 52 Die Darstellung folgt wiederum Mennicken, S. 26 ff. 53 Grundmann, S. 56 f.; Karl, in: Schreuer, S. 9 (12 f.). 54 Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (75). 55 Vgl. Punkt 2 des Resolutionsentwurfs von Lauterpacht, Ann.IDI 43/I (1950), S. 433; Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (319); Mössner, S. 123. 51

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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Ermittlung der Bedeutung des Vertragstextes.56 Eine Rückbindung an den Willen der Vertragsstaaten bleibt dabei insofern bestehen, als überwiegend57 der Vertragstext als die authentische Äußerung des Willens der Vertragsparteien begriffen wird. Diese Vermutung führt auch dazu, daß außerhalb des Vertragstextes liegende mögliche Erkenntnisquellen nur eine untergeordnete Rolle bei der Klärung der Bedeutung des Textes spielen. Verkürzt läßt sich somit der Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Theorie wie folgt ausdrücken: während die subjektive Theorie danach fragt, was die Parteien wollten, fragt die objektive Theorie danach, was die Parteien gesagt haben.58 2. Der Hintergrund des Theorienstreites im Völkerrecht a) Der Gegensatz von Parteiwille und Erklärung Die Existenz des Gegensatzes zwischen subjektiver und objektiver Auslegungstheorie im Völkerrecht überrascht nicht. Die Rechtsordnung des Völkerrechts stellt an die Gültigkeit eines völkerrechtlichen Vertrages die Anforderung, daß er auf einem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien beruht.59 Damit knüpft sie eine Rechtsfolge an einen im Inneren der Rechtssubjekte vorhandenen Zustand.60 Indes bedarf der Wille der Rechtssubjekte einer wahrnehmbaren Manifestation in der Außenwelt.61 Diese Manifestation geschieht zumeist in Form einer Erklärung.62 Das Medium dieser Erklärung, das Transportmittel aus dem Inneren in die Außenwelt, ist die Sprache. Die Erkenntnisse der Sprachwissenschaft haben jedoch ergeben, daß sprachliche Zeichen, die sich insofern von Zahlen unterscheiden, das subjektiv Gewollte stets nur unvollkommen und unscharf in der Außen56

Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 (1 f.); Sinclair, S. 115. Zu den anderen im Rahmen der objektiven Theorie vertretenen Auffassungen bezüglich des Verhältnisses von Parteiwille und Vertragstext vgl. unten im Text bei 2. c). 58 Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (319); auf diese Kurzformen lassen sich auch die subjektive und objektive Theorie in der innerstaatlichen Diskussion reduzieren, vgl. Koller, S. 205. Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, daß sich dort der Gesetzestext viel weiter vom „Willen“ des Gesetzgebers gelöst hat als im Völkerrecht. 59 Bernhardt, EPIL IV (2000), S. 926 (927); Dahm, Bd. 3, S. 5; Doehring, Rdnr. 334; Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn. Rdnr. 116; vgl dazu soeben oben im Text unter B. 60 So ausdrücklich Dahm, Bd. 3, S. 43; Karl, Spätere Praxis, S. 269. 61 Kelsen/Tucker, S. 455. 62 Dahm, Bd. 3, S. 5; zum Fall der konkludent abgegebenen Erklärungen im Völkerrecht, vgl. Doehring, Rdnr. 334. 57

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

welt abzubilden und wahrnehmbar zu machen vermögen.63 Dies führt dazu, daß zumindest theoretisch das subjektiv von den Vertragsparteien Gewollte und das von ihnen im Vertragstext objektiv Erklärte nicht exakt übereinstimmen.64 Vor dem Hintergrund dieses theoretischen Gegensatzes zwischen dem Willen der Vertragsstaaten und dem Inhalt des von diesen erklärten Vertragstextes stellt sich die Frage, ob das Ziel der Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages die Ermittlung des wahren Willens der Parteien oder der Bedeutung des Vertragstextes ist.65 b) Die subjektive Auslegungstheorie Eine Auslegungstheorie, die mit der Erforschung des wahren Willens der Vertragsparteien Ernst machen wollte, dürfte den Text eines völkerrechtlichen Vertrages allenfalls als Ausgangspunkt ihrer Suche nach dem Parteiwillen machen.66 Damit wäre der Vertragstext nur ein Indiz zur Ermittlung des tatsächlichen Willens.67 Daneben müßte der Interpret aber noch alle weiteren ihm zugänglichen Quellen ausschöpfen, aus denen er relevante Informationen über den Willen der Vertragsparteien gewinnen kann. Zu diesen Quellen zählen unter anderem die Entstehungsgeschichte des Vertrags, die Umstände des Vertragsschlusses und die Rechtslage vor Vertragsschluß. Bei einer derart verstandenen Auslegung wäre der Vertragstext allenfalls das die Interpretation auslösende Moment. Die Auslegung würde dabei aber in einer allgemeinen Suche nach den Gedanken und Vorstellungen der Vertragsparteien enden, die kaum als Auslegung im üblichen Sinne zu bezeichnen wäre.68 Vor diesem Hintergrund haben Vertreter der subjektiven Auslegungstheorie stets betont, daß der Text des Vertrages nicht eine unter mehreren gleichwertigen, sondern die wichtigste Erkenntnisquelle bei der Suche nach dem Parteiwillen ist.69 Dafür spricht vor allem die Tatsache, daß der Vertragstext auf eine Willensäußerung der Vertragsparteien zurückgeht. Daß der Vertragstext und das von den Vertragsparteien Gewollte einander entsprachen, war dabei aber nur eine widerlegbare Vermutung. Die Bestätigung oder Widerlegung dieser Vermutung ist Aufgabe der Auslegung.70 63

So bereits Vattel, 2. Buch (1758), Kap. XVII, § 262. Dazu bereits oben im Text unter A. I. 65 Dupuy, § 300 bezeichnet die beiden Theorien demnach auch folgerichtig mit den Begriffen Erklärungstheorie und Willenstheorie (Begriffe im Original). 66 In diesem Sinne etwa Punkt 1 des Resolutionsentwurfs von Lauterpacht, Ann.IDI 43/I (1950), S. 433. 67 Vgl. Bernhardt, S. 31. 68 Bernhardt, S. 31. 69 In diesem Sinne Dahm, Bd. 3, S. 46. 70 Bernhardt, S. 31. 64

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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Die Konsequenz einer auf die Ermittlung des Willens der Vertragsparteien ausgerichteten Auslegungstheorie ist, daß der Auslegungsvorgang immer dann ergebnislos zu verlaufen droht, wenn ein übereinstimmender Wille71 der Vertragsparteien nicht existiert.72 Dies ist in einer Reihe von Fallkonstellationen denkbar. Zum einen ist es möglich, daß die Vertragsparteien aufgrund der Mehrdeutigkeit sprachlicher Ausdrücke die im Vertragstext verwendeten Begriffe unterschiedlich verstehen.73 Ein ähnlicher Fall ist gegeben, wenn die Vertragspartner inhaltlich keine Einigkeit zu erzielen vermögen und eine von ihnen erkannte sprachliche Unschärfe dazu nutzen, um das Problem mit dem Vertragswortlaut zu überdecken (sogenannter dilatorischer Formelkompromiß).74 Weiterhin erscheint es möglich, daß die Vertragsparteien schlicht an eine bestimmte tatsächliche Konstellation bei Abschluß des Vertrages nicht gedacht haben, die aber vom Text des Vertrages erfaßt ist.75 Auch bei multilateralen Verträgen, die später beitretenden Staaten offenstehen, ist es unwahrscheinlich, daß die Gründungsstaaten und die später hinzu kommenden Staaten einen einheitlichen Regelungswillen besitzen.76 Vielmehr ist es wahrscheinlich, daß sie sich bei ihrer Entscheidung, sich den Vertragsstaaten anzuschließen, von dem Vertragstext haben leiten lassen.77 In all diesen Situationen droht die Gefahr, daß der dem wahren Willen der Vertragsparteien nachspürende Interpret dazu kommt, daß der konkrete Lebenssachverhalt vom Willen der Parteien nicht erfaßt ist.78 Bei den Vertretern der subjektiven Auslegungstheorie, unter denen Hersch Lauterpacht eine herausgehobene Stellung einnimmt, besteht Einigkeit, daß es die Aufgabe mit der Vertragsauslegung befaßter internationaler Gerichte ist, in Fällen, die prima facie in den Geltungsbereich eines Vertrages fallen, in denen sich aber kein gemeinsamer Parteiwille ermitteln läßt, diese Wil71 Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (205) weist ausdrücklich darauf hin, daß es bei der Vertragsauslegung um die Ermittlung des gemeinsamen Willens der Vertragsparteien („joint or common intentions“) geht. 72 Heintschel von Heinegg in: Ipsen, § 11 Rdnr. 4; Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (339); Jennings, RdC 121 (1967-II), S. 328 (222 f.); ders./Watts, Bd. 1.2, S. 1267, § 629. 73 Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (76). 74 Diesen ursprünglich von Carl Schmitt geprägten Begriff führt Karl, Spätere Praxis, S. 139 f., in das Völkerrecht ein. Vgl. auch Beckett, Ann.IDI 43/I (1950), S. 438; Bredimas, S. 18; Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (339); Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (76); auch Wengler, Bd. 1, S. 354, der sich ausdrücklich dagegen ausspricht, in diesen Situationen von einem Dissens zu sprechen. 75 Beckett, Ann.IDI 43/I (1950), S. 438; Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (339); Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (79). 76 Ähnlich Berber, Bd. 1, S. 479. 77 Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (205); ausführlich Köck, ÖZÖR 53 (1998), S. 217 (227 f.). 78 Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 494 f.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

lenslücke mit Hilfe des hypothetischen Parteiwillens zu schließen und den Rechtsstreit durch Anwendung des Vertrags zu lösen.79 Der hypothetische Parteiwille soll dabei durch eine Gesamtbetrachtung des Vertrages ermittelt werden, wobei auch die Umstände des Vertragsabschlusses, Ziel, Zweck und Geist des Vertrages sowie der bona fides-Grundsatz Berücksichtigung finden.80 Dieser offenkundige Bruch mit dem theoretischen Ausgangspunkt81 wird mit dem Bedürfnis nach einer effektiven gerichtlichen Streitschlichtung und der der internationalen Gerichtsbarkeit obliegenden Befriedungsfunktion (interest rei publicae sit finis litium) gerechtfertigt, die diese nur erfüllen kann, wenn sie abschließende Urteile fällt.82 Die Suche nach dem hypothetischen Parteiwillen ist aber nicht nur aus Sicht der theoretischen Grundlage der subjektiven Theorie problematisch, sie führt auch in der praktischen Durchführung zu einer Reihe von Unsicherheiten, weil sich die genannten Erkenntnisquellen als wenig konkret erweisen und daher dem Interpreten ein weites Ermessen und Raum für eigene Wertungen lassen.83 Dabei ist bemerkenswert, daß selbst dort, wo die mögliche Bedeutung des Vertragstextes einen nicht vom Willen umfaßten Sachverhalt erfaßt, der Vertragstext zur Lösung des Problems nicht herangezogen wird.84 79 So ausdrücklich Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1267 f., § 629, die insofern nicht eindeutig der objektiven oder subjektiven Auslegungslehre zugeordnet werden können; Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (75 ff., insb. S. 77, 79, 80); O’Connell, Bd. 1, S. 252. 80 Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (75 ff., insb. S. 77, 79, 80). 81 Dies gibt Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (80) ausdrücklich zu. 82 Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (78). Diese Ansicht Lauterpachts steht in engem Zusammenhang mit der an anderer Stelle geäußerten Meinung, daß ein Satz des Völkergewohnheitsrechts existiert, der es internationalen Gerichten verbietet, ein non liquet festzustellen; vgl. Lauterpacht, in: E. Lauterpacht, Bd. 2, S. 213–237. Weitere Nachweise zur Diskussion bei Jennings/Watts, Bd.1.1, S. 12/13 mit Fn. 24, sowie Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 19 Rdnr. 8. 83 Diese Gefahr erkennt auch Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (75 f.). 84 Vgl. Lauterpacht, BYIL 26 (1949), S. 48 (79): Lauterpacht beschreibt den Fall, daß die Vertragsparteien einen später auftretenden Sachverhalt bei Vertragsschluß nicht vorausgesehen und deshalb nicht in ihren Regelungswillen aufgenommen haben. Als Beispiel dafür führt er das Gutachten des StIGH zur Auslegung der Convention Concerning Employment of Women during the Night vom 15.11.1932 (StIGH, Serie A/B Nr. 50) an. Dabei mußte der StIGH begutachten, ob die Konvention auch die Nachtarbeit von Frauen in leitender Stellung untersagte. Art. 3 der besagten Konvention sprach allgemein von „women“, ohne dies näher zu qualifizieren. Der StIGH berief sich auf die gewöhnliche Bedeutung des Wortes „women“ und erklärte es für irrelevant, daß die Parteien das Problem nicht gesehen hatten. In seiner Kommentierung dieser Passage des Gutachtens erwähnt Lauterpacht die Bezugnahme des StIGH auf den Wortlaut nicht, sondern greift erneut auf den mutmaßlichen Willen zurück (S. 79, 80): „In these and similar cases the common intention in relation to the particular case must be derived from the common intention of the treaty as a whole – from its policy, its object, and its spirit.“

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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c) Die objektive Auslegungstheorie Die dargestellten Schwierigkeiten und Brüche in der Argumentation der subjektiven Theorie lassen sich nur überwinden, wenn der Vertragstext beziehungsweise die Ermittlung seiner Bedeutung in den Vordergrund der Auslegung gestellt wird, um damit die Ermittlung des Parteiwillens gleichzeitig in den Hintergrund treten zu lassen. Hierbei kommen in der völkerrechtlichen Literatur drei unterschiedliche Konstruktionen zum Zuge: Zum einen wird vertreten, daß bei der Auslegung der Wille der Vertragsparteien, so wie er im Vertragstext zum Ausdruck gekommen ist, ermittelt werden muß.85 Damit werden vom Vertragstext abweichende, darüber hinausgehende oder nicht an ihn heranreichende Willensinhalte für unbeachtlich erklärt. Weiterhin wird mit einer Vermutung gearbeitet, die besagt, daß der Vertragstext der authentische Ausdruck des Willens der Vertragsparteien ist.86 Anders als im Rahmen der subjektiven Theorie87 bedarf es hier, um einen Rückfall in die Ermittlung des Parteiwillens zu vermeiden, aber einer unwiderlegbaren Vermutung.88 Diese beiden Ansätze stimmen insofern überein, als sie rein formal betrachtet als Ziel der Auslegung die Ermittlung des Parteiwillens beibehalten, aber eben die Ermittlung des im Vertragswortlaut zum Ausdruck gekommenen Parteiwillens. Tatsächlich aber läuft die Auslegung darauf hinaus, die Bedeutung des Vertragstextes zu ermitteln. Dieses ist auch der Ansatz der dritten Konstruktion. Sie erklärt den Willen der Vertragsparteien schlichtweg für hinfällig und macht die Ermittlung der Bedeutung des Vertragstextes zum Ziel der Auslegung.89 Dieser Bruch mit dem Willen der Vertragsparteien geht mit einer grundsätzlich skeptischen Haltung gegenüber dem Staatswillen einher, die mit dem Argument begründet wird, daß seit dem Aufkommen der gewaltenteilig organisierten Staaten und der Ablösung des Absolutismus hinter staatlichen Entscheidungen kein individueller Wille mehr steht und daß daher die Annahme eines solchen Willens auch im außenpolitischen Bereich auf einer bloßen Fiktion beruht.90 85

McNair, S. 365. Vgl. Bredimas, S. 15; Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (207); Jennings, RdC 121 (1967-II), S. 328 (545); Reuter, §§ 65 ff. & 142 f.; Sinclair, S. 115. 87 Dazu soeben oben im Text unter b). 88 Zum Unterschied von unwiderleglichen und widerleglichen Vermutungen vgl. Rüthers, Rdnr. 137 f. Auch Jennings, RdC 121 (1967-II), S. 328 (545), der ausdrücklich von einer „assumption“ statt von einer „presumption“ spricht, geht von einer unwiderleglichen Vermutung aus. 89 Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 4. 90 Jacobs, ICLQ 18 (1969), S 318 (339); J. P. Müller, S. 136; kritisch auch Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 4. 86

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Der Versuch, den möglichen Gegensatz zwischen subjektiv Gewolltem und objektiv im Vertragstext zum Ausdruck Gebrachtem zu überwinden, hat in der Literatur viele Befürworter gefunden.91 Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, daß damit das ursprüngliche Problem, nämlich die Tatsache, daß Sprache das Gewollte nur unzureichend auszudrücken vermag, nur mit Hilfe einer Fiktion überwunden wird. Diese Fiktion, die sich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der modernen Linguistik nur schwer rechtfertigen läßt, bringt es mit sich, daß der tatsächliche Parteiwille beim Auslegungsvorgang unter Umständen nicht vollständig berücksichtigt wird. Dieses Ergebnis ist in einer Rechtsordnung, in der eines der Grundprinzipien die Souveränität der Rechtssubjekte ist,92 durchaus problematisch. Das Eingehen vertraglicher Bindungen stellt einen Akt der Ausübung staatlicher Souveränität dar.93 Eine strikt an der Souveränität orientierte Auslegung würde es sich zum Ziel machen, den Umfang der durch die Souveränitätsausübung begründeten Rechte und Pflichten möglichst exakt zu bestimmen. Da die Souveränitätsausübung im Rahmen des Vertragsschlusses aber gerade durch eine Willensäußerung geschieht, müßte die Auslegung um die Erforschung des Willens bemüht sein. Demnach wird eine Auslegung, die den tatsächlichen Willen der Vertragsstaaten nur unzureichend berücksichtigt, der Ausübung der Souveränität durch die Vertragsstaaten nur in eingeschränktem Maße gerecht.94 Durch eine objektiv ausgerichtete Auslegungsmethode werden indes stabile internationale Beziehungen und Rechtssicherheit gewährleistet.95 Völkerrechtssubjekte, insbesondere also Staaten, schließen völkerrechtliche Verträge, um ihre Rechtsbeziehungen untereinander zu regeln. Dabei werden die Staaten, unabhängig vom jeweiligen Vertragsgegenstand, von dem Wunsch geleitet, in einem höheren Maße als dies durch die Regeln des Gewohnheitsrechts geschieht, Stabilität und Sicherheit in den internationalen Beziehungen zu erzielen. Nicht zuletzt wegen der Auslegungsfähigkeit und der Auslegungsbedürftigkeit völkerrechtlicher Verträge, verbleiben den Vertragspartnern aber selbst innerhalb vertraglich geregelter Bereiche stets Handlungsspielräume,96 die Anlaß zu Unsicherheiten und gegebenenfalls zu Streitigkeiten geben. Je geringer die Handlungsspielräume sind, desto höher ist die durch die jeweiligen Verträge erzielte Rechtssicherheit. Der Umfang der Handlungsspielräume wird entscheidend auch dadurch be91

Bernhardt, S. 32; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1267, § 629 und S. 1271, § 632. Dazu Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn. Rdnr. 73. 93 Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn. Rdnr. 73. 94 Grundmann, S. 60; Karl, in: Schreuer, S. 9 (13). 95 Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (496); Bredimas, S. 16; Neuhold, AVR 15 (1971/72), S. 1 (29). 96 Vgl. Karl, in: Schreuer, S. 9 (10). 92

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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stimmt, nach welcher der beiden dargestellten Auslegungstheorien bei der Interpretation der Vertragsbestimmungen verfahren wird. Ist es den Parteien gestattet, sich von der Grundlage des Vertragstextes zu lösen und ihr Verhalten auf einen allenfalls nur vage feststellbaren Parteiwillen zu stützen, dann erweitern sich dadurch die möglichen Handlungsspielräume. Müssen sich die Vertragsparteien hingegen an dem Vertragstext als der authentischen Äußerung und Festschreibung des Parteiwillens messen lassen, so werden die möglichen Handlungsspielräume verengt und auf eine verläßlichere Basis gestellt, wodurch Rechtssicherheit und Vertrauen in die Vertragsbeziehungen steigen. Abgesehen von diesen grundsätzlichen Überlegungen zugunsten einer objektiven Auslegungslehre darf nicht übersehen werden, daß sich – trotz aller berechtigter Zweifel am Ausdrucksvermögen sprachlicher Zeichen – die Notwendigkeit, auf die Fiktion zurückzugreifen, durch ein sorgfältiges Abfassen eines Vertrages in gewissem Umfang verhindern läßt97, was ja in der Realität, wo eine Heerschar von Politikern und Juristen über das Abfassen eines Vertrages wacht, auch geschieht.98 Exkurs – Die teleologische Auslegungstheorie In der völkerrechtlichen Literatur wird häufig eine neben der objektiven und subjektiven Auslegungstheorie stehende Auslegungslehre, die sogenannte teleologische Auslegungslehre, identifiziert.99 Hierbei zielt die Auslegung nicht so sehr darauf ab, die Bedeutung bestimmter Begriffe oder einzelner Bestimmungen des Vertrages zu ermitteln. Vielmehr geht es darum Ziel(e) und Zweck(e) des Vertrages (object[s] and purpose[s]) zu bestimmen und vor diesem Hintergrund einzelne Vertragsbestimmungen so zu konstruieren, daß sie effektiv zur Erreichung von Ziel und Zweck des Vertrags beitragen.100 Diese Auslegungstheorie entfernt sich recht weit von der Vorstellung, daß der Vertragstext den Willen der Vertragsparteien zum Ausdruck bringt. Vielmehr wird es für möglich gehalten, daß der Vertrag einem sowohl vom Willen der Vertragsparteien als auch vom Vertragstext losgelösten, selbständigen objektiven Regelungszweck hat.101 Damit weist diese Theorie eine gewisse Nähe zu der objektiven Theorie der Auslegung nationaler Gesetze auf. Diese völkerrechtliche Auslegungstheorie wurde im 97

Dazu Rest, S. 162 ff. Bredimas, S. 16. 99 Die Unterscheidung geht zurück auf Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 ff.; vgl. auch Grundmann, S. 55 f. 100 Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (319). 101 Brownlie, Principles, S. 637; Grundmann, S. 105. 98

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

wesentlichen im Zusammenhang mit den Gründungsverträgen internationaler Organisationen entwickelt.102 Allerdings hat Bernhardt zu Recht darauf hingewiesen, daß es sich hierbei nicht um eine eigenständige Theorie handelt, sondern daß lediglich ein Gesichtspunkt der Auslegung (d.h. ein anzuwendendes Auslegungskriterium), das innerhalb beider Theorien eine Rolle spielen kann, besonders betont wird.103 Denn sowohl die Vertreter der subjektiven Theorie als auch die Vertreter der objektiven Theorie halten es für geboten, zur Ermittlung des Parteiwillens beziehungsweise zur Ermittlung der Bedeutung des Vertragstextes auf Ziel und Zweck des Vertrages zurückzugreifen.104 3. Die praktische Bedeutung der theoretischen Auseinandersetzung Ihren praktischen Niederschlag findet die zwischen den beiden Auslegungslehren geführte Auseinandersetzung vor allem in der Frage, welche Bedeutung den travaux préparatoires im Auslegungsprozeß zukommt.105 Für die Vertreter der subjektiven Auslegungslehre ist der Vertragstext nur der Ausgangspunkt bei der Erforschung des Willens des Normgebers. Daneben werden aber auch außerhalb des Textes liegende vermeintliche Objektivierungen der Vorstellungen und Absichten der Vertragsparteien herangezogen. Unter diesen nehmen die Materialien, die Aufschluß über die Entstehung des Vertrags geben106, eine vorrangige Stellung ein.107 Für die Vertreter der objektiven Theorie ist der Vertragstext der vorrangige Gegenstand ihrer Auslegungsbemühungen. Nur wenn sich durch die Analyse des Vertragstexts selbst kein eindeutiger Sinn desselben ermitteln läßt, ist subsidiär der Rückgriff auf außerhalb des Textes liegende Materialien zulässig.108 102

Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 (8) mit Fn. 1; Bredimas, S. 19 f.; Neuhold, AVR 15 (1971/1972), S. 1 (28). 103 Bernhardt, S. 15 mit Fn. 85; auch in seinem neueren Beitrag zur Vertragsauslegung beschränkt sich Bernhardt auf die subjektive und objektive Auslegungstheorie, vgl. Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416; ebenso Mössner, S. 123; Berührungspunkte zwischen der teleologischen Auslegungslehre und den beiden klassischen Theorien sieht auch Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (208 f.); ebenso Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (319); Karl, in: Schreuer, S. 9 (14). 104 Für die subjektive Theorie wird dies deutlich bei Dahm, Bd. 3, S. 50; für die objektive Auslegungstheorie wird dies deutlich bei Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1273; zur Berücksichtigung von Ziel und Zweck eines Vertrages bei der Auslegung, vgl. unten im Text im 2. Kap. D. I. 105 Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 (5); Sinclair, S. 116. 106 Hierzu gehören die Protokolle, über die dem Vertragsschluß vorangehenden Verhandlungen, über Plenarsitzungen und über internationale Konferenzen, auf der die Annahme eines Vertragstextes vereinbart wurde, sowie die verschiedenen, dem endgültigen Vertragstext vorangehende Vertragsentwürfe, vgl. Grundmann, S. 77 f. 107 Seidl-Hohenveldern/Stein, Rdnr. 357; Rest, S. 56.

1. Kap.: Die theoretischen Grundlagen

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4. Die Einordnung des Theorienstreits in allgemeine völkerrechtliche Entwicklungen Über eine relativ lange Zeit war die subjektive Auslegungstheorie die in der Völkerrechtswissenschaft überwiegend vertretene Auffassung.109 Vor allem in bilateralen vertraglichen Beziehungen zwischen zwei Staaten erschien sie lange Zeit als sachgerecht. Bilaterale Verträge sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar mit Verträgen zwischen zwei Privatrechtssubjekten, bei denen in den allermeisten Fällen ein einheitlicher Wille vorhanden und problemlos zu ermitteln ist. Erst das Aufkommen multilateraler Verträge führte dazu, daß die subjektive Theorie zunehmend in Frage gestellt wurde. Die Ursache hierfür ist darin zu sehen, daß die Kritik an der subjektiven Theorie vor allem auf multilaterale Verträge zutrifft. In der völkerrechtlichen Literatur läßt sich eine Übergangsphase feststellen, während der der subjektive Ansatz auf bilaterale Verträge, der objektive Ansatz hingegen auf multilaterale Verträge Anwendung fand.110 Vor allem seit der Kodifizierung der Auslegungsregeln in den Art. 31 und 32 WVRK, die nach überwiegender Auffassung einer gemäßigten objektiven Theorie folgen,111 finden sich in der völkerrechtlichen Literatur nur noch wenige Stimmen, die den subjektiven Ansatz befürworten.112 Dies mag auch damit zusammenhängen, daß das Völkerrecht in zunehmenden Maße die Züge einer objektiven, vom Willen der Staaten unabhängigen Rechtsordnung annimmt, in der das Willenselement zugunsten anderer Elemente, etwa dem der Rechtssicherheit oder des Vertrauensschutzes zurücktritt.113

E. In claris non fit interpretatio? Bevor das „Wie“ der Auslegung, also die einzelnen Methoden der Auslegung, zu betrachten ist, stellt sich noch die Frage nach dem „Ob“ der Auslegung. Hintergrund dieser Frage ist die bereits im römischen Recht114 auftauchende sens clair- oder plain meaning-Regel, die für das Völkerrecht 108

Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (319); Mössner, S. 123; Neuhold, AVR 15 (1971/1972), S. 1 (28). 109 Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 (3). 110 Dies klingt an bei Bernhardt, S. 21 f.; Bredimas, S. 18; Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 (3). 111 Vgl. statt vieler Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 5; Neuhold, AVR 15 (1971/1972), S. 1 (28); a. A. aber Doehring, Rdnr 391. 112 So ausdrücklich neuestens Doehring, Rdnr. 391. 113 Dazu Karl, in: Schreuer, S. 9 (12 f.); J. P. Müller, S. 145 ff. 114 Cum in verbis nulla ambiguitas est, non debet admitti voluntatis quaestio, D. 32, 25, 1, zitiert nach Coing, S. 266 mit Fn. 9.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

erstmals von Vattel115 mit den Worten in claris non fit interpretatio formuliert wurde.116 Danach darf nicht ausgelegt werden, soweit der Wortlaut einer Vertragsnorm klar ist. Diese Regel hat insbesondere bei den Vertretern der objektiven Auslegungstheorie Anklang gefunden, die, wie oben gesehen, dem Ausdrucksvermögen sprachlicher Zeichen grundsätzlich positiver gegenüberstehen als die Anhänger der subjektiven Auslegungstheorie. Voraussetzung der sens clair-Regel ist ja, daß eine Norm tatsächlich allein aufgrund ihres Wortlautes eine verständliche und klare Verhaltensregel aufstellt. Vielfach, vor allem von den Vertretern der subjektiven Auslegungstheorie, ist die sens clair-Regel als Tautologie beziehungsweise als petitio principii bezeichnet worden.117 Der Einsicht, daß eine Rechtsnorm klar sei, gehe stets ein Auslegungsvorgang voraus, sie könne aber niemals einem Auslegungsvorgang vorgelagert sein. In Teilen der Literatur ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß es sich um eine Frage der Definition und des Standpunktes handelt, ob die Feststellung darüber, ob der Text einer Norm verständlich und klar oder unverständlich und unklar ist, zur Auslegung gehört.118 Für eine enge Auffassung von Auslegung beginnt der Interpretationsvorgang erst, wenn der Text nicht aus sich heraus verständlich ist, während ein weites Verständnis von Auslegung bereits die erste Annäherung an den Text als Auslegung begreift.119 Mit dieser Erkenntnis wird der Streit um die Frage, ob eine Auslegung erforderlich ist, wesentlich entschärft. Dabei ist nicht zu bestreiten, daß ein Normtext in bestimmten Fällen aus sich heraus verständlich ist.120 Anderenfalls wäre Kommunikation mit Hilfe von Sprache nahezu unmöglich.121

115

Vgl. dazu Bernhardt, S. 7. Vattel, 2. Buch (1758), Kap. XVII, § 263; dieser Satz wird teilweise auch als plain meaning rule bezeichnet; vgl. J. P. Müller, S. 136. 117 Bredimas, S. 16; Grundmann, S. 70; McNair, S. 372; kritisch auch Rüthers, Rdnr. 732 f. 118 Köck, S. 60; Mennicken, S. 11. 119 Köck, S. 60. 120 In diesem Sinne auch Röhl, § 76 I 2, S. 597. Das dort wie auch anderswo immer wieder angesprochene Problem des Redaktionsversehens soll hier außer Acht bleiben. 121 So auch Jacobs, ICLQ 18 (1969), S. 318 (340). 116

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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2. Kapitel

Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht A. Einleitung Die nachfolgend dargestellten Auslegungsmethoden und -regeln haben sich über eine lange Zeit hinweg entwickelt. Diese Entwicklung wurde in gleichem Maße vom völkerrechtlichen Schrifttum, beginnend mit den Klassikern Grotius und Vattel, und der völkerrechtlichen Rechtsprechung, insbesondere des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs, aber auch einer Vielzahl von Schiedsgerichten, befördert. Damit gehen die Regeln und Grundsätze der Vertragsauslegung nur auf einem Teil der eingangs beschriebenen Subjekte der Vertragsauslegung122 zurück. Dies ergibt sich daraus, daß im wesentlichen nur internationale Gerichte in ihren Entscheidungsbegründungen auch methodische Ausführungen machen. Insbesondere die internationalen Rechtsprechungsorgane, deren Existenz vom Konsens der Staaten abhängt, sind stets bemüht, nicht nur ihre Auslegungsergebnisse, sondern auch den Auslegungsvorgang und die dabei zur Anwendung gebrachten Regeln darzustellen. Hinter diesem Vorgehen steht die Erkenntnis, daß transparente Entscheidungen die Akzeptanz der Entscheidungen durch die Staaten erhöht, was wiederum die zukünftige Existenz der Gerichte sichert. Demgegenüber verläuft die individuelle Auslegung durch die Vertragsparteien, seien es Staaten oder internationale Organisationen, zumeist stillschweigend. Auf Seiten der Vertragsstaaten erfolgt die individuelle Auslegung der eingegangenen Verträge vielfach durch die Außenministerien und andere mit internationalen Bezügen in Berührung kommende Teile der Exekutive. Dabei werden allenfalls die Ergebnisse des Auslegungsvorganges in Form der Vertragsanwendung sichtbar, ohne daß sich im Einzelfall ermitteln läßt, wie ein bestimmtes Auslegungsergebnis erzielt wurde. Allenfalls der Rechtsprechung nationaler Gerichte lassen sich mitunter Aussagen über die Auslegung völkerrechtlicher Verträge entnehmen. Indes ist dabei teilweise festzustellen, daß nationale Gerichte die ihnen vertrauten Auslegungsmethoden nationaler Gesetze oder Verträge anwenden, die sich mitunter von den im Völkerrecht anzuwendenden Auslegungsgrundsätzen unterscheiden.123 122

Vgl. dazu oben im Text im 1. Kap. C. Vgl. beispielhaft dazu American Law Institute, Restatement of the Law 3rd, Bd. 1, § 325, S. 200 (Reporters’ Note 4). 123

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Ähnliches gilt für die individuelle Auslegung durch die Organe internationaler Organisationen. Auch hier laufen die Auslegungsvorgänge vielfach ab, ohne daß die dabei angestellten methodischen Erwägungen publik werden. Eine Ausnahme bilden hier insofern die richterlichen Organe internationaler Organisationen, die ebenfalls einen beachtlichen Anteil an der Entwicklung der Methoden zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge haben. Der so beschriebene Zustand führt dazu, daß die überwiegende Zahl der Auslegungsvorgänge, also die Interpretationen durch die Vertragsparteien und die meisten Organe internationaler Organisationen, bei der Regelbildung nahezu unberücksichtigt bleiben. Dies ist indes nicht als Verlust anzusehen.124 Vor allem die Interpretationen der Vertragsparteien und hier wiederum insbesondere der Staaten erlauben, selbst wenn sie übereinstimmen, keine verläßlichen Rückschlüsse auf die dabei zur Anwendung gekommenen Auslegungsmethoden. Den Vertragsparteien steht es frei, den Vertrag auch formlos zu ändern oder aufzuheben. Ob es sich in einem konkreten Fall um eine Auslegung oder um eine Vertragsänderung handelt, läßt sich demnach nie mit Sicherheit sagen. Demnach ist es nicht ratsam, aus dem Ergebnis eines solchen Vorganges Regeln für den Auslegungsvorgang ableiten zu wollen. Anders verhält es sich bei der Vertragsauslegung durch internationale Gerichte und richterliche Organe internationaler Organisationen. Sie sind ausschließlich zur Anwendung und Auslegung von Verträgen berechtigt, nicht jedoch zu deren Änderung,125 so daß ihre methodischen Ausführungen idealiter stets als Regeln der Auslegung zu verstehen sind.126 Abschließend soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die nachfolgend dargestellten Auslegungsregeln keine Erfindungen des völkerrechtlichen Schrifttums und der internationalen Rechtsprechung darstellen. Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge weist in ihren Grundzügen Übereinstimmungen mit der Auslegung anderer Rechtstexte, insbesondere privatrechtlicher Verträge und staatlicher Gesetze auf.127 Dies zeigt sich darin, daß auch im Völkerrecht die in anderen Rechtsordnungen anerkannten Methoden, Wortlautauslegung, systematische Auslegung, teleologische Auslegung und historische Auslegung, anerkannt sind.128 Dies verwundert insofern nicht, als die Auslegung von Rechtstexten lediglich einen Ausschnitt des Problems der Auslegung und des Verstehens von Texten darstellt.129 Allerdings werden diese Methoden durch das Erkenntnisobjekt, den völker124 125 126 127

Zum folgenden Bernhardt, S. 44. Grundlegend Lauterpacht, The Development of International Law, S. 75. Bernhardt, S. 49. Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1269 f.; vorsichtig zustimmend auch Bernhardt,

S. 2. 128

Bleckmann, S. 89; Berber, Bd. 1, S. 476.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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rechtlichen Vertrag, modifiziert und erfahren ihr eigenes Gepräge. Zusätzlich ergeben sich aus den individuellen Gegebenheiten der Rechtsordnung, in die der völkerrechtliche Vertrag eingebettet ist, weitere spezifische Auslegungskriterien. Bernhardt hat darauf hingewiesen, daß die heutzutage bei der Auslegung zur Anwendung kommenden Methoden und Regeln allesamt auch als Konkretisierung des naturrechtlich inspirierten bona fides-Grundsatzes zu begreifen sind.130 Dies steht indes nicht in Widerspruch zu den zuvor dargestellten Gemeinsamkeiten der Auslegung von Rechtstexten. Denn auch in den übrigen Rechtsordnungen, mit denen das Völkerrecht eine Reihe der nachfolgend beschriebenen Methoden und Regeln gemeinsam hat, verbietet sich eine rechtsmißbräuchliche und spitzfindige Auslegung. Die Entwicklung der Auslegungsmethoden und -grundsätze durch die internationale Gerichtsbarkeit ist im völkerrechtlichen Schrifttum reich dokumentiert.131 Aus diesem Grund kann sich die nachfolgende Darstellung im wesentlichen auf Nachweise aus dem Schrifttum beschränken.

B. Die Wortlautauslegung Ausgangspunkt der Auslegung völkerrechtlicher Verträge ist die Ermittlung der Wortbedeutung der im auszulegenden Vertragstext verwendeten Worte. Bei dieser sogenannten Wortlautauslegung ist zunächst davon auszugehen, daß sich die Vertragsparteien zur Regelung ihrer Rechtsbeziehungen einer allgemein üblichen und allgemein verständlichen Sprache bedient haben.132 Daher ist bei der Suche nach der Wortbedeutung zunächst danach zu fragen, welche Bedeutung die verwendeten Worte im allgemeinen Sprachgebrauch haben.133 Diese Bedeutung wird als natürliche und gewöhnliche Bedeutung oder als ordinary meaning bezeichnet. Zur Bestimmung der natürlichen und gewöhnlichen Bedeutung der im Vertragstext verwendeten Worte können sich die zur Auslegung berufenen Personen und Gremien, ihrer eigenen Sprachkompetenz bedienen.134 Wert129 Auf diese Zusammenhänge weist Coing, S. 261 und S. 264 hin; vgl. auch Karl, in: Schreuer, S. 9 (11); Köck, ZÖR 53 (1998), S. 217, 220; Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 272 (275). 130 Bernhardt, S. 24. 131 Vgl. nur Bernhardt, S. 58–184; Grundmann, S. 47–191; McNair, S. 364–431; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1269–1284; Rest, S. 38–161; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (16–73). 132 Brownlie, Principles, S. 634; Dahm, Bd. 3, S. 44. 133 Aust, S. 188; Bernhardt, S. 79. 134 Rüthers, Rdnr. 413.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

volle Hinweise dafür, welche Bedeutung Worte üblicherweise haben, liefern aber auch allgemeine Wörterbücher.135 Ein Rückgriff auf Wörterbücher kann insbesondere dann von Nutzen sein, wenn die Vertragssprache den zur Auslegung berufenen Personen nicht als Muttersprache vertraut ist. Während grundsätzliche eine Vermutung dafür besteht, daß die Vertragsparteien die Worte in ihrer gewöhnlichen Bedeutung verwendet haben, ist die Verwendung eines Wortes in einer vom gewöhnlichen Sprachgebrauch abweichenden Bedeutung bei der Abfassung eines Vertrags indes nicht ausgeschlossen. Sofern sich eine Vertragspartei gegenüber einer anderen Vertragspartei auf die Verwendung eines Wortes in einer speziellen Bedeutung beruft, obliegt es dieser Partei, die Verwendung des Wortes in der besonderen Bedeutung zu beweisen.136 Die Indizien für den zu führenden Beweis sind aus den bei der Auslegung zu heranzuziehenden übrigen Erkenntnisquellen zu gewinnen.137 Bei der Ermittlung der gewöhnlichen Bedeutung eines Wortes ist grundsätzlich auf die Bedeutung abzustellen, die das Wort im Zeitpunkt des Vertragsschlusses hatte.138 Nach diesem Grundsatz, der einen Aspekt des sogenannten principle of contemporaneity darstellt,139 bleiben nach Vertragsschluß auftretende Bedeutungsänderungen der im Vertrag verwendeten Begriffe bei der Auslegung unberücksichtigt.140 Für die subjektive Auslegungstheorie ergibt sich diese Position aus dem mit der Auslegung verfolgten Ziel, den übereinstimmenden wahren Parteiwillen zu ermitteln.141 Die den Vertrag konstituierende Willensübereinstimmung der Vertragsparteien lag im Zeitpunkt des Vertragsschlusses vor. Daher liegt es für die Vertreter der subjektiven Theorie nahe, die Auslegung auf diesen Zeitpunkt zu beziehen und die Auslegungsmethoden und somit auch die Wortlautauslegung in den Dienst der Ermittlung des Parteiwillens bei Vertragsschluß zu stellen.142 Für die objektive Auslegungstheorie, die die Auslegung in stärkerem Maße am Vertragstext orientiert, ist der Vertragstext die Manifestation des 135

Grundmann, S. 66 f.; vgl. auch Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (22, 23). Brownlie, Principles, S. 634; Dahm, Bd. 3; S. 45; Jennings/Watts, Oppenheims’s International Law, Bd. 1.2, S. 1272 mit Fn. 8. 137 Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (501). 138 Berber, Bd. 1, S. 478; Brownlie, Principles, S. 634; Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (225); O’Connell, Bd. 1, S. 257 f. 139 Dazu allgemein D’Amato, EPIL II (1995), S. 1234–1236; Higgins, in: FS Skubiszewski, S. 173–181; Thirlway, BYIL 60 (1989), S. 1 (128–143). 140 Zum Bedeutungswandel Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (496); D’Amato, EPIL II (1995), S. 1234; Rüthers, Rdnr. 152 f., 162. 141 Dazu oben im Text im 1. Kap. D. III. 1. 142 Vgl. auch Bernhardt, S. 75, der aber eine Öffnung des Vertrags für den Bedeutungswandel für wünschenswert hält; Haraszti, S. 89. 136

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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Parteiwillens. Damit ergeben sich zunächst dieselben Überlegungen wie im Rahmen der subjektiven Theorie.143 Gleichwohl fällt es Vertretern der objektiven Theorie leichter, den Vertrag sprachliche Veränderungen mit vollziehen zu lassen.144 Aufgrund ihrer stärkeren Orientierung am Vertragstext treten der Parteiwille und dessen Einbindung in den historischen Kontext in den Hintergrund.145 In gleichem Maße öffnet sich der Vertrag für einen Bedeutungswandel.146 Indes führt dies keineswegs zu einer Umkehrung der oben aufgestellten Regel. Vielmehr muß der Interpret stets, wiederum im Wege der Auslegung, prüfen, ob die in den Vertragstext aufgenommenen Worte einen zeitbedingten sprachlichen Bedeutungswandel mit vollziehen können und sollen.147

C. Die Systematische Auslegung Eng verbunden mit der Wortlautauslegung ist die systematische Auslegung, in deren Rahmen untersucht wird, welche Rückschlüsse auf die Bedeutung der im Vertragstext verwendeten Worte aus dem Zusammenhang gezogen werden können, in dem die Worte verwendet werden. Eine Untersuchung des Zusammenhangs, in dem die auszulegenden Worte Verwendung gefunden haben, ist in zweifacher Hinsicht geboten. I. Der syntaktische Zusammenhang Sprachliche Äußerungen sind oftmals semantisch bedingt unvollständig und erhalten erst durch den syntaktischen Zusammenhang, in den sie eingebettet sind, ihre Bedeutung.148 Diese allgemeine sprachliche Erkenntnis gilt auch für innerhalb von völkerrechtlichen Verträgen verwendete sprachliche Äußerungen.149 Dementsprechend sind im Rahmen der systematischen Aus143 Dupuy, § 302; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 6; ausführlich Thirlway, BYIL 60 (1989), S. 1 (135 ff.). 144 Bleckmann, S. 103, 104. 145 Vgl. zu den verschiedenen Variationen der objektiven Auslegungstheorie oben im 1. Kap. D. III. 2. c). 146 Bleckmann, S. 103; Karl, Spätere Praxis, S. 83. 147 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 21; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (57). Auch für die subjektive Auslegungstheorie erscheint es möglich, daß der Parteiwille dahingeht, daß die im Vertragstext verwendeten Worte einen Bedeutungswandel mit vollziehen. Zum Nachweis eines entsprechenden Parteiwillens ist auf die Handhabung der jeweiligen Vertragsbestimmung durch die Parteien abzustellen. Hierzu sind, soweit ersichtlich, bislang weder in Rechtsprechung noch in der Literatur Überlegungen angestellt worden. 148 Beispielhaft Rüthers, Rdnr. 165. 149 Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 502.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

legung zunächst die das auszulegende Wort umgebenden Worte daraufhin zu untersuchen, welche Aussage sich ihnen bezüglich der Bedeutung des auszulegenden Wortes entnehmen läßt.150 II. Der Sinnzusammenhang Die einzelnen Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrags stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern in einer inhaltlichen Beziehung zueinander. Diese Beziehung – der sogenannte Sinnzusammenhang – zwischen den einzelnen Vorschriften wird dadurch hergestellt, daß alle Vorschriften Teilregelungen der mit dem Vertrag bezweckten Gesamtregelung einer internationalen Angelegenheit darstellen und daß alle Teilregelungen zur Erreichung des Vertragszwecks beitragen.151 Aus dieser Erkenntnis folgt, daß die Antwort auf eine Auslegungsfrage nicht nur im Text der auszulegenden Vorschrift zu suchen ist, sondern auch in anderen Teilen des Vertrags. Dazu zählen alle übrigen Vorschriften des Vertrags sowie dessen Präambel und etwaige Anhänge.152 Etwas anderes gilt nur dann, wenn einzelne Teile des Vertrags self-contained sind.153 Dies ist der Fall, wenn bestimmte Teile eines Vertrags ersichtlich außerhalb des Regelungsgegenstandes der übrigen Vertragsteile stehen.154 Die Erkenntnis, daß die einzelnen Bestimmungen eines völkerrechtlichen Vertrags nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern eine Einheit bilden, rechtfertigt auch die – widerlegbare – Vermutung, daß ein an verschiedenen Stellen des Vertrags verwendetes Wort durchgängig dieselbe Bedeutung hat.155

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Der syntaktische Zusammenhang entspricht dem bei Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Buch I, Kap. IV, § 33, S. 214 auftauchenden logischen Element der Auslegung. Teile der Literatur beziehen den syntaktischen Zusammenhang in die hier enger verstandene Wortlautauslegung mit ein; vgl. allgemein Koller, S. 212; im Völkerrecht, Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 505. Wie hier Köck, ZÖR 53 (1998), S. 217 (219 mit Fn. 8). 151 Bernhardt, S. 81; Dahm, Bd. 3, S. 44; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (37/ 38). 152 Brownlie, Principles, S. 634 f.; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 505; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (30). 153 Dazu Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1273 mit Fn. 12; O’Connell, Bd. 1, S. 256. 154 Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1273 mit Fn. 12 führen hier das Beispiel der ILOSatzung an, die nur formell Bestandteil des Versailler Vertrags war, jedoch materiell nicht zu den Regeln des „Friedens“-Vertrags gehörte; dazu noch ausführlich unten im 2. Teil 2. Kap. D. II. 155 Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1273 mit Fn. 12.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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D. Die Teleologische Auslegung Gegenstand der teleologischen156 Auslegung ist die Untersuchung, welche Rückschlüsse auf die Bedeutung einer Vertragsnorm aus dem mit dieser Norm und dem gesamten Vertrag verfolgten Ziel157 gezogen werden können. I. Die Prämissen der teleologischen Auslegung Zunächst beruht die teleologische Auslegung auf der Prämisse, daß ein völkerrechtlicher Vertrag von den Vertragsparteien nicht um seiner selbst willen abgeschlossen wird, sondern weil sie in ihm ein geeignetes Mittel sehen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Dieses Ziel besteht regelmäßig in der Herbeiführung, Bewahrung oder Verhinderung eines bestimmten Zustandes in der Lebenswirklichkeit.158 Je nach Art und Umfang eines Vertrags ist es möglich, daß dieser ein oder mehrere Gesamtziele hat. Daneben ist davon auszugehen, daß einzelne Vertragsbestimmungen oder Abschnitte ihrerseits selbständige Einzel- beziehungsweise Teilziele verfolgen, die zur Erreichung des Gesamtziels beitragen.159 Für die Zwecke der Vertragsinterpretation ist weiterhin davon auszugehen, daß die Vertragsparteien die den Vertrag beziehungsweise die einzelnen Vorschriften bildenden Worte so verstehen und verwenden, daß sie ein geeignetes Mittel zur Verwirklichung der verfolgten Ziele sind. Des weiteren beruht die teleologische Auslegung auf der Annahme, daß die an dem auszulegenden Vertrag beteiligten Vertragsparteien, Staaten und internationalen Organisationen, die Verwirklichung des Ziels in möglichst kurzer Zeit und in möglichst hohem Umfang erreichen wollen. Demzufolge ist den einzelnen Begriffen eines Vertrags diejenige von mehreren möglichen Bedeutungen zu geben, die bewirkt, daß der Zweck des Vertrags so weit wie möglich erreicht wird.160 156 tÍloò (gr.): Ziel, letztes Ziel, Endziel, Zweck, Endzweck, Bestimmung (nach: Langenscheidts Großwörterbuch Altgriechisch, S. 679). 157 In der völkerrechtlichen Auslegungslehre ist zumeist von Ziel und Zweck eines Vertrags die Rede. Dieses Begriffspaar hat auch Eingang in Art. 31 Abs. 1 WVRK gefunden. In der englischen Version der WVRK ist die Rede von object and purpose, in der französischen Version ist die Rede von objet und but. Dabei geht die vorherrschende Meinung dahin, daß die beiden Begriffe synonym verwendet werden; vgl. Buffard/Zemanek, ARIEL 3 (1998), S. 311 (325). Dem soll hier gefolgt werden. 158 Vgl. allgemein Röhl, S. 600, der davon spricht, daß „jede Rechtsnorm als Mittel zu einem außerhalb ihrer selbst liegenden Zweck aufgefaßt werden (kann)“. 159 Bernhardt, S. 88; Köck, ZÖR 53 (1998), S. 217 (225), der von einer „Zweckhierarchie“ spricht. 160 Bernhardt, S. 88; Berber, Bd. 1, S. 479; Dahm, Bd. 3, S. 51.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

II. Der Ablauf der teleologischen Auslegung Die auf diesen Prämissen beruhende teleologische Auslegung verläuft in zwei Schritten, die den Interpreten vor je eigene Schwierigkeiten stellen. Zunächst muß der Interpret die von den Vertragsparteien mit einem Vertrag und seinen einzelnen Vorschriften verfolgten Zwecke ermitteln. In einem zweiten Schritt muß der Interpret dann beurteilen, welche Rückschlüsse sich aufgrund des zuvor ermittelten Zwecks auf die Bedeutung der auszulegenden Vorschrift ziehen lassen. 1. Die Ermittlung des Vertrags- oder Normzwecks Im völkerrechtlichen Schrifttum wird nahezu überwiegend die Ansicht vertreten, daß der Interpret bei der Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrags oder seiner Einzelbestimmungen in erster Linie auf den Vertragstext selbst, also auf die Präambel, die Grundsatzartikel oder den Wortlaut der auszulegenden Einzelvorschrift Bezug nehmen muß.161 Die Forderung nach einer strengen Textorientierung bei der Ermittlung des Vertrags- oder Normzwecks beruht auf der Vermutung, daß sich die Einigung der Vertragsparteien auch auf den Norm- und Vertragszweck bezieht und daß diese Zwecke Ausdruck im Vertragstext gefunden haben. Die Forderung, bei der Zweckermittlung einer Norm den Vertragstext heranzuziehen, ist darüber hinaus auch von dem Wunsch nach Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit bei der Anwendung völkerrechtlicher Verträge geleitet. Ähnlich wie die Rechtsunterworfenen in der nationalen Rechtsordnung162 haben auch die Vertragsparteien eines völkerrechtlichen Vertrags ein Interesse daran, daß sich die Auslegungsergebnisse innerhalb eines vorhersehbaren Rahmens bewegen. Dies gilt nicht nur für die Fälle, in denen – wie in der nationalen Rechtsordnung – eine Auslegung völkerrechtlicher Verträge durch Gerichte oder andere unabhängige Spruchkörper vorgesehen ist, sondern auch in den Fällen, in denen allein die Vertragsparteien als Rechtsanwender die Vertragsvorschriften auslegen.163 Die Wahrscheinlichkeit eines vorhersehbaren Auslegungsergebnisses ist aber um so größer, je enger sich auch die teleologische Auslegung bei der Ermittlung des Zwecks einer Vorschrift am Vertragstext orientiert. 161 Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1420); Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 15. Teilweise wird es für zulässig gehalten, in eng begrenzten Ausnahmefällen die Vertragszwecke auch unter Heranziehung außerhalb des Vertragstextes liegender Erkenntnisquellen zu ermitteln, vgl. Bernhardt, S. 89; vgl. dazu nachstehend im Text. 162 Dazu Seiler, S. 5 f. 163 Vgl. dazu oben im 1. Kap. C. I.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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Die Forderung nach einer strengen Orientierung der Zweckermittlung am Vertragstext bedarf jedoch gewisser Modifikationen und Einschränkungen. Der Rückgriff auf den Vertragstext bei der Bestimmung des Vertragszwecks setzt ein gewisses Textverständnis des Interpreten voraus. Dieses Textverständnis kann jedoch allenfalls ein vorläufiges sein, da die teleologische Auslegung ihrerseits ja einen Schritt auf dem Weg zum endgültigen Textverständnis darstellt. Insbesondere systematische und historische Auslegung unterstützen den Interpreten dabei, den Text vorläufig zu verstehen.164 Darüber hinaus ist nicht ausgeschlossen, daß der Interpret im Einzelfall eine stillschweigende Änderung oder Weiterentwicklung der Vertragszwecke durch die Vertragsparteien festzustellen hat.165 Eine derartige Weiterentwicklung des Vertragszwecks läßt sich naturgemäß nicht dem Vertragstext selbst entnehmen. Vielmehr kann sie nur durch Verwendung des Auslegungsmittels „spätere Praxis der Vertragsparteien“166 festgestellt werden. 2. Die Prognose über die Zweckerreichung Im zweiten Schritt der teleologischen Auslegung muß der Interpret dann untersuchen, in welcher Weise der zuvor ermittelte Norm- oder Vertragszweck das Verständnis der auszulegenden Vorschrift beeinflußt. Entsprechend der soeben dargestellten Prämissen der teleologischen Auslegung167 bedeutet dies, daß der Interpret diejenige Bedeutung eines Vertragsbegriffs auswählen muß, die die Verwirklichung des Vertragsziels am ehesten fördert.168 Dies setzt voraus, daß er eine Prognose trifft, wie sich die eventuell möglichen Bedeutungen eines Begriffs auf die Erreichung des in der Lebenswirklichkeit angestrebten Zustandes auswirken werden. Der Interpret muß also zukünftige Kausalverläufe vorhersagen.

164 Larenz, S. 330; Röhl, S. 601; Seiler, S. 30; ähnlich auch Sinclair, S. 133 f., der beklagt, daß die (ehemaligen) Organe der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), Kommission und Gerichtshof, bei der Bestimmung von Ziel und Zweck einzelner Konventionsrechte deren Entstehungsgeschichte außer Acht gelassen haben. 165 Kritisch zu dieser Theory of Emergent Purpose Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (208). 166 Dazu sogleich unten im Text unter E. 167 Dazu soeben oben im Text unter I. 168 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art 4 EGV Rdnr. 55; ähnlich Röhl, S. 600 f.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

3. Die expansive Wirkung der teleologischen Auslegung und deren Grenzen Von wenigen Ausnahmen abgesehen wirkt die teleologische Auslegung zumeist expansiv.169 Das bedeutet, daß eine an Ziel und Zweck eines völkerrechtlichen Vertrags oder einer Vertragsvorschrift orientierte Auslegung die Erweiterung des Regelungsbereiches der jeweils auszulegenden Vorschrift zur Folge hat, indem sie eine immer größere Zahl von Handlungen der Vertragsparteien in den Geltungsbereich der Vorschrift einbezieht. Dies hängt wiederum mit der oben dargestellten Prämisse zusammen, nach der die Vertragsparteien das jeweilige Ziel in möglichst kurzer Zeit und in möglichst hohem Maße verwirklicht wissen wollen. Die jeweilige Norm bewirkt die Erreichung des angestrebten Zustands, indem sie für die Normadressaten – also die Vertragsparteien – innerhalb ihres Regelungsbereiches eine Verhaltensregel aufstellt.170 Eine um so raschere und umfassendere Zielerreichung wird dadurch gewährleistet, daß mehr Erscheinungsformen staatlichen Handelns unter den Tatbestand einer Norm subsumiert werden. Dies hat dann zur Folge, daß auf diese staatlichen Handlungen die in der Norm aufgestellte Verhaltensregel anwendbar ist. Diese expansive Tendenz der teleologischen Auslegung wird jedoch in gewisser Hinsicht begrenzt. Zu fordern ist nämlich, daß in jedem Einzelfall die Voraussage, daß eine bestimmte Auslegung die Erreichung des Normoder Vertragsziels fördert, kausal-empirisch belegbar ist.171 Der Interpret darf bei der Prognose darüber, ob und in welchem Maße eine Auslegung zur Erreichung des angestrebten Ziels beitragen, also nur solche Kausalverläufe zugrunde legen, deren Ablauf nach den allgemeinen Lebenserfahrungen zu erwarten ist. Dies hindert ihn daran, dem auszulegenden Begriff eine Bedeutung zu geben, die auf keinen Fall zur Erreichung des Ziels beiträgt.172 Zugegebenermaßen ist ein Verstoß gegen diese Maxime wohl eher nur auf theoretischer Ebene denkbar. 169

Bisweilen gelangen Gerichte zu der Schlußfolgerung, daß eine bestimmte Auslegung zu einer „Übererfüllung“ des angestrebten Ziels führen würde und verwerfen die Auslegung aus diesem Grund. Beispielhaft sei hier die Entscheidung des IGH im Fall der amerikanischen Staatsangehörigen in Marokko genannt, in der der Gerichtshof ausführte: „. . . the Court can not adopt a construction by implication of the provisions of the Madrid Convention which would go beyond the scope of its declared purposes and objects.“; vgl. Case concerning rights of nationals of the United States of America in Morocco (France v. United States of America), Urteil v. 27.8.1952, ICJ Rep. 1952, S. 176 (196). 170 Vgl. Wolfrum, RdC 272 (1998-II), S. 9 (32), der beschreibt, daß Völkerrecht entweder ein bestimmtes Verhalten befiehlt, verbietet oder erlaubt. 171 Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 4 EGV Rdnr. 55. 172 So allgemein zur Teleologie, Hensche, S. 21 f.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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E. Die spätere Praxis der Vertragsparteien Obwohl nicht zu den klassischen Auslegungsmethoden von Rechtssätzen gehörend, spielt die nachfolgende oder spätere Praxis der Vertragsparteien bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge eine wichtige Rolle. Der Begriff nachfolgende Praxis bezeichnet das Verhalten, also das Handeln oder Reden, wohl aber nicht das lediglich unqualifizierte Schweigen,173 einer Vertragspartei in bezug auf einen völkerrechtlichen Vertrag nach dessen Abschluß.174 Dabei kommt es nicht darauf an, daß es sich um das Verhalten eines zur Außenvertretung berechtigten Organs der Vertragspartei handelt, vielmehr genügt es, wenn das Verhalten der Vertragspartei überhaupt zugerechnet werden kann.175 Im Rahmen der subjektiven Auslegungsmethode trägt die nachfolgende Praxis zur Ermittlung des Willens der Vertragsparteien bei, während sie im Rahmen der objektiven Auslegungslehre einen Beitrag zur Klärung der Bedeutung des Vertragstextes leistet. Die subjektive Auslegungstheorie verwendet die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien entsprechend ihrer Zielsetzung zur Ermittlung des Willens der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses.176 Die nachfolgende Praxis erweist sich hierfür insofern als brauchbares Indiz, als die Vertragsparteien selbst am ehesten wissen, was sie bei Vertragsschluß wollten, und ihr Verhalten von diesem Willen gesteuert wird.177 Allerdings darf die Bedeutung der nachfolgenden Praxis für die Ermittlung des ursprünglichen Parteiwillens nicht überbewertet werden.178 Sie stellt im Rahmen der subjektiven Theorie nur eines von mehreren Kriterien zur Ermittlung des Parteiwillens dar. Teilweise wird sie sogar nur als untergeordnetes Kriterium zur Absicherung eines auf anderem Wege gefundenen Auslegungsergebnisses betrachtet.179 Dies erklärt sich vor allem damit, daß sich mit zunehmendem zeitlichem Abstand vom Vertragsschluß immer weniger verläßliche Rückschlüsse auf den ursprünglichen Willen der Vertragsparteien ziehen lassen.180 Aus dieser Rolle der nachfolgenden Praxis im Rahmen der subjektiven Theorie ergibt sich auch, daß die Praxis keinesfalls einheitlich und konsistent sein muß, um bei der Auslegung Berücksichtigung zu finden. Bereits einzelne Akte können Indizwirkung entfalten,181 wobei aller173 174 175 176 177 178 179 180 181

Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (50 f.); ihm folgend Grundmann, S. 134. Karl, Spätere Praxis, S. 111 f.; Ress, in: Bieber/Ress, S. 49 (56 f.). Ress, in: Bieber/Ress, S. 49 (56 f.). Dahm, Bd. 3, S. 46; McNair, S. 424; Ress, in: Bieber/Ress, S. 49 (57). Bleckmann, S. 94; Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (223). Vorsichtig etwa O’Connell, Bd. 1, S. 260 f. Grundmann, S. 137; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 532. Karl, in: Bieber/Ress, S. 81 (85). In diesem Sinne McNair, S. 427; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (52).

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

dings der Beweiswert der Praxis mit zunehmender Einheitlichkeit und Konsistenz steigt.182 Wichtig ist nur, daß der Interpret bei der Bewertung des Verhaltens stets im Blick behält, daß es zum Nachweis des übereinstimmenden Willens beitragen muß.183 Eine weitaus wichtigere Rolle spielt die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien im Rahmen der objektiven Auslegungstheorie. Hier ist es Aufgabe der nachfolgenden Praxis, zur Ermittlung der Bedeutung des Vertragstextes beizutragen. Dabei geht die objektive Theorie davon aus, daß im Verhalten der Vertragsparteien deren aktuelles Verständnis der einzelnen Vertragsbestimmungen zum Ausdruck kommt.184 Diese Annahme rechtfertigt sich vor dem Hintergrund, daß die Vertragsstaaten einerseits Urheber des Vertrags und andererseits primär vom Vertrag Betroffene sind und somit die größte Nähe zu den Bestimmungen aufweisen. Diese Sachnähe vermittelt den Vertragsparteien ein besonders Verständnis der Vertragsnormen, das bei der Auslegung zu berücksichtigen ist. Für die Vertragsauslegung ist das nachfolgende Verhalten der Vertragsparteien nur dann brauchbar, wenn es ein Indiz für ein bei allen Vertragsstaaten übereinstimmendes Vertragsverständnis liefert. Anderenfalls würde der Interpret die Auffassungen eines Teils der Vertragsparteien anderen gleichberechtigten Vertragsstaaten aufoktroyieren. Demzufolge muß die Praxis der Vertragsparteien auch im Rahmen der objektiven Theorie eine gewisse Einheitlichkeit und Konsistenz aufweisen.185 Dies erfordert indes nicht, daß sämtliche Vertragsparteien sich entsprechend verhalten haben müssen. Vielmehr genügt auch das von den übrigen Vertragsparteien ohne Widerspruch mit anerkennender Wirkung hingenommene Verhalten eines Teils der Vertragsparteien.186 Keineswegs erforderlich ist, daß die in der Praxis zum Ausdruck kommende Übereinstimmung der Vertragsparteien rechtsgeschäftlicher Natur ist.187 Vor dem Hintergrund des Beitrags, den die spätere Praxis bei der Vertragsauslegung leisten soll, nämlich das übereinstimmende Verständnis der Vertragsparteien aufzuzeigen, genügt ein bloßer Meinungskonsens der Vertragsstaaten.188 Die große Bedeutung, die die nachfolgende Praxis im Rahmen der objektiven Auslegungstheorie spielt, erklärt sich daraus, daß die nachfolgende 182

Grundmann, S. 137. So der ausdrückliche Hinweis von Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (52). 184 Dupuy, § 302; Karl, Spätere Praxis, S. 151. 185 Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1421); Fitzmaurice, BYIL 33 (1957), S. 203 (223); Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (55 f.). 186 Aust, S. 195; Grundmann, S. 137; dagegen Sinclair, S. 137. 187 Ress, in: Bieber/Ress, S. 49 (56). 188 Karl, Spätere Praxis, S. 144 ff. 183

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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Praxis das einzige Indiz für das aktuelle Verständnis der Vertragsparteien ist. Dabei ist es möglich, daß die Vertragsparteien den Vertragsnormen eine Bedeutung beimessen, die sich bei Berücksichtigung der herkömmlichen Auslegungskriterien nicht oder jedenfalls nicht ohne weiteres ergeben hätte. Dies ist etwa dann der Fall, wenn Lebensumstände aufgetreten sind, die die Vertragsparteien bei Vertragsabschluß nicht vorhergesehen haben und auf die sie deshalb den Vertragswortlaut nicht zugeschnitten haben, von denen sie aber gleichwohl der Auffassung sind, daß sie in den Anwendungsbereich des Vertrags beziehungsweise einer bestimmten Norm fallen. Über dieses gewandelte Vertragsverständnis gibt, soweit sich die Parteien nicht zu einer förmlichen authentischen Auslegung entschließen,189 allein ihr Verhalten Auskunft. Ebenso kann die spätere Praxis darüber Auskunft geben, ob die Parteien die im Vertragstext verwendeten Worte in ihrer ursprünglichen oder in einer im Laufe der Vertragsdauer gewandelten Bedeutung verstehen. Damit ist auch die Grenze der späteren Praxis der Vertragsparteien als Auslegungskriterium angedeutet. Die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien ist für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge nur solange als Kriterium heranzuziehen, wie das Verhalten der Parteien von der möglichen Wortbedeutung gedeckt ist.190 Geht das Verhalten über den Wortlaut hinaus, so ist es Aufgabe des Interpreten, festzustellen, ob es sich um eine konkludente Vertragsänderung oder die Bildung vertragsunabhängigen Gewohnheitsrechts handelt.191

F. Die Historische Auslegung Der Begriff „historische Auslegung“ kennzeichnet das Bemühen, aus zeitlich vor dem Vertragsschluß liegenden Erkenntisquellen Rückschlüsse für die Ermittlung der Bedeutung der auszulegenden Vertragsbestimmungen zu ziehen. Insofern unterscheidet sich die historische Auslegung von der Wortlautauslegung, der systematischen Auslegung und der teleologischen Auslegung, die sich allesamt am Text der auszulegenden Bestimmung orientieren.192 Erkenntnisquellen im Rahmen der historischen Auslegung sind zunächst die sogenannten travaux préparatoires, die den Vertragsschluß vorbereitenden Arbeiten. Dies sind vor allem die schriftlichen Aufzeichnungen der 189

Vgl. dazu oben im Text 1. Kap. C. I. Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (499). 191 Zu diesen Abgrenzungsschwierigkeiten bereits Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (499); vgl. auch Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (48). 192 Zu dieser Differenzierung Bernhardt, S. 41 f. 190

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Verhandlungen, die dem Vertragsschluß vorangehen, die Protokolle der Vollversammlungen und der Komitees der Konferenz, die einen Vertragstext annimmt, sowie die aufeinander folgenden Vertragsentwürfe.193 Neben den travaux préparatoires können auch die Umstände des Vertragsschlusses Licht auf den Willen der Vertragsparteien werfen.194 Völkerrechtliche Verträge sind keine isolierten Handlungen, sondern entwachsen einer bestimmten historisch-politischen Situation, die die Motivation der Vertragsstaaten beeinflußt.195 Um allerdings ein Ausufern der als „Umstände“ bei der Auslegung zu berücksichtigenden Gegebenheiten und damit einhergehende Unsicherheiten zu verhindern, müssen die in Bezug genommenen Gegebenheiten in engem zeitlichen und sachlichen Zusammenhang zum Vertragsschluß stehen.196 Während subjektive und objektive Auslegungslehre bezüglich der Verwendung der Wortlautauslegung, der systematischen Auslegung und der teleologischen Auslegung übereinstimmen, weisen sie bezüglich des Stellenwertes der historischen Methode Unterschiede auf.197 Die subjektive und jedenfalls weite Teile der objektiven Auslegungslehre verfolgen das Ziel, den Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu ermitteln und erkennen die historische Auslegung als geeignetes Mittel dazu an, weil auch zeitlich vor dem Vertragsschluß liegende Erkenntnisquellen einen Blick auf den Willen der Vertragsparteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses eröffnen können. Da die objektive Theorie den Text des Vertrags jedoch als erschöpfenden Ausdruck des Parteiwillens ansieht, gestattet sie den Rückgriff auf die historische Auslegung nur, wenn der Parteiwille sich aus dem Vertragstext und unter Berücksichtigung der späteren Praxis der Vertragsparteien nicht klar ermitteln läßt oder zur Bestätigung des mit den übrigen Auslegungsmitteln gefundenen Ergebnisses.198 Die subjektive Auslegungstheorie hingegen, die es viel eher für möglich hält, daß der Parteiwille im Vertragstext nicht hinreichend zum Ausdruck kommt, räumt der historischen Methode den gleichen Stellenwert ein wie den am Text orientierten Auslegungsmethoden.199 193

Grundmann, S. 77, 78. Dupuy, § 303; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1278. 195 Berber, Bd. 1, S. 481. 196 Dies meint Bernhardt, S. 121, wenn er von „Begleitumständen“ spricht. Zu den sich ergebenden Problemen sogleich unten im Text. 197 Dazu bereits oben im Text 1. Kap. D. III. 3. 198 Bernhardt, S. 124 (zu den Umständen des Vertragsschlusses); Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 516 (zu den travaux préparatoires). 199 Punkt 2 des Resolutionsentwurfes von Lauterpacht, Ann.IDI 43/I (1950), S. 433. 194

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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Die subjektive Auslegungstheorie ist einerseits wegen ihrer grundsätzlich stärkeren Orientierung am Willen der Vertragsparteien kritisiert worden. Daneben hat aber auch die daraus resultierende gleichberechtigte Verwendung der historischen Auslegungsmethode Widerspruch nach sich gezogen. Zunächst ist zu bemerken, daß die travaux préparatoires allenfalls Rückschlüsse auf den Willen der Vertragsparteien vor dem Vertragsschluß zulassen, nicht jedoch auf deren Willen bei Vertragsschluß. Bei der Aushandlung völkerrechtlicher Verträge bestehen nicht selten bis unmittelbar vor der Unterzeichnung Differenzen bei den Vertragsparteien beziehungsweise deren Vertretern und Unterhändlern, die dann auch in den travaux préparatoires zum Ausdruck kommen. Die dann teilweise erst kurz vor Vertragsabschluß auf höchster Regierungsebene erzielten Übereinkünfte hingegen finden keinen Eingang in die insofern unvollständigen Materialien, die aus diesem Grunde nur begrenzt aussagekräftig sind.200 Darüber hinaus werden im Prozeß der Vertragsverhandlungen eine Vielzahl von unterschiedlichen Ansichten geäußert,201 so daß sich für nahezu alle bei der Auslegung vertretenen Ansichten Nachweise in den travaux préparatoires finden lassen können.202 Schließlich erweist sich bei der Auslegung multilateraler Verträge die Verwendung der travaux préparatoires gegenüber erst später hinzugetretenen Vertragsparteien als problematisch.203 Diese haben keinen Einfluß auf den Verlauf der Verhandlungen genommen, die eine res inter alios acta darstellen.204 Möglicherweise obliegt es allerdings dem einem multilateralen Vertrag beitretenden Staat, sich über den ursprünglichen Verhandlungsverlauf zu informieren. Ebenso wie die Berücksichtigung der travaux préparatoires ist auch die Zuhilfenahme der Umstände des Vertragsschlusses bei der Auslegung nicht unproblematisch. Hierbei ergeben sich zahlreiche Abgrenzungsschwierigkeiten im Hinblick darauf, was als Umstand des Vertragsschlusses gelten und deshalb zur Ermittlung des Parteiwillens herangezogen werden darf.205 Damit eröffnet sich dem Interpreten, insbesondere dem internationalen Richter, ein weiter Spielraum für eigene subjektive Wertungen.206 200

Insofern weist die Verwendung der travaux préparatoires Parallelen mit der Berücksichtigung der nachfolgenden Praxis durch die subjektive Theorie auf; dazu soeben oben unter E. 201 Dazu Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 514. 202 Grundmann, S. 88; Jennings, RdC 121 (1967-II), S. 323 (551); ders./Watts, Bd. 1.2, S. 1277 f. 203 Bernhardt, S. 117. Dies ist allerdings auch für die Verwendung der travaux préparatoires im Rahmen der objektiven Theorie ein Problem. 204 Ausführlich zum Problem, Grundmann, S. 79 f. 205 So Bernhardt, S. 121. 206 Grundmann, S. 92 m. w. N.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

G. Sonstige Erkenntnisquellen der Vertragsauslegung Neben den bislang beschriebenen Auslegungsmethoden gibt es eine Reihe weiterer Erkenntnisquellen, die einen Beitrag bei der Ermittlung der Bedeutung völkerrechtlicher Verträge leisten. I. Die den auszulegenden Vertrag umgebende Völkerrechtsordnung 1. Grundlagen Völkerrechtliche Verträge existieren nicht im völkerrechtlichen Niemandsland, vielmehr stellen sie einen Teil der Völkerrechtsordnung dar.207 Diese Rechtsordnung bildet den Hintergrund, vor dem Verträge auszulegen sind.208 Dabei besteht die Vermutung, daß die Vertragsparteien, die den Vertrag in diese Ordnung hineingestellt haben, von den Regeln dieser Ordnung nicht abweichen wollten, soweit sie dies nicht im Vertragstext vereinbart haben.209 Regeln der Völkerrechtsordnung, die auf die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags Einfluß nehmen, sind sämtliche Quellen des Völkerrechts, also allgemeine Rechtsgrundsätze,210 Völkergewohnheitsrecht,211 völkerrechtliche Verträge.212 207

Yasseen, RdC 151 (1976-III), S. 1 (62). Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1421); O’Connell, Bd. 1, S. 261. 209 Bernhardt, S. 134 f.; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1275; ähnlich bereits Anzilotti, S. 82; zurückhaltend Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (61). 210 Bernhardt, in: Seidl-Hohenveldern, LdR/VR, S. 505 (507); McNair, S. 466; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 528. 211 Berber, Bd. 1, S. 481; Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1421); Jennings/ Watts, Bd. 1.2, S. 1275 m. Fn. 21; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 529. Sowohl subjektive als auch objektive Theorie gehen in diesen Fällen von der Fortgeltung des Völkergewohnheitsrechts aus (Bernhardt, in: ders., EPIL II [1995], S. 1416 [1421]; O’Connell, Bd. 1, S. 261. Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1275), wobei sie sich aber in ihrer Begründung für diese Position unterscheiden. Aus Sicht der subjektiven Theorie besteht eine Vermutung dafür, daß die Parteien die Fortgeltung des Gewohnheitsrechts wollten (Bernhardt, S. 134 f.). Dagegen sehen die Vertreter der objektiven Theorie den Vertrag als Bestandteil einer Gesamtrechtsordnung, die auf den Vertrag einwirkt, solange und soweit sich dem Vertrag nichts gegenteiliges entnehmen läßt (Bernhardt, S. 135; allgemein dazu Rüthers, Rdnr. 744). Die Möglichkeit der impliziten Durchbrechung des Völkergewohnheitsrechts wird zumeist für problematisch erachtet (Berber, Bd. 1, S. 481; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 507 f.; Thirlway, BYIL 62 [1991], S. 1 [65]. 212 Berber, Bd. 1, S. 481; McNair, S. 466; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 528. 208

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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Eine wichtige Rolle im Auslegungsprozeß spielen diese Regeln des Völkerrechts insbesondere dann, wenn sich eine Auslegungsfrage nicht mit den text-orientierten Auslegungsmethoden beantworten läßt. In diesen Fällen kommt die Vermutung zum Tragen, daß die Vertragsparteien von den Regeln des Völkerrechts nicht abgewichen sind. Entsprechend dieser Vermutung ist die auszulegende Vertragsvorschrift so zu interpretieren, daß sie mit den inhaltlich einschlägigen Sätzen des Völkerrechts konform geht. Darüber hinaus spielen die Regeln des Völkerrechts auch bei der Auslegung und Ausfüllung unbestimmter Rechtsbegriffe eine Rolle, soweit der auszulegende Vertrag im Einzelfall selbst keine geeigneten inhaltlichen Vorgaben dafür bereithält. Ebenso wie im Bereich der Wortlautauslegung stellt sich bei der Berücksichtigung der Regeln des Völkerrechts die Frage, ob die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses oder im Zeitpunkt der Vertragsanwendung geltenden Regeln zur Anwendung gebracht werden müssen.213 Dabei ergeben sich letztlich ähnliche Überlegungen wie bei der Frage des sprachlichen Bedeutungswandels. Auch hier halten insbesondere die Vertreter der objektiven Theorie eine Berücksichtigung eines Wandels der gewohnheitsrechtlichen Regeln für möglich, soweit sich aus dem Vertragstext als der Manifestation des Parteiwillens entsprechendes ergibt.214 2. Besonderheiten bei der Berücksichtigung völkerrechtlicher Verträge und partikulären Gewohnheitsrechts im Rahmen der Auslegung Diejenigen Regeln des Völkerrechts, die keine universelle Geltung beanspruchen, – hierbei handelt es sich um lokales oder bilaterales Gewohnheitsrecht sowie um nahezu alle völkerrechtlichen Verträge mit Ausnahme der Charta der Vereinten Nationen – dürfen nicht uneingeschränkt zur Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags herangezogen werden.215 Vielmehr ergeben sich einerseits aus dem auf der Staatensouveränität gründenden Konsensprinzip216 und andererseits aus dem Grundsatz der Integrität multilateraler völkerrechtlicher Verträge gewisse Besonderheiten.

213

Ausführlich Thirlway, BYIL 60 (1989), S. 1 (128). Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 21; Thirlway, BYIL 60 (1989), S. 1 (135 ff.). 215 Yasseen, RdC 151 (1976-III), S. 1 (62); für Verträge ausdrücklich auch Lennard, JIEL 5 (2002), S. 17 (38); Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 528. 216 Vgl. dazu Brownlie, Principles, S. 289. 214

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

a) Das Konsensprinzip Das Konsensprinzip besagt, daß die völkerrechtliche Verpflichtung eines Staates von dessen zumindest stillschweigend erteilter Zustimmung abhängt.217 Im Bereich der völkerrechtlichen Verträge218 bewirkt dieses Prinzip, daß ein völkerrechtlicher Vertrag nur jeweils im Verhältnis zwischen denjenigen Staaten als Auslegungshilfe verwendet werden darf, die auch Vertragspartei dieses Vertrags sind. Die Berücksichtigung eines völkerrechtlichen Vertrags als Auslegungshilfe führt regelmäßig zu einem Auslegungsergebnis, das sich von dem Ergebnis unterscheidet, das ohne Berücksichtigung des betreffenden Vertrags erzielt worden wäre. Der bei der Auslegung berücksichtigte Vertrag nimmt also Einfluß auf den Inhalt der Rechte und Pflichten, die aus den Vorschriften des ausgelegten Vertrags resultieren. Für einen Staat, der zwar Vertragspartei des auszulegenden Vertrags, nicht jedoch des als Auslegungshilfe herangezogenen Vertrags ist, würde letzterer über den Weg der Auslegung mittelbar Rechte und Pflichten begründen. Dies widerspräche jedenfalls im Hinblick auf eine verpflichtende Wirkung219 der aus dem Konsensprinzip fließenden und in Art. 34 WVRK normierten pacta tertiis-Regel.220 Das Konsensprinzip stellt sich damit als Garant der Souveränität dar. Allerdings bewirkt es möglicherweise in gleichem Maße, wie es die Staatensouveränität schützt, eine Desintegration des auszulegenden multilateralen Vertrags, weil seine Anwendung bewirken kann, daß zwischen den Parteien eines multilateralen Vertrags vertragliche Bindungen unterschiedlichen Inhalts zustande kommen. Sofern ein bestimmter Vertrag aufgrund des Konsensprinzips nur zwischen einem Teil der Parteien des auszulegenden Vertrags als Auslegungshilfe herangezogen werden kann, führt dies dazu, daß die auszulegende Vorschrift zwischen diesen Vertragsparteien einen anderen Inhalt erhält, als zwischen beziehungsweise im Verhältnis zu den Parteien, die nicht gleichzeitig auch Parteien der „Auslegungshilfe“ sind. Dies wiederum kann dazu führen, daß einem Teil der Parteien des auszulegenden Vertrags eine bestimmte Handlung untersagt ist, die einem anderen Teil der Vertragsparteien erlaubt ist.

217 Hillgruber, in: Müller-Graff/Roth, S. 117 (125); Ipsen, in: ders., § 1 Rdnr. 42 ff.; Schachter, S. 9 ff. 218 Die nachfolgenden Ausführungen sind sinngemäß auch auf nicht universell geltende Sätze des Völkergewohnheitsrechts anwendbar. 219 Zur Frage, ob das Konsensprinzip auch bei einer begünstigenden Wirkung Anwendung findet, vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 12 Rdnr. 25. 220 Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 528; vgl. zur pacta tertiis-Regel Ballreich, EPIL IV (2000), S. 945 (946); Brownlie, Principles, S. 628.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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b) Der Grundsatz der Integrität multilateraler Verträge Diese aus der Anwendung des Konsensprinzips resultierende Möglichkeit divergierender vertraglicher Verpflichtungen ist unvereinbar mit dem Grundsatz der Integrität des multilateralen völkerrechtlichen Vertrags. Diesem Grundsatz zufolge liegt die Aufgabe eines multilateralen Vertrags gerade darin, einen bestimmten Lebensbereich stabil und einheitlich zu regeln.221 Diese Aufgabe kann der Vertrag aber nur dann erfüllen, wenn seine Integrität nicht durch einen je unterschiedlichen Verpflichtungsgrad der Vertragsparteien beeinträchtigt wird. Allerdings fordert nicht jeder multilaterale völkerrechtliche Vertrag absolute Integrität. Demnach fordert auch nicht jeder multilaterale völkerrechtliche Vertrag, daß nur solche Verträge als Auslegungshilfe verwendet werden dürfen, denen sämtliche Vertragsparteien angehören. In welchem Maße die Forderung nach Integrität verwirklicht sein muß, bestimmt sich nach einer Reihe dem jeweiligen Vertrag innewohnender Faktoren, die letztlich gegeneinander abzuwägen sind. Zu den dabei zu berücksichtigenden Faktoren gehören die Verpflichtungsstruktur des auszulegenden Vertrags, die Zulässigkeit von Vorbehalten, die Möglichkeit des Inkrafttretens von Vertragsänderungen für lediglich einen Teil der Vertragsparteien sowie die Zulässigkeit von inter se-Modifikationen. aa) Verpflichtungsstruktur Multilaterale Verträge lassen sich unter anderem danach unterscheiden, wem gegenüber eine Vertragspartei die Erfüllung einer vertraglich übernommenen Verpflichtung schuldet. Ein Teil multilateraler Verträge stellt sich letztlich als Bündelung einer Vielzahl bilateraler Verträge dar. Hier schuldet jede Vertragspartei die Erfüllung einer Vertragspflicht in jedem konkreten Einzelfall nur gegenüber einer anderen Vertragspartei. In diese Kategorie multilateraler gehören etwa multilaterale Niederlassungs- oder Auslieferungsverträge.222 Hier ist etwa die Auslieferung eines mutmaßlichen Straftäters nur gegenüber derjenigen Vertragspartei geschuldet, die die Auslieferung beantragt hat, nicht jedoch gegenüber einer unbeteiligten dritten Vertragspartei. Die Weigerung, die fragliche Person auszuliefern stellt sich demnach auch nur als Verletzung der Rechtsposition derjenigen Partei dar, die die Auslieferung beantragt hat, nicht jedoch der unbeteiligten Dritten. Von diesen bipolaren multilateralen Verträgen sind die sogenannten multipolaren multilateralen Verträge zu unterscheiden. Bei diesem Vertragstyp 221 Hahn, S. 103 f.; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 14 Rdnr. 1; Kühner, S. 206; vgl. auch Gros, YBILC 1962 I, S. 149, § 38. 222 Beispiel bei Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 218 (227); ähnlich Hahn, S. 101.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

wird der Erfolg nicht einer einzelnen Vertragspartei, sondern allen Vertragsparteien gemeinsam geschuldet. Prominentestes Beispiel dieser Kategorie multilateraler Verträge sind Menschenrechtsverträge.223 Die Einhaltung menschenrechtlicher Gewährleistungen wird nicht nur gegenüber einer Vertragspartei, sondern gegenüber sämtlichen Vertragsparteien geschuldet. Dies zeigt sich insbesondere dann, wenn Betroffener einer Vertragsverletzung entweder ein Staatsangehöriger der verletzenden Partei ist oder eines Staates, der selbst nicht Vertragspartei ist. In beiden Fällen liegt üblicherweise gleichwohl eine Vertragsverletzung vor.224 Multipolare multilaterale Verträge erfordern notwendig eine einheitliche Pflichtenstruktur für alle Vertragsparteien. Anderenfalls ließe sich die Frage, ob eine Vertragspartei ihre Verpflichtung erfüllt hat, nicht einheitlich beantworten. Etwas anderes gilt für bipolare multilaterale Verträge. Hier ist es nicht erforderlich, daß der Umfang der Rechte und Pflichten aller Vertragsparteien einheitlich ist. Die Frage, ob eine Vertragspartei ihre Pflicht erfüllt oder verletzt hat, beantwortet sich stets im Verhältnis zwischen zwei Parteien, so daß zwischen diesen Parteien durchaus Sonderbedingungen herrschen können.225 bb) Vorbehalte, Vertragsänderungen und inter se-Modifikationen Wie bereits erwähnt, spielen auch die Zulässigkeit von Vorbehalten, die Möglichkeit des Inkrafttretens von Vertragsänderungen für weniger als alle Vertragsparteien und die Vorschriften über inter se-Modifikationen eines multilateralen Vertrags unter der Beteiligung eines Teils der Vertragsparteien eine Rolle bei der Beurteilung, ob Auslegungshilfen auch dann herangezogen werden dürfen, wenn sie nicht für alle Parteien des auszulegenden Vertrags verbindlich sind. Diese drei Faktoren geben anders als die vorgenannten Faktoren ausdrücklich darüber Auskunft, inwiefern die Vertragsparteien den Grundsatz der Integrität verwirklicht sehen wollen.226 Soweit sich dem auszulegenden Vertrag bezüglich der aufgezählten Faktoren keine Spezialregelungen entnehmen lassen,227 sind die entsprechenden Regeln der 223 Hahn, S. 104; vgl. auch Doehring, Rdnr. 330; zur EMRK Frowein/Peukert, EMRK, Einführung, Rdnr. 4. 224 Die Frage, wer berechtigt ist, diese Vertragsverletzung geltend zu machen, bedarf hier keiner Antwort; vgl. dazu Hahn, S. 105 f. 225 So im Ergebnis auch Neumann, ZaöRV 61 (2001), S. 529 (540). 226 So ausdrücklich bezüglich der Vorbehalte Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 14 Rdnr. 1; Kühner, S. 206. 227 Vgl. etwa Art. 108 UN-Charta, der einen Spezialregelung für Vertragsänderungen enthält; dazu Karl, in: Simma, Art. 108 Rdnr. 8, der argumentiert, daß die Charta auch inter se-Modifikationen ausschließt.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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Wiener Vertragsrechtskonvention beziehungsweise des Gewohnheitsrechts anwendbar. Diese halten den Grundsatz der Integrität des multilateralen Vertrags nicht konsequent durch, indem Vorbehalte (Art. 19–23 WVRK),228 nur partiell wirkende Vertragsänderungen (Art. 40 Abs. 4 WVRK) und inter se-Modifikationen (Art. 41 WVRK) zugelassen werden.229 3. Die Wörterbuchfunktion völkerrechtlicher Verträge Von den vorstehend gemachten Ausführungen zu unterscheiden ist der Fall, daß ein oder mehrere Verträge im Rahmen der Wortlautauslegung gleichsam als Wörterbuch verwendet werden.230 Dieses Vorgehen bietet sich insbesondere bei Verträgen mit verwandtem oder gleichem Inhalt an (in pari materiae),231 um die Bedeutung eines im auszulegenden Vertrag verwendeten Begriffs zu klären. Unabhängig von der Pflichtenstruktur des auszulegenden Vertrags ist es nicht erforderlich, daß alle Parteien des auszulegenden Vertrags auch Parteien der als Wörterbuch dienenden Verträge sind.232 Entscheidend kommt es darauf an, daß mit Hilfe der zur Auslegung herangezogenen Verträge ein allgemeiner Sprachgebrauch nachgewiesen werden kann.233 Dies wird allerdings um so schwerer, je geringer der Teilnehmerkreis an diesen Verträgen ist. II. Auslegungsübereinkünfte und Auslegungserklärungen Ebenso wie die Regeln des Völkerrechts sind bei der Vertragsauslegung auch rechtsgeschäftliche Übereinkünfte der Vertragsparteien im Hinblick auf den Vertrag zu berücksichtigen. Derartige Übereinkünfte werden teilweise vertragsförmlich, teilweise aber auch formlos bei Vertragsschluß oder zu einem späteren Zeitpunkt von den Vertragsparteien abgeschlossen, um den Inhalt bestimmter Vertragsbestimmungen verbindlich festzulegen. Es handelt sich dabei also um eine Form der authentischen Vertragsauslegung.234 228

Das Vorbehaltsregime der Wiener Vertragsrechtskonvention stellt den Versuch eines Ausgleichs zwischen Integrität und Universalität dar; vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 14 Rdnr. 1; Verdross/Simma, § 732. 229 Vgl. zu beiden Aspekten Wildhaber, EPIL IV (2000), S. 949 (951). 230 Vgl. dazu Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 528; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (66 ff.). 231 Berber, Bd. 1, S. 481; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1274 mit Fn. 18. 232 Anders aber Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (68); kritisch auch Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 528. 233 Lennard, JIEL 5 (2002), S. 17 (38). 234 Aust, S. 191; Bernhardt, EPIL III (1995), S. 1416 (1421).

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Daneben sind bei der Auslegung Instrumente oder Urkunden zu berücksichtigen, in der nur eine oder eine begrenzte Anzahl der Vertragsparteien anläßlich des Vertragsschlusses ihre Auffassungen zur Vertragsauslegung niederlegen und die von den anderen Vertragsparteien akzeptiert werden.235 III. Das Effektivitätsprinzip In einer Vielzahl völkerrechtlicher Abhandlungen wird das Effektivitätsprinzip als ein bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge zu berücksichtigender Grundsatz dargestellt.236 Bei präziser Betrachtung dieser Darstellungen und der ihnen zugrundeliegenden Urteile internationaler Gerichte zeigt sich zunächst, daß der Begriff Effektivitätsprinzip im Zusammenhang mit der Vertragsauslegung237 keinen einheitlichen, sondern zwei unterschiedliche, wenn auch verwandte, Anwendungsbereiche beschreibt.238 Auf der einen Seite stellt das Effektivitätsprinzip die vom Interpreten zu beachtende Vermutung auf, daß jedes im Vertrag verwendete Wort und jede einzelne Vorschrift eines Vertrages eine tatsächliche Bedeutung haben. Daraus folgt, – bis zur Widerlegung dieser Vermutung – daß weder einzelne Wörter noch einzelne Vorschriften im Zuge der Auslegung zur völligen Bedeutungslosigkeit reduziert werden dürfen.239 In seiner derart formulierten Ausprägung leistet das Effektivitätsprinzip einen „negativen“ Beitrag zur Auslegung, indem es dazu dient, diejenigen Auslegungsargumente und Auslegungsergebnisse auszuscheiden, die bewirken, daß ein Wort bedeutungslos wird. Eigenständige Auslegungsargumente lassen sich mit Hilfe dieses Prinzips indes nicht gewinnen.240 Die zweite Ausprägung des Effektivitätsprinzips ist nahezu identisch mit der Pflicht zur Beachtung von Ziel und Zweck des Vertrages.241 Ausgangs235

Bernhardt, EPIL III (1995), S. 1416 (1421). Berber, Bd. 1, S. 479 f.; Dahm, Bd. 3, S. 50; Fitzmaurice, BYIL 28 (1951), S. 1 (18 ff.); ders. BYIL 33 (1957), S. 203 (220); Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (44). 237 Vgl. allgemein zum Effektivitätsprinzip im Völkerrecht Doehring, EPIL II (1995), S. 43–48; Krüger, WdV I, S. 410–414 sowie umfassend Krieger, Das Effektivitätsprinzip im Völkerrecht. Das Effektivitätsprinzip bei der Vertragsauslegung hat mit dem allgemeinen völkerrechtlichen Effektivitätsprinzip nichts zu tun; vgl. Krieger, S. 74; Krüger, WdV I, S. 410. 238 Berlia, RdC 114 (1965-I), S. 287 (306 ff.); ihm folgend Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (44); die Unterscheidung ebenfalls aufnehmend Krieger, S. 73. 239 Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1279 f.; Lauterpacht, Oppenheim’s International Law (7. Aufl.), Bd. 1, S. 861. 240 Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (47). 241 Grundmann, S. 103. 236

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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punkt dieser Variante des Effektivitätsprinzips ist ebenso wie bei der teleologischen Auslegung242 die Erkenntnis, daß der Vertrag als Ganzes sowie seine einzelnen Vorschriften bestimmte Ziele verwirklichen sollen. Folgerichtig ist eine Auslegung unzulässig, die die Erreichung dieser Ziele unmöglich oder weniger wahrscheinlich macht als eine andere Auslegung. Daraus wird deutlich, daß diese Variante des Effektivitätsprinzips nur eine sprachliche Umformung der Quintessenz der teleologischen Auslegung ist, die in der Anweisung besteht, diejenige Auslegung zu wählen, die die Vertragsziele am ehesten zu verwirklichen hilft.243 Während die teleologische Auslegung allerdings einen „positiven“ Beitrag zur Auslegung leistet, ist der Beitrag dieser Variante des Effektivitätsprinzips wiederum „negativ“.244 Sie zielt darauf ab, Auslegungsargumente und mögliche Auslegungsergebnisse, die zur Erreichung der Vertragsziele weniger umfänglich beitragen als andere, für unzulässig zu erklären. Letztlich rechtfertigt dieser Unterschied zwischen teleologischer Auslegung und Effektivitätsprinzips eine getrennte Behandlung. Damit gleichen sich die beiden Varianten des Effektivitätsprinzips hinsichtlich ihres Beitrags zur Auslegung eines Vertrags.245 Darüber hinaus können sich weitere Überschneidungen zwischen den beiden Varianten ergeben. So ist davon auszugehen, daß eine vertragliche Vorschrift, die in einer Weise ausgelegt wird, daß sie keine eigenständige Bedeutung hat, auch ihr Ziel nicht erreicht. Diese Überschneidungen führen letztlich auch dazu, daß die auf Berlia246 zurückgehende Trennung des Effektivitätsprinzips in zwei unterschiedliche Spielarten in der völkerrechtlichen Literatur nicht durchgehend nachvollzogen wird.247 Dies führt wiederum dazu, daß auch die in diesem Bereich anzutreffende Terminologie nicht durchweg einheitlich ist. Diejenigen Stimmen, die das Effektivitätsprinzip ebenfalls in zwei Varianten einteilen, haben vorgeschlagen, der ersten Variante den Ausdruck effet utile zuzuordnen248 und der zweiten Variante den aus den Digesten stammenden Satz ut res magis valeat quam pereat.249, 250 Im übri242

Dazu soeben oben im Text 1. Kap. D. I. Dazu soeben oben im Text 1. Kap. D. I. 244 Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (47). 245 Ähnlich Berlia, RdC 114 (1965-I), S. 287 (308). 246 Berlia, RdC 114 (1965-I), S. 287 (306 ff.); ebenso Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (44); die Unterscheidung ebenfalls aufnehmend Krieger, S. 73. 247 Vgl. die Ausführungen bei Dahm, Bd. 3, S. 50 ff. 248 Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (44); Krieger, S. 73. 249 Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (44); Krieger, S. 73. 250 Dig. XXXIV.5.12: Quotiens in actionibus aut in exceptionibus ambigua oratio est, commodissimum est id accippi, quo res de qua agitur magis valeat quam pereat. (Hervorhebung vom Verfasser). 243

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

gen Teil des Schrifttums werden diese beiden Begriffe sowie der Begriff Effektivitätsprinzip hingegen synonym verwendet.251 IV. Der Grundsatz in dubio mitius Teilweise, insbesondere in der älteren völkerrechtlichen Literatur, wird die Auffassung vertreten, daß diejenigen Vertragsnormen, aus denen sich Verpflichtungen für eine Vertragspartei ergeben, im Zweifel eng auszulegen sind (in dubio mitius).252 Zur Begründung dieser Auffassung wird angeführt, daß es das völkerrechtliche Grundprinzip der Souveränität der Staaten gebietet, daß diejenige Auslegung gewählt wird, die die Souveränität253 der Staaten am wenigsten belastet. Dies soll die Auslegung sein, die den Vertragsparteien die geringste Verpflichtung auferlegt.254 Gegen diese Ansicht läßt sich einwenden, daß der Verpflichtung eines Staates regelmäßig eine Berechtigung eines anderen Staates gegenübersteht und damit einhergehend zumeist auch eine rechtliche Erweiterung des Handlungsspielraumes der berechtigten Vertragspartei. Die restriktive Auslegung einer Verpflichtung führt daher zugleich stets auch zu einer restriktiven Auslegung des mit dieser Verpflichtung korrespondierenden Rechts.255 Dies ist jedoch mit einer möglichst souveränitätsfreundlichen Auslegung nicht zu vereinbaren. Diese Überlegung zeigt, daß ein einseitiges Abstellen auf die vertraglich übernommenen Pflichten und das gleichzeitige Ausblenden der durch den Vertrag hinzu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten die Natur des Vertrags nicht hinreichend berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob nicht auf den Akt des Vertragsschlusses abzustellen ist.256 Wie oben bereits erläutert,257 stellt der Vertragsschluß einen Akt der Souveränitätsausübung dar. Mit dem Vertragsschluß verfolgen die Vertragsparteien stets bestimmte Ziele und Zwecke. Der Respekt vor der Souveränität der Vertragsparteien gebietet es, den Vertrag so auszulegen, daß Ziel und Zweck des Vertrages erreicht werden.258 Dieser Forderung entspricht die oben dargestellte teleo251 Vgl. Bernhardt, S. 96; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 16; Verdross/Simma, § 780. 252 O’Connell, Bd. 1, S. 257. 253 Gemeint ist hier die staatliche Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheit innerhalb des Sachgebiets des Vertrags, vgl. Bernhardt, S. 145. 254 Berber, Bd. 1, S. 482. 255 Auf diesen Zusammenhang weist Dahm, Bd. 3, S. 53 f., wenngleich in Verbindung mit der Forderung nach einer möglichst effektiven Auslegung hin. 256 Diese Differenzierung findet sich auch bei Bernhardt, S. 145. 257 Vgl. oben im Text 1. Kap. D. III. 2. c).

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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logische Auslegung. Für eine restriktive Auslegung bleibt demnach allenfalls dann noch Raum, wenn zwei Auslegungsergebnisse Ziel und Zweck eines Vertrags in gleichem Maße verwirklichen.259 V. Regeln der Grammatik und Regeln der Logik In einer Reihe völkerrechtlicher Darstellungen werden weitere Auslegungsregeln beschrieben, denen gemeinsam ist, daß es sich bei ihnen um Regeln der Logik oder der Grammatik handelt.260 Weit verbreitet in der britischen Völkerrechtsliteratur ist die Regel expressio unius est exclusio alterius.261 Danach ist etwa im Falle eines im Vertrag ausdrücklich angeordneten Verbots einer Handlung davon auszugehen, daß andere als die verbotenen Handlungen erlaubt sind. McNair hat darauf hingewiesen, daß die expressio unius-Regel inhaltlich identisch mit dem in kontinentalen Rechtskreisen zu findenden argumentum e contrario ist.262 Häufige Erwähnung findet auch das argumentum a maiore ad minus.263

H. Zusammenfassung Die vorstehende Darstellung hat gezeigt, daß bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge eine Vielzahl von Regeln und Methoden zur Anwendung kommen. Zu den aus der nationalen Rechtsordnung bekannten Methoden, Wortlautauslegung, systematische Auslegung, teleologische Auslegung und historische Auslegung, die ihre spezifische völkerrechtliche Prägung erhalten, kommen genuin völkerrechtliche Auslegungsmittel, wie die spätere Praxis der Vertragsparteien und die Berücksichtigung von Völkergewohnheitsrecht. Im folgenden Abschnitt soll nun untersucht werden, wie der Auslegungsvorgang, bei dem die herausgearbeiteten Methoden und Regeln zur Anwendung gelangen, abläuft. 258 Ähnlich Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1278, 1279; in diesem Sinne auch Doehring, Rdnr. 395. 259 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 20; vorsichtig Bernhardt, S. 155 f. 260 So Jennings, RdC 121 (1967-II), S. 328 (547). 261 Diese Regel findet sich etwa bei Aust, S. 201; Brownlie, Principles, S. 634; Jennings, RdC 121 (1967-II), S. 328 (547); Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 511. 262 McNair, S. 400. Das argumentum e contrario wird aufgeführt von Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rdnr. 19. 263 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rdnr. 19; Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 513 f.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

I. Der Ablauf des Auslegungsvorgangs I. Die Anwendung der Auslegungsmethoden auf den auszulegenden Text Der Auslegungsvorgang verläuft bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge nicht anders als bei der Auslegung anderer Rechtsnormen und beliebiger anderer Texte.264 Zu Beginn der Auslegung stellt der Interpret eine oder mehrere Norm- oder Interpretationshypothesen über den möglichen Sinn der zweifelhaften Norm auf.265 Diese Sinnerwartung des Interpreten entsteht aufgrund des Vorverständnisses, mit dem der Interpret an die Norm herantritt.266 Als Vorverständnis wird das beim Interpreten vor Beginn des konkreten Auslegungsvorganges aufgrund seiner Erfahrungen vorhandene Wissen um die Bedeutung der verwendeten Worte oder den Sachzusammenhang der Regelung bezeichnet.267 Im Rahmen der eigentlichen Auslegung überprüft der Interpret die einzelnen Hypothesen, indem er die zuvor beschriebenen Auslegungskriterien anwendet. Stellt sich eine der Hypothesen im Lichte eines der Auslegungskriterien als nicht haltbar dar, so verwirft der Interpret diese Hypothese beziehungsweise modifiziert sie und unterwirft sie der weiteren Überprüfung.268 Die so ablaufende Auslegung führt nicht immer zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis.269 Vielmehr ist es nicht ungewöhnlich, daß einige Auslegungskriterien eine Auslegungshypothese stützen, während andere Auslegungskriterien wiederum eine andere Auslegungshypothese stützen.270 Im konkreten Rechtsstreit bedeutet dies, daß sich die Parteien auf die für sie jeweils günstigen Auslegungskriterien berufen werden. Für den Interpreten bedeutet dies wiederum, daß er eine Entscheidung über die zu bevorzugenden Auslegungskriterien treffen muß. Dies verlangt eine Eigenwertung des Interpreten.271 Bisweilen wird die Gefahr beschrieben, daß dieser Spielraum des Interpreten für eigene Wertungen die Gefahr willkürlicher Entscheidungen in 264 Auf diese Gemeinsamkeit weist Coing, S. 273 hin; zur allgemeinen Hermeneutik vgl. den Überblick bei Schroth, in: Kaufmann/Hassemer, S. 306–312. 265 Koller, S. 199 f. 266 Larenz, S. 207. 267 Ausführlich Röhl, S. 96 ff.; kurz Zippelius, S. 53. 268 Coing, S. 273; Koller, S. 202. 269 Zippelius, S. 62. 270 Koller, S. 202. 271 Larenz, 346; Zippelius, S. 63 f.; ausdrücklich für das Völkerrecht, Dahm, Bd. 3, S. 56 f.

2. Kap.: Die Methoden der Auslegung im Völkerrecht

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sich birgt. Vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen zu verstehen, eine Rangfolge der Auslegungskriterien aufzustellen. Auf diese Weise soll die Möglichkeit mehrerer in gleichem Maße vertretbarer Auslegungsergebnisse und die daraus resultierende Notwendigkeit einer wertenden Entscheidung des Interpreten ausgeschieden werden.272 Unter Bezugnahme auf Savigny273 wird die juristische Auslegung vielfach als Kunst bezeichnet.274 Diese Ansicht beruht auf der Erkenntnis, daß die Auslegung ebenso wie eine künstlerische Betätigung den Einsatz kreativer Geisteskräfte erfordert. Diese schöpferische Geistesbetätigung liegt in dem hier beschriebenen dialektischen Vorgang des Aufstellens, Überprüfens und Verwerfens von Normhypothesen.275 Uneingeschränkte Einigkeit herrscht darüber, daß der Auslegungsvorgang unter dem Gebot von Treu und Glauben steht. Bei diesem Gebot handelt es sich nicht um eine eigene Erkenntisquelle bei der Auslegung, sondern um eine während des gesamten Auslegungsvorgangs vom Interpreten zu beachtende Verhaltenspflicht.276 Mit anderen Worten beginnt die Pflicht zur Beachtung dieses Gebotes mit dem Aufstellen der Normhypothese, erstreckt sich über deren Überprüfung anhand der einzelnen Erkenntnisquellen und endet bei der möglichen Abwägung der unterschiedlichen Ergebnisse.277 Als primärer Adressat dieses Gebots werden gewöhnlich die Vertragsparteien bezeichnet,278 was daran liegen dürfte, daß Rechtsprechungsorganen und Gerichten eine Mißachtung des Gebotes kaum zugetraut wird. Gleichwohl sind auch diese, wie alle Interpreten, gebunden.279 Trotz dieses materiellen Gehaltes des Gebots zur Beachtung von Treu und Glauben finden sich in der internationalen Rechtsprechung keine Fälle, in denen ein Gericht eine Mißachtung des Gebots festgestellt hat. Dies wird damit erklärt, daß das Gebot von Treu und Glauben nicht nur den Auslegungsvorgang bestimmt, sondern daß die einzelnen Methoden und Regeln ihrerseits selbst Konkretisierungen des bona fides-Grundsatzes sind.280 Ein 272

Vgl. dazu Schroth, in: Kaufmann/Hassemer, S. 306 (322 ff.). Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Band 1, Buch 1, Kap. 4, § 32, S. 211: „Die Auslegung ist eine Kunst, (. . .)“. Darauf, daß diese Auffassung auf Savigny zurückgeht, weist Haraszti, S. 196, 197 hin. 274 Basdevant, Ann.IDI 46 (1956), S. 322; ihm zustimmend Jessup, Ann.IDI 46 (1956), S. 329; Bernhardt, S. 57. 275 Köck, ZÖR 53 (1998), S. 217 (220 f.); Larenz, S. 315. 276 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 20. 277 Deutlich in diesem Sinne Sinclair, S. 120. 278 Aust, S. 187; Sinclair, S. 119 f., Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (17). 279 Dupuy, § 302. 280 Dazu bereits oben im Text 2. Kap. A. 273

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Verstoß gegen diesen Grundsatz geht auch stets mit der Mißachtung oder Fehlanwendung mindestens einer Methode einher.281 Der Feststellung eines methodischen Fehlers wird jedoch aus rechtspolitischen Gründen regelmäßig der Vorzug vor einem Vorwurf gegeben, daß ein Staat bösgläubig gehandelt hat.282 II. Die Grenzen der Auslegung Wie im Bereich der allgemeinen Auslegungsmethodik wird auch im Bereich der Auslegung völkerrechtlicher Verträge gefordert, daß sich die Auslegung stets innerhalb der vom Wortlaut einer Vorschrift gezogenen Grenze zu halten hat.283 Einer Vertragsvorschrift darf demnach keine Bedeutung gegeben werden, die sich nicht im Rahmen der möglichen Wortbedeutungen der Wörter hält, aus denen sich die Vorschrift zusammensetzt.284 Ein Auslegungsergebnis, das die Grenzen des Wortlauts überschreitet, kommt einer Vertragsrevision durch den Interpreten gleich, zu der nur die Vertragsparteien als „Herren der Verträge“ berechtigt sind.285 Die auch im Völkerrecht grundsätzlich bestehende Funktionenteilung zwischen Normsetzer und Norminterpret bedingt somit die Forderung nach der Begrenzung der Auslegung durch den Wortlaut. Diese Vorstellung einer funktionalen Trennung zwischen Normsetzer und Interpret weist Züge einer in der Tradition westlicher Demokratievorstellung stehenden Gewaltenteilungslehre auf.286 Sie besitzt aber auch im Völkerrecht Geltungsanspruch. Dies gilt auch in den Fällen, in denen die Interpretation eines Vertrags nicht durch ein Gericht oder einen anderen neutralen Dritten wahrgenommen wird,287 obgleich in diesen Fällen Normschöpfer und Norminterpret jeweils die Vertragsparteien sind, so daß die vermeintlich zu trennenden Funktionen personell zusammenfallen. Allerdings darf nicht übersehen werden, daß Normschöpfer die Gesamtheit aller Vertragsparteien sind. Norminterpret ist hingegen – abgesehen von der authentischen Ausle281

So Bernhardt, S. 24 f.; Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (17). Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (17 f.). 283 Vgl. statt vieler Koller, S: 220 m. w. N. 284 Berber, Bd. 1, S. 480; Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1280 f. 285 Vgl. Fitzmaurice BYIL 28 (1951), S. 1 (18–20); ders., BYIL 33 (1957), S. 203 (207/208); Schwarzenberger, International Law, Bd. 1, S. 517, 520. 286 Zu den Zusammenhängen von Auslegung, Gewaltenteilung und Demokratieprinzip im innerstaatlichen Recht vgl. Rüthers, Rdnr. 705 ff. 287 In diesen Fällen ist davon auszugehen, daß die Vertragsparteien der mit der Interpretation betrauten Instanz nicht die Befugnis übertragen haben, neue Rechtsnormen zu erzeugen, sondern nur die Befugnis, bestehende Rechtsnormen auszulegen. 282

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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gung,288 die insofern mit der Normschöpfung vergleichbar ist – jede einzelne Vertragspartei.289 Auch für deren Auslegung muß aber gelten, daß sie bei ihrer Interpretation eines Vertrags nur die von den Vertragsparteien in ihrer Gesamtheit vereinbarten Vertragstext zugrunde legen darf. Jedes Abrücken von dem gemeinsam vereinbarten Vertragstext würde ein gegen das Gebot von Treu und Glauben290 verstoßendes Verlassen des dem Vertrag zugrundeliegenden Konsenses bedeuten, so daß die Trennung zwischen Norminterpret und Normschöpfer auch im Völkerrecht geboten ist. 3. Kapitel

Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht A. Die Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention In Abschnitt 3 des Teils III der Wiener Vertragsrechtskonvention sind nach langer Diskussion unter den Mitgliedern der International Law Commission und unter den interessierten Staaten Methoden und Regeln der Auslegung völkerrechtlicher Verträge kodifiziert worden. Art. 31 WVRK statuiert eine „Allgemeine Auslegungsregel“,291 Art. 32 WVRK enthält „Ergän288

Vgl. dazu bereits oben im Text 1. Kap. C. I. Vgl. dazu oben im Text 1. Kap. C. I. 290 Das Gebot von Treu und Glauben (bona fides), das als allgemeiner Rechtsgrundsatz auch im Völkerrecht gilt, beherrscht und durchzieht das Recht völkerrechtlicher Verträge; vgl. statt vieler Verdross, in: WdV I, S. 223. 291 Artikel 31 Allgemeine Auslegungsregel (1) Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. (2) Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen a) jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anläßlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde; b) jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anläßlich des Vertragsabschlusses abgefaßt und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde. (3) Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen; b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht; c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz. (4) Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, daß die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben. 289

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

zende Auslegungsmittel“,292 während Art. 33 WVRK das Sonderproblem der Auslegung mehrsprachiger Verträge behandelt.293 I. Artikel 31 WVRK – Allgemeine Auslegungsregel Art. 31 Abs. 1 WVRK weist den Interpreten zunächst an, Verträge nach Treu und Glauben auszulegen. Neben dem Gebot zur Auslegung bona fides enthält Art. 31 Abs. 1 WVRK das Gebot, bei der Auslegung eines Vertrags und damit auch der einzelnen Bestimmungen die gewöhnliche Wortbedeutung, die Systematik der Regelung sowie Ziel und Zweck des Vertrags zu berücksichtigen. Diese drei in Art. 31 Abs. 1 WVRK genannten Auslegungskriterien stehen gleichberechtigt nebeneinander. Dies wird zum einen aus der Überschrift der Vorschrift deutlich, in der ausdrücklich das Wort „Regel“ im Singular verwendet wird.294 Auch der Wortlaut der Vorschrift enthält keine irgendwie geartete Rangfolge. Die International Law Commission hat während ihrer Beratungen betont, daß die Verwendung dieser drei Auslegungskriterien als single combined operation zu verstehen sei.295 Dies 292 Artikel 32 Ergänzende Auslegungsmittel Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31 a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt. 293 Artikel 33 Auslegung von Verträgen mit zwei oder mehr authentischen Sprachen (1) Ist ein Vertrag in zwei oder mehr Sprachen als authentisch festgelegt worden, so ist der Text in jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend, sofern nicht der Vertrag vorsieht oder die Vertragsparteien vereinbaren, daß bei Abweichungen ein bestimmter Text vorgehen soll. (2) Eine Vertragsfassung in einer anderen Sprache als einer der Sprachen, deren Text als authentisch festgelegt wurde, gilt nur dann als authentischer Wortlaut, wenn der Vertrag dies vorsieht oder die Vertragsparteien dies vereinbaren. (3) Es wird vermutet, daß die Ausdrücke des Vertrags in jedem authentischen Text dieselbe Bedeutung haben. (4) Außer in Fällen, in denen ein bestimmter Text nach Absatz 1 vorgeht, wird, wenn ein Vergleich der authentischen Texte einen Bedeutungsunterschied aufdeckt, der durch die Anwendung der Artikel 31 und 32 nicht ausgeräumt werden kann, diejenige Bedeutung zugrundegelegt, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck des Vertrags die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt. Dazu Hilf, S. 54 ff.; Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 272 ff.; Sinclair, S. 147 ff. 294 Bericht Nr. VI des Special Rapporteur der ILC Waldock zu Art. 69, 70, 71 des ILC Drafts von 1964 bei Wetzel/Rauschning, S. 243; ebenso der Kommentar der ILC zu Art. 27, 28 des ILC Final Drafts, ebenda, S. 251 f. 295 Kommentar der ILC zu Art. 27, 28 des ILC Final Drafts bei Wetzel/Rauschning, S. 251.

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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bedeutet, daß der Interpret verpflichtet ist, diese drei Kriterien zur Anwendung zu bringen und zu untersuchen, ob sich mit ihrer Hilfe Aussagen für die Auslegung der fraglichen Vorschrift gewinnen lassen. Während die Konvention in Art. 31 Abs. 2 recht genau regelt, was als Zusammenhang für den Zweck der Auslegung gilt, bleiben die Regelungen zur Wortlautauslegung und zur teleologischen Interpretation weitgehend rudimentär. Art. 31 Abs. 4 enthält nur eine ergänzende Regel zur Wortlautauslegung;296 die Vorgehensweise bei der Wortlautauslegung, insbesondere mögliche Hilfsmittel zur Ermittlung der Wortbedeutung, überläßt die Konvention dem Interpreten. Unklar bleibt, ob auf die Wortbedeutung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses oder in einem späteren Zeitpunkt abzustellen ist.297 Ebensowenig enthält der Konventionstext nähere Ausführungen zur teleologischen Auslegung, so daß ungeklärt bleibt, woraus sich die Erkenntnis über Ziel und Zweck des Vertrages speist.298 Hinsichtlich des mit der teleologischen Auslegung eng verwandten Effektivitätsprinzips hat die ILC die Auffassung vertreten, daß es Bestandteil der in Art. 31 Abs. 1 WVRK enthaltenen Verpflichtungen sei, bei der Auslegung nach Treu und Glauben vorzugehen und Ziel und Zweck des Vertrages zu berücksichtigen.299 Demzufolge unterblieb eine ausdrückliche Aufnahme des Effektivitätsprinzips in die Konvention. An diesen Stellen läßt die Konvention den Anwendern Spielraum zur Weiterentwicklung. Art. 31 Abs. 2 WVRK enthält eine Definition dessen, was für den Zweck der Auslegung als Zusammenhang gilt. In dem die Vorschrift einleitenden Satzteil werden zunächst der Vertragswortlaut selbst sowie die Präambel und etwaige Anlagen des Vertrags genannt. Damit verdeutlicht die Konvention, daß der Kontext sowohl den syntaktischen als auch den Sinnzusammenhang umfaßt. In Art. 31 Abs. 2 lit. a und b WVRK erweitert die Konvention im Wege der Definition den Zusammenhang gegenüber dem herkömmlichen Verständnis. Zum einen werden Übereinkünfte, die sich auf den Vertrag beziehen und die von allen Vertragsparteien anläßlich des Vertragsabschlusses getroffen werden, in den Zusammenhang einbezogen. Daneben werden auch solche Urkunden in den Kontext aufgenommen, die anläßlich des Vertragsabschlusses nur von einem Teil der Vertragsparteien verfaßt wurden, die aber gleichwohl von den übrigen Vertragsparteien als sich auf den Vertrag beziehend angenommen wurden. Die Regelung in Art. 31 Abs. 2 lit. a und b WVRK bedeutet, daß die dort bezeichneten Dokumente 296

Dazu sogleich unten im Text. Dazu oben im Text 2. Kap. B. 298 Dazu oben im Text 2. Kap. C. II. 1. 299 Vgl. den Kommentar der ILC zu Art. 27, 28 des ILC Final Drafts bei Wetzel/ Rauschning, S. 251. 297

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

keinesfalls als travaux préparatoires zu behandeln sind, wodurch ihnen auf Grund der in Art. 32 WVRK getroffenen Regelung nur nachrangige Bedeutung zukäme.300 Weiterhin verdeutlichen lit. a und b, daß einseitige Dokumente, die den anderen Parteien nicht zur Kenntnis gebracht und von diesen nicht akzeptiert wurden, gerade nicht in den Zusammenhang aufgenommen werden.301 Art. 31 Abs. 3 WVRK stellt drei weitere Auslegungskriterien dem in Abs. 2 behandelten Kontext gleich. Art. 31 Abs. 3 lit. a WVRK bestimmt, daß spätere Übereinkünfte der Parteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung einzelner Bestimmungen bei der Vertragsinterpretation zu berücksichtigen sind. Mit dieser Regelung findet die authentische Auslegung302 Eingang in die Vertragsrechtskonvention.303 Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK erklärt die spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu einem relevanten Auslegungskriterium. Unbestritten wird hier gefordert, daß es sich um die Übereinstimmung aller Vertragsparteien handeln muß. Für den Bereich multilateraler Verträge ist im Rahmen der Kodifikation aber die Frage offen geblieben, ob nur die übereinstimmende Übung aller Vertragsparteien die Übereinstimmung aller Vertragsparteien zum Ausdruck bringen kann oder ob der Interpret auch von der Beteiligung der überwiegenden Mehrheit der Parteien an einer von den übrigen Parteien unwidersprochenen Vertragspraxis auf die notwendige Übereinstimmung schließen darf.304 Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK bestimmt, daß bei der Auslegung auch jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz zu berücksichtigen ist. Der Wortlaut der Konvention läßt offen, ob sie sich auf im Zeitpunkt des Vertragsschlusses geltende Rechtssätze bezieht oder ob sie auch deren Veränderung sowie später neu entstehende Rechtssätze umfaßt. In einem früheren Entwurf der International Law Commission fand sich noch der Zusatz „in force at the time of its conclusion“.305 Die Streichung dieser Worte ermöglicht den vorsichtigen 300

Darauf weist Sinclair, S. 129 hin. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 13; Sinclair, S. 129. 302 Dazu bereits oben im Text 1. Kap. C. I. 303 Jennings/Watts, Bd. 1.2, S. 1274 mit Fn. 19; Sinclair, S. 136. 304 Vgl. Grundmann, S. 171 mit Fn. 773. 305 Art. 69 Abs. 1 lit. b des ILC Drafts 1964 lautete: „A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to each term: (a) . . . (b) In the light of the rules of general international law in force at the time of its conclusion.“ bei Wetzel/Rauschning, S. 239. 301

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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Schluß, daß eine Berücksichtigung nach Vertragsschluß eintretender Veränderungen des rechtlichen Umfeldes nicht ausgeschlossen sein sollte.306 Art. 31 Abs. 4 WVRK, der systematisch nicht an die beiden vorhergehenden Absätze anschließt, sondern Bezug auf den ersten Absatz nimmt, bestimmt den Vorrang einer besonderen Wortbedeutung vor der gewöhnlichen Wortbedeutung, soweit sich nachweisen läßt, daß die Verwendung einer besonderen Bedeutung von den Parteien gewollt war. Mit dieser Regel wird die Beweislast dafür, daß ein Wort in einer Spezialbedeutung verwendet wurde, derjenigen Partei aufgebürdet, die sich darauf beruft.307 II. Artikel 32 WVRK – Ergänzende Auslegungsmittel Art. 32 WVRK regelt die Bedeutung anderer als der in Art. 31 WVRK behandelten Auslegungskriterien. Diese bezeichnet Art. 32 WVRK als „ergänzende“ Auslegungsmittel und mißt ihnen bereits durch diese Bezeichnung eine gegenüber denen des Art. 31 WVRK unter- beziehungsweise nachgeordnete Bedeutung bei. Die Vorschrift unterläßt es, die ergänzenden Auslegungsmittel abschließend aufzuzählen, allerdings hebt sie die vorbereitenden Arbeiten (travaux préparatoires) und die Umstände des Vertragsschlusses, also die beiden Elemente der oben als historische Methode bezeichneten Auslegungsmethode, hervor. Die untergeordnete Bedeutung der ergänzenden Auslegungsmittel zeigt sich insbesondere in der ihnen durch Art. 32 WVRK zugewiesenen Rolle im Auslegungsprozeß. Der die Vorschrift einleitende Satzteil gestattet die Verwendung der ergänzenden Auslegungsmittel, um ein mit Hilfe von Art. 31 WVRK gefundenes Auslegungsergebnis zu bestätigen. Art. 32 lit. a WVRK erlaubt die Verwendung der ergänzenden Auslegungsmittel, wenn die Auslegung nach Art. 31 WVRK die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel läßt, während Art. 32 lit. b WVRK die Heranziehung der ergänzenden Auslegungsmittel gestattet, wenn die Auslegung nach Art. 31 WVRK zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis geführt hat. Die Regelung des Art. 32 WVRK bedingt, daß die ergänzenden Auslegungsmittel einen eigenständigen Beitrag zum Auslegungsergebnis nur dann leisten, wenn die vorherige Anwendung von Art. 31 WVRK die Bedeutung der auszulegenden Vorschrift unklar gelassen hat oder aber zu einem sinnwidrigen Ergebnis geführt hat. Zwar untersagt Art. 32 WVRK die Verwendung der ergänzenden Auslegungsmittel nicht schlechthin, da der Interpret sie stets anwenden kann, um das einmal gefundene Ergebnis zu 306 In diesem Sinne Sinclair, S. 140; unentschlossen Thirlway, BYIL 62 (1991), S. 1 (58); ablehnend Grundmann, S. 164. 307 Sinclair, S. 126.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

bestätigen. Allerdings darf er ein klares und sinnvolles Auslegungsergebnis, das er unter Anwendung der in Art. 31 WVRK gefundenen Methoden erzielt hat, nicht deshalb verändern, weil die ergänzenden Auslegungsmittel in eine andere Richtung weisen. Die Aufzählung der ergänzenden Auslegungsmittel in Art. 32 WVRK ist, wie sich aus dem Text der Vorschrift ergibt, keineswegs abschließend.308 Dementsprechend wird vertreten, daß eine Praxis, die den Anforderungen von Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK nicht genügt, die also nicht die Übereinstimmung aller Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags zum Ausdruck bringt, als subsidiäre Erkenntnisquelle im Rahmen von Art. 32 WVRK berücksichtigt werden kann.309 Ebenso ist die Ansicht geäußert worden, daß die Auslegungspraxis der Organe internationaler Organisationen, die in Organbeschlüssen oder Resolutionen zum Ausdruck kommt, im Rahmen von Art. 32 WVRK als subsidiäres Auslegungsmittel Berücksichtigung finden kann.310 III. Die Position von Artikel 31 und 32 WVRK im Streit um subjektive und objektive Auslegungstheorie Die International Law Commission, die mit der Ausarbeitung der Wiener Vertragsrechtskonvention betraut war, hat mit Art. 31 und 32 WVRK eine eher objektive Position im Streit der subjektiven und objektiven Auslegungstheorie eingenommen.311 Art. 31 Abs. 1 WVRK beruht auf der Vermutung, daß der Vertragstext die authentische Äußerung des übereinstimmenden Willens der Vertragsparteien ist.312 Folgerichtig stellt Art. 31 Abs. 1 und 2 WVRK den Vertragstext in den Vordergrund der Auslegung, indem er neben dem Wortlaut auch den Kon-Text sowie den herkömmlicherweise ebenfalls auf Grundlage des Vertragstextes zu ermittelnden Vertragszweck und das Ziel des Vertrages313 für relevant erklärt. Gleichzeitig weist Art. 32 WVRK der historischen Methode beziehungsweise den travaux préparatoires, die von der subjektiven Theorie als bevorzugtes Instrument zur Ermittlung des wahren Parteiwillens erachtet wird,314 eine nur untergeordnete 308

Brötel, Jura 1988, S. 343 (348); Karl, in: Bieber/Ress, S. 81 (90). Grundmann, S. 172 f. 310 Karl, in: Bieber/Ress, S. 81 (90); für eine stärkere Gewichtung tritt Ress, ebenda, S. 49 (60) ein. 311 Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (496); Bredimas, S. 21; Brownlie, Principles, S. 632; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rdnr. 5; Neuhold, AVR 15 (1971/72), S. 1 (29); Verdross/Simma, § 776. 312 Kommentar der ILC zu Art. 27, 28 des ILC Final Drafts bei Wetzel/Rauschning, S. 252. 313 Zur Ermittlung von Ziel und Zweck vgl. oben im Text 2. Kap. C. II. 1. 309

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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Bedeutung bei der Auslegung zu. Auch dies entspricht der Auffassung der objektiven Theorie. Eine wichtige Ergänzung findet die am Text orientierte objektive Auslegung durch Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK, der durch die Aufnahme der späteren Praxis der Vertragsparteien in den Auslegungskanon das aktuelle Vertragsverständnis Parteien an Einfluß gewinnen läßt und so eine dynamische Auslegung ermöglicht.315 IV. Zusammenfassung Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, können Art. 31 und 32 WVRK im wesentlichen als Kodifizierung der zuvor in Rechtsprechung und Literatur herausgearbeiteten Methoden und Regeln zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge bezeichnet werden.316 Art. 31 WVRK nimmt dabei eine zentrale Position ein. In dieser Vorschrift werden die Grundsätze der wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung zusammengefaßt und, soweit insbesondere die systematische Auslegung betroffen ist, näher spezifiziert. Auch das Auslegungsmittel „spätere Praxis“ der Vertragsparteien hat Aufnahme in Art. 31 WVRK gefunden. Art. 32 WVRK regelt die historische Auslegung, der die Vorschrift eine untergeordnete Rolle bei der Interpretation völkerrechtlicher Verträge zuweist. Gleichzeitig ist Art. 32 WVRK nicht abschließend formuliert, so daß es dem Interpreten möglich ist, weitere Auslegungsmittel, die Auskunft über die Bedeutung des Vertragstextes geben können, zu Rate zu ziehen. Insgesamt darf die Formulierung der Art. 31 und 32 WVRK also als gelungen betrachtet werden.

B. Die Regeln des Völkergewohnheitsrechts Trotz des Inkrafttretens der Wiener Vertragsrechtskonvention im Jahre 1980 sind deren Regeln bislang nur auf einen Bruchteil der vertraglichen Beziehungen im internationalen Verkehr anwendbar. Dies liegt zum einen daran, daß die Konvention gemäß ihres Art. 4 keine rückwirkende Kraft entfaltet, zum anderen daran, daß einige im Völkerrechtsverkehr bedeutende Akteure, wie etwa die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Indien, der Konvention bislang nicht beigetreten sind. Damit stellt sich die Frage, ob die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, für die das Regime der Vertragsrechtskonvention nicht gilt, im rechtlich nicht geregelten Raum 314 315 316

Dazu bereits oben im Text 1. Kap. D. III. 3. Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (496). So statt vieler Verdross/Simma, § 775.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

erfolgt oder ob der Interpret anderen, etwa gewohnheitsrechtlichen Bindungen unterliegt. Die Existenz gewohnheitsrechtlich geltender Regeln der Vertragsauslegung ist heute nach wie vor nicht völlig geklärt. Nur wenige Staaten haben sich ausdrücklich zu der Existenz oder zum Inhalt gewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln geäußert, so daß der eindeutige Nachweis einer allgemeinen Übung und einer diese Übung tragenden Rechtsüberzeugung schwer fällt.317 Zwar hat sich in der internationalen Rechtsprechung, insbesondere des internationalen Gerichtshofes, mittlerweile die Auffassung durchgesetzt, daß gewohnheitsrechtliche Regeln existieren, die identisch mit den in den Artikeln 31–33 WVRK vertraglich festgeschriebenen Regeln sind. Richterliche Entscheidungen, auch die Entscheidungen internationaler Gerichte, stellen jedoch nach Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts keine eigenständige Rechtsquelle des Völkerrechts dar. Schließlich läßt sich im völkerrechtlichen Schrifttum, das wie die richterlichen Entscheidungen allenfalls als Hilfsmittel zur Rechtserkenntnis dient, keine „herrschende“ Meinung bezüglich des gewohnheitsrechtlichen Status von Auslegungsregeln identifizieren. I. Staatenpraxis Insgesamt gibt es nur wenige eindeutige Belege, die zeigen, daß die Staaten von der gewohnheitsmäßigen Geltung völkerrechtlicher Auslegungsregeln rechtlich überzeugt sind. Dies hängt eng damit zusammen, daß die der Vertragsanwendung beziehungsweise Vertragserfüllung vorausgehende Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags durch staatliche Organe in aller Regel stillschweigend verläuft.318 Soweit es zwischen Vertragsparteien zu Auslegungsdifferenzen kommt, werden diese oftmals auf diplomatischen Wege behoben, ohne daß die geäußerten Rechtsansichten und mit ihnen die verwendeten Auslegungsmethoden und Aussagen über deren Rechtsverbindlichkeit an die Öffentlichkeit treten. Eindeutige Aussagen über die Rechtsauffassung der Staaten im Bereich der Vertragsauslegung lassen sich daher am ehesten aus den vor internationalen Gerichten vertretenen Rechtsstandpunkten ableiten. In der Vergangenheit haben, soweit ersichtlich, nur Italien und Deutschland in Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) ausdrücklich erklärt, daß sie von der gewohnheitsrechtlichen Geltung der in Art. 31–33 WVRK enthaltenen Auslegungsregeln ausgehen. Im CounterMemorial im ELSI-Fall319 erklärte Italien: 317

Näher zu den beiden Elementen des Völkergewohnheitsrechts Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, Völkerrechts, § 16. 318 Vgl. zur Rolle der Staaten als Interpreten bereits oben im Text 1. Kap. C. I. und 2. Kap. A.

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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„2. The rules of interpretation to be applied with reference to the 1948 and 1951 Treaties320 between the United States and Italy. – Although the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties does not apply to the interpretation of the Treaty and its Supplementary Agreement, the rules on interpretation included in the Convention are to be considered as corresponding to those applicable under general international law. (. . .)“321

Während sich im von der Mehrheit des Gerichts getragenen Urteil im ELSI-Fall keine Ausführungen zu der Frage der gewohnheitsrechtlichen Geltung von Auslegungsmethoden finden, nahm der Richter Schwebel in seinem abweichenden Sondervotum ausdrücklich Bezug auf diese Passage im Memorial Italiens: „In its pleadings, Italy relied upon the rules of treaty interpretation set forth in Article 31 of the Vienna Convention on the Law of Treaties as reflective of customary international law, a position which was not questioned by the Unites States.“322

Richter Schwebel, der in seiner abweichenden Meinung Art. 31 und 32 WVRK zur Anwendung brachte, wollte mit dieser Passage offensichtlich zum Ausdruck bringen, daß die Vereinigten Staaten, die anders als Italien nicht einmal Vertragspartei der WVRK waren, stillschweigend die gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Artikel anerkannt hatten. In ihrem Memorial im La Grand-Fall erklärte die Bundesrepublik Deutschland:323 „4.19 This contextual interpretation is confirmed by the travaux préparatoires of the Vienna Convention. According to Art. 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, which expresses customary international law on the matter,159 the drafting history constitutes a subsidiary but nonetheless important means of interpretation.“324

In der zu dieser Passage des Memorials gehörenden Fußnote 159 heißt es: „159 See Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad), Judgment, I.C.J. Reports 1994, pp. 21 f. (para. 41), quoted also in Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrein, Jurisdiction and Admissibility, Judg319 Case Concerning Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (United States of America v. Italy), Urteil v. 20.7.1989, ICJ Rep. 1989, 15 ff. 320 Gemeint sind der amerikanisch-italienische Freundschafts-, Handels- und Schiffahrtsvertrag von 1948 sowie ein Zusatzabkommen aus dem Jahr 1951. 321 Counter Memorial Italien, I.C.J. Pleadings, Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI), Vol. II, S. 30. 322 Case Concerning Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (United States of America v. Italy), ICJ Rep. 1989, S. 71 (Abw. Meinung Richter Schwebel). 323 La Grand Case (Germany v. United States of America), I.L.M. 40 (2001), S. 1069 ff. 324 Memorial Deutschland v. 16.9.1999, http://www.icj-cij.org (30.5.2002).

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge ment, I.C.J. Reports 1995, p. 18 (para. 33): ‚Il peut être fait appel à titre complémentaire à des moyens d’interprétation tels les travaux préparatoires et les circonstances dans lesquelles le traité a été conclu.‘ See also I. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties (2d ed. 1984), p. 19 (with further references): ‚[T]here is now strong judicial support for the view that the rules of treaty interpretation incorporated in the Convention are declaratory of customary law.‘ “325

An einer anderen Stelle des Memorials erklärt die Bundesrepublik: „4.111 Second, irrespective of whether the Declaration as such is legally binding or not, it certainly constitutes ‚subsequent practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding its interpretation‘ in the terms of Art. 31 (3) (b) of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, which is generally considered to be an expression of customary law on the matter.“326

II. Internationale Rechtsprechung Vornehmlich die beiden Weltgerichtshöfe, aber auch internationale Schiedsgerichte haben zur Entwicklung der oben dargestellten Regeln für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge beigetragen. Über lange Zeit hinweg haben die Gerichte diese Auslegungsregeln zur Anwendung gebracht, ohne eine Aussage darüber zu treffen, ob sie sich dazu durch Gewohnheitsrecht verpflichtet sahen. Erst nach Verabschiedung, jedoch bereits vor Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention im Jahr 1980, wurde die Existenz gewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln bejaht. Eine erste entsprechende Aussage findet sich in einem Urteil des Schiedsgerichtshofs für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden im Jahr 1970. Darin heißt es „55. (. . .) What is determinative is the pertinent language of Article 19 and paragraph 11 of Annex I, which was agreed to by the parties. It is from that point that we must begin our consideration of the case. It is that language that is to be interpreted. The Interpretation will be in accordance with the general rule, as stated in Article 31 paragraph 1 of the 1969 Vienna Conference on the Law of Treaties, which reads as follows: [Zitat folgt] (. . .)“327

(. . .) 61. The ‚clear‘, ‚natural‘ or ‚plain‘ meaning of language used in a treaty is entitled to primacy, although it does not necessarily have exclusionary effect. (See Article 31 paragraph 4 of the Vienna Convention (. . .)“328 325

Memorial Deutschland v. 16.9.1999, http://www.icj-cij.org (30.5.2002). Memorial Deutschland v. 16.9.1999, http://www.icj-cij.org (30.5.2002). 327 Königreich Griechenland gegen Bundesrepublik Deutschland v. 26.1.1972 (Nr. 5), in: Schiedsgerichtshof und Gemischte Kommission für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden, Entscheidungen und Gutachten 1970/1972, S. 12 (42). 328 Ebenda, S. 44. 326

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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Der Schiedsgerichtshof, wenngleich in anderer personeller Zusammensetzung, hat im Jahr 1980 in einem die Young-Anleihe betreffenden Rechtsstreit zwischen Belgien, den USA, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz auf der einen Seite und der Bundesrepublik Deutschland auf der anderen Seite diese Bezugnahme auf Art. 31 WVRK näher interpretiert und weiter ausgeführt: „16. Nach Art. 6 der Satzung des Schiedsgerichtshofs wendet der Schiedsgerichtshof bei der Auslegung des Abkommens und seiner Anlagen die ‚allgemein anerkannten Regeln des internationalen Rechts‘ an. Das völkerrechtliche Vertragsrecht – einschließlich der wichtigsten Regeln über die Vertragsauslegung – ist in der sogenannten Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) vom 23. Mai 1969 kodifiziert worden. Die Bestimmungen der Konvention finden im konkreten Fall an sich keine Anwendung (vgl. Art. 4 WVK). Nach weitgehend übereinstimmender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur spiegelt sich jedoch in der WVK der damalige wie gegenwärtige Stand des völkerrechtlichen Vertragsrechts wider, da die Konvention – jedenfalls in dem Bereich der Vertragsauslegung – nur geltendes Gewohnheitsrecht kodifiziert. Diese Auffassung haben sich nicht nur alle Parteien dieses Rechtsstreits ausdrücklich zu eigen gemacht, auch der Gerichtshof selbst hat diese Auffassung schon in seiner früheren Rechtsprechung vertreten. Vgl. etwa das Urteil Königreich Griechenland gegen Bundesrepublik Deutschland in: Schiedsgerichtshof und Gemischte Kommission für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden, Entscheidung und Gutachten 1970/72, S. 49.“329

Im Jahr 1975 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Golder-Fall die gewohnheitsrechtliche Geltung der in Art. 31– 33 WVRK kodifizierten Auslegungsregeln wie folgt beschrieben: „The Court is prepared to consider, as do the Government and the Commission, that it should be guided by Articles 31 to 33 of the Vienna Convention of 23 May 1969 on the Law of Treaties. That Convention has not yet entered into force and it specifies, at Article 4, that it will not be retroactive, but its Articles 31 to 33 enunciate in essence generally accepted principles of international law to which the Court has already referred on occasion.“330

Die Verwendung der Worte generally accepted principles of international law ist in der Literatur als Hinweis auf die gewohnheitsrechtliche Geltung der Regeln verstanden worden und nicht etwa als Hinweis auf die general principles of law recognized by civilized nations im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts.331 Für diese Deutung spricht insbesondere, daß die innerstaatlichen Regeln für Auslegung von Rechtstexten in einzelnen Staaten erheblich variieren, weshalb die Voraussetzungen von Art. 38 Abs. 1 lit. c des IGH-Statuts nicht erfüllt sind.332 Der EGMR hat sich in 329 330 331

Urt. v. 16.5.1980, GYIL 23 (1980), S. 414 (435, para. 16). EGMR, Fall Golder, Urt. v. 21.2.1975, Serie A, Nr. 18, para. 29. Brötel, Jura 1988, S. 343 (344); Ress, BerDtGesVR 23 (1982), S. 7 (11).

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

zahlreichen weiteren Fällen von den Auslegungsvorschriften der Vertragsrechtskonvention leiten lassen.333 Schließlich erklärte auch das zur Entscheidung eines Grenzstreits zwischen Guinea und Guinea-Bissau eingesetzte Schiedsgericht in seinem Schiedsspruch: „41 The two States concerned do not dispute, though neither is a party to the Vienna Convention of May 29 1969 on the Law of Treaties, in force since 27 January 1980, that Articles 31 and 32 of this Convention constitute the relevant rules of international law governing the interpretation of the 1886 Convention. Due to the Parties’ agreement on this point and the practice of international tribunals concerning the applicability of the provisions of the Convention on the Law of Treaties by virtue of an international custom recognized by States, the Tribunal can only base itself on the aforementioned Articles 31 and 32.“334

Auch der Internationale Gerichtshof (IGH) hat mittlerweile335 die Existenz gewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln anerkannt. Dabei kommt der IGH, wie auch die anderen Gerichte zu dem Ergebnis, daß die gewohnheitsrechtlichen Regeln inhaltlich mit den Regeln der WVRK übereinstimmen. Erstmals findet sich eine entsprechende Aussage in einem Urteil aus dem Jahr 1991: „48. An arbitration agreement (compromis d’arbitrage) is an agreement between States which must be interpreted in accordance with the general rules of international law governing the interpretation of treaties. (. . .) These principles are reflected in Articles 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties, which may in many respects be considered as a codification of existing customary international law on the point.“336 332 So bereits Bernhardt, S. 29; zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen i. S. v. Art. 38 des IGH-Statuts vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 17. 333 Vgl. nur EGMR, Luedicke, Belkacem & Koc, Urt. v. 28.11.1978, Serie A, Nr. 29, para. 39; EGMR, Johnston et al., Urt. v. 18.12.1986, Serie A, Nr. 112, para. 51. 334 Dispute Concerning the Delimination of the Maritime Boundary (Guinea v. Guinea-Bissau), I.L.M. 25 (1986), S. 251 (271 f.). para. 41. 335 Lange Zeit war unklar, ob der IGH die Existenz gewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln bejahte. Bereits 1970 im Namibia-Gutachten (Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia [South West Africa] Notwithstanding Security Council Resolutuion 276 [1970]) hatte der IGH die gewohnheitsrechtliche Geltung von Art. 60 WVRK anerkannt (IGH-Rep. 1971, S. 46 f., para. 94). Ähnliche Aussagen fanden sich auch in späteren Urteilen zu Art. 2, 3, 11, 52 und 62 WVRK (Nachweise bei Ress, BerDtGesVR 23 [1982], S. 7 [11] mit Fn. 20). Teilweise wurde vertreten, daß die vom Gerichtshof verwendete Argumentation auch auf Art. 31 und 32 WVRK anwendbar wäre (Köck, S. 79 mit Fn. 4). Vgl. zur Rechtsprechung des IGH zu Art. 31 und 32 WVRK nach Inkrafttreten der Konvention im Jahr 1980 Torres Bernárdez, in: FS Seidl-Hohenveldern (1998), S. 721–748.

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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Der IGH hat diese Ansicht in einer Reihe von Fällen bestätigt. Im Grenzstreit zwischen Libyen und Tschad führte der Gerichtshof im Jahr 1994 aus: „41. The Court would recall that, in accordance with customary international law, reflected in Article 31 of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, a treaty must be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to its terms in their context and in the light of its object and purpose. (. . .)337“

Ähnlich hieß es im Grenzstreit zwischen Katar und Bahrain: „33. It is accordingly incumbent upon the Court to decide the meaning of the text in question by applying the rules of interpretation that it recently had occasion to recall in the case concerning the Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad): ‚in accordance with customary international law, reflected in Article 31 of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, a treaty must be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to its terms in their context and in the light of its object and purpose. Interpretation must be based above all upon the text of the treaty. As a supplementary measure recourse may be had to means of interpretation such as the preparatory work of the treaty and the circumstances of its conclusion.‘ (I.C.J. Reports 1994, Judgment, pp. 21–22, para. 41.)“338

In dem Gutachten über die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Nuklearwaffen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts mußte der IGH die Satzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auslegen, um zu klären, ob die Frage des Einsatzes von Nuklearwaffen in den Tätigkeitsbereich der WHO fällt (vgl. Art. 96 Abs. 2 der UN-Charta). In diesem Zusammenhang führte das Gericht aus: „19. In order to delineate the field of activity or the area of competence of an international organization, one must refer to the relevant rules of the organization and, in the first place, to its constitution. From a formal standpoint, the constituent instruments of international organizations are multilateral treaties, to which the well-established rules of treaty interpretation apply. (. . .) According to the customary rule of interpretation as expressed in Article 31 of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, the terms of a treaty must be interpreted ‚in their context and in the light of its object and purpose‘ and there shall be (. . .).“339 336

Case Concerning the Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea-Bissau v. Senegal), ICJ Rep. 1991, S. 68 f., para. 48. 337 Case Concerning the Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya v. Chad), ICJ Rep. 1994, S. 21 f., para. 41. 338 Case Concerning Maritime Delimination and Territorial Questions Between Qatar and Bahrain (Qatar v. Bahrain), Jurisdiction and Admissibility, ICJ Rep. 1995, S. 18, para. 33. 339 Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict (Advisory Opinion), ICJ Rep. 1996 (I), S. 74 f., para. 19.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Im Ölplattform-Fall zwischen Iran und den Vereinigten Staaten, in dem es unter anderem um die Auslegung des iranisch-amerikanischen Freundschaftsvertrags von 1955 ging, erklärte der Gerichtshof: „23. The Court recalls that, according to customary international law as expressed in Article 31 of the Vienna Convention on the Law of Treaties of 23 May 1969, a treaty must be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to its terms in their context and in the light of its object and purpose. Under Article 32, recourse may be had to supplementary means of interpretation such as the preparatory work and the circumstances in which the treaty was concluded.“340

Im Grenzstreit zwischen Botswana und Namibia nahm der Gerichtshof zur Rechtsnatur der Auslegungsgrundsätze wie folgt Stellung: „18. The law applicable to the present case has its source first of all in the 1890 Treaty, which Botswana and Namibia acknowledge to be binding on them. As regards the interpretation of that Treaty, the Court notes that neither Botswana nor Namibia are parties to the Vienna Convention on the Law of Treaties of 23 May 1969, but that both of them consider that Article 31 of the Vienna Convention is applicable inasmuch as it reflects customary international law. The Court itself has already had occasion in the past to hold that customary international law found expression in Article 31 of the Vienna Convention (see Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad), Judgment, I.C.J. Reports 1994, p. 21, para. 41; Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), Preliminary Objections, Judgment, I.C.J. Reports 1996 (II), p. 812, para. 23). Article 4 of the Convention, which provides that it ‚applies only to treaties which are concluded by States after the entry into force of the . . . Convention with regard to such States‘ does not, therefore, prevent the Court from interpreting the 1890 Treaty in accordance with the rules reflected in Article 31 of the Convention. (. . .) (. . .) 20. The Court will now proceed to interpret the provisions of the 1890 Treaty by applying the rules of interpretation set forth in the 1969 Vienna Convention. It recalls that ‚a treaty must be interpreted in good faith, in accordance with the ordinary meaning to be given to its terms in their context and in the light of its object and purpose. Interpretation must be based above all upon the text of the treaty. As a supplementary measure recourse may be had to means of interpretation such as the preparatory work of the treaty.‘ (Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad), Judgment, I.C.J. Reports 1994, pp. 21–22, para. 41.) (. . .) (. . .) 340 Case Concerning Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), Preliminary Objection, ICJ Rep. 1996 (II), S. 812, para. 23.

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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48. Article 31, paragraph 3, of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, which, as stated earlier, reflects customary law (see paragraph 18 above), provides as follows: (. . .)“341

Schließlich führte der Gerichtshof im La Grand-Fall zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika hinsichtlich der Auslegung von Art. 41 des IGH-Statuts aus: „99. The dispute which exists between the Parties with regard to this point essentially concerns the interpretation of Article 41, which is worded in identical terms in the Statute of each Court (apart from the respective references to the Council of the League of Nations and the Security Council). This interpretation has been the subject of extensive controversy in the literature. The Court will therefore now proceed to the interpretation of Article 41 of the Statute. It will do so in accordance with customary international law, reflected in Article 31 of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties. According to paragraph 1 of Article 31, a treaty must be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to its terms in their context and in the light of the treaty’s object and purpose.“342

Der vorstehende Überblick hat gezeigt, daß sich in der internationalen Rechtsprechung die Ansicht durchgesetzt hat, daß neben den Auslegungsregeln der Art. 31 und 32 WVRK inhaltlich gleichlautende, dem Völkergewohnheitsrecht zuzuordnende Auslegungsregeln existieren, die immer dann zur Anwendung gelangen, wenn die Regeln der Vertragsrechtskonvention nicht einschlägig sind. Aus methodischer Hinsicht ist zu bemerken, daß die Rechtsprechung, so einheitlich sich dieses Bild auch präsentieren mag, bislang weder eine allgemeine Übung noch eine diese Übung tragende Rechtsüberzeugung auf Seiten der Staaten nachgewiesen hat.343 III. Völkerrechtliches Schrifttum Im völkerrechtlichen Schrifttum ist die Rechtsqualität und die Rechtsnatur der Auslegungsregeln außerhalb des Anwendungsbereiches der Wiener Vertragsrechtskonvention trotz der eindeutigen Haltung der internationalen Gerichte nach wie vor umstritten. Ein Teil der völkerrechtlichen Literatur verneint eine gewohnheitsrechtliche Geltung der Auslegungsregeln. Für diese Auffassung lassen sich zwei Begründungen ausmachen. Überwiegend wird erklärt, bei den Auslegungsregeln handele es sich um Gebote der Lo341 Case Concerning Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia), Urteil v. 13.12.1999, I.L.M. 39 (2000), S. 310 ff., dazu Evans, ICLQ 49 (2000), S. 965 ff. 342 LaGrand Case (Germany v. United States of America), Urteil v. 27.6.2001, I.L.M. 40 (2001), S. 1069 ff. 343 Zu diesem Problem näher sogleich unter IV.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

gik und der Vernunft, nicht aber um Gebote des Rechts,344 wobei aber die Regeln durch diese Qualifikation nicht an Verbindlichkeit verlören. Entscheidend ist, daß die Verbindlichkeit aber auf einer logischen Vorschrift und nicht auf einer rechtlichen Vorschrift beruht.345 Letztlich fußt diese Ansicht auf der Unterscheidung zwischen Methode und Recht. Die zweite Begründung dafür, daß die Auslegungsregeln keinen gewohnheitsrechtlichen Status haben, ist weniger fundamental. Sie führt an, daß die in der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergelegten Regeln von Gerichten und in der völkerrechtlichen Literatur entwickelt worden seien, und daß es daher allenfalls eine Gerichtspraxis, aber keine für die Bildung von Gewohnheitsrecht erforderliche Staatenpraxis gebe.346 Die Befürworter einer gewohnheitsrechtlichen Geltung der Auslegungsregeln gehen über die soeben aufgezeigte Trennung von Recht und Methode in der Regel stillschweigend hinweg. Dagegen bemühen sie sich darum, dem dargestellten zweiten Argument, also dem Fehlen einer Staatenpraxis zu begegnen. Namentlich Ress hat zur Begründung der gewohnheitsrechtlichen Geltung der Auslegungsregeln ausgeführt, daß es bei der Schlußabstimmung der Art. 31 und 32 WVRK keine Enthaltungen und keine Gegenstimmen gegeben hätte, sondern daß die Vorschriften von allen Staaten einschließlich der damaligen UdSSR akzeptiert worden seien.347 In diesem Verhalten erkennt Ress offensichtlich eine für den Nachweis eines gewohnheitsrechtlichen Satzes hinreichende Staatenpraxis und opinio iuris. Aus der Zeit vor der Verabschiedung der Vertragsrechtskonvention stammt die Ansicht von Bernhardt, der den „in zwischenstaatlichen Streitigkeiten entwikkelten und wiederholt bekräftigten Ansichten internationaler Gerichte eine rechtsbildende Kraft über Art. 38 (d)“ des IGH-Statuts hinaus beimessen und die so entstandenen Regeln zum Gewohnheitsrecht zählen will.348 Mit dieser sogleich noch näher zu untersuchenden These bemüht sich Bernhardt, das Problem einer fehlenden oder nicht nachzuweisenden Staatenpraxis zu umgehen.

344 Berber, Bd. 1, S. 477; Lauterpacht, Oppenheim’s International Law (7. Aufl.), Bd. 1, S. 857; O’Connell, Bd. 1, S. 253. 345 So ausdrücklich Grundmann, S. 145. 346 Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 272 (277); ähnlich auch American Law Institute, Restatement of the Law 3rd, Bd. 1, § 325, S. 200 (Reporters’ Note 3). 347 Ress, in: Bieber/Ress, S. 49 (51); ähnlich bereits, wenngleich weniger deutlich, ders., BerDtGesVR 23 (1982), S. 7 (11). Art. 31 WVRK wurde mit 97:0:0 Stimmen angenommen. Art. 32 WVRK wurde mit 101:0:0 Stimmen angenommen, vgl. Wetzel/Rauschning, S. 256. 348 Bernhardt, S. 30; ihm ausdrücklich folgend Rest, S. 30 f. Ähnlich, allerdings nach Verabschiedung der WVRK, auch Haraszti, S. 212.

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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IV. Eigene Stellungnahme Der Feststellung des Internationalen Gerichtshofes und anderer internationaler Gerichte, daß gewohnheitsrechtliche Regeln über die Vertragsauslegung existieren, ist letztendlich zuzustimmen. Gleichwohl sind einige Anmerkungen zu dieser Rechtsprechung geboten. Die Entstehung eines Satzes des Völkergewohnheitsrechts setzt eine von einer Rechtsüberzeugung getragene internationale Übung der Rechtssubjekte, insbesondere der Staaten, voraus.349 Für den Bereich der Vertragsauslegung bedeutet dies, daß eine Regel des Gewohnheitsrechts nur dann entstehen kann, wenn Verträge von den Vertragspartnern über eine bestimmte Zeit hinweg in gleicher Weise ausgelegt werden und diese Vorgehensweise von der Überzeugung getragen wird, daß die bei der Vertragsauslegung angewendeten Methoden rechtlich verbindlich sind. Grundsätzlich ist zwischen der Entstehung eines Satzes des Gewohnheitsrechts und dem Nachweis eines solchen Satzes zu differenzieren.350 Gewöhnlich erfolgt der Nachweis eines Satzes des Gewohnheitsrechts indem jedenfalls exemplarisch Akte der internationalen Übung dargestellt werden. Die ebenfalls notwendige, aber in der Regel ungleich schwerer nachzuweisende Rechtsüberzeugung kann dabei der Übung selbst entnommen werden.351 Gewöhnlich obliegt es derjenigen Streitpartei, die sich auf einen Satz des Gewohnheitsrechts beruft, die Existenz dieses Satzes zu beweisen.352 Das internationale Gericht, für das der Grundsatz iura novit curia gilt, muß seinerseits die Existenz eines Satzes nicht nachweisen.353 Um jedoch einen Satz des Gewohnheitsrechts zu kennen bedarf es auch auf Seiten des Gerichtes eines Erkenntnisvorganges, der sich nicht von dem Vorgang des Beweises beziehungsweise des Nachweises eines Satzes des Gewohnheitsrechts unterscheidet. Und gerade dieser Erkenntnisvorgang bereitet aus den beschriebenen Gründen354 für den Bereich von gewohnheitsrechtlichen Sätzen der Vertragsauslegung erhebliche Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten dürfen indes weder zu der Feststellung veranlassen, daß eine Staatenpraxis im Bereich der Vertragsauslegung überhaupt nicht exi349 Zu den Voraussetzungen vgl. statt vieler Brownlie, Principles, S. 4 ff.; Jennings/Watts, Bd. 1.1, S. 25 ff. 350 So ausdrücklich Bernhardt, EPIL I (1992), S. 898 (900 f.); Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn. Rdnr. 132. 351 Jaenicke, Völkerrechtsquellen, WdV III, S. 766 (770); Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rdnr. 33 ff. 352 Bernhardt, EPIL I (1992), S. 898 (900 f.). 353 Brownlie, Principles, S. 11; ähnlich auch Bernhardt, EPIL I (1992), S. 898 (900 f.), der von einem „value judgment“ (Werturteil) spricht. 354 Dazu soeben oben im Text unter I.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

stiert, noch zu der daraus resultierenden Schlußfolgerung, daß Gewohnheitsrecht in diesem Bereich nicht entstehen kann.355 Dennoch stellt sich ein gewichtiges Problem, da die Anwendung eines Rechtssatzes stets dessen Erkenntnis voraussetzt. Ein Ausweg aus dem dargestellten Problem ergibt sich bei näherer Betrachtung der Entstehungsweise von Völkergewohnheitsrecht. Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung entwickeln sich vielfach nicht aus dem Nichts, sondern werden durch äußere Einflüsse angestoßen. Diese Prozesse laufen mit einer gewissen Regelhaftigkeit ab. Gerade diese Regelhaftigkeit gestattet die Vermutung, daß die Gewohnheitsrechtsbildung im Bereich der Vertragsauslegung auf gleiche Weise wie in anderen Bereichen abgelaufen ist, so daß im konkreten Einzelfall auf den Nachweis von Staatenpraxis und Rechtsüberzeugung verzichtet werden kann. Die Auslegungsgrundsätze, die Eingang in Art. 31 und 32 WVRK gefunden haben, sind im wesentlichen von internationalen Gerichten, vor allem vom Ständigen Internationalen Gerichtshof und vom Internationalen Gerichtshof entwickelt worden. Wenngleich die Urteile und Gutachten dieser beiden und anderer Gerichte keine Rechtsquelle des Völkerrechts darstellen356, haben diese Urteile doch erheblichen Einfluß auf das Verhalten von Staaten und auf deren Rechtsüberzeugung. Internationale Gerichte tendieren dazu, gewisse Rechtsprechungslinien zu entwickeln und bemühen sich um Konsistenz in ihren Urteilen. Oftmals berufen sie sich in ihren Urteilsbegründungen auf vorausgegangene Entscheidungen.357 Dies führt dazu, daß die Staaten ihr Verhalten, selbst wenn sie nicht Verfahrensbeteiligte sind,358 an den Urteilen des IGH ausrichten.359 Schließlich müssen 355 So aber die Behauptung von Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 272 (277); vgl. dazu soeben die Darstellung im Text unter III. 356 Doehring, Rdnr. 311. 357 Jaenicke, Völkerrechtsquellen, in: WVR III, S. 766 (772); Jennings/Watts, Bd. 1.1, S. 41. 358 Die Pflicht zur Befolgung eines Urteils durch die Verfahrensbeteiligten ergibt sich aus der Unterwerfung unter die Rechtsprechung des urteilenden Gerichts. Da die Unterwerfung in der Regel vertraglicher Natur ist, ist die Befolgung des Urteils die Erfüllung einer vertraglichen, aus der Unterwerfung folgenden Pflicht. Die aus der Befolgung des Urteils resultierende Übung eines Staates ist daher einerseits nicht frei, weil sie vertraglich motiviert ist, andererseits drückt sie auch nicht unbedingt die Rechtsüberzeugung des Staates aus, so daß sie weder zur Begründung noch zum Nachweis von Gewohnheitsrecht tauglich ist; vgl. Doehring, in: FS 600 Jahre Universität Heidelberg, S. 541 (549). 359 Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 21 Rdnr. 2; Mosler, EPIL III (1997), S. 31 (36); O’Connell, Bd. 1, S. 32; Shahabuddeen, S. 69 ff. Den hier für das Völkerrecht beschriebenen Einfluß von Gerichtsurteilen auf die Bildung von Völkergewohnheitsrecht wird für die nationale Rechtsordnung in gleicher Weise beschrieben von Larenz, S. 433 und Picker, JZ 1988, S. 62 (74).

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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sie erwarten, daß das Gericht auch in zukünftigen Fällen einer einmal eingeschlagenen Rechtsprechungslinie folgen wird. Ein mit dieser Linie konformes Verhalten erhöht die Chancen, in einm möglichen späteren Verfahren nicht zu unterliegen. Diese Überlegungen lassen sich auch auf die Methoden zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge übertragen. Diese Methoden sind von internationalen Gerichten in zahlreichen Urteilen entwickelt und weiter angewendet worden. Diese Urteile haben entsprechend auch das Auslegungsverhalten der Staaten und ihre Rechtsüberzeugung beeinflußt. Dabei ist die Vermutung zulässig, daß die Methoden der Gerichte sowohl die einseitige Auslegung der Staaten als auch ihre Argumentationen im Konfliktfall beeinflußt haben. So ist trotz des schwierigen positiven Nachweises einer Staatenpraxis davon auszugehen, daß sich die Staaten entsprechend der Leitlinien der Urteile internationaler Gerichte verhalten haben und daß auf diese Weise Gewohnheitsrecht im Bereich der Vertragsauslegung entstanden ist.360 Neben der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes und anderer internationaler Gerichte muß auch den Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention selbst ein gewisser Einfluß auf die Entwicklung von Staatenverhalten und Rechtsüberzeugung im Bereich der Auslegung beigemessen werden. Es ist unumstritten, daß multilaterale Verträge eine erhebliche Rolle bei der Herausbildung von Völkergewohnheitsrecht spielen können. Einerseits besteht die Möglichkeit, daß vor der Annahme eines Vertragstextes auf einer internationalen Konferenz beziehungsweise vor dem endgültigen Inkrafttreten eines völkerrechtlichen Vertrags bereits eine Staatenpraxis bestanden hat, die sich bislang aber noch nicht zu einer Regel des Gewohnheitsrechts verdichtet hat. In diesem Fall wird dem Konventionstext eine kristallisierende361 Wirkung zugesprochen dergestalt, daß er bewirkt, daß die bislang noch uneinheitliche Praxis und Rechtsüberzeugung sich nunmehr an den Vertragstext anlehnt und dadurch die bislang in statu nascendi befindliche Norm zu einem Satz des Gewohnheitsrechts wird.362 Daneben besteht die Möglichkeit, daß ein multilateraler Vertrag oder bereits sein fertiggestellter Entwurf, der das Völkerrecht auf einem Gebiet weiterentwikkelt, auf dem es bislang keine Staatenpraxis gab, das Verhalten der Staaten und ihre Rechtsüberzeugung so zu beeinflussen beginnen, daß es zur Bil360 Nur in dem hier beschriebenen Sinne kann auch der Hinweis von Bernhardt, S. 30 (dazu soeben oben unter III.), auf die rechtsbildende Kraft internationaler Gerichtsurteile verstanden werden. 361 Das Wort „kristallisieren“ entstammt der Rechtsprechung des IGH und findet sich erstmals im Urteil des Gerichts im Festlandsockel-Fall, ICJ-Rep. 1969, S. 38, paras. 61, 62; ebenso etwa im Nicaragua-Fall, ICJ-Rep. 1986, S. 94 f., para. 177. 362 Jiménez de Aréchaga, BYIL, 58 (1987), S. 1 (33, 34); Thirlway, BYIL 61 (1990), S. 1 (93 ff.).

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

dung einer Norm des Völkergewohnheitsrechts kommt.363 Beiden beschriebenen Vorgängen364 ist gemeinsam, daß sie das Verhalten sowie die Rechtsüberzeugung der Staaten beeinflussen. Im Bereich der Vertragsauslegung ist die Vermutung erlaubt, daß Art. 31 und 32 WVRK nach ihrer Annahme im Jahr 1969 den beschriebenen Effekt hatten, soweit sich das Staatenverhalten nicht ohnehin bereits aufgrund der Rechtsprechung des IGH zu Gewohnheitsrecht verdichtet hatte.365 In diesem Fall dürften sich die Staaten in ihrem Verhalten und ihrer Rechtsüberzeugung durch die WVRK bestärkt gesehen haben. Ein Indiz dafür, daß Art. 31 und 32 WVRK die beschrieben kristallisierende, also Praxis und Rechtsüberzeugung vereinheitlichende Wirkung hatten, kann insbesondere dem Abstimmungsverhalten der Staaten im Rahmen der Wiener Konferenz gesehen werden. Während sich bei der Gesamtabstimmung der Konvention 19 Staaten der Stimme enthielten, was als deutliches Zeichen der Reserve gegen den Gesamttext gewertet werden kann,366 wurden die beiden die Vertragsauslegung betreffenden Vorschriften jeweils einstimmig angenommen.367 Diese ungeteilte Zustimmung legt die Schlußfolgerung nahe, daß sich die nachfolgende Auslegungspraxis der Staaten und ihre Rechtsüberzeugung an den beiden Vorschriften orientieren würde, sofern diese nicht bereits zum damaligen Zeitpunkt Völkergewohnheitsrecht darstellten.368 Der oben ausführlich dargestellten Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes läßt sich nicht mit Sicherheit entnehmen, welchen der beiden beschriebenen Prozesse das Gericht bei der Verdichtung der Regeln der Vertragsauslegung zu Gewohnheitsrecht für entscheidend hielt. Die Urteile selbst deuten darauf hin, daß das Gericht davon ausgeht, daß Art. 31 und 32 WVRK eine Kodifikation bestehenden Gewohnheitsrechts darstellen. Zum einen erklärte der Gerichtshof gleich im ersten Urteil, in dem er die gewohnheitsrechtliche Geltung von Auslegungsregeln anerkannte, „48. An arbitration agreement (compromis d’arbitrage) is an agreement between States which must be interpreted in accordance with the general rules of international law governing the interpretation of treaties. (. . .) These principles are reflected in Articles 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Trea363

Sinclair, S. 22 ff.; Thirlway, BYIL 61 (1990), S. 1 (97 f.). Weniger differenzierend zu beiden Vorgängen Jennings/Watts, Bd. 1.1, S. 33 ff. 365 Allgemein zu diesem Effekt der WVRK, Rauschning, in: Wetzel/Rauschning, S. 13 ff. 366 Rauschning, in: Wetzel/Rauschning, S. 5. 367 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 347. 368 Vgl. Thirlway, BYIL 61 (1990), S. 1 (99); ähnlich auch Rauschning, in: Wetzel/Rauschning, S. 13. 364

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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ties, which may in many respects be considered as a codification of existing customary international law on the point.“369

Zum anderen findet sich die stets wiederkehrende Aussage, daß die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln in Art. 31 und 32 WRK widergespiegelt (reflected) oder ausgedrückt (expressed) werden.370 Allerdings spricht gegen diese Ansicht, daß zumindest der Internationale Gerichtshof den gewohnheitsrechtlichen Charakter der beiden Vorschriften erst im Jahr 1991 anerkannt hat, obgleich die Konvention 1969 verabschiedet wurde und 1980 in Kraft trat. Der relativ lange Zeitraum zwischen 1969 beziehungsweise 1980 und 1991 zeigt, daß jedenfalls ein Teil der Haager Richter der Auffassung war, daß es erst der Konvention bedurfte, um den Prozeß der Bildung von Gewohnheitsrecht im Sinne einer Kristallisation zum Abschluß zu bringen. Im Ergebnis ist dem Internationalen Gerichtshof und den übrigen internationalen (Schieds-)Gerichten sowie Teilen der völkerrechtlichen Literatur darin zuzustimmen, daß Völkergewohnheitsrecht Regeln über die Auslegung völkerrechtlicher Verträge bereit hält, die mit Art. 31 und 32 WVRK inhaltlich identisch sind.

C. Die Bedeutung der Rechtsnormen der Auslegung Lange Zeit ist im völkerrechtlichen Schrifttum diskutiert worden, ob es sich bei den in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Auslegungsregeln um rechtliche Normen handelt beziehungsweise ob es möglich ist, diese Auslegungsregeln in rechtlich verbindliche Normen zu transformieren. Eine ganze Reihe von Autoren hat sich gegen die Existenz solcher Rechtsnormen und gegen die Möglichkeit der Normierung ausgesprochen. Vielfach ist dies damit begründet, daß sich der Auslegungsvorgang der Normierung entzöge.371 Die Vertreter dieser Position beriefen sich zum einen darauf, daß es sich beim Auslegungsvorgang, wie dargestellt372, um eine Kunst handelte. Eine freie und schöpferische geistige Tätigkeit lasse sich nicht in starre Rechtsnormen einkleiden. Das Verstehen von Texten vollziehe sich nicht schematisch in einem bestimmten, immer gleichen Muster, sondern gehe bei jedem Text je eigene Wege. Diese Wege könnten allenfalls im Nachhinein beschrieben oder nachgezeichnet werden, dem Interpreten nicht jedoch verbindlich von vornherein vorgeschrieben werden.373 Demzufolge wurden die 369 Case Concerning the Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea-Bissau v. Senegal), ICJ Rep. 1991, S. 68 f., para. 48. 370 Vgl. dazu die oben unter II. dargestellten Ureile und Gutachten des IGH. 371 Anzilotti, Bd. 1, S. 81 f.; Berber, 1. Aufl. 1960, Bd. 1, S. 443; Lauterpacht, Oppenheims’s Internationale Law (7. Aufl.), Bd. 1, S. 857; O’Connell, Bd. 1, S. 253; Wengler, Bd. 1, S. 348. 372 Vgl. dazu bereits oben 2. Kap. I. I.

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

hier beschriebenen Auslegungsmethoden und -kriterien als unverbindliche Richtlinien verstanden, die dem Interpreten zum richtigen Textverständnis verhelfen sollten.374 Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge ist aber nicht nur als Kunst, sondern, wie gesehen, auch als nur der Logik unterliegend beschrieben worden. Auch mit dieser Argumentation ist die Normierbarkeit beziehungsweise die Normqualität der Auslegungsregeln bestritten worden.375 Innerhalb des völkerrechtlichen Schrifttums sind diese Auffassungen überwiegend unwidersprochen geblieben.376 Lediglich teilweise ist, wenngleich ohne Begründung, erklärt worden, daß die Ansicht, daß es sich bei der Auslegung um eine Kunst oder um eine Operation der Logik handelte, einer rechtlichen Normierung nicht entgegenstünde.377 Weder die Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention noch die Erkenntnis ihrer gewohnheitsrechtlichen Geltung haben das Problem auf theoretischer Ebene zu lösen vermocht. Gleichwohl hat sich zunächst innerhalb der International Law Commission und zeitgleich beziehungsweise anschließend innerhalb der Staatengemeinschaft die Ansicht verfestigt, daß die Regeln der Vertragsauslegung rechtlich normierbar sind.378 Gegen diese Auffassung hat sich, von vereinzelten Stimmen abgesehen, seither kein Widerspruch geregt. Die rechtlich verbindlichen Auslegungsregeln bedingen, daß sich der Raum des Interpreten für Eigenwertungen im Rahmen des Interpretationsvorganges verringert.379 Ohne rechtliche Bindung ist der Interpret in weiten Teilen frei in der Auswahl der Auslegungsmethoden und in der Gewichtung der durch deren Anwendung erzielten Ergebnisse. Die Rechtsnormen verlangen vom Interpreten die vorrangige Anwendung bestimmter Auslegungsmittel und weisen bestimmten Auslegungsmitteln eine nur nachrangige Bedeutung zu. Dadurch wird der Spielraum des Interpreten in nicht unerheblichem Umfang verringert.380 Die Auslegungsvorschriften legen verbindlich fest, welche Auslegungsmethoden und -mittel die an sie gebundenen, als Interpreten agierenden 373

Basdevant, Ann.IDI 46 (1956), S. 322. Kraus, Ann.IDI 43/I (1950), S. 444 (445 f.); Wengler, Bd. 1, S. 348. 375 Vgl. dazu bereits oben im Text unter B. III. 376 Bezeichnend Mössner, AVR 15 (1971/72), S. 272 (276 f.). 377 Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (493); Jessup, Ann.IDI 46 (1956), S. 329. 378 Neuhold, AVR 15 (1971/72), S. 1 (27) mit Fn. 140 hält es in diesem Zusammenhang für bezeichnend, daß während der Wiener Konferenz kein Antrag auf Streichung der von der ILC vorgeschlagenen Normen eingebracht wurde. 379 Dazu oben 1. Kap. I. I. 380 Haraszti, S. 207 f.; MünchKomm (BGB) – Mayer-Maly, § 133 Rdnr. 1. 374

3. Kap.: Die Rechtsnormen der Auslegung im Völkerrecht

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Völkerrechtssubjekte, also Staaten und internationale Organisationen381, bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge anzuwenden haben und anwenden dürfen.382 Dabei ist davon auszugehen, daß diese Vorschriften bereits bei der Aushandlung und Abfassung völkerrechtlicher Verträge eine Rolle spielen. Da bereits zu diesem Zeitpunkt ein Teil der möglichen späteren Auslegungsargumente vorgezeichnet ist, existiert auch bereits bei Abschluß des Vertrages eine Vorstellung darüber, wie der oder die jeweils anderen Vertragspartner, aber auch andere Interpreten, insbesondere internationale Gerichte, den Vertrag auslegen werden. Diese Erkenntnis kann bereits bei der Formulierung des Vertragstextes Berücksichtigung finden.383 In der dezentralen völkerrechtlichen Rechtsordnung, der eine zentrale Ordnungs- und Entscheidungsinstanz fehlt, wird ein Großteil der zwischenstaatlichen Konflikte, und eben auch Konflikte um die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, ohne Anrufung eines internationalen Gerichts ausgetragen. Die Auslegungsvorschriften tragen wesentlich zur Rationalisierung dieser Konflikte bei. Den Konfliktparteien steht nur eine begrenzte Anzahl von rechtlichen Argumenten zur Verfügung. Etwaige politische Argumente sind nur insofern relevant, als sie innerhalb der vorgeschriebenen Auslegungsregeln ein rechtliches Pendant finden.384 Schließlich spielen die Rechtsnormen im Bereich der gerichtlichen oder quasigerichtlichen Streitbeilegung eine wichtige Rolle. Während Staaten und internationale Organisationen als Völkerrechtssubjekte unmittelbar an die für sie vertraglich oder gewohnheitsrechtlich geltenden Auslegungsregeln gebunden sind, ergibt sich die Bindung der Spruchkörper an diese Vorschriften entweder aus dem Gründungsstatut oder aus der im Schiedsvertrag formulierten Aufgabe der Spruchkörper, bei ihrer Entscheidung Völkerrecht zur Anwendung zu bringen.385 381 Internationale Organisationen sind an die Regeln des Völkergewohnheitsrecht gebunden. Eine vertragliche Bindung im Rahmen der WVKIO (vgl. 1. Kap. B.) ist denkbar. Diese Konvention ist aber bislang nicht in Kraft getreten. 382 Darauf, daß die Normen sich nicht nur an internationale Richter, sondern auch an die Vertragsparteien richten, weist auch Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (492) hin; vgl. auch Verdross, YBILC 1964 I, S. 279, § 61. 383 Haraszti, S. 208; ähnlich auch Reuter, § 141, der erklärt: „Drafting methods and rules of interpretation are therefore two aspects of the same problem viewed from two opposite angles. (. . .)“. 384 Mössner, S. 123. 385 Für den Internationalen Gerichtshof resultiert die Bindung an Art. 31, 32 WVRK beziehungsweise an die entsprechenden gewohnheitsrechlichen Normen aus Art. 38 Abs 1 lit. a, b des IGH-Statuts. Zu Schiedsgerichten vgl. Schlochauer, WdV III, S. 177 (186 f. [Entscheidungsgrundlagen]); Ulshöfer, WdV III, S. 195 (200 f. [Schiedsgerichte und Schiedsverfahren]).

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1. Teil: Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge

Internationale Streitigkeiten beruhen nicht selten auf unterschiedlichen Vorstellungen über den Inhalt völkerrechtlicher Verträge. Dabei stützt jede Streitpartei ihre Ansicht auf ihr Verständnis des Textes, das sie durch die Anwendung bestimmter Methoden gewonnen hat. Eine richterliche Entscheidung darüber, ob ein bestimmtes Textverständnis zutreffend ist, beinhaltet damit zwangsläufig stets auch eine Aussage darüber, ob die richtigen Methoden bei der Ermittlung des Textverständnisses angewendet wurden. Die Autorität einer solchen richterlichen Entscheidung ist ungleich höher, wenn sich das Gericht darauf berufen kann, bei seiner Entscheidung nur die vom Recht vorgeschriebenen Methoden angewendet zu haben. Damit befreit sich das internationale Gericht von dem anderenfalls möglicherweise erhobenen Vorwurf, willkürlich oder auf subjektiver Grundlage entschieden zu haben.386 Für alle Bereiche der internationalen Gerichtsbarkeit gilt weiterhin, daß die Normierung der Auslegungsregeln zur Folge hat, daß die Entscheidungen internationaler Gerichte in dem Maße, in dem die Regeln die Wertungsspielräume der Gerichte einengen, vorhersehbarer werden. Insbesondere auf den Gebieten des Völkerrechts, auf denen die Streiterledigung durch Gerichte eher die Ausnahme als die Regel ist, erleichtern es die Auslegungsregeln dem vor Gericht unterliegenden Staat, die Niederlage ohne Gesichtsverlust hinzunehmen. Eine auf rechtlichen Argumenten basierende Niederlage wiegt weniger schwer als eine auf politischen Argumenten basierende.387 Im Rahmen von Vertragsregimen, die eine obligatorische Streitbeilegung durch eine neutrale Instanz vorsehen, kalkulieren die vertragsschließenden Parteien Niederlagen in gewissem Umfang stets ein. Gleichwohl kommt den Auslegungsregeln auch hier eine wichtige Bedeutung zu. Für das Funktionieren dieser Vertragsregime ist es unerläßlich, daß das mit der Streiterledigung betraute Organ in allen Fällen die gleichen Maßstäbe, also auch die gleichen Auslegungsvorschriften anwendet. Denn nur dann kann das Streiterledigungssystem dauerhaft seine Befriedungsfunktion erfüllen.388

386 Darin bestand für Beckett, Ann.IDI 43/I (1950), S. 436 das wesentliche Argument, sich vehement für eine Kodifikation der Auslegungsregeln auszusprechen. 387 Mössner, S. 123. 388 Vgl. dazu Buck, S. 27.

2. Teil

Der Appellate Body als Interpret der Vorschriften der WTO-Rechtsordnung 1. Kapitel

Die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung als Gegenstand der Auslegung Am 15. April 1994 endete im marokkanischen Marrakesch die 1986 im uruguayischen Punta del Este begonnene, als Uruguay-Runde bezeichnete, achte Verhandlungsrunde des GATT 1947. Im Verlauf von etwa sieben Jahren haben die an diesen Verhandlungen teilnehmenden Staaten die Regeln für den weltweiten Handel umfassend reformiert. Aus dem über mehr als 40 Jahre währenden rechtlichen Provisorium des Allgemeinen Zoll- und Handelsübereinkommens vom 31. Oktober 1947 ist eine Welthandelsordnung geworden, die nicht mehr nur den weltweiten Warenhandel, sondern auch den Handel mit Dienstleistungen und die handelsrelevanten Aspekte des Geistigen Eigentums regelt. Überwölbt werden diese materiellen Regeln des Welthandelsrechts von einer internationalen Organisation, die diese Regeln verwaltet.

A. Die formale Struktur der WTO-Übereinkommen Die Regeln des Welthandelsrechts sind in über 30 separaten Übereinkommen niedergelegt. Diese einzelnen sogenannten „multilateralen Übereinkommen“ sind in drei Anlagen zum WTO-Übereinkommen enthalten. Nach Art. II.2 WTO sind diese Übereinkommen für alle Mitglieder der WTO verbindlich und bilden einen Bestandteil des WTO-Übereinkommens. In einer vierten Anlage finden sich die sogenannten „plurilateralen Übereinkommen“, die gemäß Art. II.3 WTO nur für diejenigen Mitglieder verbindlich sind, die diese auch angenommen haben. Für die Vertragsparteien der plurilateralen Übereinkommen sind diese nach Art. II.3 WTO ebenfalls Bestandteil des WTO-Übereinkommens. Der ausdrücklichen Anordnung in Art. II.2, 3 WTO ist zu entnehmen, daß das WTO-Übereinkommen und seine Anhänge rein formal zusammen einen einzigen Vertrag, ein single agreement

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2. Teil: Der Appellate Body als Interpret der WTO-Rechtsordnung

bilden. Es handelt sich also nicht um jeweils einzelne Verträge, die nur organisatorisch zusammengefaßt sind.1 Der erste der drei für alle WTO-Mitglieder verbindlichen Anhänge besteht wiederum aus drei Teilen 1A bis 1C. Anhang 1A enthält die Regeln über den internationalen Warenhandel, also das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT 1994), das Marrakesch-Protokoll zum GATT 1994 sowie zwölf weitere Abkommen, die spezielle Fragen des Warenhandels regeln.2 Den genauen Normbestand des GATT 1994 regelt ein dem Text des Abkommens vorangestellter sogenannter „Einführender Text“.3 Danach besteht das GATT 1994 aus dem in den Verhandlungen der Uruguay-Runde unverändert belassenen GATT 1947,4 aus weiteren Rechtsinstrumenten aus der Zeit des GATT 1947, an denen die Vertragsparteien ausdrücklich haben festhalten wollen,5 sowie aus sechs Interpretations-Vereinbarungen zu bestimmten Artikeln des GATT 1994.6 Dem Marrakesch-Protokoll sind die während der Uruguay-Runde von den einzelnen WTO-Mitgliedern einander gemachten Zugeständnisse in soge1 So auch der Appellate Body im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products (WT/DS98/AB/R; 14.12.1999): para. 75: „It is important to understand that the WTO Agreement is one treaty. The GATT 1994 and the Agreement on Safeguard are both Multilateral Agreements on Trade in Goods contained in Annex 1A, which are integral parts of that treaty (. . .)“; ebenso im Fall Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear (WT/DS121/AB/ R; 14.12.1999), para. 81; und bereits zuvor im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut (WT/DS22/AB/R; 21.2.1997), S. 12 (ohne Abschnittnummer); vgl. auch Beise, S. 88, 91. 2 Für den Fall eines Konfliktes zwischen einer Vorschrift des GATT 1994 und einer Vorschrift eines der übrigen Abkommen zum Warenhandel in Annex 1 A bestimmt die General interpretative note to Annex 1A den Vorrang der Vorschrift des spezielleren Warenhandelsabkommens: „In the event of conflict between a provision of the General Agreement on Tariffs and Trade 1994 and a provision of another agreement in Annex 1A to the Agreement Establishing the World Trade Organization (referred to in the agreements in Annex 1A as the ‚WTO Agreement‘), the provision of the other agreement shall prevail to the extent of the conflict.“ 3 Der „Einführende Text“ wird im Sprachgebrauch der WTO als introductory note bezeichnet. 4 § 1.a des Einführenden Textes. 5 § 1.b des Einführenden Textes. 6 § 1.c des Einführenden Textes; dabei handelt es sich um Vereinbarungen (Understandings) über die Auslegung von Art. II.1.b GATT 1994 (Einbeziehung von nicht-tarifären Handelshemmnissen in die Zugeständnislisten), von Art. XVII GATT 1994 (Staatshandelsunternehmen), von Art. XII, XVIII.B GATT 1994 (Zahlungsbilanzbestimmungen), von Art. XXIV GATT 1994 (Zollunionen und Freihandelszonen), von Art. XXV GATT 1994 (Waiver) und von Art. XXVIII GATT 1994 (Änderung und Rücknahme eines Zugeständnisses).

1. Kap.: Die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung

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nannten Zugeständnislisten (lists of concessions) beigefügt, die ebenfalls Vertragsbestandteil sind. Anhang 1B zum WTO-Übereinkommen enthält ausschließlich das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (General Agreement on Trade in Services, GATS), dem wiederum eine Reihe von Anlagen beigefügt sind, die nach Art. XXIX GATS wesentliche Bestandteile des GATS sind; Anhang 1C enthält das Übereinkommen über handelsbezogene Rechte des geistigen Eigentums (Agreement on Trade-related Aspects of Intellectual Property Rights, TRIPS). Die Anhänge 2 und 3 zum WTO-Übereinkommen enthalten anders als Anhang 1 keine materiellen Handelsvorschriften, sondern regeln die Verfahren zur Durchsetzung und Überwachung der Einhaltung der materiellen Handelsvorschriften. In Anhang 2 zum WTO-Übereinkommen findet sich die Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten (Unterstanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes, DSU) samt einiger Anhänge; Anhang 3 enthält den Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (Trade Policy Review Mechanism, TPRM). In Anhang 4 zum WTO-Übereinkommen haben schließlich die plurilateralen Übereinkommen, die nicht für alle WTO-Mitglieder verbindlich sind, Aufnahme gefunden. Nachdem das Übereinkommen über den Handel mit Milchprodukten und das Übereinkommen über Rindfleisch außer Kraft getreten sind,7 handelt es sich dabei um Übereinkommen über das öffentliche Beschaffungswesen (Agreement on Government Procurement, GPA)8 und das Übereinkommen über den Handel mit Zivilluftfahrtzeugen (Agreement on Trade in Civil Aircraft)9, die beide nur einen beschränkten Teilnehmerkreis aufweisen.10

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Stoll/Schorkopf, Rdnr. 50 m. Fn. 43. Vgl. dazu im Überblick Stoll/Schorkopf, Rdnr. 406 ff. sowie umfassend Büsing, S. 119–265. 9 Vgl. dazu im Überblick, Herrmann, in: Weiß/Herrmann, Rdnr. 1075 ff. 10 Das Agreement on Government Procurement hatte zum 6.11.2002 27 Mitglieder; darüber hinaus hatten zu diesem Zeitpunkt 27 Staaten Beobachter-Status; vgl. Report (2002) of the Committee on Government Procurement (GPA/73; 6.11.2002). Das Agreement on Trade in Civil Aircraft hatte zum 29.11.2002 30 Mitglieder; darüber hinaus hatten zu diesem Zeitpunkt 27 Staaten Beobachter-Status; vgl. Report (2002) of the Committee on Trade in Civil Aircraft (WT/L/500; 29.11.2002). 8

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2. Teil: Der Appellate Body als Interpret der WTO-Rechtsordnung

B. Die materiellen Regeln des Welthandelsrechts in den WTO-Übereinkommen I. Die Grundprinzipien des Welthandelsrechts Die durch die WTO errichtete Welthandelsordnung folgt dem Leitbild eines möglichst ungehinderten Austausches von Waren und Dienstleistungen zwischen den einzelnen Volkswirtschaften der Mitglieder. Damit basiert das Welthandelssystem ideengeschichtlich auf der von David Ricardo entwickelten Theorie des komparativen Kostenvorteils.11 Der möglichst unbeschränkt ablaufende Austausch von Waren und Dienstleistungen soll zur Erreichung der in der Präambel des WTO-Übereinkommens niedergelegten Ziele des Welthandelssystems führen. Bei diesen Zielen handelt es sich um die Erhöhung des Lebensstandards, um die Sicherung von Vollbeschäftigung, um einen steigenden Umfang des Realeinkommens, um eine steigende Nachfrage sowie um die Ausweitung von Produktion und Handel. Die Präambel des WTO-Übereinkommens benennt als wesentliche Instrumente zur Erreichung dieser Ziele das Verbot der Diskriminierung sowie den Abbau von Zöllen und Handelsschranken. Beide Aspekte ziehen sich quer durch alle Abkommen des WTO-Systems. 1. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung hat in die materiellen Regeln des Welthandelsrechts in zwei Varianten Eingang gefunden;12 als nach außen wirkende Pflicht zur Meistbegünstigung und als nach innen wirkende Verpflichtung zur Inländerbehandlung. a) Meistbegünstigung In allen drei materiellen Bereichen des WTO-Systems, also im Bereich des Warenhandels, des Dienstleistungshandels und im Bereich des Schutzes des geistigen Eigentums, nimmt die Meistbegünstigungspflicht eine herausragende Stellung ein. Danach hat ein Mitglied alle Vorteile, Vergünstigungen, Vorrechte und Befreiungen, die es den Angehörigen eines Mitglieds gewährt, auch den Angehörigen aller anderen Mitglieder zu gewähren.13 Diese Gleichbehandlung hat unverzüglich und bedingungslos zu erfolgen, 11 Vgl. Herrmann, ZEuS 4 (2001), S. 453 (472); McRae, RdC 260 (1996-IV), S. 99 (138 ff.). 12 Beise, S. 47. 13 Herdegen, § 7, Rdnr. 22.

1. Kap.: Die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung

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darf also nicht von einer Gegenleistung abhängig gemacht werden.14 Die entsprechenden Verpflichtungen finden sich jeweils an prominenter Stelle in den einzelnen Abkommen.15 Sie haben darüber hinaus aber auch Eingang in weitere Vorschriften gefunden.16 Sowohl im GATT 1994 als auch im GATS erstreckt sich die Meistbegünstigungsverpflichtung nur auf gleichartige Waren (like products) beziehungsweise auf gleiche Dienstleitungen und Dienstleistungserbringer. Bereits zu Zeiten des GATT 1947 war immer wieder umstritten, ob Waren gleichartig im Sinne der einzelnen Vorschriften waren. Im Jahr 1970 hat eine von den VERTRAGSPARTEIEN eingesetzte Arbeitsgruppe Leitlinien zur Konkretisierung des Begriffes like erarbeitet, die auch noch unter dem GATT 1994 Gültigkeit besitzen. Als entscheidende Kriterien zur Beurteilung der Gleichartigkeit von Waren nannte die eingesetzte Arbeitsgruppe Eigenschaften, Natur und Qualität der Waren, den endgültigen Gebrauchszweck, die Beurteilung durch die Verbraucher und die Zollklassifizierung.17 b) Inländerbehandlung Der zweite Aspekt des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung ist die Verpflichtung zur Inländerbehandlung. Danach sind die Mitglieder verpflichtet, Waren, Dienstleistungen und Dienstleistungserbringer, die ihre Grenze überschritten haben, nicht weniger günstig zu behandeln als einheimische Waren, Dienstleistungen und Dienstleistungserbringer.18 Auch das TRIPS gebietet, die Angehörigen der anderen Mitglieder bezüglich des Schutzes geistigen Eigentums nicht weniger günstig zu behandeln als die eigenen Angehörigen.19 Ähnlich wie im Bereich der Meistbegünstigungsverpflich14

Siebold, in: Schachtschneider, S. 47 (97). Art. I.1 GATT 1994; Art. II.1 GATS; Art. 4 TRIPS. 16 Vgl. die Nachweise bei Stoll/Schorkopf, Rdnr. 114, 115 m. Fn. 20, 21. 17 Working Party on Border Tax Adjustment, BISD 18S/97, para. 18: „With regard to the interpretation of the term ‚. . .like or similar products. . .‘, which occurs some sixteen times throughout the General Agreement, it was recalled that considerable discussion had taken place in the past (. . .) but that no further improvement of the term had been achieved. The Working Party concluded that problems arising from the interpretation of the term should be examined on a case-by-case basis. (. . .) Some criteria were suggested for determining, on a case-by-case basis, whether a product is ‚similar‘: for the product’s end-uses in a given market; consumers’ tastes and habits, which change from country to country; the product’s properties, nature and quality.“ Ob diese Kriterien auch im Bereich des Dienstleistungshandels uneingeschränkt gelten, ist bislang noch nicht abschließend geklärt. 18 Art. III GATT 1994; Art. XVII GATS; vgl. auch McRae, RdC 260 (1996-IV), S. 99 (162). 19 Art. 3 TRIPS. 15

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2. Teil: Der Appellate Body als Interpret der WTO-Rechtsordnung

tung stellt sich auch im Bereich der Inländerbehandlung die Frage, wann Waren oder Dienstleistungen gleich(-artig) sind. Auch hier ist im Grunde von den bereits im GATT 1947 entwickelten Kriterien auszugehen. Allerdings enthält Art. III GATT 1994 eine vielschichtige Systematik, die nicht ohne Einfluß auf das Ergebnis der Beurteilung bleibt.20 Für die Frage, ob eine importierte Ware oder Dienstleistung weniger günstig behandelt wird als eine inländische, ist nicht in erster Linie eine formale Betrachtungsweise entscheidend. Vielmehr ist nicht ausgeschlossen, daß eine formale Gleichbehandlung eine weniger günstige Behandlung des importierten Produktes nach sich zieht; ebenso ist es möglich, daß trotz formaler Ungleichbehandlung das importierte Produkt ebenso günstig behandelt wird.21 2. Der Grundsatz der Öffnung der Märkte Das zweite Instrument zur Erreichung der in der Präambel des WTOÜbereinkommens niedergelegten Ziele ist der Grundsatz der Marktöffnung. Vor allem die Übereinkommen bezüglich des Handels mit Waren (Anhang 1A) und Dienstleistungen (Anhang 1B) enthalten Vorschriften, die eine weitere Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen erreichen wollen. GATT 1994 und GATS verpflichten die Mitglieder zu regelmäßigen Verhandlungen über eine weitergehende Handelsliberalisierung.22 Sowohl das Übereinkommen über die Landwirtschaft als auch das Übereinkommen über den Handel mit Textilwaren und Bekleidung enthalten darüber hinaus konkrete Marktöffnungsverpflichtungen,23 nachdem diese beiden Sektoren bis zur Uruguay-Runde weitgehend außerhalb des GATT 1947 gestanden hatten.24 Daneben enthalten sowohl die Warenhandels- als auch das Dienst20 Vgl. die Ausführungen des Appellate Body im Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages (WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R; 4.10.1996) sowie im Fall European Communities – Measures Affecting Asbestos and Asbestos Containing Products (WT/DS135/AB/R; 12.3.2001), paras. 93 ff. 21 Vgl. das Beispiel aus der Rechtsprechung der GATT 1947-Panels bei Davey, in: ders./Pescatore/Lowenfeld, Bd. 1, S. 1 (30). 22 Im Bereich des Warenhandels stehen dabei weitere Zollsenkungen im Mittelpunkt, im Bereich des Handels mit Dienstleistungen geht es primär um eine generelle Öffnung der Märkte für ausländische Dienstleistungen und Dienstleistungserbringer. 23 Hilf, JIEL 4 (2001), S. 111 (117). 24 Davey, in: ders./Pescatore/Lowenfeld, Bd. 1, S. 1 (45 f.). Das GATT 1947 war formal auch auf den Handel mit Agrargütern und Textilien anwendbar. Jedoch wurden Vorschriften des GATT 1947 zusehends als zu rigide empfunden, so daß die Vertragsparteien beide Sektoren stillschweigend dem Anwendungsbereich des Abkommens entzogen hatten; vgl. für den Bereich des Agrarhandels Hudec, Cornell I.L.J. 13 (1980), S. 145 (160 f.) sowie für den Bereich des Textilhandels Hailbronner/Bierwagen, JA 1988, S. 318 (325). Erst während der Uruguay-Runde gelang es,

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leistungsübereinkommen zahlreiche Vorschriften, die verhindern sollen, daß die Mitglieder den einmal erreichten status quo im Bereich der Marktöffnung durch neuerliche protektionistisch gefärbte Maßnahmen gefährden. 3. Der Grundsatz der Gegenseitigkeit Nach der Vorstellung der Präambel des WTO-Übereinkommens sollen der Abbau von Zöllen und Handelsschranken und die Beseitigung der Diskriminierung auf Grundlage der Gegenseitigkeit erfolgen.25 Anders als das Verbot der Diskriminierung und der Grundsatz der Öffnung der Märkte, die sich in den materiellrechtlichen Vorschriften der Welthandelsordnung vielfältig wiederfinden, hat das Reziprozitätsprinzip nur in Art. XXVIIIbis GATT 1994 unmittelbar Eingang gefunden. Danach sollen die einander in den geführten Verhandlungen gemachten Zugeständnisse im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen; sie sollen also hinsichtlich ihres wirtschaftlichen Wertes gleichartig sein, so daß kein Mitglied bei den Verhandlungen übervorteilt wird.26 Während der Grundsatz der Gegenseitigkeit im Bereich der Aushandlung von Zugeständnissen nach wie vor von großer Bedeutung ist, spielt er in anderen Regelungsbereichen der WTO-Übereinkommen nahezu keine Rolle. Im Bereich von Antidumping- und Antisubventionsmaßnahmen oder bei der Harmonisierung gesundheitspolizeilicher Maßnahmen, aber auch im Bereich des Schutzes des geistigen Eigentums geht es nicht so sehr um das gegenseitige „Abringen“ von gleichwertigen Zugeständnissen, sondern um das Setzen gemeinsamer Standards.27 II. Die Regelungsbereiche der einzelnen WTO-Übereinkommen Während sich die beiden Ausprägungen des Diskriminierungsverbotes in relativ wenigen Vorschriften regeln lassen, bedarf die Absicherung der Verpflichtung zur Marktöffnung eines weitaus größeren Regelungsapparates.28 Dementsprechend liegt der Schwerpunkt der Regelungen der einzelnen muldie beiden Sektoren, wenngleich in Sonderabkommen, in das WTO-System zu integrieren. Zu den Grundzügen der Neuregelung sogleich unten im Text. 25 Kritisch zum Gegenseitigkeitserfordernis aus wirtschaftpolitischer Sicht McRae, RdC 260 (1996-IV), S. 99 (169). 26 Letzel, S. 33, S. 40; Petersmann, AVR 19 (1980/81), S. 23 (61). 27 Krajewski, S. 40; Stoll/Schorkopf, Rdnr. 111. 28 Eine ähnliche Beobachtung läßt sich im Bereich des Grundgesetzes machen, wo es gelingt, den Gleichheitsgrundsatz im wesentlichen in einer Vorschrift zu regeln, während die Freiheitsrechte weitaus schwieriger zu erfassen sind.

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tilateralen Übereinkommen auf dem Gebiet des Abbaus von Zöllen und anderen Handelsschranken. Dabei enthält Anhang 1A zum WTO-Übereinkommen die Vorschriften betreffend den Warenhandel, Anhang 1B die Regeln des Handels mit Dienstleistungen und Anhang 1C die Vorschriften zum Schutz des geistigen Eigentums. 1. Der Handel mit Waren Im Zentrum der den Warenhandel betreffenden Übereinkommen steht das GATT 1994, das auch die Grundprinzipien des internationalen Warenhandels enthält. Die Regeln des GATT 1994, die identisch sind mit den Vorschriften des GATT 1947,29 wurden während der Uruguay-Runde durch die ebenfalls in Anhang 1A zum WTO-Übereinkommen enthaltenen weiteren Warenhandels-Übereinkommen präzisiert und erweitert. Dem GATT 1994 und den übrigen Übereinkommen lassen sich neben dem Diskriminierungsverbot in seinen Ausprägungen weitere speziell für den Warenhandel geltende Prinzipien entnehmen, die primär der Marktöffnung zu dienen bestimmt sind. a) Der Grundsatz der Zollbindung Art. II.1(b) GATT 1994 schreibt vor, daß die Waren, die aus dem Gebiet eines anderen Mitglieds stammen, nur mit den Zöllen und Abgaben belegt werden dürfen, die in der Zugeständnisliste des importierten Mitglieds zuvor festgelegt worden sind. Diese Zugeständnislisten, die während der gemäß Art. XXVIIIbis GATT 1994 regelmäßig stattfindenden sogenannten Verhandlungsrunden der Mitglieder ausgehandelt werden,30 sind nach Art. II.7 GATT 1994 Bestandteil des GATT 1994. Sie enthalten für alle erdenklichen Produkte die Bedingungen, unter denen diese in das Gebiet eines Mitglieds importiert werden dürfen. Den Mitgliedern ist es untersagt, sich einseitig von den einmal gemachten Zugeständnissen zu befreien.31 Art. XXVIII GATT 1994 sieht ein Verfahren von Verhandlungen vor, nach 29

Dazu soeben oben im Text A. Zu den einzelnen Verhandlungsrunden unter dem GATT 1947 und zu deren Ergebnissen im Hinblick auf die Reduzierung von Zöllen vgl. Weber, S. 77 ff.; Hummer/Weiss, S. XXXI ff.; Stobbe, ZfZ 2000, S. 223 (224 f.) Während des Bestehens des GATT 1947 wurden einschließlich der Uruguay-Runde insgesamt acht Verhandlungsrunden durchgeführt. Mit der Ministerkonferenz von Doha im November 2001 wurde eine weitere Verhandlungsrunde eröffnet, deren Gegenstand auch die Reduktion von Zöllen sein wird; vgl. para. 14 der Ministerial Declaration v. 14.11.2001. 31 v. Bogdandy, RIW 1991, S. 55 (57). 30

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dem ein Mitglied vorgehen muß, das seine Zugeständnisse zu ändern oder zurückzuziehen beabsichtigt. Art. VII GATT 1994 und das Übereinkommen zur Durchführung des Artikels VII des GATT 1994 enthalten detaillierte Regeln zur Bestimmung des Zollwertes einer Ware, um so zu verhindern, daß ein während der Zollverhandlungen gebundener Zoll durch den Wechsel der Berechnungsmethode erhöht wird und auf diese Weise die Zollbindung umgangen wird.32 b) Das Verbot nicht-tarifärer Handelshemmnisse und die tariffs only-Maxime Neben den Abbau und die Festschreibung von Zöllen tritt als zweites Mittel zur Öffnung der Märkte das Bemühen, nicht-tarifäre Handelshemmnisse soweit wie möglich abzuschaffen und nur Zölle zur Lenkung des Warenhandels zuzulassen. Dahinter steht die Erkenntnis, daß Zölle von allen erdenklichen Handelsbeschränkungen diejenigen sind, die das höchste Maß an Transparenz für die Handelspartner aufweisen.33 Da sie auf den Preis der gehandelten Ware Einfluß nehmen, setzen sie den Marktmechanismus nicht außer Kraft, sondern führen nur zur Verteuerung des jeweiligen Produktes.34 Das Spiegelbild dieser sogenannten tariffs only-Maxime ist die Bemühung, alle übrigen Handelsbeschränkungen, also insbesondere mengenmäßige Beschränkungen (Kontingente) und technische Handelshemmnisse, abzuschaffen. Art. XI GATT 1994 statuiert ein grundsätzliches Verbot mengenmäßiger Einfuhr- oder Ausfuhrbeschränkungen in Form von Kontingenten,35 Lizenzen und sonstiger Maßnahmen. Unter diese sonstigen Maßnahmen fallen vor allem auch technische Handelshemmnisse, also Anforderungen an die technische Beschaffenheit eines Produktes oder an die Produktsicherheit. aa) Das Verbot mengenmäßiger Beschränkungen in Art. XI GATT 1994 und in den Bereichen Landwirtschaft und Textilhandel Wie dargestellt, enthält Art. XI GATT 1994 ein grundsätzliches Verbot mengenmäßiger Beschränkungen für den Bereich des Warenhandels. Die 32 Zu den Fragen der Zollklassifikation und Zollwertbestimmung, die den Rahmen dieser einführenden Erläuterungen sprengen würden, vgl. Stoll/Schorkopf, Rdnr. 201 ff. 33 Davey, in: ders./Pescatore/Lowenfeld, Bd. 1, S. 1 (35 f.). 34 Dazu Beise, S. 48; v. Bogdandy, RIW 1991, S. 55 (57); Hailbronner/Bierwagen, JA 1988, S. 318 (321); Herrmann, ZEuS 4 (2001), S. 453 (473). 35 Nach ständiger Spruchpraxis der GATT 1947-Panels erfaßt Art. XI GATT 1947 auch Importverbote als schärfste Form der Kontingentierung.

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wohl wichtigste Ausnahme dieses Verbots stellt Art. XII GATT 1994 dar, der es Staaten erlaubt, Einfuhrbeschränkungen einzuführen, um auf diese Weise den Abfluß von Währungsreserven zu verhindern oder deren Erhöhung zu ermöglichen. Während der Uruguay-Runde haben sich die Mitglieder auf eine Vereinbarung über die Zahlungsbilanzbestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens geeinigt, in der sie sich verpflichten, bestehende Einfuhrbeschränkungen zu überprüfen und einen Zeitplan aufzustellen, innerhalb dessen sie die Beschränkungen zurückfahren werden.36 Nachdem die Bereiche Landwirtschaft und Textilhandel während der Geltung des GATT 1947 von den Vertragsparteien faktisch dem Anwendungsbereich des GATT 1947 und insbesondere von Art. XI GATT 1947 entzogen worden waren,37 haben sich die Mitglieder der WTO im Verlauf der Uruguay-Runde dazu verpflichtet, diese beiden wichtigen Bereiche des Warenhandels schrittweise wieder in den Anwendungsbereich des GATT 1994 zu bringen. Auf dem Agrarsektor haben sich die Mitglieder in Art. 4 des Übereinkommens über die Landwirtschaft dazu verpflichtet, sukzessiv alle bestehenden Importbeschränkungen in Zölle umzuwandeln.38 Das Übereinkommen über Textilwaren und Bekleidung sieht vor, daß die Mitglieder bis spätestens 1. Januar 2005 den Handel mit Textilien in das GATT 1994 überführen. Spätestens mit diesem Zeitpunkt gilt dann auch Art. XI GATT 1994 für den gesamten Textilhandel.39 bb) Die Regelung technischer Handelshemmnisse durch TBT und SPS Auch im Bereich der technischen Handelshemmnisse hat die UruguayRunde gegenüber den nur allgemein gehaltenen und teilweise als unzureichend empfundenen40 Art. XI.1, III.4 und XX GATT 1947/1994 Neuerungen gebracht. Das Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (TBT)41 soll sicherstellen, daß technische Vorschriften und Standards sowie Prüfungs- und Zertifizierungsverfahren keine unnötigen Hemmnisse für den internationalen Handel schaffen. Gleichzeitig erkennt es aber auch das Recht der Mitglieder an, Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zum Schutz von Menschen sowie Fauna und Flora zu treffen.42 Um den Aus36

Vgl. die Darstellung bei Stoll/Schorkopf, Rdnr. 224 ff. Vgl. dazu bereits die Nachweise oben I. 2. 38 Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (286). 39 Vgl. im Überblick Stobbe, ZfZ 2000, S. 223 (230 f.). 40 Stoll/Schorkopf, Rdnr. 271. 41 Technical Barriers to Trade. 42 Vgl. die Präambel des Akommens: „(. . .) in Anerkennung dessen, daß kein Land daran gehindert werden sollte, auf als geeignet erachteter Ebene Maßnahmen 37

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gleich zwischen diesen teilweise widerstreitenden Interessen zu gewährleisten, wurden im TBT-Übereinkommen im wesentlichen zwei Wege eingeschlagen. Zum einen stellt das Übereinkommen Anforderungen an die Ausarbeitung und Anwendung technischer Vorschriften. Dabei werden die Mitglieder auf Meistbegünstigung und Inländerbehandlung verpflichtet (Art. 2.1). Gleichzeitig wird es den Mitgliedern untersagt, technische Vorschriften einzuführen, hinter denen eine protektionistische Absicht steht oder die eine solche Wirkung haben (Art. 2.2 Satz 1). Um dies zu gewährleisten, dürfen die technischen Vorschriften den Handel nicht stärker beschränken, als dies zur Erreichung berechtigter Ziele erforderlich ist. Welche berechtigten Ziele mit technischen Vorschriften verfolgt werden dürfen, konkretisiert Art. 2.2 Satz 3.43 Sofern internationale Normen auf einem Gebiet bestehen, auf dem die Mitglieder Bedarf für die Einführung einer technischen Vorschrift sehen, müssen sie diese an den internationalen Normen ausrichten (Art. 2.4). Sofern Mitglieder von internationalen Normen abzuweichen beabsichtigen, müssen sie die übrigen Mitglieder darüber in Kenntnis setzen (Art. 2.9). Um den Bestand an internationalen Normen zu erweitern und so eine zunehmende Harmonisierung nationaler Vorschriften zu erreichen, werden die Mitglieder aufgefordert, sich an den Arbeiten der internationalen Normierungsganisationen zu beteiligen (Art. 2.6.). Daneben regelt das TBT-Übereinkommen in Art. 5.9 detailliert das Verfahren zur Überprüfung, ob eingeführte Waren den technischen Vorschriften des Importstaates entsprechen. Auch für dieses sogenannte Konformitätsbewertungsverfahren gelten die Grundsätze der Meistbegünstigung und Inländerbehandlung. Weiterhin gilt auch für dieses Verfahren, daß es nicht mit dem Ziel eingesetzt werden darf, den internationalen Handel zu beschränken. Ebenso wie im Bereich technischer Vorschriften sind die Mitglieder auch im Bereich des Überprüfungsverfahrens gehalten, sich um eine Harmonisierung dieser Verfahren zu bemühen. Neben dem TBT-Übereinkommen betrifft auch das Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS) den Bereich der technischen Handelshemmnisse. Denn ebenso wie bei technischen Anforderungen besteht bei den sogenannten SPS-Maßnahmen zum Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen44 die Gefahr, daß sie nur vordergründig schützu treffen, die notwendig sind, um (. . .) das Leben oder die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen sowie die Umwelt zu schützen (. . .).“ 43 Nationale Sicherheit, Verhinderung irreführender Praktiken, Schutz der Gesundheit und Sicherheit von Menschen, des Lebens oder der Gesundheit von Tieren und Pflanzen oder der Umwelt.

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zenswerte Ziele verfolgen und im Kern mit protektionistischer Absicht eingesetzt werden oder aber eine solche Wirkung haben. Im Mittelpunkt des SPS-Übereinkommens steht der Gedanke der Harmonisierung der SPS-Maßnahmen der einzelnen Mitglieder. Dazu verpflichtet das Abkommen die Mitglieder, ihre SPS-Maßnahmen auf Normen, Empfehlungen und Richtlinien der einschlägigen internationalen Gremien zu stützen (Art. 3.1). Dabei stellt das Übereinkommen die Vermutung auf, daß Maßnahmen, die nicht nur auf diese Normen gestützt sind, sondern die diesen auch entsprechen,45 sowohl mit den Vorschriften des SPS-Übereinkommens als auch mit den Vorschriften des GATT 1994 in Einklang stehen (Art. 3.2). Um einen möglichst weitreichenden Fundus konsensfähiger internationaler Normen zu erzielen, werden die Mitglieder aufgefordert, sich an den Arbeiten der zuständigen internationalen Organisationen zu beteiligen (Art. 3.4). Unter engen Voraussetzungen gestattet Art. 3.3 des SPS-Übereinkommens den Mitgliedern, ein höheres Schutzniveau vorzusehen als das von den zuständigen internationalen Organisationen vorgesehene.46 Sowohl für die Fälle, in denen keine internationalen Empfehlungen existieren als auch für die Fälle, in denen ein Mitglied von diesen Empfehlungen abweicht, schreibt Art. 5 des SPS-Übereinkommens das bei der Festlegung des Schutzniveaus einzuhaltende Verfahren der Risikobewertung vor.47 Darin wird festgelegt, daß sich die Mitglieder bei der Festlegung des Schutzniveaus nicht nur von dem festgestellten Risiko für das jeweilige Schutzgut leiten lassen dürfen, sondern auch die Auswirkungen der ins Auge gefaßten Maßnahme auf den Handel berücksichtigen müssen. c) Der Schutz des Warenhandels durch Wettbewerbssicherung Die Verhandlungspartner der Uruguay-Runde wollten keine umfassende internationale Wettbewerbsordnung schaffen.48 Gleichwohl enthält das 44 Eine genaue Definition dessen, was eine SPS-Maßnahme darstellt, findet sich in Anhang 1 zum SPS-Übereinkommen. 45 Dies setzt ein höheres Maß an Übereinstimmung voraus, wie der Appellate Body im Hormonfall European Communities – Measures Affecting Meat and Meat Products (Hormones) (WT/DS26/AB/R; 16.1.1998) heraus gearbeitet hat; dazu noch ausführlich unten 3. Teil 2. Kap. B. I. 1. 46 Die Voraussetzungen des Abweichens von internationalen Standards war ebenfalls Gegenstand des Hormonfalls; vgl. ausführlich dazu unten im 3. Teil 3. Kap. C. I. und 3. Teil 3. Kap. D. II. 3. 47 Zusammenfassend Stoll/Schorkopf, Rdnr. 319 ff. 48 Zu den Bedürfnissen und Defiziten in diesem Bereich auf internationaler Ebene vgl. Herdegen, § 1 Rdnr. 15. Die niemals in Kraft getretene Havanna-Charta sah umfassende Regelungen zu Beschränkung unlauteren Wettbewerbs vor; vgl. die

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GATT 1947/1994 Vorschriften über Dumping (Art. VI.1 GATT 1994) und Ausfuhrsubventionen (Art. VI.3 und XVI GATT 1994). Denn einerseits verzerren diese Praktiken nicht nur den Wettbewerb, sondern auch den Handel und andererseits besteht die Gefahr, daß die zur Abwehr dieser Praktiken verhängten Zölle auch oder sogar ausschließlich mit protektionistischer Absicht verhängt werden und so die Bemühungen um eine weitgehende Marktöffnung konterkarieren.49 Während der Uruguay-Runde sind die Vorschriften des GATT 1994 in zwei Übereinkommen näher konkretisiert worden, wobei die Parteien dabei auf zwei bereits während der Tokio-Runde ausgehandelte Übereinkünfte zurückgreifen konnten.50 aa) Das Antidumpingübereinkommen Durch den zunehmenden Abbau von Zöllen und das Verbot von mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen sehen sich insbesondere die sogenannten „alten Industrien“ der Industrienationen einem hohen Preis- und Modernisierungsdruck ausgesetzt. Ein mitunter probates Mittel zur Entlastung heimischer Industrien von diesem Druck ist die Verhängung von Antidumpingzöllen.51 Unter Anerkennung des grundsätzlichen Rechts zur Abwehr von Dumping enthält das Antidumpingübereinkommen feste Richtlinien für die Feststellung von Dumping und der daraus resultierenden Schädigung der heimischen Industrie. Außerdem verpflichtet es die Mitglieder auf einen transparenten Verfahrensablauf. Art. 2 des Antidumpingübereinkommens definiert zunächst, daß eine Ware als gedumpt gilt, wenn der Ausfuhrpreis der Ware niedriger ist als der Preis der Ware im Ausfuhrland. Daran anschließend enthält Art. 2 exakte Regeln für die Bezifferung des Preises der Ware im Ausfuhrland einerseits (Normalpreis) und des Ausfuhrpreises andererseits sowie für die Durchführung des Vergleichs dieser beiden Preise. Art. 3 des Antidumpingübereinkommens legt die Kriterien fest, anhand derer zu überprüfen ist, ob ein einheimischer Wirtschaftszweig durch das Dumping geschädigt ist. Art. 5 und 6 des Antidumpingübereinkommens regelt das bei Feststellung von Dumping und Schädigung einzuhaltende Verfahren. Art. 9 des Antidumpingübereinkommens enthält Vorschriften über die Höhe der gegebeeinführenden Bemerkungen von Davey, in: ders./Pescatore/Lowenfeld, Bd. 1, S. 1 (52 f.). 49 Vgl. dazu Herrmann, ZEuS 4 (2001), S. 453 (482). 50 Der Antidumping-Kodex und der Subventionskodex der Tokio-Runde waren nicht für alle Vertragsparteien des GATT 1947 verbindlich. 51 In den achtziger Jahren waren Antidumpingmaßnahmen die am häufigsten auftretende Form der Protektion nationaler Industrien; vgl. Beise, S. 109.

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nenfalls zu verhängenden Antidumpingzölle, wobei Art. 8 Selbstverpflichtungen der dumpenden Hersteller als das mildere Mittel ansieht. Art. 11 des Antidumpingübereinkommens bestimmt, daß die Zölle grundsätzlich höchstens fünf Jahre in Kraft bleiben dürfen; darüber hinaus unterliegen sie regelmäßigen Prüfungen, die auf Antrag der Betroffenen eingeleitet werden müssen. Schließlich enthält Art. 12 des Antidumpingübereinkommens Verpflichtungen über Notifikationen und öffentliche Bekanntmachungen der Einleitung der einzelnen Verfahrensschritte. bb) Das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen Das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen enthält Vorschriften über zwei eng miteinander verzahnte Bereiche. Zum einen regelt das Übereinkommen die Zulässigkeit von Subventionen, zum anderen die Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen. Am Anfang des Übereinkommens steht eine Definition des Begriffs Subvention, die sich bemüht, alle erdenklichen Spielarten staatlicher Subventionierung zu erfassen (Art. 1 und 2).52 In den folgenden Teilen II bis IV regelt das Übereinkommen die Zulässigkeit von Subventionen, wobei es zwischen verbotenen (Art. 3), anfechtbaren (Art. 5) und nichtanfechtbaren (Art. 8) Subventionen unterscheidet.53 Verbotene Subventionen sind Ausfuhrbeihilfen und Beihilfen, deren Gewährung davon abhängig gemacht wird, daß einheimische Waren Vorrang vor importierten erhalten.54 Für verbotene und anfechtbare Subventionen sieht das Übereinkommen in Art. 4 ein gegenüber dem allgemeinen Streitbeilegungsverfahren jeweils leicht modifiziertes Verfahren vor, in dem die betroffenen Mitglieder die Rechtswidrigkeit der Subvention von Panel und Appellate Body klären lassen können, um so die Rücknahme der Subvention zu erreichen.55 Für nichtanfechtbare Subventionen sieht Art. 9 ein Konsultations- und Streitbeilegungsverfahren für den Fall vor, daß das betroffene Mitglied schwer zu beseitigende Schäden eines Wirtschaftszweigs erlitten hat. Dieses Verfahren ist jedoch nicht vor Panel und Appellate Body durchzuführen, sondern vor dem Aus52 Näher dazu Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (299 f.); Ohlhoff, EuZW 2000, S. 645 (646 ff.). 53 Hier wird vom sogenannten traffic light approach gesprochen; dieses Bild hat jedoch nach Außerkrafttreten von Art. 8 und 9 viel von seiner Aussagekraft eingebüßt; vgl. dazu sogleich unten im Text. 54 Ohlhoff, EuZW 2000, S. 645 (646). 55 Art. 4 regelt das Verfahren für verbotene Subventionen, Art. 7 das Verfahren für anfechtbare Subventionen. Diese Subventionen sind rechtswidrig, wenn sie nachteilige Auswirkungen auf die Interessen anderer Mitglieder haben, was in Art. 5 und 6 näher definiert wird; vgl. dazu näher Stoll/Schorkopf, Rdnr. 381.

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schuß für Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen. Allerdings sind Art. 9 und 10 des Übereinkommens entsprechend der Regelung von Art. 31 am 1. Januar 2000 außer Kraft getreten. Während die bislang beschriebenen Verfahren den Mitgliedern die Möglichkeit geben, sich auf multilateralem Weg gegen nachteilige Subventionen zu wehren, regelt Teil IV des Übereinkommens in umfassender Weise das Recht, einseitig Ausgleichszölle zur Abwehr von Subventionen zu verhängen. Im Mittelpunkt der Vorschriften steht die Regelung des Untersuchungsverfahrens, insbesondere im Hinblick auf dessen Einleitung und die Sammlung von Beweisen. Wie auch das Antidumpingübereinkommen bestimmt das Subventionsübereinkommen, wie die Höhe einer Subvention und die Schädigung eines inländischen Wirtschaftszweigs festzustellen sind. Wie auch im Antidumpingübereinkommen dürfen Ausgleichszölle maximal fünf Jahre aufrecht erhalten werden, wobei auch hier eine dauernde Überprüfung der fortbestehenden Notwendigkeit vorgesehen ist. Neben dem Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen enthält auch das Übereinkommen über die Landwirtschaft umfangreiche Vorschriften über Subventionen. Dabei unterscheidet das Übereinkommen zwischen internen Stützungsmaßnahmen und Ausfuhrsubventionen. Beide Formen der Subventionierung landwirtschaftlicher Produkte unterliegen in je unterschiedlichem Maße und mit unterschiedlichen Ausnahmen einer Senkungsverpflichtung. d) Die wesentlichen Ausnahmen von den materiellen Verpflichtungen im Bereich des Warenhandels Das GATT 1994 sieht für den Bereich des Warenhandels drei wesentliche Ausnahmebestimmungen vor, die, soweit sie tatbestandlich einschlägig sind, einen Verstoß gegen Vorschriften aus diesem Bereich ausschließen oder rechtfertigen. aa) Die sogenannten „Waiver“ Art. XXV.5 GATT 1994 sieht vor, daß die VERTRAGSPARTEIEN56, an deren Stelle nunmehr die Organe der WTO getreten sind, unter außergewöhnlichen Umständen eine Vertragspartei von ihren GATT-Verpflichtungen befreien können. Die während der Uruguay-Runde ausgehandelte Vereinbarung über Befreiungen von den Verpflichtungen nach dem GATT 1994 56 Als VERTRAGSPARTEIEN werden gemäß Art. XXV.1 GATT 1994 die gemeinschaftlich handelnden Parteien des GATT 1994 bezeichnet.

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konkretisiert diese Vorschrift und schreibt die Bedingungen einer solchen Befreiung vor. Danach muß das Mitglied, das die Befreiung erstrebt, die Maßnahmen beschreiben, die es zu ergreifen beabsichtigt, und die politischen Ziele nennen, die es damit verfolgt. Darüber hinaus muß es erklären, warum es nicht in der Lage ist, diese Ziele mit GATT-konformen Maßnahmen zu erreichen. Nach Art. IX.3, 4 WTO-Ü, der nicht nur für Befreiungen von GATTVerpflichtungen, sondern für sämtliche Multilateralen Abkommen gilt, wird eine Befreiung nur gewährt, wenn Dreiviertel der Mitglieder der WTO dies genehmigen.57 Für den Bereich des GATT 1994 läßt der gegenüber dem GATT 1947 unveränderte Art. XXV.5 GATT 1994 zwar eine ZweidrittelMehrheit der VERTRAGSPARTEIEN ausreichen,58 jedoch ist diese Bestimmung aufgrund der Kollisionsvorschrift in XVI.3 WTO nunmehr obsolet.59 bb) Art. XIX GATT 1994 und das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen Art. XIX GATT 1994 gestattet einem Mitglied, in besonderen Ausnahmefällen rechtswidrige Maßnahmen zum Schutz einheimischer Industrien zu ergreifen, selbst wenn sich keines der anderen Mitglieder rechtswidrig verhalten hat. Mit dieser Vorschrift erkennt das Abkommen die Möglichkeit an, daß es infolge unvorhergesehener Entwicklungen und auf Grund der von dem Mitglied eingegangenen Verpflichtungen möglich ist, daß eine Ware in derart erhöhten Mengen importiert wird, daß einem einheimischen Wirtschaftszweig ein ernsthafter Schaden entsteht oder jedenfalls droht. Als mögliche Schutzmaßnahme sieht die Vorschrift vor, die bezüglich der betreffenden Ware eingegangenen Verpflichtungen aufzuheben oder das diese Ware betreffende Zugeständnis zurückzunehmen oder abzuändern. Nachdem diese Vorschrift unter dem GATT 1947 protektionistisch motiviert mißbraucht worden war, haben sich die Verhandlungspartner der UruguayRunde auf das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen geeinigt, daß Art. XIX GATT 1994 näher ausgestaltet.60 Ähnlich wie im Bereich der Maßnahmen gegen Dumping und gegen Subventionen legt das Übereinkommen detaillierter als Art. XIX GATT 1994 57

Näher zu den Bestimmungen von Art. IX.3, 4 WTO Beise, S. 203. Nicht zuletzt diese verhältnismäßig niedrige Hürde war dafür verantwortlich, daß unter dem GATT 1947 die Genehmigung von Befreiungen sehr großzügig gehandhabt wurde; vgl. v. Bogdandy, RIW 1991, S. 55 (60); Long, S. 18 f. 59 So ausdrücklich auch Benedek, VN 1995, S. 13 (17); Ipsen/Haltern, RIW 1994, S. 717 (720). 60 Vgl. Stoll/Schorkopf, Rdnr. 160. 58

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fest, wann ein inländischer Wirtschaftszweig einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder wann ein solcher bevorsteht (Art. 4). Außerdem regelt das Übereinkommen das Verfahren, das der Importstaat bei der durchzuführenden Untersuchung einzuhalten hat. Dabei ist vor allem auch die für den Schaden vermeintlich verantwortliche Industrie des oder der Exportstaaten anzuhören. Weiterhin stellt das Übereinkommen strenge Anforderungen an die Anwendung von Schutzmaßnahmen, um zu verhindern, daß diese den Handel stärker beschränken als es zur Behebung oder Abwendung des Schadens erforderlich ist (Art. 5). Neben der Frage des Umfangs der Schutzmaßnahmen wird auch die Dauer dieser Maßnahmen detailliert geregelt und auf ein Höchstmaß von acht Jahren begrenzt (Art. 7). Art. 8 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen bestimmt, daß ein Mitglied, das eine Schutzmaßnahme verhängt, die dadurch betroffenen Mitglieder durch Einräumung neuer Zugeständnisse in anderen Bereichen entschädigen muß, mit dem Ziel, daß das Gesamtvolumen der gemachten Zugeständnisse durch die Maßnahme nicht beeinträchtigt wird. Sofern bei den darüber zu führenden Verhandlungen keine Einigung erzielt wird, werden die von einer Schutzmaßnahme betroffenen Staaten – vorbehaltlich keines negativen Votums des Rates für Warenhandel – ihrerseits ermächtigt, Zugeständnisse auszusetzen.61 Schließlich sieht Art. 12 des Übereinkommens einerseits umfassende Notifikationsverpflichtungen gegenüber dem gem. Art. 13 zu bildenden Ausschuß für Schutzmaßnahmen und andererseits umfassende Konsultationsverpflichtungen gegenüber den Mitgliedern vor, um auf diese Weise eine verstärkte Transparenz zu erzielen.62 61 Diese Ermächtigung spielte bei dem im Jahr 2002 zwischen den Vereinigten Staaten auf der einen und der EG und anderen Staaten auf der anderen Seite ausgetragenen sogenannten Stahlstreit eine wichtige Rolle; vgl. dazu die Verordnung (EG) Nr. 560/2002 der Kommission vom 27. März 2002 über die Einführung vorläufiger Schutzmaßnahmen gegen Einfuhren bestimmter Stahlwaren (ABl. L 85 vom 28.3.2002, S. 1 ff), in der die EG ihrerseits Zugeständnisse aussetzt. Vgl. zum weiteren Gang des Verfahrens Schollendorf, in: Steuerberater Rechtshandbuch, Bd. 1, Fach: B-Aktuelles, Rdnr. 225.3. 62 Von teilweise nur noch historischer Bedeutung sind Art. 10 und 11 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen; Stoll/Schorkopf, Rdnr. 160 ff. Nach Art. 10 waren die unter dem GATT 1947 eingeführten Schutzmaßnahmen aufzuheben. Art. 11.1(b) schreibt den Mitgliedern vor, freiwillige Ausfuhrbeschränkungen und Selbstbeschränkungsabkommen aufzuheben. Damit ahndet die Vorschrift die unter dem GATT 1947 vielfach abgeschlossenen sogenannten bilateralen Voluntary Export Restraints (Selbstbeschränkungsabkommen), in denen sich die exportierende Partei verpflichtet, nur eine bestimmte Menge bestimmter Güter (insbesondere Stahl, Kraftfahrzeuge und Elektronikgüter) zu exportieren. Mithilfe dieser Abkommen sollte Art. XIX GATT 1947 umgangen werden; vgl. Davey, in: ders./Pescatore/Loewenfeld, Bd. 1, S. 1 (50 f.); ders., Fordh. Int’l.L.J. 11 (1987), S. 51 (63); vgl. auch Petersmann, AVR 19 (1980/81), S. 23 (26 f.).

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Für diejenigen Textilwaren, die noch nicht in den allgemeinen Disziplinen des GATT 1994 unterstellt sind und auf die daher Art. XIX GATT 1994 und das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen keine Anwendung finden, enthält Art. 6 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung eine Sonderregelung bezüglich der Einführung von Schutzmaßnahmen, die jedoch den Regeln des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen im wesentlichen entspricht.63 cc) Art. XX GATT 1994 und Art. XXI GATT 1994 Während Art. XIX GATT 1994 das grundsätzliche Bedürfnis der Mitglieder der WTO anerkennt, sich aus wirtschaftlichen Gründen vorübergehend den Verpflichtungen des GATT 1994 zu entziehen, regelt Art. XX GATT 1994 die politischen Gründe, die ein Abweichen von den GATT-Verpflichtungen rechtfertigen und die weiteren Voraussetzungen, die dabei beachtet werden müssen. Dabei zielt die Vorschrift auf einen Ausgleich zwischen kollidierenden Interessen nationaler Politik einerseits und des internationalen Handels andererseits.64 Die Struktur dieser Vorschrift ist wesentlich von der Spruchpraxis der Panels und des Appellate Body geprägt. Danach muß eine GATT-widrige Maßnahme zunächst unter eine der in den Unterabsätzen a) bis j) aufgezählten Ausnahmen fallen. Sofern dies der Fall ist, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Maßnahme den Anforderungen des einleitenden Absatzes der Vorschrift, des sogenannten chapeau entspricht. Dieser einleitende Absatz soll eine protektionistische Anwendung der Ausnahmevorschrift verhindern. Nur wenn sowohl die Voraussetzungen eines der Unterabsätze als auch des chapeau kumulativ vorliegen, ist die im übrigen rechtswidrige Maßnahme rechtmäßig. In der Praxis von GATT 1947 und GATT 1994 spielten beziehungsweise spielen vor allem die in den Unterabschnitten b), d) und g) genannten Ausnahmetatbestände eine wichtige Rolle.65 Praktisch weniger bedeutsam als Art. XX GATT 1994 ist Art. XXI GATT 1994. Nach dieser Vorschrift hindert das GATT 1994 kein Mitglied an handelsrelevanten Maßnahmen, die zum Schutz wesentlicher eigener Sicherheitsinteressen geboten sind oder die das Mitglied aufgrund seiner 63

Vgl. zusammenfassend Stobbe, ZfZ 2000, S. 223 (231). Ähnlich Stoll/Schorkopf, Rdnr. 172, die davon sprechen, daß das „Verwirklichungsinteresse der in den Ausnahmetatbeständen genannten Ziele einschränkend gegen das Ausmaß der Abweichung von den Regeln der Welthandelsordnung abzuwägen“ sei. 65 Vgl. statt vieler McRae, in: FS Jackson, S. 219 (224). 64

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Verpflichtungen aus den Kapiteln VI oder VII der Satzung der Vereinten Nationen zu treffen hat. Bezüglich der Frage, ob Sicherheitsinteressen betroffen sind, haben sich die Mitglieder, die diese Ausnahmebestimmung in der Vergangenheit in Anspruch genommen haben, stets auf eine weite von der Organisation nicht überprüfbare Einschätzungsprärogative berufen.66 2. Der Handel mit Dienstleistungen Nachdem die Bedeutung des Dienstleistungshandels in der Zeit seit Inkrafttreten des GATT 1947 stark angestiegen war, entschlossen sich die VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947, diesen Bereich in die neu zu schaffende Welthandelsordnung aufzunehmen. Insbesondere die Vereinigten Staaten hatten auf eine Liberalisierung des Dienstleistungshandels gedrungen.67 Die während der Uruguay-Runde neu geschaffenen Regeln über den Handel mit Dienstleistungen enthält nunmehr das GATS. Dieses Übereinkommen verfolgt ausweislich seiner Präambel die Ziele, einen multilateralen Rahmen von Regeln für den internationalen Dienstleistungshandel zu schaffen, den Dienstleistungshandel unter den Bedingungen der Transparenz und zunehmender Liberalisierung auszuweiten und das Wirtschaftswachstum aller Handelspartner und die Weiterentwicklung der Entwicklungsländer zu fördern. Das GATS besteht aus zwei wesentlichen Elementen: Das Übereinkommen selbst und die sogenannten sektorspezifischen Anlagen,68 die für alle Mitglieder verpflichtend sind; daneben bestehen Länderlisten, in denen die Mitglieder spezifische Liberalisierungsverpflichtungen für bestimmte Dienstleistungen übernommen haben. Der Regelungsbereich des GATS umfaßt sämtliche handelbaren Dienstleistungen mit Ausnahme von Dienstleistungen, die in Ausübung hoheitlicher Gewalt erbracht werden.69 Dies bedeutet, daß kein Dienstleistungssek66 Vgl. ausführlich Schloemann/Ohlhoff, AJIL 93 (1999), S. 424 ff. mit einem Überblick über die Spruchpraxis zu Art. XXI GATT 1947, S. 432–438. Im Rahmen der WTO hat die Vorschrift insbesondere beim Streit um den sogenannten HelmsBurton-Act eine Rolle gespielt. Zu einem Streitbeilegungsverfahren ist es jedoch aufgrund einer einvernehmlichen Lösung zwischen den Vereinigten Staaten und der EG nicht gekommen. Vgl. zum Helms-Burton-Act auch Kreß/Herbst, RIW 1997, S. 630 ff. 67 Vgl. Frenkel/Radeck, in: Frenkel/Bender, S. 13 (33 f.). 68 Anlage zum grenzüberschreitenden Verkehr natürlicher Personen bei der Erbringung von Dienstleistungen; Anlage zu Luftverkehrsdienstleistungen; Anlage zu Finanzdienstleistungen; Zweite Anlage zu Finanzdienstleistungen; Anlage zu Verhandlungen über Seeverkehrsdienstleistungen; Anlage zur Telekommunikation; Anlage über Verhandlungen zur Basistelekommunikation. 69 Vgl. Art. I.3 GATS.

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2. Teil: Der Appellate Body als Interpret der WTO-Rechtsordnung

tor von vornherein aus dem Anwendungsbereich des Übereinkommens herausfällt (Globalitätsprinzip).70 Nach Art. I.2 GATS werden sämtliche Formen des Handels mit Dienstleistungen vom GATS erfaßt. Neben den Fällen, in denen lediglich die Dienstleistung selbst die Grenze überschreitet, unterfällt dem GATS auch die Erbringung von Dienstleistung im Ausland, wobei es unerheblich ist, ob der Empfänger oder der Erbringer der Dienstleistung die Grenze überschreitet. Ob sich der Dienstleistungserbringer im Ausland natürlicher Personen bedient oder eine kommerzielle Präsenz errichtet ist ebenfalls unerheblich. Die aus dem GATS erwachsenden Verpflichtungen sind für sämtliche Maßnahmen der Mitgliedstaaten, die den internationalen Handel beeinflussen, verbindlich.71 Art. II–XV GATS enthalten allgemeine Verpflichtungen, die für alle Mitglieder – unabhängig von den für bestimmte Dienstleistungsbereiche gemachten Liberalisierungszugeständnissen – in gleichem Maße verbindlich sind. Die wichtigsten Regeln dieses Teils II des GATS sind insbesondere die Verpflichtung zur Meistbegünstigung (Art. II GATS)72 und die Verpflichtung zur Transparenz (Art. III). Danach sind die Mitglieder gehalten, alle Maßnahmen, die sich auf den Dienstleistungshandel beziehen, umgehend zu veröffentlichen. Die Teile III und IV des Übereinkommens, die die Art. XVI–XVIII und XIX–XXI umfassen, regeln das Zustandekommen und den Inhalt der speziellen Liberalisierungsverpflichtungen jedes Mitglieds. Nach den Vorschriften dieser beiden Teile des GATS sind die Mitglieder zur Gewährung von Marktzugang (Art. XVI GATS) und Inländerbehandlung (Art. XVII GATS) nur insoweit verpflichtet, als sie diese Verpflichtung hinsichtlich bestimmter Dienstleistungen in sogenannten Listen übernommen haben (Positivlisten).73 Wie im Bereich des Warenhandels kommen diese Listen in Verhandlungen zustande, die nach Art. XIX GATS regelmäßig durchzuführen sind. Nach Art. XX.1 GATS ist jedes Mitglied verpflichtet, im Zuge dieser Verhandlungen eine Liste vorzulegen, in der die Dienstleistungssektoren enthalten sind, für welche die spezifischen Verpflichtungen von Teil III, also Marktzugang und Inländerbehandlung, zukünftig übernommen werden.74 Dabei sind die Mitglieder berechtigt, die Gewährung des Marktzugangs und die Inländerbehandlung gewissen Bedin70

Denkschrift der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. April 1994 zur Errichtung der Welthandelsorganisation, BTDrucksache 12/7655 (neu), S. 335 (341). 71 Anschaulich mit Beispielen Vgl. Frenkel/Radeck, in: Frenkel/Bender, S. 13 (34.). 72 Vgl. dazu bereits soeben oben im Text I. 1. a); allerdings gestattet die „Anlage zu Ausnahmen von Artikel II“ zum GATS den Mitgliedern unter gewissen Voraussetzungen Ausnahmen von der Meistbegünstigungsverpflichtung. 73 Krajewski, S. 43.

1. Kap.: Die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung

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gungen zu unterstellen. Darüber hinaus sind die Mitglieder bezüglich der Auswahl der Sektoren, für die sie die Verpflichtungen des Teiles III übernehmen, frei. Insbesondere vor dem Hintergrund, daß die entscheidenden Verpflichtungen von Inländerbehandlung und Marktzutritt nicht von vornherein für alle Dienstleistungen gelten, hängt der tatsächliche Wert und Nutzen des GATS ganz erheblich vom Willen der Mitglieder ab, ihre Märkte im Dienstleistungsbereich zu öffnen. 3. Der Schutz des geistigen Eigentums Die Regeln über den Schutz des geistigen Eigentums enthält das in Anhang 1C zum WTO-Übereinkommen befindliche TRIPS. Dessen Ziel liegt anders als das Ziel von GATT 1994 und GATS nicht in der Erweiterung des Marktzugangs oder im Abbau von Handelsbeschränkungen, sondern in der Internationalisierung des Schutzes geistigen Eigentums.75 Zur Erreichung diese Ziels regelt das TRIPS den Schutz von sieben verschiedenen Immaterialgütern. Teil I des TRIPS enthält allgemeine Bestimmungen und Grundprinzipien. Die wichtigsten dieser Prinzipien sind die auch in GATT 1994 und GATS enthaltenen Verpflichtungen zur Meistbegünstigung (Art. 4 TRIPS) und zur Inländerbehandlung (Art. 3 TRIPS). Art. 1.1 TRIPS stellt ausdrücklich klar, daß die Vorschriften des Übereinkommens Mindestverpflichtungen sind und daß es den Mitgliedern freisteht, ein höheres Schutzniveau vorzusehen. Teil II des Übereinkommens enthält materiell rechtliche Vorschriften und teilweise auch Verfahrensregeln bezüglich des Schutzes der verschiedenen Gebiete des geistigen Eigentums. Dabei handelt es sich um Urheberrechte und verwandte Rechte (Art. 9–14), Markenrechte (Art. 15–21), geographische Herkunftsangaben (Art. 22–24), gewerbliche Muster und Modelle (Art. 25, 26), Patente (Art. 27–34), Topographien integrierter Schaltkreise (Art. 35–38), Betriebs- und Geschäftsereignisse (Art. 39) sowie Lizenzen (Art. 40). Sofern auf den einzelnen Gebieten bereits vor Inkrafttreten des TRIPS internationale Abkommen bestanden, die den Schutz des jeweiligen Schutzgutes vorsahen, baut das TRIPS auf diesen Abkommen auf und verpflichtet seine Mitglieder weitgehend auch auf diese Abkommen, indem es diese ausdrücklich inkorporiert.76 Teilweise wird dabei das Schutzniveau gegenüber diesen Abkommen erhöht. 74

Nach Art. XX.3 GATS werden diese Listen zum wesentlichen Bestandteil des Übereinkommens. Dies entspricht der für den Warenhandel in Art. II.7 GATT 1994 getroffenen Regelung. 75 Krajewski, S. 43.

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Teil III des TRIPS regelt die Durchsetzung der geschützten geistigen Eigentumsrechte. Dazu macht das Übereinkommen in vier Abschnitten detaillierte Vorgaben bezüglich der Ausgestaltung der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Art. 42–49 TRIPS regeln das Zivil- und Verwaltungsverfahren, Art. 50 TRIPS stellt präzise Anforderungen an Maßnahmen des vorläufigen Rechtsschutzes, Art. 51–60 TRIPS enthalten besondere Erfordernisse bei Grenzmaßnahmen und Art. 61 TRIPS verpflichtet die Mitglieder, im Fall von Schutzrechtsverletzungen Strafverfahren vorzusehen. Diese Vorschriften des dritten Teils des TRIPS stellen eine entscheidende Neuerung des Übereinkommens gegenüber seinen Vorläufern dar. Diese überließen es zumeist den einzelnen Mitgliedern, in welcher Form sie die materiellen Abkommensverpflichtungen in ihre jeweilige Rechtsordnung transformierten und die Durchsetzung der Schutzrechte regelten.77 Den Abschluß des Übereinkommens bilden Vorschriften zur Streitbeilegung, Übergangsregelungen, die insbesondere Entwicklungsländern großzügige Fristen bei der Implementierung der materiellen Verpflichtungen einräumen, sowie Schlußbestimmungen.78

C. Die Welthandelsorganisation als organisationsrechtlicher Rahmen für die materiellen Regeln des Welthandelsrechts Mit dem WTO-Übereinkommen, dessen offizielle Bezeichnung Marrakesh Agreement Establishing the World Trade Organization (Übereinkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation) lautet, haben die Mitglieder die Welthandelsorganisation errichtet (Art. I WTO),79 der sie in Art. VIII.1 WTO Völkerrechtssubjektivität verliehen haben. Mit Art. VIII.1 WTO haben die Mitglieder der WTO die für das GATT 1947 bis zum Schluß umstrittene Frage der Völkerrechtspersönlichkeit nunmehr positivrechtlich entschieden.80 Nach Art. II.1 WTO bildet die Welthandelsorgani76

Hermes, TRIPS im Gemeinschaftsrecht, S. 31; Krajewski, S. 43. Denkschrift der Bundesregierung zum Entwurf eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 15. April 1994 zur Errichtung der Welthandelsorganisation, BTDrucksache 12/7655 (neu), S. 335 (346); Qureshi, Rdnr. 12–53. 78 Zusammenfassend Stoll/Schorkopf, Rdnr. 640 ff. 79 Zur Verhandlungsgeschichte des Übereinkommens im Überblick Steger, in: FS Jackson, S. 135 (143 ff.). 80 Bezüglich des stets nur Torso der nie in Kraft getretenen International Trade Organization gebliebenen GATT 1947 wurde teilweise vertreten, daß es gewohnheitsrechtlich zu einer Internationalen Organisation mit eigener Völkerrechtssubjektivität erstarkt sei; vgl. den Überblick über den Diskussionsstand bei Inkrafttreten des WTO-Übereinkommens bei Beise, S. 53 ff. 77

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sation den gemeinsamen institutionellen Rahmen für die Wahrnehmung der Handelsbeziehung zwischen ihren Mitgliedern in Angelegenheiten im Zusammenhang mit den in den Anlagen (1 bis 4) des WTO-Übereinkommens enthaltenen Übereinkommen und dazugehörigen Rechtsinstrumenten. Bildlich gesprochen werden die materiellen Regeln des Welthandelsrechts also von den organisationsrechtlichen Vorschriften über die Welthandelsorganisation wie von einer Klammer zusammengehalten.81 I. Die Aufgaben und Funktionen der Welthandelsorganisation Aus Art. III WTO ergeben sich Aufgaben und Funktionen der Welthandelsorganisation. Nach Absatz 1 dieser Vorschrift ist es die Aufgabe der WTO, die Durchführung, die Verwaltung und die Wirkungsweise des WTO-Übereinkommens selbst sowie der Multilateralen Handelsübereinkommen zu erleichtern und die Verwirklichung der Ziele dieser Übereinkommen zu fördern. Wie diese Aufgabe zu erfüllen ist ergibt sich aus den Absätzen 2 bis 5 von Art. III WTO-Ü. Nach Absatz 2 dient die WTO als Forum für die Verhandlungen zwischen ihren Mitgliedern über deren multilaterale Handelsbeziehungen in den Bereichen, die von den Übereinkommen in den Anhängen 1 bis 4 abgedeckt werden. Ausdrücklich wird festgestellt, daß die Organisation darüber hinaus auch als Verhandlungsforum in Bereichen dienen kann, die bislang noch nicht in einem der Anhänge geregelt sind.82 Art. III.2 WTO trägt der Tatsache Rechnung, daß eine zunehmende Liberalisierung des Welthandels, wie sie von den Mitgliedern in der Präambel zum ausdrücklichen Ziel erklärt wird, sich nur in einem stetigen Prozeß von Verhandlungen vollziehen kann. Während dies in GATT 1994 und GATS, wie gesehen, ausdrücklich geregelt ist, gilt dies auch für die übrigen Bereiche des Welthandels. Dies zeigen Ministererklärungen anläßlich der Ministerkonferenzen von Singapur (1996) und Doha (2002), die jeweils umfassende Verhandlungsagenden für die nachfolgenden Jahre festlegten.83 Nach Art. II.3 und 4 WTO verwaltet die Organisation, die beiden Übereinkommen der Anhänge 2 und 3. Damit obliegt der WTO die Administration des Streitbeilegungsverfahrens84 und des Verfahrens zur Überprüfung der Handelspolitiken der Mitglieder. Bei letzterem handelt es sich um ein Verfahren, innerhalb dessen die Handelspolitik der Mitglieder in regelmäßi81

Vgl. Beise, S. 91 und S. 126. Art. III.2 Satz 2 WTO-Ü. 83 Zu diesen Ministererklärungen Herrmann, in: Weiß/Herrmann, Rdnr. 1113, 1116 ff. 84 Dazu näher sogleich unten im Text 2. Kap. A. I. 2. 82

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gen Abständen von der Organisation überprüft wird. Die Grundlage dieser Überprüfung bilden ein von dem jeweiligen Mitglied abzugebender Bericht auf der einen sowie ein vom WTO-Sekretariat angefertigter Bericht über Handelspolitiken und -praktiken auf der anderen Seite.85 Schließlich weist Art. III.5 WTO der WTO die Aufgabe zu, im Interesse einer kohärenten Gestaltung der weltweiten wirtschaftspolitischen Entscheidungen mit dem Internationalen Währungsfonds und mit der Weltbank zusammenzuarbeiten.86 II. Die Organe der Welthandelsorganisation Die Mitglieder der WTO haben die Organisation mit einer Reihe von Haupt- und Nebenorganen ausgestattet, um sie zur Erfüllung ihrer Aufgaben zu befähigen. Das wichtigste Organ der WTO ist die in Art. IV.1 WTO aufgeführte Ministerkonferenz, die als Plenarorgan aus Vertretern aller Mitglieder besteht und die mindestens alle zwei Jahre zusammentritt.87 Die Ministerkonferenz nimmt nach Art. IV.1 Satz 2 WTO die Aufgaben der WTO wahr und trifft die dafür erforderlichen Maßnahmen. Neben dieser allgemeinen Aufgabenzuständigkeit und Beschlußfassungskompetenz hat die Ministerkonferenz weitere ausdrücklich geregelte Aufgaben und Befugnisse. Nach Art. VI.2, 3 WTO ernennt die Ministerkonferenz den Generaldirektor der WTO und regelt das Dienstrecht der Organisation. Weiterhin steht der Ministerkonferenz gemäß Art. IX.2 WTO das Recht zu, authentische Auslegungen des WTO-Übereinkommens und der multilateralen Handelsübereinkünfte vorzunehmen. Auch die Zuständigkeit zur Gewährung von Ausnahmegenehmigungen von den Bestimmungen der Multilateralen Handelsübereinkünften liegt bei der Ministerkonferenz.88 Schließlich spielt die Ministerkonferenz auch eine wichtige Rolle bei der Änderung des WTOÜbereinkommens und der Multilateralen Handelsübereinkünfte.89 In den Zeiträumen zwischen den Tagungen der Ministerkonferenz übernimmt deren Aufgaben gemäß Art. IV.2 WTO der Allgemeine Rat, der sich ebenfalls aus Vertretern aller Mitglieder zusammensetzt. Der Allgemeinen Rat, der zusammentritt, wenn es zweckdienlich ist, ist somit für die Erledigung des Tagesgeschäfts zuständig.90 Nach Art. IV.2 Satz 3 WTO nimmt 85

Vgl. zu diesem Verfahren ausführlich Qureshi, Rdnr. 13–46 ff. Näher dazu Beise, S. 259 f. 87 Die ersten Ministerkonferenzen fanden 1996 in Singapur, 1998 in Genf, 1999 in Seattle, 2002 in Doha (Katar) und 2003 in Cancun (Mexiko) statt. 88 Vgl. dazu bereits oben B. II. 1. d) aa). 89 Vgl. zusammenfassend Beise, S. 199; Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (263). 90 Steger, in: FS Jackson, S. 135 (147.). 86

1. Kap.: Die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung

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der Allgemeine Rat neben den Aufgaben der Ministerkonferenz auch diejenigen Aufgaben wahr, die ihm das WTO-Übereinkommen ausdrücklich überträgt. Dazu gehört unter anderem die Zusammenarbeit mit anderen internationalen Organisationen91 und nichtstaatlichen Organisationen (NGOs).92 Schließlich fällt die Annahme des Budgets der Welthandelsorganisation in die Kompetenz des Allgemeinen Rates (Art. VII WTO-Ü). Darüber hinaus fungiert der Allgemeine Rat gemäß Art. IV.3 WTO auch als Streitbeilegungsorgan (Dispute Settlement Body; DSB) und gemäß Art. IV.4 WTO als Organ zur Überprüfung der Handelspolitik (Trade Policy Review Body; TPRB). Bei diesen Organen handelt es sich formal um selbständige Organe, deren Einrichtung nicht auf dem WTO-Übereinkommen beruht, sondern vielmehr auf der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten (DSU) beziehungsweise auf dem Mechanismus zur Überprüfung der Handelspolitik (TPRM).93 Diese beiden in den Anhängen 3 und 4 zum WTO-Übereinkommen enthaltenen Übereinkommen sehen jeweils eigenständige Organe zur Verwaltung und Durchführung der Vorschriften dieser Übereinkommen vor. Jedoch ist diese institutionelle Verselbständigung nicht konsequent durchgeführt. Vielmehr werden die Aufgaben dieser beiden Organe vom Allgemeinen Rat wahrgenommen, der dafür jedoch jeweils besondere Verfahrensregeln festlegen und einen eigenen Vorsitzenden bestimmen kann.94 Das dritte neben Ministerkonferenz und Allgemeinem Rat stehende Hauptorgan der Organisation ist das Sekretariat, an dessen Spitze der von der Ministerkonferenz ernannte Generaldirektor steht.95 Die Regelung der Aufgaben und Befugnisse des Sekretariats und des Generaldirektors sind in 91 Vgl. zur Ausgestaltung der Zusammenarbeit einführend Benedek, VN 1995, S. 12 (18 f.); einzelne Abkommen und Notenwechsel zur Regelung der Beziehungen zwischen der WTO und anderen internationalen Organisationen sind abgedruckt bei Hummer/Weiss, S. 350 ff. 92 Der Allgemeine Rat hat am 18.7.1996 Guidelines for Arrangements on Relations with Non-Governmental Organizations aufgestellt (WT/L/162; 23.7.1996). Einen Überblick über die vielfältige Einbindung von NGOs gibt Dunoff, JIEL 1998, S. 433 ff.; vgl. auch die vom WTO-Sekretariat herausgegebene Mitteilung WTO Secreteriat Activities with NGOs (WT/INF30; 12.4.2001), die die Beteiligung von NGOs an der Ministerkonferenz von Doha beschreibt. 93 Die Errichtung des DSB beruht auf Art. 2.1 DSU, wo es heißt: „Das DSB wird hiermit gebildet, (. . .)“; die Errichtung des TPRB beruht auf Abschnitt C.i des TPRM, wo es heißt: „Hiermit wird das Organ zur Überprüfung der Handelspolitik eingesetzt (. . .)“. 94 Stoll/Schorkopf, Rdnr. 27. 95 Zu den politischen Schwierigkeiten, die sich bei der Besetzung des Postens des Generaldirektors in jüngster Vergangenheit ergeben haben, anschaulich Beise, S. 191 f.

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Art. VI WTO der Ministerkonferenz vorbehalten. Nach Art. VI.2 WTO bestimmt die Ministerkonferenz die Befugnisse und Aufgaben des Generaldirektors. Dieser wiederum legt gemäß Art. VI.2 WTO die Aufgaben des Sekretariatspersonals fest, wobei er die von der Ministerkonferenz diesbezüglich angenommenen Bestimmungen zu beachten hat. Die tatsächlichen Aufgaben des Sekretariats liegen im administrativen Bereich. Das Sekretariat bereitet die Verhandlungen zwischen den WTO-Mitgliedern vor, berät Mitglieder und beitrittswillige Staaten in Handelsfragen, unterstützt die übrigen Organe der Organisation logistisch, technisch und fachlich, unterhält den Kontakt zu anderen internationalen Organisationen und ist zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit.96 Schließlich leistet das Sekretariat einen wichtigen Beitrag zur Durchführung des Streitbeilegungsverfahrens, indem es die Mitglieder der Panels fachlich unterstützt.97 Art. IV.4 WTO betont den internationalen Charakter des Sekretariats und bestimmt, daß der Generaldirektor und das Sekretariatspersonal an keinerlei Weisungen irgendeiner Regierung oder einer anderen Stelle außerhalb der WTO gebunden sind. Gleichzeitig werden die WTO-Mitglieder darauf verpflichtet, den internationalen Charakter des Sekretariats zu achten und sich jeder Beeinflussung zu enthalten.98 Das WTO-Übereinkommen sowie die einzelnen multilateralen Übereinkünfte des Anhangs 1A sehen eine ganze Reihe weiterer Organe vor, die den Hauptorganen, insbesondere, dem Allgemeinen Rat unterstellt sind. Gemäß Art. IV.5 WTO sind dem Allgemeinen Rat ein Rat für den Handel mit Waren, ein Rat für den Handel mit Dienstleistungen sowie ein Rat für handelsbezogene Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Rat) unterstellt, die unter seiner Leitung agieren. Ihre Aufgabe besteht darin, die Wirkungsweise der multilateralen Handelsübereinkünfte der Anhänge 1A–1C des WTO-Übereinkommens zu überwachen und die ihnen in den einzelnen Übereinkommen übertragenen Aufgaben zu erfüllen.99 Diese Räte stehen allen Mitgliedern der Organisation offen, wobei in praxi nicht alle Mitglieder über hinreichende personelle und finanzielle Kapazitäten verfügen, um an den Sitzungen dieser Räte, die je nach Bedarf tagen, teilzunehmen.100 96

Beise, S. 193; Stoll/Schorkopf, Rdnr. 30. Ausführlich dazu Hudec, in: FS Dunkel, S. 101 (116 ff.). Der Appellate Body verfügt über eigenes juristisches Personal, das formal nicht dem Sekretariat angehört, vgl. Hudec, a. a. O., S. 117. 98 Vgl. zu diesen Regelungen, die inhaltlich mit den Regelungen in einer Vielzahl von Satzungen internationaler Organisationen übereinstimmen, Sands/Klein, Rdnr. 12-027. 99 Näher dazu Beise, S. 194 ff. 100 Krajewski, S. 29. 97

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Nach Art. IV.7 WTO setzt die Ministerkonferenz einen Ausschuß für Handel und Entwicklung, einen Ausschuß für Zahlungsbilanzbeschränkungen und einen Ausschuß für Haushalt, Finanzen und Verwaltung ein. Darüber hinaus verleiht die Vorschrift der Ministerkonferenz die Befugnis, weitere Ausschüsse einzusetzen. Von dieser Befugnis haben die Minister bereits zeitgleich mit der Errichtung der WTO Gebrauch gemacht, indem sie den Allgemeinen Rat beauftragt haben, den Ausschuß für Handel und Umwelt einzusetzen.101 Schließlich sehen die einzelnen multilateralen Übereinkünfte des Anhangs 1A des WTO-Übereinkommens zum großen Teil je einzelne Ausschüsse vor und übertragen diesen Aufgaben im Zusammenhang mit der Durchführung dieser Übereinkommen. Darüber hinaus dienen diese Ausschüsse auch als Forum für Konsultationen zwischen den einzelnen Mitgliedern.102 III. Die Beschlußfassung in der Welthandelsorganisation Wie bei jeder internationalen Organisation stellt sich auch bei der WTO die Frage, wie Beschlüsse der Plenarorgane der Organisation zustande kommen, insbesondere welcher Mehrheiten ein rechtlich wirksamer Beschluß bedarf.103 Das WTO-Übereinkommen kennt zwei Beschlußverfahren, die beide in Art. IX.1 WTO geregelt sind. In Fortsetzung der bereits von den Vertragsparteien des GATT 1947 geübten Praxis werden nach Art. IX.1 Satz 1 WTO Beschlüsse durch Konsens gefaßt. Wie die zum Vertragstext gehörende Fußnote 1 zu der Vorschrift erläutert, gilt ein Beschluß durch Konsens gefaßt, wenn kein anwesendes Mitglied gegen den Beschluß förmlich Einspruch einlegt. Vielfach wird das Konsensverfahren als Schutzmechanismus der industrialisierten Staaten gegen eine Majorisierung durch die ihnen zahlenmäßig überlegenen Entwicklungsländer verstanden.104 Dabei darf je101

Vgl. den Ministerbeschluß zur Errichtung des Ausschusses für Handel und Umwelt vom 14.4.1994, abgedruckt bei Benedek, WTO, S. 563 ff. sowie bei Hummer/Weiss, S. 542 ff. 102 Ausschuß für Landwirtschaft, Ausschuß für gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen, Textilaufsichtsorgan (TMB), Ausschuß „Technische Handelshemmnisse“, Ausschuß für handelsbezogene Investitionsmaßnahmen, Ausschuß für Antidumpingmaßnahmen, Ausschuß für den Zollwert, Ausschuß für Ursprungsregeln, Ausschuß für Einfuhrlizenzverfahren, Ausschuß für Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, Ausschuß für Schutzmaßnahmen. 103 Einen Überblick über die Regelungen in den Satzungen der wichtigsten internationalen Organisationen geben Sands/Klein, Bowett’s International Institutional Law, Rdnr. 11-001 ff. 104 Ipsen/Haltern, RIW 1994. S. 717 (720) m. w. N.; ähnlich Beise, S. 200.

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doch nicht übersehen werden, daß dieses Entscheidungsverfahren mitunter dazu führen kann, daß auch dringend notwendige Entscheidungen nicht gefaßt werden können.105 Falls eine Entscheidung nicht im Wege des Konsenses gefaßt werden kann, sieht Art. IX.1 Satz 2 WTO die Möglichkeit einer Abstimmung vor. Art. IX.1 Satz 4 WTO erklärt die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, also die einfache Mehrheit, für den Regelfall bei Abstimmungen.106 Jedoch sieht das WTO-Übereinkommen für wichtige Fragen, insbesondere für die Fälle der authentischen Auslegung durch die WTO-Mitglieder (Art. IX.2), der Erteilung von Ausnahmegenehmigungen (waiver; Art. IX.3, 4) und der Änderung der Abkommen (Art. X) strengere Mehrheiten vor.107 Diese Bestimmungen über Abstimmungen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß in der Praxis sämtliche Entscheidungen in der WTO im Wege des Konsenses getroffen werden und Abstimmungen nicht stattfinden.108 Für alle unter das Dispute Settlement Understanding fallende Beschlüsse des als Dispute Settlement Body agierenden Allgemeinen Rates schließt Art. 2.4 DSU Mehrheitsentscheidungen ausdrücklich aus und ordnet an, daß Entscheidungen im Konsens zu treffen sind. Um jedoch das Streitbeilegungsverfahren nicht zu obstruieren, bestimmt das DSU an verschiedenen Stellen, daß wichtige Verfahrensentscheidungen getroffen sind, wenn nicht ein Konsens unter den Mitgliedern des DSB besteht, die Entscheidung nicht zu treffen (negativer Konsens). Auch in den Räten für Warenhandel und Handel mit Dienstleistungen sowie im TRIPS-Rat sind nach den jeweiligen Geschäftsordnungen dieser Gremien Mehrheitsentscheidungen ausgeschlossen. Gelingt es diesen Räten nicht, eine bestimmte Entscheidung im Konsens zu treffen, müssen sie die Angelegenheit dem Allgemeinen Rat oder der Ministerkonferenz vorlegen, die dann gegebenenfalls eine Abstimmung durchführen.109 2. Kapitel

Der Appellate Body Mit Gründung der WTO haben die Mitglieder nicht nur die materiellen Regeln für den weltweiten Handel umfassend reformiert, sondern auch das Streitbeilegungsverfahren des GATT 1947 neu gestaltet. Eine der wesent105 106 107 108 109

In diesem Sinn Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (635). Vgl. Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (262). Krajewski, S. 29. Weiß, in: ders./Herrmann, Rdnr. 200. Vgl. Steger, FS Jackson, S. 135 (148).

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lichen Errungenschaften dieser Neugestaltung ist die Einrichtung einer zweiten Instanz, des Appellate Body. Dessen Aufgabe besteht in der Überprüfung der Berichte der erstinstanzlichen Panels auf Fehler bei der Rechtsanwendung und bei der Auslegung von WTO-Vorschriften. Dabei nimmt die Korrektur von Fehlern bei der Vertragsauslegung eine zentrale Rolle ein.

A. Der Appellate Body im Streitbeilegungsverfahren der WTO I. Das Streitbeilegungsverfahren im Überblick Die im vorangehenden Kapitel dargestellten Regeln der multilateralen Handelsübereinkünfte bilden die Grundlage für einen funktionierenden weltweiten Austausch von Waren und Dienstleistungen. Ob dieses System aber tatsächlich funktioniert, hängt entscheidend davon ab, ob die Mitglieder der Organisation die Möglichkeit haben, ihre vertraglich vereinbarten Rechte durchzusetzen. Das allgemeine Völkerrecht kennt grundsätzlich keine zentrale Instanz zur Rechtsdurchsetzung. Die Unterwerfung souveräner Staaten unter die Gerichtsbarkeit eines internationalen Gerichts oder eines Schiedsgerichts stellt eher die Ausnahme als die Regel dar.110 Die einzelnen Staaten sind vielmehr darauf angewiesen, ihre Rechte gegenüber anderen Staaten im Wege der erlaubten Selbsthilfe selbst durchzusetzen. Dies geschieht durch grundsätzlich rechtmäßige „Retorsionen“ und durch grundsätzlich rechtswidrige „Repressalien“, die aber als Antwort auf einen ebenfalls rechtswidrigen Akt ausnahmsweise rechtmäßig sind.111 Materiell sind sie dabei zunächst nur an das Gewaltverbot und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden.112 Diese sogenannte dezentrale Rechtsdurchsetzung erweist sich oft als langwierig und unsicher und trägt letztendlich Züge eines Rechts des Stärkeren. Eine derart beschriebene dezentrale Rechtsdurchsetzung ist für das weltweite Handelssystem der WTO ungeeignet. Wie gesehen, beruht das System der WTO auf einer Verpflichtung zur Marktöffnung im Wege der Gegenseitigkeit.113 Diesem System wohnt jedoch ein latenter Anreiz zur Mißachtung der übernommenen Verpflichtung inne. Theoretisch kann nämlich ein Mitglied auch dann noch die vollen Vorteile des Systems nutzen, also 110

Brownlie, Principles, S. 703. Emmerich-Fritsche, in: Schachtschneider, S. 123 (145); umfassend zu Retorsion und Repressalie auch Schröder, in: Graf Vitzthum, 7. Abschn. Rdnr. 103 ff. 112 Fischer, in: Ipsen, § 59 Rdnr. 45 ff. 113 Vgl. dazu soeben oben im Text 1. Kap. B. I. 2. 111

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die geöffneten Märkte der anderen Mitglieder, wenn es seine eigenen Märkte gegenüber Importen abschottet.114 Um dieses Verhalten, das den Anfang der Rückkehr zum Protektionismus darstellen würde, zu verhindern, bedarf es im System des Welthandelsrechts eines effektiven Mechanismus’ zur Rechtsdurchsetzung.115 Das im Rahmen des GATT 1947 praktizierte Streitbeilegungssystem hatte dieser Anforderung jedoch allenfalls zum Teil genügt.116 Dies war insbesondere darauf zurückzuführen, daß für die Feststellung einer Rechtsverletzung stets auch die Zustimmung der rechtswidrig handelnden GATT 1947-Vertragspartei erforderlich war.117 Vor dem Hintergrund dieser und anderer Schwächen des Streitbeilegungsverfahrens des GATT 1947118 einigten sich die Teilnehmer der Uruguay-Runde auf den Abschluß des Dispute Settlement Understanding (DSU), das im Anhang 2 zum WTO-Übereinkommen enthalten ist.119 1. Grundlagen des Streitbeilegungsverfahrens Die Vorschriften des DSU sind gemäß Art. 1.1 DSU auf Streitigkeiten bezüglich sämtlicher multilateraler Handelsübereinkünfte anwendbar.120 Nur in wenigen Einzelpunkten werden die Vorschriften des DSU durch in den einzelnen multilateralen Handelsübereinkommen enthaltene Spezialvorschriften modifiziert.121 Insgesamt sieht das DSU damit ein einheitliches Verfahren für die Beilegung sämtlicher Streitigkeiten vor, die zwischen den Mitgliedern bei der Anwendung der multilateralen Handelsübereinkünfte entstehen.122 Damit unterscheidet sich das DSU wesentlich von den vor 114

Dazu Meng, in: Klein/Meng/Rode, S. 19 (31). Meng, in: Klein/Meng/Rode, S. 19 (32). 116 Eine Kurzübersicht über das Streitbeilegungsverfahren des GATT 1947 findet sich bei Bast/Schmidt, RIW 1991, S. 929 ff.; ausführlicher Meng, ZaöRV 41 (1981), S. 69 ff. sowie Pescatore, JWT 27/1 (1993), S. 5 ff. 117 Statt vieler Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (267 f.). Zwar haben die Mitglieder selten ein Verfahren vollends blockiert. Die Drohung einer solchen Blockade des Verfahrens war jedoch stets latent vorhanden. Bereits dies führte zu einer erheblichen Schwächung des Verfahrens; vgl. Letzel, S. 212. 118 Ein prägnante Zusammenfassung der Schwächen des Verfahrens findet sich bei Montañà i Mora, Col. J. Transnat’l. L. 31 (1991), S. 103 (127) sowie bei Petersmann, S. 90 f. 119 Vgl. ausführlich zur Verhandlungsgeschichte des DSU Stewart, Vol. II, S. 2663–2811. 120 Daneben gilt das DSU auch für Streitigkeiten im Hinblick auf das WTOÜbereinkommen sowie für Streitigkeiten im Hinblick auf das DSU selbst. Ausgenommen sind Streitigkeiten hinsichtlich des TPRM; vgl. Stoll/Schorkopf, Rdnr. 424. 121 Vgl. die Auflistung der Spezialvorschriften in Anhang 2 zum DSU. 122 Jansen, EuZW 1994, S. 333 (335). 115

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Abschluß der Uruguay-Runde geltenden Streitbeilegungsvorschriften. Das GATT 1947 und die während der Tokio-Runde hinzu gekommenen Sonderabkommen sahen je einzelne Streitbeilegungsverfahren vor.123 Dies eröffnete den an einem Streitverfahren beteiligten Parteien die Möglichkeit des sogenannten forum shopping. Hinter diesem nicht immer einheitlich verwendeten Begriff verbirgt sich einerseits die Möglichkeit der antragstellenden Partei, das für sie günstigste Verfahren auszusuchen, mit der Folge, daß sich der Antragsgegner nicht mit etwaigen rechtfertigenden Vorschriften eines anderen Übereinkommens verteidigen konnte.124 Andererseits war die antragstellende Partei aber gegebenenfalls dazu gezwungen, mehrere Streitverfahren einzuleiten, wenn sie der Auffassung war, daß das Verhalten des Antragsgegners gegen die Vorschriften mehrerer Abkommen verstieß.125 Das einheitliche WTO-Streitbeilegungsverfahren ist für alle WTO-Mitglieder verbindlich und erhebt den Anspruch der Exklusivität.126 Den Mitgliedern ist es nach Art. 23.1 DSU untersagt, sich anderer Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten zu bedienen, die aus der Anwendung der unter das DSU fallenden Abkommen erwachsen. Damit werden insbesondere unilaterale Maßnahmen der Rechtsdurchsetzung ausgeschlossen.127 Teilweise hatten sich Vertragsparteien des GATT 1947 solcher Maßnahmen bedient, nachdem sich das Streitbeilegungsverfahren als ineffektiv erwiesen hatte.128 Diese Praxis hatte einen wesentlichen Beitrag zur Erosion der Rechtsordnung des GATT 1947 geleistet. Weite Teile des Streitbeilegungsverfahrens der WTO beruhen auf dem gewohnheits- und sekundärrechtlich entwickelten Verfahren des GATT 1947, das primärrechtlich nur in Art. XXII und XXIII GATT 1947 verankert war. Unter Betonung dieser Tatsache in Art. 3.1 DSU enthält Art. 3 DSU die wesentlichen Prinzipien des WTO-Streitbeilegungsverfahrens. Art. 3.2 Satz 1 DSU erklärt das Streitbeilegungssystem zu einem zentralen Element zur Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem. Darin kommt die Erkenntnis zum Ausdruck, daß ein auf den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen gerichtetes Wirtschaftssystem stets auch eines funktionierenden und berechenbaren Rechtssystems bedarf, zu dem eben auch ein Mechanismus zur Rechtsdurchsetzung gehört.129 Nach Art. 3.2 Satz 2 DSU sollen mit Hilfe des Streitbeile123

Übersicht bei Stewart, Vol. II, S. 2699 ff. So Jansen, EuZW 1994, S. 333 (334); ihm folgend Krajewski, S. 33. 125 Vgl. Petersmann, S. 90; teilweise wurde auch von der Balkanisierung des GATT-Systems gesprochen. 126 Petersmann, S. 179 f. 127 Vgl. Beise, S. 222; Kohona, JWT 28/2 (1994), S. 23 (44). 128 Petersmann, S. 91. 124

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gungssystems einerseits die Rechte und Pflichten der Mitglieder aus den multilateralen Handelsübereinkünften bewahrt werden. Dieser erste Halbsatz von Art. 3.2 Satz 2 DSU enthält einen Hinweis auf die Funktion des Streitbeilegungssystems, den Mitgliedern die individuelle Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber anderen Mitgliedern zu ermöglichen; Rechtsbewahrung bedeutet Rechtsdurchsetzung. Nach dem zweiten Halbsatz von Art. 3.2 Satz 2 DSU soll im Streitbeilegungsverfahren darüber hinaus auch der Inhalt der geltenden Bestimmungen der Handelsübereinkommen durch Auslegung geklärt werden. Damit ist eine weitere wichtige Funktion des Streitbeilegungssystems angesprochen. Es soll den übrigen, nicht an einem konkreten Streit beteiligten Mitgliedern Orientierung darüber bieten, wie die in den einzelnen Abkommen enthaltenen Rechte und Pflichten zu verstehen sind.130 Diesen beiden Funktionen des Streitbeilegungsverfahrens zieht Art. 3.2 Satz 3 DSU insofern eine Grenze, als er festlegt, daß die Entscheidungen im Rahmen des Verfahrens die in den Übereinkommen enthaltenen Rechte und Pflichten weder ergänzen noch einschränken können.131 Art. 3.7 Satz 3 DSU erinnert die Mitglieder daran, daß Streitigkeiten nicht nur mit Hilfe eines streitigen Verfahrens beigelegt werde können. Dort wird betont, daß eine einvernehmliche Lösung zwischen den Streitparteien einer streitigen Entscheidung vorzuziehen ist.132 Dieser Gedanke findet seine Fortsetzung in der Verpflichtung der Mitglieder, vor Einleitung des streitigen Verfahrens Konsultationen durchzuführen.133 Um eine „außergerichtliche“ Lösung zu erleichtern, wird den Mitgliedern in Art. 3.7 Satz 1 DSU aufgegeben, vor der Stellung eines Antrags auf Durchführung eines streitigen Verfahrens zu prüfen, ob dessen Durchführung Aussicht auf Erfolg hat. Eine justiziable Zulässigkeitsvoraussetzung für die Einleitung eines streitigen Verfahrens stellt diese Regelung jedoch nicht dar.134

129 Dazu bereits Dolzer, in: FS Doehring, S. 141 (171); ähnlich Meng, in: Klein/ Meng/Rode, S. 19 (25 ff.). 130 Zu diesem Gesichtspunkt bereits Jackson, AJIL 72 (1978), S. 747 (749). 131 Stoll/Schorkopf, Rdnr. 429. 132 Zum Hintergrund dieser Regelung Kohona, JWT 28/2 (1994), S. 23 (29). Art. 3.7 DSU geht zurück auf einen während der Tokio-Runde gefaßten Ministerbeschluß zum Streitbeilegungsverfahren. Er stellte eine Reaktion auf eine Reihe sogenannter wrong-cases dar. Dabei handelte es sich um politisch motivierte Streitfälle, die das GATT-Streitbeilegungsverfahren zwar rechtlich, jedoch nicht politisch zu lösen vermochte; vgl. dazu Hudec, Cornell J. Int’l. L. 13 (1980), S. 145 (159 ff.). 133 Dazu sogleich unten 3. 134 Ausführlich zu dieser Vorschrift Letzel, S. 239 ff.

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2. Organisatorische Aspekte des Streitbeilegungsverfahrens Das oberste Gremium zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Mitgliedern der WTO ist das gemäß Art. 2 DSU gebildete Streitbeilegungsorgan (Dispute Settlement Body, DSB), dessen Aufgaben nach Art. IV.3 WTO vom Allgemeinen Rat wahrgenommen werden.135 Wie bereits das Streitbeilegungsverfahren des GATT 1947 steht damit auch das im DSU vorgesehene Verfahren formal unter der politischen Kontrolle sämtlicher WTO-Mitglieder. Dies äußert sich darin, daß die Einleitung eines Streitbeilegungsverfahrens sowie weitere wichtige Verfahrensentscheidungen von einem positiven Votum der WTO-Mitglieder abhängig sind.136 Im GATT 1947 kam ein solches positives Votum nur mit dem Konsens der VERTRAGSPARTEIEN zustande, erforderlich war also auch die Zustimmung derjenigen Vertragspartei, die vermeintlich rechtswidrig handelte. Dies führte immer wieder zu Beeinträchtigungen des Verfahrens, weil es der in der Defensive befindlichen Partei jedenfalls theoretisch möglich war, das Verfahren zum Stillstand zu bringen.137 Wie gesehen haben die Mitglieder der WTO im Bereich der Streitbeilegung auf das Erfordernis eines positiven Konsenses verzichtet. Vielmehr gelten nun alle wichtigen Verfahrensentscheidungen als getroffen, sofern nicht sämtliche WTO-Mitglieder widersprechen.138 Damit ist der Fortgang des Verfahrens insbesondere nicht mehr von der Zustimmung des Antragsgegners beziehungsweise der später unterliegenden Partei abhängig.139 Die Behandlung einzelner Streitfälle zwischen Mitgliedern der WTO überträgt das Streitbeilegungsgremium auf Hilfsorgane. Dies sind wie bereits unter dem Regime des GATT 1947 die sogenannten Panels (Untersuchungsausschüsse)140, die sich aus Anlaß eines konkreten Streitfalls jeweils ad hoc konstituieren, und der Appellate Body (Ständiges Berufungsgremium),141 dessen Mitglieder eine Amtszeit von vier Jahren haben. 135

Vgl. dazu bereits oben 1. Kap. C. II. Gemeint sind die Einsetzung eines Panels, die Annahme des Panel- beziehungsweise Appellate Body-Berichts und die Ermächtigung der obsiegenden Partei, Gegenmaßnahmen einzuleiten. 137 Vgl. Letzel (WTO), S. 212. 138 Vgl. Art. 6.1 DSU zur Einsetzung eines Panels; Art. 16.4 DSU zur Annahme des Berichts des Panels; Art. 17.14 DSU zur Annahme des Berichts des Appellate Body; Art. 22.6, 8 DSU zur Entscheidung über den Antrag, Zugeständnisse aussetzen zu dürfen; vgl. Krajewski, S. 33; Lichtenbaum, Mich.J.Int’l.L. 19 (1998), S. 1195 (1196 f.; 1201). 139 Emmerich-Fritsche, in: Schachtschneider, S. 123 (179). 140 Die amtliche deutsche Übersetzung sieht für den Begriff Panel die Übersetzung Untersuchungsausschuß vor. Allerdings hat sich in Übereinstimmung mit dem internationalen Sprachgebrauch im wissenschaftlichen Schrifttum die Verwendung der Bezeichnung Panel durchgesetzt. Dem soll hier gefolgt werden. 136

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Anders als im Bereich der Europäischen Gemeinschaft, wo die EG-Kommission über die Rechtstreue der Mitgliedstaaten wacht,142 gibt es in der WTO keine objektive Instanz, deren Aufgabe es ist, die Rechtsbeachtung der WTO-Mitglieder gegebenenfalls gerichtsförmlich sicherzustellen. Vielmehr ist das Rechtsdurchsetzungsverfahren in der WTO an die Verletzung subjektiver Rechte eines Mitglieds gebunden und kann nur von diesem Mitglied selbst angestrengt werden.143 Daher vollzieht sich die Rechtsdurchsetzung im Wege bilateral durchgeführter Streitbeilegungsverfahren, in denen sich Antragsteller und Antragsgegner gegenüberstehen.144 3. Überblick über den Gang des Verfahrens Das im DSU geregelte Streitbeilegungsverfahren der WTO besteht aus insgesamt vier Phasen. Am Anfang stehen Konsultationen der Streitparteien. Daran schließt sich das eigentliche streitige Verfahren an. Dieses setzt sich aus dem Erkenntnisverfahren vor einem Panel und dem Rechtsmittelverfahren vor dem Appellste Body zusammen. Das Rechtsmittelverfahren kann von allen unmittelbar am Streit beteiligten Parteien angestrengt werden. Sofern abschließend eine Rechtsverletzung festgestellt wird, schließt sich an das streitige Verfahren ein Umsetzungsverfahren an, in dem überprüft wird, ob die rechtswidrig handelnde Partei die Rechtsverletzung abstellt und die obsiegende Partei zu Gegenmaßnahmen ermächtigt werden kann, mit deren Hilfe die unterliegende Partei zur Abstellung der Rechtsverletzung gezwungen werden soll. Bevor ein Mitglied der WTO, das seine Rechte durch ein anderes Mitglied verletzt sieht,145 die Einleitung eines streitigen Verfahrens beantragt, ist es nach Art. 4 DSU verpflichtet, das andere Mitglied um Konsultationen zu ersuchen.146 Diese Konsultationen sollen zu einer einvernehmlichen Lösung der Streitigkeit führen und so zur Wahrung des Rechtsfriedens beitragen. In der Praxis gelingt es immer wieder, Fälle bereits in dieser Phase 141 Die amtliche deutsche Übersetzung sieht für den Begriff Appellate Body die Übersetzung Berufungsgremium vor. Allerdings hat sich in Übereinstimmung mit dem internationalen Sprachgebrauch im wissenschaftlichen Schrifttum die Verwendung der Bezeichnung Appellate Body durchgesetzt. Dem soll hier gefolgt werden. 142 Vgl. Art. 211 1. Spiegelstrich EG und dazu statt vieler Streinz, Rdnr. 294 ff. 143 Jansen, EuZW 1994, S. 333 (335); Krajewski, S. 33. 144 Beise, S. 206. 145 Ein Mitglied kann auch eine sogenannte Nichtverletzungsbeschwerde einreichen, die in Art. 26 DSU ausführlich geregelt ist. Wie bereits unter dem GATT 1947 bilden Nichtverletzungsbeschwerden einen Ausnahmefall, der äußerst selten vorkommt; vgl. umfassend Petersmann, S. 135 ff. 146 Ausführlich zu dieser Phase Letzel, S. 250 ff.

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zu lösen und so den Eintritt in das streitige Verfahren zu verhindern.147 Allerdings muß gemäß Art. 3.5 DSU die von den Parteien einvernehmlich erzielte Lösung mit den WTO-Übereinkünften vereinbar sein und darf die Rechte unbeteiligter Drittstaaten nicht beeinträchtigen. Aus diesem Grund sind einvernehmliche Lösungen gemäß Art. 3.6 DSU dem DSB zu notifizieren.148 Gelingt es den Mitgliedern während der Konsultationen allerdings nicht, innerhalb von 60 Tagen eine einvernehmliche Lösung des Problems zu erzielen,149 so kann die beschwerdeführende Partei nach Art. 4.7 DSU die Einsetzung eines Panels verlangen. Der schriftlich zu stellenden Antrag muß die vermeintlich rechtswidrigen Maßnahmen aufführen und darstellen, gegen welche Vorschriften diese Maßnahmen verstoßen.150 Über den Antrag auf Einsetzung eines Panels entscheidet der DSB. Die sogenannte negative Konsens-Regel in Art. 6 DSU sieht vor, daß dieser Antrag nur mit den Stimmen aller Mitglieder der WTO abgelehnt werden kann. De facto hat die beschwerdeführende Partei also ein Recht auf ein Panel, da sie selbst nicht gegen die Einsetzung stimmen wird.151 Grundsätzlich obliegt es den Streitparteien, sich auf die Zusammensetzung des Gremiums zu einigen,152 dem gemäß Art. 8.1 DSU hochqualifizierte Einzelpersonen angehören müssen, die über profunde Kenntnisse auf dem Gebiet des internationalen Handelsrechts oder der internationalen Handelspolitik verfügen.153 Die Mitglieder des Panels dürfen keiner der Streitparteien angehören. Um den Streitparteien die Auswahl der Panelmitglieder zu erleichtern, unterhält das WTO-Sekretariat eine Liste mit geeigneten Personen. Nach Art. 8.6 DSU schlägt das Sekretariat der WTO den Streitparteien Nominie147 Nach Angaben des Sekretariats der WTO wurden dem DSB bis zum 17.01.2003 in 279 Fällen Konsultationen notifziert. Zu diesem Zeitpunkt waren Panels und Appellate Body mit 16 laufenden Fällen beschäftigt. In 68 Fällen waren streitige Verfahren durchgeführt worden. In 44 Fällen hatten die Streitparteien dem DSB eine einvernehmliche Lösung notifiziert. 24 weitere Fälle, die teilweise bereits 1995 oder 1996 initiiert worden waren, wurden von den Streitparteien entweder nicht weiter verfolgt oder eine einvernehmliche Lösung war nicht notifiziert worden. In 106 Fällen dauerten die Konsultationen noch an; vgl. Update of WTO Dispute Settlement Cases (WT/DS/OV/10; 22.1.2003). 148 Letzel, S. 253; vgl. auch Petersmann, S. 179. 149 In dringenden Fällen darf der Antrag auf Einsetzung eines Panels bereits nach 10 Tagen gestellt werden, Art. 4.8 DSU. 150 Vgl. Vermulst/Mavroidis/Waer, JWT 33/2 (1999), S. 1 (7 ff.). 151 Emmerich-Fritsche, in: Schachtschneider, S. 123 (179); Letzel, S. 264; Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1213). 152 Anschaulich zur Praxis der Auswahl der Panelmitglieder Bourgeois, JIEL 4 (2001), S. 145 (146 f.). 153 Näher zur Zusammensetzung der Panels unten im Text A. II. 3.

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rungen für das Panel vor, die die Streitparteien nur aus zwingenden Gründen ablehnen dürfen. Gelingt es den Streitparteien nicht, sich auf die Besetzung des Panels zu einigen, dann bestimmt der Generaldirektor der WTO die Mitglieder des Panels (Art. 8.7 DSU).154 Nach seiner Einsetzung nimmt das Panel seine Arbeit auf, für die das DSU einen Zeitraum von maximal sechs, in Ausnahmefällen neun Monaten vorsieht. Während dieses Zeitraums tragen die Streitparteien dem Panel die relevanten Tatsachen und ihre Rechtsansichten zunächst schriftlich und dann auch in zwei mündlichen Verhandlungen vor. Um seine Aufgabe, die gemäß Art. 11 DSU in einer objektiven Beurteilung der Sach- und Rechtslage besteht, erfüllen zu können, ist das Panel nicht ausschließlich auf die von den Streitparteien vorgetragenen Tatsachen und Rechtsansichten beschränkt, sondern ist nach Art. 13 DSU auch berechtigt, seinerseits Informationen einzuholen.155 Die Behörden der Streitparteien sind dem Panel gegenüber auskunftspflichtig (Art. 13.1 DSU);156 das Panel kann darüber hinaus auch unabhängige Sachverständige befragen (Art. 13.2 DSU).157 Auf Grundlage der zusammengetragenen Informationen nimmt das Panel die ihm obliegende objektive, vollumfängliche Überprüfung des ihm übertragenen Streitfalls vor. Nachdem die Parteien ihre Schriftsätze eingereicht und mündlich verhandelt haben, erstellt das Panel gemäß Art. 15 DSU einen Teilbericht, in dem es sein Verständnis der Sachlage und der von den Parteien vorgetragenen Rechtsansichten wiedergibt und den es den Streitparteien zur Stellungnahme zuleitet.158 Anschließend erstellt das Panel seinen Abschlußbericht, 154

Vgl. Stoll/Schorkopf, Rdnr. 438 f. Nach wie vor umstritten ist die Zulässigkeit sogenannter amicus curiae briefs, in denen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ihre Ansichten bezüglich der Tatsachen und Rechtsfragen zusammenfassen und den Panels zur Kenntnis geben; vgl. aus dem mittlerweile ausufernden Schrifttum Umbricht, JIEL 4 (2001), S. 773 ff.; Zonnekeyn, JWT 35/3 (2001), S. 553 ff. sowie kurz Weiß, in: ders./Herrmann, Rdnr. 232 f. 156 Vgl. näher zu Art. 13.1 DSU Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (623 ff.). 157 Die Einzelheiten zur Beauftragung externer Sachverständiger sind in Anhang 4 zum DSU geregelt; abgedruckt bei Benedek, WTO, S. 486. Zur Praxis der Panels in diesem Zusammenhang zusammenfassend Stoll/Schorkopf, Rdnr. 461. 158 Dieser Verfahrensabschnitt, der ebenfalls erst während der Uruguay-Runde eingeführt wurde, wird als Interim Review bezeichnet. Ebenso wie die Einführung des Verfahrens vor dem Appellate Body soll der Interim Review den durch die Abschaffung des Konsenserfordernisses geschwundenen Einfluß der Streitparteien auf den Verfahrensablauf kompensieren, indem ihnen die Möglichkeit zu einer frühzeitigen Stellungnahme ermöglicht wird; vgl. dazu Petersmann, S. 185; kritisch zum Interim Review-Verfahren Hudec, Minn. J. Global Trade 8 (1999), S. 1 (41 f.), der die Ansicht vertritt, daß das Verfahren angesichts des Appellate Body-Verfahrens unnötig und zu zeitaufwendig sei. 155

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in dem es feststellt, ob die vom Antragsteller angegriffenen Maßnahmen oder Rechtsakte des Antragsgegners mit dem WTO-Recht vereinbar sind. Gegebenenfalls empfiehlt das Panel dem DSB, von dem betreffenden Mitglied zu verlangen, die rechtswidrigen Maßnahmen – in der Regel handelt es sich dabei um Gesetze oder Verwaltungsentscheidungen – in Einklang mit dem WTO-Recht zu bringen.159 Der Bericht des Panels entfaltet keine unmittelbare Rechtswirkung, sondern bedarf zunächst der Annahme durch den DSB.160 Ähnlich wie bereits bei der Einsetzung des Panels erfolgt diese Annahme quasi automatisch, da sie sich gemäß Art. 16.4 DSU nur verhindern läßt, wenn alle Mitglieder des DSB einschließlich der obsiegenden Partei gegen die Annahme des Berichts votieren.161 Sowohl die obsiegende als auch die unterlegene Partei hat nach Art. 16.4 DSU die Möglichkeit, binnen 60 Tagen Rechtsmittel gegen den Bericht des Panels einzulegen und damit die Annahme dieses Berichts vorläufig zu verhindern.162 Zuständig für die Behandlung des Rechtsmittels ist der Appellate Body. Bei ihm handelt es sich um siebenköpfiges Gremium, dessen Mitglieder auf vier Jahre gewählt sind. Jeweils drei Mitglieder befassen sich mit einem Fall. Vor dem Appellate Body findet keine vollständige Überprüfung der Sach- und Rechtslage statt. Vielmehr beschränkt sich die Zuständigkeit dieses Gremiums auf eine Überprüfung des Panelberichts auf Rechtsfehler und auf Fehler bei der Auslegung des WTO-Rechts (Art. 17.6 DSU). Das DSU sieht vor, daß der Appellate Body seine Arbeit binnen maximal 90 Tagen beenden muß (Art. 17.5 DSU). Wie das Panel beendet auch der Appellate Body seine Arbeit mit einem Bericht, in dem er die rechtlichen Feststellungen des Panels entweder bestätigt, abändert oder aufhebt (Art. 17.12 DSU) und dem DSB empfiehlt, von dem betreffenden Mitglied zu verlangen, seine Maßnahmen in Einklang mit dem WTO-Recht zu bringen. Soweit nicht alle Mitglieder des DSB gegen die Annahme des Bericht des Appellate Body stimmen, wird dieser binnen 30 Tagen bedingungslos angenommen und wird damit für die Streitparteien verbindlich (Art. 17.14 DSU). Das DSU sieht für die Durchführung des streitigen Verfahrens vor Panel und Appellate Body einen engen Zeitrahmen vor. Das Panelverfahren darf gemäß Art. 12.9 DSU regelmäßig nicht länger als sechs Monate 159

Stoll, EPIL IV (2001), S. 1520 (1522). Stoll/Schorkopf, Rdnr. 57. 161 Petersmann, S. 186. 162 Zum Verfahren vor dem Appellate Body vgl. sogleich ausführlich unten im Text II. 4. 160

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dauern.163 Nur in vom Panel zu begründenden Ausnahmen darf dieser Zeitraum auf neun Monate ausgedehnt werden, was insbesondere in Fällen, die eine umfangreiche Sachverhaltsaufklärung erfordern, nötig sein kann. Für das sich gegebenenfalls anschließende Verfahren vor dem Appellate Body bestimmt Art. 17.5 DSU eine regelmäßige Verfahrensdauer von 60 Tagen, die der Appellate Body in Ausnahmefällen um 30 auf 90 Tage verlängern darf. Art. 20 DSU, der die Zeiträume zwischen Fertigstellung eines Berichtes und dessen Annahme im DSB sowie weitere Karenzzeiten berücksichtigt,164 schreibt vor, daß ein Streitbeilegungsverfahren, bei dem sowohl das Panel als auch der Appellate Body von der Möglichkeit der Verlängerung der jeweiligen Verfahrensdauer Gebrauch gemacht haben, maximal 15 Monate dauern darf. Weder die Berichte der Panels noch die des Appellate Body enthalten genaue Anweisungen, auf welche Weise ein Mitglied, dessen Maßnahmen gegen WTO-Recht verstoßen, deren Rechtmäßigkeit herzustellen hat. Die Gremien empfehlen entsprechend der Vorgabe von Art. 19.1 DSU dem DSB, das unterliegende Mitglied aufzufordern, die rechtswidrige Maßnahme in Einklang mit den verletzten Vorschriften zu bringen.165 Mit der Annahme der Berichte durch den DSB wird diese Empfehlung für das betreffende Mitglied verbindlich. Die Entscheidung darüber, wie die Empfehlung des Panels oder des Appellate Body umzusetzen und die Rechtsverletzung zu beseitigen ist, stellt das DSU und damit auch der DSB in das Ermessen des unterlegenen Mitglieds.166 Gemäß Art. 21.1 DSU ist dieses zur umgehenden Beachtung der Empfehlungen und Entscheidungen des DSB verpflichtet. Um dem DSB die Möglichkeit zu geben zu kontrollieren, ob das „verurteilte“ Mitglied die Empfehlungen tatsächlich beachtet, ist dieses binnen 30 Tagen nach Annahme des Berichts des Panels oder des Appellate Body dazu verpflichtet, den DSB darüber zu unterrichten, wie es die in den 163

Absatz 11 des in Anhang 3 zum DSU geregelten Arbeitsverfahrens der Panels schlägt einen detaillierten Zeitplan für den Ablauf des Panelverfahrens vor. 164 Gemäß Art. 16.1 DSU darf ein Panelbericht frühestens 20 Tage nach seiner Verteilung an die Mitglieder angenommen werden; Art. 16.4 DSU schreibt vor, daß der Panelbericht maximal 60 Tage nach seiner Verteilung angenommen werden muß; gemäß Art. 17.14 DSU muß der Appellate Body-Bericht binnen 30 Tagen angenommen werden. 165 Die meist anzutreffende Formulierung lautet: „The Panel recommends that the Dispute Settlement Body request (Name des Mitglieds) to bring its measures into conformity with its obligations under the WTO Agreement.“ Die Empfehlungen des Appellate Body sind ähnlich formuliert; zur Praxis von Panels und Appellate Body im einzelenen Lichtenbaum, Mich. J. Int’l. L. 19 (1998), S. 1195 (1254). 166 Art. 19.2 Satz 2 DSU sieht lediglich die Möglichkeit vor, daß das Panel oder der Appellate Body Möglichkeiten vorschlagen, wie das betreffende Mitglied die Empfehlung umsetzen könnte.

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Berichten enthaltenen Empfehlungen umzusetzen gedenkt (Art. 21.3 DSU).167 Für die Umsetzung der Empfehlung stehen dem betreffenden Mitglied nach Art. 21.3 DSU maximal 15 Monate zur Verfügung. Wird keine Einigung über den genauen Zeitraum erzielt, so entscheidet darüber ein Schiedsverfahren.168 Entstehen nach Ablauf der Umsetzungsfrist Meinungsverschiedenheiten zwischen den ursprünglichen Streitparteien darüber, ob die zur Umsetzung der ursprünglichen Entscheidung getroffenen Maßnahmen im Einklang mit dem WTO-Recht stehen, so sieht das DSU zur Entscheidung dieser Frage wiederum ein Verfahren vor, das nach Möglichkeit vom ursprünglichen Panel verhandelt werden soll (Art. 21.5 DSU).169 Setzt das Mitglied, dessen Maßnahmen für rechtswidrig befunden wurden, die Empfehlungen von Panel oder Appellate Body nicht oder nicht rechtzeitig um, dann hat das ursprünglich beschwerdeführende Mitglied gemäß Art. 22.1 DSU die Möglichkeit, bis zur Umsetzung der Empfehlungen vorübergehend eine Entschädigung zu verlangen oder Zugeständnisse auszusetzen. Dabei geht Art. 22 DSU davon aus, daß die beiden Streitparteien zunächst über eine Entschädigung verhandeln. Sofern über die Entschädigung Einigkeit erzielt wird, muß diese mit den multilateralen Übereinkommen vereinbar sein.170 Gelingt den Parteien keine Einigung über eine Entschädigung, dann kann der DSB der beschwerdeführenden Partei auf Antrag gestatten, die Anwendung von Zugeständnissen gegenüber der unterlegenen Partei auszusetzen. Dabei gilt wiederum, daß der Antrag der beschwerdeführenden Partei genehmigt wird, wenn nicht alle Mitglieder des DSB gegen diesen Antrag votieren (Art. 22.6 DSU). Art. 22.3 DSU enthält ein ausgefeiltes System zur Bestimmung der auszusetzenden Zugeständnisse.171 Die beschwerdeführende Partei soll zunächst Zugeständnisse aussetzen, die auf demselben Sektor liegen wie der von Panel oder Appellate Body festgestellte Verstoß. Wurde also beispielsweise ein Verstoß auf dem Gebiet des Handels mit Computerzubehör festgestellt, so sollen die Zugeständnisse auch auf diesem Gebiet ausgesetzt werden. Soweit dies jedoch nicht wirkungsvoll genug ist, darf die be167

Stoll/Schorkopf, Rdnr. 490. Dazu näher Stoll/Steinmann, Max-Planck Yearbook of United Nations Law 3 (1999), S. 407 ff. 169 Aus der knappen Formulierung von Art. 21.5 DSU resultieren eine Reihe von Schwierigkeiten bei der Anwendung der Vorschrift; dazu Leier, EuZW 1999, S. 204 (211). Eine ausführliche Analyse des Verfahrens findet sich bei Kearns/Charnovitz, JIEL 5 (2002), S. 331 ff. 170 Vgl. dazu Emmerich-Fritsche, in: Schachtschneider, S. 123 (196). 171 Vgl. dazu Jürgensen, RIW 2000, S. 577 (580 ff.). 168

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schwerdeführende Partei zunächst sektorübergreifend Zugeständnisse aussetzen und gegebenenfalls sogar die Grenzen eines Abkommens überschreiten (cross retaliation). Erweist sich also das Aussetzen von Zugeständnissen im Bereich des Handels mit Computerzubehör als nicht wirksam, kann die beschwerdeführende Partei zunächst Zugeständnisse etwa im Bereich des Handels mit Luxusartikeln aussetzen; anschließend ist es ihr sogar erlaubt, Zugeständnisse im Bereich eines anderen Abkommens, etwa des TRIPS oder des GATS auszusetzen. Dabei muß der Umfang der Aussetzung der Zugeständnisse im Umfang stets dem erlittenen Schaden entsprechen (Art. 22.4 DSU). Die von der Aussetzung der Zugeständnisse betroffene Partei, also der ursprüngliche Antragsgegner, kann gegen die Aussetzung der Zugeständnisse nach Art. 22.6 DSU ein Schiedsverfahren anstrengen. Dort wird sowohl überprüft, ob der Umfang der Aussetzung der Zugeständnisse von der ursprünglich beschwerdeführenden Partei angemessen festgesetzt wurde, als auch ob die sektoren- oder abkommenübergreifende Aussetzung der Zugeständnisse gerechtfertigt war.172 Dieser ausgefeilte Sanktionsmechanismus, der eine wesentliche Neuerung im Vergleich zum Verfahren unter dem GATT 1947 darstellt, darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, daß das WTO-Mitglied, dessen Handlung für rechtswidrig befunden wurde, keine Wahlmöglichkeit zwischen Umsetzung des Panel- oder Appellate Body-Berichts auf der einen und dauerhafte Inkaufnahme von Sanktionen auf der anderen Seite hat. Das „verurteilte“ Mitglied ist zur Umsetzung der Empfehlungen und Entscheidungen des DSB, mithin also der angenommenen Berichte, verpflichtet.173 Entschädigung und die Aussetzung von Zugeständnissen können allenfalls vorübergehende Gegenmaßnahmen zur Erzwingung der Rechtsbefolgung sein. II. Die Stellung des Appellate Body im Streitbeilegungsverfahren Die Einrichtung einer zweiten Instanz zur Überprüfung der Berichte der Panels gehört neben der Einführung des negativen Konsenses im Streitbei172

Bislang ungeklärt ist das Verhältnis der in Art. 21.5 DSU und Art. 22.6 DSU vorgesehenen Verfahren und dabei insbesondere die Frage, ob ein aufgrund Art. 22.6 DSU eingesetztes Panel auch die Frage prüfen muß, ob noch ein Verstoß gegen Bestimmungen des WTO-Rechts vorliegt. Der Appellate Body hat darauf hingewiesen, daß diese Frage von den WTO-Mitgliedern selbst entschieden werden müsse; vgl. dazu im Überblick Ohlhoff, EuZW 2002, S. 549 (559) sowie ausführlich Jürgensen, RIW 2000, S. 577 (578 ff.); Valles/McGivern, JWT 34/2 (2000), S. 63 ff. 173 Vgl. Hahn, in: Geiger, S. 220; Jackson, World Trading System, S. 126; ders., in: ders., Jurisprudence, S. 162 (166 ff.); zustimmend Stoll/Schorkopf, Rdnr. 482; vgl. auch Valles/McGivern, JWT 34/2 (2000), S. 63 (64 f.).

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legungsgremium (DSB) zu den wohl bedeutsamsten Neuerungen des Streitbeilegungsverfahrens im Rahmen der Uruguay-Runde.174 Beide Neuerungen bewirkten eine starke Vergerichtlichung und damit einhergehend Entpolitisierung des Streitbeilegungsverfahrens gegenüber dem unter dem GATT 1947 üblichen Verfahren.175 Dieses war in erster Linie darauf ausgerichtet, Streitigkeiten der Vertragsparteien im Wege eines politisch-diplomatischen Prozesses zu lösen, in den ein gerichtsähnliches Verfahren zwar eingebettet war, in dem jedoch die politischen Erwägungen der VERTRAGSPARTEIEN den letzten Ausschlag gaben.176 1. Hintergründe und Motive der Einrichtung des Appellate Body Die Idee, das bis dato einzügige Panel-Verfahren um eine zweite Instanz zu erweitern, wurde erstmals im Herbst 1989 nach dem sogenannten MidTerm Review in die Verhandlungen um die Reform des Streitbeilegungssystems eingebracht.177 Während der September-Sitzung der für die Reform des Streitbeilegungssystems zuständigen Verhandlungsgruppe 13 (Negotiating Group on Dispute Settlement)178 wurde von einer Delegation der Vorschlag geäußert, Panelberichte in einer Berufungsinstanz einer Überprüfung zu unterziehen.179 Im Frühjahr und Sommer 1990 wurde dieser Vorschlag von der EG, den Vereinigten Staaten und weiteren Verhandlungsdelegationen positiv aufgenommen und inhaltlich weiterentwickelt. 174

Kohona, JWT 28/2 (1994), S. 23 (49); Leier, EuZW 1999, S. 204 (211). Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1211). 176 Ladreit de Lacharrière, in: Dunkel, S. 119 (120); Long, S. 87. 177 Im Dezember 1988 fand in Montreal ein Treffen der Handelsminister der Mitglieder des GATT 1947 statt, das die Halbzeit der Uruguay-Runde markieren sollte (vgl. Petersmann, GYIL 32 [1989], S. 280 [289 ff.]). Die dort anwesenden Minister genehmigten die Improvements of GATT Dispute Settlement System (BISD 36S/ 61 ff.), die während der ersten beiden Jahre der Uruguay-Runde verhandelt worden waren. Im April 1989 entschieden die VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947, diese Streitbeilegungsregeln vorläufig ab dem 1. Mai 1989 anzuwenden (vgl. die Analyse bei Petersmann, GYIL 32 [1989], S. 280 [299–306]). Bereits diese Regeln enthielten Aspekte des jetzigen DSU, wobei allerdings die umstrittensten Punkte für die zweite Hälfte der Verhandlungen aufgespart wurden. 178 Die Verhandlungen der Uruguay-Runde wurden in insgesamt 15 Verhandlungsgruppen durchgeführt, die sich mit den verschiedenen auf der Verhandlungsagenda stehenden Themen beschäftigten; vgl. Beise, S. 68 f. Der Negotiating Group on Dispute Settlement stand der Botschafter Uruguays beim GATT Julio A. Lacarte-Muro als Chairman vor, der später zu den ersten sieben Mitgliedern des Appellate Body gehörte. 179 Meeting of 28 September 1989, Note by the Secreteriat (MTN.GNG/NG13/ 16; 13.11.1989), para. 21. Die nachfolgende Darstellung orientiert sich an der Darstellung bei Stewart, Vol. II, S. 2767 f. 175

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Nach Vorstellung der EG sollten Vertragsparteien, die der Auffassung waren, daß ein Panelbericht fehlerhaft oder unvollständig wäre, ein Überprüfungsverfahren zur Verfügung stehen. Zur Überprüfung solcher Panelberichte sollte ein Gremium eingerichtet werden, dem vom GATT-Rat ausgewählte Experten angehören sollten. Diese wiederum sollten von Personal unterstützt werden, das vom GATT-Sekretariat unabhängig sein sollte. Die Vereinigten Staaten schlugen vor, einen Überprüfungsmechanismus vorzusehen für außergewöhnliche Fälle, in denen ein Panelbericht rechtliche Interpretationen enthält, die von einer der Streitparteien formell in Frage gestellt werden. Der Überprüfungsmechanismus sollte entweder automatisch oder auf ausdrückliche Genehmigung des GATT-Rates in Gang gesetzt werden können. Allerdings sollte dieses Verfahren nur für bestimmte Fragen zur Verfügung stehen und nicht die gesamte Angelegenheit von neuem aufrollen. Dem Vorschlag Kanadas zufolge sollte der Überprüfungsmechanismus zur Verfügung stehen, wenn eine der Streitparteien der Auffassung war, daß dem Panel grundlegende Auslegungsfehler unterlaufen wären. Bezüglich des Verfahrens schlug Kanada vor, daß die betreffende Partei zunächst eine Überprüfung des Panelberichts durch den – hier erstmals so bezeichneten – „Appellate Body“ beantragen sollte, der dann darüber entscheiden sollte, ob er eine Überprüfung durchführen würde. Im Fall einer positiven Entscheidung würde der Appellate Body anschließend ein Verfahren durchführen, in dem er entweder die Entscheidung des Panels aufrecht erhalten würde oder durch eine eigene Entscheidung ersetzen würde. Die Entscheidung des Appellate Body sollte endgültig sein und vom GATT-Rat in seiner darauffolgenden Sitzung beraten werden. Mexiko vertrat die Ansicht, daß ein Überprüfungsmechanismus einen geeigneten Schutz gegen Fehlinterpretationen der GATT-Verpflichtungen bieten könnte. Der mexikanische Vorschlag sah vor, daß das Überprüfungsverfahren maximal drei Monate dauern dürfte, binnen derer das zuständige Gremium einen Bericht über die Richtigkeit des Panelberichts erstellen müßte. Vor Beginn des Überprüfungsverfahrens sollten sich die Streitparteien dazu verpflichten müssen, die Entscheidung des Überprüfungsgremiums zu befolgen. Aufgrund dieser Unterwerfung sollte die Entscheidung dieses Gremiums anschließend im GATT-Rat automatisch angenommen werden. Bezüglich der Zusammensetzung schlug Mexiko vor, daß dem Gremium fünf Mitglieder angehören sollten, von denen zwei der Rechtsabteilung des Sekretariats entstammen sollten. Diesen Stimmen, die die Einführung eines Überprüfungsmechanismus grundsätzlich befürworteten, standen auch einige kritische Stimmen gegenüber. Insbesondere befürchteten einige Delegationen, daß ein Überprüfungs-

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verfahren das Streitbeilegungsverfahren weiter verzögern und verkomplizieren würde. Im Ergebnis konnten diese kritischen Stimmen jedoch vom Nutzen eines Überwachungsmechanismus’ überzeugt werden. Nachdem die Verhandlungen über die Reform des Streitbeilegungsverfahrens im Spätherbst 1990 – dem projektierten Ende der Uruguay Runde – in wesentlichen Bereichen weitgehend zum Abschluß gekommen waren,180 entwarf der Vorsitzende der Verhandlungsgruppe mit Unterstützung des GATT-Sekretariats181 auf Grundlage der bis zu diesem Zeitpunkt erzielten 180 Keine Einigung hatte in den politisch brisanten Bereichen erzielt werden können; dazu zählten die Frage des Konsenserfordernisses im Bereich der Streitbeilegung (Einsetzung der Panels, Annahme der Berichte, Ermächtigung zur Einleitung von Gegenmaßnahmen), die Frage der Exklusivität des Streitbeilegungssystems zulasten unilateraler Maßnahmen und die Frage der sogenannten non-violation complaints; vgl. Stewart, Vol. II, S. 2783. 181 Das GATT-Sekretariat hatte die Verhandlungspositionen in Dokument MTN.GNG/NG13/W/45 zusammengefaßt: Appellate Review 1. Standing Appellate Body (a) An independent standing appellate body shall be created within GATT. The body shall hear appeals from panel cases. The appellate body shall be composed of [3 or 5 members and 4 alternates who shall replace absent members in rotation, as required.] [a pool of 7 members, 3 of whom shall serve on any one case. Members of the pool shall serve in rotation.] (b) Members [and alternates] shall be chosen by the Council to serve for a threeyear term. Vacancies shall be filled by the Council as they arise. (c) Members [and alternates] shall be persons of integrity, objectivity and recognized authority, with demonstrated expertise in GATT matters. They shall be unaffiliated with any government. The membership of the appellate body shall be representative of differing backgrounds in law and international trade. Members [and alternates] shall be available at all times and on short notice, and shall stay abreast of GATT activities through information provided by the Secretariat. They shall not participate in the consideration of any disputes that would create a direct or indirect conflict of interest. (d) The proceedings shall not exceed [60] days from the date a party announces its decision to appeal to the date the appellate body issues its decision. (e) Technical support shall be provided to the appellate body by a small independent team. 2. Procedures for Appellate Review (a) Working procedures shall be drafted by the appellate body [and approved by the Council]. The proceedings of the appellate body shall be confidential. No ex parte communications are permitted between the appellate body and any person concerning matters under review. (b) Only parties to the dispute, not third parties, may appeal a panel decision or participate in the appellate review. (c) An appeal shall be limited to the legal issues raised [in the course of the panel proceedings or] in the panel report. (d) [A party which has not previously raised objections to the panel’s findings during the panel’s interim review procedure shall not have recourse to an appeal.2]

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Ergebnisse ein vorläufiges Streitbeilegungsabkommen, das er dem übergeordneten Verhandlungskomitee (Trade Negotiations Committee; TNC)182 vorlegte, das für die Koordinierung der einzelnen Verhandlungsgruppen zuständig war.183 Dieses vorläufige Abkommen sah einen Überprüfungsmechanismus vor, mit dem die Vertragsparteien einen Appellate Body betrauen würden, dem sieben Mitglieder für die Dauer von jeweils vier Jahren angehören sollten.184 Als Understanding on the Interpretation and Application of Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade wurde dieses vorläufige Streitbeilegungsabkommen nahezu unverändert übernommen und fand Eingang in den Draft Final Act Embodying the Results of the Uruguay Round of Multilateral Trade Negotiations. Dieser Draft Final Act wurde während des Brüsseler Ministertreffens, das im Dezember 1990 das Ende der Uruguay Runde markieren sollte, veröffentlicht.185 Buchstabe H des Understanding on the Interpretation and Application of Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade186 war mit Appellate Review überschrieben und enthielt drei Absätze, die in insgesamt zwölf Unterabsätze unterteilt waren. Die in Buchstabe H enthaltenen Regeln waren inhaltlich nahezu identisch mit denen des späteren Art. 17 DSU. Darin wurde ein Appellate Body vorgesehen, dessen Aufgabe die Überprüfung von Panelberichten war. Der Umfang des Überprüfungsverfahrens, das (e) [The appealing party or parties shall commit in advance to accept the decision of an appellate review unconditionally.] (f) The appellate body shall address each of the issues raised by the appealing party and may uphold, modify or reverse the legal findings of the panel. 3. [Adoption/Acceptance] Option 1: An appellate decision shall be accepted as the final disposition of the case unless the Council decides otherwise within (x) days. This acceptance procedure is without prejudice to the right of contracting parties to express their views on an appellate report. Option 2: An appellate decision shall be accepted as the final disposition of the case unless the Council decides not to accept the appellate decision within (x) days. This acceptance procedure is without prejudice to the right of contracting parties to express their views on an appellate report. Option 3: Decisions of the appellate body shall be final and unconditionally accepted. This acceptance procedure is without prejudice to the right of contracting parties to express their views on an appellate report. Option 4: Appellate decisions shall be considered and adopted in accordance with the traditional consensus procedures of the Council. 182 Vgl. dazu wiederum Beise, S. 68. 183 Stewart, Vol. II, S. 2779. 184 Stewart, Vol. II, S. 2781. 185 Stewart, Vol. II, S. 2783. 186 Abgedruckt bei Stewart, Vol. III, S. 353–369.

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nur den Parteien des ursprünglichen Rechtsstreits offenstand, sollte auf Rechtsfragen und Fragen der Auslegung beschränkt sein, mithin die Ermittlung von Tatsachen nicht umfassen. Der Appellate Body sollte sieben auf vier Jahre ernannte Mitglieder haben, von denen je drei mit einem Fall befaßt sein sollten. Die Mitglieder des Appellate Body sollten regierungsunabhängige Personen von hohem Ansehen sein, die Erfahrungen auf dem Gebiet des Rechts, im internationalen Handel und in Angelegenheit des GATT besaßen. Das vorläufige Scheitern der Uruguay-Runde im Verlauf des Brüsseler Ministertreffens wegen unüberbrückbarer Gegensätze der Verhandlungspartner im Agrarsektor187 bedeutete auch, daß das Understanding on the Interpretation and Application of Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade nur ein Entwurf blieb. Im darauffolgenden Februar 1991 legte der Generaldirektor des GATT Arthur Dunkel einen Plan vor, wie die Wiederaufnahme der Verhandlungen über den Abschluß der Uruguay Runde gelingen könnten.188 Dieser Plan, den das Trade Negotiations Committee annahm, wies die Verhandlungen über die Reform des Streitbeilegungssystems nunmehr der neu zu schaffenden Verhandlungsgruppe über Institutionen (Negotiating Group on Institutions) zu, der wiederum Botschafter Lacarte-Muro vorstand.189 Im Oktober 1991 wurden die Verhandlungen über die Reform des Streitbeilegungssystems wieder aufgenommen, die nach den Plänen von Generaldirektor Dunkel bis Dezember 1991 abgeschlossen sein sollten. Im November 1991 konnte Dunkel dem Trade Negotiations Committee berichten, daß die Verhandlungsgruppe über Institutionen die Verhandlungen über das Streitbeilegungsverfahren im wesentlichen abgeschlossen hätte. Nur einige umstrittene Positionen waren noch ungeklärt,190 während über die Einrichtung eines Appellate Body unverändert Einigkeit herrschte. Um den Verhandlungen der Uruguay-Runde zu einem erfolgreichen Abschluß zu verhelfen, veröffentlichte Dunkel im Dezember 1991 einen neuerlichen Draft Final Act Embodying the Results of the Uruguay Round of Multilateral Trade Negotiations, den sogenannten Dunkel Draft, der die bis 187

Vgl. Beise, S. 69. Vgl. zum folgenden wiederum bei Stewart, Vol. II, S. 2787 ff. 189 Stewart, Vol. II, S. 2787. 190 Ungeklärt war die Frage des erforderlichen Konsenses bei wichtigen Verfahrensentscheidungen, die Frage, ob Entwicklungsländer im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens eine Sonderbehandlung erfahren sollten, das Verfahren für non-violation complaints sowie die Frage der Koordination und Harmonisierung der verschiedenen Streitbeilegungsverfahren im GATT 1947 und in den während der Uruguay-Runde weiterentwickelten Übereinkommen der Tokio-Runde; vgl. Stewart, Vol. II, S. 2793. 188

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zu diesem Zeitpunkt erzielten Verhandlungsergebnisse zusammenfaßte, gleichzeitig aber im Text der einzelnen Abkommen die noch offenen und streitigen Punkte kenntlich machte. Im Bereich der Streitbeilegung enthielt der Dunkel Draft zum einen ein Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes under Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade191 und zum anderen einige mit Elements of an Integrated Dispute Settlement System192 überschriebene Vorschriften, die ein für alle materiellen Bereiche der Uruguay-Runde geltendes Streitbeilegungsverfahren vorsahen und das Understanding ergänzten. Im Hinblick auf die besonders umstrittene Frage des erforderlichen Konsenses aller Vertragsparteien bei bestimmten Verfahrensentscheidungen sah das Understanding das automatische Zustandekommen dieser Entscheidungen vor, sofern die Vertragsparteien nicht übereinstimmend etwas anderes entschieden. Art. 15 des Understanding enthielt in 14 Absätzen Vorschriften über einen Standing Appellate Body. Mit drei Ausnahmen waren diese Vorschriften identisch mit dem späteren Art 17 DSU.193 Bis zum endgültigen erfolgreichen Ende der Uruguay-Runde, das durch einen Kompromiß zwischen der EG und den USA im Agrarbereich ermöglicht wurde,194 wurden das Understanding und die Elements konsolidiert und in Detailfragen modifiziert.195 Schließlich fanden die Vorschriften unter dem Titel Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes oder kurz Dispute Settlement Understanding Eingang in Anhang 2 zum WTO-Übereinkommen. Die Motive für die sich seit Frühjahr 1990 abzeichnende Einrichtung einer Instanz zur Überprüfung fehlerhafter Panelberichte werden bei näherer Betrachtung des Zustands des GATT 1947-Streitbeilegungsverfahrens und der Zielrichtung der mit der Uruguay-Runde angestrebten Reformen deut191 Abgedruckt bei Stewart, Vol. III, S. 753–774; vgl. die umfassende Analyse des Understanding bei Montañà i Mora, Col. J. Transnat’l. L. 31 (1991), S. 103– 180, insbesondere S. 141–158. 192 Abgedruckt bei Stewart, Vol. III, S. 775–780. 193 In Art. 15.1 fehlte die in Art. 17.1 Satz 4 DSU enthaltene Regelung, daß das Verfahren für die Rotation der Appellate Body Mitglieder in den Arbeitsregelungen des Gremiums festgelegt wird; Art. 17.8 DSU sieht eine gegenüber Art. 15.8 des Understanding leicht modifizierte Regelung für den Aufwendungsersatz der Mitglieder des Appellate Body vor, in dessen Genuß nach den Vorstellungen des Understanding nur kommen sollte, wer nicht in Genf wohnhaft gewesen wäre; schließlich erweitert Art. 17.10 DSU Art. 15.10 des Understanding um einen Satz, der klarstellt, daß die Berichte des Appellate Body in Abwesenheit der Streitparteien und im Lichte der vorgelegten Informationen und abgegebenen Stellungnahmen ausgearbeitet werden. 194 Dazu wiederum Beise, S. 70. 195 Vgl. Stewart, Vol. II, S. 2804 ff.

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lich. Wie bereits mehrfach angeschnitten, lag eine wesentliche Schwäche des GATT 1947-Streitbeilegungsverfahrens darin, daß für alle wesentlichen Entscheidungen – Einsetzung des Panels, Annahme des Panelberichts – der Konsens aller Vertragsparteien, einschließlich der beiden Streitparteien, erforderlich war. Dies bewirkte im Bereich des GATT 1947 vielfach eine erhebliche Verzögerung des Verfahrens.196 Im Bereich der politisch sensiblen Anti-Dumping- und Subventionsabkommen der Tokio-Runde blieb einer ganzen Zahl von Panelberichten die Annahme vollends versagt, weil die unterlegene Partei ihre Zustimmung nicht nur vorübergehend, sondern endgültig verweigerte.197 Eine Zielsetzung der Reformen der Uruguay-Runde bestand in einer Entpolitisierung der Streitbeilegung zugunsten einer stärkeren Verrechtlichung.198 Zunächst von den Vereinigten Staaten favorisiert, fand diese Idee im Verlauf der Verhandlungen auch bei den übrigen großen Handelsnationen und der EG zunehmend Zustimmung.199 Im Bereich des Konsenserfordernisses wurden auf dem Wege zu einer stärkeren Verrechtlichung vor allem drei Varianten diskutiert. Teilweise wurde vorgeschlagen, wichtige Entscheidungen ohne die Streitparteien (Konsens minus zwei) oder jedenfalls ohne den Antragsgegner (Konsens minus eins) zu treffen.200 Wie gesehen, hat sich schließlich die noch radikalere dritte Variante durchgesetzt, wonach Verfahrensentscheidungen nur im Einvernehmen aller WTO-Mitglieder blockiert werden können (negativer Konsens). Die damit bewirkte quasi-automatische Annahme der Panelberichte hatte zwei Konsequenzen. Zum einen verloren die Streitparteien ihren bis dahin vorhandenen politischen Einfluß auf den Ausgang des Verfahrens. Zum an196 Davey, Fordham Int’l. L. J. 11 (1987), S. 51 (83 ff.); Hudec, Cornell Int’l L. J. 13 (1980), S. 145 (171); vgl. auch die Übersicht bei Petersmann, S. 248 ff., die alle Streitbeilegungsverfahren des GATT 1947 und der Abkommen der TokioRunde auflistet und dabei alle relevanten Daten von Anfang der Konsultationen zwischen den Streitparteien bis zur Annahme des Berichts angibt; bereits die Improvements von 1988/89 enthielten unter Buchstabe G.3 im Anschluß an die erneute Festschreibung des Konsenserfordernisses die Aufforderung an die Streitparteien, Verzögerungen des Streitbeilegungsverfahrens zu vermeiden (However, the delaying of the process of dispute settlement shall be avoided). Mehr als eine moralische Aufforderung war damit jedoch nach dem Verständnis der VERTRAGSPARTEIEN wohl nicht gemeint; vgl. Canal-Forgues/Ostrihansky, JWT 24/2 (1990), S. 67 (78). 197 Petersmann, S. 90 f. 198 Kohona, JWT 28/2 (1994), S. 23 (24). 199 Beise, S. 82; ausführlich zum Wechsel der Verhandlungsposition der EG auf dem Gebiet der Streitbeilegung im Verlauf der Uruguay-Runde Montañà i Mora, Col. J. Transnat’l. L. 31 (1991), S. 103 (133). 200 Vgl. Petersmann, in: Oppermann/Molsberger, S. 109 (114); vgl. auch Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (269 f.).

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deren wurde der Panelbericht nicht mehr durch die Annahmeentscheidung der VERTRAGSPARTEIEN legitimiert,201 was die Gefahr einer verringerten Akzeptanz der Berichte in sich barg.202 Ihren geschwundenen Einfluß und die fehlende Legitimationswirkung wollten die Verhandlungspartner zumindest zum Teil dadurch kompensiert wissen, daß die Entscheidungen der Panels fortan einer rechtlichen Überprüfung unterzogen werden konnten.203 Diese Überprüfungsmöglichkeit sollte die Streitparteien vor Fehlentscheidungen schützen.204 Gleichzeitig sollte an die Stelle der legitimierenden Wirkung der politischen Entscheidung die legitimierende Wirkung des Rechts treten.205 Dieser zweifache Kompensationsgedanke führte zur Einrichtung des Appellate Body.206 2. Aufgabe und Bedeutung des Appellate Body Art. 17.1 Satz 2 DSU bestimmt, daß die Aufgabe des Appellate Body darin besteht, sich mit appeals, was die amtliche deutsche Fassung mit „Berufungen“ übersetzt, zu befassen. Der Begriff appeals wird in Art. 17.6 DSU näher definiert. Nach dieser Vorschrift beschränkt sich das Rechtsmittel auf die im Panelbericht behandelten Rechtsfragen und auf die Rechtsauslegung durch das Panel. Nach dieser Vorschrift kommt es dem Appellate Body also zu, die Panelberichte daraufhin zu überprüfen, ob die Panels die auf einen Fall anwendbaren Rechtsvorschriften in zutreffender Weise ausgelegt und anschließend richtig auf den zuvor ermittelten Sachverhalt angewendet haben. Mit dieser abschließend zu verstehenden Bestimmung des Aufgabenbereichs des Appellate Body in Art. 17.6 DSU wird zugleich eine neuerliche Tatsachenermittlung während des Überprüfungsverfahrens ausgeschlossen.207 Dies bedeutet, daß es sich nach deutschem Sprachgebrauch bei einem appeal um das Rechtsmittel der Revision und nicht um das Rechtsmittel der Berufung handelt.208 Die in der amtlichen deutschen Fassung gewählte Bezeichnung „Berufung“ ist insofern unzutreffend. 201 Vgl. dazu Beise, S. 82; Howse, in: Weiler, S. 35 (37); Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (269 f.). 202 Dazu Maki, Minn. J. Global Trade 9 (2000), S. 343 (347 f.). 203 Gabler, S. 55; Weiler, JWT 35/2 (2001), S. 191 (199). 204 Hudec, Minn. J. Global Trade, 8 (1999), S. 1 (27); McRae, in: Cameron/ Campbell, S. 98 (100); Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1216). 205 Cameron/Gray, ICLQ 50 (2001), S. 248 (250). 206 Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1216). 207 Sittmann, RIW 1997, S. 749 (751). 208 So inzwischen auch die überwiegende Ansicht im neueren Schrifttum Gabler, S. 233; Meng, in: Müller-Graff, S. 63 (74); Stoll/Schorkopf, Rdnr. 441.

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Die Abgrenzung zwischen Rechts- und Tatsachenfragen wird damit vielfach zum entscheidenden Kriterium dafür, ob eine Panelentscheidung oder ein bestimmter Gesichtspunkt daraus vom Appellate Body überprüft werden darf.209 Im Fall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)210 hat der Appellate Body zur Differenzierung zwischen Rechts- und Tatsachenfrage wie folgt Stellung genommen: „132. Under Article 17.6 of the DSU, appellate review is limited to appeals on questions of law covered in a panel report and legal interpretations developed by the panel. Findings of fact, as distinguished from legal interpretations or legal conclusions, by a panel are, in principle, not subject to review by the Appellate Body. The determination of whether or not a certain event did occur in time and space is typically a question of fact; (. . .). Determination of the credibility and weight properly to be ascribed to (that is, the appreciation of) a given piece of evidence is part and parcel of the fact finding process and is, in principle, left to the discretion of a panel as the trier of facts. The consistency or inconsistency of a given fact or set of facts with the requirements of a given treaty provision is, however, a legal characterization issue. It is a legal question. Whether or not a panel has made an objective assessment of the facts before it, as required by Article 11 of the DSU, is also a legal question which, if properly raised on appeal, would fall within the scope of appellate review.“

Dieser Passage zufolge fällt die Ermittlung der entscheidungsrelevanten Tatsachen ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich des Panels. Dieser Prozeß umfaßt sowohl das Sammeln von Tatsachen als auch das Bewerten und Gewichten von Beweismitteln. Demgegenüber fällt die Beurteilung, ob ein bestimmter Sachverhalt die Anforderungen einer vertraglichen Bestimmung erfüllt oder nicht, in die Zuständigkeit des Appellate Body, denn es handelt sich dabei um eine Rechtsfrage.211 Eine gewisse Aufweichung dieser strikten Trennung zwischen Rechts- und Tatsachenfragen bewirkt allenfalls Art. 11 DSU. Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind die Panels zu einer objektiven Beurteilung des Sachverhalts verpflichtet, was bedeutet, daß sie zu einer umfänglichen Tatsachenermittlung und Beweiswürdigung verpflichtet sind. Fehler und Unterlassungen in diesem Bereich stellen einen Verstoß gegen Art. 11 DSU dar, der im Revisionsverfahren gerügt werden kann. Allerdings hat der Appellate Body klar gestellt, daß ein Verstoß gegen Art. 11 DSU nur in seltenen Ausnahmefällen vorliegen kann. Erforderlich dafür ist, daß das Panel bewußt Tatsachen außer Acht läßt oder Beweise falsch wertet.212 Indes würde auch eine diesbezüglich erfolgreiche Rüge nicht dazu führen, daß der Appellate Body seiner Entscheidung in 209

Vgl. bereits Petersmann, S. 190. WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R (16.1.1998). 211 Vgl. dazu auch Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (621); zu den Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen law und fact im Einzelfall Lichtenbaum, Mich. J. Int’l. L. 19 (1998), S. 1195 (1266 ff.). 210

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übrigen Rechtsfragen neue, vom Panel nicht ermittelte Tatsachen zugrunde legen würde.213 Anders als die Revisionsinstanzen in Deutschland und in anderen Rechtsordnungen hat der Appellate Body auch nicht die Möglichkeit, einen Rechtsstreit zur neuerlichen Tatsachenermittlung auf das erstinstanzlich mit der Angelegenheit befaßte Panel zurückzuverweisen.214 Soweit das Panel Tatsachen hinreichend umfassend aufgeklärt hat, entscheidet der Appellate Body auf dieser Grundlage Rechtsfragen selbst. Diese aus verfahrensökonomischen Gesichtspunkten zu begrüßende Praxis des Appellate Body birgt jedoch das Problem in sich, daß den Streitparteien, gegen die Entscheidung des Appellate Body, obwohl dieser in diesen Fällen quasi als erste Instanz fungiert, gleichwohl kein weiteres Rechtsmittel offensteht.215 Darüber hinaus ist die beschriebene Praxis kaum mit Art. 17.6 DSU zu vereinbaren.216 3. Die Zusammensetzung des Appellate Body Der Appellate Body besteht gemäß Art. 17.1 Satz 3 DSU aus insgesamt sieben Mitgliedern, die nach Art. 17.2 Satz 1 DSU vom Streitbeilegungsgremium (DSB) für eine vierjährige Amtszeit, die einmal verlängert werden kann, ernannt werden. Art. 17.3 DSU bestimmt, daß die Mitglieder des Appellate Body anerkannte und angesehene Fachleute mit ausgewiesenen Kenntnissen auf den Gebieten Recht, internationaler Handel sowie in den allgemeinen Gegenständen der unter die Vereinbarung fallenden Übereinkommen sein müssen. Damit unterscheidet sich das Qualifikationsprofil der Mitglieder des Gremiums deutlich von dem der Mitglieder der erstinstanzlichen Panels.217 Diese bestehen gem. Art. 8.1 DSU aus Einzelpersonen, die eine besondere Qualifikation (well-qualified) auf dem Gebiet des internationalen Handels aufweisen. Dabei eröffnet Art. 8.1 DSU verschiedene Möglichkeiten, wie diese Qualifikation erworben worden sein kann: die betreffende Person kann entweder bereits selbst Panel-Mitglied gewesen oder als Vertreter eines GATT 1947- oder WTO-Mitglieds vor einem Panel aufgetreten sein; ebenso kann die betreffende Person ihre Qualifikation als Botschafter eines Mitglieds beim GATT 1947 oder bei der WTO oder als Ver212 Vgl. Lugard, JIEL 1 (1998), S. 323 ff.; Vermulst/Mavroidis/Waer, JWT 33/2 (1999), S. 1 (6 f.) jeweils mit Nachweisen aus der Spruchpraxis des Appellate Body. 213 Vgl. zur Auslegung von Art. 11 DSU durch den Appellate Body Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (621 f.). 214 Backes, RIW 1995, S. 916 (917); Gabler, S. 55. 215 Vermulst/Mavroidis/Waer, JWT 33/2 (1999), S. 1 (6). 216 Bourgeois, JIEL 4 (2001), S. 145 (152). 217 Dazu bereits soeben oben im Text A. I. 3.

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treter ihres Heimatstaates in einem der verschiedenen Ratsorgane des GATT 1947 oder der WTO erworben haben; daneben kommt eine Tätigkeit im Sekretariat des GATT 1947 oder der WTO oder als hoher Beamter in einem nationalen für den Außenhandel zuständigen Bereich in Betracht; schließlich kann sich die Qualifikation auch darin äußern, daß die Person im Bereich des Welthandelsrechts oder der internationalen Handelspolitik veröffentlicht oder unterrichtet hat. Bei einem Vergleich zwischen den Anforderungen, die die Mitglieder eines Panels und die Mitglieder des Appellate Body erfüllen müssen, fällt insbesondere auf, daß die Panelmitglieder nicht notwendig über Rechtskenntnisse verfügen müssen, sondern daß hier der Schwerpunkt auf praktischen Erfahrungen mit dem Funktionieren des Welthandelssystems liegt.218 Demgegenüber stehen die Rechtskenntnisse an der Spitze der Aufzählung der von den Appellate Body-Mitgliedern mitzubringenden Fähigkeiten. Der Grund für diese divergierenden Qualifikationsprofile zwischen Panel- und Appellate Body-Mitgliedern liegt in der ausschließlich auf dem Gebiet der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung liegenden Tätigkeit des als Revisionsinstanz tätigen Appellate Body, die neben praktischen Kenntnissen des WTO-Systems insbesondere auch rechtliche und rechtsmethodische Kenntnisse erfordert. Art. 17.3 Satz 3 DSU bestimmt, daß die Mitgliedschaft im Berufungsgremium weitgehend die Mitgliedschaft in der WTO repräsentieren soll. Diese Regel stellt sicher, daß im Appellate Body stets Angehörige verschiedener Rechtskreise vertreten sind. Damit erinnert die Vorschrift zumindest grundsätzlich an Art. 9 IGH-Statut, der für den Internationalen Gerichtshof verlangt, daß die großen Kulturkreise und die hauptsächlichen Rechtssysteme auf der Richterbank vertreten sind.219 In der Praxis hat es sich durchgesetzt, daß je ein Mitglied des Appellate Body aus den Vereinigten Staaten, der EG und Japan stammt.220 Diese Regelung befriedigt den Wunsch der wichtigsten Handelspartner, in diesem für das Welthandelssystem so wichtigen Gremium repräsentiert zu sein, was allerdings aufgrund der umfangreichen Bestimmungen zur Sicherung der Unabhängigkeit der Mitglieder des Appellate Body eher eine Frage des Prestiges als eine Frage des tatsächlichen Einflusses ist. 218 Hudec, Minn. J. Global Trade 8 (1999), S. 1 (34); kritisch zum Anforderungsprofil der Panel-Mitglieder Weiler, JWT 35/2 (2001), S. 191 (202), der die These aufstellt, daß die von den Panel-Mitgliedern mitzubringenden Qualifikationen hinter der immens wichtigen Aufgabe der Panels zurückbleiben. 219 Vgl. zu Art. 9 IGH-Statut und zu den damit verbundenen praktischen Problemen Brownlie, Principles, S. 711 f. 220 Qureshi, Rdnr. 13–29; zu den Schwierigkeiten bei der erstmaligen Besetzung des Appellate Body vgl. Leier, EuZW 1999, S. 204 (206) sowie Beise, S. 219, der berichtet, daß sowohl die USA als auch die EG anfänglich je zwei Sitze gefordert haben.

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Von den sieben Mitgliedern des Appellate Body beschäftigen sich gemäß Art. 17.1 Satz 3 DSU jeweils drei Mitglieder mit einem vor das Gremium gebrachten Fall. Satz 4 der Vorschrift sieht vor, daß die Mitglieder des Appellate Body turnusgemäß wechseln, wobei dieser Wechsel nach Satz 5 im Arbeitsverfahren des Gremiums näher ausgestaltet wird. Diesbezüglich bestimmt § 6(2) der Working Procedures for Appellate Review,221 daß die Mitglieder der als division bezeichneten Dreiergruppe auf Basis einer Rotation ausgewählt werden, wobei das Zufallsprinzip, die Unvorhersehbarkeit der Zusammensetzung der division und die Möglichkeit der Mitglieder, unabhängig von ihrer Nationalität an einer gleichen Anzahl von Fällen beteiligt zu werden, die entscheidenden Faktoren sein sollen.222 Die Verteilung des Fallaufkommens auf unterschiedliche divisions bedeutet, daß der Appellate Body seine Fälle nicht im Plenum entscheidet. Dies birgt unweigerlich die Gefahr divergierender „Rechtsprechungslinien“ in sich, wie dies auch von nationalen Gerichten bekannt ist.223 Um diesem unerwünschten Phänomen vorzubeugen, regelt der mit Collegiality überschriebene § 4 der Working Procedures ein Verfahren des Meinungsaustausches zwischen allen Mitgliedern des Gremiums.224 Danach treffen sich die Mitglieder des Appellate Body regelmäßig, um Fragen von policy, practice and procedure zu diskutieren. Außerdem werden die Mitglieder des Gremiums verpflichtet, sich sowohl in Fragen der Streitbeilegung als auch in allgemeinen WTO-Angelegenheiten auf dem laufenden zu halten.225 Insbesondere wird bestimmt, daß jedes Mitglied sämtliche mit einem Revisionsverfahren zusammenhängende Dokumente erhält, selbst wenn es nicht der zuständigen division angehört. Schließlich regelt § 4(3) der Working Procedures, daß die Mitglieder der zuständigen division sich mit den anderen Mitgliedern austauschen, bevor sie ihren Bericht fertigstellen. Diese Regeln verhindern nicht nur das Entstehen divergierender Rechtsprechungslinien, sie bewirken auch, daß stets die Erfahrung aller Mitglieder des Appellate Body, die den verschiedensten Rechtskreisen entstammen, in den Bericht hineingewoben werden kann.226 221 Im folgenden Working Procedures. Die Working Procedures hat der Appellate Body gemäß Art. 17.9 Satz 1 DSU am 15.2.1996 ausgearbeitet und festgelegt. Seither hat der Appellate Body einige Vorschriften geändert. Die ursprüngliche Fassung ist abgedruckt bei Hummer/Weiss, S. 470 ff.; aktuelle Fassungen finden sich auf der Homepage der WTO. 222 Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (613 f.). 223 Hudec, Minn. J. Global Trade 8 (1999), S. 1 (28). 224 Ausführlich dazu wiederum Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (612 f.) sowie kurz Hudec, Minn. J. Global Trade 8 (1999), S. 1 (28 f.). 225 Diese Verpflichtung entspricht wörtlich der in Art. 17.3 Satz 4 DSU enthaltenen Verpflichtung. 226 Zu diesem Gesichtspunkt Qureshi, Rdnr. 13–30.

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Art. 17 DSU und die Working Procedures enthalten umfangreiche Bestimmungen, die die Unparteilichkeit der Mitglieder des Appellate Body sicherstellen sollen. Nach Art. 17.3 Satz 2 DSU dürfen die Mitglieder des Appellate Body von keiner Regierung abhängig sein. Art. 17.3 Satz 6 DSU verbietet es den Mitgliedern, sich an der Erörterung von Streitigkeiten zu beteiligen, die zu einem mittelbaren oder unmittelbaren Interessenkonflikt führen würde. Diese Regeln werden konkretisiert und ergänzt durch § 2 und § 8 der Working Procedures sowie durch die Rules of Conduct for the Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes.227 Nach § 2(2) der Working Procedures ist es den Mitgliedern verboten, Beschäftigungen nachzugehen, die unvereinbar sind mit ihren Pflichten und ihrer Verantwortung. Diese Vorschrift erklärt sich vor dem Hintergrund, daß das Amt als Mitglied des Appellate Body als Teilzeitverpflichtung vorgesehen ist228 und somit eine Regelung bezüglich zulässiger (Neben-)Tätigkeiten erforderlich war.229 § 2(3) der Working Procedures bestimmt, daß die Mitglieder des Appellate Body ihr Amt auszuüben haben, ohne Anweisungen von internationalen Regierungs- oder Nicht-Regierungsorganisationen anzunehmen oder einzuholen; dasselbe gilt für Anweisungen privaten Ursprungs. Die Beachtung dieser materiellen Pflichten wird dadurch abgesichert, daß die Mitglieder des Appellate Body gemäß § 8 der Working Procedures aus Anlaß jedes neuen Falles Angaben über Tatsachen machen müssen, die Zweifel bezüglich ihrer Unabhängigkeit begründen können. Gegebenenfalls kann ein Mitglied von der weiteren Arbeit an einem Fall ausgeschlossen werden. Damit die sieben Mitglieder des Appellate Body ihre teilweise umfangreiche Arbeit in der knapp bemessenen Zeit angemessen bewältigen können, erhalten sie gemäß Art. 17.6 DSU auf Anforderung hin Unterstützung in Verwaltungs- und Rechtsfragen. Wie der Wortlaut von Art. 27 DSU zeigt, der sich ausdrücklich nur auf die Unterstützung der Panels bezieht, wird diese Unterstützung nicht von Angehörigen des WTO-Sekretariats erbracht. Vielmehr steht dem Appellate Body, wie § 1 der Working Procedures verdeutlicht,230 ein eigenes Sekretariat zur Verfügung, das organisatorisch nicht zum WTO-Sekretariat gehört.231 Diese organisatorische Tren227

Abgedruckt bei Hummer/Weiss, S. 483 ff. Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (609). 229 Demgegenüber ist den Richtern des IGH gemäß Art. 16 Abs. 1 IGH-Statut jegliche Nebenbeschäftigung untersagt. 230 Dort wird bestimmt, daß der Begriff Secreteriat in den Working Procedures das Sekretariat des Appellate Body (Appellate Body Secreteriat) bezeichnet. 231 Im Zeitpunkt des Abfassens dieser Arbeit standen dem Appellate Body drei juristische geschulte Mitarbeiter zur rechtlichen Unterstützung zur Verfügung; vgl. Hudec, in: FS Dunkel, S. 101 (107). 228

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nung soll letztlich sicherstellen, daß der Appellate Body die ihm übertragene Aufgabe, die Panelberichte auf Rechtsfehler zu überprüfen, erfüllen kann. Es ist weithin bekannt, daß das WTO-Sekretariat durch die Beratung der in rechtlichen Fragen teilweise unerfahrenen Panel-Mitglieder232 einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die abschließende Panel-Entscheidung nimmt.233 Würde das WTO-Sekretariat anschließend auch den Appellate Body beraten, dann wäre der Ausgang des Falles zumindest präjudiziert, weil kaum zu erwarten ist, daß sich das Sekretariat in Widerspruch zu seiner zuvor geäußerten Ansicht setzen würde.234 4. Der Ablauf des Verfahrens vor dem Appellate Body Das Revisionsverfahren vor dem Appellate Body wird gemäß Art. 16.4 Satz 1 DSU dadurch eingeleitet, daß eine der Streitparteien dem DSB förmlich mitteilt, Rechtsmittel gegen den Panelbericht einzulegen. Bemerkenswert ist insofern, daß weder Art. 16.4 DSU noch eine andere Vorschrift des DSU oder der Working Procedure eine Beschwer zur Zulässigkeitsvoraussetzung des Rechtsmittels macht. Dies bedeutet, daß auch die obsiegende Partei den Panelbericht angreifen kann, wenn sie zwar das Ergebnis für zutreffend, dessen Begründung jedoch für falsch hält.235 Diese gegenüber einem gewöhnlichen Rechtsmittel herabgesetzte Zulässigkeitshürde macht deutlich, daß das Revisionsverfahren nicht nur ein Abhilfeverfahren, sondern nach der Vorstellung der Verhandlungspartner der Uruguay-Runde auch ein Verfahren zur qualitativen Absicherung des Streitbeilegungsverfahrens ist. § 20 der Working Procedures gestaltet die das Verfahren eröffnende Vorschrift des Art. 16.4 Satz 1 DSU näher aus und bestimmt, daß der Rechtsmittelführer seine Absicht, Rechtsmittel einzulegen, neben dem DSB auch dem Sekretariat des Appellate Body mitteilen muß. Dabei muß er bereits in knapper Form die vermeintlichen Rechtsfehler des Panels benennen. Binnen zehn Tagen nach Einlegung des Rechtsmittels muß die betreffende Partei dieses gemäß § 21 der Working Procedures ausführlich begründen. Die Begründung muß wiederum die vermeintlichen Rechtsfehler des Panels enthalten und nunmehr auch die Argumente, auf die die Partei ihre Auffassung 232

Hudec, Minn. J. Global Trade 8 (1999), S. 1 (34). Dazu ausführlich und mit kritischen Anmerkungen Weiler, JWT 35/2 (2001), S. 199 (205 f.); vgl. auch Hudec, in: FS Dunkel, S. 101 (118), der prognostiziert, daß die zunehmende Zahl von Juristen im Sekretariat dazu führen wird, daß sich die Panels zunehmend mit mehreren divergierenden juristischen Meinungen konfrontiert sehen werden, so daß sie letztlich dann doch wieder auf ihr eigenes – gutes oder schlechtes – Judiz angewiesen sind. 234 Letzel, S. 319. 235 Letzel, S. 316. 233

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stützt. Außerdem muß die Begründungsschrift erkennen lassen, auf welche Vorschriften der WTO-Übereinkommen und auf welche übrigen Rechtsquellen sich der Rechtsmittelführer beruft. Schließlich ist anzugeben, welche Entscheidung des Appellate Body die Partei erwartet. Diese Bestimmung korrespondiert mit Art. 16.13 DSU, wonach der Appellate Body sowohl die rechtlichen Feststellungen als auch die Schlußfolgerung des Panels bestätigen, abändern oder aufheben kann. Die Revisionsbegründung ist sowohl dem Sekretariat als auch der gegnerischen Partei zu übermitteln. Nach § 22 der Working Procedures hat nunmehr die gegnerische Partei 25 Tage Zeit, in einem Schriftsatz ihre Gegenargumente vorzutragen. 30 Tage nach Einlegung des Rechtsmittels findet nach § 27 der Working Procedures eine Anhörung der Parteien statt, die der Vorsitzende236 der für die Behandlung des Falls zuständigen division leitet. § 28 der Working Procedures berechtigt die zuständige division jederzeit, insbesondere aber während der Anhörung, Fragen an die Parteien zu richten und diesen Fristen für deren schriftliche Beantwortung zu setzen. Sofern eine Partei bei der Anhörung nicht erscheint oder bereits zuvor eine der in §§ 21, 22 der Working Procedures enthaltenen Fristen versäumt, ist die division berechtigt, verfahrensleitende Anordnungen zu erlassen. Dabei stellt es § 29 der Working Procedures ausdrücklich in das Ermessen der division, das Rechtsmittel zu verwerfen. Nach Abschluß der Anhörung beginnt die zuständige division unter Ausschluß der Streitparteien237 mit der Anfertigung ihres Berichts. Dabei hat sie sämtliche von den Parteien aufgeworfenen Fragen der Rechtsanwendung und Rechtsauslegung, die gemäß Art. 17.6 DSU in den Zuständigkeitsbereich des Appellate Body fallen, zu behandeln. Wie bereits dargestellt238 findet während der Anfertigung ein Meinungsaustausch mit den übrigen Mitgliedern des Appellate Body statt. Art. 17.5 DSU bestimmt, daß zwischen Einlegung des Rechtsmittels und Verteilung des Berichts an die Streitparteien in der Regel nur 60 Tage, in zu begründenden Ausnahmefällen maximal 90 Tage liegen dürfen. Dies bedeutet, daß die Mitglieder einer division während der Dauer des Verfahrens unter relativ hohem Zeitdruck stehen.239 Den Abschluß des Verfahrens vor dem Appellate Body bildet die Fertigstellung des Berichts der division. Dieser kann die rechtlichen Feststellungen und die Schlußfolgerungen des Panels entweder bestätigen, abändern oder aufheben. 236 § 7 der Working Procedures sieht vor, daß jede division einen Vorsitzenden (presiding member) wählt, der die Verfahrensleitung übernimmt. 237 Dies bestimmt Art. 17.10 Satz 2 DSU ausdrücklich. 238 Vgl. dazu soeben oben im Text unter 3. 239 So auch Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (612).

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Der Bericht, den der Appellate Body den WTO-Mitgliedern übermittelt, wird vom DSB binnen dreißig Tagen – gegebenenfalls auf einer außerordentlichen Sitzung – angenommen, sofern die Mitglieder nicht durch Konsens, also übereinstimmend, beschließen, den Bericht nicht anzunehmen. Art. 17.14 Satz 2 DSU hält ausdrücklich fest, daß die quasi-automatische Annahme des Berichts das Recht der Mitglieder, also auch der Streitparteien, auf Äußerung ihrer Auffassungen über den Bericht des Appellate Body unberührt läßt.

B. Die vom Appellate Body zu beachtenden Auslegungsvorschriften Die Aufgabe des Appellate Body besteht wie gesehen gemäß Art. 17.6 DSU darin, die Rechtsanwendung und die Rechtsauslegung der Panels auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Rechtslogisch ist der Vorgang der Auslegung der Rechtsanwendung voran gestellt. Die Anwendung einer Rechtsvorschrift auf einen konkreten Lebenssachverhalt setzt das Wissen um die Bedeutung dieser Vorschrift und damit die Auslegung dieser Vorschrift voraus.240 Um jedoch die Auslegungstätigkeit der erstinstanzlichen Panels überprüfen zu können bedarf es eines Maßstabs, an dem der Appellate Body die Ausführungen der Panels messen kann. Das DSU sowie das WTO-Übereinkommen legen in einer Reihe von Vorschriften fest, wie die Vorschriften der verschiedenen WTO-Übereinkommen auszulegen sind und stellen damit auch den Maßstab auf, den der Appellate Body bei der Überprüfung der Panelberichte anlegt. Die zentrale Vorschrift für die Auslegungstätigkeit des Appellate Body ist Art. 3.2 Satz 2 DSU, der für den gesamten Bereich der Streitbeilegung und damit auch für die Tätigkeit des Appellate Body die Anwendung der „herkömmlichen Regeln der Auslegung des Völkerrechts“241 vorschreibt. Neben Art. 3.2 Satz 2 DSU spielen Art. XVI.1 WTO und Art. 3.1 DSU für die Auslegung des Appellate Body eine wichtige Rolle. Beide Vorschriften verpflichten das Gremium darauf, den GATT-acquis in die Auslegung der WTO-Vorschriften einzubeziehen. Schließlich bestimmen Art. 3.2 Satz 3 DSU und Art. 19.2 DSU die Grenzen der Auslegung.

240

Vgl. Rüthers, Rdnr. 665. In der englischen Originalversion ist die Rede von den customary rules of interpretation of public international law. 241

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I. Art. 3.2 Satz 2 DSU Die wichtigste Vorschrift für die Auslegungstätigkeit des Appellate Body ist Art. 3.2 Satz 2 DSU. Diese Vorschrift macht die „herkömmlichen Regeln der Auslegung des Völkerrechts“ zur Grundlage für die Auslegungstätigkeit der Streitbeilegungsorgane der WTO und damit auch des Appellate Body. Gegenüber der nicht ganz glücklichen amtlichen deutschen Übersetzung macht die englische Originalfassung der Vorschrift, in der von den customary rules of interpretation of public international law die Rede ist, durch die Verwendung des Wortes customary deutlich, daß Art. 3.2 Satz 2 DSU die mit der Streitbeilegung befaßten Organe der WTO auf die gewohnheitsrechtlichen Regeln für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge verweist. Vor dem Hintergrund des Ergebnisses des ersten Teils dieser Untersuchung, daß die in Art. 31 und 32 WVRK enthaltenen Auslegungsvorschriften und die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln inhaltlich übereinstimmen, wird deutlich, daß Art. 3.2 Satz 2 DSU indirekt die in Art. 31 und 32 WVRK enthaltenen Vorschriften für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge zur Grundlage der Auslegungstätigkeit der Streitbeilegungsorgane der WTO und damit auch des Appellate Body macht.242 1. Das Verständnis des Appellate Body von Art. 3.2 Satz 2 DSU Seit Beginn seiner Tätigkeit hat sich auch der Appellate Body auf den Standpunkt gestellt, daß die nach Art. 3.2 Satz 2 DSU bei der Auslegung anzuwendenden customary rules of interpretation of public international law identisch sind mit den in Art. 31 und Art. 32 WVRK niedergelegten Auslegungsregeln.243 Bereits im Fall United States – Standards for Reformulated Gasoline,244 den das Gremium im Frühjahr 1996 zu entscheiden hatte, führte es hinsichtlich der Bedeutung von Art. 3.2 Satz 2 DSU aus:245 „A principal difficulty, in the view of the Appellate Body, with the Panel Report’s application of Article XX(g) to the baseline establishment rules is that the Panel there overlooked a fundamental rule of treaty interpretation. This rule has received its most authoritative and succinct expression in the Vienna Conven242 Croley/Jackson, AJIL 90 (1996), S. 193 (200); Kuyper, NYIL 25 (1994), S. 227 (232); Lennard, JIEL 5 (2002), S. 17 (18); Tietje, S. 125. 243 Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (615 ff.). 244 WT/DS2/AB/R (29.4.1996); der Bericht des Appellate Body ist auch abgedruckt in I.L.M. 35 (1996), S. 603 ff. sowie bei Hummer/Weiss, S. 492 ff. 245 WT/DS2/AB/R (29.4.1996), S. 17.

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tion on the Law of Treaties (the ‚Vienna Convention‘)33 which provides in relevant part: ARTICLE 31 General rule of interpretation 1. A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to the terms of the treaty in their context and in the light of its object and purpose. The ‚general rule of interpretation‘ set out above has been relied upon by all of the participants and third participants, although not always in relation to the same issue. That general rule of interpretation has attained the status of a rule of customary or general international law.34 As such, it forms part of the ‚customary rules of interpretation of public international law‘ which the Appellate Body has been directed, by Article 3(2) of the DSU, to apply in seeking to clarify the provisions of the General Agreement and the other ‚covered agreements‘ of the Marrakesh Agreement Establishing the World Trade Organization35 (the ‚WTO Agreement‘). That direction reflects a measure of recognition that the General Agreement is not to be read in clinical isolation from public international law. Notes: 33 (1969), 8 International Legal Materials 679. 34 See, e.g., Territorial Dispute Case (Libyan Arab Jamahiriya v. Chad), (1994), I.C.J. Reports p. 6 (International Court of Justice); Golder v. United Kingdom, ECHR, Series A, (1995) no. 18 (European Court of Human Rights); Restrictions to the Death Penalty Cases, (1986) 70 International Law Reports 449 (Inter-American Court of Human Rights); Jiménez de Aréchaga, ‚International Law in the Past Third of a Century‘ (1978-I) 159 Recueil des Cours 1, p. 42; D. Carreau, Droit International (3è ed., 1991) p. 140; Oppenheim’s International Law (9th ed., Jennings and Watts, eds. 1992) Vol. 1, pp. 1271–1275. 35 Done at Marrakesh, Morocco, 15 April 1994.“

Hier äußerte der Appellate Body die Ansicht, daß Art. 31 Abs. 1 WVRK den Status von Völkergewohnheitsrecht erlangt habe und daher Teil der bei der Auslegung der WTO-Übereinkommen anzuwendenden customary rules of interpretation of public international law sei. Seine These von der gewohnheitsrechtlichen Geltung der Allgemeinen Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 1 WVRK unterstützte er mit Belegen aus der völkerrechtlichen Judikatur und der Völkerrechtswissenschaft. Im darauffolgenden Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages246 ergänzte der Appellate Body die im Gasoline-Fall gemachten Ausführungen dahingehend, daß nicht nur Art. 31 Abs. 1 WVRK, sondern auch die übrigen Absätze von Art. 31 wie auch Art. 32 WVRK sowie das Effektivitätsprinzip zu den gewohnheitsrechtlichen Vorschriften der Auslegung zu zählen sind: „D.

Treaty Interpretation

Article 3.2 of the DSU directs the Appellate Body to clarify the provisions of GATT 1994 and the other ‚covered agreements‘ of the WTO Agreement ‚in accord246

WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R (4.10.1996).

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ance with customary rules of interpretation of public international law‘. Following this mandate, in United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline,15 we stressed the need to achieve such clarification by reference to the fundamental rule of treaty interpretation set out in Article 31(1) of the Vienna Convention. We stressed there that this general rule of interpretation ‚has attained the status of a rule of customary or general international law‘.16 There can be no doubt that Article 32 of the Vienna Convention, dealing with the role of supplementary means of interpretation, has also attained the same status.17 Article 31, as a whole, and Article 32 are each highly pertinent to the present appeal. They provide as follows: ARTICLE 31 General rule of interpretation (. . .) ARTICLE 32 Supplementary means of interpretation (. . .) Article 31 of the Vienna Convention provides that the words of the treaty form the foundation for the interpretive process: ‚interpretation must be based above all upon the text of the treaty‘.18 The provisions of the treaty are to be given their ordinary meaning in their context.19 The object and purpose of the treaty are also to be taken into account in determining the meaning of its provisions.20 A fundamental tenet of treaty interpretation flowing from the general rule of interpretation set out in Article 31 is the principle of effectiveness (ut res magis valeat quam pereat).21 Notes: 15 Adopted 20 May 1996, WT/DS2/9. 16 Ibid., at p. 17. 17 See e.g.: Jiménez de Aréchaga, ‚International Law in the Past Third of a Century‘ (1978-I) 159 Recueil des Cours p.1 at 42; Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad), Judgment, (1994), I.C.J. Reports, p. 6 at 20; Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain, Jurisdiction and Admissibility, Judgment, (1995), I.C.J. Reports, p. 6 at 18; Interpretation of the Convention of 1919 Concerning Employment of Women during the Night (1932), P.C.I.J., Series A/B, No. 50, p. 365 at 380; cf. the Serbian and Brazilian Loans Cases (1929), P.C.I.J., Series A, Nos. 20– 21, p. 5 at 30; Constitution of the Maritime Safety Committee of the IMCO (1960), I.C.J. Reports, p. 150 at 161; Air Transport Services Agreement Arbitration (United States of America v. France) (1963), International Law Reports, 38, p. 182 at 235-43. 18 Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya/Chad), Judgment, (1994) I.C.J. Reports, p. 6 at 20; Maritime Delimitation and Territorial Questions between Qatar and Bahrain, Jurisdiction and Admissibility, Judgment, (1995) I.C.J. Reports, p. 6 at 18. 19 See, e. g., Competence of the General Assembly for the Admission of a State to the United Nations (Second Admissions Case) (1950), I.C.J. Reports, p. 4 at 8, in which the International Court of Justice stated: ‚The Court considers it necessary to say that the first duty of a tribunal which is called upon to interpret and apply the provisions of a treaty, is to endeavour to give effect to them in their natural and ordinary meaning and in the context in which they occur‘. 20 That is, the treaty’s ‚object and purpose‘ is to be referred to in determining the meaning of the ‚terms of the treaty‘ and not as an independent basis for interpretation: Harris, Cases and Materials on International Law (4th ed., 1991) p. 770; Jiménez de Aréchaga, ‚International Law in the Past Third of a Century‘ (1978-I) 159 Recueil des Cours p. 1 at 44; Sinclair, The Vienna Convention and the Law of Treaties (2nd ed, 1984), p. 130. See e.g. Oppenheims’ International Law (9th ed., Jennings and Watts,

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eds., 1992) Vol. I, p. 1273; Competence of the ILO to Regulate the Personal Work of the Employer (1926), P.C.I.J., Series B, No. 13, p. 6 at 18; International Status of South West Africa (1962), I.C.J. Reports, p. 128 at 336; Re Competence of Conciliation Commission (1955), 22 International Law Reports, p. 867 at 871. 21 See also (1966) Yearbook of the International Law Commission, Vol. II, p. 219: ‚When a treaty is open to two interpretations one of which does and the other does not enable the treaty to have appropriate effects, good faith and the objects and purposes of the treaty demand that the former interpretation should be adopted.‘ “

Hier erweiterte der Appellate Body den Kreis der gewohnheitsrechtlich geltenden Auslegungsregeln auf die im Gasoline-Fall nicht angesprochenen Absätze von Art. 31 WVRK sowie auf Art. 32 WVRK. Bezüglich der gewohnheitsrechtlichen Geltung von Art. 32 WVRK führte das Gremium wiederum eine Reihe von Belegen aus Rechtsprechung und Literatur an. Auch zu den einzelnen Elementen von Art. 31 WVRK, Wortlautauslegung, systematische Auslegung und teleologische Auslegung, führte der Appellate Body in den Fußnoten 18, 19 und 20 zahlreiche Belegstellen an, um die Anwendung dieser Methoden durch den Internationalen Gerichtshof und die Völkerrechtsliteratur nachzuweisen. Schließlich bezog das Gremium, nachdem es bereits im Gasoline-Fall eine in diese Richtung weisende Andeutung gemacht hatte, ausdrücklich auch das Effektivitätsprinzip in die customary rules of interpretation mit ein, wobei es unter Bezugnahme auf die Diskussionen der International Law Commission auf die enge Verbindung des Prinzips zu Art. 31 Abs. 1 WVRK hinwies.247 Die im japanischen Alkoholfall gemachten Beobachtungen bezüglich des Bestandes der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln bestätigte der Appellate Body in einer ganzen Reihe von Fällen, so daß insofern von einer gefestigten Spruchpraxis gesprochen werden kann. Nach fast vierjähriger Tätigkeit beschrieb das Gremium sein Verständnis von Art. 3.2 Satz 2 DSU im Dezember 1999 zusammenfassend wie folgt:248 „80. Before we commence our analysis (. . .), it is useful, first, to review certain principles relating to the interpretation of treaties. We note, first, that Article 3.2 of the DSU provides that the dispute settlement system of the WTO serves ‚to clarify the existing provisions of [the covered] agreements in accordance with the customary rules of interpretation of public international law.‘ (emphasis added) The principles of interpretation of treaties set forth in Articles 31 and 32 of the Vienna Convention on the Law of Treaties40 apply to the interpretation of provisions of the WTO Agreement.41 We have also recognized, on several occasions, the principle of effectiveness in the interpretation of treaties (ut res magis valeat quam pereat) which requires that a treaty interpreter: 247

Vgl. dazu die Ausführungen im Rahmen der Untersuchung von Art. 31 WVRK oben 1. Teil 3. Kap. A. I. 248 Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products (WT/DS98/AB/R; 14.12.1999).

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. . . must give meaning and effect to all the terms of the treaty. An interpreter is not free to adopt a reading that would result in reducing whole clauses or paragraphs of a treaty to redundancy or inutility.42 Notes: 40 Vienna Convention on the Law of Treaties, done at Vienna, 23 May 1969, 1155 U.N.T.S. 331; (1969) 8 International Legal Materials 679. 41 As we have stipulated in, for example, Appellate Body Report, United States – Gasoline, supra, footnote 12, p. 17; Appellate Body Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages (‚Japan – Alcoholic Beverages‘), WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R, adopted 1 November 1996, p. 11; Appellate Body Report, India – Patents, supra, footnote 21, para. 46; Appellate Body Report, European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment (‚European Communities – Computer Equipment‘), WT/DS62/AB/R, WT/DS67/AB/R, WT/DS68/AB/R, adopted 22 June 1998, para. 84; and Appellate Body Report, United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R, adopted 6 November 1998, para. 114. 42 Appellate Body Report, United States – Gasoline, supra, footnote 12, p. 23. We also confirmed this principle in Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages, supra, footnote 41, p. 12; Appellate Body Report, Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products, WT/DS103/AB/R, WT/DS113/AB/R, adopted 27 October 1999, para. 133; and Appellate Body Report, Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear, WT/DS121/AB/R, circulated 14 December 1999, para. 88.“

2. Hintergrund und Motive von Art. 3.2 Satz 2 DSU Die Einbeziehung der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln in Art. 3.2 Satz 2 DSU ist sowohl für die Auslegungstätigkeit des Appellate Body als auch für das Streitbeilegungssystem der Welthandelsorganisation von großer Bedeutung. Dies macht ein Blick auf die Hintergründe und Motive der in Art. 3.2 Satz 2 DSU getroffenen Regelung deutlich. a) Auslegungsmethoden der GATT 1947-Panels Die ausdrückliche Anweisung an die mit der Streitbeilegung innerhalb der WTO befaßten Organe, die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsmethoden zur Anwendung zu bringen, bildet einen deutlichen Gegensatz zu der im Rahmen des Streitbeilegungssystem des GATT 1947 von den Panels geübten und den VERTRAGSPARTEIEN gebilligten Auslegungspraxis. Vielfach gewannen die GATT 1947-Panels die entscheidenden, das Auslegungsergebnis tragenden Auslegungsargumente nicht aus Wortlaut, Kontext oder Ziel und Zweck, sondern aus der Entstehungsgeschichte der jeweiligen Vorschriften.249 Die nach Gewohnheitsrecht und Wiener Vertragsrechtskonvention vorrangig anzuwendenden Methoden dienten den Panels dann allenfalls zur Absicherung des zuvor gefundenen Ergebnisses.250 Damit bewiesen die 249

Benedek, Rechtsordnung, S. 143; Petersmann, S. 112; Seroin, R.J.T. 34 (2000), S. 227 (256, 259); Tietje, S. 126. 250 Etwas irreführend insofern die Untersuchung von Hallström, S. 169, der nachweist, daß die GATT 1947-Panels in ihren Berichten auf alle zur Verfügung stehen-

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Panels eine beachtliche Resistenz gegen die spätestens seit Ende der 1970er Jahre gewohnheitsrechtlich manifestierten Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention.251 Diese Regeln galten jedenfalls im Ergebnis auch für die Auslegung des GATT 1947, wenngleich dies keineswegs so selbstverständlich war, wie es von weiten Teilen des Schrifttums angenommen wurde.252 Die sich in diesem Zusammenhang stellenden Probleme können allerdings hier nur angerissen werden.253 Das GATT 1947 ist als völkerrechtlicher Vertrag nie in Kraft getreten.254 Vielmehr ist es zwischen den „Vertragsparteien“ lediglich vorläufig angewendet worden. Die ursprünglichen 23 Vertragsparteien des GATT 1947 vereinbarten die vorläufige Anwendung des GATT 1947 im Protokoll über die Vorläufige Anwendung im Oktober 1947.255 Später hinzukommende Vertragsparteien wurden ebenfalls durch Protokolle zwischen den „gegenwärtigen Vertragsparteien“ und den „beitretenden Staaten“ aufgenommen, in denen die Bedingungen des Beitritts geregelt waren.256 Die Gemeinsamkeit aller dieser Protokolle bestand darin, daß die Staaten darin nur die vorläufige Anwendung des GATT 1947 vereinbarten, was zur Folge hatte, daß es nie endgültig in Kraft trat. Dieser Umstand bewirkte auch, daß die Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge, deren Anwendung einen bestehenden völkerrechtlichen Vertrag voraussetzen, ungeachtet ihres jeweiligen Inhalts zu keinem Zeitpunkt direkt auf das GATT 1947 anwendbar waren. Allerdings stellten die Protokolle, in denen die Staaten die Anwendung des GATT 1947 vereinbarten, ihrerseits völkerrechtliche Verträge dar.257 den Methoden zurückgegriffen haben, ohne jedoch kenntlich zu machen, welche Methode die Entscheidung tatsächlich getragen hat. 251 Erst zu Beginn der 1990er Jahre begannen die Panels, sich zunehmend auf Vorschriften der WVRK zu berufen. Kuyper, NYIL 25 (1994), S. 227 (232) hat dies als vorauseilenden Gehorsam der Panels im Hinblick auf die Ergebnisse der Uruguay-Runde gedeutet. 252 Benedek, Rechtsordnung, S. 143; vgl. auch McGovern, in: Hilf/Jacobs/Petersmann, S. 73 (79) sowie Kuyper, NYIL 25 (1994), S. 227 (229), die stillschweigend die Anwendbarkeit der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln voraussetzen. Zu weit gehend sicherlich Haltern, ZVglRWiss 91 (1992), S. 1 (27), der die Auslegungsregeln der WVRK für direkt anwendbar auf das GATT 1947 hält. Dies ist bereits wegen des Ausschlusses der Rückwirkung in Art. 4 WVRK unzutreffend; vgl. Nichols, Va. J. Int’l. L. 36 (1996), S. 379 (422). 253 Soweit ersichtlich, ist das Problem in der völkerrechtlichen Literatur nicht behandelt worden. 254 Vgl. aus der Frühzeit des GATT 1947 Jaenicke, AVR 7 (1958/59), S. 371 (372) sowie ders., EPIL II (1995), S. 502. 255 Text in BISD I/77; abgedruckt auch bei Hummer/Weiss, S. 6 f. 256 Einige dieser Protokolle sind abgedruckt bei Hummer/Weiss, S. 160 ff.

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Auf diese Verträge, die die Vorschriften des GATT 1947 inkorporierten, waren die jeweils zwischen den Vertragsparteien geltenden gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln anwendbar. Damit galten diese Regeln jedenfalls mittelbar auch für das GATT 1947. Die Diskrepanz zwischen dieser normativen Vorgabe für die Auslegung der Vorschriften des GATT 1947 und dem tatsächlichen Vorgehen der GATT 1947-Panels erklärt sich aus einer Reihe zusammenwirkender Umstände. Über einen langen Zeitraum hinweg waren die unter dem GATT 1947 eingerichteten Panels mit in Genf ansässigen Diplomaten besetzt, die selbst noch persönlich an den Verhandlungen der letztlich gescheiterten HavannaCharta und an der Aushandlung des GATT 1947 beteiligt waren und sich daher bei der Auslegung des GATT 1947 auf ihre eigenen Erinnerungen über das Zustandekommen der Vorschriften verlassen konnten.258 Diesen Erinnerungen gaben sie den Vorzug gegenüber einer streng am Wortlaut orientierten Auslegung der einzelnen Vorschriften. Aber auch für diejenigen Mitglieder eines Panels, die keine eigenen Erinnerungen an die Vertragsverhandlungen hatten, war die Entstehungsgeschichte des GATT 1947 mit Hilfe des sogenannten Analytical Index verhältnismäßig leicht zugänglich.259 Für die überwiegend juristisch und methodisch wenig geschulten Handelsdiplomaten, die als Panel-Mitglieder wirkten, bildete der Analytical Index häufig die erste Quelle, um sich die Bedeutung der oft kompliziert gefaßten Vorschriften des GATT 1947 zu erschließen. Jedoch lag die häufige Inbezugnahme der Entstehungsgeschichte des Abkommens in den Panelberichten nicht nur in den Panel-Mitgliedern begründet. Auch die Struktur des Abkommens selbst und das Streitschlichtungsverfahren begünstigten diese Entwicklung. Sowohl das protocol of provisional application wie auch sämtliche Protokolle über den Beitritt neuer Staaten zum GATT 1947 enthielten eine sogenannte grandfather clause, die es den Vertragsparteien gestattete, innerstaatliche Rechtsvorschriften, die im Zeitpunkt des Beitritts gegen den zweiten Teil260 des GATT 1947 verstießen, in Kraft zu belassen. Dieser Umstand 257 So die überwiegende Ansicht; vgl. Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, § 10, Rdnr. 29 sowie umfassend Montag, S. 49 m. w. N. in Fn. 83 sowie S. 59. 258 Davey, Forham Int’l. L. J. 11 (1987), S. 51 (62). 259 In dieser vom Sekretariat des GATT 1947 erstmals 1959 zusammengestellten und 1995 in sechster Auflage erschienenen Textsammlung finden sich alle relevanten Dokumente aus der Entstehungszeit des GATT 1947 geordnet nach den einzelnen Artikeln des Abkommens. 260 Teil II des GATT 1947 umfaßt Art. III bis Art. XXIII, mit anderen Worten sämtliche Verpflichtungen des GATT 1947 mit Ausnahme der Meistbegünstigungsklausel (Art. I) und der Regelungen bezüglich der Zugeständnislisten (Art. II).

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begünstigte letztlich eine rückwärtsgewandte Auslegung der Vorschriften des GATT 1947.261 Aber auch die „Natur“ des Streitbeilegungsverfahrens begünstigte die Verwendung der gut dokumentierten und in persönlichen Erinnerungen erhaltenen Verhandlungsgeschichte. Wie bereits dargestellt konnte nach der im Streitbeilegungsverfahren des GATT 1947 geltenden Regel des positiven Konsenses ein Panelbericht nur mit Zustimmung sämtlicher Vertragsparteien einschließlich der Streitparteien angenommen werden und Verbindlichkeit erlangen. Dies erforderte bereits auf Seiten der Panels ein erhebliches Maß an diplomatischem Geschick. Um einem Bericht nicht von vornherein inakzeptabel werden zu lassen war es daher nicht selten ratsam, sich bei der Auslegung der Rechtsvorschriften auf den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ aller Vertragsparteien zu verständigen. Dieser bestand nach Auffassung vieler Vertragsparteien und Panel-Mitglieder in der gut dokumentierten Entstehungsgeschichte des Abkommens.262 Im Zusammenhang mit der Suche nach den Gründen für die Bevorzugung der historischen Auslegung durch die GATT 1947-Panels sollte schließlich der Einfluß der Arbeiten von John H. Jackson, dem wohl einflußreichsten Kommentator des GATT 1947 nicht unterschätzt werden. Jackson, der 1969 ein auch noch vom Appellate Body zitiertes263 bedeutendes Standardwerk zum GATT 1947 verfaßt hat,264 plädierte für eine vorwiegend historisch orientierte Auslegung der Vorschriften des Abkommens.265 Dies begründete er nicht zuletzt auch mit der guten Zugänglichkeit der Materialien mit Hilfe des Analytical Index. Noch zehn Jahre später, in einem Vorschlag für die Reform des Streitbeilegungssystems des GATT 1947 stand Jackson der Verwendung gewohnheitsrechtlich geltender Auslegungsregeln eher ablehnend gegenüber.266 Erst 1990, als die UruguayRunde bereits begonnen hatte, änderte Jackson seine Auffassung dahingehend, daß vorrangig die in Art. 31 WVRK aufgeführten Auslegungsmethoden anzuwenden seien und der historischen Auslegung unter Umständen auch Bedeutung zukommen könne.267 Diese Bestimmung in den Protokollen wurde auch als existing legislation clause bezeichnet; vgl. Herdegen, § 7, Rdnr. 2. 261 Seroin, R.J.T. 34 (2000), S. 227 (257). 262 Benedek, Rechtsordnung, S. 144. 263 European Communities – Measures Affecting the Importation of Certain Poultry Products (WT/DS69/AB/R; 13.7.1998); para. 37 m. Fn. 37. 264 Jackson, Law of GATT, 1969. 265 „One of the most significant sources of materials for interpretation of GATT is the preparatory work“; Jackson, Law of GATT, S. 20. 266 „Customary rules of international law are not subject of the Procedures of this Protocol, although they may be utilized if appropriate in the process of interpreting a rule (but not as a preferred aid in interpretation).“ (Hervorhebung im Original); Jackson, JWT 13 (1979), S. 1 (14).

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Seit Beginn der 1980er Jahre ist die von den Vertragsparteien gebilligte vorwiegend historisch geprägte Auslegungspraxis der GATT 1947-Panels im wissenschaftlichen Schrifttum und bei einigen Vertragsparteien des GATT 1947 vereinzelt auf Kritik gestoßen.268 Zum einen wurde den Panels vorgeworfen, daß die Mißachtung der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln dazu führe, daß das Ergebnis des Panel-Verfahrens völlig unvorhersehbar werde und damit die Rechtssicherheit leide.269 Zum anderen wurde den Panels entgegengehalten, daß die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln besser geeignet seien, Auslegungsdifferenzen zu beseitigen, weil sie speziell dafür entwickelt worden seien, die Eigenheiten völkerrechtlicher Verträge, insbesondere deren oft wenig präzise Sprache, bei der Auslegung zu berücksichtigen.270 Bei aller inhaltlichen Berechtigung dieser Kritik ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Vertragsparteien des GATT 1947 die vorrangige Verwendung der historischen Auslegungsmethode im Wege der nachfolgenden vertragsauslegenden Praxis im GATT 1947 manifestiert und dadurch die gewohnheitsrechtlichen Regeln der Vertragsauslegung abbedungen oder jedenfalls modifiziert hatten (sogenanntes contracting out).271 267

Jackson, Restructuring, S. 56: „The principles of treaty interpretation include ‚ordinary meaning‘ of the words, other agreements or instruments influencing the treaty which were accepted by the parties to the treaty at the time it was concluded, subsequent agreement between the parties to the treaty, ‚subsequent practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding interpretation‘, and other relevant rules of international law. In some circumstances the preparatory work can also be relevant. Each of these principles of interpretation plays a role in the GATT and associated agreements.“ 268 Vgl. aus dem Schrifttum insbesondere Kuyper, NYIL 25 (1994), S. 227 (230) sowie McGovern, in: Hilf/Jacobs/Petersmann, S. 73 (79 f.). Im sogenannten DISC-Fall (BISD 23S/98 ff.; vgl. die Besprechung von Jackson, AJIL 72 [1978], S. 747 ff. sowie die Ausführungen bei Hudec, Cornell I.L.J. 13 [1980], S. 145 [164 ff.]), hatten die Vereinigten Staaten einen Teil ihrer Argumentation auf „nachfolgende Praxis der Vertragsparteien“ gestützt (BISD 23S/98 [106, para. 42]: „The representative of the United States [. . .] also argued that, since subsequent practices of the parties to a treaty represented a proper criterion for ist interpretation according to the Vienna Convention on the Law of Treaties, the question arose as to whether the continued existence of the tax practice [. . .] indicated the existence of a consensus [. . .]).“ Das Panel ging auf Argumentation der Vereinigten Staaten mit keinem Wort ein, was bei den Vereinigten Staaten deutliche Kritik hervorrief. 269 Kuyper, NYIL 25 (1994), S. 227 (230). 270 McGovern, in: Hilf/Jacobs/Petersmann, S. 73 (79 f.). 271 Dieser Gedanke, der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht abschließend geklärt werden muß und der vorwiegend aus rechtshistorischer Sicht von Interesse ist, klingt bereits bei Jackson, Law of GATT, S. 20 an, wo es im Anschluß an den oben in Fn. 265 zitierten Satz weiter heißt: „Even though this source of interpretive material is sometimes considered as ‚supplementary‘ or lower in priority than other interpretive materials, in the GATT practice such materials are clearly given a prominent place“ (Hervorhebung vom Verfasser).

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b) Die Reformen des Streitbeilegungssystems in der Uruguay-Runde Die Aufnahme des Hinweises auf die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln in das Dispute Settlement Understanding war weit weniger umstritten als andere Punkte der Reform des Streitbeilegungsverfahrens. Dies zeigt sich daran, daß die Verhandlungsgruppe 13, in der bis zum Scheitern der Brüsseler Ministerkonferenz im Dezember 1990 über die Reform des Streitbeilegungsverfahrens verhandelt wurde, die Frage der anzuwendenden Auslegungsregeln nicht thematisierte.272 Die Verpflichtung der Streitbeilegungsorgane auf die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln stellt sich damit weniger als bewußte rechtspolitische Grundentscheidung dar, sondern eher als notwendige Konsequenz des generellen Trends zur stärkeren Verrechtlichung des Streitbeilegungsverfahrens und insbesondere der Schaffung des Appellate Body sowie des Wunsches nach einer stärkeren Vorhersehbarkeit des Ergebnisses von Entscheidungen der Streitbeilegungsorgane.273 Bereits in den Improvements to the GATT Dispute Settlement Rules and Procedures vom 12. April 1989, die die erste Etappe der Reform des Streitbeilegungsverfahrens markierten,274 war eine dem heutigen Art. 3.2 Satz 2 DSU ähnelnde Vorschrift enthalten, die jedoch die Frage der bei der Auslegung anzuwendenden Methoden nicht näher behandelte. Unter der Überschrift General Provisions fanden sich in Absatz 1 die folgenden Sätze: „Contracting parties recognize that the dispute settlement system of GATT serves to preserve the rights and obligations of contracting parties under the General Agreement and to clarify the existing provisions of the General Agreement. It is a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system.“

Erst im sogenannten Understanding on the Interpretation and Application of Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade275 vom Dezember 1990 fand sich erstmals ein Hinweis auf die Auslegungsregeln des Völkerrechts. Unter dem dortigen mit General Provisions überschriebenen Abschnitt A fanden sich in modifizierter und erweiterter Form die aus den Improvements übernommenen Sätze: „The dispute settlement system of GATT is a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system. Contracting parties recognize that it serves to preserve the rights and obligations of contracting parties 272 In keinem der Verhandlungsprotokolle der Verhandlungsgruppe 13 finden sich Hinweise darauf, daß die von den Streitbeilegungsorganen anzuwendenden Auslegungsregeln während der Verhandlungen ausdrücklich thematisiert wurden. 273 Skouteris, in: Mengozzi, S. 113 (126). 274 Vgl. dazu bereits oben A. II. 1. am Anfang. 275 Vgl. dazu die Hinweise oben im Text A. II. 1.

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under the General Agreement and to clarify the existing provisions of the General Agreement [in accordance with the rules and practice of international law].“

Die Tatsache, daß der sich auf die Regeln und die Praxis des Völkerrechts beziehende Nachsatz in Klammern gesetzt war, zeigt an, daß bezüglich dieses Nachsatzes zwischen den Verhandlungspartnern keine Einigkeit herrschte. Wie sich aus einem späteren Verhandlungsprotokoll der nach dem Brüsseler Ministertreffen für die Reform des Streitbeilegungsverfahrens zuständigen Negotiating Group on Institutions ergibt, hatte sich an der Stelle des Klammerzusatzes zunächst ein Verweis auf die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention befunden. Diese Formulierung war jedoch bei einigen Mitgliedern auf Kritik gestoßen, weil nicht alle Teilnehmer der Uruguay-Runde Vertragsparteien der Wiener Konvention waren: „Concerning paragraph A.2 of the draft Understanding, some participants noted that the text had been modified in response to the concerns expressed by a participant who was not a party to the Vienna Convention on the Law of Treaties. (. . .)“276

Jedoch stieß auch die nunmehr gewählte Formulierung in accordance with the rules and practice of international law nicht bei allen Verhandlungsteilnehmern auf Zustimmung. Sie befürchteten, daß der Nachsatz über das eigentliche Ziel hinausschießen könnte und nicht nur völkerrechtliche Auslegungsregeln, sondern auch andere Regeln des Völkerrechts in das Welthandelssystem inkorporieren würde.277 Diesen Bedenken wurde begegnet, indem der pauschale Verweis auf die Regeln und die Praxis des Völkerrechts dahingehend umformuliert wurde, daß er sich nur noch auf die gewohnheitsrechtlichen Regeln der Auslegung des Völkerrechts bezog. Im Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes under Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade278 aus dem Dezember 1991 fand sich schließlich der auch heute in Art. 3.2 Satz 2 DSU anzutreffende Normtext: „The dispute settlement system of GATT is a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system. Contracting parties recognize that it serves to preserve the rights and obligations of contracting parties under the General Agreement and to clarify the existing provisions of the General Agreement in accordance with the customary rules of interpretation of international law.“279 276 Meeting of 26 September 1991, Note by the Secreteriat, MTN.GNG/IN/1 (18.10.1991). 277 Dazu eingehend unten im Text 3. Teil 6. Kap. D. 278 Vgl. dazu bereits oben im Text A. II. 1. 279 Der Begriff „GATT“ wurde erst bei der späteren Konsolidierung der Texte des Understanding on Rules and Procedures Governing the Settlement of Disputes

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Wie bereits einleitend dargestellt war die Festschreibung verbindlich geltender Auslegungsregeln für die Streitbeilegungsorgane der Welthandelsorganisation eine Konsequenz aus der Entscheidung der Partner der UruguayRunde, das ehedem diplomatisch ausgerichtete Streitverfahren des GATT 1947 gerichtsförmig umzugestalten. Die damit einhergehende Schaffung einer Instanz zur Überprüfung der Panelberichte machte es zwingend erforderlich, für die Panels und die Überprüfungsinstanz, den Appellate Body, Auslegungsregeln im voraus festzulegen Darüber hinaus versprachen sich die Verhandlungspartner der UruguayRunde von der einheitlichen Verwendung der völkerrechtlichen Auslegungsregeln im Streitbeilegungsverfahren ein höheres Maß an Rechtssicherheit und eine größere Vorhersehbarkeit des Verfahrensausgangs. Dies wird anhand des Satzes „The dispute settlement system of GATT is a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system“ deutlich. Sicherheit und Vorhersehbarkeit setzen notwendig auch einheitliche Regeln der Vertragsauslegung und deren einheitliche Anwendung durch die Organe der Streitbeilegung voraus.280 Exkurs – Die Bedeutung von Art. 3.2 Satz 2 DSU jenseits der Auslegungstätigkeit des Appellate Body Art. 3.2 Satz 2 DSU und der Verweis auf die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsvorschriften ist nicht nur für die Tätigkeit des Appellate Body von Bedeutung. Wie bereits dargestellt bindet die Vorschrift auch die Panels bei der Auslegung der Vorschriften der WTO-Übereinkommen, denn die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsvorschriften sind die Meßlatte, die der Appellate Body an die Interpretationen der Panels anlegt. Darüber stellt Art. 3.2 Satz 2 DSU klar, daß jedes Mitglied der WTO bei der individuellen Auslegung seiner vertraglichen Rechte und Pflichten die gewohnheitsrechtlichen Interpretationsregeln zu beachten hat. Zwar führt Art. 3.2 Satz 2 DSU nicht selbst zu einer Bindung der Mitglieder an die Regeln des Gewohnheitsrechts. Die Geltung dieser Regeln ergibt sich bereits aus der bloßen Existenz der gewohnheitsrechtlichen Vorschriften und der Tatsache, daß die Mitglieder in den WTO-Übereinkommen davon nicht ausdrücklich abgerückt sind. Allerdings macht Art. 3.2 Satz 2 DSU deutlich, daß die Panels und der Appellate Body die WTO-Übereinkommen mit under Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade und des Textes der Elements of an Integrated Dispute Settlement System (dazu oben im Text A. II. 1. durch den Begriff „WTO“ ersetzt. 280 Vgl. zu diesem Aspekt bereits ausführlich oben im 1. Teil 3. Kap. C.; siehe auch Behboodi, JWT 32/4 (1998), S. 55 (62 ff.).

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Hilfe der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln interpretieren. Sofern ein Mitglied sich anderer Methoden bedient und damit ein Auslegungsergebnis erzielt, daß mit den geltenden Auslegungsvorschriften inkompatibel ist, muß dies dazu führen, daß die auf diesem Auslegungsergebnis beruhende staatliche Maßnahme, als rechtswidrig kassiert wird. Auf diese Weise „zwingt“ Art. 3.2 Satz 2 DSU die WTO-Mitglieder zur Anwendung der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln. II. Art. XVI.1 WTO und Art. 3.1 DSU Neben Art. 3.2 Satz 2 DSU enthalten auch Art. XVI.1 WTO und Art. 3.1 DSU Auslegungsregeln, die der Appellate Body zu beachten hat. Art. XVI.1 WTO bestimmt, daß sich die WTO von den Beschlüssen, Verfahren und üblichen Praktiken der VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947 sowie der im Rahmen des GATT 1947 eingesetzten Organe leiten läßt, sofern in den WTO-Übereinkommen nichts anderes vorgesehen ist. Diese Vorschrift verpflichtet die Organe der WTO und damit auch den Appellate Body auf die Berücksichtigung des sogenannten GATT-acquis bei der Auslegung und Anwendung der WTO-Übereinkommen.281 Speziell für den Bereich des Dispute Settlement Understanding macht Art. 3.1 DSU deutlich, daß dieses Übereinkommen keine geschichtslose Neuschaffung ist, sondern in der Tradition des aus Art. XXII und Art. XXIII GATT 1947 entwickelten Streitbeilegungsverfahrens steht. In Art. 3.1 DSU bekräftigen die Mitglieder die Einhaltung der Grundsätze der Streitbeilegung, die vor Inkrafttreten des DSU aufgrund der Art. XXII und XXIII GATT 1947 angewendet und im DSU weiterentwickelt und abgeändert wurden. Diese Vorschrift ist als Verweis auf die von den VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947 zwischen 1966 und 1989 formulierten Dokumente zur Streitschlichtung im GATT 1947 zu verstehen.282 Diese sind, soweit sie nicht durch die Regeln des DSU weiter281 Jackson, World Trading System, S. 121; Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1207) Der aus dem Europarecht (vgl. Streinz, Rn. 63, 80) entlehnte Begriff „GATT-acquis“ wird, soweit ersichtlich, erstmals verwendet von Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1207). 282 1966 formulierten die VERTRAGSPARTEIEN Regeln für Streitbeilegungsverfahren, an denen Entwicklungsländer beteiligt waren (BISD 14S/18 ff.); 1979 fixierten die VERTRAGSPARTEIEN im Understandig on Notfication, Consultation Surveillance and Dispute Settlement (BISD 26S/210 ff.) erstmals die bis dahin befolgten Regeln der Streitbeilegung schriftlich; 1982, am Ende der Tokio-Runde, wurde das Understanding durch die Ministerial Declaration vom 29.11.1982 (BISD 29S/ 13 ff.) leicht modifiziert; am 30.11.1984 beschlossen die VERTRAGSPARTEIEN weitere Modifikationen des Verfahrens (BISD 31S/9 f.); schließlich leiteten die Improvements von 1988/1989 (dazu bereits oben im Text A. II. 1.) die Reformen der Uruguay-Runde ein.

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entwickelt oder abgeändert wurden, bei dessen Auslegung neben den Auslegungsregeln des Völkergewohnheitsrechts ebenfalls zu berücksichtigen.283 III. Art. 3.2 Satz 3 DSU und Art. 19.2 DSU Anders als Art. 3.1 DSU und Art. 3.2 Satz 2 DSU sowie Art. XVI.1 WTO enthalten Art. 3.2 Satz 3 DSU und Art. 19.2 DSU keine Vorschriften bezüglich der bei der Auslegung zu berücksichtigenden Methoden und Materialien. Vielmehr begrenzen diese Vorschriften die Auslegungstätigkeit der Gremien. Beide Vorschriften betonen, daß die Panels und der Appellate Body mit ihren Feststellungen und Empfehlungen die in den WTO-Übereinkommen enthaltenen Rechte und Pflichten weder ergänzen noch schmälern können. Diese Regelung greift die theoretische Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtssetzung auf und stellt klar, daß sich weder Panels noch Appellate Body als Rechtssetzer betätigen dürfen. Inhaltlich waren diese beiden Vorschriften bereits in der Ministererklärung von 1982 vorweggenommen.284 Im Rahmen der Uruguay-Runde waren sie erstmals im Draft Understanding vom Dezember 1990 enthalten. Dort erlangten sie insofern neuerliche Aktualität, als sie den während der Uruguay-Runde geäußerten Bedenken Rechnung trugen, daß das Streitbeilegungsverfahren aufgrund der negativen Konsens-Regel eine von den Mitgliedern nicht beabsichtigte und nicht zu kontrollierende Eigendynamik entfalten könnte und Panels und Appellate Body eine rechtsschöpferische Tätigkeit entwickeln könnten.285 Während die Aufnahme dieser Vorschriften in das Dispute Settlement Understanding vor dem Hintergrund der theoretischen Unterscheidung von Auslegung und Normsetzung einerseits und den Befürchtungen der Teilnehmer der Uruguay-Runde andererseits verständlich ist, dürfte der tatsächliche Anwendungsbereich der Vorschriften eher gering sein. Solange Panels und Appellate Body sich bei der Auslegung der in Art. 3.2 Satz 2 DSU und Art. XVI.1 WTO genannten Auslegungsmittel bedienen, liegt kein Fall der Überschreitung der Grenze zwischen Auslegung und Normsetzung vor. Erst wenn der Appellate Body oder ein Panel mit Billigung des Appellate Body die vorgeschriebenen Auslegungsregeln mißachtet und damit gegen Art. 3.2 Satz 2 DSU verstößt, liegt auch ein Verstoß gegen Art. 3.2 Satz 3 und Art. 19.2 DSU vor. Damit wird deutlich, daß diese beiden Vorschriften vor allem als Appell an den judicial self-restraint der Panels und des Appellate 283

Petersmann, CML Rev. 31 (1994), S. 1157 (1207). BISD 29S/13 (16): It was understood that decisions in this process cannot add or diminish the rights and obligations provided in the General Agreement. 285 Vgl. dazu Letzel, S. 309 f. 284

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Body zu verstehen sind,286 über dem sich aufgrund der negativen KonsensRegel und der damit praktisch verbundenen automatischen Annahme seiner Berichte im Ergebnis „nur der juristische Himmel wölbt“.

C. Das Verhältnis des Appellate Body zu den übrigen Interpreten der WTO-Übereinkommen Im Gefüge der Interpreten der WTO-Übereinkommen nimmt der Appellate Body eine herausgehobene Stellung ein. Der Appellate Body fungiert als Revisor der erstinstanzlichen Panels. Er überprüft, korrigiert und kritisiert deren Auslegung der WTO-Übereinkommen. Vor allem in der Anfangszeit seiner Tätigkeit bediente er sich einer ungewöhnlich deutlichen Sprache, wenn er der Auffassung war, daß die Interpretationsbemühungen der Panels fehlerhaft waren: „45. The Panel misapplies Article 31 of the Vienna Convention. The Panel misunderstands the concept of legitimate expectations in the context of the customary rules of interpretation of public international law. (. . .) 46. In United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline, we set out the proper approach to be applied in interpreting the WTO Agreement in accordance with the rules in Article 31 of the Vienna Convention. These rules must be respected and applied in interpreting the TRIPS Agreement or any other covered agreement. The Panel in this case has created its own interpretative principle, which is consistent with neither the customary rules of interpretation of public international law nor established GATT/WTO practice. Both panels and the Appellate Body must be guided by the rules of treaty interpretation set out in the Vienna Convention, and must not add to or diminish rights and obligations provided in the WTO Agreement.“287

Die Verwendung der Worte misapplies und misunderstands sowie die Feststellung The Panel in this case has created its own interpretative principle, which is consistent with neither the customary rules of interpretation of public international law nor established GATT/WTO practice entsprechen nicht dem im allgemeinen zu erwartenden Duktus einer Revisionsentscheidung. Anstatt den Streitparteien, insbesondere der unterlegenen, die Gründe für die Entscheidung auseinanderzusetzen, belehrte der Appellate Body das Panel über die korrekte Anwendung der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsvorschriften.288 Damit verfolgte der Appellate Body zwei Ziele. 286

So ebenfalls Letzel, S. 311. India – Patent Protection for Pharmaceutical, and Agricultural and Chemical Products (WT/DS50/AB/R; 19.12.1997); vgl. auch die Ausführungen des Appellate Body im Shrimp-Fall United-States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products (WT/DS58/AB/R; 12.10.1998), paras. 114 – 117. 287

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2. Teil: Der Appellate Body als Interpret der WTO-Rechtsordnung

Im Verhältnis zu den Panels festigte er damit sein Auslegungsprimat über die Vorschriften der WTO-Rechtsordnung. Gegenüber den Mitgliedern der WTO machte er deutlich, daß er Art. 3.2 DSU eine hohe Bedeutung zumißt und gewillt ist, die Anwendung der gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln durchzusetzen. Die vor allem in den Anfangsjahren festzustellende kritische Distanz des Appellate Body zur Arbeit der Panels äußerte sich auch in einem der sonst seltenen obiter dicta des Gremiums. In Fußnote 28 seines Berichts im Fall Canada – Measures Concerning Periodicals289 bemerkte der Appellate Body mit Blick auf die vom Panel durchgeführte Auslegung von Art. III.4 GATT 1994: „In this respect, we draw attention to paragraphs 4.8, 5.37 and 5.38 of the Panel Report, and we note that a Panel finding that has not been specifically appealed in a particular case should not be considered to have been endorsed by the Appellate Body. Such a finding may be examined by the Appellate Body when the issue is raised properly in a subsequent appeal.“

Hier warnte der Appellate Body die WTO-Mitglieder davor, sich künftig an der vom Panel unternommenen Auslegung zu orientieren. Daß gegen eine bestimmte Auslegung des Panels kein Rechtsmittel eingelegt worden sei, dürfe nicht dahin gehend verstanden werden, daß der Appellate Body die Auffassung des Panels bestätige. Auch in dieser Passage kommt das Bemühen des Appellate Body zum Ausdruck, sein Auslegungsprimat zu festigen. Das Verhältnis des Appellate Body zu den Mitgliedern der WTO läßt sich am besten erfassen, wenn man zwischen den Mitgliedern als Ganzes und einzelnen Mitgliedern unterscheidet. Die Mitglieder als Ganzes bilden die zwei beziehungsweise drei in diesem Zusammenhang relevanten Plenarorgane der WTO, den Dispute Settlement Body, den Allgemeinen Rat und die Ministerkonferenz. Im Verhältnis zum Dispute Settlement Body ist der Appellate Body ebenso wie die Panels lediglich ein Hilfsorgan, dessen sich der DSB bei der Streitbeilegung bedient und das im Rahmen des Streitbeilegungsverfahrens bestimmte ihm zugewiesene Aufgaben, nämlich die Überprüfung der Panelberichte, ausführt. Die formale Unterordnung des Appellate Body unter den DSB kommt darin zum Ausdruck, daß der DSB nach Art. 16.14 DSU jedenfalls theoretisch durch einstimmigen Beschluß aller Mitglieder die Annahme des Berichts des Appellate Body verhindern kann. Darüber 288 Ähnlich auch die Feststellung von Vermulst/Mavroidis/Waer, JWT 33/2 (1999), S. 1 (32). 289 WT/DS31/AB/R; 30.6.1997.

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hinaus steht dem DSB jedoch nicht das Recht zu, einzelne Auslegungen des Appellate Body zu modifizieren. Insgesamt bewirkt die Konstruktion der negativen Konsens-Regel, daß der Appellate Body von der politischen Zustimmung der WTO-Mitglieder zu seiner Arbeit weitgehend unabhängig ist. Die Grenzen dieser Unabhängigkeit liegen dort, wo die Mitglieder mit der Arbeit des Gremiums so unzufrieden sind, daß sie dessen Konstruktion in Zweifel zu ziehen beginnen. Während der Appellate Body im Rahmen der Streitbeilegung der oberste Interpret der unter das Dispute Settlement Understanding fallenden WTOÜbereinkommen ist, sind jenseits dieses Bereiches die Mitgliedstaaten als Ganzes die bedeutendsten Interpreten der Abkommen. Nach Art. IX.2 Satz 1 WTO sind allein die Ministerkonferenz und der Allgemeine Rat befugt, das WTO-Übereinkommen und die Multilateralen Übereinkünfte auszulegen. Diese Vorschrift weist diesen beiden Gremien das alleinige Recht zur authentischen, das heißt für alle WTO-Mitglieder verbindlichen Auslegung zu.290 Zum Zustandekommen eines Auslegungsbeschlusses bedarf es nach Art. IX.2 Satz 3 WTO einer Dreiviertelmehrheit der WTO-Mitglieder. Art. 3.9 DSU wiederholt für den Bereich der Streitbeilegung ausdrücklich, daß das DSU den Mitgliedern das Recht beläßt, eine verbindliche Auslegung von Bestimmungen eines WTO-Übereinkommens durch Beschlußfassung nach den Regeln des WTO-Übereinkommens zu erwirken. Diese beiden Vorschriften machen deutlich, daß die Auslegungen des Appellate Body gerade nicht für alle Mitglieder verbindlich sind.291 Nicht zuletzt aus dem Wesen der authentischen Interpretation, die in der Normenhierarchie denselben Rang wie die ausgelegte Rechtsvorschrift hat,292 folgt schließlich auch, daß die Auslegungen der Ministerkonferenz und des Allgemeinen Rates auch für den Appellate Body verbindlich sind. Der Appellate Body hat die enge inhaltliche Verbindung zwischen Art. 3.2 DSU und Art. IX.2 WTO deutlich gemacht. Im Fall United States – Import Measures on Certain Products from the European Communities293 290 Auch Art. IX.2 WTO zieht eine Grenzlinie zwischen Auslegung und Vertragsänderung, also Rechtssetzung, wenn in Satz 4 der Vorschrift bestimmt wird, daß die Vorschriften über die authentische Auslegung nicht in einer Weise angewendet werden dürfen, welche die Änderungsbestimmungen in Artikel X unterlaufen würde. Bei dieser Vorschrift darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Grenzziehung zwischen authentischer Auslegung und Vertragsänderung in vielen Fällen äußerst schwierig sein dürfte. Es verwundert daher nicht, daß Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (635) Art. IX und Art. X WTO in einem Atemzug nennt, wenn er eine Lösung des Problems der sogenannten amicus curiae briefs skizziert. 291 Unzutreffend insofern Kohona, JWT 28/2 (1994), S. 23 (27). 292 Vgl. dazu bereits oben 1. Teil 1. Kap. C. I. 293 WT/DS165/AB/R; 11.12.2000.

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2. Teil: Der Appellate Body als Interpret der WTO-Rechtsordnung

bemerkte er, nachdem er auf das aus seiner Sicht ungeklärte und durch Auslegung nicht zu klärende Verhältnis zwischen Art. 21.5 DSU und Art. 22 DSU hingewiesen hatte: „92. In so noting, we observe that it is certainly not the task of either panels or the Appellate Body to amend the DSU or to adopt interpretations within the meaning of Article IX:2 of the WTO Agreement. Only WTO Members have the authority to amend the DSU or to adopt such interpretations. Pursuant to Article 3.2 of the DSU, the task of panels and the Appellate Body in the dispute settlement system of the WTO is ‚to preserve the rights and obligations of Members under the covered agreements, and to clarify the existing provisions of those agreements in accordance with customary rules of interpretation of public international law.‘ (emphasis added) Determining what the rules and procedures of the DSU ought to be is not our responsibility nor the responsibility of panels; it is clearly the responsibility solely of the Members of the WTO.“

Hier wies der Appellate Body darauf hin, daß die Panels und er selbst nur die vorhandenen Vorschriften auslegen könnten und auch dürften. Er betonte, daß es nicht die Aufgabe dieser Gremien sei, neue Vorschriften zu schaffen, sei es durch authentische Auslegung oder durch Änderung bestehender Vorschriften. Hierzu seien ausschließlich die Mitglieder berufen. Im Verhältnis zu den einzelnen Mitgliedern der WTO ist der Appellate Body zunächst die zweite Instanz im Streitbeilegungsverfahren. In etwa Zweidritteln aller Fälle legt eine der Streitparteien gegen die Entscheidung des Panels Rechtsmittel ein.294 Dies zeigt, daß die Streitparteien dem Rechtsmittelverfahren eine große Bedeutung beimessen. Dafür dürften im wesentlichen zwei Gründe ausschlaggebend sein. Einerseits erhoffen sich die erstinstanzlich unterlegenen Streitparteien in den Fällen vermeintlich rechtlich fehlerhafter Entscheidungen Abhilfe durch den Appellate Body. Darüber hinaus ist es für die Regierung der unterlegenen Partei im Hinblick auf ihre Verpflichtung zur Umsetzung der Empfehlung wichtig, daß sie im innerstaatlichen Umsetzungsverfahren gegenüber etwaigen politischen Widerständen einwenden kann, sie habe alle zur Verfügung stehenden rechtlichen Optionen ausgeschöpft. Demgegenüber dürfte die Möglichkeit, durch 294 In 48 der bis zum 17. Januar 2003 zu Ende gebrachten 68 Fällen wurde Rechtsmittel eingelegt; vgl. Update of WTO Dispute Settlement Cases (WT/DS/ OV/10; 22.1.2003). Diese Entwicklung, die zum einen das Panelverfahren zu entwerten droht und andererseits zu einer erheblichen Belastung des Appellate Body führt, steht unter anderem im Mittelpunkt der Diskussionen um die Reform des Streitbeilegungsverfahrens. Dabei werden vor allem zwei Lösungsansätze diskutiert, deren Verwirklichung auch kumulativ möglich wäre: Aufwertung des Panelverfahrens durch Schaffung eines fest installierten Spruchkörpers und Vergrößerung des Appellate Bodys auf neun oder elf Mitglieder; vgl. die zahlreichen Diskussionsvorschläge der Mitgliedstaaten, die sämtlich über das Internet zugänglich sind. Die relevanten Dokumente tragen die Dokumentennummer TN/DS/W/. . .; zur Reformdiskussion im Überlick Stoll/Schorkopf, Rdnr. 506 ff.

2. Kap.: Der Appellate Body

171

die Inanspruchnahme des Revisionsverfahrens die Implementierungspflicht hinauszuzögern, angesichts der kurzen Verfahrensdauer von maximal 90 Tagen allenfalls ein zweitrangiges Motiv für dessen Inanspruchnahme sein. Dies insbesondere deshalb, weil das Implementierungsverfahren – leider – deutlich effektivere Möglichkeiten bietet, die Umsetzung zu verzögern.295 Dem Appellate Body und seinen Entscheidungen kommt aber auch über das jeweilige Streitverfahren und jenseits der unmittelbar daran beteiligten Parteien eine wichtige Bedeutung zu. Durch seine Auslegungstätigkeit konkretisiert er die Vorschriften der Welthandelsordnung und gibt auf diese Weise allen Mitgliedern Anhaltspunkte, wie diese Vorschriften zu verstehen sind. Er macht damit den Ausgang potentieller Rechtsstreite vorhersehbarer und trägt zu deren Vermeidung bei.296 Unerheblich ist insofern, daß der Appellate Body weder zur authentischen Auslegung berufen ist noch im Sinne der anglo-amerikanischen stare decisis-Lehre an seine eigenen Präzedenzfälle gebunden ist.297 Bereits die in Art. 3.2 Satz 1 DSU enthalten Feststellung, daß das Streitbeilegungssystem ein zentrales Element zur Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem ist, verpflichtet den Appellate Body und auch die Panels, nicht ohne Not von einmal eingeschlagenen Wegen abzugehen. Dabei ist es nicht nur von Bedeutung, daß der Appellate Body einmal gefundene Auslegungsergebnisse nicht wieder umstößt. Ebenso wichtig ist es, daß er die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsmethoden kohärent anwendet. Denn auf diese Weise versetzt er die Mitglieder in die Lage, die Vorschriften der Übereinkommen selbst in zutreffender Weise auszulegen. Angesichts der jeweils nur auf wenige, wenn auch wichtige Vorschriften beschränkten Streitverfahren, ist die Vereinheitlichung der Auslegungsmethoden von nicht zu unterschätzender Bedeutung.298 Wie sich aus den vorangehend zitierten Passagen seiner Berichte entnehmen läßt, ist sich der Appellate Body dieser hohen Verantwortung bewußt.

295

Vgl. Leier, EuZW 1999, S. 204 (210). Vermulst/Mavroidis/Waer, JWT 33/2 (1999), S. 1 (33) sprechen davon, daß es das Ziel des Appellate Body sein sollte, sich eines Tages selbst überflüssig zu machen. 297 Chua, LJIL 11 (1998), S. 45 (53); Lester, JWT 35/3 (2001), S. 521 (529); Martha, NILR 44 (1997), S. 346 (375, 377); vgl. auch Jackson, in: FS Schermers, S. 149 (148) zum stare decisis-Grundsatz im GATT 1947 sowie Rosenne, S. 611 f. zur Bedeutung von Präzedenzfällen in der Rechtsprechung des IGH. 298 Zu diesem Aspekt auch Ehlermann, JWT 36/4 (2002), S. 605 (616). 296

3. Teil

Die Auslegung des Appellate Body 1. Kapitel

Die Wortlautauslegung In Übereinstimmung mit den allgemeinen methodischen Vorgaben beginnt der Appellate Body die Interpretation der Vorschriften der WTOÜbereinkommen regelmäßig mit der Wortlautauslegung. In deren Verlauf bemüht sich der Appellate Body darum, die Bedeutung einzelner Worte der jeweils auszulegenden Vertragsnormen zu ermitteln. Dabei bedient sich das Gremium unterschiedlicher Techniken.

A. Bestimmung der Wortbedeutung mit Hilfe von Wörterbüchern Im Mittelpunkt der Bemühungen des Appellate Body um die Wortlautauslegung steht bereits seit der ersten Entscheidung im Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline1 die Verwendung von Wörterbüchern. Da sich trotz der formellen Gleichwertigkeit der drei authentischen Sprachen der WTO Englisch als Verfahrenssprache vor den Panels und dem Appellate Body eingebürgert hat, handelt es sich dabei nahezu ausschließlich um englischsprachige Wörterbücher.2 I. Die Verwendung allgemeinsprachlicher Wörterbücher Hauptsächlich verwendet der Appellate Body im Rahmen der Wortlautauslegung das New Shorter Oxford English Dictionary on Historical Prin1

WT/DS2/AB/R (29.4.1996); näher dazu sogleich unten im Text. Eine Ausnahme bildet der Fall United States – Section 211 Omnibus Appropriations Act of 1998 (WT/DS/176/AB/R [2.1.2002]), wo der Appellate Body bei der Auslegung von Art. 6 quinquies der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums ein französischsprachiges Wörterbuch verwendete (para. 137). Dies erklärt sich allerdings damit, daß Französisch die einzige Vertragssprache dieses Abkommens ist, das über Art. 2.1 TRIPS in das TRIPS inkorporiert ist. 2

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

173

ciples, das Concise Oxford Dictionary of Current English und das Webster’s Third New International Dictionary. Nur vereinzelt greift er darüber hinaus auf andere allgemeinsprachliche Wörterbücher zurück. Bei den genannten Wörterbüchern handelt es sich um allgemeinsprachliche Wörterbücher, die die verschiedenen Bedeutungen verzeichnen, die ein Wort in unterschiedlichen Sprachsituationen haben kann.3 Die Darstellung dieser Bedeutung erfolgt entweder durch Umschreibungen oder durch die Verwendung von Synonymen. Um die möglichen Bedeutungen eines Wortes zu ermitteln analysieren die Redaktionen dieser Wörterbücher Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Pamphlete, Kataloge und Fachpublikationen.4 Die Anzahl der verzeichneten Bedeutungen eines Wortes hängt dabei stark vom Umfang und der Ausrichtung des jeweiligen Wörterbuches ab. Das New Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles und das Webster’s Third New International Dictionary sind zweibändige Wörterbücher, die nicht nur „Hauptbedeutungen“, sondern auch „Nebenbedeutungen“ sowie nicht mehr verwendete historische Bedeutungen verzeichnen, während sich die Herausgeber des Concise Oxford Dictionary of Current English darauf beschränkt haben, „Hauptbedeutungen“ aufzunehmen.5 Die beiden umfangreicheren Werke enthalten neben Definitionen und Synonymen meist auch Beispiele für die Verwendung eines Wortes in einer oder mehreren Bedeutungen. Im Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline6 untersuchte der Appellate Body die Bedeutung der in Art. XX(g)7 GATT 1994 vorkommenden Worte made effective und in conjuntion with. Dazu führte er aus:8 „The Appellate Body considers that the basic international law rule of treaty interpretation (. . .) is applicable here, too. Viewed in this light, the ordinary or natural meaning of ‚made effective‘ when used in connection with a measure – a governmental act or regulation – may be seen to refer to such measure being ‚operative‘, as ‚in force‘, or as having ‚come into effect.‘40 Similarly, the phrase 3 Vgl. allgemein zum Inhalt von Wörterbüchern Read, in: The New Encyclopedia Britannica, Vol. 18, S. 257 (284). 4 Vorwort zu Webster’s Third New International Dictionary (ohne Seitenangabe); ähnlich Vorwort zu New Shorter Oxford English Dictionary, S. viii; allgemein dazu Schaeder, in: Glück S. 410. 5 The Concise Oxford Dictionary, S. xii. 6 Vgl. soeben oben im Text. 7 Art. XX(g) GATT 1994: (. . .) nothing in this Agreement shall be construed to prevent the adoption or enforcement by any contracting party of measures: (g) relating to the conservation of exhaustible natural resources if such measures are made effective in conjunction with restrictions on domestic production or consumption (. . .); (Hervorhebung vom Verfasser). 8 A. a. O., S. 20.

174

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

‚in conjunction with‘ may be read quite plainly as ‚together with‘ or ‚jointly with.‘41 (. . .) Notes: 40 The New Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles (L. Brown, ed., 1993), Vol. I, p. 786. 41 Id., p. 481.“

Im Verfahren Thailand – Anti-Dumping Duties on Angles, Shapes and Sections of Iron or Non-Alloy Steel and H-Beams from Poland,9 in dem es um mögliche Verstöße Thailands gegen das Antidumpingübereinkommen ging, mußte der Appellate Body unter anderem Art. 17.6(i) des Antidumpingübereinkommens auslegen. In diesem Zusammenhang führte der Appellate Body aus: „116. Article 17.6(i) requires a panel, in its assessment of the facts of the matter, to determine whether the authorities’ ‚establishment of the facts‘ was ‚proper‘. The ordinary meaning of ‚establishment‘ suggests an action to ‚place beyond dispute; ascertain, demonstrate, prove‘70; the ordinary meaning of ‚proper‘ suggests ‚accurate‘ or ‚correct‘.71 Based on the ordinary meaning of these words, the proper establishment of the facts appears to have no logical link to whether those facts are disclosed to, or discernible by, the parties to an antidumping investigation prior to the final determination. (. . .) Notes: 70 See the definition of ‚to establish‘ in The New Shorter Oxford English Dictionary (Clarendon Press, 1993), Vol. I, pp. 852–853. 71 The New Shorter Oxford English Dictionary (Clarendon Press, 1993), Vol. II, p. 2379.“

Teilweise begnügt sich der Appellate Body nicht mit der Verwendung eines einzelnen Wörterbuches, sondern nimmt bei der Ermittlung der Bedeutung eines Wortes zwei oder drei Wörterbücher zur Hilfe. Im Verfahren Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft,10 in dem es um vermeintliche Exportsubventionen für die kanadische Flugzeugindustrie ging, mußte der Appellate Body das Wort benefit in Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen auslegen. Art. 1.1 dieses Übereinkommens stellt eine Definition des Begriffs Subvention für die Zwecke des Abkommens auf. Danach liegt eine Subvention vor, wenn eine öffentliche Einrichtung eine Beihilfe leistet (Art. 1.1[a]) und dadurch dem Empfänger ein Vorteil (benefit) gewährt wird (Art. 1.1[b]). Kanada argumentierte unter Berufung auf eine Vorschrift des Annex IV des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, daß nur dann von einem Vorteil die Rede sein könne, wenn der Regierung durch die Gewährung der Beihilfe Kosten entstünden. Das zunächst mit der Angelegenheit befaßte Panel hatte demgegenüber den Begriff benefit mit advantage übersetzt und es für unerheblich erklärt, ob der Regierung Kosten ent9 10

WT/DS122/AB/R (12.3.2001). WT/DS70/AB/R (2.8.1999).

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

175

stünden.11 Der Appellate Body begann seine Untersuchung mit der Wortlautauslegung, in deren Verlauf er unter Berufung auf zwei Wörterbücher die Auffassung des Panels bestätigte:12 „153. In addressing this issue, we start with the ordinary meaning of ‚benefit‘. The dictionary meaning of ‚benefit‘ is ‚advantage‘, ‚good‘, ‚gift‘, ‚profit‘, or, more generally, ‚a favourable or helpful factor or circumstance‘.85 Each of these alternative words or phrases gives flavour to the term ‚benefit‘ and helps to convey some of the essence of that term. These definitions also confirm that the Panel correctly stated that ‚the ordinary meaning of benefit clearly encompasses some form of advantage.‘ (. . .) Note: 85 The New Shorter Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1993), Vol. I, p. 214; The Concise Oxford Dictionary, (Clarendon Press, 1995), p. 120; Webster’s Third New International Dictionary (unabridged), (William Benton, 1966), Vol. I, p. 204.“

Während die Verwendung der Wörterbücher in den bislang dargestellten Fällen stets einen Erkenntnisfortschritt für die Ermittlung der Wortbedeutung brachte, gibt es einige wenige Fälle, in denen der Nutzen dieser Technik fragwürdig ist, teilweise sogar absurde Züge annimmt. In seinem Bericht im Fall Korea – Taxes on Alcoholic Beverages,13 in dem der Appellate Body unter anderem die Vereinbarkeit koreanischer Alkoholsteuern mit Art. III.2 S. 2 GATT 1994 untersuchen mußte, führte er zur Auslegung der Worte directly competitive and substitutable aus:14 „114. The term ‚directly competitive or substitutable‘ describes a particular type of relationship between two products, one imported and the other domestic. It is evident from the wording of the term that the essence of that relationship is that the products are in competition. This much is clear both from the word ‚competitive‘ which means ‚characterized by competition‘89, and from the word ‚substitutable‘ which means ‚able to be substituted‘.90 (. . .) Notes: 89 Lesley Brown (ed.), The New Shorter Oxford English Dictionary, Vol. I, p. 459 (Clarendon Press, 1993). 90 Lesley Brown (ed.), op. cit., Vol. II, p. 3125.“

Im Fall European Communities – Anti-Dumping Duties on Imports of Cotton-Type Bed Linen from India15 untersuchte der Appellate Body, ob die EG die Dumpingspanne korrekt berechnet hatte. Zu diesem Zweck mußte der Appellate Body die Bedeutung des in Art. 2.4.2 des Antidumpingübereinkommens verwendeten Wortes comparable bestimmen. Dazu erklärte er:16 11

Vgl. zur Argumentation Kanadas und zur Argumentation des Panels die Zusammenfassung im Bericht des Appellate Body, paras. 149–151. 12 WT/DS70/AB/R, para. 153. 13 WT/DS75/AB/R; WT/DS84/AB/R (18.1.1999). 14 WT/DS75/AB/R; WT/DS84/AB/R, para. 114. 15 WT/DS141/AB/R (1.3.2001).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

„57. The ordinary meaning of the word ‚comparable‘ is ‚able to be compared‘24. Note: 24 The Concise Oxford Dictionary of Current English (Clarendon Press, 1995), p. 269.“

In beiden Fällen ist die Verwendung eines Wörterbuches zur Klärung der Bedeutung der Begriffe substitutable und comparable überflüssig, weil sie in keiner Weise zur inhaltlichen Klärung der verwendeten Worte beiträgt. II. Die Verwendung fachsprachlicher Wörterbücher Neben den allgemeinsprachlichen Wörterbüchern verwendet der Appellate Body zur Definition der auszulegenden Wörter in einigen Fällen auch Black’s Law Dictionary, eines der führenden amerikanischen Rechtswörterbücher. In diesem Wörterbuch sind die Bedeutungen von Wörtern und Begriffen zusammengetragen, die häufig in anglo-amerikanischen Rechtstexten, insbesondere Gesetzen, Verwendung finden.17 Die innerhalb der einzelnen Einträge verzeichneten Definitionen werden oftmals durch Kurzzitate, die vorwiegend der Rechtsprechung der Vereinigten Staaten entstammen, illustriert. In den meisten Fällen, in denen der Appellate Body das Rechtswörterbuch als Quelle verwendet, bezieht er sich zusätzlich auch auf wenigstens ein allgemeinsprachliches Wörterbuch. Im Verfahren Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products,18 in dem verschiedene kanadische Vergünstigungen im Zusammenhang mit dem Export und dem Import von Milch und Molkereiprodukten auf dem Prüfstand standen, definierte der Appellate Body das in Art. 9.1(a) des Übereinkommens über Landwirtschaft vorkommende Wort governments or their agencies wie folgt:19 „97. We start our interpretive task with the text of Article 9.1(a) and the ordinary meaning of the word ‚government‘ itself. According to Black’s Law Dictionary, ‚government‘ means, inter alia, ‚[t]he regulation, restraint, supervision, or control which is exercised upon the individual members of an organized jural society by those invested with authority‘.73 (emphasis added) This is similar to meanings given in other dictionaries.74 The essence of ‚government‘ is, therefore, that it enjoys the effective power to ‚regulate‘, ‚control‘ or ‚supervise‘ individuals, or otherwise ‚restrain‘ their conduct, through the exercise of lawful authority. This meaning is derived, in part, from the functions performed by a government and, in part, from the government having the powers and authority to perform those func16 17 18 19

WT/DS141/AB/R, para. 57. Vorwort zu Black’s Law Dictionary, S. iii. WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R (13.10.1999). A. a. O., para. 97.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

177

tions. A ‚government agency‘ is, in our view, an entity which exercises powers vested in it by a ‚government‘ for the purpose of performing functions of a ‚governmental‘ character, that is, to ‚regulate‘, ‚restrain‘, ‚supervise‘ or ‚control‘ the conduct of private citizens. As with any agency relationship, a ‚government agency‘ may enjoy a degree of discretion in the exercise of its functions.75 Notes: 73 Black’s Law Dictionary (West Publishing Co., 1990), p. 695. The same dictionary states that ‚[t]he term jural society is used as the synonym of state or organized political community‘ (p. 851). 74 The New Shorter Oxford English Dictionary, Lesley Brown (ed.) (Clarendon Press, 1993), Vol. I, p. 1123; Merriam Webster’s Collegiate Dictionary, Frederick Mish (ed.) (Merriam Webster Inc., 1993), p. 504. 75 Black’s Law Dictionary, supra, footnote 73, pp. 62 and 63.“

Wie der Nachweis in Fußnote 75 sowie der dazugehörende Text zeigen, gibt es auch einige wenige Fälle, in denen der Appellate Body sich ausschließlich auf Black’s Law Dictionary beruft, ohne gleichzeitig allgemeinsprachliche Wörterbücher zu konsultieren.20 Auch im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products21 bezog sich der Appellate Body sowohl auf das fachsprachliche Black’s Law Dictionary wie auch auf ein allgemeinsprachliches Wörterbuch, um die Bedeutung eines fraglichen Begriffes zu klären. In diesem Fall stand die Rechtmäßigkeit von Importbeschränkungen zur Debatte, die Korea gegen aus der EG importiertes Milchpulver unter Berufung auf Art. XIX GATT 1994 und das Abkommen über Schutzmaßnahmen verhängt hatte. Im Rahmen seiner Untersuchungen mußte der Appellate Body die Bedeutung der in Art. XIX. 1(a) GATT 1994 enthaltenen Worte as result of unforeseen developments klären. Dazu führte das Gremium aus:22 „84. (. . .) We look first to the ordinary meaning of these words. As to the meaning of ‚unforeseen developments‘, we note that the dictionary definition of ‚unforeseen‘, particularly as it relates to the word ‚developments‘, is synonymous with ‚unexpected‘.47 ‚Unforeseeable‘, on the other hand, is defined in the dictionaries as meaning ‚unpredictable‘ or ‚incapable of being foreseen, foretold or anticipated‘.48 Thus, it seems to us that the ordinary meaning of the phrase ‚as a result of unforeseen developments‘ requires that the developments which led to a product being imported in such increased quantities and under such conditions as to cause or threaten to cause serious injury to domestic producers must have been ‚unexpected‘. (. . .) Notes: 47 See Webster’s Third New International Dictionary (Encyclopaedia Britannica Inc., 1966), Vol. 3, p. 2496; and Black’s Law Dictionary, 6th ed. (West Publishing Company, 1990), p. 1530. 48 Ibid.“ 20 Ähnlich im Fall European Communities – Anti-Dumping Duties on Imports of Cotton-Type Bed Linen from India, WT/DS141/AB/R (1.3.2001), para. 80 m. Fn. 44. 21 WT/DS98/AB/R (14.12.1999). 22 WT/DS98/AB/R, para. 84.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Während in den beiden dargestellten Fällen die in den Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen jeweils übereinstimmten, finden sich in der Spruchpraxis des Appellate Body bislang zwei Fälle, in denen die für ein bestimmtes Wort verzeichneten Bedeutungen in allgemeinen Wörterbüchern und im Rechtswörterbuch divergieren. Im Fall Canada – Term of Patent Protection23 mußte der Appellate Body das Wort available in Art. 33 TRIPS auslegen.24 Section 45 des kanadischen Patent Acts gewährte eingetragenen Patenten lediglich einen Schutz von 17 Jahren ab der Anmeldung, während Art. 33 TRIPS bestimmt, daß die erhältliche Schutzdauer nicht vor dem Ablauf einer Frist von 20 Jahren ab der Anmeldung enden darf.25 Allerdings stand es im Ermessen der kanadischen Patentbehörden, nach der Patentanmeldung, die bereits einen vorläufigen Schutz bewirkte, die endgültige Patenteintragung so lange hinauszuzögern, daß die tatsächliche Schutzdauer 20 Jahre betrug.26 Die kanadische Regierung trug vor, daß die Behörden regelmäßig von ihren Möglichkeiten Gebrauch machten und daß daher die Voraussetzungen von Art. 33 TRIPS erfüllt seien. Der Appellate Body machte sich die Ausführungen des Panels zu eigen und führte zu dem als relevant identifizierten Tatbestandsmerkmal available aus: „88. Article 33 requires a Member to make a term of protection ‚available‘. Canada argues that Section 45 of its Patent Act makes ‚available‘, on a sound legal basis, a twenty-year term to every patent applicant because, under the Canadian regulatory practices and procedures, every patent applicant has statutory and other means to control and delay the patent-granting process. The Panel rejected this argument, and interpreted the word ‚available‘ in the following terms: Black’s Law Dictionary defines the word ‚available‘ as ‚having sufficient force or efficacy; effectual; valid‘ and the word ‚valid‘ in turn means ‚having legal strength or force. . .incapable of being rightfully overthrown or set aside.‘ The dictionary meaning of the word ‚available‘ would suggest that patent right holders are entitled, as a matter of right, to a term of protection that does not end before twenty years from the date of filing. 89.

The Panel concluded that:

. . . the discretionary nature of both a patent examiner’s authority to grant informal delays as well as the Commissioner’s power to grant statutory delays so as 23

WT/DS170/AB/R (18.9.2000). Zuvor hatte der Appellate Body bereits bejaht, daß Art. 33 TRIPS auf die im Fall in Rede stehenden vor 1989 eingetragenen sogenannten Altpatente Anwendung fand. Dabei stand die Auslegung von Art. 70.1 und 70.2 TRIPS im Mittelpunkt. Dazu sogleich ausführlich unten u. a. im 2. Kap. 25 Im englischen Text heißt es: The term of protection available shall not end before the expiration of a period of twenty years counted from the filing date; (Hervorhebung vom Verfasser). 26 Vgl. den Bericht des Panels WT/DS170/R (5.5.2000), paras. 6.103 ff. 24

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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to allow patent applicants to obtain a term of protection that does not end before 20 years from the date of filing does not make available, as a matter of right, to patent applicants a term of protection required by Article 33. 90. We agree with the Panel that, in Article 33 of the TRIPS Agreement, the word ‚available‘ means ‚available, as a matter of right‘, that is to say, available as a matter of legal right and certainty.“

Wie das Panel kam auch der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß die Möglichkeit, die Schutzdauer auf 20 Jahre auszudehnen, allenfalls ein Nebeneffekt des kanadischen Verwaltungsverfahrens sei, ohne daß der einzelne Antragsteller darauf jedoch einen Rechtsanspruch habe, weshalb die Voraussetzungen des Wortes available in Art. 33 TRIPS nicht erfüllt seien.27 Das entscheidende Argument für Panel und Appellate Body lieferte die Definition des Wortes available in Black’s Law Dictionary.28 Während das Panel deren zweiten Teil zitierte, lautet deren erster Teil: „Suitable; useable; accessible; obtainable; present or ready for immediate use.“ Das vom Appellate Body häufig verwendete Concise Oxford Dictionary of Current English definiert das Wort available mit „1 capable of being used; at one’s disposal. 2 obtainable; within one’s reach. 3 (of a person) (. . .).“29 Keine dieser Definitionen entspricht der von Panel und Appellate Body in ihren Entscheidungen zugrunde gelegten Definitionen. Das ebenfalls häufig verwendete New Shorter Oxford English Dictionary schließlich deutet an, daß die von den Gremien der WTO gewählte Bedeutung des Wortes available eine ausschließlich im rechtlichen Sprachgebrauch zu findende Bedeutung ist. Dort findet sich unter available folgender Eintrag: „1 Capable of producing a desired result; effectual, valid; obs.[olete] exc.[ept] Law. 2 (. . .) 3 Able to be used or turned to account; at one’s disposal; within one’s reach, obtainable; (of a person) (. . .).“30 Der Zusatz obs.[olete] exc.[ept] Law zeigt, daß die dort genannten Bedeutungen im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr verwendet werden, sondern sich nur in der rechtlichen Fachsprache erhalten haben. Diese rechtliche Bedeutung des Wortes available ist wesentlich strenger als die allgemeinsprachliche Bedeutung. Das Wort obtainable verlangt anders als das Wort valid keinen Rechtsanspruch. In dem entschiedenen Fall hätte eine Auslegung in diese Richtung zu einer Entscheidung zugunsten Kanadas geführt. Im Fall Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef 31 mußte der Appellate Body das in Art. XX(d) GATT 199432 vor27 28 29 30 31

WT/DS170/AB/R, para. 91. Das Panel zitierte Black’s Law Dictionary, 5. Auflage, 1979, S. 123. Concise Oxford Dictionary of Current English, S. 85. New Shorter Oxford English Dictionary, S. 154. WT/DS161/AB/R; WT/DS169/AB/R (11.12.2000).

180

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

kommende Wort necessary auslegen. In der Sache ging es dabei um die Frage, ob ein Verstoß koreanischer Verkaufsregelungen für importiertes Rindfleisch gegen Art. III.4 GATT 1994 möglicherweise unter Art. XX(d) GATT 1994 gerechtfertigt waren, weil sie zur Durchführung eines koreanischen Gesetzes gegen unlauteren Wettbewerb erforderlich waren.33 „160. The word ‚necessary‘ normally denotes something ‚that cannot be dispensed with or done without, requisite, essential, needful‘.102 We note, however, that a standard law dictionary cautions that: [t]his word must be considered in the connection in which it is used, as it is a word susceptible of various meanings. It may import absolute physical necessity or inevitability, or it may import that which is only convenient, useful, appropriate, suitable, proper, or conducive to the end sought. It is an adjective expressing degrees, and may express mere convenience or that which is indispensable or an absolute physical necessity‘103 161. We believe that, as used in the context of Article XX(d), the reach of the word ‚necessary‘ is not limited to that which is ‚indispensable‘ or ‚of absolute necessity‘ or ‚inevitable‘. Measures which are indispensable or of absolute necessity or inevitable to secure compliance certainly fulfil the requirements of Article XX(d). But other measures, too, may fall within the ambit of this exception. As used in Article XX(d), the term ‚necessary‘ refers, in our view, to a range of degrees of necessity. At one end of this continuum lies ‚necessary‘ understood as ‚indispensable‘; at the other end, is ‚necessary‘ taken to mean as ‚making a contribution to.‘ We consider that a ‚necessary‘ measure is, in this continuum, located significantly closer to the pole of ‚indispensable‘ than to the opposite pole of simply ‚making a contribution to‘. Notes: 102 The New Shorter Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1993), Vol. II, p. 1895. 103 Black’s Law Dictionary, (West Publishing, 1995), p. 1029.“34 32 Art. XX(d) GATT 1994: (. . .) nothing in this Agreement shall be construed to prevent the adoption or enforcement by any contracting party of measures: (d) necessary to secure compliance with laws or regulations which are not inconsistent whith the provisions of this Agreement, including those relating to (. . .) the prevention of deceptive practices; (Hervorhebung vom Verfasser). 33 In Korea ist einheimisches Rindfleisch deutlich teurer als importiertes Rindfleisch. Dies führte nach Angaben der koreanischen Regierung dazu, daß koreanische Fleischverkäufer dazu tendierten, auch importiertes Rindfleisch als einheimisches Rindfleisch zu deklarieren und zu verkaufen, um auf diese Weise höhere Erlöse zu erzielen. Um diesen unlauteren Wettbewerb zu unterbinden bestimmte die koreanische Regierung, daß Einzelhändler entweder ausschließlich einheimisches oder ausschließlich importiertes Rindfleisch verkaufen durften; vgl. dazu den Bericht des Panels (WT/DS161/R; WT/DS169/R [31.7.2000], para. 237 ff.). 34 Die in Black’s Law Dictionary wiedergegebene Definition des Wortes „necessary“ stammt aus dem Urteil des obersten Gerichtshofes des US-Bundestaates Oklahoma im Fall Kay County Excise Board c. Atchison, T.&S.F.R. Co., (185 Okl. 327, 91 P.2d 1087, 1088), in dem es um die Frage ging, ob eine Schulbehörde, die durch Gesetz dazu berechtigt ist, diejenigen Ausgaben zu tätigen, die zum Betrieb einer

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

181

Ebenso wie im Fall Canada – Term of Patent Protection gab auch in diesem Fall die im Rechtswörterbuch verzeichnete Wortbedeutung den Ausschlag für die vom Appellate Body gewählte Auslegung, wenngleich in diesem Fall der Unterschied zwischen der im allgemeinsprachlichen Wörterbuch angegebenen Bedeutung und der vom Appellate Body aufgrund des Rechtswörterbuches gewählten Bedeutung nicht so erheblich ist wie in Canada – Term of Patent Protection. Während in Canada – Term of Patent Protection die allgemeinsprachliche Bedeutung dazu geführt hätte, daß die kanadische Patentgesetzgebung als mit Art. 33 TRIPS konform hätte gewertet werden müssen, hätte die allgemeinsprachliche Bedeutung des Wortes necessary den Ausgang des Falles nicht beeinflußt. Die aufgrund des Rechtswörterbuches vom Appellate Body gewählte Bedeutung stellte im Ergebnis weniger strenge Anforderungen an die Gesetzgebung als die im allgemeinsprachlichen Wörterbuch verzeichnete Bedeutung. Da die koreanische Gesetzgebung aber bereits diesen Anforderungen nicht genügte, hätte sie den strengeren Anforderungen erst recht nicht genügt.

B. Bestimmung der Wortbedeutung mit Hilfe anderer völkerrechtlicher Verträge Im Rahmen der Untersuchung der allgemeinen völkerrechtlichen Methodik hat sich gezeigt, daß auch andere völkerrechtliche Verträge die Funktion von Wörterbüchern übernehmen können und auf diese Weise zur Klärung der Bedeutung des jeweils auszulegenden Wortes beitragen können. Im Fall European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment35 bediente sich der Appellate Body dieser Technik und zog einen außerhalb des Systems der WTO stehenden völkerrechtlichen Vertrag zur Auslegung von Vorschriften des WTO-Systems heran.36 Ausgangspunkt dieses Falls war eine Beschwerde der Vereinigten Staaten, die behaupteten die Europäische Gemeinschaft behandele Computer, die an ein lokales Netzwerk angeschlossen werden können, bei der Berechnung von Einfuhrzöllen schlechter als dies in der Liste der Verpflichtungen der Gemeinschaft vorgesehen war; dadurch verstoße die Gemeinschaft gegen Art. II.1 GATT 1994. Hintergrund dieser Beschwerde war die Praxis Schule notwendig sind (necessary), auch dazu berechtigt ist, Uniformen anzuschaffen und diese den Mitgliedern des Schulorchesters kostenlos für Auftritte zur Verfügung zu stellen. 35 WT/DS62/AB/R; WT/DS67/AB/R; WT/DS68/AB/R; (5.6.1998). 36 Einen weiteres Beispiel dieser Vorgehensweise ist der Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products; dazu ausführlich sogleich unten im Text unter D.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

verschiedener europäischer Zollbehörden, netzwerkfähige Computer bei der Einfuhr nicht als Gegenstände der automatischen Datenverarbeitung37 zu behandeln, sondern als Telekommunikationszubehör.38 Den Einfuhrzoll für beide Gerätearten hatte die Gemeinschaft im Laufe der Uruguay-Runde in ihrer Zugeständnisliste LXIII „gebunden“, wobei jedoch der auf Telekommunikationszubehör erhobene Einfuhrzoll den auf Gegenstände der automatischen Datenverarbeitung erhobenen Zoll überstieg. Die beschriebene Praxis der europäischen Zollbehörden führte deshalb dazu, daß die eingeführten Geräte einem höheren Zollsatz unterlagen als dies bei einer Eingruppierung als Gegenstände der automatischen Datenverarbeitung der Fall gewesen wäre. Damit drehte sich der Streitfall um die Frage, ob netzwerkfähige Computer in der Zugeständnisliste der Europäischen Gemeinschaft in die Zollkategorie „Gegenstände der Datenverarbeitung“ oder in die Kategorie „Telekommunikationszubehör“ einzuordnen waren. Diese Frage ließ sich nur durch Auslegung der beiden in der Zugeständnisliste LXIII enthaltenen Zollkategorien beantworten.39 In diesem Zusammenhang führte der Appellate Body aus: „89. We are puzzled by the fact that the Panel, in its effort to interpret the terms of Schedule LXXX, did not consider the Harmonized System and its Explanatory Notes. We note that during the Uruguay Round negotiations, both the European Communities and the United States were parties to the Harmonized System. Furthermore, it appears to be undisputed that the Uruguay Round tariff negotiations were held on the basis of the Harmonized System’s nomenclature and that requests for, and offers of, concessions were normally made in terms of this nomenclature. Neither the European Communities nor the United States argued before the Panel72 that the Harmonized System and its Explanatory Notes were relevant in the interpretation of the terms of Schedule LXXX. We believe, however, that a proper interpretation of Schedule LXXX should have included an examination of the Harmonized System and its Explanatory Notes. 90. A proper interpretation also would have included an examination of the existence and relevance of subsequent practice. We note that the United States referred, before the Panel, to the decisions taken by the Harmonized System Committee of the WCO in April 1997 on the classification of certain LAN equipment 37

TARIC (tarif intégré des Communautés Européennes) Code 84.71. TARIC (tarif intégré des Communautés Européennes) Code 84.73. 39 Bei der Auslegung der Zugeständnislisten, die nach Art. II.7 GATT 1994 einen integralen Bestandteil des GATT bilden, sind nach Auffassung des Appellate Body ebenfalls die gewohnheitsrechtlichen Regeln der Vertragsauslegung anwendbar; vgl. WT/DS62/AB/R; WT/DS67/AB/R; WT/DS68/AB/R, para. 84: „A Schedule is made an integral part of the GATT 1994 by Article II:7 of the GATT 1994. Therefore, the concessions provided for in that Schedule are part of the terms of the treaty. As such, the only rules which may be applied in interpreting the meaning of a concession are the general rules of treaty interpretation set out in the Vienna Convention.“ 38

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

183

as ADP machines.74 Singapore, a third party in the panel proceedings, also referred to these decisions.75 (. . .), we consider that in interpreting the tariff concessions in Schedule LXXX, decisions of the WCO may be relevant; and, therefore, they should have been examined by the Panel. Notes: 72 We recall, however, that in reply to our questions at the oral hearing, both the European Communities and the United States accepted the relevance of the Harmonized System and its Explanatory Notes in interpreting the tariff concessions of Schedule LXXX. See paras. 13 and 38 of this Report. 73 See Panel Report, para. 5.12. 74 As noted in para. 6.34 of the Panel Report, Singapore pointed out, before the Panel, that: . . . the WCO’s HS Committee had recently decided that LAN equipment was properly classifiable in heading 84.71 of the HS. The HS Committee had specifically declined to adopt the position advanced that heading 85.17 was the appropriate category . . . The EC had suggested that the HS Committee decision was intended solely to establish the appropriate HS classification for future imports. It ignored that the language interpreted by the HS Committee was the same language appearing in the EC’s HS nomenclature and in the EC’s concession schedule at the time of the negotiations and afterwards.“

Der Appellate Body erklärte hier, daß zur Auslegung der Zugeständnisliste das „Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung der Waren“ (Harmonized System) und die dieses begleitenden Erläuterungen (Explanatory Notes) zu verwenden seien. Das „Harmonisierte System“ ist eine Liste nahezu aller weltweit gehandelten Waren (Nomenklatur). Diese Liste befindet sich im Anhang des „Internationalen Übereinkommens über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung von Waren“, einem unter der Schirmherrschaft der Weltzollorganisation (WCO) ausgehandelten völkerrechtlichen Vertrag.40 Sie wird nahezu universell bei der Aufstellung von Zolltarifen verwendet und fand auch bei der Aushandlung der Zugeständnislisten während der Uruguay-Runde Verwendung. Die vom Appellate Body ebenfalls erwähnten begleitenden Erläuterungen werden von einem sogenannten „Ausschuß für das Harmonisierte System“ ausgearbeitet. Sie werden quasi automatisch für die Vertragsparteien verbindlich41 und stellen autoritative Auslegungen des Harmonisierten Systems dar. Im Ergebnis ähnelt die Vorgehensweise des Appellate Body, die Nomenklatur des Harmonisierten Systems ebenso wie die dazugehörenden Erläuterungen und weitere Entscheidungen des Ausschusses für das Harmonisierte System42 zur Klärung der Wortbedeutung der in den Zugeständnislisten ver40 Text des „Internationalen Übereinkommens über das Harmonisierte System zur Bezeichnung und Codierung von Waren“ in BGBl. 1986 II, S. 1068 ff. Das Übereinkommen verpflichtet die Vertragsparteien, ihre Zolltarifnomenklatur und Statistiknomenklatur in Übereinstimmung mit dem Harmonisierten System zu bringen (vgl. Art. 3). 41 Vgl. Art. 6, 7 Abs. 1 lit. b, 8 Abs. 2, 3 des Übereinkommens. 42 Zu den weiteren Entscheidungen des Ausschusses vgl. Art. 7 Abs. 1 litt. b, c, e des Übereinkommens.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

wendeten Fachbegriffe heranziehen zu wollen,43 der Verwendung von Fachwörterbüchern. Sowohl völkerrechtliche Verträge als auch Fachwörterbücher stellen eine externe Referenzquelle dar.

C. Weitere Techniken zur Bestimmung der Wortbedeutung Neben den bislang dargstellten hat der Appellate Body einige weitere Techniken zur Ermittlung der Wortbedeutung entwickelt. Teilweise definiert das Gremium die auszulegenden Wörter selbst, ohne dabei ein Wörterbuch zur Hilfe zu nehmen. Daneben gewinnt der Appellate Body Auslegungsargumente bisweilen aus der grammatikalischen Form der in der auszulegenden Norm verwendeten Worte. Schließlich wendet der Appellate Body die Technik der Bedeutungsübertragung an. I. Eigendefinitionen Zunächst ist zu beobachten, daß der Appellate Body in einigen Fällen Worte, um deren Auslegung er sich bemüht, selbst definiert, ohne dabei ersichtlich auf Wörterbücher zurückzugreifen. Im Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear44 mußte der Appellate Body über die Rechtmäßigkeit von Schutzmaßnahmen entscheiden, die die Vereinigten Staaten gegen Textileinfuhren aus Costa Rica ergriffen hatten. Zwischen den Parteien war unter anderem streitig, ob die Vereinigten Staaten berechtigt waren, den Beginn der Schutzmaßnahmen zurückzudatieren.45 Beurteilungsmaßstab für diese 43 Der Appellate Body führte in seinem Bericht die Auslegung der Zugeständnisliste LXIII nicht zu Ende, sondern beschränkte sich darauf, die Auslegungsfehler des Panel aufzuzeigen. 44 WT/DS24/AB/R (10.2.1997). 45 Der genaue Sachverhalt des Falls ist recht kompliziert: Am 27.3.1995 hatten die USA Costa Rica gem. Art. 6.7 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung (im folgenden ATC) um Konsultationen nachgesucht. Am selben Tag übergaben die USA Costa Rica ein „Statement of Serious Damage“, in dem angegeben war, welche Schutzmaßnahmen die USA im Falle des Scheiterns der Konsultationen zu verhängen beabsichtigten. Sowohl das Konsultationsersuchen als auch das „Statement of Serious Damage“ wurden am 21.4.1995 im US-amerikanischen Bundesanzeiger veröffentlicht. Die Konsultationen zwischen den beiden Parteien scheiterten im Juni 1995. Am 23.6.1995 machten die USA entsprechend Art. 6.10 ATC von ihrem Recht, Schutzmaßnahmen zu verhängen, Gebrauch. Den Beginn der einjährigen Zeitraums dieser Schutzmaßnahmen legten die USA auf den 27.3.1995, also den Tag des Konsultationsersuchens fest.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

185

Frage war Art. 6.1046 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung. Zu dieser Vorschrift führte der Appellate Body aus:47 „Under the express terms of Article 6.10, the importing Member which ‚propose[s] to take safeguard action‘ may, ‚after the expiry of the period of 60 days‘ from the date of receipt of the request for consultations without agreement having been reached, ‚apply the restraint (measure)‘ ‚within 30 days following the 60-day period for consultations . . .‘. As we understand it, ‚apply‘ when used as here in respect of a governmental measure – whether a statute or an administrative regulation – means, in ordinary acceptation, putting such measure into operation. To apply a measure is to make it effective with respect to things or events or acts falling within its scope. Put in a slightly different way, a government functionary who evaluates and characterizes things, events or acts in terms of the requirements set out in a restraint measure, is ‚applying‘ or ‚implementing‘ or ‚enforcing‘ that measure. It is essential to note that, under the express terms of Article 6.10, ATC, the restraint measure may be ‚applied‘ only ‚after the expiry of the period of 60 days‘ for consultations, without success, and only within the ‚window‘ of 30 days immediately following the 60-day period. (Fußnote ausgelassen) Accordingly, we believe that, in the absence of an express authorization in Article 6.10, ATC, to backdate the effectivity of a safeguard restraint measure, a presumption arises from the very text of Article 6.10 that such a measure may be applied only prospectively. (. . .)“

Die Grundlage des Vorgehens des Appellate Bodys bilden hier seine Überlegungen zur Bedeutung des Wortes apply. Die Bedeutung dieses Wortes ermittelt er ohne Zuhilfenahme eines Wörterbuches. Ebenso verfuhr der Appellate Body im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas.48 Dort ging es unter anderem um die Frage, ob neben den Regeln des GATT 1994 auch die Regeln des GATS Prüfungsmaßstab für die Bananenmarkt46 Darin heißt es in der authentischen englischen Originalfassung: 10. If, however, after the expiry of the period of 60 days from the date on which the request for consultations was received, there has been no agreement between the Members, the Member which proposed to take safeguard action may apply the restraint by date of import or date of export, in accordance with the provisions of this Article, within 30 days following the 60-day period for consultations, and at the same time refer the matter to the TMB. It shall be open to either Member to refer the matter to the TMB before the expiry of the period of 60 days. In either case, the TMB shall promptly conduct an examination of the matter, including the determination of serious damage, or actual threat thereof, and its causes, and make appropriate recommendations to the Members concerned within 30 days. In order to conduct such examination, the TMB shall have available to it the factual data provided to the Chairman of the TMB, referred to in paragraph 7, as well as any other relevant information provided by the Members concerned. 47 WT/DS24/Ab/R, S. 14 (ohne Absatznummer; Hervorhebungen im Original). 48 WT/DS27/AB/R (9.9.1997).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

ordnung der Europäischen Gemeinschaft waren. Die EG vertrat dabei die Auffassung, daß die Marktordnung den Handel mit der Ware Banane regele und daß daher ausschließlich das Warenhandelsabkommen GATT 1994 einschlägig sei. Die beschwerdeführenden Staaten, Ecuador, Guatemala, Honduras, Mexiko und die Vereinigten Staaten, hingegen argumentierten, daß die Einfuhr von Bananen in die Gemeinschaft und die damit verbundenen Tätigkeiten wie Beförderung, Lagerung und Verpackung der Bananen Dienstleistungen seien und daß daher auch das GATS anwendbar sei. Dazu führte der Appellate Body mit Blick auf den Anwendungsbereich des GATS bestimmenden Art. I.1 GATS aus:49 „220. In addressing this issue, we note that Article I:1 of the GATS provides that ‚[t]his Agreement applies to measures by Members affecting trade in services‘. In our view, the use of the term ‚affecting‘ reflects the intent of the drafters to give a broad reach to the GATS. The ordinary meaning of the word ‚affecting‘ implies a measure that has ‚an effect on‘, which indicates a broad scope of application. (. . .)“

Auch hier bestimmte der Appellate Body die Bedeutung des auszulegenden Wortes, ohne auf ein Wörterbuch zurückzugreifen. Im Fall Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear50 mußte der Appellate Body unter anderem über die Rechtmäßigkeit von Schutzzöllen entscheiden, die Argentinien auf Schuhimporte aus der Europäischen Gemeinschaft erhob. Art. 2.1 und 4.2 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen bestimmen die Voraussetzungen, unter denen Schutzzölle auf ausländische Waren erhoben werden dürfen. Diese Vorschriften verlangen unter anderem, daß einem einheimischen Wirtschaftszweig aufgrund von erhöhten Importen ein ernsthafter Schaden droht oder bereits zugefügt wird. Im konkreten Fall ging der Appellate Body der Frage nach, über welchen Zeitraum hinweg die erhöhten Importe auftreten müssen, um einen ernsthaften Schaden auslösen zu können. Dazu führte er aus: „130. (. . .), the actual requirement, and we emphasize that this requirement is found in both Article 2.1 of the Agreement on Safeguards and Article XIX:1(a) of the GATT 1994, is that ‚such product is being imported . . . in such increased quantities‘129, ‚and under such conditions as to cause or threaten to cause serious injury to the domestic industry‘. (emphasis added) Although we agree with the Panel that the ‚increased quantities‘ of imports cannot be just any increase, we do not agree with the Panel that it is reasonable to examine the trend in imports over a five-year historical period. In our view, the use of the present tense of the verb phrase ‚is being imported‘ in both Article 2.1 of the Agreement on Safeguards and Article XIX:1(a) of the GATT 1994 indicates that it is necessary for the competent authorities to examine recent imports, and not simply trends in 49 50

WT/DS27/AB/R, para. 220. WT/DS121/AB/R (14.12.1999).

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

187

imports during the past five years – or, for that matter, during any other period of several years.130 In our view, the phrase ‚is being imported‘ implies that the increase in imports must have been sudden and recent. Notes: 129 Article 2.1 of the Agreement on Safeguards contains the additional words ‚absolute or relative to domestic production‘. 130 The Panel, in footnote 530 to para. 8.166 of the Panel Report, recognizes that the present tense is being used, which it states ‚would seem to indicate that, whatever the starting-point of an investigation period, it has to end no later than the very recent past.‘ (emphasis added) Here, we disagree with the Panel. We believe that the relevant investigation period should not only end in the very recent past, the investigation period should be the recent past.“

Hier entnahm der Appellate Body das wesentliche Argument der Verwendung des sogenannten present progressive im Vertragstext. Diese Verbform deutet an, daß der Beginn des Beobachtungszeitraums nur in der jüngeren Vergangenheit liegen darf.51 Hätte das Abkommen einen weiter zurückliegenden Zeitpunkt anvisiert, so wäre im Vertragstext eine Vergangenheitsform verwendet worden.52 II. Bedeutungsübertragung Schließlich bedient sich der Appellate Body in einigen Fällen der Technik der Bedeutungsübertragung. Dabei übernimmt das Gremium die Bedeutung, die es einem Wort in einer bestimmten Norm gegeben hat, und überträgt diese Bedeutung auf dasselbe Wort in einer anderen Norm. Diese Übertragung der Wortbedeutung vollzieht sich entweder innerhalb eines Übereinkommens oder zwischen zwei inhaltlich miteinander verwandten Übereinkommen. So etwa im Fall United States – Anti-Dumping Measures on Certain HotRolled Steel Products from Japan53, einem der mittlerweile zahlreichen Fälle, in denen Antidumpingmaßnahmen auf Veranlassung der davon betroffenen Staaten von den Gremien der WTO auf ihre Vereinbarkeit mit den Regeln der WTO, insbesondere des Antidumpingübereinkommens, überprüft werden. Bezüglich des in Art. 9.4 des Antidumpingübereinkommens verwendeten Wortes margins54 führte der Appellate Body aus:55 51

Vgl. Chalker/Weiner, S. 318. Ein weiteres Beispiel dafür, wie der Appellate Body ein Auslegungsargument aus der grammatikalischen Verwendung eines Wortes gewinnt, findet sich im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft; dazu näher im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung, vgl. unten im Text im 2. Kap. A. I. Vgl. auch den Appellate Body in Chile – Price Band System and Safeguard Measures Relating to Certain Agricultural Products, WT/DS207/AB/R (23.9.2002), para. 206, zur Bedeutung des present perfect tense (. . . which have been required . . .) in Art. 4.2 des Übereinkommens über die Landwirtschaft. 53 WT/DS184/AB/R (24.7.2001). 52

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

„118. Before focusing on the qualifying language in Article 9.4 of the AntiDumping Agreement, we recall that the word ‚margins‘, which appears in Article 2.4.2 of that Agreement, has been interpreted in European Communities – Bed Linen. The Panel found, in that dispute, and we agreed, that ‚margins‘ means the individual margin of dumping determined for each of the investigated exporters and producers of the product under investigation, for that particular product.81 This margin reflects a comparison that is based upon examination of all of the relevant home market and export market transactions. We see no reason, in Article 9.4, to interpret the word ‚margins‘ differently from the meaning it has in Article 2.4.2, and the parties have not suggested one. Note: 81 Panel Report, European Communities – Bed Linen, WT/DS141/R, adopted 12 March 2001, as modified by the Appellate Body Report, WT/DS141/AB/R, para. 6.118; Appellate Body Report, European Communities – Bed Linen, supra, footnote 36, para. 53.“

Im Fall United States – Tax Treatment for Foreign Sales Corporations56, in dem die Besteuerung amerikanischer Unternehmen, die schwerpunktmäßig mit Export befaßt sind, auf dem Prüfstand stand, erklärte der Appellate Body zur Bedeutung der Worte contingent upon export,57 die sowohl Bestandteil der Subventionsdefinition von Art. 3.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen58 als auch der Subventionsdefinition in Art. 1(e) des Übereinkommens über die Landwirtschaft59 sind60: „141. We turn next to the requirement that ‚export subsidies‘ under Article 1(e) of the Agreement on Agriculture be ‚contingent upon export performance‘. We see no reason, and none has been pointed out to us, to read the requirement of ‚contingent upon export performance‘ in the Agreement on Agriculture differently from the same requirement imposed by the SCM Agreement. The two Agreements use precisely the same words to define ‚export subsidies‘. Although there are differences between the export subsidy disciplines established under the two Agreements, those differences do not, in our view, affect the common substantive requirement relating to export contingency. Therefore, we think it appro54

Dt.: Dumpingspanne. WT/DS184/AB/R, para. 118. Ähnlich ging der Appellate Body im Fall Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products (WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R [13.10.1999]) vor. Dort übertrug er die Bedeutung des Wortes payment aus Art. 9.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen auf das in Art. 9.1(c) verwendete Wort payment (para. 107). 56 WT/DS108/AB/R (24.2.2000). 57 Dt.: abhängig von der Ausfuhrleistung. 58 Art. 3.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen: (. . .) subsidies contingent in law or in fact, whether solely or as one of several other conditions, upon export performance, including those illustrated in Annex I. 59 Art. 1(e) des Übereinkommens über die Landwirtschaft: „export subsidies“ refers to subsidies contingent upon export performance, including the export subsidies listed in Article 9 of this Agreement. 60 WT/DS108/AB/R (24.2.2000), para. 141. 55

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

189

priate to apply the interpretation of export contingency that we have adopted under the SCM Agreement to the interpretation of export contingency under the Agreement on Agriculture.155 Note: 155 See, further, Canada – Aircraft, supra, footnote 58, paras. 162–180.“61

Auch im Fall European Communities – Trade Description of Sardines62 verwendete der Appellate Body die Technik der Bedeutungsübertragung. Bei der Auslegung der Worte as a basis for63 in Art. 2.4 des Übereinkommens über technische Handelshemmnisse64 vertrat er die Auffassung, daß die Bedeutung dieser Worte der Bedeutung der Worte based on in Art. 3.1 SPS ähnelte; deren Bedeutung hatte der Appellate Body im Hormonfall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones) geklärt.65 „242 The question before us, therefore, is the proper meaning to be attributed to the words ‚as a basis for‘ in Article 2.4 of the TBT Agreement. In EC – Hormones, we addressed a similar issue, namely, the meaning of ‚based on‘ as used in Article 3.1 of the SPS Agreement, which provides: Harmonization 1. To harmonize sanitary and phytosanitary measures on as wide a basis as possible, Members shall base their sanitary or phytosanitary measures on international standards, guidelines or recommendations, where they exist, except as otherwise provided for in this Agreement, and in particular in paragraph 3. (emphasis added) In EC – Hormones, we stated that ‚based on‘ does not mean the same thing as ‚conform to‘. In that appeal, we articulated the ordinary meaning of the term ‚based on‘, as used in Article 3.1 of the SPS Agreement in the following terms: 61 In dem zitierten Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft (WT/DS70/AB/R, 2.8.1999) hatte der Appellate Body das Wort contingent mit Hilfe allgemeinsprachlicher Wörterbücher wie folgt definiert (para. 166): „In confronting this issue, we start our interpretive task once more by examining the ordinary meaning of the treaty text. In our view, the key word in Article 3.1(a) is ‚contingent‘. As the Panel observed, the ordinary connotation of ‚contingent‘ is ‚conditional‘ or ‚dependent for its existence on something else‘.98

Note: 98 The New Shorter Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1993), Vol. I, p. 494; The Concise Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1995), p. 289. See also Webster’s Third New International Dictionary, (William Benton, 1966), Vol. I, p. 493. See Panel Report, para. 9.331.“ 62

WT/DS231/AB/R (26.9.2002). Dt.: als Grundlage für. 64 Art. 2.4 des Übereinkommens über technische Handelshemmnisse: Where technical regulations are required and relevant international standards exist or their completion is imminent, Members shall use them, or the relevant parts of them, as a basis for their technical regulations (. . .). 65 Vgl. dazu unten 3. Kap. A. I. 63

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body A thing is commonly said to be ‚based on‘ another thing when the former ‚stands‘ or is ‚founded‘ or ‚built‘ upon or ‚is supported by‘ the latter.150 Note: 150 L. Brown (ed.), The New Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles (Clarendon Press), Vol. I, p. 187.

The Panel here referred to this conclusion in its analysis of Article 2.4 of the TBT Agreement. In our view, the Panel did so correctly, because our approach in EC – Hormones is also relevant for the interpretation of Article 2.4 of the TBT Agreement. 243. In addition, as we stated earlier, the Panel here used the following definition to establish the ordinary meaning of the term ‚basis‘: The word ‚basis‘ means ‚the principal constituent of anything, the fundamental principle or theory, as of a system of knowledge‘.90 Note: 90 [Webster’s New World Dictionary, (William Collins & World Publishing Co., Inc., 1976)], p. 117.

Informed by our ruling in EC – Hormones, and relying on this meaning of the term ‚basis‘, the Panel concluded that an international standard is used ‚as a basis for‘ a technical regulation when it is used as the principal constituent or fundamental principle for the purpose of enacting the technical regulation. 244. We agree with the Panel’s approach. In relying on the ordinary meaning of the term ‚basis‘, the Panel rightly followed an approach similar to ours in determining the ordinary meaning of ‚based on‘ in EC – Hormones.169 (. . .) Note: 169 In the present case, we do not consider it necessary to decide whether the term ‚as a basis‘, in the context of Article 2.4 of the TBT Agreement, has the same meaning as the term ‚based on‘, in the context of Article 3.1 of the SPS Agreement.“

Wie die einleitende Untersuchung gezeigt hat, weisen das TBT-Übereinkommen und das SPS-Übereinkommen eine enge Verwandschaft auf,66 die das Vorgehen des Appellate Body im Sardinenfall rechtfertigt.

D. Berücksichtigung des Bedeutungswandels bei der Auslegung – United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products Im Rahmen der Untersuchung der rechtlichen und theoretischen Grundlagen der Vertragsauslegung hat sich gezeigt, daß völkerrechtliche Verträge unter Umständen einem Bedeutungswandel unterliegen. Sowohl im Rahmen der Wortlautauslegung67 als auch hinsichtlich der bei der Auslegung zu berücksichtigenden einschlägigen Regeln des Völkerrechts68 stellt sich die 66 67 68

Vgl. dazu oben 2. Teil 1. Kap. B. II. 1. b) bb). Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. B. Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. I. 1.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

191

Frage, ob der Interpret von der Wortbedeutung und dem Bestand des Völkerrechts im Zeitpunkt der Vertragsabschlusses oder im Zeitpunkt der Auslegung auszugehen hat. Meist tritt dieses Problem erst nach Ablauf einer relativ langen Zeit auf, da sowohl der Wandel der Sprache als auch der Wandel gewohnheitsrechtlicher Normen nur nach und nach vonstatten geht. Da die zum System der WTO gehörenden Verträge mit Ausnahme des GATT 1994 sämtlich erst während der Uruguay Runde zwischen 1986 und 1994 ausgehandelt wurden, stellt sich die Frage, ob bei der Vertragsauslegung eine Bedeutung zugrunde zu legen ist, die die Vertragsworte bei Vertragsschluß hatten oder ob eine gewandelte Bedeutung relevant ist, noch nicht. Demzufolge ist es nicht überraschend, daß sich der Appellate Body bislang einzig in einem Fall, der die Auslegung einer Norm des mit dem GATT 1947 identischen GATT 1994 betraf, mit der Frage eines möglichen Bedeutungswandels auseinandersetzen mußte. In United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products69 untersuchte der Appellate Body die Frage, ob die Worte exhaustible natural resources70 (Art. XX[g] GATT 1994) entsprechend ihrer Bedeutung bei Abfassung des Textes des GATT 1947 oder entsprechend ihrer heutigen Bedeutung zu verstehen sind. I. Der Bericht des Appellate Body Im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products mußte der Appellate Body unter anderem klären, ob ein von den Vereinigten Staaten unter Verstoß gegen Art. XI.1 GATT 1994 verhängtes Importverbot für Krabben nach Art. XX(g) GATT 1994 gerechtfertigt war. Da das Importverbot der Vereinigten Staaten den Schutz durch den Krabbenfang stark bedrohter Meeresschildkröten bewirken sollte, stellte sich die Frage, ob es sich bei Meeresschildkröten um exhaustible natural resources im Sinne von Art. XX(g) GATT 1994 handelt. Im Rahmen seiner Untersuchung ging der Appellate Body zunächst auf den Begriff exhaustible natural resources ein. Dabei führte er aus:71 „129. The words of Article XX(g), ‚exhaustible natural resources‘, were actually crafted more than 50 years ago. They must be read by a treaty interpreter in the light of contemporary concerns of the community of nations about the protection and conservation of the environment. While Article XX was not modified in the Uruguay Round, the preamble attached to the WTO Agreement shows that the 69 70 71

WT/DS58/AB/R (12.10.1998). Dt.: erschöpfliche Naturschätze. WT/DS58/AB/R, paras. 127–131.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

signatories to that Agreement were, in 1994, fully aware of the importance and legitimacy of environmental protection as a goal of national and international policy. The preamble of the WTO Agreement – which informs not only the GATT 1994, but also the other covered agreements – explicitly acknowledges ‚the objective of sustainable development107‘: The Parties to this Agreement, Recognizing that their relations in the field of trade and economic endeavour should be conducted with a view to raising standards of living, ensuring full employment and a large and steadily growing volume of real income and effective demand, and expanding the production of and trade in goods and services, while allowing for the optimal use of the world’s resources in accordance with the objective of sustainable development, seeking both to protect and preserve the environment and to enhance the means for doing so in a manner consistent with their respective needs and concerns at different levels of economic development, . . .108 (emphasis added) Notes: 107 This concept has been generally accepted as integrating economic and social development and environmental protection See e. g., G. Handl, ‚Sustainable Development: General Rules versus Specific Obligations‘, in Sustainable Development and International Law (ed. W. Lang, 1995), p. 35; World Commission on Environment and Development, Our Common Future (Oxford University Press, 1987), p. 43. 108 Preamble of the WTO Agreement.“

Hier stellte der Appellate Body zunächst fest, daß die auszulegenden Worte exhaustible natural resources bereits vor mehr als 50 Jahren abgefaßt wurden. Der Interpret müßte diese Worte jedoch im Lichte der gegenwärtigen Besorgnis der Staatengemeinschaft um den Umweltschutz verstehen. Die Präambel des WTO-Übereinkommens, die auf alle WTO-Abkommen ausstrahle, zeige durch ihren Verweis auf das Ziel der nachhaltigen Entwicklung, daß sich die Unterzeichner des WTO-Übereinkommens der Bedeutung und der Berechtigung des Umweltschutzes als eines Ziels der Politik bewußt gewesen seien. Nach einem Zitat der relevanten Passage der Präambel des WTO-Übereinkommens setzte der Appellate Body seine Überlegungen fort: „130. From the perspective embodied in the preamble of the WTO Agreement, we note that the generic term ‚natural resources‘ in Article XX(g) is not ‚static‘ in its content or reference but is rather ‚by definition, evolutionary‘.109 It is, therefore, pertinent to note that modern international conventions and declarations make frequent references to natural resources as embracing both living and non-living resources. (. . .) Note: 109 See Namibia (Legal Consequences) Advisory Opinion (1971) I.C.J. Rep., p. 31. The International Court of Justice stated that where concepts embodied in a treaty are ‚by definition, evolutionary‘, their ‚interpretation cannot remain unaffected by the subsequent development of law . . . . Moreover, an international instrument has to be interpreted and applied within the framework of the entire legal system prevailing at the time of the interpretation.‘ See also Aegean Sea Continental Shelf Case, (1978) I.C.J. Rep., p. 3; Jennings and Watts (eds.), Oppenheim’s International Law, 9th ed., Vol. I (Longman’s, 1992), p. 1282 and E. Jimenez de Arechaga, ‚International Law in the Past Third of a Century‘, (1978I) 159 Recueil des Cours 1, p. 49.“

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

193

Ausgehend von dem in die Präambel aufgenommenen Aspekt des Umweltschutzes stellte der Appellate Body fest, daß der Inhalt der Begriff erschöpfliche Naturschätze ein generic term, also ein Oberbegriff, sei, der nicht statisch, sondern per definitionem evolutiv sei. Daher sei es angemessen festzustellen, daß gegenwärtige internationale Konventionen und Erklärungen häufig Bezug auf Naturschätze nähmen und mit diesem Begriff sowohl lebende als auch nicht lebende Ressourcen bezeichneten. Im Anschluß an diese Ausführungen belegte der Appellate Body seine These bezüglich der Bedeutung des Begriffs Naturschätze, indem er eine Reihe internationaler Konventionen und Erklärungen aufzählte: „130 (. . .) For instance, the 1982 United Nations Convention on the Law of the Sea110 (‚UNCLOS‘), in defining the jurisdictional rights of coastal states in their exclusive economic zones, provides: Article 56 Rights, jurisdiction and duties of the coastal State in the exclusive economic zone 1.

In the exclusive economic zone, the coastal State has:

(a) sovereign rights for the purpose of exploring and exploiting, conserving and managing the natural resources, whether living or non-living, of the waters superjacent to the sea-bed and of the sea-bed and its subsoil, . . . (emphasis added) The UNCLOS also repeatedly refers in Articles 61 and 62 to ‚living resources‘ in specifying rights and duties of states in their exclusive economic zones. The Convention on Biological Diversity111 uses the concept of ‚biological resources‘. Agenda 21112 speaks most broadly of ‚natural resources‘ and goes into detailed statements about ‚marine living resources‘. In addition, the Resolution on Assistance to Developing Countries, adopted in conjunction with the Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals, recites: Conscious that an important element of development lies in the conservation and management of living natural resources and that migratory species constitute a significant part of these resources; . . .113 (emphasis added) Notes: 110 Done at Montego Bay, 10 December 1982, UN Doc. A/CONF.62/122; 21 International Legal Materials 1261. We note that India, Malaysia and Pakistan have ratified the UNCLOS. Thailand has signed, but not ratified the Convention, and the United States has not signed the Convention. In the oral hearing, the United States stated: ‚. . . we have not ratified this Convention although, with respect to fisheries law, for the most part we do believe that UNCLOS reflects international customary law.‘ Also see, for example, W. Burke, The New International Law of Fisheries (Clarendon Press, 1994), p. 40: [the] coastal state sovereign rights over fisheries in a 200-mile zone are now considered part of customary international law. The evidence of state practice supporting this derives not only from the large number of coastal states claiming an EEZ [exclusive economic zone] in which such rights are advanced, but also from the fact that many of those states not claiming an EEZ assert rights not appreciably different than those in an EEZ. The provision for sovereign rights of the coastal state in [Article 56.1(a) of] the 1982 Convention is also a part of this evidence, but has particular weight because of the uniformity of state practice outside the Convention. 111 Done at Rio de Janeiro, 5 June 1992, UNEP/Bio.Div./N7-INC5/4; 31 International Legal Materials 818. We note that India, Malaysia and Pakistan have ratified the Convention on Biological Diversity, and that Thailand and the United States have signed but not ratified the Convention.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

112 Adopted by the United Nations Conference on Environment and Development, 14 June 1992, UN Doc. A/CONF. 151/26/Rev.1. See, for example, para. 17.70, ff. 113 Final Act of the Conference to Conclude a Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals, done at Bonn, 23 June 1979, 19 International Legal Materials 11, p. 15. We note that India and Pakistan have ratified the Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals, but that Malaysia, Thailand and the United States are not parties to the Convention.“

Daraufhin zog das Gremium die Schlußfolgerung, daß vor dem Hintergrund der von ihm dargestellten Rechtsentwicklung nicht mehr davon ausgegangen werden dürfe, daß Art. XX(g) GATT 1994 sich nur auf den Schutz erschöpflicher Mineralien oder anderer nicht lebender Naturschätze beschränke: „131. Given the recent acknowledgement by the international community of the importance of concerted bilateral or multilateral action to protect living natural resources, and recalling the explicit recognition by WTO Members of the objective of sustainable development in the preamble of the WTO Agreement, we believe it is too late in the day to suppose that Article XX(g) of the GATT 1994 may be read as referring only to the conservation of exhaustible mineral or other non-living natural resources.114 (. . .) We hold that, (. . . ), measures to conserve exhaustible natural resources, whether living or non-living, may fall within Article XX(g). Note: 114 Furthermore, the drafting history does not demonstrate an intent on the part of the framers of the GATT 1947 to exclude ‚living‘ natural resources from the scope of application of Article XX(g).“

In dem sich an die hier zitierte Passage anschließenden Abschnitt 132 komplettierte der Appellate Body seine Analyse und gelangte zu dem Ergebnis, daß auch die in Frage stehenden Meeresschildkröten erschöpflich (exhaustible) sind. II. Die Argumentation des Appellate Body Die Argumentation des Appellate Body in der hier dargestellten Passage des Berichts im Shrimp-Fall vollzieht sich in zwei Schritten. Zunächst zeigt der Appellate Body, daß der auszulegende Begriff natural resources nicht statisch, sondern dynamisch evolutiv zu verstehen ist. Dies führt nach Ansicht des Appellate Body dazu, daß bestimmte Entwicklungen, die der Abfassung des Textes des GATT zeitlich nachgelagert sind, bei der Auslegung dieses Begriffs Berücksichtigung finden müssen. Im zweiten Schritt seiner Ausführungen stellt das Gremium dann diese Entwicklungen, die im neueren Umweltvölkerrecht angesiedelt sind, dar.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

195

1. Die Qualifizierung des Begriffs natural resources als evolutiv und die sich daraus ergebenden Folgen Wie soeben dargestellt, beginnt der Appellate Body seine Untersuchung mit einem Hinweis darauf, daß die auszulegenden Worte natural resources mehr als 50 Jahre alt sind. Damit greift er die Tatsache auf, daß der Wortlaut von Art. XX(g) GATT 1994 identisch mit dem Wortlaut von Art. XX(g) 1947 ist.72 Der Hinweis auf das Alter des Texts des GATT 1994 zeigt, daß der Appellate Body der Auffassung ist, daß die über 50 Jahre alten Vorschriften des GATT 1994 grundsätzlich im Lichte der bei Abschluß des GATT 1947 herrschenden Bedingungen, also statisch, ausgelegt werden müssen. Allerdings weist der Appellate Body darauf hin, daß das GATT 1994, auch wenn es mit dem GATT 1947 im Wortlaut identisch ist, eine wesentliche Änderung gegenüber diesem erfahren hat. Während das GATT 1947 ein einzelner völkerrechtlicher Vertrag war, ist das GATT 1994 ein zum WTO-System gehörendes Abkommen. Dies hat zur Folge hat, daß die Präambel des WTO-Abkommens auch auf das GATT 1994 ausstrahlt.73 In dieser Präambel erklären die WTO-Mitglieder, eine optimale Nutzung der Hilfsquellen der Welt in Übereinstimmung mit dem Prinzip der nachhaltigen Entwicklung anzustreben. Damit geht ein Bekenntnis zum Schutz und zur Bewahrung der Umwelt einher: „(. . .) Recognizing that their relations in the field of trade and economic endeavour should be conducted with a view to raising standards of living, ensuring full employment and a large and steadily growing volume of real income and effective demand, and expanding the production of and trade in goods and services, while allowing for the optimal use of the world’s resources in accordance with the objective of sustainable development, seeking both to protect and preserve the environment and to enhance the means for doing so in a manner consistent with their respective needs and concerns at different levels of economic development, (. . .)“74 72 Zur Identität der Texte des GATT 1947 und des GATT 1994 bereits oben im Text 2. Teil 1. Kap. A. 73 Die Präambel des WTO-Übereinkommens ist von der Präambel des GATT 1947 inspiriert, unterscheidet sich in Teilen, insbesondere durch die Inbezugnahme des Prinzips der nachhaltigen Entwicklung, jedoch wesentlich von dieser. Die Präambel des GATT 1947, die freilich nach wie vor dem GATT 1994 vorsteht, lautet(e) wie folgt: (. . .) Recognizing that their relations in the field of trade and economic endeavour should be conducted with a view to raising standards of living, ensuring full employment and a large and steadily growing volume of real income and effective demand, developing the full use of resources of the world and expanding the production and exchange of goods, (. . .). 74 Hervorhebung vom Verfasser.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Wie der für die Überlegungen des Appellate Body zentrale Satz „From the perspective embodied in the preamble of the WTO Agreement, we note that the generic term ‚natural resources‘ in Article XX(g) is not ‚static‘ in its content or reference but is rather ‚by definition, evolutionary‘.“

zu Beginn von Abschnitt 130 zeigt, ist dieser Aspekt in der Präambel des WTO-Übereinkommens das Zeichen dafür, daß der Begriff Naturschätze evolutiv und nicht statisch zu verstehen ist. Im Einklang mit den Vorgaben der allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungslehre75 bedingt also ein im Vertragstext – hier: der Präambel – enthaltener Hinweis, daß der Appellate Body zur evolutiv dynamischen Auslegung schreitet. Entscheidend dafür, daß die entsprechende Passage in der Präambel als Indikator für eine dynamische Auslegung wirkt, ist, daß sie thematisch eng mit der auszulegenden Vorschrift Art. XX(g) GATT 1994, in der es ebenfalls um Umweltschutz geht, verwandt ist. Betonte die Präambel des WTO-Übereinkommens hingegen statt des Umweltschutzes etwa den Kulturgüterschutz, könnte sie allenfalls eine dynamische Auslegung von Art. XX(f) GATT 1994 anzeigen, nicht jedoch von Art. XX(g) GATT 1994. Wie sich aus den weiteren Ausführungen des Appellate Body ergibt, führt die Qualifizierung des Begriffs natural resources als evolutiv dazu, daß bei seiner Auslegung nunmehr die in den 1990er Jahren herrschenden Bedingungen zugrunde zu legen sind. Ungeklärt bleibt bei den Ausführungen des Appellate Body allerdings, auf welchen Zeitraum sich die dynamisch evolutive Auslegung erstreckt. Nach den allgemeinen methodischen Grundsätzen bedeutet evolutive Auslegung, daß sich die Bedeutung einer einzelnen Vertragsvorschrift permanent den aktuellen Gegebenheiten anpaßt. Demgegenüber lassen die Ausführungen des Appellate Body in Abschnitt 129 seines Berichts auch den Schluß zu, daß die Dynamik ein Vorgang ist, der bewirkt, daß sich Art. XX(g) GATT 1994 einmalig an die Gegebenheiten bei Beendigung der Uruguay-Runde angepaßt hat und von diesem Zeitpunkt erneut statisch verharrt. Insbesondere der Satz „They must be read by a treaty interpreter in the light of contemporary concerns of the community of nations about the protection and conservation of the environment.“

erlaubt auch diese Deutung, die allerdings mit den Vorgaben des allgemeinen Völkerrechts für die dynamisch evolutive Auslegung nicht vereinbar wäre. Für die Beurteilung des Shrimp-Falles spielt diese Frage hingegen keine Rolle. Zwischen Abschluß der Uruguay-Runde und dem ShrimpVerfahren lagen nur etwa drei Jahre, in denen das Umweltvölkerrecht keine 75

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. B.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

197

wesentlichen Änderungen durchlaufen hat, die sich auf die Auslegung von Art. XX(g) GATT 1994 hätten auswirken können. 2. Die aufgrund des evolutiven Charakters zu berücksichtigende Entwicklung Wie gesehen, bewirkt die Einordnung des Begriffs natural resources als evolutiv, daß bei der Auslegung dieses Begriffs aktuellen Gegebenheiten Rechnung zu tragen ist. Im Rahmen der allgemeinen methodenrechtlichen Untersuchung hat sich gezeigt, daß sich die Frage nach einer dynamisch, evolutiven Auslegung zum einen im Bereich der Wortlautauslegung,76 zum anderen bei der Auslegung von Vertragsvorschriften im Lichte anderer Rechtsnormen stellt.77 Die Ausführungen des Appellate Body im ShrimpFall lassen nicht klar erkennen, ob das Gremium von einer geänderten Wortbedeutung des Begriffs natural resources ausgeht oder ob das Gremium ein verändertes normatives Umfeld zu erkennen glaubt. Der Satz „It is, therefore, pertinent to note that modern international conventions and declarations make frequent references to natural resources as embracing both living and non-living resources. “

in Abschnitt 130 des Berichts im Shrimp-Fall legt zunächst nahe, daß der Appellate Body von einer geänderten Wortbedeutung des Begriffs natural resources ausgeht. Das Gremium beschreibt hier, daß moderne Konventionen und Deklarationen auf dem Gebiet des Umweltschutzes, die den Begriff natural resources verwenden, damit häufig sowohl lebende als auch nicht lebende Naturschätze bezeichnen. Mit diesem Satz und den sich daran anschließenden Beispielsfällen will der Appellate Body beweisen, daß sich ab Anfang der 1980er Jahre auf sprachlicher Ebene eine umweltschutzspezifische Bedeutung des Begriffs natural resources herausgebildet hat, die nunmehr auch bei der Auslegung von Art. XX(g) GATT 1994 zugrunde zu legen ist. Zunächst zitiert der Appellate Body Art. 56 Abs. 1 lit. a SRÜ 1982, der bestimmt, daß der Küstenstaat in der ausschließlichen Wirtschaftszone souveräne Rechte zum Zweck der Erforschung und Ausbeutung, Erhaltung und Bewirtschaftung der lebenden und nicht lebenden Ressourcen der Gewässer über dem Meeresboden, des Meeresbodens und seines Untergrundes hat.78 76 77 78

Vgl. oben im Text 1. Teil 2. Kap. B. Vgl. oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. I. 1. Zitat wiedergegeben oben im Text.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Weiter weist der Appellate Body darauf hin, daß in Art. 61 und 62 SRÜ 1982 vielfach die Rede von lebenden Ressourcen ist.79 Anschließend führt der Appellate Body das Übereinkommen über biologische Vielfalt an, in das das Konzept der biologischen, also lebenden, Ressourcen Eingang gefunden hat. Dieses Konzept, das in der Konvention mehrfach Erwähnung findet, wird in Art. 2 wie folgt definiert:80 „ ‚Biological resources‘ includes genetic resources, organisms or parts thereof, populations, or any other biotic component of ecosystems with actual or potential use or value for humanity.“

Daraufhin nimmt der Appellate Body Bezug auf die Agenda 21, in deren Kapitel 17 der Schutz der Ozeane behandelt wird und in dem an verschiedenen Stellen von den living resources der Ozeane und den marine living resources die Rede ist.81 Abschließend verweist der Appellate Body auf die Resolution on Assistance to Developing Countries, in deren Präambel ebenfalls von living natural resources die Rede ist.82 Diese Resolution ist Teil des Final Act of the Conference to Conclude a Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals.83 Sie gehört jedoch nicht zum Vertragstext des bei dieser Konferenz aufgelegten Übereinkommens über die Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten ist. Im Text dieser Resolution heißt es: „(. . .) CONSCIOUS that an important element of development lies in the conservation and management of living natural resources and that migratory species constitute a significant part of these resources; (. . .).“

79 Art. 61: (1) The coastal State shall determine the allowable catch of the living resources in its exclusive economic zone. (2–5) . . . Art 62: (1) The coastal State shall promote the objective of optimum utilization of the living resources in the exclusive economic zone without prejudice to article 61. (2) The coastal State shall determine its capacity to harvest the living resources of the exclusive economic zone. (. . .) (3–5) . . . (Hervorhebungen vom Verfasser). 80 Engl. Text I.L.M. 31 (1992), S. 818; dt. Text BGBl. 1993 II, 1742. 81 Der englische Text von Kapitel 17 der Agenda 21 ist im Internet abrufbar unter: www.un.org/esa/sustdev/agenda21chapter17.htm (27.09.2001). Die Agenda 21 wurde von den Teilnehmern der im Jahre 1992 abgehaltenen Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung (Rio-Konferenz) verabschiedet; vgl. dazu Beyerlin, Rdnr. 29 ff. 82 Der Text der Resolution ist abgedruckt in I.L.M. 19 (1980), S. 15. 83 Auf dieser Konferenz, die vom 11. bis 23. Juni 1979 in Bonn stattfand, wurde das Übereinkommen über die Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten aufgelegt (BGBl. 1984 II, 569).

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

199

In dieser Resolution sowie in Art. 56 SRÜ 1982 ist ausdrücklich von „lebenden Naturschätzen“ die Rede. In den anderen vom Appellate Body aufgeführten Texten wird das Wort Ressourcen entweder in Verbindung mit dem Adjektiv „lebend“ oder „biologisch“ verwendet. Diese Beispiele beweisen nach Ansicht des Appellate Body, daß im Bereich des internationalen Umweltschutzes mit dem Begriff (natürliche) Ressourcen auch lebende Organismen bezeichnet werden und nicht nur nicht lebende Naturschätze. Während der Text von Abschnitt 130 des Shrimp-Berichtes bei isolierter Betrachtung also zunächst nahe legt, daß der Appellate Body von einer veränderten sprachlichen Bedeutung des Begriffs natural resources ausgeht, lassen die zu diesem Abschnitt gehörenden Fußnoten zwei weitere Deutungsmöglichkeiten zu. Wie bereits gesehen, erörtert der Appellate in den die Ausführungen in Abschnitt 130 begleitenden Fußnoten, in welcher Weise die Parteien des Rechtsstreits an den einzelnen aufgezählten Abkommen beteiligt sind. Bezüglich des Seerechtsübereinkommens stellt der Appellate Body fest, daß Indien, Malaysia und Pakistan dieses ratifiziert haben, während Thailand die Konvention unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert hat. Die Vereinigten Staaten, die das Übereinkommen nicht unterzeichnet haben, hatten im Verlauf der mündlichen Verhandlung des Shrimp-Streites erklärt, daß die Konvention, soweit sie Fischereirechte behandelt, Völkergewohnheitsrecht wiedergibt.84 Das Übereinkommen über biologische Vielfalt, in dem das Konzept der biologischen, also lebenden Ressourcen auftaucht, wurde von Indien, Malaysia und Pakistan ratifiziert, während die Vereinigten Staaten und Thailand es unterzeichnet haben.85 Bezüglich des Übereinkommens über die Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten und dessen begleitende Resolution, führt das Gremium schließlich aus, daß Indien und Pakistan die Konvention ratifiziert haben, während Malaysia, Thailand und die Vereinigten Staaten nicht Vertragspartei sind.86 Damit ergibt dieser Überblick, daß zwischen den am Shrimp-Fall beteiligten Staaten jeweils mindestens eine vertragliche oder gewohnheitsrechtliche Norm des Völkerrechts gilt, in der der Begriff (natural) resources im Hinblick auf lebende Organismen verwendet wird. Diese Vorgehensweise des Appellate Body erlaubt zwei verschiedene Interpretationen. Einerseits erscheint es möglich, daß der Appellate Body nicht wie soeben ausgeführt einen universellen Wandel in der Wortbedeutung beweisen will, sondern nur einen zwischen den Streitparteien eingetretenen Bedeutungswandel. Die andere Deutungsmöglichkeit geht dahin, daß 84 85 86

Vgl. die Ausführungen des Appellate Body in Fußnote 110 seines Berichtes. Vgl. die Ausführungen des Appellate Body in Fußnote 111 seines Berichtes. Vgl. die Ausführungen des Appellate Body in Fußnote 113 seines Berichtes.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

der Appellate Body die dargestellten Abkommen als zwischen den Streitparteien geltende völkerrechtliche „Legal“-Definition für den Begriff natural resources versteht. Wie die anschließende Bewertung der Argumentation des Appellate Body zeigen wird, sind diese beiden möglichen Deutungen jedoch sowohl aus WTO-spezifischer wie auch aus methodischer Sicht nicht haltbar. III. Bewertung der Argumentation des Appellate Body 1. Die Qualifizierung des Begriffs natural resources als evolutiv Wie sich bereits im Rahmen der Analyse der Ausführungen des Appellate Body gezeigt hat, entspricht die Qualifizierung des Begriff natural resources den allgemeinen methodenrechtlichen Vorgaben.87 Diese verlangen, daß der Vertragstext einen Hinweis darauf enthält, daß der Vertrag beziehungsweise einzelne Vorschriften im Lichte der gegenwärtigen Wortbedeutung oder des gegenwärtigen Gewohnheitsrechts auszulegen ist. Der Appellate Body sieht einen solchen Hinweis in einem thematisch mit Art XX(g) GATT 1994 übereinstimmenden Teil der Präambel des WTOÜbereinkommens. 2. Die aufgrund des evolutiven Charakters zu berücksichtigende Entwicklung Vor dem Hintergrund des Ergebnisses, daß der Begriff natural resources entwicklungsoffen ist, zeichnete der Appellate Body eine Entwicklung im Umweltvölkerrecht nach, die seiner Ansicht nach zeigt, daß dieser Begriff auch lebende Organismen bezeichnet. Wie dargestellt, läßt die Vorgehensweise des Appellate Body drei Deutungen zu, auf welcher Ebene der Auslegung sich diese Entwicklung abgespielt hat. Eine abstrakte Betrachtung des Berichtstextes läßt vermuten, daß der Appellate Body der Auffassung ist, daß sich zumindest im Bereich der weltweiten Umweltpolitik ein Sprachwandel eingestellt hat, der dazu geführt hat, daß der Begriff natural resources nunmehr auch Lebewesen bezeichnet. Bei Einbeziehung der die Ausführungen begleitenden Fußnoten in die Betrachtung entsteht der Eindruck, daß der Appellate Body nur das Verhältnis der am Shrimp-Fall beteiligten Staaten im Blick hat, wobei offen bleibt, ob er von einem bloßen Sprachwandel zwischen den Streitparteien ausgeht oder ob er darüber hinaus davon ausgeht, daß zwischen den Streitparteien teils auf vertraglicher, teils auf gewohnheitsrechtlicher Basis eine rechtsverbindliche Neudefinition des Be87

Dazu bereits soeben im Text oben II. 1.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

201

griffs natural resources stattgefunden hat. Alle drei möglichen Deutungen sollen im folgenden einer kritischen Würdigung unterzogen werden. Die vom Appellate Body im Text seines Berichts verfolgte Idee eines Sprach- und Bedeutungswandels stimmt mit den theoretischen Vorgaben der völkerrechtlichen Methodenlehre überein. Wie sich im Rahmen der allgemeinen methodenrechtlichen Untersuchung gezeigt hat, ist Sprache einem stetigen Wandel unterworfen. Aus den vom Appellate Body als Beleg für den Sprachwandel herangezogenen internationalen Instrumenten ergibt sich, daß das Gremium wohl nur einen Sprachwandel im Bereich der internationalen Umweltpolitik nachweisen wollte. Wenngleich dies nicht die üblicherweise bei der Auslegung zu berücksichtigende gewöhnliche (ordinary) Bedeutung ist, bestehen gegen dieses Vorgehen jedoch insofern keine Einwände, als die auszulegende Vorschrift Art. XX(g) GATT 1994 eine spezifisch umweltrechtliche Norm ist. Dies läßt es legitim erscheinen, wie etwa auch im Bereich technischer Abkommen, die gewöhnliche fachsprachliche Bedeutung und deren Wandel bei der Auslegung zu berücksichtigen.88 Daneben stellt sich allerdings die Frage, ob die vom Appellate Body dargestellten internationalen Instrumente den Bedeutungswandel des Begriffs natural resources tatsächlich beweisen. Zur Beantwortung dieser Frage ist zu untersuchen, unter welchen Voraussetzungen zulässigerweise von einem Sprach- und Bedeutungswandel gesprochen werden kann. Dabei ist zunächst festzustellen, daß dies weniger eine Frage der Linguistik als vielmehr eine Frage des Rechts ist. Dies hängt damit zusammen, daß, wie auch der Shrimp-Fall verdeutlicht, die Feststellung einer gewandelten Wortbedeutung mitunter erhebliche Folgen für den Inhalt einer vertraglichen Verpflichtung haben kann. Insofern sind rechtliche Maßstäbe zu entwickeln, anhand derer beurteilt werden kann, ob ein sprachlich bedingter Bedeutungswandel in einer für die Vertragsauslegung relevanten Weise stattgefunden hat. Bei der Entwicklung eines solchen Maßstabes bietet es sich an, Parallelen zu anderen Bereichen der Vertragsauslegung zu ziehen. Dabei ist vor allem an das Auslegungsmittel der späteren Praxis der Vertragsparteien zu denken. Ähnlich wie bei Berücksichtigung einer gewandelten Wortbedeutung wird auch beim Auslegungsmittel der späteren Praxis eine Entwicklung in die Interpretation einbezogen, die erst nach Vertragsschluß eingesetzt hat. Während dies bezüglich der Sprachentwicklung durch ein entsprechendes Anzeichen im Vertragstext legitimiert wird, wird dies bei der späteren Praxis damit begründet, daß die Vertragsparteien als Schöpfer des Vertrags dessen 88

Vgl. Grundmann, S. 66.

202

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Bedeutung am besten kennen müssen.89 Im Zusammenhang mit der späteren Praxis wird verlangt, daß diese die Übereinstimmung der Vertragsparteien über eine Auslegung zum Ausdruck bringt. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, gilt diese Forderung als erfüllt, wenn die Praxis ein gewisses Maß an Einheitlichkeit und Konsistenz aufweist. Nur dies verhindert nämlich, daß Vertragsparteien eine aufgrund späterer Praxis gewandelte Bedeutung aufoktroyiert wird. Vergleichbare Anforderungen sind an einen Sprachwandel zu stellen. Auch hier ist zum Schutz vor verdeckten Vertragsänderungen zu verlangen, daß der Sprachwandel nicht nur anhand weniger Indizien belegt werden kann. Vielmehr bedarf es eines universellen Sprachkonsenses. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß dieser Sprachkonsens – anders als im Bereich der späteren Praxis – grundsätzlich über den Kreis der Vertragsparteien hinausreichen muß. Gegenstand der Wortlautauslegung ist zunächst ja die gewöhnliche (ordinary), also die von allen Sprachpartnern zugrunde gelegte, Wortbedeutung und nicht die vereinbarte (agreed, special).90 Aus diesen Überlegungen ergeben sich auch die Anforderungen, die an die Beweisführung im Rahmen eines zu beweisenden Sprach- und Bedeutungswandels zu stellen sind. Der Bedeutungswandel muß einen hohen Verdichtungsgrad aufweisen, das heißt, daß er über einen längeren Zeitraum, universell und in einer Vielzahl von sprachlichen Manifestationen nachweisbar sein muß. Bei diesen sprachlichen Manifestationen muß es sich nicht um völkerrechtliche Verträge handeln. Soweit ein Wandel in einer spezifischen Fachsprache bewiesen werden soll, müssen die Manifestationen dem Bereich dieser Fachsprache entstammen. Der Appellate Body führt im Shrimp-Fall insgesamt vier beziehungsweise sechs Manifestationen der gewandelten Bedeutung des Begriffs natural resources auf, die zwischen 1979 und 1995 datieren. Die Resolution aus Anlaß der Annahme des Vertragstextes des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten stammt von 1979. An der Staatenkonferenz, die den Vertragstext erarbeitet und diese Resolution verabschiedet hat, nahmen 63 Staaten teil.91 Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10.12.1982, auf dessen Artikel 56, 61 und 62 der Appellate Body Bezug nimmt, hatten bis zum Abschluß des Shrimp-Verfahrens im Oktober 1998 insgesamt 127 Staaten ratifiziert.92 Das Übereinkommen 89

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. E. Mit dieser Forderung ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß die Vertragsparteien im Wege der späteren Praxis einen Begriff neu definieren. 91 Vgl. die Liste der teilnehmenden Staaten in I.L.M. 19 (1980), S. 11. 92 Nachweis in Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Fundstellennachweis B v. 22.1.1999, S. 584 ff. 90

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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über die biologische Vielfalt vom 5.6.1992 hatten bis Oktober 1998 163 Staaten ratifiziert.93 An der im Juni 1992 abgehaltenen Rio-Konferenz94, in deren Verlauf die vom Appellate Body ebenfalls herangezogene, rechtlich unverbindliche Agenda 21 verabschiedet wurde, nahmen offiziell 176 Staaten teil.95 Dem Appellate Body gelingt es hier also, eine Reihe von Manifestationen aufzuführen, die die zuvor dargestellten Anforderungen erfüllen. Damit hat er den Beweis erbracht, daß der Begriff natural resources einen Bedeutungswandel erfahren hat. Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß die vom Appellate Body in den Fußnoten gemachten Angaben bezüglich der Beteiligung der Streitparteien an den einzelnen Abkommen nicht zur Beweisführung beizutragen vermögen. Die beiden verbleibenden Deutungsmöglichkeiten des Vorgehens des Appellate Body sind demgegenüber sehr problematisch. Sowohl ein sich bloß zwischen den Streitparteien ereignender Sprachwandel als auch eine zwischen den Streitparteien teils auf vertraglicher, teils auf gewohnheitsrechtlicher Basis ablaufende rechtsverbindliche Neudefinition des Begriffs natural resources würde zu einer gespaltenen Rechtslage innerhalb der WTO führen. Dies wäre mit dem System der WTO immanenten Grundgedanken eines einheitlichen Verpflichtungsgrads aller Mitglieder nicht zu vereinbaren. Dieser Grundgedanke ergibt sich zum einem aus Art. II.2 des WTO-Übereinkommens, der sämtliche Abkommen der Anlagen 1, 2 und 3 für alle Mitglieder für verbindlich erklärt, um einen einheitlichen Grad der Verpflichtung zu erreichen.96 Er taucht aber auch in Art. XVI.5 des WTOÜbereinkommens auf, der eine sehr restriktive Regelung für die Zulässigkeit von Vorbehalten enthält. Unabhängig von den speziell auf die WTO zugeschnittenen Überlegungen verbietet es aber auch der Gedanke der Integrität multilateraler Verträge, außerhalb der in der Wiener Vertragsrechtskonvention von diesem Grundsatz zugelassenen Ausnahmen, eine gespaltene Rechtslage zu schaffen.97 3. Abschließende Betrachtung Die dynamisch evolutive Auslegung des Begriffs natural resources steht im Einklang mit den Forderungen der allgemeinen völkerrechtlichen Metho93 Nachweis in Bundesministerium der Justiz (Hrsg.), Fundstellennachweis B v. 22.1.1999, S. 620 ff. 94 Vgl. dazu ausführlich Beyerlin, Rdnr. 29 ff. 95 UNYB 46 (1992), S. 670; eine Liste der teilnehmenden Staaten findet sich in UNYB 46 (1992), S. 1212. 96 Vgl. dazu Meng, in: Müller-Graff, S. 63 (70 ff.). 97 Zur Integrität multilateraler Verträge Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 14 Rdnr. 1.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

dik. Der Appellate Body hat sich zunächst von einem an prominenter Stelle im WTO-System angelegten Anhaltspunkt dazu veranlasst gesehen, diesen Begriff evolutiv zu verstehen. Darauf hin hat er im einzelnen nachgewiesen, daß dieser Begriff im Bereich des Umweltschutzes seit Abschluß des GATT 1947 einen Bedeutungswandel erfahren hat. Dieser Bedeutungswandel hat dazu geführt, daß nunmehr auch lebende Organismen von diesem Begriff erfaßt werden. Exkurs – Vorbilder des Appellate Body in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes Wie sich aus den in Abschnitt 130 des Berichts des Appellate Body im Shrimp-Fall verwendeten Begriffen generic term und evolutionary sowie aus der dazu gehörenden Fußnote 109 ergibt, hat sich der Appellate Body bei seinen Überlegungen an zwei Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes orientiert. Dabei handelt es sich zum einen um das NamibiaGutachten von 197098 und zum anderen um das Urteil im griechisch-türkischen Streit um den Festlandsockel in der Ägäis aus dem Jahr 1978.99 Die enge Anlehnung des Appellate Body an das Haager Gericht legt es nahe, die beiden Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes an dieser Stelle ebenfalls kurz darzustellen und zur Entscheidung des Appellate Body im Shrimp-Fall in Beziehung zu setzen. 1. Das Namibia-Gutachten des Internationalen Gerichtshofes Im Namibia-Gutachten mußte der IGH klären, welche Rechtsfolgen sich aus dem Verbleib Südafrikas in dem ehemaligen Mandatsgebiet Namibia (Südwestafrika) ergaben, nachdem der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in seiner Resolution 276 (1970) den Verbleib Südafrikas auf diesem Territorium für rechtswidrig erklärt hatte.100 Zur Beantwortung der Gutach98 Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) notwithstanding Security Council Resolution 276 (1970), Advisory Opinion, ICJ Rep. 1971, S. 16 ff. 99 Aegean Sea Continental Shelf Case (Greece v. Turkey), Judgment, ICJ. Rep. 1978, S. 3 ff. 100 Resolution 276 (1970) vom 30. Januar 1970, para. 2: Declares that the continued presence of the South African Authorities in Namibia is illegal and that consequently all acts taken by the Government of South Africa on behalf of or concerning Namibia after the termination of the Mandate are illegal and invalid; Resolution 276 (1970) stellte den Ausführungsakt zu Resolution 2145 (XXI) dar, in der die Generalversammlung das Mandat Südafrikas über Südwest-Afrika beendet und das Gebiet der direkten Verantwortung der Vereinten Nationen unterstellt hatte.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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tenfrage mußte der Internationale Gerichtshof unter anderem Art. 22 der Satzung des Völkerbunds (SVB),101 der die Rechtsgrundlage des Mandatssystems des Völkerbunds bildete,102 auslegen. Die Südafrikanische Union hatte 1920 als Mandatar die Verwaltung des C-Mandats auf dem Gebiet der ehemaligen deutschen Kolonie Südwestafrika (Namibia) übernommen. Im Verlauf des Namibia-Verfahrens argumentierte Südafrika, sich wesentlich auf die Entstehungsgeschichte von Art. 22 SVB stützend, daß die Übernahme eines C-Mandats im wesentlichen einer Annexion des Mandatsgebietes entsprochen habe. Daraus leitete Südafrika die Rechtsfolge ab, als Mandatsmacht hinsichtlich der Mandatsverwaltung nicht der Rechtskontrolle der Vereinten Nationen zu unterliegen. Der Internationale Gerichtshof widerlegte diese Rechtsbehauptung Südafrikas in einem ersten Schritt bereits auf der Grundlage des Textes von Art. 22 SVB.103 Darüber hinaus stellte das Gericht die folgenden Überlegungen zu Art. 22 Abs. 1 SVB104 an:105 „53. (. . .), the Court is bound to take into account the fact that the concepts embodied in Article 22 of the Covenant – ‚the strenuous conditions of the modern world‘ and ‚the well being and development‘ of the peoples concerned – were not static, but were by definition evolutionary, as also, therefore, was the concept of the ‚sacred trust‘. The parties to the Covenant must consequently be deemed to have accepted them as such. That is why, viewing the institutions of 1919, the Court must take into consideration the changes which have occurred in the supervening half-century, and its interpretation cannot remain unaffected by the subsequent development of law, through the Charter of the United Nations and by way of customary law. Moreover, an international instrument has to be 101

Englische Fassung: RGBl. 1919, 716; deutsche Fassung: RGBl. 1919, 717. Zum Mandatssystem des Völkerbunds vgl. Menzel, WdV II, S. 460–468; Rauschning, EPIL III (1997), S. 280–287. 103 ICJ Rep. 1971, S. 28 ff., paras. 45–50. 104 To those colonies and territories which as a consequence of the late war have ceased to be under the sovereignty of the States which formerly governed them and which are inhabited by peoples not yet able to stand by themselves under the strenuous conditions of the modern world, there should be applied the principle that the well-being and development of such peoples form a sacred trust of civilization and that securities for the performance of this trust should be embodied in this Covenant. Dt.: Auf die Kolonien und Gebiete, die infolge des Krieges aufgehört haben, unter der Souveränität der Staaten zu stehen, die sie vorher beherrschten, und die von solchen Völkern bewohnt sind, die noch nicht imstande sind, sich unter den besonders schwierigen Bedingungen der heutigen Welt selbst zu leiten, finden die nachstehenden Grundsätze Anwendung: Das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker bilden eine heilige Aufgabe der Zivilisation, und es ist geboten, in die gegenwärtige Satzung Bürgschaften für die Erfüllung dieser Aufgabe aufzunehmen. 105 ICJ Rep. 1971, S. 31, para. 53. 102

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

interpreted and applied within the framework of the entire legal system prevailing at the time of the interpretation. In the domain to which the present proceedings relate, the last fifty years, (. . .), have brought important developments. These developments leave little doubt that the ultimate objective of the sacred trust was the self-determination and independence of the peoples concerned. In this domain, as elsewhere, the corpus iuris gentium has been considerably enriched, and this the Court, if it is faithfully to discharge its functions, may not ignore.“

Zu Beginn dieses Abschnitts erklärte der Gerichtshof zunächst, daß die in Art. 22 SVB enthaltenen Konzepte the strenuous conditions of the modern world106, the well being and development of the peoples concerned107 sowie sacred trust108 nicht statisch, sondern per definitionem evolutiv seien. Es sei zu vermuten, daß die Parteien der Völkerbundssatzung bei Abschluß der Satzung den evolutiven Charakter der Begriffe akzeptiert hätten. Dies führe dazu, daß der Gerichtshof bei der Auslegung dieser Konzepte nachfolgende Rechtsentwicklungen zu berücksichtigen habe. Allerdings ließ das Gericht nicht erkennen, woran es den evolutiven Charakter dieser Begriffe festmachte.109 Stattdessen erklärte der Gerichtshof, daß ein völkerrechtlicher Vertrag im Lichte der Gesamtrechtsordnung, so wie sie sich im Zeitpunkt der Auslegung darstelle, interpretiert werden müßte. Auch daraus ergibt sich keine Erklärung dafür, warum die in Art. 22 Abs. 1 SVB verwendeten Worte evolutiven Charakter haben. Vielmehr entsteht der Eindruck, als habe der Internationale Gerichtshof in dieser Passage seines Gutachtens ex cathedra eine neue allgemeingültige Auslegungsregel proklamieren wollen.110 Aufgrund ihrer scheinbaren Allgemeingültigkeit macht diese Passage von Abschnitt 53 dessen ersten Teil, der sich ja nur auf die eigentlich auszulegenden Worte bezieht, sogar überflüssig. Dies begründet die Vermutung, daß sich der Gerichtshof zwar bezüglich des Ergebnisses, nicht jedoch in seiner Begründung einig war. Wie die Ausführungen im nachfolgenden Ägäis-Fall zeigen, hat sich die neuartige „radikal evolutive“ Auslegungsregel in der Folgezeit nicht durchzusetzen vermocht.111 Bereits zuvor hatte der Gerichtshof ausgeführt, welche Rechtsentwicklungen seiner Ansicht nach bei der Auslegung der evolutiven Konzepte von Art. 22 SVB zu berücksichtigen seien:112 106

Dt.: schwierige Bedingungen der heutigen Welt. Dt.: das Wohlergehen und die Entwicklung dieser Völker. 108 Dt.: heilige Aufgabe. 109 Ebenso Thirlway, BYIL 60 (1989), S. 1 (137); kritisch auch Thürer, S. 170. 110 In ihrer Allgemeinheit steht diese Begründung im Widerspruch zu den Regeln des intertemporalen Rechts, wonach für die Auslegung eines Vertrages das im Zeitpunkt seines Abschlusses geltende Recht maßgeblich ist. D’Amato, EPIL II (1995), S. 1234; Fitzmaurice, BYIL 30 (1950), S. 1 (5 f.); kritisch auch Sinclair, S. 140. 111 Dazu sogleich unten im Text unter 2. 112 ICJ Rep. 1971, S. 31, para. 52. 107

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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„52. Furthermore, the subsequent development of international law in regard to non-self-governing territories, as enshrined in the Charter of the United Nations, made the principle of self-determination applicable to all of them. The concept of the sacred trust was confirmed and expanded to all ‚territories whose peoples have not yet attained a full measure of self-government‘ (Art. 73). Thus it clearly embraced territories under a colonial regime. Obviously the sacred trust continued to apply to League of Nations mandated territories on which an international status had been conferred earlier. A further important stage in this development was the Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples (General Assembly resolution 1514 (XV) of 14 December 1960), which embraces all peoples and territories which ‚have not yet attained independence‘. (. . .)“

Der Internationale Gerichtshof erklärte hier, daß die völkerrechtlichen Entwicklungen hinsichtlich der „Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung“ dazu geführt hätten, daß das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker auf diese Gebiete anwendbar sei. Zunächst bezog sich das Gericht auf Art. 73 SVN. Darin war das aus Art. 22 SVB bekannt Konzept des sacred trust auf alle Hoheitsgebiete, „deren Völker noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben“ ausgedehnt worden. Das Konzept des sacred trust, das in der Charta anders als in der Völkerbundsatzung konkrete Rechtspflichten begründet,113 erstreckt sich nach Ansicht des IGH auch auf Gebiete, die vom Völkerbund einem Mandatar unterstellt worden waren. Neben Art. 73 SVN bezog sich der Gerichtshof auch auf die Entwicklung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, insbesondere auf die Resolution Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples der Generalversammlung der Vereinten Nationen 1514(XV) vom 14. Dezember 1960, die ausweislich ihrer Präambel auf alle Völker und Territorien Anwendung findet, die noch nicht ihre Unabhängigkeit erreicht haben. Diese Resolution, bei der es sich nach vielfacher Ansicht um eine authentische Auslegung einer Reihe von Vorschriften der Kapitel XI, XII und XIII der Charta der Vereinten Nationen handelt,114 hat wesentlich dazu beigetragen, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einem gewohnheitsrechtlich anerkannten Rechtsprinzip erstarkt ist.115 Insgesamt ergibt sich in den Augen des Internationalen Gerichtshofes für die Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung, wozu auch Namibia zählt, eine wie folgt zu beschreibende Rechtslage. Die Ausübung von Hoheitsrechten in diesen Gebieten stellt nach wie vor eine „heilige Aufgabe“ dar, wobei sich daraus nunmehr allerdings konkrete Rechtspflichten ergeben. Dazu ge113 Brink, EPIL III (1997), S. 629 (630); Waldock, RdC 106 (1962 II), S. 5 (29 f.). 114 Brownlie, Principles, S. 600; Waldock, RdC 106 (1962 II), S. 5 (33). 115 Vgl. Brownlie, Basic Documents on Human Rights, S. 28 (einführender Text zu GA/ReS. 1514/XV); Hailbronner, in: Graf Vitzthum, 3. Abschn. Rdnr. 121.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

hört unter anderem die Pflicht zur Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Daraus ergeben sich wiederum eine Reihe von Rechtspflichten, vor allem aber die Verpflichtung, das abhängige Gebiet in die Unabhängigkeit zu entlassen.116 Vor dem Hintergrund dieser Rechtslage zog der Gerichtshof die Schlußfolgerung, daß eine Auslegung, die das C-Mandat als Quasi-Annexion versteht, unhaltbar ist.117 54. „In the light of the foregoing, the Court is unable to accept any construction which would attach to ‚C‘ mandates an object and purpose different from those of ‚A‘ or ‚B‘ mandates. The only differences were those appearing from the language of Article 22 of the Covenant, and from the particular mandate instruments, but the objective and safeguards remained the same, with no exceptions such as considerations of geographical contiguity. To hold otherwise would mean that territories under ‚C‘ mandate belonged to the family of mandates only in name, being in fact the objects of disguised cessions, as if the affirmation that they could ‚be best administered under the laws of the Mandatory as integral portions of its territory‘ (Art. 22, para. 6) conferred upon the administering Power a special title not vested in States entrusted with ‚A‘ or ‚B‘ mandates.“

2. Der Streit um den Festlandsockel in der Ägäis Der zweite Fall, der dem Appellate Body in der Shrimp-Entscheidung als Vorlage diente, war der Streit um die Aufteilung des Festlandsockels in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei.118 In diesem Fall war bereits die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofes zwischen den Streitparteien umstritten. Griechenland behauptete die Zuständigkeit des Gerichtshofes und stützte sich dabei auf Art. 17 der Genfer Generalakte vom 26.9.1928.119 Diese Vorschrift sah eine generelle Zuständigkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofes für Streitigkeiten zwischen den Vertragsparteien der Generalakte vor. In diese Zuständigkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofes war aufgrund Art. 37 des IGH-Statuts nunmehr der Internationale Gerichtshof eingerückt. Allerdings hatte Griechenland anläßlich seines Beitritts zur Generalakte im Jahr 1931 einen gemäß Art. 39 der Generalakte120 ausdrücklich zulässigen Vorbehalt angebracht, der disputes 116 Vgl. zu dieser Folge des Selbstbestimmungsrechts auch Heintze, in: Ipsen, § 29 Rdnr. 6; Verdross/Simma, Lehrbuch des Völkerrechts, § 513. 117 ICJ Rep. 1971, S. 32, para. 54. 118 Aegean Sea Continental Shelf Case (Greece v. Turkey), Judgment, ICJ. Rep. 1978, S. 3 ff. 119 All disputes with regard to which the parties are in conflict as to their respective rights shall, subject to any reservations which may be made under Article 39, be submitted for decision to the Permanent Court of International Justice, unless the parties agree, in the manner hereinafter provided, to have resort to an arbitral tribunal; zur Genfer Generalakte vgl. v. d. Heydte, WdV I, S. 651 ff.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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relating to the territorial status of Greece von der Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des StIGH ausnahm. Sich im Wege der Gegenseitigkeit auf diesen Vorbehalt berufend, bestritt die Türkei die Zuständigkeit des IGH. Der Internationale Gerichtshof mußte demnach klären, ob ein Streit um den Festlandsockel in der Ägäis ein dispute(s) relating to the territorial status of Greece war.121 Griechenland argumentierte zunächst, daß die Worte territorial status im Zeitpunkt des Beitritts Griechenlands zur Generalakte eine besondere Bedeutung hatten. Disputes relating to the territorial status seien Streitigkeiten gewesen, deren Gegenstand die Änderung von in Friedensverträgen enthaltenen Territorialregelungen gewesen sei. Diesem Argument Griechenlands begegnete das Gericht wie folgt:122 „74. In the opinion of the Court, the historical evidence adduced by Greece does not suffice to establish that the expression ‚territorial status‘ was used in the League of Nations period, and in particular in the General Act of 1928, in the special, restricted, sense contended for by Greece. The evidence seems rather to confirm that the expression ‚territorial status‘ was used in its ordinary, generic 120 1. In addition to the power given in the preceding article, a Party, in acceding to the present General Act, may make his acceptance conditional upon the reservations exhaustively enumerated in the following paragraph. These reservations must be indicated at the time of accession. 2. These reservations may be such as to exclude from the procedure described in the present Act: (a–b) . . . (c) Disputes concerning particular cases or clearly specified subject-matters, such as territorial status, or disputes falling within clearly defined categories. (3–4) . . . Dt.: 1. Unabhängig von der im vorhergehenden Artikel erwähnten Befugnis kann eine Partei bei ihrem Beitritt zu dieser Generalakte deren Annahme von den im folgenden Absatz erschöpfend aufgezählten Vorbehalten abhängig machen. Die Vorbehalte müssen im Augenblick des Beitritts erklärt werden. 2. Durch diese Vorbehalte können von den in dieser Akte bezeichneten Verfahrensarten ausgeschlossen werden: (a–b) . . . (c) Streitigkeiten, die bestimmte Angelegenheiten oder besondere genau bezeichnete Materien betreffen wie z. B. den Gebietsstand, oder die zu ganz bestimmten Kategorien gehören. (3–4) . . . 121 Der IGH ignorierte die Tatsache, daß er einen einseitig erklärten Vorbehalt auszulegen hatte und nicht einen Vertrag nahezu vollständig. Dazu sah er sich berechtigt, weil der Wortlaut des Vorbehaltes identisch mit dem von Art. 39 der Generalakte war; vgl. dazu ICJ Rep. 1978, S. 29, para. 71: „(. . .) Thus, the meaning with which the expression ‚territorial status‘ was used in Article 39 of the General Act may clearly have a bearing on ist meaning in Greece’s instrument of accession“; vgl. zu dieser Frage auch Oellers-Frahm, AVR 18 (1979/80), S. 377 (381 f.). 122 ICJ Rep. 1978, S. 31 f., paras. 74–76.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

sense of any matters properly to be considered as relating to the integrity and legal regime of a State’s territory. It is significant in this regard that in the analysis of treaty provisions made in the Systematic Survey of Arbitral Conventions and Treaties of Mutual Security, published in 1927 by the Secretariat of the League of Nations (one of the documents used in connection with the drafting of the General Act), reservations of disputes relating to ‚territorial integrity‘, ‚territorial status‘ and ‚frontiers‘ were examined together as having the same or a very similar meaning. The Systematic Survey of Treaties for the Pacific Settlement of International Disputes 1928–1948 prepared by the Secretariat of the United Nations and published in 1948, also groups together, under the title ‚Disputes relating to territorial status‘, provisions concerning ‚territorial status‘, ‚territorial questions‘, ‚territorial integrity‘, ‚present frontiers‘. (. . .) 75. (. . .) In the view of the Court, the term ‚territorial status‘ in the treaty practice of the time did not have the very specific meaning attributed to it by the Greek Government. As the nature of the word ‚status‘ itself indicates, it was a generic term which in the practice of the time was understood as embracing the integrity and frontiers, as well as the legal régime, of the territory in question. (. . .) 76. Accordingly, the expression ‚relating to the territorial status of Greece‘ in reservation (b) is to be understood as a generic term denoting any matters properly to be considered as comprised within the concept of territorial status under general international law, and therefore includes not only the particular legal regime but the territorial integrity and the boundaries of a State. (. . .)“

Der Gerichtshof wies hier zunächst nach, daß bereits bei Abschluß der Genfer Generalakte der Begriff territorial status nicht in der von Griechenland behaupteten speziellen Bedeutung verwendet worden war. Vielmehr sei der Begriff in seiner damaligen gewöhnlichen Bedeutung verwendet worden. Danach sei der Begriff territorial status ein Oberbegriff (generic term), der sämtliche Rechtsregeln bezüglich der territorialen Integrität und Grenzen eines Staates umfasse. In Erwiderung eines zweiten von Griechenland vorgebrachten Arguments, daß das rechtliche Konzept des Festlandsockels im Jahr 1931 noch nicht existierte und daß es demzufolge auch nicht Eingang in den griechischen Vorbehalt gefunden haben konnte, fuhr der Gerichtshof wie folgt fort: „77. The Greek Government, however, has advanced a further historical argument by which it seeks to convince the Court that there can be no question of the applicability of reservation (b) with respect to the present dispute. This is that the very idea of the continental shelf was wholly unknown in 1928 when the General Act was concluded, and in 1931 when Greece acceded to the Act. (. . .) Once it is established that the expression ‚the territorial status of Greece‘ was used in Greece’s instrument of accession as a generic term denoting any matters comprised within the concept of territorial status under general international law, the presumption necessarily arises that its meaning was intended to follow the

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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evolution of the law and to correspond with the meaning attached to the expression by the law in force at any given time. (. . .)“

Der Gerichtshof erklärte nunmehr, daß eine Vermutung dafür bestünde, daß die Bedeutung des Begriffs territorial status der Entwicklung des Völkerrechts folgen und mit der Bedeutung übereinstimmen solle, die ihm das Recht in einer jeweiligen Epoche zuweise. Diese Vermutung entsteht nach Ansicht des Gerichts, sobald festgestellt ist, daß der Ausdruck territorial status als Oberbegriff sämtliche Gegenstände bezüglich des Gebietsbestandes im Völkerrecht bezeichnet. Für die Auslegung des Begriffs territorial status ergeben sich somit dieselben Folgen, wie für die Auslegung der im Namibia-Gutachten als evolutiv qualifizierten Begriffe: seine Bedeutung paßt sich der allgemeinen Entwicklung des Völkerrechts an. Anders als das Namibia-Gutachten läßt der Ägäis-Fall erkennen, welche Überlegungen den Internationalen Gerichtshof zu der Annahme veranlaßt haben, den Begriff territorial status als evolutiv zu qualifizieren. Wie bereits gesehen, erklärte das Gericht in Abschnitt 74 seines Urteils, daß sich dieser Begriff bereits bei Abschluß des Vertrages im Jahr 1928 sowohl auf die Integrität des Staatsgebiets als auch auf das rechtliche Regime bezog, dem dieses unterlag. Letztlich bezeichnet der Begriff territorial status damit nach Ansicht des Internationalen Gerichtshofs sämtliche Rechtssätze, die das Gebiet eines Staates rechtlich definieren. Da diese Rechtssätze möglichen Änderungen unterliegen, ging der Gerichtshof vom evolutiven Charakter des Begriffs aus.123 In der Sprache der juristischen Methodik ausge123

Die Einordnung der Begriffe the strenuous conditions of the modern world, the well being of the peoples concerned und sacred trust als evolutionary im Namibia-Gutachten läßt sich auch rückblickend nicht mit Hilfe des im zeitlich nachgelagerten Ägäis-Fall entwickelten Konzept erklären. Anders als hinter dem Ausdruck territorial status stand hinter den Begriffen strenuous conditions of the modern world, well being and development of the peoples concerned und sacred trust kein rechtliches Konzept, das diese Worte mitsamt seiner Fortentwicklung in die Satzung des Völkerbunds inkorporierten. Die „schwierigen Bedingungen der heutigen Welt“ beschreiben etwas Tatsächliches, inkorporieren jedoch kein rechtliches Konzept. Ob hinter dem „Wohlergehen und (der) Entwicklung dieser Völker“ bei Abschluß der Völkerbundsatzung ein rechtliches Konzept stand, muß insofern bezweifelt werden, als Menschenrechte und Selbstbestimmungsrecht als Regelungsmaterien des Völkerrechts zu diesem Zeitpunkt erst in der Entstehung begriffen waren. (Vgl. zu den Menschenrechten: Friesenhahn, WdV II, S. 503; Sieghart, S. 13 f.; zum Selbstbestimmungsrecht: Crawford, BYIL 48 [1976/77], S. 93 [149]; Doehring, in: Simma Self-Determination, Rdnr. 12, 13; Thürer, EPIL IV [2000], S. 364.) Vielmehr erscheint es wahrscheinlich, daß die Begriffe „Wohlergehen und Entwicklung“ vordergründig die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten der ehemaligen Kolonien und deren Bevölkerung im Auge hatten und nicht den Grad der Verwirklichung von Menschenrechten und Selbstbestimmungsrecht. Auch der Ausdruck sacred trust sollte nicht als mit der im anglo-amerikanischen Rechtsraum bekannten Rechtsfigur

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

drückt, handelt es sich bei dem Begriff territorial status damit um einen normativen Begriff.124 Darüber hinaus begründete der Internationale Gerichtshof den entwicklungsoffenen Charakter des Begriffs territorial status auch mit Ziel und Zweck der Generalakte von 1929. In einem Vertrag, der der friedlichen Streitbeilegung diente, war es nach Ansicht des Gerichtshofes nicht denkbar, daß die Begriffe einen im voraus fixierten Inhalt hätten: „77. (. . .) This presumption, in the view of the Court, is even more compelling when it is recalled that the 1928 Act was a convention for the pacific settlement of disputes designed to be of the most general kind and of continuing duration, for it hardly seems conceivable that in such a convention terms like ‚domestic jurisdiction‘ and ‚territorial status‘ were intended to have a fixed content regardless of the subsequent evolution of international law.“

Anhand dieser Passage wird auch deutlich, daß der Gerichtshof die im Namibia-Gutachten proklamierte allgemeine Auslegungsregel, der zufolge ein Vertrag stets im Lichte der geltenden Gesamtrechtsordnung auszulegen sein soll, offensichtlich nicht aufrecht erhalten wollte. Schließlich befand das Gericht: 80. „Having regard to the foregoing considerations, the Court is of the opinion that the expression in reservation (b) ‚disputes relating to the terrtorial status of Greece‘ must be interpreted in accordance with the rules of international law as they exist today, and not as they existed in 1931. It follows that in interpreting and applying reservation (b) with respect to the present dispute the Court has to take account of the evolution which has occurred in the rules of international law concerning a coastal State’s rights of exploration and exploitation over the continental shelf. The Court is, therefore, now called upon to examine whether, taking into account the developments in international law regarding the continental shelf, the expression ‚disputes relating to the terrtorial status of Greece‘ should or should not be understood as comprising within it disputes relating to the geographical – the spatial – extent of Greece’s right over the continental shelf in the Aegean Sea.“

In diesem Abschnitt kam der Gerichtshof schließlich zu dem Ergebnis, daß der Begriff territorial status vor dem Hintergrund der zuvor angestellten Überlegungen in Übereinstimmung mit dem gegenwärtigen Völkerrecht ausgelegt werden müsse. Für den konkreten Fall bedeute dies, daß das Gericht bei der Auslegung des Ausdrucks territorial status die Entwicklung der Rechtspositionen des Küstenstaates bezüglich des Festlandsockels zu berücksichtigen beabsichtigte. Dabei hatte der IGH die Rechtsentwicklung des Trust in Verbindung gebracht werden. Mithin läßt sich die Einordnung dieser Begriffe als evolutionary auch bei Anwendung der im Ägäis-Fall entwickelten Regeln nicht nachvollziehbar erklären. 124 Vgl. zum Begriffspaar deskriptiv – normativ Röhl, S. 39 f.; Rüthers, Rdnr. 178 ff.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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im Sinn125, die mit der Truman-Proklamation vom 28.9.1945 einsetzte und deren weitere Marksteine das Genfer Übereinkommen über den Festlandsockel von 1958126 sowie der Nordsee Festlandsockel-Fall von 1969127 waren. Diese Rechtsentwicklung führte dazu, daß der Festlandsockel im Zeitpunkt des Ägäis-Falls als natürliche Verlängerung des Landgebietes betrachtet wurde,128 über den der Küstenstaat souveräne Rechte zum Zwecke der Erforschung und Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen ausübt.129 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsentwicklung, also der Entstehung des rechtlichen Konzeptes des Festlandsockels, kam der Gerichtshof schließlich zu dem Ergebnis, daß disputes relating to the territorial status of Greece auch Streitigkeiten bezüglich der Abgrenzung des Festlandsockels erfassen.130 3. Das Verhältnis der beiden Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes zum Bericht des Appellate Body im Shrimp-Fall Der Appellate Body orientierte sich in seinem Bericht im Shrimp-Fall terminologisch eng an den beiden dargestellten Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofes. In dem für die Begründung der dynamisch evolutiven Auslegung zentralen Satz „From the perspective embodied in the preamble of the WTO Agreement, we note that the generic term ‚natural resources‘ in Article XX(g) is not ‚static‘ in its content or reference but is rather ‚by definition, evolutionary‘.“

und in der dazugehörigen Fußnote 109 Note: 109 See Namibia (Legal Consequences) Advisory Opinion (1971) I.C.J. Rep., p. 31. The International Court of Justice stated that where concepts embodied in a treaty are ‚by definition, evolutionary‘, their ‚interpretation cannot remain unaffected by the subsequent development of law . . . . Moreover, an international instrument has to be interpreted and applied within the framework of the entire legal system prevailing at the time of the interpretation.‘ See also Aegean Sea Continental Shelf Case, (1978) I.C.J. Rep., p. 3; Jennings and Watts (eds.), Oppenheim’s International Law, 9th ed., Vol. I (Longman’s, 1992), p. 1282 and E. Jimenez de Arechaga, ‚International Law in the Past Third of a Century‘, (1978I) 159 Recueil des Cours 1, p. 49.“ 125 Zur Rechtsentwicklung bis 1974 vgl. Berber, Bd. 1, S. 347 ff.; ausführlicher Rozakis, EPIL I (1992), S. 783–792. 126 Text bei Brownlie, Basic Documents in International Law, S. 119. 127 North Sea Continental Shelf Cases (Federal Republic of Germany v. Denmark; Federal Republic of Germany v. Netherlands), ICJ Rep. 1969, S. 3. 128 ICJ Rep. 1969, S. 31, para. 43: „the natural prolongation or continuation of the land territory or domain, or land sovereignty of the coastal state“. 129 Vgl. Art. 2 Abs. 1 des Genfer Übereinkommens über den Festlandsockel von 1958; so auch der IGH im Ägäis-Fall, ICJ Rep. 1978, S. 36, para. 86. 130 ICJ Rep. 1978, S. 36, para. 86.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

nahm er ausdrücklich Bezug auf den griechisch-türkischen FestlandsockelFall und auf das Namibia-Gutachten. Mit der wörtlichen Übernahme der vom Internationalen Gerichtshof geprägten Begriffe generic term und evolutionary beabsichtigte der Appellate Body, seinem Befund, daß der Begriff natural resources im Lichte nachfolgender Entwicklungen ausgelegt werden muß, zusätzliche Autorität zu verleihen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß sich das methodische Vorgehen des IGH von dem des Appellate Body unterscheidet. Der Ausdruck generic term ist dem griechisch-türkischen Festlandsokkel-Fall entlehnt. Wie zuvor dargestellt, bezeichnete dort der Internationale Gerichtshof den Begriff territorial status als generic term, also als Oberbeziehungsweise Sammelbegriff. Bei genauer Betrachtung der Ausführungen des IGH hat allerdings keineswegs die Qualifizierung des territorial status als Oberbegriff dazu geführt, daß bei dessen Auslegung Rechtsentwicklungen zu berücksichtigen waren, die auf den Vertragsschluß folgten. Entscheidend dafür waren vielmehr die „Gegenstände“ die der Begriff gesammelt bezeichnet. Dies sind sämtliche Rechtsregeln, die einen Einfluß auf die rechtliche Konstitution des Staatsgebietes haben. Da diese Regeln der Veränderung unterliegen, kam der Internationale Gerichtshof zu dem Ergebnis, daß auch der Begriff territorial status diese Veränderung nachvollzieht. Demnach konnte der Appellate Body im Shrimp-Fall mit der Verwendung der Bezeichnung generic term nicht den Beweis ersetzen, daß der Begriff natural resources tatsächlich entwicklungsoffen ist. Diesen Beweis hatte der Appellate Body freilich schon durch den Hinweis auf die Präambel erbracht. Die unzutreffende Auffassung hinsichtlich der Ausführungen des Internationalen Gerichtshofes rührt vermutlich von einem fehlerhaften Verständnis des Satzes „77 (. . .) Once it is established that the expression ‚the territorial status of Greece‘ was used in Greece’s instrument of accession as a generic term denoting any matters comprised within the concept of territorial status under general international law, the presumption necessarily arises that its meaning was intended to follow the evolution of the law and to correspond with the meaning attached to the expression by the law in force at any given time. (. . .)“

Entscheidend in diesem Satz ist die den Begriff generic term näher konkretisierende Partizipialkonstruktion denoting any matters comprised within the concept of territorial status under general international law und nicht der Begriff generic term selbst. Gerade darin nämlich liegt die Besonderheit des normativen Begriffs territorial status. Nicht zu beanstanden ist hingegen die Verwendung des dem NamibiaGutachten entstammenden Begriffs evolutionary. Zwar bestehen auch zwi-

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

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schen diesem Gutachten und dem Shrimp-Fall erhebliche Unterschiede – während es im Namibia-Gutachten um die Berücksichtigung einer außerhalb des Vertrags stattfindenden Rechtsentwicklung ging, ging es im Shrimp-Fall wohl um die Berücksichtigung einer sprachlichen Entwicklung – gleichwohl ging es in beiden Fällen um die Berücksichtigung einer außerhalb des Vertragstextes stattfindenden Entwicklung, einer evolution. Etwas unglücklich ist die Übernahme der Begrifflichkeit aus dem Namibia-Gutachten nur insofern, als der Internationale Gerichtshof es dort, wie dargestellt,131 versäumt hatte darzustellen, weshalb er die auszulegenden Begriffe als evolutiv charakterisierte. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den drei hier behandelten Fällen besteht schließlich in der im Rahmen der evolutiven Auslegung zu berücksichtigenden Entwicklung. Wie gesehen, stellt der Appellate Body wesentlich auf eine veränderte Wortbedeutung des Begriffs natural resources ab. Demgegenüber ging es im Namibia-Gutachten um die Berücksichtigung eines durch die Charta der Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht wesentlich veränderten normativen Umfeldes der auszulegenden Völkerbundssatzung. Im Ägäis-Fall berücksichtigte der Internationale Gerichtshof schließlich die Entstehung der gewohnheitsrechtlichen Regeln bezüglich des Festlandsockels. Zwischen dem Namibia-Gutachten und dem Ägäis-Fall besteht also insofern eine Übereinstimmung, als die auf die Auslegung Einfluß nehmenden Rechtsentwicklungen in beiden Fällen universellen Charakter haben.

E. Abschließende Bewertung I. Wortlautauslegung und Ordinary Meaning Art. 31 Abs. 1 WVRK schreibt dem Interpreten die Ermittlung der gewöhnlichen Bedeutung, des „ordinary meaning“, einer Vorschrift und der darin verwendeten Worte vor. Wie dargestellt, beruht diese Vorschrift auf der – wie Art. 31 Abs. 4 WVRK zeigt – widerlegbaren Vermutung, daß die Vertragsparteien bei der Abfassung des Vertrags die Worte in ihrer gewöhnlichen Bedeutung verwendet haben. Von den vom Appellate Body verwendeten Techniken ist insbesondere die Verwendung allgemeinsprachlicher Wörterbücher dazu geeignet, die gewöhnliche Bedeutung von Wörtern und Begriffen zu ermitteln. Wie die Betrachtung der Arbeitsweise der Redaktionen allgemeinsprachlicher Wörterbücher ergeben hat,132 verzeichnen diese Wörterbücher vorrangig die übli131 132

Vgl. dazu soeben im Text unter 1. Dazu soeben oben im Text unter A. I.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

chen Haupt- oder Kernbedeutungen. Sie geben also die gewöhnliche (ordinary) Wortbedeutung wieder. Weniger eindeutig fällt das Urteil bezüglich der Verwendung fachsprachlicher Wörterbücher und außerhalb des WTO-Systems stehender völkerrechtlicher Verträge aus. Bezüglich dieser Hilfsmittel ist zumindest fraglich, ob sie die gewöhnliche Bedeutung eines Wortes wiedergeben, wobei der Einschätzung des Appellate Body, daß auch diese Hilfsquellen geeignet sind, die gewöhnliche Bedeutung eines Wortes zu ermitteln, im Ergebnis jedenfalls zuzustimmen ist. Im modernen Staatenverkehr sind an der Aushandlung völkerrechtlicher Verträge stets auch Experten beteiligt, die diese Verträge nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich mitgestalten. Dies gestattet die Vermutung, daß die Vertragsworte in ihrer gewöhnlichen fachsprachlichen Bedeutung Eingang in einen Vertrag gefunden haben. Soweit jedoch allgemeinsprachliche und fachsprachliche Bedeutung eines Wortes wie etwa im Fall Canada – Term of Patent Protection133 voneinander abweichen, gebietet es die Forderung nach Rechtssicherheit, Vorhersehbarkeit und Transparenz, daß der Appellate Body erkennen läßt, weshalb er der fachsprachlichen Bedeutung den Vorzug gewährt. Sieht man von diesen mit der Verwendung von fachsprachlicher Quellen möglicherweise verbundenen Besonderheiten ab, so ist zu konstatieren, daß die übrigen Techniken des Appellate Body zur Bestimmung der Wortlautbedeutung tatsächlich geeignet sind, die gewöhnliche Bedeutung der Vertragsworte zu ermitteln. Daher ist es auch gerechtfertigt, daß der Appellate Body im Rahmen der Wortlautauslegung in steter Regelmäßigkeit den Ausdruck „ordinary meaning“ verwendet. Darin ist jedoch nicht nur eine Beschreibung seines tatsächlichen Tuns, nämlich der Bestimmung der gewöhnlichen Bedeutung, zu sehen. Vielmehr stellt die Verwendung dieses Begriffes auch ein stilistisches Mittel dar. Durch die häufige Verwendung des Begriffes bezweckt der Appellate Body auch, seine enge Bindung an die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention zu betonen. Dies soll das Vertrauen der Mitglieder der WTO in das Funktionieren des Streitbeilegungsverfahrens stärken. II. Die Verwendung von Wörterbüchern Die häufige Zuhilfenahme von Wörterbüchern bei der Wortlautauslegung ist nicht nur wegen ihrer Eignung zu Ermittlung des ordinary meaning, sondern auch wegen einer Reihe anderer Aspekte im wesentlichen als positiv zu bewerten. 133

Dazu soeben oben im Text unter A. II.

1. Kap.: Die Wortlautauslegung

217

Englisch ist nicht die Muttersprache aller Mitglieder des Appellate Body.134 Eine gründliche Vertragsauslegung setzt jedoch eine profunde Kenntnis der Sprache voraus, in der der auszulegende Vertrag abgefaßt ist. Dabei geht es nicht nur um passives Sprachverständnis. Erforderlich ist vielmehr auch eine aktive Beherrschung der Sprache, die den Interpreten befähigt, die im Vertrag verwendeten Wörter zu definieren und Synonyme zu finden, um auf diese Weise deren Bedeutung zu bestimmen. Bei dieser Tätigkeit sind Wörterbücher für diejenigen Mitglieder des Gremiums, die einem anderen als dem englischen Sprachraum entstammen, ein geeignetes Mittel, sprachliche Unsicherheiten auszugleichen. Daneben vereinfacht und beschleunigt die Verwendung von Wörterbüchern den Prozeß der Wortlautauslegung erheblich. Dies ist angesichts des engen Zeitrahmens von regelmäßig 60 und maximal 90 Tagen (Art. 17.5 DSU), der dem Gremium für die Fertigstellung seines Berichts zur Verfügung steht, ein durchaus zu bedenkender Aspekt. Abseits dieser beiden eher praktischen Gesichtspunkte erzielt der Appellate Body durch Verwendung von Wörterbüchern und dadurch, daß er dieses Vorgehen auch nach außen hin dokumentiert, eine wichtige Außenwirkung. Durch die zahlreichen Verweise auf Wörterbücher in seinen Berichten wirkt das Gremium dem Vorwurf der Willkür bei der Wortlautauslegung entgegen. Gleichzeitig läßt die Verwendung von Wörterbüchern die Auslegungsergebnisse und damit die Entscheidungen des Appellate Body grundsätzlich vorhersehbarer werden. Dies trägt dazu bei, daß das Vertrauen der Mitglieder der WTO in das Streitbeilegungsverfahren langfristig gestärkt wird.135 Etwas zurückhaltender sind lediglich diejenigen Fälle zu bewerten, in denen sich der Appellate Body ausschließlich oder entscheidend von Rechtswörterbüchern leiten läßt. Wie gesehen nehmen die in diesen Rechtswörterbüchern verwendeten Definitionen vorwiegend auf eine einzige Rechtsordnung Bezug. Die allzu selbstverständliche Übernahme dieser Definitionen in den Bereich der WTO birgt die Gefahr, nationalstaatliche Rechtskonzepte auf die Ebene des Völkerrechts zu transformieren. Wie ein Vergleich mit Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut, der das Zustandekommen allgemeiner 134 Die bisherigen Mitglieder des Appellate Body waren bzw. sind: J. Bacchus (USA), C. Beeby (Neuseeland), C.-D. Ehlermann (EG/Deutschland), S. El-Naggar (Ägypten), F. Feliciano (Philippinen), J. Lacarte Muró (Uruguay), M. Matsushita (Japan), Y. Taniguchi (Japan), G.M. Abi-Saab (Ägypten), A.V. Ganesan (Indien), L.O. Baptista (Brasilien), J.S. Lockhart (Australien), G. Sacerdoti (EG/Italien), M. E. Janow (USA); vgl. die WTO-Pressemitteilungen Nr. 32 v. 29.11.1995, Nr. 179 v. 25.5.2000, Nr. 246 v. 25.9.2001 und Nr. 364 v. 7.11.2003. 135 Zu diesem Aspekt umfassend Howse, in: Weiler, S. 35 (51 ff.); Weiler, JWT 35/2 (2001), S. 191 (206 f.).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Rechtsgrundsätze beschreibt,136 zeigt, ist die Übernahme von Rechtsgedanken aus staatlichen Rechtsordnungen in das Völkerrecht nur zulässig, wenn sie einen breiten Konsens der Staaten widerspiegeln. Dieser Gedanke ist auch für den Bereich der Vertragsauslegung fruchtbar zu machen. Dementsprechend sollte eine Übertragung nationaler Definitionen nur stattfinden, wenn diese unter den WTO-Mitgliedern weithin gemeinsam sind. Abschließend ist festzuhalten, daß die Verwendung von Wörterbüchern durch den Appellate Body auch aus organisationsrechtlichen Gesichtspunkten keine Bedenken entgegen stehen. Weder Art. 3.2 DSU noch das im wesentlichen mit Art. 31 WVRK übereinstimmende Gewohnheitsrecht enthalten präzise Regelungen darüber, wie sich die Wortlautauslegung zu vollziehen hat. Nur das Ergebnis dieses Auslegungsvorgangs ist beschrieben – er soll die gewöhnliche (ordinary) Bedeutung des Wortes erbringen. Innerhalb des damit abgesteckten Rahmens ist der Appellate Body letztlich frei, Techniken zu entwickeln, die ihn zur gewöhnlichen Bedeutung führen.137 Von dieser Freiheit macht das Gremium bei der Zuhilfenahme von Wörterbüchern im Rahmen der Wortlautauslegung Gebrauch.

2. Kapitel

Die Systematische Auslegung Entsprechend den mit Art. 31 Abs. 1 und Abs. 2 WVRK übereinstimmenden gewohnheitsrechtlichen Vorgaben kommt in der Auslegungspraxis des Appellate Body neben der Wortlautauslegung der systematischen Auslegung eine wichtige Bedeutung zu. Im Rahmen der systematischen Auslegung untersucht der Appellate Body, welche Auslegungsargumente sich dem Zusammenhang beziehungsweise dem Umfeld, in dem die auszulegende Norm oder deren auszulegender Teil steht, entnehmen lassen.

A. Der auslegungsrelevante Kontext im allgemeinen Gegenstand der Analyse des Appellate Body ist sowohl der syntaktische Zusammenhang der jeweils auszulegenden Worte, also deren unmittelbares Umfeld, als auch der Sinnzusammenhang, also andere Vertragsvorschriften.

136

Vgl. zu den „Allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ noch ausführlich unten im Text 6. Kap. C. 137 Dies entspricht der implied powers-Doktrin; vgl. dazu statt vieler Schermers/ Blokker, § 232.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

219

I. Der syntaktische Zusammenhang Die Analyse des syntaktischen Zusammenhangs der jeweils auszulegenden Worte oder Normpassagen spielt in der Praxis des Appellate Body eine wichtige Rolle. Dabei untersucht der Appellate Body, welche Rückschlüsse auf die Bedeutung des auszulegenden Worts oder Ausdrucks sich aus den Wörtern ziehen lassen, die in unmittelbarer räumlicher Nähe des auszulegenden Wortes oder Ausdrucks stehen.138 Im Zusammenhang mit der Auslegung des Wortes benefit (Art. 1.1[b] des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen) im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft139 führte der Appellate Body im Anschluß an die bereits im Zusammenhang mit der Wortlautauslegung zitierte Passage aus:140 „154 A ‚benefit‘ does not exist in the abstract, but must be received and enjoyed by a beneficiary or a recipient. Logically, a ‚benefit‘ can be said to arise only if a person, natural or legal, or a group of persons, has in fact received something. The term ‚benefit‘, therefore, implies that there must be a recipient. This provides textual support for the view that the focus of the inquiry under Article 1.1(b) of the SCM Agreement should be on the recipient and not on the granting authority. The ordinary meaning of the word ‚confer‘, as used in Article 1.1(b), bears this out. ‚Confer‘ means, inter alia, ‚give‘, ‚grant‘ or ‚bestow‘.87 The use of the past participle ‚conferred‘ in the passive form, in conjunction with the word ‚thereby‘, naturally calls for an inquiry into what was conferred on the recipient. Accordingly, we believe that Canada’s argument that ‚cost to government‘ is one way of conceiving of ‚benefit‘ is at odds with the ordinary meaning of Article 1.1(b), which focuses on the recipient and not on the government providing the ‚financial contribution‘. Note: 87 The New Shorter Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1993) Vol. I, p. 474; The Concise Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1995), p. 278; Webster’s Third New International Dictionary, (William Benton, 1966), Vol. I, p. 475.“

Hier unternahm der Appellate Body im Anschluß an die Wortlautauslegung141 eine detaillierte Untersuchung des Wortes conferred und dessen Be138

Der syntaktische Zusammenhang war außer in den sogleich dargestellten Fällen unter anderem auch in folgenden Fällen von Bedeutung: Canada – Measures Affecting the Import of Milk and the Exportation of Certain Dairy Products (WT/ DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R) para. 108; Korea – Definitive Safeguard Measures on Imports of Certain Dairy Products (WT/DS98/AB/R) para. 85; Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear (WT/DS121/AB/R) para. 131; Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef (WT/DS161/AB/ R; WT/DS169/AB/R) para. 162. 139 Vgl. dazu bereits oben im Text 1. Kap. A. I. 140 WT/DS70/AB/R, para. 154. 141 Dazu bereits oben im Text 1. Kap. A. I.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

deutung für die Auslegung des Wortes benefit.142 Innerhalb von Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen erfüllen die Worte is . . . conferred die grammatikalische Funktion des Prädikats und stehen daher in engem Zusammenhang mit dem Subjekt des Satzes, dem auszulegenden Wort benefit. Insofern liegt eine Berücksichtigung des Wortes conferred im Rahmen des syntaktischen Zusammenhanges nahe. Zunächst definierte der Appellate Body die Bedeutung des Wortes conferred und dessen grammatikalische Form.143 Dabei gelangte er zu der Auffassung, daß die Verwendung des Passivs in Verbindung mit dem Wort thereby das Augenmerk stärker auf das Empfangene richtet als auf den eigentlich aktiv Handelnden, also denjenigen, der eine Zahlung etc. leistet. Diese Schlußfolgerung steht mit den Regeln allgemeiner Grammatik im Einklang, wonach das Passiv eine Verbform ist, die „täterabgewandt“144 ist und dasjenige in den Vordergrund stellt, was getan wird, und dadurch gleichzeitig den Handelnden in den Hintergrund rücken läßt.145 Kanada hatte behauptet, ein benefit liege nur dann vor, wenn der Regierung auch Kosten entstünden.146 Damit hatte Kanada versucht das Augenmerk auf den Handelnden zu lenken. Dieses Verständnis der Vorschrift unterstützt der Vertragstext nach Ansicht des Appellate Body aber aufgrund der Verwendung des Passivs gerade nicht. Eine Untersuchung des syntaktischen Zusammenhangs nahm der Appellate Body auch bei der Auslegung des Wortes necessary (Art. XX[d] GATT 1994) im Fall Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef147 vor. Im Anschluß an die bereits dargestellte Wortlautauslegung148 führte das Gremium aus: 142 Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen lautet: For the purpose of this Agreement, a subsidy shall be deemed to exist if there is a financial contrbution by a government or any public body within the territory of a Member(. . .) and a benefit is thereby conferred. (Hervorhebung vom Verfasser). 143 Der Appellate Body unternahm hier also eine Wortlautauslegung des im Rahmen des syntaktischen Zusammenhangs herangezogenen Wortes. Dabei verwendete er die oben im Text (1. Kap. C. I.) als Eigendefinition bezeichnete Technik. 144 Gelhaus, in: Dudenreaktion, Rdnr. 307. 145 Köhler/Linse/Bezold, S. 30. 146 Vgl. die Argumentation Kanadas im Verfahren vor dem Panel, WT/DS70/R (14.4.1999), para. 5.29 sowie die Argumentation im Verfahren vor dem Appellate Body (WT/DS70/AB/R) para. 9. Diese Argumentation erklärt sich vor dem tatsächlichen Hintergrund des Falls: die auf dem Prüfstand stehenden Subventionen waren in Form von verbilligten Darlehen und Staatsbürgschaften gewährt worden und waren daher, soweit die Darlehen zurückgezahlt und die Bürgschaften nicht in Anspruch genommen wurden, für die Regierung kostenneutral. 147 WT/DS161/AB/R; WT/DS169/AB/R. 148 Vgl. zur Wortlautauslegung und zum Sachverhalt oben im Text 1. Kap. A. II.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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„162. In appraising the ‚necessity‘ of a measure in these terms, it is useful to bear in mind the context in which ‚necessary‘ is found in Article XX(d). The measure at stake has to be ‚necessary to ensure compliance with laws and regulations . . . , including those relating to customs enforcement, the enforcement of [lawful] monopolies . . . , the protection of patents, trade marks and copyrights, and the prevention of deceptive practices‘. (emphasis added) Clearly, Article XX(d) is susceptible of application in respect of a wide variety of ‚laws and regulations‘ to be enforced. (. . .)‘ It seems to us that a treaty interpreter assessing a measure claimed to be necessary to secure compliance of a WTO-consistent law or regulation may, in appropriate cases, take into account the relative importance of the common interests or values that the law or regulation to be enforced is intended to protect. The more vital or important those common interests or values are, the easier it would be to accept as ‚necessary‘ a measure designed as an enforcement instrument.“

Hier kam der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß das Wort necessary keine unbedingte Notwendigkeit im Sinne einer absoluten Unerläßlichkeit verlangt. Vielmehr stellt necessary nach der Auffassung des Appellate Body ein relatives Konzept dar. Ob eine handelsbeschränkende Maßnahme notwendig im Sinne von Art. XX(d) GATT 1994 ist, bemißt sich auch nach der Bedeutung und dem Wert der Ziele, die die inländischen Gesetzesvorschriften verfolgen, deren Durchsetzung die handelsbeschränkenden Maßnahmen sicherstellen sollen. Zu dieser Auslegung gelangte das Gremium aufgrund der Beobachtung, daß die einzelnen in Art. XX(d) GATT 1994 exemplarisch genannten gesetzgeberischen Ziele in ihrer Bedeutung und ihrem Wert offensichtlich variieren. II. Der Sinnzusammenhang In einer Vielzahl von Fällen berücksichtigt der Appellate Body neben dem syntaktischen Zusammenhang auch den Sinnzusammenhang. Dabei untersucht das Gremium die einzelnen Absätze und Unterabsätze innerhalb der auszulegenden Norm sowie deren Überschrift (sogenannter norminterner Zusammenhang), andere Normen sowie die Präambel des Abkommens, in dem sich die auszulegende Norm befindet (sogenannter vertragsinterner Zusammenhang) und schließlich Normen anderer WTO-Abkommen (sogenannter vertragsübergreifender Zusammenhang). 1. Norminterner Zusammenhang Der vom Appellate Body bei der Auslegung herangezogene norminterne Zusammenhang besteht aus sämtlichen Absätzen und Unterabsätzen sowie der Überschrift der Vertragsnorm, in der sich das auszulegende Wort beziehungsweise der auszulegende Ausdruck findet.149

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Bei der Auslegung des Begriffes benefit im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft150 spielte neben dem syntaktischen Zusammenhang auch der norminterne Zusammenhang eine Rolle. Unter Hinweis auf Art. 1.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen widerlegte der Appellate Body die Behauptung Kanadas, daß ein Vorteil im Sinne von Art. 1.1(b) nur dann gegeben sei, wenn der Regierung des vermeintlich subventionierenden Staates Kosten entstünden: „156. The structure of Article 1.1 as a whole confirms our view that Article 1.1(b) is concerned with the ‚benefit‘ to the recipient, and not with the ‚cost to government‘. The definition of ‚subsidy‘ in Article 1.1 has two discrete elements: ‚a financial contribution by a government or any public body‘ and ‚a benefit is thereby conferred‘. The first element of this definition is concerned with whether the government made a ‚financial contribution‘, as that term is defined in Article 1.1(a). The focus of the first element is on the action of the government in making the ‚financial contribution‘. That being so, it seems to us logical that the second element in Article 1.1 is concerned with the ‚benefit. . . conferred‘ on the recipient by that governmental action. Thus, subparagraphs (a) and (b) of Article 1.1 define a ‚subsidy‘ by reference, first, to the action of the granting authority and, second, to what was conferred on the recipient. Therefore, Canada’s argument that ‚cost to government‘ is relevant to the question of whether there is a ‚benefit‘ to the recipient under Article 1.1(b) disregards the overall structure of Article 1.1.“

Hier bildete Art. 1.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen den norminternen Zusammenhang für die Auslegung von Art. 1.1(b). Aus der Tatsache, daß die finanzielle Beihilfe einer Regierung oder öffentlichen Körperschaft bereits ein Tatbestandsmerkmal in Art. 1.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen ist, zog der Appellate Body die Schlußfolgerung, daß das von Kanada behauptete inhaltlich gleichbedeutende Tatbestandsmerkmal Kosten der Regierung nicht Bestandteil der Definition des Begriffes benefit in Art. 1.1(b) sein kann. Von Bedeutung war der norminterne Zusammenhang auch im Verfahren Canada – Term of Patent Protection.151 Dort hatte Kanada argumentiert, 149 Der norminterne Zusammenhang war außer in den sogleich dargestellten Fällen unter anderem auch in folgenden Fällen von Bedeutung: United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear (WT/DS24/AB/R), S. 14 ff.; European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas (WT/DS27/AB/R), para. 200; Canada – Measures Affecting the Import of Milk and the Exportation of Dairy Products (WT/DS103/AB/R; WT/ DS113/AB/R), para. 109. 150 WT/DS70/AB/R; vgl. dazu soeben oben unter I. 151 WT/DS170/AB/R; vgl. dazu soeben oben 1. Kap. A. II.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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daß Art. 70.1 TRIPS152 die Anwendung des TRIPS – und insbesondere des Art. 33 TRIPS – auf noch bestehende Altpatente, also Patente die vor 1989 mit einer 17jährigen Schutzdauer eingetragen worden waren, ausschließe. Zur Begründung dieser Auffassung hatte Kanada vorgetragen, daß die Eintragung des Patents und der daraus resultierende Schutz untrennbar zusammenhingen. Da der act, die Eintragung, bereits abgeschlossen sei, sei auch das geschützte Patent als eine bereits abgeschlossene Handlung zu verstehen. Aus diesem Grund sei das TRIPS auf diese Patente nicht anwendbar.153 Der Appellate Body begegnete dieser Argumentation zunächst mit dem Hinweis darauf, daß im Patentrecht zwischen Handlungen und aus diesen Handlungen resultierenden Rechten unterschieden werden müsse.154 Anschließend führte er aus: „57. With respect to Article 70.1, the crucial question for consideration before us is, therefore: if patents created by ‚acts‘ of public authorities under the Old Act continue to be in force on the date of application of the TRIPS Agreement for Canada (that is, on 1 January 1996), can Article 70.1 operate to exclude those patents from the scope of the TRIPS Agreement, on the ground that they were created by ‚acts which occurred‘ before that date? 58. The ordinary meaning of the term ‚acts‘ suggests that the answer to this question must be no. An ‚act‘ is something that is ‚done‘, and the use of the phrase ‚acts which occurred‘ suggests that what was done is now complete or ended. This excludes situations, including existing rights and obligations, that have not ended. Indeed, the title of Article 70, ‚Protection of Existing Subject Matter‘, confirms contextually that the focus of Article 70 is on bringing within the scope of the TRIPS Agreement ‚subject matter‘ which, on the date of the application of the Agreement for a Member, is existing and which meets the relevant criteria for protection under the Agreement.“

Neben der Wortbedeutung, die der Appellate Body hier ohne Rückgriff auf ein Wörterbuch definierte, und dem aus den Worten which occurred bestehenden syntaktischen Zusammenhang des Wortes acts war die Überschrift von Artikel 70 TRIPS, Protection of Existing Subject Matter, für die Entscheidung des Appellate Body ausschlaggebend. Sie bestätigte die Wortlautauslegung155 insofern, als auch sie darauf hindeutete, daß zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TRIPS bereits existierende Schutz152

Art. 70.1 TRIPS: This Agreement does not give rise to obligations in respect of acts which occurred before the date of application of the Agreement for the Member in question. (Hervorhebung vom Verfasser). 153 Vgl. die Zusammenfassung der kanadischen Argumentation im Bericht des Appellate Body (WT/DS170/AB/R), para. 50. 154 WT/DS170/AB/R, para. 56. 155 Wortlautauslegung und syntaktischer Zusammenhang ergaben hier, daß sich Art. 70.1 TRIPS nur auf abgeschlossene Handlungen, nicht aber auf die daraus resultierenden noch fortdauernden Situationen bezieht.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

gegenstände in den Anwendungsbereich des Abkommens aufgenommen werden sollten. 2. Vertragsinterner Zusammenhang Bei der Auslegung einzelner Normen und Normteile untersucht der Appellate Body häufig, welchen Einfluß andere Vorschriften des Vertrages, in dem die auszulegende Norm steht, auf deren Bedeutung haben.156 Wiederum im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft157 bediente sich der Appellate Body des vertragsinternen Zusammenhangs, um die Bedeutung des Begriffs benefit zu klären. Dabei hielt er Art. 14 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen bei der Bestimmung der Bedeutung des Wortes benefit für relevant. „155. We find support for this reading of ‚benefit‘ in the context of Article 1.1(b) of the SCM Agreement. Article 14 sets forth guidelines for calculating the amount of a subsidy in terms of ‚the benefit to the recipient‘. Although the opening words of Article 14 state that the guidelines it establishes apply ‚[f]or the purposes of Part V‘ of the SCM Agreement, which relates to ‚countervailing measures‘, our view is that Article 14, nonetheless, constitutes relevant context for the interpretation of ‚benefit‘ in Article 1.1(b). The guidelines set forth in Article 14 apply to the calculation of the ‚benefit to the recipient conferred pursuant to paragraph 1 of Article 1‘. (emphasis added) This explicit textual reference to Article 1.1 in Article 14 indicates to us that ‚benefit‘ is used in the same sense in Article 14 as it is in Article 1.1. Therefore, the reference to ‚benefit to the recipient‘ in Article 14 also implies that the word ‚benefit‘, as used in Article 1.1, is concerned with the ‚benefit to the recipient‘ and not with the ‚cost to government‘, as Canada contends.“

Die Verwendung der Worte to the recipient zur Konkretisierung des Begriffs benefit in Art. 14 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen und die ausdrückliche Bezugnahme auf Art. 1.1 des Übereinkommens158 erlaubten dem Appellate Body hier die Annahme, daß es auch in Art. 1.1(b) darauf ankommt, daß es einen Vorteilsempfänger 156 Der vertragsinterne Zusammenhang war außer in den sogleich dargestellten Fällen unter anderem auch in folgenden Fällen von Bedeutung: Japan – Measures Affecting Agricultural Products (WT/DS76/AB/R; 22.2.1999), para. 74 ff.; Canada – Measures Affecting the Import of Milk and the Exportation of Dairy Products (WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R), para. 110; United States – Definitve Safeguard Measures on Imports of Wheat Gluten from the European Communites (WT/ DS/166/AB/R, 22.12.2000) para. 52 f.; United States – Anti-Dumping Measures on Certain Hot-Rolled Steel Products from Japan (WT/DS184/AB/R, 24.7.2001) para. 72 ff.; Chile – Price Band System and Safguard Measures Relating to Certain Agricultural Products (WT/DS207/AB/R), para. 211. 157 WT/DS70/AB/R; vgl. dazu oben 1. Kap. A. I. sowie soeben oben bei 1. 158 Dazu sogleich unten im Text C. II. 1.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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gibt, nicht jedoch darauf, daß der subventionsgewährenden Regierung Kosten entstehen. Schließlich spielte der vertragsinterne Zusammenhang auch in dem bereits erwähnten Fall Canada – Term of Patent Protection159 eine Rolle. Um zu klären, ob Art. 33 TRIPS auf die vor 1989 eingetragenen Altpatente Anwendung fand, zog der Appellate Body neben Art. 70.1 TRIPS160 auch Art. 70.2 TRIPS heran. Die insofern entscheidende Frage, ob die Altpatente beziehungsweise die ihnen zugrundeliegenden Erfindungen unter den Begriff subject matter fielen, beantwortete das Gremium indem es den vertragsinternen Kontext von Art. 70.2 TRIPS näher untersuchte. Dabei ergab sich, daß neben Art. 70 TRIPS einige weitere Vorschriften des Übereinkommens Patente beziehungsweise Erfindungen als subject matter bezeichnen: „66. Articles 27, 28, 31 and 34 of the TRIPS Agreement also use the words ‚subject matter‘ with respect to patents and provide an equally useful context for interpretation. Article 27, entitled ‚Patentable Subject Matter‘, states: ‚patents shall be available for any inventions‘ . . . . This Article identifies the criteria that an invention must fulfill in order to be eligible to receive a patent, and it also identifies the types of inventions that may be excluded from patentability even if they meet those criteria. On the other hand, in Articles 28, 31 and 34, the words ‚subject matter‘ relate to patents that are granted pursuant to the criteria in Article 27; that is to say, these Articles relate to inventions that are protected by patents granted, as distinguished from the ‚patentable‘ inventions to which Article 27 refers. These Articles confirm the conclusion that inventions are the relevant ‚subject matter‘ in the case of patents, and that the ‚subject matter‘ in Article 70.2 means, in the case of patents, patentable or patented inventions. Article 70.2 thus gives rise to obligations in respect of all such inventions existing on the date of application of the TRIPS Agreement for a Member. In the appeal before us, where the measure in dispute is Section 45 of Canada’s Patent Act, which applies to Old Act patents, the word ‚subject matter‘ means the inventions that were protected by those patents. We, therefore, confirm the conclusion of the Panel in this regard.“

Aus der Tatsache, daß die genannten Vorschriften innerhalb des TRIPS den Begriff subject matter allesamt in der Bedeutung „patentierbare Erfindung“ verwenden, zog der Appellate Body die Schlußfolgerung, daß dies auch die für Art. 70.2 TRIPS zutreffende Bedeutung ist.161 159

WT/DS170/AB/R. Dazu soeben oben 1. 161 Das Vorgehen des Appellate Body weist zunächst gewisse Ähnlichkeiten mit der als Bedeutungsübertragung bezeichneten Technik im Rahmen der Wortlautauslegung auf. Allerdings ist es vorzugswürdig, diese Passage in die systematische Auslegung einzuordnen. Rein formal betrachtet ordnet der Appellate Body sein Vorgehen selbst der systematischen Auslegung zu, wenn er davon spricht, daß die bezeichneten Vorschriften einen für die Auslegung nützlichen Kontext bilden. Darüber hinaus liegt der Schwerpunkt der Bedeutungsübertragung darin, eine zuvor in einem 160

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

3. Vertragsübergreifender Zusammenhang Schließlich verläßt der Appellate Body bei der Kontextanalyse bisweilen die Grenzen des Übereinkommens, in dem sich die auszulegende Vorschrift befindet, und untersucht Normen anderer WTO-Übereinkommen auf die Rückschlüsse, die sie für die Bedeutung der auszulegenden Norm zulassen.162 Im Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear163, in dem es um die Frage ging, ob die Vereinigten Staaten berechtigt waren, die gegen Costa Rica verhängten Schutzmaßnahmen auch mit rückwirkender Kraft anzuwenden, untersuchte der Appellate Body nicht nur den engeren Zusammenhang von Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung, sondern zog auch Vorschriften anderer WTO-Übereinkommen heran, die die Verhängung von Gegenmaßnahmen regeln:164 „Simply as a matter of comparative texts, it may be noted that like Article 6.10 of the ATC, Article XIX of the General Agreement and the Agreement on Safeguards do not contain any language expressly permitting backdating of the effectivity of a safeguard restraint measure taken thereunder with respect to categories of goods already integrated into the General Agreement. In contrast, it may also be noted that both Article 10(2) of the Anti-dumping Agreement and Article 20(2) of the SCM Agreement expressly authorize, under certain conditions, the retroactive levying of anti-dumping and countervailing duties for the period when provisional measures were in force.“

Der vertragsübergreifende Kontext bestätigte hier das Ergebnis, zu dem der Appellate Body bereits im Rahmen der Wortlautauslegung gelangt war,165 nämlich daß Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung ein rückwirkendes Inkraftsetzen von handelsbeschränkenden Schutzmaßnahmen nicht gestattet. In ähnlicher Weise ging der Appellate Body im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry166 vor. Dort mußte das Gremium unter anderem klären, ob Art. 3.1(b) des Übereinkommens über Subanderen Fall im Wege der Wortlautauslegung einer anderen Vorschrift gewonnene Definition auf die auszulegende Vorschrift zu übertragen. Im vorliegenden Fall hatte der Appellate Body die Bedeutung des Begriffes subject matter jedoch nicht zuvor geklärt. 162 Vgl. auch die Argumentation des Appellate Body in European Communities – Trade Description of Sardines (WT/DS231/AB/R), para. 213. 163 WT/DS24/AB/R. 164 WT/DS24/AB/R, S. 15 m. Fn. 25. 165 Zur Wortlautauslegung in diesem Fall vgl. bereits oben 1. Kap. C. I. 166 WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R (31.5.2000).

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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ventionen und Ausgleichsmaßnahmen nur solche Subventionen untersagt, deren Gewährung von einer de jure-Bevorzugung einheimischer Waren abhängig ist, oder ob diese Vorschrift auch Subventionen untersagt, deren Gewährung von einer rein faktischen Bevorzugung einheimischer Waren abhängig ist.167 Zunächst stellte der Appellate Body fest, daß der Wortlaut von Art. 3.1(b) diesbezüglich wenig aufschlußreich ist.168 Daraufhin begann er mit einer Analyse des Kontextes: „140. Although we agree with the Panel that Article 3.1(a) is relevant context, we believe that other contextual aspects should also be examined. First, we note that Article III:4 of the GATT 1994 also addresses measures that favour the use of domestic over imported goods, albeit with different legal terms and with a different scope. Nevertheless, both Article III:4 of the GATT 1994 and Article 3.1(b) of the SCM Agreement apply to measures that require the use of domestic goods over imports. Article III:4 of the GATT 1994 covers both de jure and de facto inconsistency.145 Thus, it would be most surprising if a similar provision in the SCM Agreement applied only to situations involving de jure inconsistency. Note: 145 See, e. g., panel report, Italian Discrimination against Imported Agricultural Machinery, L/833, BISD 7S/60, adopted 23 October 1958, para. 12.“

Hier gewann der Appellate Body das entscheidende Auslegungsargument aus Art. III.4 GATT 1994, der unbestritten sowohl de jure als auch de facto Diskriminierungen importierter Waren untersagt. III. Zusammenfassung Die vorstehende Untersuchung der bisherigen Spruchpraxis des Appellate Body zeigt, daß das Gremium systematische Auslegungsargumente sowohl aus dem syntaktischen Kontext des auszulegenden Wortes oder Begriffes als auch aus dem Sinnzusammenhang der auszulegenden Vorschrift bezieht. Der Sinnzusammenhang beschränkt sich dabei nicht nur auf Vorschriften des WTO-Übereinkommens, in den sich die auszulegende Vorschrift befindet, sondern erstreckt sich auch auf Vorschriften in anderen Abkommen des WTO-Systems.

167 Allgemein gesprochen liegt eine de jure-Bevorzugung beziehungsweise eine de jure-Diskriminierung vor, wenn das Gesetz eine ausdrückliche Bevorzugung inländischer Waren vorschreibt. Eine de facto-Bevorzugung liegt vor, wenn die staatliche Maßnahme zwar nicht ausdrücklich zwischen inländischen und importierten Gütern unterscheidet, aber die importierten Waren dennoch in übermäßiger Weise belastet; vgl. Hudec, Int’l.Law. 32 (1998), S. 619 (621 ff.). 168 WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R, para. 139.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

B. Die Argumentationsweise des Appellate Body im Rahmen der systematischen Auslegung Das Bemühen der systematischen Interpretation besteht darin zu ermitteln, welche Aussagen aus dem Umfeld einer Vorschrift oder eines Wortes für dessen Auslegung abgeleitet werden können. Mit dieser Beschreibung der systematischen Auslegung rückt die Frage in den Mittelpunkt, auf welche Weise der Appellate Body Auslegungsargumente aus dem Kontext der auszulegenden Vorschrift ableitet. Die bislang dargestellten Fälle deuten bereits die Variationsbreite der Argumentationsweise des Appellate Body im Rahmen der systematischen Auslegung an. Dabei zeigt sich, daß die Ausführungen des Gremiums einer Kategorisierung nur ansatzweise zugänglich sind. Allenfalls lassen sich Fälle, in denen der Appellate Body gewissen im weitesten Sinne vorgefertigten Argumentationsmustern folgt, von Fällen unterscheiden, in denen er frei argumentiert und dabei nur an die Forderung der Plausibilität seiner Argumentation gebunden ist. I. Argumentation mit Hilfe etablierter Argumentationsmuster 1. Verwendung von Auslegungsvermutungen In einigen Fällen bringt der Appellate Body die Vermutung zur Anwendung, daß ein Begriff, der innerhalb eines völkerrechtlichen Vertrages mehrfach verwendet wird, durchweg dieselbe Bedeutung hat. Das wohl augenfälligste Beispiel für die Anwendung der Vermutung der identischen Bedeutung identischer Wortlaute bieten die Ausführungen des Appellate Body im Zusammenhang mit der Auslegung des Begriffes subject matter in der bereits dargestellten Passage im Fall Canada – Term of Patent Protection.169 Zur Klärung der Bedeutung des Begriffes subject matter in Art. 70.2 TRIPS zog das Gremium unter anderem, wie gesehen, Art. 27, 28, 31 und 34 TRIPS heran, in denen der Begriff subject matter ebenfalls vorkommt. Nachdem der Appellate Body geklärt hatte, daß subject matter in Art. 27, 28, 31 und 34 TRIPS patentierte oder patentierbare Erfindungen bedeutet, übertrug er diese Bedeutung auf Art. 70.2 TRIPS Dabei ging der Appellate Body offensichtlich davon aus, daß der Begriff subject matter innerhalb des TRIPS stets dieselbe Bedeutung hat. Auch im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products170 wendete der Appellate Body die besagte Vermutung 169 170

WT/DS170/AB/R; soeben oben im Text A. II. 2. WT/DS98/AB/R.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

229

an. Dort mußte der Appellate Body die Bedeutung des Begriffes all pertinent information171 in Art. 12.2 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen klären. Diese Vorschrift bestimmt, daß ein Mitglied, das die Verhängung von Schutzmaßnahmen erwägt, verpflichtet ist, dem bei der WTO gebildeten Ausschuß für Schutzmaßnahmen172 all pertinent information zu übermitteln. Zu diesen Informationen zählt die Vorschrift auch Beweise für einen ernsthaften Schaden (evidence of serious injury) einer einheimischen Industrie. Zur Bedeutung des Begriffs evidence of serious injury führte der Appellate Body aus: „108. We do not agree with the Panel that ‚evidence of serious injury‘ in Article 12.2 is determined by what the notifying Member considers to be sufficient information. What constitutes ‚evidence of serious injury‘ is spelled out in Article 4.2(a) of the Agreement on Safeguards which provides: . . . the competent authorities shall evaluate all relevant factors of an objective and quantifiable nature having a bearing on the situation of that industry, in particular, the rate and amount of the increase in imports of the product concerned in absolute and relative terms, the share of the domestic market taken by increased imports, changes in the level of sales, production, productivity, capacity utilization, profits and losses, and employment. We believe that ‚evidence of serious injury‘ in the sense of Article 12.2 should refer, at a minimum, to the injury factors required to be evaluated under Article 4.2(a). In other words, according to the text and the context of Article 12.2, a Member must, at a minimum, address in its notifications, pursuant to paragraphs 1(b) and 1(c) of Article 12, all the items specified in Article 12.2 as constituting ‚all pertinent information‘, as well as the factors listed in Article 4.2 that are required to be evaluated in a safeguards investigation. (. . .)“

Hier ging der Appellate Body davon aus, daß der Begriff serious injury in Art. 12.2 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen dieselbe Bedeutung hat wie in Art. 4.2(a) dieses Übereinkommens. Wie sich dem Bericht des Appellate Body im Fall United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Wheat Gluten from the European Communities173 entnehmen läßt, ist die Vermutung der identischen Bedeutung identischer Wörter keineswegs unumstößlich. In diesem Fall mußte der Appellate Body entscheiden, ob alle diejenigen Produkte, die in eine nach Art. 2.1 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen durchgeführte Untersuchung des Bestehens eines ernsthaften Schadens einbezogen wer171

Dt.: alle sachdienlichen Informationen. Vgl. Art. 13 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen. 173 WT/DS166/AB/R (22.12.2000); Gluten, auch Klebereiweiß genannt, macht den Hauptanteil des in Weizen enthaltenen Eiweißes aus. Bei der Stärkeproduktion wird Gluten als Nebenprodukt gewonnen. Gluten dient zur Herstellung eiweißreicher Nähr- und Futtermittel, vgl. Brockhaus Enzyklopädie, Band 8 (FRIT-GOTI), Stichwort Gluten. 172

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

den, auch Gegenstand der nach Art. 2.2 des Übereinkommens verhängten Schutzmaßnahme sein müssen. Die Vereinigten Staaten hatten aus Kanada importiertes Gluten bei der Untersuchung, ob der amerikanischen GlutenIndustrie ein ernsthafter Schaden drohte, zwar berücksichtigt. Anschließend hatten sie jedoch mit der Begründung, daß das kanadische Gluten nicht ursächlich für den Schaden sei, kanadisches Gluten von der Schutzmaßnahme ausgenommen. Der Appellate Body näherte sich der Frage wie folgt an: „95. In considering the appeal of the United States on this point, we turn first to Article 2.1 of the Agreement on Safeguards, which provides that a safeguard measure may only be applied when ‚such increased quantities‘ of a ‚product [are] being imported into its territory . . . under such conditions as to cause or threaten to cause serious injury to the domestic industry‘. As we have said, this provision, (. . .), sets forth the conditions for imposing a safeguard measure. Article 2.2 of the Agreement on Safeguards, which provides that a safeguard measure ‚shall be applied to a product being imported irrespective of its source‘, sets forth the rules on the application of a safeguard measure. 96. The same phrase – ‚product . . . being imported‘ – appears in both these paragraphs of Article 2. In view of the identity of the language in the two provisions, and in the absence of any contrary indication in the context, we believe that it is appropriate to ascribe the same meaning to this phrase in both Articles 2.1 and 2.2. To include imports from all sources in the determination that increased imports are causing serious injury, and then to exclude imports from one source from the application of the measure, would be to give the phrase ‚product being imported‘ a different meaning in Articles 2.1 and 2.2 of the Agreement on Safeguards. In Article 2.1, the phrase would embrace imports from all sources whereas, in Article 2.2, it would exclude imports from certain sources. This would be incongruous and unwarranted. In the usual course, therefore, the imports included in the determinations made under Articles 2.1 (. . .) should correspond to the imports included in the application of the measure, under Article 2.2.“

Hier macht der Appellate Body mit den Worten in absence of any contrary indication in the context zu Beginn von para. 96 deutlich, daß die Vermutung der identischen Bedeutung identischer Worte und Ausdrücke widerlegbar ist. In der Sache gelangte das Gremium auf Grund der Vermutung zu dem Ergebnis, daß Art. 2.1 und Art. 2.2 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen sich auf dieselben Produkte beziehen und daß sich daher die Untersuchung und die verhängte Schutzmaßnahme auf dieselben Waren beziehen müssen. Eine logische Folge der Vermutung, daß identische Worte eine identische Vermutung haben, ist deren Umkehrung. Danach haben unterschiedliche Worte eine unterschiedliche Bedeutung. Dieses Argument brachte der Appellate Body in seinem Bericht im Hormonfall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)174 zur Anwen-

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

231

dung. Dort hatte das mit den Beschwerden der Vereinigten Staaten und Kanadas befaßte Panel175 in seinem Bericht den in Art. 3.1 des Übereinkommens über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS) verwendeten Ausdruck based on176 und den in Art. 3.2 SPS verwendeten Ausdruck to conform to177 nach Ansicht des Appellate Body so ausgelegt, daß beide Ausdrücke dieselbe Bedeutung hatten.178 Dabei hatte das Panel based on als to conform to ausgelegt und damit dem die Vertragsparteien weniger verpflichtenden Wort eine strengere Bedeutung beigemessen. Der Appellate Body verwarf diese Auffassung des Panels zunächst unter Hinweis auf die unterschiedliche Wortlautbedeutung der beiden Ausdrücke.179 Im Anschluß daran führte er aus: „164. (. . .) Article 3.1 requires the Members to ‚base‘ their SPS measures on international standards; however, Article 3.2 speaks of measures which ‚conform to‘ international standards. Article 3.3 once again refers to measures ‚based on‘ international standards. The implication arises that the choice and use of different words in different places in the SPS Agreement are deliberate, and that the different words are designed to convey different meanings. A treaty interpreter is not entitled to assume that such usage was merely inadvertent on the part of the Members who negotiated and wrote that Agreement.118 Canada has suggested the use of different terms was ‚accidental‘ in this case, but has offered no convincing argument to support its suggestion. We do not believe this suggestion has overturned the inference of deliberate choice. Note: 118 Appellate Body Report, United States – Underwear, adopted 25 February 1997, WT/DS24/AB/R, p. 17.“

Der Appellate Body stellte hier Art. 3.1 SPS, Art. 3.2 SPS und Art. 3.3 SPS einander gegenüber. Aus der Verwendung je unterschiedlicher Worte schloß er auf die unterschiedliche Bedeutung dieser Worte. Dabei bedient er sich der Vermutung, daß unterschiedliche Worte auch eine jeweils unterschiedliche Bedeutung haben. Diese Vermutung gründet sich nach Ansicht des Gremiums wiederum auf die Vermutung, daß die in den WTO-Abkommen verwendeten Worte von den an den Verhandlungen beteiligten Vertragsparteien bewußt (deliberate) gewählt worden sind. 174

WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R (16.01.1998). WT/DS/26/R; WT/DS48/R (18.8.1997). 176 Dt.: gestützt auf. 177 Dt.: übereinstimmen mit; entsprechen. 178 „162. We read the Panel’s interpretation that Article 3.2 ‚equates‘ measures ‚based on‘ international standards with measures which ‚conform to‘ such standards, as signifying that ‚based on‘ and ‚conform to‘ are identical in meaning. The Panel is thus saying that, henceforth, SPS measures of Members must ‚conform to‘ Codex standards, guidelines and recommendations.“ 179 WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R, para. 163. 175

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Die aufgeführten Beispiele bestätigen, daß der Appellate Body – entsprechend der Regel des allgemeinen Völkerrechts – davon ausgeht, daß eine Vermutung dafür besteht, daß ein innerhalb desselben WTO-Übereinkommens mehrfach vorkommendes Wort oder Begriff stets dieselbe Bedeutung hat. Dieser Vermutung der Bedeutungsidentität wortlautidentischer Vorschriften hat der Appellate Body eine weitere Auslegungsvermutung zur Seite gestellt. So ist nach Ansicht des Gremiums davon auszugehen, daß innerhalb des Systems der WTO-Übereinkommen Vorschriften, deren Wortlaut zwar nicht identisch, die aber regelungsverwandt sind, identisch auszulegen sind. Eine besondere Rolle hat diese Vermutung bislang bei der Auslegung von Vorschriften gespielt, die die Diskriminierung ausländischer Waren oder Dienstleistungen verbieten. Zum ersten Mal bediente sich der Appellate Body dieser Vermutung im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas.180 Nachdem der Appellate Body die Anwendbarkeit des GATS auf den Fall im Grundsatz bejaht hatte,181 stellte sich die Frage, ob die in Art. II.1 GATS enthaltene Meistbegünstigungsklausel nur die de jure-Diskriminierung zwischen Dienstleistungen unterschiedlicher Herkunft untersagt oder auch eine rein faktische, von der gesetzlichen Regelung nicht vorgesehene Diskriminierung. Der Appellate Body zog zur Auslegung von Art. II.1 GATS die im Wortlaut anders gefaßte Meistbegünstigungsklausel des GATT 1994,182 also Art. I.1 GATT 1994, heran.183 Art. I.1 GATT 1994 untersagt nach vorherrschender Auffassung nicht nur de jure-Diskriminierungen, sondern auch de facto-Diskriminierungen. Diese Auffassung übertrug der Appellate Body auf Art. II.1 GATS und gelangte auf diese Weise zu dem Ergebnis, daß auch Art. II.1 GATS de facto-Diskriminierungen zwischen Dienstleistungen verschiedener Herkunft untersagt. Die Übertragung des Verständnisses von Art. I.1 GATT 1994 als eine umfassende Meistbegünstigungsklausel auf Art. II.1 GATS begründete der Appellate Body mit den verwandten Regelungsbereichen der beiden 180

WT/DS27/AB/R. Vgl. dazu die Ausführungen oben im Text 1. Kap. C. I. 182 Art. II.1 GATS: With respect to any measure covered by this Agreement, each Member shall accord immediately and unconditionally to services and service suppliers of any other Member treatment no less favourable than it accords to like services and service suppliers of ony other country. Art. I.1 GATT 1994: (. . .) any advantage, favour, privilege or immunity granted by any contracting party to any product originating in or destined for any other country shall be accorded immediately and unconditionally to the like product originating in or destined for the territoires of all other contracting parties. 183 WT/DS27/AB/R, para. 232. 181

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

233

Meistbegünstigungsverpflichtungen des GATS und des GATT 1994. Dabei ging der Appellate Body offensichtlich davon aus, daß die Meistbegünstigungsklauseln innerhalb des WTO-Systems einheitlich auszulegen sind.184 Auch in dem bereits näher dargestellten Abschnitt im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry185 bediente sich der Appellate Body der Vermutung, daß regelungsverwandte Vorschriften innerhalb des WTO-Systems eine identische Bedeutung haben. Bei der Auslegung von Art. 3.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen nahm der Appellate Body Art. III.4 GATT 1994 zu Hilfe. Entscheidend dafür war, that Article III:4 of the GATT 1994 also addresses measures that favour the use of domestic over imported goods; unerheblich war hingegen, daß sich die beiden Vorschriften im Wortlaut deutlich unterscheiden und daß sie einen unterschiedlichen Anwendungsbereich haben. Da Art. III.4 GATT 1994 de jure-Diskriminierungen verbietet, ging der Appellate Body davon aus, daß dies für den regelungsverwandten Art. 3.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen ebenfalls gilt.186 Die Vermutung, daß regelungsverwandte Vorschriften innerhalb des WTO-Systems eine identische Bedeutung haben, ist eine WTO-spezifische Variante der allgemeinen völkerrechtlichen Vermutung, wonach innerhalb eines völkerrechtlichen Vertrages mehrfach vorkommende Worte stets dieselbe Bedeutung haben. 2. Verwendung von Regeln der Logik (Umkehrschluß) In einigen Fällen entwickelt der Appellate Body Auslegungsargumente indem er Regeln der Logik, insbesondere den Umkehrschluß (argumentum e contrario),187 zur Anwendung bringt. In der bereits bei der Darstellung des norminternen Kontextes zitierten Passage188 aus dem Bericht im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft189 stellte der Appellate Body dem auszulegenden Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen den unmittelbar benachbarten Art. 1.1(a) gegenüber. Art. 1.1(a) 184 Vgl. zu dieser Passage im Bericht des Appellate Body die ausführlichen Erläuterungen unten im Text C. I. 185 WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R; vgl. dazu oben im Text A. II. 3. 186 Vgl. dazu auch die Ausführungen unten im Text unter 2. 187 Dazu aus rechtstheoretischer und rechtslogischer Sicht: Larenz, S. 390 f.; Rüthers, Rdnr. 899 f.; Schneider, S. 141 ff. 188 Vgl. oben im Text A. II. 1. 189 WT/DS70/AB/R.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

enthält das Tatbestandsmerkmal a financial contribution by a government.190 Aus dem Fehlen dieses Tatbestandsmerkmals in Art. 1.1(b) zog der Appellate Body im Wege des Umkehrschlusses die Schlußfolgerung, daß der Regierung entstehende Kosten keine Voraussetzung für das Vorliegen eines benefit im Sinne von Art. 1.1(b) sein können. Auch in der ebenfalls bereits dargestellten Berichtspassage191 im Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear192 gelangte der Appellate Body unter Zuhilfenahme eines Umkehrschlusses zu der Erkenntnis, daß Art. 6.10 des Abkommens über Textilwaren und Bekleidung kein rückwirkendes Inkraftsetzen von Gegenmaßnahmen gestattet. Die Tatsache, daß einerseits parallele Vorschriften in anderen WTO-Übereinkommen eine rückwirkende Anwendung handelsbeschränkender Gegenmaßnahmen ausdrücklich gestatten, daß andererseits aber Art. 6.10 des Abkommens über Textilwaren und Bekleidung eine solche Regelung nicht enthält, veranlaßte den Appellate Body zu der Schlußfolgerung, daß Art. 6.10 eine rückwirkende Anwendung von Handelsbeschränkungen nicht gestattet. Auch hier war es letztlich ein Umkehrschluß, der den Appellate Body sein Ergebnis finden ließ. Die Berichte im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas193 und im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry194 lassen indes erkennen, daß der Appellate Body dem Umkehrschluß tendenziell geringere Überzeugungskraft beimißt als der Vermutung der identischen Bedeutung regelungsverwandter Vorschriften. Im Rahmen der Diskussion der Frage, ob Art. II.1 GATS nur de jure-Diskriminierungen zwischen Dienstleistungen unterschiedlicher Herkunft oder aber auch de facto-Diskriminierungen untersagt, stellte der Appellate Body auch Überlegungen zu einem möglichen Umkehrschluß an. Art. XVII.1 GATS, der die Verpflichtung zur Inländerbehandlung ausländischer Dienstleistungen enthält, untersagt sowohl die rechtliche als auch die tatsächliche Schlechterstellung ausländischer Dienstleistungen im Verhältnis zu inländischen Dienstleistungen. Dies kommt bereits im Wortlaut der Vorschrift195 – in respect of all measures affecting the supply of services196 – 190

Dt.: eine finanzielle Beihilfe einer Regierung. Vgl. soeben im Text A. II. 3. 192 WT/DS24/AB/R. 193 WT/DS27/AB/R; dazu bereits soeben oben I. 1. 194 WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R; vgl. dazu oben im Text A. II. 3. 195 Art. XVII.1 GATS: In the sectors inscribed in its Schedule, and subject to any conditions and qualifications set out therein, each Member shall accord to services and service suppliers of any other Member, in respect of all measures affecting the 191

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

235

zum Ausdruck. Art. II.1 GATS, die Meistbegünstigungsklausel des GATS, enthält diesen Zusatz, der für Art. XVII.1 GATS die Einbeziehung auch faktischer Diskriminierungen klarstellt, nicht.197 Dieser Unterschied hätte dem Appellate Body Gelegenheit geboten, aus dem Fehlen des Zusatzes im Wege des Umkehrschlusses die Folgerung zu ziehen, daß Art. II.1 GATS nur de jure-Diskriminierungen erfaßt. Diesbezüglich erklärte der Appellate Body: „233. (. . .) The question here is the meaning of ‚treatment no less favourable‘ with respect to the MFN obligation in Article II of the GATS. There is more than one way of writing a de facto non-discrimination provision. Article XVII of the GATS is merely one of many provisions in the WTO Agreement that require the obligation of providing ‚treatment no less favourable‘. The possibility that the two Articles may not have exactly the same meaning does not imply that the intention of the drafters of the GATS was that a de jure, or formal, standard should apply in Article II of the GATS. If that were the intention, why does Article II not say as much? The obligation imposed by Article II is unqualified. The ordinary meaning of this provision does not exclude de facto discrimination. (. . .)“

Der Appellate Body stellte sich hier jedoch auf den Standpunkt, nachdem er zuvor bereits die Vermutung der gleichen Bedeutung regelungsverwandter Vorschriften angewandt hatte,198 daß die an der Aushandlung von Art. II.1 GATS Beteiligten die Nichteinbeziehung tatsächlicher Diskriminierungen in den Regelungsbereich der Vorschrift hätten ausdrücklich regeln müssen. Gerade dieses Argument kann einem Umkehrschluß jedoch häufig, wenn nicht gar immer, entgegengehalten werden. Die Funktion des Umkehrschlusses besteht ja gerade darin, dem Schweigen eines Vertragstextes eine Bedeutung beizumessen, wenn an vergleichbarer Stelle199 eine ausdrückliche Regelung erfolgt ist. Die Prämisse, der Autor einer Norm könne Sachverhalte nicht durch Schweigen, sondern nur durch ausdrückliche Regelung dem Regelungsbereich einer Norm entziehen, würde den Umkehrsupply of services, treatment no less favourable than that it accords to its own like services and service suppliers (Hervorhebung vom Verfasser). 196 Dt.: hinsichtlich aller Maßnahmen, welche die Erbringung von Dienstleistung beeinträchtigen. (Hervorhebung in Text und Fußnote vom Verfasser). 197 Art. II.1 GATS: With respect to any measure covered by this Agreement, each Member shall accord immediately and unconditionally to services and service suppliers of any other Member treatment no less favourable than it accords to like services and service suppliers of ony other country. 198 Dazu soeben im Text oben unter I. 1. 199 Der Appellate Body hatte in paras. 230–231 allerdings bereits dargelegt, daß er die Verpflichtung zur Inländerbehandlung und die Verpflichtung zur Meistbegünstigung nicht als vergleichbare Vorschriften erachtet. (Dazu sogleich im unten im Text unter C. I.). Diesen Aspekt blendete er allerdings offensichtlich in para. 233 vorübergehend aus.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

schluß, der die Existenz beredten Schweigens voraussetzt,200 grundsätzlich für unzulässig erklären. Daß auch der Appellate Body diese Prämisse seiner Argumentation nicht zugrunde legt, zeigt sich daran, daß er, wie gesehen, den Umkehrschluß selbst anwendet. Dies läßt wiederum nur die Schlußfolgerung zu, daß der konkreten Entscheidung – wenngleich unausgesprochen – die Auffassung zugrunde liegt, daß die Vermutung der identischen Bedeutung regelungsverwandter Vorschriften im Verhältnis zum Umkehrschluß das überzeugungskräftigere Argument ist. Die Ausführungen des Appellate Body im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry201 bestätigen diesen Befund. Wie gezeigt, kam er im Rahmen der Auslegung von Art. 3.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen unter Anwendung der Vermutung der gleichen Bedeutung regelungsverwandter Vorschriften zu dem Ergebnis, daß diese Vorschrift, nicht nur Subventionen untersagt, die rechtlich davon abhängig sind, daß einheimische Waren bevorzugt werden, sondern auch solche Subventionen, die tatsächlich von einer Bevorzugung inländischer Waren abhängig gemacht werden.202 In noch viel stärkerem Maße als im Bananenstreit hätte es sich für den Appellate Body in diesem Fall angeboten, die Erstreckung des Verbotes auf Subventionen, die von einer tatsächlichen Bevorzugung inländischer Waren abhängig sind, abzulehnen und dies mit einem Umkehrschluß zu begründen. Art. 3.1(a) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen untersagt Subventionen, die von der Ausfuhrleistung inländischer Waren entweder rechtlich oder tatsächlich abhängig sind. Diese Vorschrift enthält den ausdrücklichen Zusatz contingent in law or in fact.203 Dieser Zusatz fehlt in Art. 3.1(b) des Übereinkommens. Wie im Bananenstreit lehnte der Appellate Body es jedoch ab, sich eines Umkehrschlusses zu bedienen: „141. Second, we recall our findings in European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas (‚European Communities – Bananas‘) on whether or not Article II of the GATS covers cases of de facto discrimination. In that case, the Panel found that Article XVII of the GATS provides relevant context for determining whether Article II of the GATS applies to both de jure and de facto discrimination. On this issue, we said: Article XVII of the GATS is merely one of many provisions in the WTO Agreement that require the obligation of providing ‚treatment no less favourable‘. The possibility that the two Articles may not have exactly the same meaning does not imply that the intention of the drafters of the GATS was 200

So ausdrücklich Rüthers, Rdnr. 899. WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R; vgl. dazu oben im Text A. II. 3. und B. I. 1. am Ende. 202 Vgl. dazu soeben im Text B. I. 1. am Ende. 203 Dt.: gesetzlich oder tatsächlich abhängig. 201

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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that a de jure, or formal, standard should apply in Article II of the GATS. If that were the intention, why does Article II not say as much? The obligation imposed by Article II is unqualified. The ordinary meaning of this provision does not exclude de facto discrimination. We believe the same reasoning is applicable here. The fact that Article 3.1(a) refers to ‚in law or in fact‘, while those words are absent from Article 3.1(b), does not necessarily mean that Article 3.1(b) extends only to de jure contingency.“

Ebenso wie im Bananenstreit hatte der Appellate Body auch unmittelbar vor diesen Ausführungen die Vermutung der identischen Bedeutung regelungsverwandter Vorschriften angewendet. 3. Zuhilfenahme von Regeln der Grammatik Eine Variante der Anwendung von Regeln der Logik bei der Ableitung von Auslegungsargumenten liegt in der Zuhilfenahme von Regeln der Grammatik. Dabei untersucht der Appellate Body die grammatische Struktur des Satzes, in dem sich der auszulegende Begriff befindet. Die Regeln der Grammatik helfen dem Appellate Body anschließend dabei, ein Auslegungsargument zu ermitteln. Naturgemäß spielt dieses Vorgehen nur bei der Untersuchung des syntaktischen Zusammenhangs eine gewisse Rolle. Ein Beispiel dieses Vorgehens findet sich in der bereits dargestellten Passage des Berichtes im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft.204 Wie gesehen, befand der Appellate Body dort, daß das Wort benefit in Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen nicht verlangt, daß der Regierung, die eine Subvention gewährt, Kosten entstehen. Zu dieser Erkenntnis gelangte der Appellate Body aufgrund der Analyse der grammatischen Struktur der auszulegenden Vorschrift. Dabei bediente er sich der Regel, daß das Passiv stärker auf das Geschehen, im Fall also auf das Gewähren eines Vorteils, als auf den Handelnden abstellt. II. Das Anstellen „vernünftiger Überlegungen“ Wie soeben gesehen, spielen Regeln der Logik und die Verwendung der „Vermutung der identischen Bedeutung“ bei der Entwicklung von systematischen Auslegungsargumenten in der Spruchpraxis des Appellate Body eine gewisse Rolle. Daneben gibt es aber eine Vielzahl von Fällen, in denen der Appellate Body systematische Auslegungsargumente entwickelt, ohne dabei die vorgenannten eher formalen Argumentationsmuster anzuwenden. 204

WT/DS70/AB/R; oben A. I. 1.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Im Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear205 verneinte der Appellate Body die Frage, ob Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren die Vertragsparteien dazu ermächtigt, die nach den Vorschriften des Übereinkommens verhängten Gegenmaßnahmen zurückzudatieren, unter anderem auch mit Hinweis auf Art. 6.11 des Übereinkommens. Die Vereinigten Staaten hatten argumentiert, daß die Möglichkeit, importbeschränkende Maßnahmen rückwirkend zu verhängen, unbedingt erforderlich sei. Anderenfalls bestünde die Gefahr, daß ein Markt während der in Art. 6 des Übereinkommens über Textilwaren vorgeschriebenen Konsultationen mit Textilien überschwemmt würde, weil die Handeltreibenden den Zeitraum bis zum Inkrafttreten der Schutzmaßnahme nützen würden, ihre Produkte auf dem vor der vorübergehenden Abschottung bedrohten Markt abzusetzen. Dadurch verlöre Art. 6.10 des Übereinkommens seine Wirkung.206 Diesem Argument der Vereinigten Staaten begegnete der Appellate Body mit einem Hinweis auf die in Art. 6.11 des Übereinkommens über Textilwaren.207 Diese Vorschrift gestattet dem Mitglied, das die Verhängung von Schutzmaßnahmen beabsichtigt, in besonderen Fällen, eine vorläufige Maßnahme zu verhängen:208 „When and to the extent that a speculative ‚flood of imports‘ turns out, in a particular situation, to be a real and serious problem engaging the legitimate interests of the Member proposing a safeguard measure, we consider that recourse may be had to Article 6.11 of the ATC. Article 6.11 authorizes the importing Member, ‚in highly unusual and critical circumstances, where delay would cause damage which would be difficult to repair‘, to impose and apply immediately, albeit provisionally, the restraint measure authorized under Article 6.10. The request for consultations and the notification to the Textile Monitoring Board must, however, be issued within five working days after the taking of provisional action. In other words, the requirements of Article 6.10 must nevertheless be observed. Action under Article 6.11 of the ATC is not in lieu of, and does not supersede, action taken or begun under Article 6.10, ATC. Provisional action under Article 6.11 is folded into action under Article 6.10. Considering that Article 6.11 permits the provisional imposition of a restraint measure even before consultations, a fortiori it would permit such imposition after consultations have in fact begun, so long as the requisites of both Articles 6.10 and 6.11 are met or continue to be met.“ 205

WT/DS24/AB/R; vgl. dazu oben 1. Kap. C. I. Vgl. die Wiedergabe der Argumente der Vereinigten Staaten im Bericht des Appellate Body auf S. 17 f. (ohne Absatznummer). 207 Art. 6.11 des Abkommen über Textilwaren: Unter äußerst ungewöhnlichen und kritischen Umständen, wenn eine Verzögerung einen schwer wiedergutzumachenden Schaden verursachen würde, kann eine Maßnahme nach Absatz 10 vorläufig getroffen werden, sofern das Konsultationsersuchen und die Mitteilung an das TMB innerhalb von höchstens 5 Arbeitstagen nach der Einführung der Maßnahme erfolgen. 208 WT/DS24/AB/R, S. 18 f. (ohne Absatznummer). 206

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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Der Appellate Body kam hier zu dem Ergebnis, daß Art. 6.11 des Übereinkommens über Textilwaren ein wirksames Gegenmittel gegen eine Flut von Importen bereithält, vorausgesetzt, dieses Anwachsen von Einfuhren führt zu „ungewöhnlichen und kritischen Umständen“. Dabei stellte der Appellate Body im Wege eines argumentum a fortiori klar, daß die Möglichkeit, vorläufige Maßnahmen zu treffen, anders als in Art. 6.11 vorgesehen, auch nach Einleitung der Konsultationen besteht. Aus diesem Grund ist es nicht erforderlich Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren so zu verstehen, daß es den Mitgliedern gestattet ist, Schutzmaßnahmen retroaktiv anzuwenden.209 Im Fall Canada – Term of Patent Protection210 stellte sich, wie bereits dargestellt, die Frage, ob die Verpflichtungen des TRIPS, insbesondere des Art. 33 TRIPS, auch auf Patente anwendbar sind, die 1989 entsprechend der damals geltenden kanadischen Patentgesetzgebung mit einer 17jährigen Schutzdauer eingetragen worden sind. Zur Lösung dieses Problems mußte der Appellate Body darüber entscheiden, ob diese Altpatente beziehungsweise die ihnen zugrundeliegenden Erfindungen unter den Begriff subject matter in Art. 70.2 TRIPS211 fallen. Der Appellate Body führte dazu aus: „65. We agree with the Panel’s reasoning that ‚subject matter‘ in Article 70.2 refers, in the case of patents, to inventions. The ordinary meaning of the term ‚subject matter‘ is a ‚topic dealt with or the subject represented in a debate, exposition, or work of art‘.46 Useful context is provided by the qualification of the term ‚subject matter‘, in the same sentence of Article 70.2, by the word ‚protected‘, as well as by the phrase ‚meet the criteria for protection under the terms of this Agreement‘ appearing later in the same sentence. (. . .) We can deduce, therefore, that the ‚subject matter‘, for purposes of Article 70.2, is that which is ‚protected‘, or ‚meets the criteria for protection‘, under the terms of the TRIPS Agreement. As, in the present case, patents are the means of protection, then whatever patents protect must be the ‚subject matter‘ to which Article 70.2 refers. 209 Zwar handelt es sich auch bei dem argumentum a fortiori um ein formales Argument. Allerdings verwendet der Appellate Body dieses nur mittelbar zur Beantwortung der Auslegungsfrage, wenn er mit Hilfe dieses Argumentes begründet, daß vorläufige Maßnahmen auch nach Einleitung von Konsultationen verhängt werden dürfen. Erst dieser Umstand stellt das eigentliche Auslegungsargument dafür dar, daß eine rückwirkende Verhängung der Schutzmaßnahmen nicht erforderlich und daher nicht zulässig ist. 210 WT/DS170/AB/R; vgl. dazu bereits oben im Text 1. Kap. A. II. sowie soeben A. II. 2. und B. I. 1. 211 Art. 70.2 TRIPS: Except as otherwise provided for in this Agreement, this Agreement gives rise to obligations in respect of all subject matter existing at the date of application of this Agreement for the Member in question, and which is protected in that Member on the said date, or which meets or comes subsequently to meet the criteria for protection under the terms of this Agreement. (. . .). (Hervorhebungen vom Verfasser).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Note: 46 The New Shorter Oxford English Dictionary, Lesley Brown (ed.), (Clarendon Press, 1993), Vol. I, p. 1849.“

Das hier in die systematische Auslegung einbezogene Wort protected und die ebenfalls verwendete Passage meets the criteria for protection befinden sich innerhalb von Art. 70.2 TRIPS in zwei jeweils mit dem Relativpronomen which eingeleiteten Relativsätzen. Diese beiden Relativsätze beziehen sich auf den auszulegenden Begriff subject matter. Die Aufgabe von Relativsätzen besteht darin, den Satzteil, auf den sie sich beziehen, näher zu beschreiben.212 Diese Funktion legte der Appellate Body auch den beiden in Art. 70.2 TRIPS vorkommenden Relativsätzen, die sich auf den im Fall auszulegenden Begriff subject matter beziehen, zugrunde. Aus der Verwendung der Worte protected und protection zur näheren Beschreibung des Begriffes subject matter folgerte das Gremium, daß unter subject matter etwas Geschütztes zu verstehen ist. Da auch Patente etwas Geschütztes sind, faßte der Appellate Body diese ebenfalls unter den Begriff subject matter. Das Vorgehen in Canada – Term of Patent Protection unterscheidet sich vom Vorgehen in Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft insofern, als der Appellate Body in Canada – Aircraft das Auslegungsargument unmittelbar aus der Verwendung des Wortes conferred im Passiv gewann, während er das Auslegungsargument in Canada – Patent aus den Wörtern protected und protection deduzierte. Die Stellung dieser Worte in den Relativsätzen bildete nur den Grund dafür, diese Worte bei der Auslegung zu verwenden, gab jedoch nicht das daraus abzuleitende Auslegungsargument vor. Anders war es im Fall Canada – Aircraft. Dort bildete die syntaktische Funktion der Worte is . . . conferred als zu dem auszulegenden Subjekt des Satzes benefit gehörendes Prädikat den Grund für dessen Verwendung bei der Auslegung. Die Verwendung des Wortes im Passiv und die allgemeinen Regeln der Grammatik über die Verwendung des Passivs bestimmten aber auch das Auslegungsargument selbst. Auch im Fall Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products213 leitete der Appellate Body ein Auslegungsargument aus dem syntaktischen Zusammenhang des auszulegenden Wortes payments her. Das Gremium mußte die Frage klären, ob der in Art. 9.1(c) des Abkommens über die Landwirtschaft verwendete Begriff payments214 auch unentgeltliche Leistungen erfaßt. Im Rahmen der Wort212 Vgl. zu den einzelnen Funktionen von Relativsätzen, Sitta, in: Dudenreaktion, Rdnr. 1321; Köhler/Linse/Bezold, S. 100 f. 213 WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R. 214 Dt.: Zahlungen.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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lautauslegung kam der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß von auch dann payment gesprochen werden kann, wenn eine Wertübertragung stattfindet, bei der der Wert nicht in Form von Geld, sondern in anderer Form, etwa als Dienstleistung, erbracht wird.215 An die Wortlautanalyse schloß das Gremium eine Untersuchung des syntaktischen Zusammenhangs an, in deren Verlauf es ausführte: „108. (. . .) Under Article 9.1(c), ‚payments‘ are ‚financed by virtue of governmental action‘ and they may or may not involve ‚a charge on the public account‘. Neither the word ‚financed‘ nor the term ‚a charge‘ suggests that the word ‚payments‘ should be interpreted to apply solely to money payments. A payment made in the form of goods or services is also ‚financed‘ in the same way as a money payment, and, likewise, ‚a charge on the public account‘ may arise as a result of a payment, or a legally binding commitment to make payment by way of goods or services, or as a result of revenue foregone.“

Hier entnahm der Appellate Body den ebenfalls in einem das auszulegende Wort näher beschreibenden Relativsatz enthaltenen Worten financed by virtue of governmental action216 und a charge on the public account217 das Auslegungsargument.218 Der Appellate Body argumentierte, daß weder das Wort financed noch das Wort charge ausschließlich im Zusammenhang mit der Übertragung von Geld verwendet werden. Auch die Übertragung von Dienstleistungen bedürfe der Finanzierung. Ebenso könne eine Belastung für den Staatshaushalt auch durch die Verpflichtung zur Übertragung (das heißt Ableistung) von Dienstleistungen oder die Verpflichtung zur 215 WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R.: „107. (. . .) The question which we now address is whether, under Article 9.1(c), the economic resources that are transferred by way of a ‚payment‘ must be in the form of money, or whether the resources transferred may take other forms. As the Panel observed, the dictionary meaning of the word ‚payment‘ is not limited to payments made in monetary form. In support of this, the Panel cited the Oxford English Dictionary, which defines ‚payment‘ as ‚the remuneration of a person with money or its equivalent‘. (emphasis added) Similarly, the Shorter Oxford English Dictionary describes a ‚payment‘ as a ‚sum of money (or other thing) paid‘. (emphasis added) Thus, according to these meanings, a ‚payment‘ could be made in a form, other than money, that confers value, such as by way of goods or services. A ‚payment‘ which does not take the form of money is commonly referred to as a ‚payment in kind‘.“ (Hervorhebungen im Original; Fußnoten ausgelassen). 216 Dt.: aufgrund von staatlichen Maßnahmen finanziert. 217 Dt.: Belastung des Staatshaushalts. 218 Art. 9.1(c) des Übereinkommens über die Landwirtschaft: The following export subsidies are subject to reduction commitments under this agreement: payments on the export of an agricultural product that are financed by virtue of governmental action, whether or not a charge on the public account is involved, (. . .); (Hervorhebungen vom Verfasser). Auch hier befinden sich die als syntaktischer Zusammenhang berücksichtigten Worte in einem das auszulegende Wort näher beschreibenden Relativsatz.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Übertragung von Waren (also Naturalleistungen) oder auch durch den Verzicht auf Staatseinnahmen entstehen. Aus der Tatsache, daß die das auszulegende Wort näher beschreibenden Begriffe nicht ausschließlich im Zusammenhang mit der Übertragung von Geld verwendet werden, schloß der Appellate Body, daß das auszulegende Wort payments ebenfalls nicht auf die Übertragung von Geld beschränkt ist. Sehr umfangreiche Überlegungen stellte der Appellate Body in seinem Bericht im Fall United States – Anti-Dumping Measures on Certain Hotrolled Steel Products from Japan219 zur Auslegung von Art. 6.1.1 des Antidumpingübereinkommens an. Im Rahmen einer Antidumpinguntersuchung sind die Behörden des die Untersuchung durchführenden Staates verpflichtet, die vermeintlich Dumping betreibenden ausländischen Unternehmen (sogenannte „interessiere Parteien“) anzuhören. Diese Anhörung erfolgt in Form von Fragebögen. Im Fall stellte sich nunmehr die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Vertragspartei berechtigt ist, Fragebögen, die verspätet zurückgeschickt werden, zurückzuweisen und die darin enthaltenen Angaben bei der Untersuchung nicht zu berücksichtigen, sondern sich stattdessen auf anderweitig erlangte Informationen zu stützen. Dabei stand der Appellate Body vor der Situation, daß weder Art. 6.1.1 noch Art. 6.8 des Antidumpingübereinkommens die Frage ausdrücklich regeln. Diese Tatsache führte dazu, daß der Appellate Body bei seinen Überlegungen weit ausholen mußte: „72. We begin with Article 6.1.1, which provides: Exporters or foreign producers receiving questionnaires used in an anti-dumping investigation shall be given at least 30 days for reply. Due consideration should be given to any request for an extension of the 30-day period and, upon cause shown, such an extension should be granted whenever practicable. 73. We observe that Article 6.1.1 does not explicitly use the word ‚deadlines‘. However, the first sentence of Article 6.1.1 clearly contemplates that investigating authorities may impose appropriate time-limits on interested parties for responses to questionnaires. That first sentence also prescribes an absolute minimum of 30 days for the initial response to a questionnaire. Article 6.1.1, therefore, recognizes that it is fully consistent with the Anti-Dumping Agreement for investigating authorities to impose time-limits for the submission of questionnaire responses. Investigating authorities must be able to control the conduct of their investigation and to carry out the multiple steps in an investigation required to reach a final determination. Indeed, in the absence of time-limits, authorities would effectively cede control of investigations to the interested parties, and could find themselves unable to complete their investigations within the time-limits mandated under the Anti-Dumping Agreement. We note, in that respect, that Article 5.10 of the Anti-Dumping Agreement stipulates that anti-dumping investi219

WT/DS184/AB/R (24.7.2001).

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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gations shall normally be completed within one year, and in any event in no longer than 18 months, after initiation. Furthermore, Article 6.14 provides generally that the procedures set out in Article 6 ‚are not intended to prevent the authorities of a Member from proceeding expeditiously‘. (emphasis added) We, therefore, agree with the Panel that ‚in the interest of orderly administration investigating authorities do, and indeed must establish such deadlines.‘ “

In einem ersten Schritt stellte der Appellate Body fest, daß die Mitglieder das Recht besitzen, Fristen zu bestimmen, innerhalb derer die „interessierten Parteien“ verpflichtet sind, die Fragebögen zu beantworten. Die Existenz dieses Rechts ermittelte der Appellate Body einerseits aus Art. 6.1.1 des Antidumpingübereinkommens selbst, daneben aber auch aus Art. 5.10 sowie 6.14 des Übereinkommens. Darüber hinaus betonte der Appellate Body aber auch, daß die Behörden der Mitglieder und nicht die „interessierten Parteien“ das Antidumpingverfahren beherrschen und daß das Recht zur Bestimmung von Fristen ein Ausfluß der Verfahrensherrschaft ist. „74. While the United States stresses the significance of the first sentence of Article 6.1.1, we believe that importance must also be attached to the second sentence of that provision. According to the express wording of the second sentence of Article 6.1.1, investigating authorities must extend the time-limit for responses to questionnaires ‚upon cause shown‘, where granting such an extension is ‚practicable‘. (emphasis added) This second sentence, therefore, indicates that the time-limits imposed by investigating authorities for responses to questionnaires are not necessarily absolute and immutable. 75. In sum, Article 6.1.1 establishes that investigating authorities may impose time-limits for questionnaire responses, and that in appropriate circumstances these time-limits must be extended. However, Article 6.1.1 does not, on its own, resolve the issue of when investigating authorities are entitled to reject information submitted, and instead resort to facts available, (. . .) We consider that this issue is to be resolved by reading Article 6.1.1 together with Article 6.8 of the Anti-Dumping Agreement, and Annex II of that Agreement, which is incorporated by reference into Article 6.8.“

Dem aus der Auslegung des ersten Satzes von Art. 6.1.1 des Antidumpingübereinkommens gewonnenen Ergebnis stellte der Appellate Body den zweiten Satz von Art. 6.1.1 des Übereinkommens gegenüber. Während der erste Satz die Verfahrensherrschaft der Untersuchungsbehörden und die daraus fließenden Rechte betont, sichert der zweite Satz die Rechte der Exporteure und ausländischen Hersteller, indem er die Untersuchungsbehörden verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen eine Fristverlängerung zu gewähren. Allerdings bestimmt Art. 6.1.1 des Antidumpingübereinkommens nicht, unter welchen Voraussetzungen, die Untersuchungsbehörden verspätet eingehende Fragebögen zurückweisen dürfen. Zur Beantwortung dieser Frage bedarf es nach Ansicht des Appellate Body des Rückriffs auf Art. 6.8 des Antidumpingübereinkommens:

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

„76. Article 6.8 of the Anti-Dumping Agreement provides: In cases in which any interested party refuses access to, or otherwise does not provide, necessary information within a reasonable period or significantly impedes the investigation, preliminary and final determinations, affirmative or negative, may be made on the basis of the facts available. The provisions of Annex II shall be observed in the application of this paragraph. 77. Article 6.8 identifies the circumstances in which investigating authorities may overcome a lack of information, in the responses of the interested parties, by using ‚facts‘ which are otherwise ‚available‘ to the investigating authorities. According to Article 6.8, where the interested parties do not ‚significantly impede‘ the investigation, recourse may be had to facts available only if an interested party fails to submit necessary information ‚within a reasonable period‘. Thus, if information is, in fact, supplied ‚within a reasonable period‘, the investigating authorities cannot use facts available, but must use the information submitted by the interested party. 78. Article 6.8 requires that the provisions of Annex II of the Anti-Dumping Agreement be observed in the use of facts available. Paragraph 1 of Annex II provides, in relevant part, that: The authorities should also ensure that the party is aware that if information is not supplied within a reasonable time, the authorities will be free to make determinations on the basis of the facts available . . . (emphasis added) 79. Although this paragraph is specifically concerned with ensuring that respondents receive proper notice of the rights of the investigating authorities to use facts available, it underscores that resort may be had to facts available only ‚if information is not supplied within a reasonable time‘. Like Article 6.8, paragraph 1 of Annex II indicates that determinations may not be based on facts available when information is supplied within a ‚reasonable time‘ but should, instead, be based on the information submitted.“

Die Analyse von Art. 6.8 des Antidumpingübereinkommens führte zu dem Ergebnis, daß die Behörden sich nicht auf selbst ermittelte oder allgemein zugängliche Tatsachen stützen dürfen, wenn die „interessierten Parteien“ innerhalb einer angemessenen Frist die entsprechenden Informationen zur Verfügung gestellt haben. Dieses Ergebnis wird von § 1 von Anhang II zum Antidumpingübereinkommen, auf den Art. 6.8 ausdrücklich verweist, bestätigt. Auch in dieser Vorschrift kommt wiederum zum Ausdruck, daß die Untersuchungsbehörden selbst ermittelte Tatsachen nur dann verwenden dürfen, wenn die „interessierten Parteien“ die entsprechenden Informationen nicht innerhalb einer angemessenen Frist zur Verfügung stellen. „80. Neither Article 6.8 nor paragraph 1 of Annex II expressly addresses the question of when the investigating authorities are entitled to reject information submitted by interested parties, as USDOC did in this case. In our view, paragraph 3 of Annex II of the Anti-Dumping Agreement bears on this issue. Paragraph 3 of Annex II states, in relevant part:

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

245

All information which is verifiable, which is appropriately submitted so that it can be used in the investigation without undue difficulties, which is supplied in a timely fashion, and, where applicable, which is supplied in a medium or computer language requested by the authorities, should be taken into account when determinations are made. (emphasis added) 81. Thus, according to paragraph 3 of Annex II, investigating authorities are directed to use information if three, and, in some circumstances, four, conditions are satisfied. In our view, it follows that if these conditions are met, investigating authorities are not entitled to reject information submitted, when making a determination. One of these conditions is that information must be submitted ‚in a timely fashion‘.“

Nunmehr wendete sich der Appellate Body der Analyse von § 3 von Anhang II zum Antidumpingübereinkommen zu, der nach Auffassung des Gremiums die Frage beantwortet, wann die Untersuchungsbehörden berechtigt sind, Informationen „interessierter Parteien“ zurückzuweisen. Grundsätzlich regelt diese Vorschrift, unter welchen Voraussetzungen die Untersuchungsbehörden Informationen berücksichtigen sollen. Eine dieser Voraussetzungen ist, daß die Informationen timely220 eingereicht werden. Daraus leitete der Appellate Body ab, daß die Behörden berechtigt sind, Informationen zurückzuweisen, wenn sie nicht timely eingereicht werden. Damit stellte sich die Frage, was timely bedeutet: „82. The text of paragraph 3 of Annex II of the Anti-Dumping Agreement is silent as to the appropriate measure of ‚timeliness‘ under that provision. In our view, ‚timeliness‘ under paragraph 3 of Annex II must be read in light of the collective requirements, in Articles 6.1.1 and 6.8, and in Annex II, relating to the submission of information by interested parties. Taken together, these provisions establish a coherent framework for the treatment, by investigating authorities, of information submitted by interested parties. Article 6.1.1 establishes that investigating authorities may fix time-limits for responses to questionnaires, but indicates that, ‚upon cause shown‘, and if ‚practicable‘, these time-limits are to be extended. Article 6.8 and paragraph 1 of Annex II provide that investigating authorities may use facts available only if information is not submitted within a reasonable period of time, which, in turn, indicates that information which is submitted in a reasonable period of time should be used by the investigating authorities. 83. That being so, we consider that, under paragraph 3 of Annex II, investigating authorities should not be entitled to reject information as untimely if the information is submitted within a reasonable period of time. In other words, we see, ‚in a timely fashion‘, in paragraph 3 of Annex II as a reference to a ‚reasonable period‘ or a ‚reasonable time‘. This reading of ‚timely‘ contributes to, and becomes part of, the coherent framework for fact-finding by investigating authorities. Investigating authorities may reject information under paragraph 3 of An220 Dt.: fristgerecht; diese Übersetzung entspricht nicht den weiteren Ausführungen des Appellate Body.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

nex II only in the same circumstances in which they are entitled to overcome the lack of this information through recourse to facts available, under Article 6.8 and paragraph 1 of Annex II of the Anti-Dumping Agreement. The coherence of this framework is also secured through the second sentence of Article 6.1.1, which requires investigating authorities to extend deadlines ‚upon cause shown‘, if ‚practicable‘. In short, if the investigating authorities determine that information was submitted within a reasonable period of time, Article 6.1.1 calls for the extension of the time-limits for the submission of information.“

In den letzten beiden Absätzen fügte der Appellate Body nunmehr die einzelnen Teile seiner Ausführungen zusammen. Danach sind Informationen nicht mehr timely, wenn sie nicht innerhalb der in Art. 6.8 des Antidumpingübereinkommens genannten angemessenen Frist zur Verfügung gestellt werden. Sofern, die Informationen aber innerhalb einer angemessenen Frist zur Verfügung gestellt werden, dürfen sie nicht von den Behörden zurückgewiesen werden. Gleichzeitig ist in diesem Fall aber die Fristverlängerung nach Satz 2 von Art. 6.1.1 des Antidumpingübereinkommens zu gewähren. Im Anschluß an diese Ausführungen beschrieb der Appellate die einzelnen Faktoren, die bei Beurteilung der Angemessenheit zu berücksichtigen sind.221 Die Ausführungen des Appellate Body stellen eine systematische Auslegung sowohl von Art. 6.1.1 als auch von Art. 6.8 des Antidumpingübereinkommens dar. Beide Vorschriften werden vom Appellate Body unter Berücksichtigung weiterer Vorschriften des Abkommens zueinander in Bezie221 „85. In sum, a ‚reasonable period‘ must be interpreted consistently with the notions of flexibility and balance that are inherent in the concept of ‚reasonableness‘, and in a manner that allows for account to be taken of the particular circumstances of each case. In considering whether information is submitted within a reasonable period of time, investigating authorities should consider, in the context of a particular case, factors such as: (i) the nature and quantity of the information submitted; (ii) the difficulties encountered by an investigated exporter in obtaining the information; (iii) the verifiability of the information and the ease with which it can be used by the investigating authorities in making their determination; (iv) whether other interested parties are likely to be prejudiced if the information is used; (v) whether acceptance of the information would compromise the ability of the investigating authorities to conduct the investigation expeditiously; and (vi) the numbers of days by which the investigated exporter missed the applicable time-limit. 86. In determining whether information is submitted within a reasonable period of time, it is proper for investigating authorities to attach importance to the timelimit fixed for questionnaire responses, and to the need to ensure the conduct of the investigation in an orderly fashion. Article 6.8 and paragraph 1 of Annex II are not a license for interested parties simply to disregard the time-limits fixed by investigating authorities. Instead, Articles 6.1.1 and 6.8, and Annex II of the Anti-Dumping Agreement, must be read together as striking and requiring a balance between the rights of the investigating authorities to control and expedite the investigating process, and the legitimate interests of the parties to submit information and to have that information taken into account.“

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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hung gesetzt. Dabei wird der Appellate Body wesentlich von der Idee geleitet, daß die einzelnen Vorschriften ein in sich geschlossenes, widerspruchsfreies System darstellen. Dies zeigt sich nicht nur in dem Endergebnis des Auslegungsvorgangs, sondern wird vom Appellate Body selbst in para. 82 mit den Worten „these provisions establish a coherent framework for the treatment, by investigating authorities, of information submitted by interested parties“ beschrieben. III. Zusammenfassung und Bewertung Die vorstehende Darstellung einiger Beispiele aus der Spruchpraxis des Appellate Body hat gezeigt, daß die Ausführungen des Gremiums im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung von Vorschriften der verschiedenen WTO-Übereinkommen äußerst vielfältig sind. Nur in einigen Fällen lassen sich Argumentationsmuster oder -strukturen erkennen, die einer eindeutigen Kategorisierung zugänglich sind. Teilweise argumentiert der Appellate Body mit Hilfe von Regeln der Logik, teilweise verwendet er die im allgemeinen Völkerrecht entwickelte Vermutung, daß innerhalb eines Vertrages mehrfach vorkommende Wörter durchgehend dieselbe Bedeutung haben. Diese Vermutung hat der Appellate Body um eine WTO-spezifische Variante erweitert. Danach ist auch zu vermuten, daß in einer Reihe von WTO-Übereinkommen stets wiederkehrende Vorschriften, wie etwa Meistbegünstigungsklauseln und Verpflichtungen zur Inländerbehandlung, stets dieselbe Bedeutung haben ungeachtet mancher Unterschiede im Wortlaut. Abgesehen von diesen Fällen folgt der Appellate Body bei der Entwicklung von systematischen Auslegungsargumenten jedoch keinen festen Regeln. Maßstäbe sind dann „nur“ die Schlüssigkeit und Widerspruchsfreiheit der Argumentation und des ermittelten Auslegungsarguments.

C. Die Bestimmung des auslegungsrelevanten Kontextes im Einzelfall I. Problemdarstellung Die bisherigen Ausführungen zur systematischen Auslegung haben gezeigt, auf welche Weise der Appellate Body systematische Auslegungsargumente argumentativ aus dem Umfeld der auszulegenden Bestimmung ableitet. Das Umfeld, aus dem der Appellate Body Auslegungsargumente ableitet, besteht, wie ebenfalls gezeigt, grundsätzlich aus dem gesamten WTOSystem. Allerdings gibt die bisherige Darstellung keinen Aufschluß darüber, aus welchen Vorschriften im Einzelfall die Ableitung eines systemati-

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

schen Auslegungsarguments erfolgt, welche Vorschriften im Einzelfall also für die Auslegung einer Vorschrift relevant sind. Bei einem erneuten Blick auf die vorstehende Analyse der Vorgehensweise des Appellate Body entsteht zunächst der Eindruck, daß jede Vorschrift, aus der sich mit argumentativen Mitteln ein Auslegungsargument gewinnen läßt, zum auslegungsrelevanten Kontext gehört; mit anderen Worten, daß der auslegungsrelevante Kontext einer Vorschrift aus allen Vorschriften besteht, aus denen eine Aussage für die Auslegung der auszulegenden Vorschrift ermittelt werden kann. Eine nähere Betrachtung der Spruchpraxis des Appellate Body zeigt allerdings in eine entgegengesetzte Richtung. In einigen Fällen weist der Appellate Body ein systematisches Auslegungsargument, das von einem Panel oder von einer der Streitparteien nach den Regeln argumentativer Kunst schlüssig entwickelt wurde, ausdrücklich zurück und begründet dies damit, daß die Vorschrift, aus der das Auslegungsargument entwickelt wurde, nicht zum auslegungsrelevanten Kontext der auszulegenden Vorschrift gehört. Beispielhaft sei hier eine bereits erwähnte Passage222 aus dem Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas223 in ihrem weiteren Zusammenhang dargestellt. Zu der Frage, ob Art. II.1 GATS nur de jure-Diskriminierungen oder auch de facto-Diskriminierungen ausländischer Dienstleistungen untersagt, hatte das mit diesem Fall befaßte Panel zunächst die folgenden Ausführungen gemacht:224 „7.304 (. . .) we note that the standard of ‚no less favourable treatment‘ in paragraph 1 of Article XVII is meant to provide for no less favourable conditions of competition regardless of whether that is achieved through the application of formally identical or formally different measures. (. . .) 7.305 We also note that, while the object and purpose of paragraph 1 of Article XVII is to prohibit discrimination against foreign services and service suppliers to the advantage of like services and service suppliers of national origin, paragraph 1 of Article II has a similar objective of prohibiting discrimination against services and service suppliers of a Member in favour of like services or service suppliers of any other country. In addition, while the drafters of the GATS have been guided by GATT concepts, provisions and past practice, they have chosen to use identical operative language of ‚treatment no less favourable‘ in both Articles II and XVII, departing in the case of Article II from the formulation used in the GATT MFN clause in Article I which refers to ‚any advantage, favour, privilege or immunity . . .‘. Thus, the formulation of both Articles II and XVII of GATS derives from the ‚treatment no less favourable‘ standard of the GATT na222 223 224

Vgl. soeben oben im Text B. I. 1. und B. I. 2. WT/DS27/AB/R. WT/DS27/R/ECU (22.5.1997).

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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tional treatment provisions in Article III of GATT, which has been consistently interpreted by past panel reports to be concerned with conditions of competition between like domestic and imported products on internal markets.470 Note: 470 Panel Report on ‚Italian Discrimination of Imported Agricultural Machinery‘, adopted on 23 October 1958, BISD 7S/60, 63, para. 12. (. . .).“

Hier arbeitete das Panel mit der für das allgemeine Völkerrecht weithin anerkannten und vom Appellate Body – wie gesehen – ebenfalls verschiedentlich verwendeten Vermutung, daß Worte und Ausdrücke, die an mehreren Stellen innerhalb eines Vertrages vorkommen, stets dieselbe Bedeutung haben. Auf Grundlage dieser Vermutung übertrug es die Bedeutung der sowohl in Art. XVII.1 GATS als auch in Art. III.4 GATT 1994 vorkommenden Worte treatment no less favourable225 auf Art. II.1 GATS. Die Bedeutung dieser Worte hatte es einerseits durch eine Auslegung von Art. XVII.1 GATS ermittelt226 und andererseits der mit dem Traktoren-Fall Italian Discrimination against Imported Agricultural Machinery227 beginnenden ständigen Spruchpraxis der GATT-Panels zu Art. III.4 GATT 1947 entnommen. Diese Argumentation des Panels kommentierte der Appellate Body wie folgt: „231. The Panel’s approach to this question was to interpret the words ‚treatment no less favourable‘ in Article II:1 of the GATS by reference to (. . .) Article XVII of the GATS. The Panel said: . . . we note that the standard of ‚no less favourable treatment‘ in paragraph 1 of Article XVII is meant to provide for no less favourable conditions of competition regardless of whether that is achieved through the application of formally identical or formally different measures. (. . .) 232. We find the Panel’s reasoning on this issue to be less than fully satisfactory. The Panel interpreted Article II of the GATS in the light of panel reports interpreting the national treatment obligation of Article III of the GATT. The Panel also referred to Article XVII of the GATS, which is also a national treatment obligation. But Article II of the GATS relates to MFN treatment, not to national treatment. Therefore, provisions elsewhere in the GATS relating to national treatment obligations, and previous GATT practice relating to the interpretation of the national treatment obligation of Article III of the GATT 1994 are not necessarily relevant to the interpretation of Article II of the GATS. The Panel would have 225

Dt.: keine weniger günstige Behandlung. Von einer Aufnahme der ausführlichen Interpretation von Art. XVII GATS durch das Panel wurde hier abgesehen. 227 BISD 7S/60 (1958), Vereinigtes Königreich/Italien; die italienische Regierung stellte italienischen Landwirten und landwirtschaftlichen Genossenschaften zinsgünstige Darlehen für den Kauf in Italien hergestellter Landmaschinen zur Verfügung. Für den Erwerb im Ausland gefertigter Landmaschinen standen keine vergünstigten Kredite zu Verfügung. Das Panel sah darin einen Verstoß gegen Art. III.4 GATT 1947; vgl. dazu auch die Kurzzusammenfassung bei Hudec, S. 441 f. 226

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

been on safer ground had it compared the MFN obligation in Article II of the GATS with the MFN and MFN-type obligations in the GATT 1994.138 Note: 138 In addition to Article I (the fundamental MFN provision of the GATT), Articles III:7, IV(b), V:2 and V:5, IX:1 and XIII:1 are also MFN-type obligations in the GATT 1994.“

Während das Panel also die in Art. II.1 GATS enthaltene Meistbegünstigungsklausel mit Hilfe der in Art. III.4 GATT 1994 und Art. XVII.1 GATS normierten Verpflichtung zur Inländerbehandlung ausgelegt hatte, wies der Appellate Body diesen Ansatz ausdrücklich und mit sehr deutlichen Worten zurück und erklärte, daß stattdessen die Meistbegünstigungsklauseln des GATT 1994 bei der Auslegung hätten zur Hilfe genommen werden müssen. Deren Untersuchung ergab, daß sowohl de jure- als auch de facto-Diskriminierungen untersagt sind.228 Diesen Befund übertrug der Appellate Body auf Art. II.1 GATS und gelangte damit letztendlich zu dem Ergebnis, zu dem auch das Panel gelangt war. Dieses Beispiel zeigt, daß eine Vorschrift, aus der mit Hilfe der „Regeln“ allgemeiner Auslegungsmethodik ein Auslegungsargument entwickelt werden kann, nicht notwendigerweise auch zum auslegungsrelevanten Kontext der jeweils auszulegenden Vorschrift gehört. Vielmehr verlangt der Appellate Body offensichtlich, daß auszulegende Vorschrift und „Kontextnorm“ zueinander eine bestimmte Beziehung aufweisen. II. Die Kriterien des Appellate Body zur Bestimmung des auslegungsrelevanten Kontextes Die bisherige Spruchpraxis enthält einige Fälle, in denen der Appellate Body sein Vorgehen bei der systematischen Auslegung näher begründet. Diese Fälle werfen auch ein Licht darauf, unter welchen Voraussetzungen der Appellate Body davon ausgeht, daß zwischen einer zu interpretierenden Vorschrift und einer anderen Vorschrift innerhalb des WTO-Systems eine Beziehung besteht, die eine systematische Auslegung ermöglicht. 1. Definitionsnormen und Verweise als ausdrückliche Anordnung zur Kontextauswahl Zu Beginn oder am Ende einer ganzen Reihe von WTO-Übereinkommen finden sich Vorschriften, die Begriffsbestimmungen enthalten. Bei diesen Begriffsbestimmungen handelt es sich um von den Vertragsparteien selbst vorgenommene authentische Definitionen der in dem jeweiligen Vertrag verwendeten Begriffe. Aus der Sicht des Interpreten, der einen von den 228

WT/DS27/AB/R, para. 232.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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Vertragsparteien definierten Begriff auslegen muß, stellen diese Definitionsnormen den aufgrund ausdrücklicher Anordnung durch die Vertragsparteien zu berücksichtigenden Kontext dar. Eine Passage aus dem Bericht im Fall European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas229 macht dies deutlich. Im Zusammenhang mit der Frage, ob der Import von Bananen auch eine Dienstleistung darstellt, setzte der Appellate Body seine Untersuchung der Reichweite von Art. I.1 GATS im Anschluß an die – bereits zuvor dargestellte230 – Wortlautauslegung wie folgt fort: „220. (. . .) We also note that Article I:3(b) of the GATS provides that ‚services includes any service in any sector except services supplied in the exercise of governmental authority‘ (emphasis added), and that Article XXVIII(b) of the GATS provides that the ‚supply of a service includes the production, distribution, marketing, sale and delivery of a service‘. There is nothing at all in these provisions to suggest a limited scope of application for the GATS. (. . .)“

Hier dienten dem Appellate Body bei der Auslegung von Art. I.1 GATS, der seinerseits Teil einer vertraglichen Begriffsbestimmung ist, die mit den Worten „Geltungsbereich und Begriffsbestimmung“ beziehungsweise „Begriffsbestimmungen“ überschriebenen Art. I.3(b) und XXVIII(b) GATS als Kontext. Keine dieser Vorschriften enthält nach Ansicht des Appellate Body einen Hinweis darauf, daß Personen oder Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich des GATT 1994 fallen, bereits aus diesem Grund nicht in den Anwendungsbereich des GATS fallen. Während Art. I.3(b) GATS Teil des norminternen Zusammenhangs des im Fall auszulegenden Art. I.1 GATS ist, gehört Art. XXVIII(b) GATS zu dessen vertragsinternen Zusammenhang. Diese Vorschrift beginnt mit den Worten „für die Zwecke dieses Übereinkommens“. Mit diesen Worten haben die Vertragsparteien ausdrücklich bestimmt, daß der Interpret, wann immer er einen der in Art. XXVIII GATS definierten Begriffe auszulegen hat, Rückgriff auf die in dieser Vorschrift enthaltenen Begriffsbestimmungen nehmen muß. Aus dieser ausdrücklichen Anordnung ergibt sich die für die systematische Auslegung erforderliche Nähebeziehung zwischen der Definitionsnorm und der auszulegenden Bestimmung. Neben vertraglichen Definitionsnormen sind auch in einzelnen Vertragsvorschriften enthaltene Verweise auf andere Normen eines Abkommens als Weisung an den Interpreten zu verstehen. Sie bestimmen, daß bei der Auslegung der Vorschrift, in der sich der Verweis befindet, die Norm, auf die verwiesen wird, als Kontext zu berücksichtigen ist. Durch den Verweis wird 229 230

WT/DS27/AB/R. Dazu bereits oben im Text 1. Kap. C. I.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

eine hinreichende Nähebeziehung zwischen auszulegender Vorschrift und Kontextnorm hergestellt. Dies zeigt sich in der bereits dargestellten Passage im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft.231 Dort verwendete der Appellate Body bei der Auslegung des Wortes benefit in Art. 1.1(b) des Abkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen Art. 14 desselben Abkommens als Kontext. Dies begründete der Appellate Body mit dem ausdrücklichen Verweis auf Art. 1.1 in Art. 14 des Abkommens.232 In ähnlicher Weise ging der Appellate Body im Fall Japan – Measures Affecting Agricultural Products233 vor. Darin begründete er die Verwendung von Art. 5.7 des SPS-Übereinkommens bei der Auslegung des Ausdrucks sufficient scientific evidence in Art. 3.3 des SPS-Übereinkommens mit dem ausdrücklichen Verweis auf Art. 5.7 in Art. 3.3.234 2. Identische oder verwandte Regelungsgegenstände als Kriterium für die Aufnahme in den auslegungsrelevanten Kontext In einer Reihe von Fällen hat der Appellate Body bei der systematischen Auslegung Normen nur dann in den auslegungsrelevanten vertragsinternen und vertragsübergreifenden Kontext einbezogen, wenn deren Regelungsgegenstand mit dem der auszulegenden Vorschrift identisch beziehungsweise verwandt war. In dem oben bereits aufgeführten Beispielsfall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear235 untersuchte der Appellate Body im Rahmen der Auslegung von Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung Art. XIX GATT 1994, Art. 10.2 des Antidumpingübereinkommens sowie Art. 20.2 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen. Diese Vorschriften regeln, ebenso wie der im Fall auszulegende Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung, einen Teil der Modalitäten der Verhängung 231

WT/DS70/AB/R; vgl. im Text oben A. II. 2. Der Appellate Body führte aus (vgl. bereits oben im Text A. II. 2.): „(. . .)The guidelines set forth in Article 14 apply to the calculation of the ‚benefit to the recipient conferred pursuant to paragraph 1 of Article 1‘. (emphasis added) This explicit textual reference to Article 1.1 in Article 14 indicates to us that ‚benefit‘ is used in the same sense in Article 14 as it is in Article 1.1. (. . .)“. 233 WT/DS76/AB/R (22.2.1999). 234 WT/DS76/AB/R, para. 80: „Finally, it is clear that Article 5.7 of the SPS Agreement, to which Article 2.2 explicitly refers, is part of the context of the latter provision and should be considered in the interpretation of the obligation not to maintain an SPS measure without sufficient scientific evidence. (. . .)“. 235 WT/DS24/AB/R; dazu soeben oben A. II. 3. 232

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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von erlaubten Handelsbeschränkungen. Sowohl Art. 10.2 des Antidumpingübereinkommens als auch Art. 20.2 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen gestatten ausdrücklich die retroaktive Verhängung handelsbeschränkender Maßnahmen, während vergleichbare Vorschriften in Art. XIX GATT 1994 und eben auch in Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung fehlen. Diesen Unterschied erachtete der Appellate Body für relevant und verneinte eine entsprechende Befugnis unter dem Textilabkommen.236 Eine ausdrückliche Bestätigung der Beobachtung, daß der vertragsübergreifende Kontext insbesondere in Vorschriften mit verwandten Regelungsgegenständen zu suchen ist, findet sich auch in der im vorigen Abschnitt ausführlich erörterten Passage des im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas erstellten Berichts.237 Darin befand der Appellate Body, daß selbst bei identischem Wortlaut eine Verpflichtung zur Inländerbehandlung nicht zur Auslegung einer Meistbegünstigungsklausel verwendet werden darf. Vielmehr ist die auslegungsrelevante „Kontextnorm“ einer Meistbegünstigungsklausel ebenfalls eine Meistbegünstigungsklausel. Die These, daß der Appellate Body gleiche oder verwandte Regelungsgegenstände bei der Auswahl des auslegungsrelevanten Zusammenhangs einer Vorschrift für ein Auswahlkriterium hält, wird auch bei näherer Betrachtung des Falles Guatemala – Anti-Dumping Investigation Regarding Portland Cement from Mexico238 deutlich. Dort findet sich die bereits im Bananenstreit angeklungene Auffassung wieder, daß Vorschriften nicht bereits deshalb zum auslegungsrelevanten Kontext einer Norm gehören, weil sie mit dieser wortlautidentisch sind. Vielmehr bedarf es auch in diesen Fällen einer Nähebeziehung zwischen den Vorschriften. Deren Vorliegen aufgrund eines identischen Regelungsgegenstandes wies der Appellate Body im Fall Guatemala – Anti-Dumping Investigation Regarding Portland Cement from Mexico ausdrücklich nach. In diesem Verfahren stellte sich die Frage, wie präzise eine beschwerdeführende Partei, die gegen eine Antidumpinguntersuchung einer anderen Vertragspartei vorgehen will, in ihrer Antragsschrift zum Dispute Settlement Body den Antragsgegenstand bestimmen muß. Mexiko hatte sich in seinem Antrag in allgemein gehaltener Weise gegen eine 236 Auch im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry (WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R; vgl. oben A. II. 3.) zählte der Appellate Body mit Art. III.4 GATT eine inhaltlich mit Art. 3.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen verwandte Norm zu deren Zusammenhang. 237 WT/DS27/AB/R; vgl. soeben oben im Text unter I. 238 WT/DS60/AB/R (2.11.1998).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

von Guatemala eingeleitete Antidumpinguntersuchung gewendet, ohne einen konkreten Verfahrensschritt der guatemaltekischen Antidumpinguntersuchung zu rügen. Das Panel, das Mexiko insoweit folgte, legte den in Art. 17.4 des Antidumpingübereinkommens239 enthaltenen und zur Klärung der Streitfrage entscheidenden Ausdruck matter240 weit aus und befand, daß es nicht erforderlich sei, einen der in Art. 17.4 des Antidumpingübereinkommens ausdrücklich genannten Verfahrensschritte zum Gegenstand eines Panel-Verfahrens zu machen. Der Appellate Body, der bei der Auslegung des Wortes matter zwei Vorschriften des DSU, nämlich Art. 6.2 und 7 DSU, heranzog, führte dazu aus: „72. The word ‚matter‘ appears in Article 7 of the DSU, which provides the standard terms of reference for panels. Under this provision, the task of a panel is to examine ‚the matter referred to the DSB‘. These words closely echo those of Article 17.4 of the Anti-Dumping Agreement and, in view of the integrated nature of the dispute settlement system, form part of the context of that provision. Article 7 of the DSU itself does not shed any further light on the meaning of the term ‚matter‘. However, when that provision is read together with Article 6.2 of the DSU, the precise meaning of the term ‚matter‘ becomes clear. Article 6.2 specifies the requirements under which a complaining Member may refer a ‚matter‘ to the DSB: in order to establish a panel to hear its complaint, a Member must make, in writing, a ‚request for the establishment of a panel‘ (a ‚panel request‘). In addition to being the document which enables the DSB to establish a panel, the panel request is also usually identified in the panel’s terms of reference as the document setting out ‚the matter referred to the DSB‘. Thus, ‚the matter referred to the DSB‘ for the purposes of Article 7 of the DSU and Article 17.4 of the Anti-Dumping Agreement must be the ‚matter‘ identified in the request for the establishment of a panel under Article 6.2 of the DSU. That provision requires the complaining Member, in a panel request, to ‚identify the specific measures at issue and provide a brief summary of the legal basis of the complaint sufficient to present the problem clearly.‘ (emphasis added) The ‚matter referred to the DSB‘, therefore, consists of two elements: the specific measures at issue and the legal basis of the complaint (or the claims).“

Hier identifizierte der Appellate Body Art. 7 und 6.2 DSU als auslegungsrelevanten Kontext von Art. 17.4 des Antidumpingübereinkommens. Allerdings begründete der Appellate Body dies nicht nur mit der Verwendung des Wortes matter sowohl in Art. 17.4 des Antidumpingübereinkom239 Art. 17.4 des Antidumpingübereinkommens lautet: „If the Member (. . .) considers that the consultations (. . .) failed to achieve a mutually agreed solution, and if final action has been taken by the administering authorities of the importing Member to levy definitive anti-dumping duties or to accept price undertakings, it may refer the matter to the Dispute Settlement Body (‚DSB‘): When a provisional measure has a significant impact and the Member (. . .) considers that the measure was taken contrary to the provisions of paragraph 1 of Article 7, that Member may also refer such matter to the DSB.“ (Hervorhebungen vom Verfasser). 240 Dt.: Angelegenheit.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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mens als auch in den beiden Vorschriften des DSU, sondern darüber hinaus auch mit der auf Art. 1.1 DSU zurückzuführenden „einheitlichen Natur des Streitbeilegungssystems“ der WTO. Mit diesem zweiten Argument erbrachte der Appellate Body den Nachweis für das Bestehen der Beziehung zwischen den Vorschriften des DSU und des Antidumpingübereinkommens. In der Sache kam der Appellate Body insbesondere durch den Blick auf Art. 6.2 DSU zu dem Ergebnis, daß der Begriff matter die Angabe einer „einzelnen strittigen Maßnahme“ vom Antragsteller verlangt, und daß diese in Art. 17.4 des Antidumpingübereinkommens abschließend aufgeführt sind.241 Im Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline242 spielte der identische Regelungsgegenstand ebenfalls eine Rolle. Im Zusammenhang mit der Auslegung der Worte relating to the conservation of exhaustible natural resources243 von Art. XX(g) GATT 1994 erklärte der Appellate Body:244 „At the same time, Article XX(g) and its phrase, ‚relating to the conservation of exhaustible natural resources,‘ need to be read in context and in such a manner as to give effect to the purposes and objects of the General Agreement. The context of Article XX(g) includes the provisions of the rest of the General Agreement, including in particular Articles I, III and XI; conversely, the context of Articles I and III and XI includes Article XX. Accordingly, the phrase ‚relating to the conservation of exhaustible natural resources‘ may not be read so expansively as seriously to subvert the purpose and object of Article III:4. Nor may Article III:4 be given so broad a reach as effectively to emasculate Article XX(g) and the policies and interests it embodies. (. . .)“

Hier vertrat der Appellate Body die Auffassung, daß die Ausnahmevorschrift des Art. XX(g) GATT 1994 nicht in einer Weise ausgelegt werden darf, die bewirkt, daß die vertraglichen Verpflichtungen der Art. I, III und XI GATT 1994 bedeutungslos werden. Mit dieser Aussage erklärte der Appellate Body alle drei genannten Vorschriften zum auslegungsrelevanten Zusammenhang von Art. XX(g) GATT 1994. Dabei war von Bedeutung, daß Art. XX GATT 1994 weder eine spezifische Ausnahme zur Meistbegünstigungsverpflichtung, noch zum Gebot der Inländerbehandlung, noch zum 241

Im Anschluß an die hier wiedergegebene Berichtspassage führte der Appellate Body aus, daß Art. 17.4 des Antidumpingübereinkommens näher bestimmt, welche Maßnahmen Gegenstand eines Verfahrens nach dem Antidumpingübereinkommen sein können. Es handelt sich um endgültige Antidumpingzölle, Annahmen von Preisverpflichtungen (Art. 17.4 Satz 1) oder vorläufige Maßnahmen (Art. 17.4 Satz 2). 242 WT/DS2/AB/R. 243 Dt.: zur Erhaltung erschöpflicher Naturschätze. 244 I.L.M. 35 (1996), S. 603 (622).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Verbot mengenmäßiger Beschränkungen enthält, sondern eine allgemeine Ausnahmevorschrift245 zu allen GATT-Verpflichtungen darstellt. Insofern ist der Regelungsgegenstand von Art. XX(g) GATT allumfassend, was zur Folge hat, daß der auslegungsrelevante Zusammenhang der Vorschrift aus einer großen Zahl von Vorschriften besteht. In den bislang dargestellten Fällen führte jeweils der den Vorschriften gemeinsame Regelungsgegenstand dazu, daß eine dieser Vorschriften als „Kontextnorm“ im Rahmen der systematischen Auslegung der anderen Vorschrift Verwendung fand. Neben diesen Fällen finden sich in der bisherigen Spruchpraxis einige weitere, in denen der Appellate Body eine Vorschrift ausdrücklich nicht zu dem auslegungsrelevanten Kontext einer anderen Vorschrift zählte und dies mit dem unterschiedlichen Regelungsgegenstand der beiden Vorschriften begründete. Im Fall Brazil – Export Financing Programme for Aircraft246 bewirkten die unterschiedlichen Regelungsgegenstände von Art. 25.3(ii) und Art. 27.4 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, daß der Appellate Body Art. 25.3(ii) nicht als auslegungsrelevanten Zusammenhang von Art. 27.4 zuließ. Im diesem Fall hatte der Appellate Body zu entscheiden, ob Brasilien das Niveau seiner Ausfuhrsubventionen entgegen seiner Verpflichtung aus Art. 27.4 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen erhöht hatte. Dabei war zunächst fraglich, wie die Höhe der Ausfuhrsubventionen für die Zwecke von Art. 27.4 grundsätzlich zu berechnen ist. Brasilien machte unter Hinweis auf Art. 25.3(ii) des Übereinkommens geltend es komme auf die im staatlichen Haushaltsplan veranschlagten Subventionen an und nicht etwa auf die tatsächlich zur Auszahlung gebrachten. Dazu führte der Appellate Body aus: „149. In coming to this conclusion, we are not persuaded by Brazil’s argument relating to the notification provisions of Article 25 of the SCM Agreement. We note that Article 25 has a fundamentally different purpose from Article 27 of the SCM Agreement. Whereas Article 25 aims to promote transparency by requiring Members to notify their subsidies, without prejudging the legal status of those subsidies66, Article 27 imposes positive obligations on developing country Members with respect to export subsidies. In interpreting the phrase ‚the level of its export subsidies‘ in Article 27.4, we believe the most appropriate context is footnote 55, which is, it will be recalled, a footnote to that very phrase in Article 245 Bogdandy, RIW 1991, S. 55 (58) qualifiziert Art. XX GATT nicht als Ausnahmevorschrift, sondern aufgrund seines Wortlautes (. . .nothing in this Agreement shall be construed . . .) als Tatbestandsannex zu den einzelnen GATT-Verpflichtungen. Diese Lesart hat sich aber, nicht zuletzt aufgrund der Überschrift (General Exceptions), in der Praxis nicht durchgesetzt; vgl. etwa Stoll, EPIL IV (2000), S. 1529 (1534), der von Regeln und Ausnahmen (rules and exceptions) spricht. 246 WT/DS46/AB/R (2.8.1999).

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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27.4. Because of its different purpose, Article 25 is considerably less useful as context in interpreting the phrase ‚the level of its export subsidies‘ in Article 27.4. (. . .) Note: 66 Article 25.7 of the SCM Agreement states that ‚notification of a measure does not prejudge either its legal status under GATT 1994 and this Agreement, the effects under this Agreement, or the nature of the measure itself.‘“

Die Feststellung des Appellate Body, daß „Article 25 has a fundamentally different purpose from Article 27 of the SCM Agreement“ zeigt, daß der Appellate Body Art. 25 hier nicht als Kontext zu Art. 27 zuließ, weil Art. 25 einen anderen Regelungsgegenstand, nämlich Notifikationsverpflichtungen, hat als Art. 27, der die in diesem Übereinkommen festgelegten Subventionsverbote und -beschränkungen für Entwicklungsland-Mitglieder lockert und modifiziert.247 Die vorstehend aufgeführten Beispiele aus der bisherigen Spruchpraxis des Appellate Body belegen, daß eine Vorschrift jedenfalls dann zum auslegungsrelevanten Zusammenhang einer auszulegenden Vorschrift gehört, wenn sie denselben Regelungsgegenstand hat wie diese. 3. Verbot der Vermischung materieller und verfahrensrechtlicher Vorschriften Den Berichten des Appellate Body läßt sich entnehmen, daß das Gremium innerhalb einzelner WTO-Übereinkommen zwischen materiellen Vorschriften und verfahrensrechtlichen Vorschriften unterscheidet. Diese Unterscheidung nimmt Bezug auf die Verpflichtung der WTO-Mitglieder, den Inhalt der WTO-Übereinkommen in innerhalb ihres Territoriums geltendes Recht umzuwandeln. Die Kategorie der verfahrensrechtlichen Vorschriften umfaßt dabei Vorschriften, die – übersetzt in die Terminologie nationalen Rechts – den Ablauf des Verwaltungsverfahrens regeln, an dessen Ende die rechtsverbindliche Entscheidung einer Behörde steht. Materielle Vorschriften hingegen sind nach der Auffassung des Appellate Body solche Vor247 Eine ähnliche Passage findet sich auch im Fall United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Wheat Gluten from the European Communities (WT/DS166/AB/R). Auch dort erklärte der Appellate Body ein von den Vereinigten Staaten angeführtes Auslegungsargument für unzulässig, weil es einer Vorschrift entstammte, die nur für Entwicklungsland-Mitglieder gilt (a. a. O., para. 96 m. Fn. 96): „The United States relies on Article 9.1 of the Agreement on Safeguards in support of its argument that the scope of the serious injury investigation need not correspond exactly to the scope of application of a safeguard measure. Article 9.1 is an exception to the general rules set out in the Agreement on Safeguards that applies only to developing country Members. We do not consider that it is of relevance to this appeal.“ (Hervorhebung vom Verfasser).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

schriften, die nicht das Verwaltungsverfahren, sondern den Inhalt der an dessen Ende stehenden Verwaltungsentscheidung bestimmen. Im vorliegenden Zusammenhang ist diese Unterscheidung insofern von Bedeutung, als der Appellate Body erklärt hat, daß verfahrensrechtliche Vorschriften nicht zum auslegungsrelevanten Zusammenhang von Vorschriften mit materiellem Gehalt zählen. Im Fall Canada – Term of Patent Protection248 hatte Kanada seine Position, daß eine tatsächliche Schutzdauer für Patente von 20 Jahren den Anforderungen von Art. 33 TRIPS genügte, unter anderem auch mit Hinweis auf Art. 62.2 TRIPS begründet. Diese Vorschrift erkenne an, daß die Länge des Verfahrens bis hin zur Eintragung des Patentes die Dauer des Patentschutzes verkürze. Solange aber die Eintragung „innerhalb einer angemessenen Frist“ geschehe und „eine ungerechtfertigte Verkürzung der Schutzdauer“ vermieden werde, gestatte Art. 33 TRIPS in Verbindung mit Art. 62.2 TRIPS dem TRIPS Mitglied eine tatsächliche Schutzdauer vorzusehen, die einer Schutzdauer von nominal 20 Jahren entspreche.249 Der Appellate Body erklärte Art. 62.2 TRIPS bei der Auslegung von Art. 33 TRIPS für irrelevant: „97. We see no merit in this argument of Canada. Article 62.2 deals with procedures relating to the acquisition of intellectual property rights. Article 62.2 does not deal with the duration of those rights once they are acquired. Article 62.2 is of no relevance to this case. This purely procedural Article cannot be used to modify the clear and substantive standard set out in Article 33 so as to conjecture a new standard of ‚effective‘ protection. (. . .) Our task is to interpret the covered agreements harmoniously.65 A harmonious interpretation of Article 33 and Article 62.2 must regard these two treaty provisions as distinct and separate Articles containing obligations that must be fulfilled distinctly and separately. Note: 65 Appellate Body Report, Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products, WT/DS98/AB/R, adopted 12 January 2000, para. 81; Appellate Body Report, Argentina – Footwear Safeguards, supra, footnote 39, para. 81.“

Hier verneinte der Appellate Body also die Relevanz von Art. 62.2 TRIPS für die Auslegung von Art. 33 TRIPS mit Hinweis auf die fehlende inhaltliche Beziehung zwischen dem einen materiellen Standard enthaltenden Art. 33 TRIPS und dem verfahrensrechtlich wirkenden Art. 62.2 TRIPS. Diese Unterscheidung wirkte auch im Fall Thailand – Anti-Dumping Duties on Angles, Shapes and Sections of Iron or Non-Alloy Steel and H-Beams from Poland.250 Darin mußte der Appellate Body Art. 3.1 des 248

WT/DS170/AB/R; vgl. dazu oben im Text 1. Kap. A. II. Vgl. die Zusammenfassung der Argumentation Kanadas im Bericht des Appellate Body (WT/DS170/AB/R), para. 96. 250 WT/DS122/AB/R (12.3.2001). 249

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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Antidumpingübereinkommens auslegen und die Bedeutung der Worte positive evidence251 und objective examination252 klären. Dabei war fraglich, ob sich die in Art. 3.1 des Antidumpingübereinkommens geregelte „Feststellung einer Schädigung im Sinne des Artikels VI des GATT 1994“ auch auf Beweise stützen darf, die dem vermeintlich dumpenden Unternehmen deshalb nicht zugänglich sind, weil die Untersuchungsbehörden sie als vertraulich eingestuft haben. Der Appellate Body untersuchte zunächst den Wortlaut von Art. 3.1 des Antidumpingübereinkommens und kam zu dem Ergebnis, daß die Vorschrift nichts enthält, das die Befugnis der untersuchenden Behörden schmälert, auch vertrauliche Informationen als Beweise zu verwenden.253 Bestätigung für seine Auffassung fand der Appellate Body in Art. 3.7, 5.2 und 5.3 des Antidumpingübereinkommens.254 Dem in diesen Vorschriften statuierten Verbot, Antidumpingverfahren aufgrund bloßer Spekulationen durchzuführen, entnahm der Appellate Body eine Verpflichtung zur vollumfänglichen Sachverhaltsermittlung und Beweiswürdigung. Anschließend untersuchte er, welche Bedeutung Art. 6 und 12 des Antidumpingübereinkommens für die Auslegung von Art. 3.1 haben: „109. Further contextual support for this reading of Article 3.1 is provided by other provisions of the Anti-Dumping Agreement. Article 6 (entitled ‚Evidence‘) establishes a framework of procedural and due process obligations which, amongst other matters, requires investigating authorities to disclose certain evidence, during the investigation, to the interested parties. Article 6.2 requires that parties to an investigation ‚shall have a full opportunity for the defence of their interests‘. Article 6.9 requires that, before a final determination is made, authorities shall ‚inform all interested parties of the essential facts under consideration which form the basis for the decision‘. There is no justification for reading these obligations, which appear in Article 6, into the substantive provisions of Article 3.1. (. . .) We do not, however, imply that the injury determination by the Thai authorities in this case necessarily met the requirements of Article 6. As the Panel found that Poland’s claim under Article 6 did not meet the requirements of Article 6.2 of the DSU, the issue was not considered by the Panel. 110. Article 12 (entitled ‚Public Notice and Explanation of Determinations‘) also provides contextual support for our interpretation of the meaning of ‚positive evidence‘ and ‚objective examination‘ in Article 3.1. In a similar manner to Article 6, Article 12 establishes a framework of procedural and due process obligations concerning, notably, the contents of a final determination. Article 12.2.2 requires, in particular, that a final determination contain ‚all relevant information on the matters of fact and law and reasons which have led to the imposition of final measures‘, and ‚the reasons for the acceptance or rejection of relevant arguments or claims made by the exporters and importers‘. Article 12, like Article 6, 251 252 253 254

Dt.: eindeutige Beweise. Dt.: objektive Prüfung. WT/DS122/AB/R, para. 107. WT/DS122/AB/R, para. 108.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

sets forth important procedural and due process obligations. However, as in the case of Article 6, there is no justification for reading these obligations into the substantive provisions of Article 3.1. (. . .)“

Nach Ansicht des Appellate Body enthalten Art. 6 und 12 des Antidumpingübereinkommens also Vorschriften, die den ordnungsgemäßen Ablauf des Antidumpingverfahrens gewährleisten sollen. Diese Vorschriften haben indes nach Ansicht des Gremiums keine Auswirkungen auf die als materiell qualifizierte Verpflichtung in Art. 3.1 des Antidumpingübereinkommens, eine objektive Prüfung des Sachverhalts vorzunehmen und sich auf eindeutige Beweise zu stützen. Die beiden vorstehend erläuterten Fälle zeigen, daß der Appellate Body die Einordnung einer Vorschrift als Verfahrensnorm für ausschlaggebend dafür hält, diese nicht bei der Auslegung einer materiellen Verpflichtung zur Hilfe zu nehmen. Dabei bleibt allerdings in beiden Fällen offen, ob die gemeinsame Zugehörigkeit zweier Vorschriften zur Kategorie materieller Normen nur eine notwendige oder auch eine hinreichende Voraussetzung dafür ist, daß eine dieser Vorschriften die Auslegung der anderen Vorschrift beeinflußt. 4. Zusammenfassung Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, daß der Appellate Body systematische Auslegungsargumente stets aus Vorschriften gewinnt, die eine inhaltliche Beziehung zu der auszulegenden Vorschrift aufweisen, die über die durch die gemeinsame Stellung innerhalb des WTO-Systems begründete „räumliche“ Beziehung hinausgeht. In seiner bisherigen Spruchpraxis hat der Appellate Body einige Fallgruppen entwickelt, in denen er eine derartige inhaltliche Beziehung zwischen vermeintlicher „Kontextnorm“ und auszulegender Vorschrift ausdrücklich bejaht. Zunächst ist festzustellen, daß einige Vorschriften aufgrund der ausdrücklichen Bestimmung durch die Vertragsparteien eine inhaltliche Beziehung zu anderen Vorschriften aufweisen. Dies ist der Fall bei in den Übereinkommen enthaltenen Definitionsnormen und Begriffsbestimmungen. Diese weisen einen inhaltlichen Bezug zu allen Vorschriften auf, in denen die definierten Wörter und Begriffe vorkommen. Daneben stehen Vorschriften, in denen sich ausdrückliche Verweise auf andere Vorschriften finden, zu diesen in derart enger Beziehung, daß sie bei deren Auslegung, soweit sich ihnen in concreto ein Auslegungsargument entnehmen läßt, als „Kontextnorm“ dienen. Darüber hinaus liegt eine inhaltliche Beziehung im hier geforderten Sinne auch vor, wenn auszulegende Vorschrift und vermeintliche „Kontextnorm“ einen gemeinsamen Regelungsgegenstand haben. Ist, wie

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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im Fall von Art. XX(g) GATT 1994, der Regelungsgegenstand relativ weit und unbestimmt, so führt dies dazu, daß eine Vielzahl von Vorschriften als „Kontextnormen“ in Betracht kommen. In einigen Fällen schließlich bestimmt der Appellate Body den auslegungsrelevanten Kontext einer Vorschrift nicht positiv, sondern schließt bestimmte Vorschriften aus dem auslegungsrelevanten Kontext aus. Dafür ist mitunter die vom Appellate Body gemachte Unterscheidung zwischen Vorschriften mit verfahrensrechtlichen Inhalten und Vorschriften mit materiellrechtlichen Inhalten ausschlaggebend. Ob die gemeinsame Zugehörigkeit von zwei Vorschriften zu einer dieser Gruppen zu einem für die systematische Auslegung hinreichenden inhaltlichen Bezug zwischen diesen Vorschriften führt, ist bislang nicht klar geworden. Bei einer Betrachtung der bei der Herausarbeitung der einzelnen Kriterien zugrunde gelegten Fälle fällt allerdings auf, daß keiner dieser Fälle den syntaktischen oder norminternen Zusammenhang behandelt. Vielmehr hat der Appellate Body Äußerungen, die im vorliegenden Zusammenhang relevant sind, nur in Fällen gemacht, in denen es um Auslegungsargumente ging, die aus dem vertragsinternen und vertragsübergreifenden Zusammenhang gewonnen wurden. Dies bedeutet indes nicht, daß das Erfordernis einer Nähebeziehung bei Auslegungsargumenten aus dem engeren, also syntaktischen und norminternen Zusammenhang nicht gilt. Vielmehr ist davon auszugehen, daß Worte sowie Absätze und Unterabsätze innerhalb der auszulegenden Norm stets eine hinreichende inhaltliche Nähe zu der auszulegenden Textpassage aufweisen. Diese inhaltliche Beziehung innerhalb einer Vorschrift ergibt sich einerseits aus dem in aller Regel einheitlichen Regelungsgegenstand einer vertraglichen Vorschrift und andererseits daraus, daß einzelne Wörter eines Satzes innerhalb einer Vorschrift auch grammatisch, etwa als Subjekt und Prädikat255 oder durch Relativpronomina256, miteinander verbunden sind. Aus der vorstehend gewonnenen Erkenntnis, daß systematische Auslegungsargumente nur aus Vorschriften gewonnen werden können, die auch eine inhaltliche Beziehung zur auszulegenden Vorschrift aufweisen, folgt, daß die systematische Auslegung gedanklich in zwei Schritten verläuft. Zum einen ist zu klären, ob sich einer oder mehreren Vorschriften innerhalb des WTO-Systems mit Hilfe einer schlüssigen Argumentation, gegebenenfalls unter Anwendung von Regeln der Logik oder der Vermutung der Be255

Vgl. soeben im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft (WT/DS70/AB/R) oben A. I. 256 Vgl. dazu soeben den Fall Canada – Term of Patent Protection (WT/DS170/ AB/R; dazu oben B. II.) sowie den Fall Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products (WT/DS103/AB/R; WT/ DS113/AB/R; dazu oben B. II. sowie die Anmerkung in Fn. 218).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

deutungsidentität, ein Argument für die Interpretation der auszulegenden Vorschrift entnehmen läßt. Daneben ist zu untersuchen, ob die Vorschrift, aus der ein systematisches Auslegungsargument abgeleitet werden kann, eine hinreichende Nähebeziehung zur auszulegenden Vorschrift aufweist. Dies ist anhand der vom Appellate Body dafür herausgearbeiteten Kriterien zu beurteilen. Exkurs – Einordnung des Problems in einen weiteren rechtlichen Zusammenhang Ein Blick in andere Bereiche des Rechts, in denen Auslegung eine Rolle spielt, zeigt, daß der Appellate Body der Welthandelsorganisation keinen methodischen Sonderweg einschlägt, wenn er die systematische Interpretation der Vorschriften der WTO-Übereinkommen gedanklich in zwei Stufen ablaufen läßt und dabei nicht nur untersucht, ob sich einer Vorschrift ein Auslegungsargument entnehmen läßt, sondern darüber hinaus untersucht, ob diese Vorschrift aufgrund der erforderlichen inhaltlichen Nähebeziehung grundsätzlich als „Kontextnorm“ im Verhältnis zu der auszulegenden Vorschrift in Frage kommt. Dies zeigen die beiden folgenden Beispiele aus dem Bereich der Auslegung des deutschen Grundgesetzes: Eine im deutschen Verfassungsrecht viel diskutierte Frage ist, ob der Bundespräsident anläßlich der Ausfertigung eines Bundesgesetzes dazu berechtigt und möglicherweise verpflichtet ist zu überprüfen, ob das auszufertigende Gesetz gegen die Verfassung verstößt. Art. 82 Abs. 1 GG regelt den Vorgang der Ausfertigung eines Gesetzes durch den Bundespräsidenten. Dieser Vorschrift läßt sich nur eine Kompetenz des Präsidenten zur Überprüfung des Gesetzes auf Fehler im Gesetzgebungsverfahren entnehmen. Die Worte „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommen(en)“ werden allgemein als Verweis auf Art. 78 GG verstanden, der bestimmt, wie ein Bundesgesetz zustande kommt und damit direkt oder indirekt auf die Vorschriften der Art. 71–77 GG verweist.257 Allerdings enthält der Wortlaut von Art. 82 Abs. 1 GG keinen Hinweis darauf, ob der Bundespräsident auch ein materielles Prüfungsrecht besitzt, ob er also den Verstoß eines Gesetzes gegen im Grundgesetz garantierte Grundrechte prüfen und beanstanden darf. Die fehlende ausdrückliche Regelung in Art. 82 Abs. 1 GG macht eine systematische Auslegung erforderlich. Im Zuge der systematischen Auslegung von Art. 82 Abs. 1 GG stellt sich die Frage, ob sich dem in Art. 56 GG statuierten Amtseid des Bundespräsidenten Aussagen im Hinblick auf ein mögliches materielles Prüfungsrecht entnehmen lassen. 257 Vgl. dazu statt vieler Degenhart, Rdnr. 562; dagegen aber Lücke, in: Sachs, Art. 82 Rdnr. 3.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

263

Dabei wird überwiegend die Auffassung vertreten, daß sich aus der im Amtseid enthaltenen Verpflichtung, das Grundgesetz zu wahren, kein materielles Prüfungsrecht ableiten läßt. Dies wird damit begründet, daß die Verpflichtung das Grundgesetz zu wahren nichts über den Umfang der dem Präsidenten aus dem Grundgesetz erwachsenden Rechte und Pflichten besagt. Das im Hinblick auf die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten aus dem Amtseid zu entnehmende Auslegungsargument wird daher durchweg als Zirkelschluß beschrieben und findet aus diesem Grund keine Berücksichtigung bei der Auslegung von Art. 82 Abs. 1 GG.258 Die Ablehnung des dem Amtseid entnommenen systematischen Auslegungsarguments beruht also auf der Auffassung, daß dieses Argument logisch falsch ist. Sie ist damit auf der ersten der beiden beschriebenen Stufen der systematischen Auslegung angesiedelt. Das deutsche Verfassungsrecht hält auch für die Ablehnung eines Auslegungsarguments auf der zweiten Stufe der systematischen Auslegung ein Beispiel bereit. Im Bereich der allgemeinen Grundrechtsdogmatik stellt sich die Frage nach Grundrechtsschranken außerhalb ausdrücklicher Gesetzesvorbehalte. Dabei ist anerkannt, daß auch vorbehaltlos garantierte Grundrechte, etwa Art. 5 Abs. 3 GG, durch kollidierendes Verfassungsrecht beschränkt werden können.259 Umstritten ist in diesem Zusammenhang allerdings, ob auch bundesstaatliche Kompetenzvorschriften, die dem Bund etwa die Gesetzgebungskompetenz zuweisen, Grundrechtsgewährleistungen zu beschränken vermögen. Die Bundesverfassungsrichter Mahrenholz und Böckenförde haben dies in einem Sondervotum ausdrücklich wie folgt abgelehnt:260 „Wir halten es für verfassungsrechtlich unzulässig, solche möglichen Begrenzungen und Schranken der Grundrechte, (. . .), aus bundesstaatlichen Kompetenzvorschriften (Art. 73 Nr. 1, 87 a GG), bloßen Ermächtigungsnormen (Art. 12 a GG) oder Organisationsregelungen (Art. 115 b GG) herzuleiten.“

Damit haben die beiden dissentierenden Richter ebenso wie ein Teil der verfassungsrechtlichen Literatur261 erklärt, daß die aufgezählten Vorschriften grundsätzlich nicht zu der Gruppe von Vorschriften gehören, denen Argumente bei der Auslegung von Grundrechten entnommen werden dürfen. 258 So Bryde, in: von Münch/Kunig (Hrsg.), Art. 82 Rdnr. 6; Degenhart, Rdnr. 562; Nierhaus, in: Sachs, Art. 54 Rdnr. 14. 259 Vgl. Pieroth/Schlink, Rdnr. 260. 260 BVerfGE 69, 1 (59). 261 So auch R. Dreier, DVBl. 1980, S. 471 (473); Herbert, EuGRZ 1985, S. 321 (330 f.); Pieroth/Schlink, Rdnr. 334; Schlink, EuGRZ 1984, S. 457 (464); ausführlich zur staatsrechtlichen Diskussion mit Darstellung der Gegenposition Sachs, in: Stern, Bd. III/2, S. 582 ff.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Die beiden vorstehenden Beispiele belegen, daß die vom Appellate Body vorgenommene gedankliche Zweiteilung der systematischen Auslegung auch in anderen Bereichen des Rechts vorzufinden ist. Stets stellt sich dem Interpreten zunächst die Frage, ob einer Vorschrift ein Auslegungsargument für die Interpretation einer anderen Vorschrift zu entnehmen ist; anschließend ist zu untersuchen, ob die „Kontextnorm“ aber auch zur Normgruppe gehört, der systematische Auslegungsargumente im Hinblick auf die auszulegende Vorschrift entnommen werden dürfen.262

D. Das Vorgehen des Appellate Body bei der systematischen Auslegung im Lichte der völkerrechtlichen Methodenlehre I. Die Argumentationsweise des Appellate Body Die allgemeine völkerrechtliche Methodenlehre macht dem Interpreten völkerrechtlicher Verträge keine näheren Vorgaben, wie er bei der Ermittlung von systematischen Auslegungsargumenten vorzugehen hat. Sie fordert nur, daß die Herleitung der Argumente plausibel und schlüssig ist. Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, daß die Argumentation des Appellate Body bei der Ermittlung systematischer Auslegungsargumente dieser Anforderung genügt. Die im allgemeinen Völkerrecht entwickelte Vermutung der Bedeutungsidentität gleicher Worte, die als ein Hilfsmittel zu schlüssigem Argumentieren verstanden werden kann, wendet der Appellate Body ebenfalls an. Darüber hinaus hat er diese Vermutung in nicht zu beanstandender Weise weiterentwickelt. Innerhalb des WTO-Systems besteht die Vermutung, daß Vorschriften, die einen vergleichbaren Regelungsgegenstand haben, dieselbe Bedeutung haben. II. Die Auswahl des auslegungsrelevanten Kontextes In der völkerrechtlichen Methodendiskussion spielen – mit einer sogleich näher zu diskutierenden Ausnahme – Kriterien für die Auswahl des auslegungsrelevanten Kontextes bislang keine Rolle. Auch die Rechtsprechungspraxis internationaler Gerichte ist diesbezüglich nicht ergiebig. Insofern ist 262 Interessanterweise wird das dem Amtseid des Bundespräsidenten entnommene systematische Argument nicht aufgrund des ihm innewohnenden Zirkelschlusses abgelehnt, sondern teilweise auch mit der Begründung, daß der die Eidesformel festschreibende Art. 56 GG nicht geeignet sei, daß kompetenzrechtliche Verhältnis der Staatsorgane untereinander zu beeinflussen. Dieses Argument ist letztlich auf der zweiten Stufe der systematischen Auslegung angesiedelt.

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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es nicht verwunderlich, daß auch die Wiener Vertragsrechtskonvention keine Anhaltspunkte dafür enthält, wie im Einzelfall die Auswahl des auslegungsrelevanten Kontextes zu erfolgen hat. Art. 31 Abs. 1 WVRK enthält die grundsätzliche Anweisung, bei der Auslegung auch den Kontext der auszulegenden Vorschrift bei der Suche nach Auslegungsargumenten zu berücksichtigen und Art. 31 Abs. 2 WVRK beschränkt sich auf eine Aufzählung dessen, was in einem Vertrag grundsätzlich zum Kontext gehört. Die angesprochene Ausnahme von der Beobachtung, daß die völkerrechtliche Methodendiskussion die Frage des auslegungsrelevanten Zusammenhangs bislang nicht diskutiert hat, findet sich in dem von Jennings und Watts bearbeiteten Werk Oppenheim’s International Law. Dort wird darauf hingewiesen, daß der Zusammenhang einer Vorschrift aus dem gesamten Vertrag besteht, es sei denn, die auszulegende Vorschrift befindet sich in einem Teil des Vertrages, der self-contained ist.263 Was Jennings und Watts mit dem Begriff self-contained ausdrücken wollen, wird durch einen Blick auf die von den beiden Autoren zur Unterstützung ihrer Ansicht angeführte Belegstelle deutlich. Jennings und Watts verweisen auf das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs zur Kompetenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die Arbeitsbedingungen von in der Landwirtschaft beschäftigten Personen zu regeln (Competence of the ILO to Regulate Agricultural Labour).264 Die Frage, ob die ILO eine entsprechende Regelungskompetenz besaß, war durch Auslegung der Satzung der ILO zu beantworten. Die Satzung der ILO war Bestandteil des Friedensvertrags von Versailles. Der Hauptzweck dieses aus 15 Teilen mit insgesamt 440 Artikeln bestehenden Friedensvertrages war die Festlegung des rechtlichen Status des Deutschen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg. Diesem Zweck waren die meisten der 15 Teile des Vertrages gewidmet.265 Eine Ausnahme davon bildete Teil XIII des Versailler Vertrages, der die Satzung der Internationalen Arbeitsorganisation enthielt,266 deren Zweck in der Schaffung von völkerrechtlich verbindlichen Normen zum Schutz von Arbeitnehmern besteht.267 Dieser von den übrigen Teilen des Vertrages verschiedene Regelungszweck von Teil XIII bedingte auch, daß sich Teil XIII im Hinblick auf die Regelungsgegenstände deut263 Jennings/Watts, Bd.1.1, S. 1273 m. Fn. 12: „The context is the treaty as a whole, not merely the sub-parargraph, Article, or section of the treaty in which the unclear term appears, unless the part of the treaty under consideration is self-contained.“ Ein entsprechender Hinweis findet sich auch bei O’Connell, Bd. 1, S. 256. 264 StIGH/PCIJ, Ser. B. No. 2 & 3, S. 1 ff. 265 Vgl. die Übersicht bei Puttkamer, WdV III, S. 516 (519). 266 Vgl. dazu Samson, EPIL II (1995), S. 1150; Puttkamer, WdV III, S. 516 (519); dies., EPIL IV (2000), S. 1277 (1280). 267 Dazu kurz Gamillscheg, WdV II, S. 38.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

lich von den übrigen Teilen des Versailler Vertrages unterschied. Während in den Teilen II – XII und XIV verschiedene Aspekte der Rechtsstellung des Deutschen Reiches geregelt wurden, errichtete Teil XIII die Internationale Arbeitsorganisation.268 Insofern unterschied sich Teil XIII also ganz wesentlich von den übrigen Teilen des Versailler Vertrages. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß ein Teil eines Vertrages self-contained ist, wenn er einen deutlich anderen Regelungszweck verfolgt und andere Sachverhalte regelt als die übrigen Teile des Vertrages, mit anderen Worten, wenn er inhaltlich abgeschlossen ist. Das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs zur Kompetenz der ILO stützt die These von Jennings und Watts, daß bei der systematischen Auslegung einer Vorschrift, die zu einem inhaltlich abgeschlossenen Vertragsteil gehört, nur solche Vorschriften heranzuziehen sind, die ebenfalls aus diesem Teil des Vertrags stammen. In diesem Gutachten erklärte der Gerichtshof einerseits, daß bei der Vertragsauslegung der Vertrag als Ganzes berücksichtigt werden muß.269 An anderer Stelle brachte der Gerichtshof dann aber zum Ausdruck, daß er für die Zwecke der Auslegung überhaupt nur Teil XIII des Versailler Vertrags als „Vertrag“ betrachtete, nicht jedoch andere Teile des Versailler Vertrags.270 Damit brachte das Gericht auch zum Ausdruck, daß nur der inhaltlich abgeschlossene Teil XIII den auslegungsrelevanten Kontext für Vorschriften aus diesem Teil bildet. Diesen Gedanken haben Jennings und Watts aufgegriffen und verallgemeinert. Die auf dieser Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs beruhende These von Jennings und Watts und die im Zusammenhang mit der Spruchpraxis des Appellate Body der WTO gemachten Beobachtungen stimmen in gewisser Weise überein, wenngleich die These von Jennings und Watts weniger differenziert ist als die Spruchpraxis des Appellate Body. Die entscheidende Gemeinsamkeit besteht indes darin, daß sowohl Jennings und Watts als auch der Appellate Body nur solche Vorschriften zum auslegungsrelevanten Kontext einer Vorschrift zählen, die zu 268 Teil I des Versailler Vertrages errichtete den Völkerbund, Teil XV des Vertrages enthielt diverse Schlußbestimmungen; vgl. zu den einzelnen Teilen im Überblick Puttkamer, WdV III, S. 516 (519). 269 S. 23: „In considering the question before the Court (. . .), it is obvious that the Treaty must be read as a whole, and that its meaning is not to be determined merely upon particular phrases (. . .).“ (Hervorhebung vom Verfasser). 270 S. 35: „But the context is the final test, and in the present instance the Court must consider the position in which these words are found and the sense in which they are employed in Part XIII of the Treaty of Versailles.“ S. 39: „As regards the inclusion of agriculture, the Court is unable to find in Part XIII read as a whole any real ambiguity.“ (Hervorhebungen vom Verfasser).

2. Kap.: Die Systematische Auslegung

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dieser eine inhaltliche Verbindung aufweisen, die über die gemeinsame Stellung innerhalb desselben völkerrechtlichen Vertrags hinausgeht.

E. Abschließende Bewertung Die Vorgehensweise des Appellate Body im Rahmen der systematischen Auslegung der WTO-Übereinkommen bewegt sich innerhalb der methodentheoretischen und normativen Vorgaben des Völkerrechts. Dabei hat der Appellate Body die Methodendiskussion um einen bisher auch im völkerrechtlichen Schrifttum nur vereinzelt diskutierten Aspekt bereichert, nämlich um die Frage, unter welchen Voraussetzungen, eine Vorschrift Bestandteil des auslegungsrelevanten Kontextes einer zu interpretierenden Vorschrift ist. Insgesamt ist die systematische Interpretation des Appellate Body durch ein hohes Maß an Kreativität gekennzeichnet. Damit steht das Vorgehen im Rahmen der systematischen Auslegung in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Vorgehen im Rahmen der Wortlautauslegung, bei der sich der Appellate Body eng an den von Wörterbüchern gemachten Vorgaben orientiert und der eigenen Geistestätigkeit bei der Suche nach Wortbedeutungen wenig Platz einräumt. Der Grund hierfür liegt wesentlich in der Natur der systematischen Auslegung. Diese verlangt, daß sich der Interpret die Zusammenhänge der einzelnen Teile eines Vertrages bewußt macht. Dazu bedarf es zwangsläufig der intellektuellen, der geistigen Auseinandersetzung mit dem Vertrag. Während sich Wörterbücher bei der Wortlautauslegung scheinbar ohne weiteres stets verwenden lassen, stehen dem Interpreten bei der systematischen Auslegung nur wenige Hilfsmittel in Form von Regeln der Logik und sprachlichen Regeln zur Verfügung, die sich darüber hinaus einer schematischen Anwendung entziehen. Damit hängt der Umfang des Erkenntnisgewinns bei der systematischen Auslegung wesentlich von den intellektuellen Kapazitäten des Interpreten ab und von der Bereitschaft, diese einzusetzen. Die Ausführungen des Appellate Body im Rahmen der systematischen Auslegung zeugen von einer vertieften Auseinandersetzung mit der Systematik der WTO-Übereinkommen. An dieser Stelle zeigt sich schließlich, daß das gegen eine vertragliche Kodifikation der völkerrechtlichen Auslegung immer wieder vorgebrachte Argument,271 daß es sich bei der Auslegung um eine kreative freie geistige Tätigkeit handelt, zutrifft. Ob eine Vorschrift ein Argument für die Auslegung einer auszulegenden Vorschrift enthält, unterliegt keinen festen Regeln, sondern hängt wesentlich von der geistigen Kreativität und Fähigkeit des Interpreten ab, ein Auslegungsargument argumentativ zu entwickeln. 271

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. I. I.

268

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

3. Kapitel

Die Teleologische Auslegung Entsprechend den gewohnheitsrechtlichen Vorgaben setzt der Appellate Body in nicht wenigen Fällen den Auslegungsvorgang nach Abschluß von Wortlautauslegung und systematischer Auslegung mit der teleologischen Auslegung fort. Dabei ist er darum bemüht, Auslegungsargumente aus Ziel und Zweck der auszulegenden Norm, des jeweiligen Übereinkommens oder des Gesamtsystems der WTO-Übereinkommen zu gewinnen.

A. Die Verwendung von Normzweck und Vertragszweck Die allgemeinen Untersuchungen zur teleologischen Auslegung haben gezeigt, daß die jeweils auszulegende Vertragsvorschrift einen Zweck verfolgt, daß aber auch der Vertrag als Ganzes einen oder mehrere Gesamtzwecke- oder Ziele verfolgt, zu deren Erreichung die einzelnen Vorschriften eines Vertrags einen je eigenen Beitrag leisten.272 In seiner bisherigen Spruchpraxis hat sich der Appellate Body vornehmlich auf Ziel und Zweck der jeweils auszulegenden Einzelregelung gestützt. In einigen Fällen hat er daneben oder auch ausschließlich Rückgriff auf Ziel und Zweck einzelner Übereinkommen oder auf Ziel und Zweck des WTO-Systems als Ganzes genommen. I. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck einzelner Vorschriften Im Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages273 mußte der Appellate Body darüber entscheiden, ob japanische Alkoholsteuern, die unterschiedliche Steuersätze für inländische japanische und ausländische Spirituosen vorsahen, mit Art. III GATT 1994 vereinbar waren. Im Rahmen der Auslegung dieser Vorschrift stellte der Appellate Body auch Überlegungen zu Ziel und Zweck dieser Vorschrift an. Das mit dem Fall zunächst befaßte Panel hatte bemerkt, ohne daß diese Aussage für den späteren Ausgang des Verfahrens von Relevanz gewesen wäre, daß die Verpflichtung zur Inländerbehandlung in Art. III GATT 1994 im wesentlichen darauf abziele zu verhindern, daß die Mitgliedsstaaten die in den Listen gewährten Zugeständnisse (Art. II GATT 1994) unterliefen. Der Appellate Body widerlegte diese Auffassung des Panels unter Bezugnahme auf Ziel und Zweck von Art. III GATT 1994: 272 273

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. D. I. WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R (4.10.1996).

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

269

„The broad and fundamental purpose of Article III is to avoid protectionism in the application of internal tax and regulatory measures. More specifically, the purpose of Article III ‚is to ensure that internal measures not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production‘ Toward this end, Article III obliges Members of the WTO to provide equality of competitive conditions for imported products in relation to domestic products. ‚[T]he intention of the drafters of the Agreement was clearly to treat the imported products in the same way as the like domestic products once they had been cleared through customs. Otherwise indirect protection could be given‘. (. . .) The broad purpose of Article III of avoiding protectionism must be remembered when considering the relationship between Article III and other provisions of the WTO Agreement. Although the protection of negotiated tariff concessions is certainly one purpose of Article III, the statement in Paragraph 6.13 of the Panel Report that ‚one of the main purposes of Article III is to guarantee that WTO Members will not undermine through internal measures their commitments under Article II‘ should not be overemphasized. The sheltering scope of Article III is not limited to products that are the subject of tariff concessions under Article II. The Article III national treatment obligation is a general prohibition on the use of internal taxes and other internal regulatory measures so as to afford protection to domestic production. This obligation clearly extends also to products not bound under Article II. (. . .)“274

Der Appellate Body argumentierte hier mit dem breit angelegten Zweck von Art. III GATT 1994, Protektionismus zu verhindern. Dieser Zweck führt zu einem Verständnis von Art. III GATT 1994, wonach der Regelungsbereich der Vorschrift nicht nur Waren umfaßt, die in den Zugeständnislisten enthalten sind, sondern sämtliche Waren, die aus einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat importiert werden. Auch im Hormonstreit European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)275 spielten teleologische Erwägungen eine Rolle. Im Rahmen der Auslegung von Art. 3 des Übereinkommens über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (SPS) stützte der Appellate Body seine Auffassung, daß die Begriffe based on (Art. 3.1 SPS) und conform to (Art. 3.2 SPS) eine unterschiedliche Bedeutung haben, nicht nur auf die bereits dargestellten systematischen Erwägungen,276 sondern nahm auch auf Ziel und Zweck von Art. 3 SPS Bezug: „165. In the third place, the object and purpose of Article 3 run counter to the Panel’s interpretation. That purpose, Article 3.1 states, is ‚[t]o harmonize [SPS] measures on as wide a basis as possible . . .‘. The preamble of the SPS Agreement 274 275 276

Originalfußnoten des Appellate Body ausgelassen. WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R. Dazu oben im Text 2. Kap. B. I.

270

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

also records that the Members ‚[d]esir[e] to further the use of harmonized [SPS] measures between Members on the basis of international standards, guidelines and recommendations developed by the relevant international organizations . . .‘. (emphasis added) Article 12.1 created a Committee on Sanitary and Phytosanitary Measures and gave it the task, inter alia, of ‚furtherance of its objectives, in particular with respect to harmonization‘ and (in Article 12.2) to ‚encourage the use of international standards, guidelines and recommendations by all Members‘. It is clear to us that harmonization of SPS measures of Members on the basis of international standards is projected in the Agreement, as a goal, yet to be realized in the future. To read Article 3.1 as requiring Members to harmonize their SPS measures by conforming those measures with international standards, guidelines and recommendations, in the here and now, is, in effect, to vest such international standards, guidelines and recommendations (which are by the terms of the Codex recommendatory in form and nature) with obligatory force and effect. The Panel’s interpretation of Article 3.1 would, in other words, transform those standards, guidelines and recommendations into binding norms. But, as already noted, the SPS Agreement itself sets out no indication of any intent on the part of the Members to do so. We cannot lightly assume that sovereign states intended to impose upon themselves the more onerous, rather than the less burdensome, obligation by mandating conformity or compliance with such standards, guidelines and recommendations.277 To sustain such an assumption and to warrant such a far-reaching interpretation, treaty language far more specific and compelling than that found in Article 3 of the SPS Agreement would be necessary.“

Der Appellate Body untersuchte hier, inwiefern die Interpretation des Panels mit Ziel und Zweck von Art. 3 SPS vereinbar war. Diese Interpretation, nach der der Begriff based on dieselbe Bedeutung haben sollte wie der einen höheren Verpflichtungsgrad enthaltende Begriff to conform, hätte nach Ansicht des Appellate Body dazu geführt, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, ihre Maßnahmen zum Gesundheitsschutz mit den Standards und Empfehlungen der Codex Alimentarius Kommission in Übereinstimmung zu bringen.278 Gerade diese Verpflichtung ist aber nach Ansicht des Appellate Body mit dem Ziel von Art. 3 SPS nicht vereinbar. Ziel dieser Vorschrift ist die zukünftige Harmonisierung gesundheitspolizeilicher Maß277 Originalfußnote des Appellate Body ausgelassen; zum Inhalt dieser Fußnote vgl. unten 8. Kap. C. 278 Nach Art. 3.1 SPS stützen (base on) die Mitglieder ihre gesundheitspolizeilichen und pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen auf internationale Normen, Richtlinien oder Empfehlungen, soweit diese bestehen. Anhang A zum SPS definiert internationale Normen, Richtlinien oder Empfehlungen für die Nahrungsmittelsicherheit als Normen etc. der Kommission des Codex Alimentarius in bezug auf Nahrungsmittelzusätze. Die Codex Alimentarius Kommission ist ein gemeinsames Unterorgan von WHO und FAO mit Sitz in Rom. Ihre Aufgabe besteht darin, weltweit für Lebensmittelsicherheit zu sorgen und den Gesundheitsschutz der Verbraucher zu gewährleisten. Zu diesem Zweck gibt sie Empfehlungen ab, die über Art. 3 SPS in das WTO-Recht inkorporiert werden; vgl. zu diesem Thema Sander, ZeuS 3 (2000), S. 335–375.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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nahmen der Mitgliedstaaten, nicht jedoch deren sofortige Vereinheitlichung. Vor diesem Hintergrund befand der Appellate Body, daß die Interpretation des Panels, die im Ergebnis für die Mitgliedstaaten verpflichtend zu einer sofortigen Vereinheitlichung der sogenannten SPS-Maßnahmen führen würde, nicht mit dem Ziel von Art. 3 SPS vereinbar ist. II. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck der multilateralen Übereinkommen Im Gegensatz zu den soeben beschriebenen Fällen, in denen sich der Appellate Body auf Ziel und Zweck der jeweils auszulegenden Vorschrift gestützt hat, bezieht er sich in einigen Fällen auch auf Ziel und Zweck der einzelnen multilateralen Übereinkommen, in denen die auszulegenden Vorschriften enthalten sind. Im Fall United States – Measures Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India279 hatte der Appellate Body darüber zu entscheiden, ob das mit dem Fall zunächst befaßte Panel dazu verpflichtet gewesen wäre, alle von Indien erhobenen Beschwerden zu untersuchen. Indien hatte eine ganze Reihe von Aspekten einer von den Vereinigten Staaten gegen indische Textilimporte verhängten Importbeschränkung gerügt.280 Das Panel hatte einen Verstoß der amerikanischen Maßnahme gegen Art. 6.2 und 6.3 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung festgestellt.281 Eine weitergehende Überprüfung, ob die Maßnahme darüber hinaus gegen weitere Vorschriften des Abkommens verstieß, hatte das Panel jedoch unterlassen.282 Vor dem Appellate Body argumentierte Indien, daß das Panel aufgrund von Art. 11 der Vereinbarung über Regeln und Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten (DSU) dazu verpflichtet gewesen wäre, sämtliche vorgebrachten Rügen zu untersuchen. Zunächst erklärte der Appellate Body, daß der Text von Art. 11 DSU283 keinen Hinweis darauf enthält, daß Panels verpflichtet sind, alle Anträge einer beschwerdeführenden Partei zu 279

WT/DS33/AB/R (25.4.1997). Vgl. die Darstellung der Anträge Indiens im Panelbericht WT/DS33/R (6.1.1997), para. 3.1 f. 281 WT/DS33/R, para. 7.52. 282 Vgl. dazu im Panelbericht, WT/DS33/R, para. 6.6; para. 7.58. 283 Art. 11 DSU: The function of panels is to assist the DSB in discharging its responsibilities under this Understanding and the covered agreements. Accordingly, a panel should make an objective assessment of the matter before it, including an objective assessment of the facts of the case and the applicability of and conformity with the relevant covered agreements, and make such other findings as will assist the DSB in making the recommendations or in giving the rulings provided for in the covered agreements. (. . .). 280

272

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

untersuchen. Anschließend nahm der Appellate Body zum Ziel des Streitbeilegungssystems der WTO Stellung: „(. . .), such a requirement is not consistent with the aim of the WTO dispute settlement system. Article 3.7 of the DSU explicitly states: The aim of the dispute settlement mechanism is to secure a positive solution to a dispute. A solution mutually acceptable to the parties to a dispute and consistent with the covered agreements is clearly to be preferred. Thus, the basic aim of dispute settlement in the WTO is to settle disputes. This basic aim is affirmed elsewhere in the DSU. Article 3.4, for example, stipulates: Recommendations or rulings made by the DSB shall be aimed at achieving a satisfactory settlement of the matter in accordance with the rights and obligations under this Understanding and under the covered agreements. As India emphasizes, Article 3.2 of the DSU states that the Members of the WTO ‚recognize‘ that the dispute settlement system ‚serves to preserve the rights and obligations of Members under the covered agreements, and to clarify the existing provisions of those agreements in accordance with customary rules of interpretation of public international law‘ (emphasis added). Given the explicit aim of dispute settlement that permeates the DSU, we do not consider that Article 3.2 of the DSU is meant to encourage either panels or the Appellate Body to ‚make law‘ by clarifying existing provisions of the WTO Agreement outside the context of resolving a particular dispute. A panel need only address those claims which must be addressed in order to resolve the matter in issue in the dispute.“

In diesem Fall bezog sich der Appellate Body nicht wie in den bisher dargestellten Fällen auf Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift, also von Art. 11 DSU, sondern auf Ziel und Zweck des Abkommens, dem die auszulegende Vorschrift entstammt. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, daß das Ziel des DSU darin besteht, eine positive Lösung einer Streitigkeit zu erzielen, die für die Streitparteien eine zufriedenstellende Regelung darstellt. Dieses Ziel wird nach Ansicht des Appellate Body dadurch erreicht, daß die Panels bei der Beurteilung der ihnen vorgelegten Fälle eine gewisse Zurückhaltung üben und nicht alle Verstöße gegen WTO-Vorschriften aufdecken. Auch in dem bereits mehrfach beschriebenen Fall Canada – Term of Patent Protection284, in dem es um die Frage ging, ob die von Art. 33 TRIPS statuierte Mindestschutzdauer von 20 Jahren auch für vor Inkrafttreten des TRIPS-Übereinkommens eingetragene Patente gilt, bezog sich der Appellate Body bei der Auslegung von Art. 70.1 TRIPS285 auf Ziel und Zweck des TRIPS-Übereinkommens: 284

Vgl. dazu oben im Text 1. Kap. A. II., 2. Kap. A. II. 1., 2. Kap. A. II. 2., 2. Kap. B. I. 1., 2. Kap. C. II. 3. 285 Vgl. dazu bereits die Ausführungen oben 2. Kap. A. II. 1.; der Appellate Body mußte entscheiden, ob Patente, die vor dem Inkrafttreten des TRIPS eingetra-

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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„59. (. . .) If the phrase ‚acts which occurred‘ were interpreted to cover all continuing situations involving patents which were granted before the date of application of the TRIPS Agreement for a Member, including such rights as those under Old Act patents, then Article 70.1 would preclude the application of virtually the whole of the TRIPS Agreement to rights conferred by the patents arising from such ‚acts‘. This is not consistent with the object and purpose of the TRIPS Agreement, as reflected in the preamble of the Agreement.“

Ziel und Zweck des TRIPS bestätigten hier die schon mit Hilfe der Wortlautauslegung und der systematischen Auslegung gefundene Interpretation, daß die Worte acts which occurred before the date of application sich nur auf Handlungen beziehen, die bei Inkrafttreten des TRIPS schon vollständig abgeschlossen waren; Alt-Patente, deren Schutz in den zeitlichen Anwendungsbereich des TRIPS hinein reichen, sind keine vollständig abgeschlossenen Handlungen, sondern aus diesen abgeschlossenen Handlungen resultierende, fortdauernde Situationen beziehungsweise Rechte. Sie werden daher von Art. 70.1 TRIPS nicht erfaßt, weshalb die Vorschriften des TRIPSÜbereinkommens auf sie Anwendung finden. Eine andere Auslegung der Worte verstößt nach Ansicht des Appellate Bodys gegen Ziel und Zweck des TRIPS, die in der Präambel zum Ausdruck kommen. Ohne dies näher auszuführen bezog sich der Appellate Body dabei offensichtlich auf den ersten Absatz der Präambel, in der die Mitglieder die Notwendigkeit anerkennen, „einen wirksamen und angemessenen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums zu fördern sowie sicherzustellen“.286 III. Die Berücksichtigung von Ziel und Zweck des WTO-Übereinkommens Sinn und Zweck des WTO-Übereinkommens zog der Appellate Body schließlich im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated287 Coconut288 bei der Auslegung von Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen heran. In diesem Fall stellte sich die Frage, ob Art. VI GATT 1994 neben den Vorschriften des Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen als Prüfungsmaßstab für Ausgleichszölle in Betracht kommt, die zur Abwehr von Dumping verhängt werden. gen worden waren, deren Schutz aber bei Inkrafttreten des TRIPS noch nicht abgelaufen war, acts which occurred before the date of application im Sinne von Art. 70.1 TRIPS waren. Dies hätte dazu geführt, daß diese Patente nicht in den Anwendungsbereich des TRIPS gefallen wären. 286 „(. . .) the need to promote effective and adequate protection of intellectual property rights (. . .)“. 287 Dt.: getrocknet. 288 WT/DS22/AB/R (21.2.1997).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Diese Frage war deshalb von Bedeutung, weil der von den Philippinen im Fall gerügte brasilianische Ausgleichszoll aufgrund von Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen nicht in den zeitlichen Anwendungsbereich des Übereinkommens fiel. Diese Vorschrift bestimmt, daß das Übereinkommen nur auf Ausgleichszölle anwendbar ist, deren Verhängung nach Inkrafttreten des Übereinkommens initiiert wurden. Die von Brasilien durchgeführten Untersuchungen, die schließlich zu der Verhängung des Ausgleichszolls führten, waren jedoch bereits vor Inkrafttreten des Übereinkommens eingeleitet worden, wenn auch der Zoll selbst erst nach dessen Inkrafttreten verhängt wurde. Die Philippinen hätten den Ausgleichszoll vor den Organen der WTO daher nur rügen können, wenn Art. VI GATT 1994 unabhängig von den Vorschriften des Übereinkommens anwendbar gewesen wäre. Seinem Wortlaut nach bestimmt Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, daß nur die Vorschriften des Übereinkommens den rechtlichen Rahmen für Ausgleichsmaßnahmen bilden.289 Der Appellate Body ließ es indes nicht bei der Wortlautauslegung bewenden. Im Rahmen der teleologischen Auslegung bemerkte der Appellate Body mit Blick auf den Zweck des WTO-Abkommens: „3. Object and Purpose of the WTO Agreement The fact that Article VI of the GATT 1947 could be invoked independently of the Tokyo Round SCM Code under the previous GATT system does not mean that Article VI of GATT 1994 can be applied independently of the SCM Agreement in the context of the WTO. The authors of the new WTO regime intended to put an end to the fragmentation that had characterized the previous system. This can be seen from the preamble to the WTO Agreement which states, in pertinent part: Resolved, therefore, to develop an integrated, more viable and durable multilateral trading system encompassing the General Agreement on Tariffs and Trade, the results of past trade liberalization efforts, and all of the results of the Uruguay Round of Multilateral Trade Negotiations. Article II:2 of the WTO Agreement also provides that the Multilateral Trade Agreements are ‚integral parts‘ of the WTO Agreement, ‚binding on all Members‘. The single undertaking is further reflected in the articles of the WTO 289 WT/DS22/AB/R, IV.E.1; Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen lautet: „Subject to paragraph 4, the provisions of this Agreement shall apply to investigations, and reviews of existing measures, initiated pursuant to applications which have been made on or after the date of entry into force for a Member of the WTO Agreement.“ (Hervorhebung vom Verfasser) Der Appellate Body hatte die Worte the provisions of this Agreement im Rahmen der Wortlautauslegung als ausschließlich auf das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen Bezug nehmend verstanden; vgl. dazu noch unten 9. Kap. C.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

275

Agreement on original membership, accession, non-application, acceptance and withdrawal. Furthermore, the DSU establishes an integrated dispute settlement system which applies to all the ‚covered agreements‘, allowing all the provisions of the WTO Agreement relevant to a particular dispute to be examined in one proceeding.“

Ähnlich wie zuvor die systematische Auslegung290 ergab die an Ziel und Zweck des WTO-Abkommens orientierte Auslegung, daß Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen keinesfalls bestimmt, daß allein die Vorschriften dieses Abkommens Prüfungsmaßstab für Ausgleichszölle sind. Vielmehr bedingen Ziel und Zweck des WTOÜbereinkommens, die darin bestehen, ein einheitliches Normengefüge für die Abwicklung des Welthandels zu errichten, daß die tatbestandlich einschlägigen Vorschriften des Übereinkommens und Art. VI GATT 1994 nebeneinander Anwendung finden. Ein anderes Verständnis würde nach Ansicht des Appellate Body zu einer Zersplitterung des WTO-Systems führen und dem erklärten Ziel zuwiderlaufen. IV. Zusammenfassung Die Spruchpraxis des Appellate Body entspricht den Vorgaben der völkerrechtlichen Methodenlehre zur teleologischen Auslegung. In seiner bisherigen Spruchpraxis tendiert der Appellate Body überwiegend dazu, Ziel und Zweck der jeweils auszulegenden Vorschrift bei der Auslegung heranzuziehen. Ziel und Zweck der jeweiligen Übereinkommen oder des WTOÜbereinkommens spielen im Rahmen der teleologischen Auslegung eine eher untergeordnete Rolle. Dieser Befund deutet darauf hin, daß der Appellate Body zunächst untersucht, ob Ziel und Zweck der auszulegenden Norm selbst eine zur Beantwortung der Auslegungsfrage relevante Aussage enthalten. Nur in denjenigen Fällen, in denen er in Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift keine aussagekräftige Antwort findet, setzt er die teleologische Auslegung auf der nächsten Ebene fort. Im nun folgenden Abschnitt soll dementsprechend untersucht werden, wie der Appellate Body bei der Bestimmung von Ziel und Zweck einzelner Vorschriften beziehungsweise der jeweiligen Übereinkommen vorgeht.

290

Dazu ebenfalls unten 9. Kap. C.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

B. Quellen für die Bestimmung von Normzweck und Vertragszweck In der völkerrechtlichen Methodendiskussion wird gefordert, daß Normzweck und Vertragszweck auf Grundlage des Vertragstextes bestimmt werden müssen. Außerhalb des Vertragstextes liegende Zwecke dürften – von wenigen Ausnahmefällen abgesehen – bei der Auslegung nicht berücksichtigt werden.291 Wenngleich sich diese Ansicht nicht im Wortlaut von Art. 31 WVRK niedergeschlagen hat, besteht diesbezüglich weitgehender Konsens, so daß auch der Appellate Body der Forderung unterliegt, Ziel und Zweck der von ihm auszulegenden Vorschriften und Übereinkommen auf Grundlage des Textes der Übereinkommen zu bestimmen. I. Der Vertragstext als Grundlage der Bestimmung von Normzweck und Vertragszweck In der Mehrzahl der Fälle, in denen der Appellate Body Ziel und Zweck der auszulegenden Norm oder eines der Übereinkommen bei seiner Interpretation berücksichtigt, bilden zum WTO-System gehörende Vertragstexte die Grundlage bei der Bestimmung von Ziel und Zweck. Im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products292, in dem sich die Frage der Auslegung der Worte as result of unforeseen developments in Art. XIX.1 GATT 1994 stellte, führte der Appellate Body im Anschluß an die Wortlautauslegung293 zu Ziel und Zweck dieser Vorschrift aus: „87. This reading of these clauses is also confirmed by the object and purpose of Article XIX of the GATT 1994. The object and purpose of Article XIX is to allow a Member to re-adjust temporarily the balance in the level of concessions between that Member and other exporting Members when it is faced with ‚unexpected‘ and, thus, ‚unforeseen‘ circumstances which lead to a product ‚being imported‘ in ‚such increased quantities and under such conditions as to cause or threaten serious injury to domestic producers . . . of like or directly competitive products‘. This allows an importing Member to give the domestic industry in question enough time to adjust to the new competitive conditions caused by the increased imports. (. . .)“

Hier gewann der Appellate Body Ziel und Zweck von Art. XIX GATT 1994 aus dem Wortlaut der Vorschrift. Wie sich bereits der mehrmaligen 291

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. D. II. 1. WT/DS98/AB/R. 293 Vgl. dazu oben im Text 1. Kap. A. II.; die systematische Auslegung in paras. 85, 86 vermag nicht zu überzeugen. 292

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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Verwendung von Anführungszeichen in der zitierten Berichtspassage entnehmen läßt, zitierte der Appellate Body die Vorschrift wörtlich und bestimmte auf diese Weise ihren Zweck. Ähnlich verfuhr der Appellate Body in dem bereits dargestellten Fall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones).294 Dort ermittelte er, daß der Zweck von Art. 3 SPS darin besteht, eine möglichst weitgehende Harmonisierung der gesundheitspolizeilichen Maßnahmen zu erreichen. Dabei griff der Appellate Body den Wortlaut von Art. 3.1 SPS auf, den er wörtlich zitierte. Darüber hinaus verwies das Gremium auf die Präambel des SPS-Übereinkommen, in der die Mitglieder den Wunsch äußern, „die Anwendung von gesundheitspolizeilichen (. . .) Maßnahmen zu fördern, die zwischen den Mitgliedern (. . .) harmonisiert werden.“ Auch der Präambel des SPS-Übereinkommens konnte der Appellate Body den Gedanken der angestrebten Harmonisierung gesundheitspolizeilicher Maßnahmen entnehmen. Auch im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Products295 gewann der Appellate Body Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift aus der Präambel des Übereinkommens, in dem die Vorschrift steht. In diesem Fall mußte das Gremium den in Art. 70.8 lit. a TRIPS enthaltenen Begriff means296 interpretieren. Art. 70.8 TRIPS enthält eine Regelung darüber, welche Anforderungen die Rechtsordnung eines Entwicklungslands, das von bestimmten TRIPS-Verpflichtungen während einer Übergangsphase freigestellt ist,297 erfüllen muß. Dabei bestimmt Art. 70.8 lit. a TRIPS, daß das Mitglied, selbst wenn es nicht verpflichtet ist, im Zeitpunkt des Inkrafttretens des TRIPS Patentschutz für Arzneimittel zu gewähren, gleichwohl eine Möglichkeit schaffen muß, der es Rechteinhabern ermöglicht, ihre Patentanmeldungen einzureichen. Im Fall war streitig, wie diese Möglichkeit konkret ausgestaltet sein muß. Zunächst untersuchte der Appellate Body, teilweise unter Berufung auf die Ausführungen des Panels,298 die Systematik von Art. 70.8 TRIPS.299 Dabei ergab sich, 294

WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R; vgl. dazu oben 2. Kap. B. I. 1. WT/DS50/AB/R (19.12.1997). 296 Dt.: Möglichkeit. 297 Teil IV des TRIPS enthält Übergangsregeln für Entwicklungsländer und für Staaten, die sich im Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft befinden. 298 WT/DS50/R (5.9.1997). 299 „56. Paragraphs (b) and (c) of Article 70.8 constitute part of the context for interpreting Article 70.8(a). Paragraphs (b) and (c) of Article 70.8 require that the ‚means‘ provided by a Member under Article 70.8(a) must allow the filing of applications for patents for pharmaceutical and agricultural chemical products from 1 January 1995 and preserve the dates of filing and priority of those applications, so that the criteria for patentability may be applied as of those dates, and so that the 295

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

daß die „Möglichkeit“ so beschaffen sein muß, daß sich das Datum der Anmeldung einer Erfindung bei der Patentbehörde zweifelsfrei nachvollziehen läßt.300 Im Anschluß daran machte der Appellate Body die folgenden Ausführungen: 57. On this, the Panel is clearly correct. The Panel’s interpretation here is consistent also with the object and purpose of the TRIPS Agreement. The Agreement takes into account, inter alia, ‚the need to promote effective and adequate protection of intellectual property rights‘38. We believe the Panel was correct in finding that the ‚means‘ that the Member concerned is obliged to provide under Article 70.8(a) must allow for ‚the entitlement to file mailbox applications and the allocation of filing and priority dates to them‘. Furthermore, the Panel was correct in finding that the ‚means‘ established under Article 70.8(a) must also provide ‚a sound legal basis to preserve novelty and priority as of those dates‘. These findings flow inescapably from the necessary operation of paragraphs (b) and (c) of Article 70.8. Note: 38 Preamble to the TRIPS Agreement.“

Das Erfordernis, einen innerstaatlichen Mechanismus zu schaffen, der es auch im Nachhinein erlaubt, das Datum einer Patentanmeldung zweifelsfrei nachzuvollziehen, steht nach Ansicht des Appellate Body auch in Übereinstimmung mit Ziel und Zweck des TRIPS. Diese bestehen darin, der „Notpatent protection eventually granted is dated back to the filing date. In this respect, we agree with the Panel that, . . . in order to prevent the loss of the novelty of an invention . . . filing and priority dates need to have a sound legal basis if the provisions of Article 70.8 are to fulfil their purpose. Moreover, if available, a filing must entitle the applicant to claim priority on the basis of an earlier filing in respect of the claimed invention over applications with subsequent filing or priority dates. Without legally sound filing and priority dates, the mechanism to be established on the basis of Article 70.8 will be rendered inoperational.“ 300 Ein Entwicklungsland muß gewährleisten, daß während der Übergangsphase angemeldete Patente, die erst nach Ablauf der Übergangsphase eingetragen werden, auf ihre Patentfähigkeit im Zeitpunkt der Anmeldung hin untersucht werden. Dies setzt voraus, daß der Zeitpunkt der Anmeldung auch nachträglich noch feststellbar ist, auch wenn die Prüfung der Patentfähigkeit erst später geschieht. Darüber hinaus muß gewährleistet sein, daß ein Antragsteller gegebenenfalls Priorität in Anspruch nehmen kann. (Der Begriff der Priorität entstammt dem Patentrecht: Entwickelt ein Patentinhaber seine Erfindung fort, so hat er innerhalb bestimmter Fristen die Möglichkeit, die weiterentwickelte Erfindung unter dem Datum der Ersteintragung eintragen zu lassen. Dieses Datum ist dann auch ausschlaggebend bei der Beurteilung, ob die neuerliche Erfindung patentfähig ist. In der Zwischenzeit von Anderen als dem Erfinder gemachte Erfindungen bleiben insofern unberücksichtigt. Internationale Abkommen sehen grundsätzlich auch die Möglichkeit grenzüberschreitender, d.h. äußerer Prioritäten vor. Dabei wird die Erfindung zunächst in Staat A eingetragen. Die weiterentwickelte Erfindung wird unter dem Datum des Ersteintrags in Staat B eingetragen.) Auch dafür ist es erforderlich, daß der Tag der Anmeldung in nachhinein verifizierbar ist.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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wendigkeit, einen wirksamen und angemessenen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums zu fördern“ Rechnung zu tragen. Mit der so formulierten Zielbestimmung des TRIPS griff der Appellate Body eine Formulierung aus der Präambel des TRIPS auf. Ebenso ging der Appellate Body in der bereits dargestellten Berichtspassage im Fall Canada – Term of Patent Protection.301 Dort erklärte er, daß eine bestimmte Auslegung von Art. 70.1 TRIPS zu Konsequenzen führen würde, die nicht im Einklang mit dem in der Präambel zum Ausdruck gebrachten Zweck des TRIPS stünden. In den beiden ebenfalls bereits dargestellten Fällen United States – Measures Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India302 und Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut303 ermittelte der Appellate Body das Ziel des Übereinkommens, dessen Vorschriften er jeweils interpretierte, mit Hilfe einzelner Vorschriften des jeweiligen Abkommens. In United States – Measures Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India zog er einzelne Absätze von Art. 3 DSU heran, um den Zweck der Streitbeilegung und damit auch den Zweck des DSU zu bestimmen. Im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut nahm er bei der Bestimmung des Zwecks des WTO-Abkommens – Schaffung eines integrierten, einheitlichen Systems – nicht nur Bezug auf die Präambel des WTO-Übereinkommens, sondern auch auf einzelne Vorschriften dieses Abkommens, deren Wortlaut sich dieser Gedanke ebenfalls entnehmen läßt. Sowohl im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas304 als auch im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry305 mußte der Appellate Body die im Handel mit Dienstleistungen wie auch im Warenhandel geltende Meistbegünstigungsklausel auslegen. Im Bananenstreit führte er im Zusammenhang mit der Frage, ob Art. II.1 GATS auch de facto-Benachteiligungen ausländischer Dienstleistungen verbietet,306 im Anschluß an die systematische Auslegung zu Ziel und Zweck von Art. II.1 GATS aus: „233. (. . .) Moreover, if Article II was not applicable to de facto discrimination, it would not be difficult – and, indeed, it would be a good deal easier in the case 301

WT/DS170/AB/R; vgl. dazu soeben oben A. II. WT/DS33/AB/R; vgl. dazu soeben oben A. II. 303 WT/DS22/AB/R; vgl. dazu soeben oben A. III. 304 WT/DS27/AB/R; vgl. dazu oben im Text 2. Kap. B. I. 2., 2. Kap. C. I., 2. Kap. C. II. 1., 2. Kap. C. II 2. 305 WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R; vgl. dazu oben im Text 2. Kap. A. II. 3., 2. Kap. B. I. 1., 2. Kap. B. I. 2. 306 Vgl. zu dieser Frage bereits oben im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung 2. Kap. B. I. 2. 302

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

of trade in services, than in the case of trade in goods – to devise discriminatory measures aimed at circumventing the basic purpose of that Article.“

Hier brachte der Appellate Body zum Ausdruck, daß der Zweck der Meistbegünstigungsklausel darin besteht, diskriminierende Maßnahmen zu verhindern. Diese Ansicht wiederholte er im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry bei der Auslegung von Art. I.1 GATT 1994: „84. The object and purpose of Article I:1 supports our interpretation. That object and purpose is to prohibit discrimination among like products originating in or destined for different countries. The prohibition of discrimination in Article I:1 also serves as an incentive for concessions, negotiated reciprocally, to be extended to all other Members on an MFN basis.“

In beiden Fällen machte der Appellate Body nicht kenntlich, worauf er seine Ansicht gründet, daß die Meistbegünstigungsklausel den Zweck verfolgt, Diskriminierungen zwischen gleichartigen Waren oder Dienstleistungen unterschiedlicher Herkunft zu verhindern. Allerdings erklären sowohl die Präambel des GATT 1994 als auch die Präambel des WTO-Übereinkommens die Beseitigung von Diskriminierungen zum Ziel des multilateralen Handelssystems, so daß sich vermuten läßt, daß der Appellate Body auf diese beiden Textpassagen zurückgegriffen hat. Darüber hinaus stellt diese Zweckbestimmung aber auch gesichertes völkerrechtliches Allgemeingut dar.307 307 Sowohl der Internationale Gerichtshof (IGH), als auch die Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (ILC) und das einflußreiche Institut de Droit International haben den Zweck von Meistbegünstigungsklauseln derart bestimmt. Der IGH erklärte im Fall der amerikanischen Staatsangehörigen in Marokko die Absicht von Meistbegünstigungsklauseln bestünde darin „to establish and maintain at all times fundamental equality without discrimination as between countries concerned“ (Case concerning the nationals of the United States of America in Morocco, ICJ Rep. 1952, S. 176 (192) [27.8.1952]). Der IGH vertrat hier die Ansicht, daß Meistbegünstigungsklauseln darauf abzielen, Diskriminierungen zwischen Staaten zu verhindern und Gleichheit zu gewährleisten. Auch die ILC hat den Zweck von Meistbegünstigungsklauseln auf diese Weise bestimmt. In den Jahren 1968 bis 1978 diskutierte die ILC das Thema „Meistbegünstigungsklausel“ und legte der Generalversammlung 1978 einen 30 Artikel umfassenden Entwurf einer internationalen Vereinbarung über Meistbegünstigungsklauseln vor. In ihrem Kommentar zu diesem Entwurf erklärte die ILC „(t)he most-favoured-nation clause, in the Commission’s view, may be considered as a technique or means for promoting the equality of States, or non-discrimination.“ (YBILC 1978, II[2], S. 11, § 49). Schließlich äußerte sich auch das Institut de Droit International zum Zweck der Meistbegünstigungsklausel in ähnlicher Weise. In dem von Pescatore zu diesem Thema angefertigten Bericht heißt es „(. . .) la clause met en œuvre l’idée générale de non-discrimination ou d’égalité de traitement.“ (Ann.IDI 53/I [1969], S. 1 [22]). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß im Völkerrecht weithin anerkannt ist, daß die Meistbegünstigungsklausel das Ziel verfolgt, Diskriminierung zwischen Staaten zu verhindern; vgl. allgemein auch Ustor, EPIL III (1997), S. 468 (472 f.).

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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Auch bei der Auslegung der in Art. 12.2 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen enthaltenen Worte all pertinent information308 im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products309 zog der Appellate Body Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift heran, die er aus einer Vorschrift des WTO-Systems gewann: „111. With respect to the object and purpose of Article 12, we agree with the Panel that: . . . the notification serves essentially a transparency and information purpose. In ensuring transparency, Article 12 allows Members through the Committee on Safeguards to review the measures. Another purpose of the notification of the finding of serious injury and of the proposed measure is to inform Members of the circumstances of the case and the conclusions of the investigation together with the importing country’s particular intentions. This allows any interested Member to decide whether to request consultations with the importing country which may lead to modification of the proposed measure(s) and/or compensation. We believe that the purpose of notification is better served if it includes all the elements of information specified in Articles 12.2 and 4.2 (. . .)“

Hier vertrat der Appellate Body, daß die in Art. 12 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen enthaltene Verpflichtung, dem Ausschuß für Schutzmaßnahmen bestimmte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Verhängung von Schutzmaßnahmen zu notifizieren, dazu dient, eine größere Transparenz dieser Maßnahmen herzustellen. Damit bestätigte der Appellate Body ausdrücklich die Ausführungen des mit der Angelegenheit befaßten Panels.310 Das Panel hatte die These, daß Art. 12 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen der Erzielung größtmöglicher Transparenz dient, mit einem Hinweis auf den ebenfalls zum WTO-System gehörenden „Beschluß zu den Notifikationsverfahren“311 begründet, in dessen Präambel die Mitglieder sich dazu bekennen, durch Notifikationsverfahren zur Transparenz ihrer Handelspolitik beitragen zu wollen. Die Inbezugnahme dieses 308

WT/DS98/AB/R. Vgl. dazu oben 2. Kap. B. I. 1. 310 WT/DS98/R (21.6.1999) para. 7.126: „The term ‚pertinent information‘ ought to be interpreted taking into account the context of Article 12 and the object and purpose of the Agreement on Safeguards and its notification requirements. We think that the notification serves essentially a transparency and information purpose. In ensuring transparency475, Article 12 allows Members through the Committee on Safeguards to review the measures. (. . .)“. In Fußnote 475 bemerkt das Panel: „We recall the need for transparency of Members’ actions as emphasized in the Marrakesh Decision on Notification Procedures.“ 311 Dieser Beschluß bildet nach § 1 der Schlußakte von Marrakesch gemeinsam mit dem WTO-Übereinkommen und weiteren Abkommen einen integrierenden Bestandteil der Schlußakte von Marrakesch. 309

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Ministerbeschlusses bei der Bestimmung von Ziel und Zweck von Art. 12 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen stellt insofern eine Besonderheit dar, als daß sich der Appellate Body hier ausnahmsweise nicht des Textes des Abkommens bediente, in dem die auszulegende Vorschrift enthalten war, sondern eine relativ fern liegende Vorschrift des WTO-Systems heranzog. II. Außervertragliche Grundlagen der Bestimmung von Normzweck und Vertragszweck In einigen Fällen bestimmt der Appellate Body Ziel und Zweck einzelner Vorschriften oder der jeweils relevanten WTO-Übereinkommen nicht mit Hilfe des Vertragstextes. Vielmehr greift er dabei auf außerhalb der Texte liegende Erkenntnisquellen zurück. 1. Entstehungsgeschichte Im Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline312 mußte der Appellate Body im Zusammenhang mit der Frage, ob die gegen Art. III.4 GATT 1994 verstoßenden Regelungen des U.S. Clean Air Act unter Art. XX(g) GATT 1994 gerechtfertigt werden konnten, die einleitenden Worte von Art. XX GATT 1994, den sogenannten chapeau, auslegen. Dabei stützte er sich im wesentlichen auf Ziel und Zweck des chapeau von Art. XX GATT 1994, die er unter Zuhilfenahme der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ermittelte:313 „The chapeau by its express terms addresses, not so much the questioned measure or its specific contents as such, but rather the manner in which that measure is applied. It is, accordingly, important to underscore that the purpose and object of the introductory clauses of Article XX is generally the prevention of ‚abuse of the exceptions of [what was later to become] Article [XX].‘44 (. . .) Note: 44 EPCT/C.11/50, p. 7; quoted in Analytical Index: Guide to GATT Law and Practice, Volume I, p. 564 (1995).“

Der Appellate Body nahm hier Bezug auf die Verhandlungen, an deren Ende ursprünglich der Abschluß der International Trade Organisation (ITO) stehen sollte. Die Satzung der ITO sollte unter anderem Vorschriften über den Warenhandel enthalten. Diese Vorschriften bildeten seit 1947 das separate GATT 1947 und sollten nach Inkrafttreten der gesamten ITO-Satzung durch diese ersetzt werden. Während einer Vorbereitungskonferenz in 312 313

WT/DS2/AB/R; vgl. dazu oben 1. Kap. A. I., 2. Kap. C. II. 2. WT/DS2/AB/R, I.L.M. 35 (1996), S. 603 (626).

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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London im Jahr 1946 wurden die im übrigen bereits bestehenden Ausnahmevorschriften des späteren Art. XX GATT auf Vorschlag des Vereinigten Königreichs um den chapeau ergänzt.314 Der Vorschlag wurde mit den vom Appellate Body zitierten Worten begründet: „In order to prevent abuse of the exceptions of Article 32 . . . the following sentence should be inserted as an introduction (. . .)“315 Ausweislich dieser Begründung wurde der chapeau in Art. XX GATT aufgenommen, um zu verhindern, daß sich eine Vertragspartei in rechtsmißbräuchlicher Weise auf eine der in Art. XX GATT enthaltenen Ausnahmen beruft. Diese ursprüngliche Zielsetzung hat der Appellate Body in der hier behandelten Passage seines Berichtes aufgegriffen.316 Auch die Entstehungsgeschichte der WTO-Übereinkommen dient dem Appellate Body zur Bestimmung von Vertragszwecken. Im Fall United States – Certain Corrosion-Resistent Carbon Steel Flat Products from Germany317 bestimmte der Appellate Body den Zweck des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen unter Rückgriff auf die Ministererklärung von Punta del Este, mit der 1986 die zur WTO hinführende Uruguay-Runde offiziell eingeleitet worden war318: „73. Looking beyond the immediate context of Article 21.3, we turn to the object and purpose of the SCM Agreement. We note, first, that the Agreement contains no preamble to guide us in the task of ascertaining its object and purpose. (. . .)Taken as a whole, the main object and purpose of the SCM Agreement is to increase and improve GATT disciplines relating to the use of both subsidies and countervailing measures.65 Note: 65 We recall that the 1986 Punta del Este Ministerial Declaration, which initiated the Uruguay Round, and charted the course of the negotiations, provided that: [n]egotiations on subsidies and countervailing measures shall be based on a review of Articles VI and XVI and the MTN agreement on subsidies and countervailing measures with the objective of improving GATT disciplines relating to all subsidies and countervailing measures that affect international trade. (emphasis added) (Ministerial Declaration on the Uruguay Round, GATT Doc. No. MIN.DEC (20 September 1986), p. 7)“

314

Jackson, Law of GATT, S. 743. EPCT/C.II/50, S. 7; im Wortlaut wiedergegeben in GATT, Analytical Index, Bd. 1, S. 564; vgl. zum Analytical Index bereits oben im Text 2. Teil 2. Kap. B. I. 2. a). 316 Im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products (WT/DS58/AB/R) zitierte der Appellate Body bei der Auslegung von Art. XX GATT 1994 die hier behandelte Passage aus dem Bericht United States – Standards for Reformulated Gasoline. Dort nahm er allerdings keinen Bezug mehr auf die Verhandlungen in London. 317 WT/DS213/AB/R (28.11.2002). 318 Näher dazu Weiß/Herrmann, Rdnr. 102. 315

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

2. Verwendung von Präjudizien Wie auch bei vielen anderen Gerichten und Organen mit richterlicher Funktion kommt der Verwendung von Präjudizien in der Spruchpraxis des Appellate Body eine gewisse Bedeutung zu. Dies zeigt sich unter anderem auch bei der Bestimmung von Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschriften. Hier bezieht sich der Appellate Body sowohl auf eigene Entscheidungen als auch auf Berichte von GATT 1947-Panels. a) Selbstreferenz Die Inbezugnahme eigener Berichte kommt bei der Bestimmung von Ziel und Zweck einer Vorschrift naturgemäß nur in solchen Fällen in Frage, in denen der Appellate Body Ziel und Zweck der auszulegenden Norm bereits in einem anderen Fall bestimmt hat. Im seinem Bericht im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products319 bediente sich der Appellate Body bei der Bestimmung des Zwecks des chapeau von Art. XX GATT 1994 seiner Ausführungen zu dieser Frage im Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline320 „116. (. . .) Moreover, the Panel did not look into the object and purpose of the chapeau of Article XX. (. . .) In United States – Gasoline, we stated that it is ‚important to underscore that the purpose and object of the introductory clauses of Article XX is generally the prevention of abuse of the exceptions of [Article XX].‘ (emphasis added) The Panel did not attempt to inquire into how the measure at stake was being applied in such a manner as to constitute abuse or misuse of a given kind of exception.“

Im Fall United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline hatte der Appellate Body, wie soeben dargestellt, Ziel und Zweck des chapeau von Art. XX GATT 1994 mit Hilfe der Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestimmt, so daß auch im Shrimp-Fall die Entstehungsgeschichte als das eigentlich ausschlaggebende Indiz für die Bestimmung von Ziel und Zweck der Vorschrift gesehen werden kann. b) Berufung auf Berichte von GATT 1947-Panels In einigen Fällen greift der Appellate Body bei der Bestimmung von Ziel und Zweck von Vorschriften des GATT 1994 auf die Berichte von unter dem GATT 1947 gebildeten Panels zurück. Soweit diese Panels bereits Ziel 319 320

WT/DS58/AB/R (12.10.1998). Vgl. dazu soeben oben im Text II. 1.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

285

und Zweck der vom Appellate Body auszulegenden Vorschriften bestimmt haben, bezieht er sich auf deren Ausführungen und übernimmt deren Argumentation weitgehend. Im Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages321 bestimmte der Appellate Body zunächst Ziel und Zweck von Art. III GATT 1994 unter Berufung auf das Panel im Fall United States – Section 337 of the Tariff Act 1930:322 „The broad and fundamental purpose of Article III is to avoid protectionism in the application of internal tax and regulatory measures. More specifically, the purpose of Article III ‚is to ensure that internal measures not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production‘.33 (. . .). Note: 33 United States – Section 337 of the Tariff Act of 1930, BISD 36S/345, para. 5.10.“

Sowohl der Vergleich mit dem Text von Art. III.1 GATT 1947/94323 als auch ein Blick auf die vom GATT-Sekretariat veröffentlichte offizielle Version des Panelberichts324 zeigen, daß das GATT 1947-Panel bei seiner Bestimmung des Regelungszwecks vom Normtext von Art. III.1 inspiriert wurde. Ebenfalls im Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages untersuchte der Appellate Body Ziel und Zweck von Art. III.2 GATT 1994. Dabei bediente er sich der vom GATT 1947-Panel im ersten Alkohol-Fall Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages325 getroffenen Feststellung: „(. . .) Moreover, it is consistent with the object and purpose of Article III:2, which the panel in the predecessor to this case dealing with an earlier version of the Liquor Tax Law, Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages (‚1987 Japan – Alcohol‘), rightly stated as ‚promoting non-discriminatory competition among imported and like domestic 321

WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R; vgl. dazu soeben oben

A. I. 322

BISD 36S/345 (7.11.1989). „The contracting parties recognize that internal taxes and other internal charges, and laws, regulations and requirements affecting the internal sale, offering for sale, purchase, transportation, distribution or use of products, and internal quantitative regulations requiring the mixture, processing or use of products in specified amounts or proportions, should not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production.“ (Hervorhebung vom Verfasser). 324 „The interpretation (. . .) would therefore defeat the purpose of Art. III, which is to ensure that internal measures ‚not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production‘ (Article III:1)“ (BISD 36S/345, S. 385, para. 5.10). 325 BISD 34S/83 (10.11.1987). 323

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

products [which] could not be achieved if Article III:2 were construed in a manner allowing discriminatory and protective internal taxation of imported products in excess of like domestic products‘.43 Note: 43 Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages, BISD 34S/83, para 5.5(c).“

Während sich das GATT 1947-Panel im Fall United States – Section 337 of the Tariff Act 1930 bei der Bestimmung von Ziel und Zweck von Art. III GATT 1947 auf den Wortlaut von Art. III.1 gestützt hatte, war das GATT 1947-Panel im ersten Alkohol-Fall, auf den der Appellate Body hier ausdrücklich Bezug nahm, anders vorgegangen. Das Panel hatte bei der Bestimmung des Ziels von Art. III.4 GATT 1947 seinerseits Rückgriff auf den bereits erwähnten Panelbericht326 im Fall Italian Discrimination against Imported Agricultural Machinery genommen: „5.5(c) As stated in the 1970 Working Party Report on Border Tax Adjustments in respect of the various GATT provisions on taxation, ‚the philosophy behind these provisions was the ensuring of a certain trade neutrality‘ (BISD 18S/99). This accords with the broader objective of Article III ‚to provide equal conditions of competition once goods had been cleared through customs‘ (BISD 7S/ 64), and to protect thereby the benefits accruing from tariff concessions. This object and purpose of Article III:2 of promoting non-discriminatory competition among imported and like domestic products could not be achieved if Article III:2 were construed in a manner allowing discriminatory and protective internal taxation of imported products in excess of like domestic products.“

III. Zusammenfassung und Bewertung Der vorstehende Überblick über die bisherige Spruchpraxis des Appellate Body zeigt, daß der Appellate Body sich bei der Ermittlung von Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschriften oder der einzelnen Übereinkommen überwiegend am Vertragstext selbst orientiert. Insoweit erfüllt er die allgemeinen methodischen Vorgaben. Aber auch die Verwendung der Entstehungsgeschichte einzelner Vorschriften bei der Bestimmung von Ziel und Zweck steht in Einklang mit diesen Vorgaben. Wie gesehen,327 setzt die Bestimmung des Regelungsziels einer Norm voraus, daß der Interpret bereits ein vorläufiges Verständnis des Textes der Norm hat. Um dieses vorläufige Verständnis einer Norm zu erhalten, ist es mitunter geboten, auf die Entstehungsgeschichte der Norm zurückzugreifen. Dieses Abgehen vom Vertragstext ist der teleologischen Auslegung immanent.

326 327

BISD 7S/60; vgl. dazu oben 2. Kap. C. I. Dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. D. II. 1.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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Soweit der Appellate Body in einzelnen Fällen bei der Bestimmung von Ziel und Zweck auf Berichte von GATT 1947-Panels zurückgreift, läuft dies indes ebenfalls nicht den Grundgedanken zuwider, die hinter der Forderung nach einer strengen Textorientierung bei der Bestimmung von Ziel und Zweck stehen. Wie dargestellt, soll die strenge Textorientierung einerseits sicherstellen, daß die funktionale Trennung zwischen Normsetzer und Norminterpret nicht verschwimmt und verhindern, daß der Interpret die Grenze zur Normschöpfung überschreitet. Darüber hinaus trägt die Forderung nach einer strengen Textorientierung dem Bedürfnis der Vertragsparteien Rechnung, nicht mit vollständig unvorhersehbaren Entscheidungen des Interpreten – im Rahmen der WTO also des Appellate Body – konfrontiert zu werden. Die im Rahmen des GATT 1947 von den VERTRAGSPARTEIEN angenommenen Panel-Berichte sind Bestandteil des GATT-acquis, von dem sich „die WTO“, somit auch der DSB und sein Hilfsorgan Appellate Body, gemäß Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens leiten läßt. Im vorliegenden Zusammenhang räumen die Mitglieder der WTO dem Appellate Body durch diese Vorschrift die Befugnis ein, bei der Bestimmung von Ziel und Zweck der Vorschriften und Übereinkommen über den Vertragstext und die zu seinem Verständnis möglicherweise erforderliche Entstehungsgeschichte hinauszugehen. Der Appellate Body wird ermächtigt, zur Bestimmung von Ziel und Zweck auf den GATT-acquis zurückzugreifen. Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens erweitert damit die Kompetenzen des Appellate Body gegenüber den Mitgliedern der WTO. Darüber hinaus rückt die Vorschrift Auslegungsergebnisse, die unter Berücksichtigung eines Normzwecks zustande gekommen sind, der auf dem GATT-acquis beruht, in den Bereich des Möglichen und macht sie vorhersehbar.328 Der Vorwurf einer Kompetenzüberschreitung und daraus resultierender mangelnder Vorhersehbarkeit könnte dem Appellate Body wohl nur dann gemacht werden, wenn er auf Grundlage älterer Panel-Berichte zu Normzwecken gelangte, die nicht mit dem Wortlaut der auszulegenden Norm vereinbar wären. In diesem Fall könnte nämlich nicht mehr davon gesprochen werden, daß sich der Appellate Body, wie in Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens vorgesehen, hätte „leiten“ lassen. Ein solches Vorgehen wäre als „bedingungsloses Befolgen“ der Vorgaben des GATT 1947 einzustufen, wozu Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens den Appellate Body jedoch gerade nicht berechtigt. 328 Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens bewirkt auch, daß die Mitglieder der WTO im Rahmen ihrer individuellen Auslegung legitimerweise den GATT-acquis berücksichtigen können.

288

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

C. Die Argumentationsweise des Appellate Body im Rahmen der teleologischen Auslegung Die Untersuchung der allgemeinen methodischen Vorgaben hat ergeben, daß die Aufgabe der teleologischen Auslegung darin besteht aufzuzeigen, welche Aussagen dem Ziel und Zweck der auszulegenden Vertragsvorschrift oder des Vertrags im Hinblick auf die Bedeutung der auszulegenden Vorschrift entnommen werden können. Anders als bei der systematischen Auslegung ist die Argumentationsstruktur der teleologischen Auslegung aufgrund ihres Grundgedankens im wesentlichen vorbestimmt. Wie bereits ausgeführt,329 beruht die teleologische Auslegung auf dem Gedanken, daß sowohl ein Vertrag als auch seine einzelnen Vorschriften einen oder mehrere Zwecke verfolgen beziehungsweise die Erreichung eines bestimmten Zustands in der Lebenswirklichkeit anstreben. Nach der Bestimmung dieses Ziels mit den zuvor beschriebenen Hilfsmitteln, die den ersten Schritt der teleologischen Auslegung bildet, besteht der zweiter Schritt stets im Aufsuchen derjenigen Bedeutung des auszulegenden Wortes oder der auszulegenden Vorschrift, die den größten Beitrag zur Erreichung des ermittelten Ziels leistet. Bedingt durch die Struktur des Rechtsmittelverfahrens unterscheidet sich das Vorgehen des Appellate Body im Rahmen der teleologischen Auslegung von der so beschriebenen „allgemeinen“ teleologischen Auslegung. Gewöhnlich konkurrieren im Rechtsmittelverfahren zwei mögliche Bedeutungen des auszulegenden Wortes oder der auszulegenden Vorschrift miteinander. Dabei handelt es sich zumeist um die vom Panel vertretene Auslegung einerseits und die von der Rechtsmittel führenden Streitpartei favorisierte Auslegung andererseits. Dem Appellate Body fällt in dieser Situation die Aufgabe zu, darüber zu entscheiden, welche dieser beiden Auslegungen am ehesten zur Erreichung des Norm- oder Vertragsziels führt. Daraus ergeben sich zwei mögliche Argumentationsmuster. Der Appellate Body kann entweder die Überlegenheit der einen Bedeutungsvariante im Hinblick auf die Zielverwirklichung feststellen oder die Unterlegenheit der anderen Variante. I. Zielerreichung Die wohl am häufigsten anzutreffende Argumentationsfigur innerhalb der teleologischen Auslegung ist die „positiven Prognose“. Dabei stellt der Appellate Body die Prognose auf, daß eine der möglichen Interpretationen eines Wortes oder einer Vorschrift dazu führt, daß die Vorschrift dazu beitra329

Dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. D. I.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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gen wird, daß das zuvor ermittelte Ziel überhaupt erreicht wird beziehungsweise, daß das Ziel wirkungsvoller erreicht wird als mit einer anderen Interpretation. Sofern der Appellate Body hinsichtlich einer Auslegung zu einer solchen „positiven Prognose“ gelangt, stellt er diese in die abschließende Abwägung der Auslegungsargumente ein und verwirft die andere mögliche Bedeutungsvariante. Im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products330 untersuchte der Appellate Body, wie bereits dargestellt,331 die Frage, wie die nach Art. 70.8 lit. a TRIPS zu schaffende „Möglichkeit“ für das Einreichen von Patentanmeldungen näher ausgestaltet sein muß. 57. (. . .) The Panel’s interpretation here is consistent also with the object and purpose of the TRIPS Agreement. The Agreement takes into account, inter alia, ‚the need to promote effective and adequate protection of intellectual property rights‘38. We believe the Panel was correct in finding that the ‚means‘ that the Member concerned is obliged to provide under Article 70.8(a) must allow for ‚the entitlement to file mailbox applications and the allocation of filing and priority dates to them‘. Furthermore, the Panel was correct in finding that the ‚means‘ established under Article 70.8(a) must also provide ‚a sound legal basis to preserve novelty and priority as of those dates‘. These findings flow inescapably from the necessary operation of paragraphs (b) and (c) of Article 70.8. Note: 38 Preamble to the TRIPS Agreement.“

Hier stellte der Appellate Body fest, daß die im wesentlichen auf systematische Erwägungen gestützte Auslegung des Panels in Übereinstimmung mit Ziel und Zweck des TRIPS-Übereinkommens stand. Ziel und Zweck des TRIPS sah der Appellate Body unter anderem in der Förderung eines wirksamen und angemessenen Schutzes geistiger Eigentumsrechte. In der vom Panel geforderten Ausgestaltung der „Möglichkeit“ – insbesondere in der Bereitstellung eines Mechanismus’, der die Feststellung des Datums der Patentanmeldung erlaubt – sah der Appellate Body einen wirksamen Beitrag zur Erreichung dieses Ziels, so daß er die Auslegung des Panels bestätigte. Auch im Fall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)332 stellte der Appellate Body eine „positive Prognose“ auf. In diesem Fall stand das Gremium vor der Frage, wie der Begriff „wissenschaftliche Begründung“ in Art. 3.3 Satz 1 1. Alternative des SPS-Übereinkommens auszulegen sei. Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkom330 331 332

WT/DS50/AB/R. Oben im Text B. I. WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

mens gestattet den Mitgliedern, gesundheitspolizeiliche Maßnahmen einzuführen, deren Schutzniveau höher ist als das von entsprechenden internationalen Gremien empfohlene, wenn eine wissenschaftliche Begründung dafür vorliegt oder wenn „sich dieses höhere Niveau als Folge des von dem Mitglied gemäß den einschlägigen Bestimmungen des Artikels 5 Absätze 1 bis 8 als angemessen festgelegten (. . .) Schutzes ergibt“;333 kurz also, wenn ein Mitglied ein Verfahren zur Risikobewertung nach Art. 5 durchgeführt hat. Das Panel hatte ausgeführt, daß eine „wissenschaftliche Begründung“ stets auch der Durchführung eines Verfahrens zur Risikobewertung nach Art. 5 des SPS-Übereinkommens bedürfte. Damit hatte es der ersten Alternative von Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommen praktisch jegliche eigenständige Bedeutung genommen. Denn der Wortlaut von Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens hatte zunächst nahegelegt, daß eine solche Risikobewertung nur im Fall der der zweiten Alternative von Art. 3.3 Satz 1 erforderlich sein sollte. Bereits die systematische Auslegung stützt nach Ansicht des Appellate Body aber das Ergebnis des Panels, daß auch ein Mitglied, das sich auf eine wissenschaftliche Begründung für ein höheres Schutzniveau stützt, ein Verfahren nach Art. 5 des SPS-Übereinkommens durchführen muß.334 Im Rahmen der teleologischen Auslegung von Art. 3 des SPS-Übereinkommens führte der Appellate Body dann weiter aus: 333 Art. 3.1 SPS: Members may introduce or maintain sanitary or phytosanitary measures which result in a higher level of sanitary or phytosanitary protection than would be achieved by measures based on the relevant international standards, guidelines or recommendations, if there is scientific justification, or as a consequence of the level of sanitary or phytosanitary protection a Member determines to be appropriate in accordance with the relevant provisions of paragraph 1 through 8 of Article 5. (. . .); (Hervorhebungen vom Verfasser). 334 „175. (. . .) Nevertheless, two points need to be noted. First, the last sentence of Article 3.3 requires that ‚all measures which result in a [higher] level of . . . protection‘, that is to say, measures falling within situation (a) as well as those falling within situation (b), be ‚not inconsistent with any other provision of [the SPS] Agreement‘. ‚Any other provision of this Agreement‘ textually includes Article 5. Secondly, the footnote to Article 3.3, while attached to the end of the first sentence, defines ‚scientific justification‘ as an ‚examination and evaluation of available scientific information in conformity with relevant provisions of this Agreement . . .‘. This examination and evaluation would appear to partake of the nature of the risk assessment required in Article 5.1 and defined in paragraph 4 of Annex A of the SPS Agreement. 176. On balance, we agree with the Panel’s finding that (. . .) the European Communities was bound to comply with the requirements established in Article 5.1. We are not unaware that this finding tends to suggest that the distinction made in Article 3.3 between two situations may have very limited effects and may, to that extent, be more apparent than real. Its involved and layered language actually leaves us with no choice.“

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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„177. Consideration of the object and purpose of Article 3 and of the SPS Agreement as a whole reinforces our belief that compliance with Article 5.1 was intended as a countervailing factor in respect of the right of Members to set their appropriate level of protection. In generalized terms, the object and purpose of Article 3 is to promote the harmonization of the SPS measures of Members on as wide a basis as possible, while recognizing and safeguarding, at the same time, the right and duty of Members to protect the life and health of their people. The ultimate goal of the harmonization of SPS measures is to prevent the use of such measures for arbitrary or unjustifiable discrimination between Members or as a disguised restriction on international trade, without preventing Members from adopting or enforcing measures which are both ‚necessary to protect‘ human life or health and ‚based on scientific principles‘, and without requiring them to change their appropriate level of protection. The requirements of a risk assessment under Article 5.1, as well as of ‚sufficient scientific evidence‘ under Article 2.2, are essential for the maintenance of the delicate and carefully negotiated balance in the SPS Agreement between the shared, but sometimes competing, interests of promoting international trade and of protecting the life and health of human beings. We conclude that the Panel’s finding that the European Communities is required by Article 3.3 to comply with the requirements of Article 5.1 is correct and, accordingly, dismiss the appeal of the European Communities from that ruling of the Panel.“

Wie gewöhnlich nahm der Appellate Body zunächst eine Bestimmung von Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift vor. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, daß Ziel und Zweck von Art. 3 des SPS-Übereinkommens darin bestehen, die gesundheitspolizeilichen Maßnahmen der Mitglieder in möglichst weitem Umfang zu harmonisieren. Damit wiederholte das Gremium, was es bereits im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. 3.1 und 3.2 des SPS-Übereinkommens zu Ziel und Zweck der Vorschrift herausgearbeitet hatte.335 Anschließend führte der Appellate Body weitergehend aus, daß es Ziel der Harmonisierung ist zu verhindern, daß gesundheitspolizeiliche Maßnahmen „so angewendet werden, daß sie ein Mittel zur willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung darstellen“, wobei allerdings „kein Land daran gehindert werden soll, Maßnahmen zum Schutz des Lebens oder Gesundheit von Menschen zu treffen“; diese Maßnahmen sollen auf wissenschaftlichen Grundsätzen beruhen; ferner sollen Mitglieder nicht „gezwungen werden, das ihnen angemessen erscheinende Niveau des Schutzes zu ändern“.336 Damit besteht nach Ansicht des Appellate Body das Ziel von Art. 3 des SPS-Übereinkommens – wie wohl auch 335

Vgl. dazu soeben in para. 165 (zitiert oben im Text A. I.). Bei der Bestimmung des Ziels der Harmonisierung stützte sich der Appellate Body im wesentlichen auf (im Text mit Anführungszeichen kenntlich gemachte) Passagen aus der Präambel des TRIPS-Übereinkommens. Nur das Erfordernis, daß die Maßnahmen auf wissenschaftlichen Grundsätzen beruhen muß, entstammt Art. 2.2 des SPS-Übereinkommens. 336

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

des ganzen Übereinkommens – darin, einen Ausgleich zu gewährleisten zwischen dem Interesse exportierender Mitglieder an einem möglichst ungestörten Handel einerseits und dem Interesse importierender Mitglieder an einer wirkungsvollen Gesundheitspolitik andererseits. Die Verwirklichung des so umschriebenen Ziels sieht der Appellate Body am ehesten gewährleistet, wenn sämtliche gesundheitspolizeilichen Maßnahmen, die einen höheres Schutzniveau bezwecken als das von den internationalen Gremien empfohlene, auf einer auf wissenschaftlichen Grundlagen aufbauenden Risikobewertung beruhen.337 Demgegenüber hält der Appellate Body die Verwirklichung des Ziels von Art. 3 des SPS-Übereinkommens für weniger wahrscheinlich, wenn einer gesundheitspolizeilichen Maßnahme nur die in Art. 3.3 Satz 1 (1. Alternative) geforderte „wissenschaftliche Begründung“ zugrunde liegt, ohne daß gleichzeitig die in Art. 5 detailliert beschriebene Risikobewertung durchgeführt wurde. Teleologische Erwägungen spielten – wie gesehen – auch in der bereits dargestellten Berichtspassage im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products338 bei der Auslegung des Begriffs all pertinent information in Art. 12.2 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen eine Rolle. Der Appellate Body bestätigte dort die Ansicht des Panels, daß die in Art. 12 enthaltene Notifikationsverpflichtung der Herstellung von Transparenz und der Information der anderen Mitglieder dient.339 Anschließend führte er aus, daß der Erreichung dieses Ziels in besonders starkem Maße gedient wird, wenn ein Mitglied, das eine Schutzmaßnahme trifft, nicht nur die in Art. 12.2 des Übereinkommens genannten Informationen zur Verfügung stellt, sondern auch die in Art. 4.2 genannten Informationen, die über die Worte evidence of serious injury in Art. 12.2 inkorporiert werden. „111. (. . .) We believe that the purpose of notification is better served if it includes all the elements of information specified in Articles 12.2 and 4.2. In this way, exporting Members with a substantial interest in the product subject to a safeguard measure will be in a better position to engage in meaningful consultations, as envisaged by Article 12.3, than they would otherwise be if the notification did not include all such elements. And, the Committee on Safeguards can more effectively carry out its surveillance function set out in Article 13 of the Agreement on Safeguards. (. . .)“

Schließlich war die an Ziel und Zweck orientierte Auslegung auch im Fall Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry340 bei 337

So auch Quick/Blüthner, JIEL 2 (1999), S. 603 (615). WT/DS98/AB/R. 339 Vgl. die oben B. I. am Ende wiedergegebene Passage aus dem Bericht des Appellate Body. 338

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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der Bestimmung der Reichweite der in Art. I.1 GATT 1994 enthaltenen Meistbegünstigungsklausel bedeutsam. Hier kam der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß das Ziel der Meistbegünstigungsklausel, Diskriminierungen zu verhindern, am ehesten erreicht wird, wenn die Meistbegünstigungsklausel so ausgelegt wird, daß sie eine unterschiedliche Behandlung von Waren unterschiedlicher Herkunft verbietet. II. Zielverfehlung Neben der „positiven Prognose“ verwendet der Appellate Body in einigen Fällen auch die „negative Prognose“. Dabei prognostiziert er, daß eine bestimmte Interpretation bei der Erreichung des von einer Norm verfolgten Ziels kontraproduktiv wirkt. Dementsprechend verwirft der Appellate Body diese Interpretation. Im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas341 stellte der Appellate Body bei der Untersuchung der Frage, ob die in Art. II GATS enthaltene Meistbegünstigungsverpflichtung nur de jure-Diskriminierungen oder auch de factoDiskriminierungen zwischen Dienstleistungen unterschiedlicher Herkunft untersagt, eine „negative Prognose“ an: „233. (. . .) Moreover, if Article II was not applicable to de facto discrimination, it would not be difficult – and, indeed, it would be a good deal easier in the case of trade in services, than in the case of trade in goods – to devise discriminatory measures aimed at circumventing the basic purpose of that Article.“

Der Appellate Body prognostizierte hier, daß die Beschränkung der Meistbegünstigungsverpflichtung auf de jure-Benachteiligungen dazu führen würde, daß der grundlegende Zweck der Meistbegünstigungsklausel auf relativ einfache Art unterlaufen werden könnte. Auch aus diesem Grund verwarf der Appellate Body die von der Europäischen Gemeinschaft vorgetragene Argumentation, daß Art. II.1 GATS nur de jure-Benachteiligungen erfaßt. Im Fall Korea – Taxes on Alcoholic Beverages342 argumentierte der Appellate Body in ähnlicher Weise. Dort stellte sich die Frage, ob der im Annex zu Art. III.2 Satz 2 GATT 1994343 enthaltene Begriff a directly compe340

WT/DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R; vgl. dazu oben B. I. WT/DS27/AB/R. 342 WT/DS75/AB/R; WT/DS84/AB/R. 343 Der Text des Annexes lautet: A tax confirming to the requirements of the first sentence of paragraph 2 would be considered to be inconsistent with the provisions of the second sentence only in cases where competition was involved between, on the one hand, the taxed product and, on the other hand, a directly compe341

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

titive and substitutable product nur Waren erfaßt, die gegenwärtig auf einem bestimmten Markt miteinander im Wettbewerb stehen, oder ob der Begriff auch solche Waren erfaßt, bei denen eine Konkurrenzsituation zukünftig möglich erscheint. Zur Beantwortung dieser Frage untersuchte der Appellate Ziel und Zweck von Art. III GATT: 119. (. . .) Article III:1 sets forth the principle ‚that internal taxes . . . should not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production.‘ It is in the light of this principle, which embodies the object and purpose of the whole of Article III, that the term ‚directly competitive and substitutable‘ must be read. As we said in Japan – Alcoholic Beverages: The broad and fundamental purpose of Article III is to avoid protectionism in the application of internal tax and regulatory measures. . . . Toward this end, Article III obliges Members of the WTO to provide equality of competitive conditions for imported products in relation to domestic products. . . . Moreover, it is irrelevant that the ‚trade effects‘ of the tax differential between imported and domestic products, as reflected in the volumes of imports, are insignificant or even non-existent; Article III protects expectations not of any particular trade volume but rather of the equal competitive relationship between imported and domestic products. (emphasis added). 120. In view of the objectives of avoiding protectionism, requiring equality of competitive conditions and protecting expectations of equal competitive relationships, we decline to take a static view of the term ‚directly competitive or substitutable.‘ The object and purpose of Article III confirms that the scope of the term ‚directly competitive or substitutable‘ cannot be limited to situations where consumers already regard products as alternatives. If reliance could be placed only on current instances of substitution, the object and purpose of Article III:2 could be defeated by the protective taxation that the provision aims to prohibit. (. . .)“

Hier wies der Appellate Body darauf hin, daß durch eine Beschränkung von Art. III.2 Satz 2 GATT 1994 auf Waren, die in gegenwärtigem Wettbewerb stehen, Ziel und Zweck von Art. III GATT 1994 verfehlt würden. In diesem Fall könnte nämlich ein Mitglied, das den freien Wettbewerb bestimmter Waren durch protektionistische steuerliche Maßnahmen verhindert, sich bezüglich dieser Waren der Verpflichtung zur Inländerbehandlung entziehen. Dies würde aber dem Protektionismus, dessen Verhinderung das Ziel von Art. III GATT 1994 ist, gerade Vorschub leisten. Aus diesem Grund ließ der Appellate Body die Argumentation, die darauf abzielte, nur gegenwärtig miteinander konkurrierende Waren in den Regelungsbereich von Art. III.2 Satz 2 GATT 1994 einzubeziehen, nicht gelten. Schließlich spielte die „negative Prognose“ auch im Fall Canada – Term of Patent Protection344 bei der Klärung der Frage, ob das TRIPS-Übereintitive and substitutable product (unmittelbar konkurrierend und zum gleichen Zweck geeignet) which was not similarly taxed. 344 WT/DS170/AB/R; vgl. dazu oben B. I. sowie die weiteren Verweise dort.

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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kommen auf kanadische Alt-Patente anwendbar ist, eine Rolle. Wie erläutert, mußte der Appellate Body entscheiden, ob der Begriff acts in Art. 70.1 TRIPS auch Patente erfaßte, die vor dem Inkrafttreten des TRIPS-Übereinkommens in Kanada eingetragen worden waren, deren Schutzdauer aber noch in den Geltungszeitraum des TRIPS hineinragte. Kanada hatte diesbezüglich vorgetragen, daß diese Patenteintragungen und die daraus resultierenden Schutzrechte jeweils einheitliche „abgeschlossene Handlungen“ darstellten und daher nicht durch das TRIPS erfaßt wurden. In diesem Zusammenhang führte der Appellate Body mit Blick auf Ziel und Zweck des TRIPS-Übereinkommens aus: „59. (. . .) If the phrase ‚acts which occurred‘ were interpreted to cover all continuing situations involving patents which were granted before the date of application of the TRIPS Agreement for a Member, including such rights as those under Old Act patents, then Article 70.1 would preclude the application of virtually the whole of the TRIPS Agreement to rights conferred by the patents arising from such ‚acts‘. This is not consistent with the object and purpose of the TRIPS Agreement, as reflected in the preamble of the Agreement.“

Hier stellte der Appellate Body darauf ab, daß die von Kanada vorgetragene Auslegung des Wortes acts nicht mit Ziel und Zweck des TRIPSÜbereinkommens in Einklang stünden. Zu dieser Einschätzung kam der Appellate Body indem er sich die Folgen der kanadischen Argumentation vergegenwärtigte. Diese hätte dazu geführt, daß sämtliche vor Inkrafttreten des TRIPS-Übereinkommens eingetragene Patente nicht in den Anwendungsbereich des Übereinkommens gefallen wären. Dies wiederum hätte bedeutet, daß das TRIPS-Übereinkommen insbesondere in seinen Anfangsjahren in diesem Bereich nahezu leer gelaufen wäre. Dies hätte bedeutet, daß das Übereinkommen gerade keinen Beitrag zur Förderung und Sicherstellung „eine[s] angemessenen Schutz[es] der Rechte des geistigen Eigentums“ geleistet hätte und somit seiner Zweckbestimmung nicht gerecht geworden wäre. Auch aus diesen Gründen mußte der Appellate Body die Argumentation Kanadas ablehnen.

D. Die Wirkung der teleologischen Auslegung I. Expansive Wirkung der teleologischen Auslegung Im Rahmen der Darstellung der allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsmethodik wurde gezeigt, daß die teleologische Auslegung überwiegend expansiv wirkt. Dies bedeutet, daß das mit Hilfe der teleologischen Auslegung erzielte Ergebnis bewirkt, daß eine größere Zahl von Handlungsmöglichkeiten der Normverpflichteten am Befehl der auszulegenden Norm zu orientieren sind und damit der Regelungsbereich der Norm im Ergebnis

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

letztlich ausgedehnt wird.345 Diese Beobachtung wird auch von der Spruchpraxis des Appellate Body bestätigt. Dies soll im folgenden exemplarisch dargestellt werden. 1. Japan – Taxes on Alcoholic Beverages In dem Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages346 mußte der Appellate Body sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzen, ob verschiedene inländische japanische Branntweine und nach Japan importierte ausländische Branntweine „gleichartige Waren“ (like products) im Sinne von Art. III.2 GATT 1994 waren. Das zunächst mit der Angelegenheit befaßte Panel hatte die Praxis der meisten GATT 1947-Panels fortgesetzt347 und die Gleichheit der Spirituosen nach äußeren Merkmalen348 wie Alkoholgehalt, Einordnung im Zolltarif und Verbraucherverhalten beurteilt. Sowohl die Vereinigten Staaten als einer der Beschwerdeführer als auch Japan griffen dieses Verständnis des Begriffs like product mit ihrem Rechtsmittel an. Sie trugen vor, daß bei der Bestimmung der Gleichartigkeit zusätzlich auf die mitgliedstaatliche Differenzierung zwischen im übrigen gleichartigen inländischen und importierten Waren abzustellen sei. Nur wenn diese zum Zweck (aim) der Protektion geschehe und damit eine protektionistische Wirkung (effect) erzielt werde,349 sei die Gleichartigkeit zu bejahen, mit der Folge, daß nur dann ein Verstoß gegen Art. III.2 GATT 1994 festzustellen sei. Diese Auffassung begründeten die Rechtsmittelführer im wesentlichen mit der Systematik von Art. III GATT 1994. Die in Art. III.1 GATT 1994 enthaltenen Worte so as to afford protection to domestic production350 müßten bei der systematischen Auslegung von Art. III.2 Satz 1 GATT 1994 berücksichtigt werden.351 345

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. D. II. 3. WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R; vgl. dazu soeben oben im Text A. I., B. II. 2. b). 347 Einen Überblick über die Spruchpraxis der GATT 1947-Panels gibt Maruyama, Int’l.Law. 32 (1998), S. 651 (653 ff.). 348 Diese Praxis geht auf die Ergebnisse der im Jahr 1970 im Rahmen des GATT 1947 eingesetzten Arbeitsgruppe Working Party on Border Tax Adjustment zurück. Vgl. dazu bereits oben im Text 2. Teil 1. Kap. B. I. 1. a) und b). 349 Im Schrifttum wird dies als aims and effects test bezeichtnet; vgl. dazu Tietje, S. 235 f. 350 Art. III.1 GATT 1994: „Die Vertragsparteien erkennen an, daß die inneren Abgaben (. . .) nicht derart angewendet werden sollen, daß die inländische Erzeugung geschützt wird.“ 351 Vgl. zur Argumentation der Vereinigten Staaten und Japans Wille, http:// www.ejil.org/journal/Vol9/No1/sr1b.html; umfassende Diskussion auch bei Hudec, Int’l.Law 32 (1998), S. 619 (626–633). 346

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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Der Appellate Body begegnete diesem Argument sowohl mit systematischen als auch mit teleologischen Erwägungen: „Article III:1 informs Article III:2, first sentence, by establishing that if imported products are taxed in excess of like domestic products, then that tax measure is inconsistent with Article III. Article III:2, first sentence does not refer specifically to Article III:1. There is no specific invocation in this first sentence of the general principle in Article III:1 that admonishes Members of the WTO not to apply measures ‚so as to afford protection‘. This omission must have some meaning. We believe the meaning is simply that the presence of a protective application need not be established separately from the specific requirements that are included in the first sentence in order to show that a tax measure is inconsistent with the general principle set out in the first sentence. However, this does not mean that the general principle of Article III:1 does not apply to this sentence. To the contrary, we believe the first sentence of Article III:2 is, in effect, an application of this general principle. The ordinary meaning of the words of Article III:2, first sentence leads inevitably to this conclusion. Read in their context and in the light of the overall object and purpose of the WTO Agreement, the words of the first sentence require an examination of the conformity of an internal tax measure with Article III by determining, first, whether the taxed imported and domestic products are ‚like‘ and, second, whether the taxes applied to the imported products are ‚in excess of‘ those applied to the like domestic products. If the imported and domestic products are ‚like products‘, and if the taxes applied to the imported products are ‚in excess of‘ those applied to the like domestic products, then the measure is inconsistent with Article III:2, first sentence.“

Hier stellte der Appellate Body den Argumenten der Vereinigten Staaten und Japans zunächst seine eigenen Vorstellungen von der Systematik von Art. III GATT 1994 gegenüber. Danach ist Art. III.2 Satz 1 GATT 1994 eine Konkretisierung des in Absatz 1 zum Ausdruck kommenden allgemeinen Prinzips, zu dem auch die in Absatz 2 nicht ausdrücklich genannten Wort so as to afford protection to domestic production gehören. Ein Verstoß gegen Art. III.2 GATT 1994 stellt eo ipso auch einen Verstoß gegen das allgemeine Prinzip des Absatzes 1 dar. Dies wiederum bedingt, daß jedem Verstoß gegen Art. III.2 GATT 1994, ohne daß es dafür eines gesonderten Nachweises bedürfte, eine protektionistische Absicht auf Seiten des importierenden Staates innewohnt und daß jeder Verstoß protektionistische Wirkung gegen die Waren des Exportstaates besitzt. Im Anschluß an diese Ausführungen setzte der Appellate Body seine Überlegungen dann mit Erläuterungen zu Ziel und Zweck von Art. III.2 GATT 1994 fort. „This approach to an examination of Article III:2, first sentence, is consistent with past practice under the GATT 1947. Moreover, it is consistent with the object and purpose of Article III:2, which the panel in the predecessor to this case dealing with an earlier version of the Liquor Tax Law, Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages (‚1987 Japan – Alcohol‘), rightly stated as ‚promoting non-discriminatory compe-

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

tition among imported and like domestic products [which] could not be achieved if Article III:2 were construed in a manner allowing discriminatory and protective internal taxation of imported products in excess of like domestic products‘.“352

In diesem Abschnitt seines Berichts stellte der Appellate Body die Übereinstimmung seiner systematischen Auslegung mit der Praxis der GATT 1947-Panels353 sowie mit Ziel und Zweck von Art. III.2 GATT 1994 dar. Zur Bestimmung des Zwecks der Vorschrift rekurrierte der Appellate Body, wie gesehen,354 auf den ersten japanischen Alkohol-Fall, in dem sich das GATT 1947-Panel ebenfalls auf ein Präjudiz, nämlich den Traktorenfall gestützt hatte. Schwerpunkt der Zweckbestimmung des Appellate Body – promoting non-discriminatory competition among imported and like domestic products – ist die Förderung einer Wettbewerbssituation, in der keine Ungleichbehandlung gleichartiger importierter und einheimischer Waren stattfindet. Eine stärkere Förderung des Wettbewerbs sieht der Appellate Body dabei offensichtlich durch ein Verständnis von Art. III.2 Satz 1 GATT 1994 gewährleistet, das sämtliche nach äußerlichen Gesichtspunkten gleichartigen Waren dem Gebot der Gleichbehandlung unterwirft. Damit wendet er das Gleichbehandlungsgebot auf eine größere Anzahl von Waren als dies die Befürworter des aims and effects test tun. Nach deren Auffassung werden nur diejenigen Waren vom Diskriminierungsverbot des Art. III.2 GATT 1994 erfaßt, die von einem Mitglied aus protektionistischen Motiven und mit protektionistischem Erfolg ungleich behandelt werden. Dies schränkt den Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsgebots ein. Im Anwendungsbereich von Art. III.2 Satz 1 GATT 1994 bewirkt die auch auf teleologische Gesichtspunkte gestützte Auslegung des Appellate Body eine Beschränkung staatlicher Handlungsmöglichkeiten im Bereich der Steuer- und Abgabenpolitik. Nach der Ansicht des Appellate Body führt jede steuerliche Ungleichbehandlung gleichartiger inländischer und importierter Waren zu einem Verstoß gegen Art. III.2 Satz 1 GATT 1994. Die hinter der Besteuerung stehenden Motive und etwaige tatsächliche Auswirkungen auf den Wettbewerb berücksichtigt die Auslegung des Appellate Body nicht. Demgegenüber hätte der aims and effects test den WTO-Mit352

Fußnoten ausgelassen; vgl. dazu bereits die Ausführungen oben im Text B. II.

2. b). 353 Die überwiegende Zahl der unter dem GATT 1947 angenommenen Panel-Berichte gab dem Appellate Body Recht. Allerdings wies der Appellate Body nicht darauf hin, daß der aims and effects test in zwei Fällen von den Panles angewendet worden war. Allerdings hatten die VERTRAGSPARTEIEN nur den Bericht im Fall United States – Measures Affecting Alcoholic and Malt Beverages (BISD 39S/206) angenommen, während der Bericht United States – Taxes on Automobiles (I.L.M. 33 [1994], S. 1397 ff.) wegen des Widerspruchs der Europäischen Gemeinschaft nicht angenommen worden war; vgl. Tietje, S. 236 f.; Diem, S. 93–98. 354 Vgl. dazu oben im Text B. II. 2. b).

3. Kap.: Die Teleologische Auslegung

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gliedern die Möglichkeiten zu einer steuerlichen Ungleichbehandlung belassen, solange diese nicht protektionistische Ziele verfolgt und eine entsprechende Wirkung erzielt hätte; insbesondere die Erreichung anderer Ziele mit Hilfe von Steuern und Abgaben wäre dadurch nicht von vornherein ausgeschlossen gewesen. Vor diesem Hintergrund kann die Auslegung des Appellate Body als „expansiv“ bezeichnet werden. 2. Korea – Taxes on Alcoholic Beverages Im Fall Korea – Taxes on Alcoholic Beverages355, in dem der Appellate Body, wie dargestellt, die Frage beantworten mußte, ob die Worte a directly competitive and substitutable product (Annex zu Art. III.2 Satz 2 GATT 1994356) nur Waren erfassen, die im Zeitpunkt der Beurteilung bereits miteinander im Wettbewerb stehen, oder auch solche Waren, bei denen zukünftig ein solcher Wettbewerb möglich erscheint. Zunächst bestimmte das Gremium in enger Anlehnung an sein Ausführungen im japanischen Alkohol-Fall Ziel und Zweck von Art. III GATT 1994: „119. (. . .) Article III:1 sets forth the principle ‚that internal taxes . . . should not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production.‘ It is in the light of this principle, which embodies the object and purpose of the whole of Article III, that the term ‚directly competitive and substitutable‘ must be read. As we said in Japan – Alcoholic Beverages: The broad and fundamental purpose of Article III is to avoid protectionism in the application of internal tax and regulatory measures. . . . Toward this end, Article III obliges Members of the WTO to provide equality of competitive conditions for imported products in relation to domestic products. . . . Moreover, it is irrelevant that the ‚trade effects‘ of the tax differential between imported and domestic products, as reflected in the volumes of imports, are insignificant or even non-existent; Article III protects expectations not of any particular trade volume but rather of the equal competitive relationship between imported and domestic products. (emphasis added).

Hier betonte der Appellate Body, daß Art. III GATT 1994 die Vermeidung von Protektionismus im Wege der Besteuerung und anderer den Markt regulierender Mechanismen bezweckt. Zur Erreichung dieses Ziels verpflichte die Vorschrift die Mitglieder, inländischen und eingeführten Waren die gleichen Wettbewerbsbedingungen einzuräumen. Auch die Erwartung der Importeure in entsprechende Wettbewerbsbedingungen werde geschützt. In Anschluß an diese Beschreibung des Regelungszwecks von Art. III GATT 1994 untersuchte der Appellate Body, wie sich dieser Regelungszweck auf die Bedeutung der im Fall auszulegenden Worte auswirkt: 355 356

WT/DS75/AB/R; WT/DS84/AB/R; vgl. dazu bereits oben im Text C. II. Text des Annexes wiedergegeben oben in Fn. 343.

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„120. In view of the objectives of avoiding protectionism, requiring equality of competitive conditions and protecting expectations of equal competitive relationships, we decline to take a static view of the term ‚directly competitive or substitutable.‘ The object and purpose of Article III confirms that the scope of the term ‚directly competitive or substitutable‘ cannot be limited to situations where consumers already regard products as alternatives. If reliance could be placed only on current instances of substitution, the object and purpose of Article III:2 could be defeated by the protective taxation that the provision aims to prohibit. (. . .)“

Der Appellate Body kam hier zu dem Ergebnis, daß der vorher herausgearbeitete Zweck von Art. III GATT 1994 bedingt, daß die auszulegenden Worte a directly competitive and substitutable product nicht nur gegenwärtig im Wettbewerb miteinander stehende Waren erfassen, sondern auch Waren die in der Zukunft möglicherweise miteinander konkurrieren. Ein anderes Verständnis würde es den WTO-Mitgliedern ermöglichen, mit Hilfe von Steuern den Preis der importierten Ware künstlich in der Höhe zu halten und auf diese Weise Wettbewerb zu verhindern. Dies würde dem Zweck von Art. III GATT 1994 zuwiderlaufen. Diese Auslegung des Begriffs a directly competitive and substitutable product führt dazu, daß der Anwendungsbereich von Art. III.2 Satz 2 GATT 1994 auf Fälle ausgedehnt wird, in denen noch kein Wettbewerb zwischen inländischer und importierter Ware besteht. Auch hier führt diese Auslegung, ebenso wie im japanischen Alkohol-Fall, zu einer Einschränkung der Spielräume staatlicher Steuerpolitik. Ein anderes Verständnis der auszulegenden Worte, das deren Anwendung auf gegenwärtig konkurrierende Waren beschränkt hätte, hätte die staatliche Steuerpolitik insofern unberührt gelassen. Vor diesem Hintergrund ist es wiederum gerechtfertigt, von der expansiven Wirkung der teleologischen Auslegung zu sprechen. 3. Korea – Definitive Safeguard Measures on Import of Certain Dairy Products Bei der Untersuchung des Begriffs all pertinent information im Fall Korea – Definitive Safeguard Measures on Import of Certain Dairy Products357 wird die expansive Wirkung der teleologischen Auslegung ebenfalls deutlich. Wie bereits dargestellt, vertrat der Appellate Body in seinem Bericht die Auffassung, daß Art. 12 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen dazu dient, eine möglichst große Transparenz der von einem Mitglied verhängten Schutzmaßnahmen herzustellen. Aufgrund der Berücksichtigung dieser Zielsetzung von Art. 12 kam der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß nach der Verhängung einer Schutzmaßnahme dem Ausschuß für 357

WT/DS98/AB/R; vgl. dazu bereits oben im Text B. I.

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Schutzmaßnahmen nicht nur die in Art. 12.2, sondern auch die in Art. 4.2 des Übereinkommens für Schutzmaßnahmen erwähnten Informationen notifiziert werden müssen: „111. With respect to the object and purpose of Article 12, we agree with the Panel that: . . . the notification serves essentially a transparency and information purpose. In ensuring transparency, Article 12 allows Members through the Committee on Safeguards to review the measures. Another purpose of the notification of the finding of serious injury and of the proposed measure is to inform Members of the circumstances of the case and the conclusions of the investigation together with the importing country’s particular intentions. This allows any interested Member to decide whether to request consultations with the importing country which may lead to modification of the proposed measure(s) and/or compensation. We believe that the purpose of notification is better served if it includes all the elements of information specified in Articles 12.2 and 4.2. In this way, exporting Members with a substantial interest in the product subject to a safeguard measure will be in a better position to engage in meaningful consultations, as envisaged by Article 12.3, than they would otherwise be if the notification did not include all such elements. And, the Committee on Safeguards can more effectively carry out its surveillance function set out in Article 13 of the Agreement on Safeguards. (. . .)“

Die Erstreckung der Notifizierungspflicht auf die in Art. 4.2 des Übereinkommens genannten Informationen bewirkt, daß ein Mitglied, das eine Schutzmaßnahme verhängt, dem Ausschuß für Schutzmaßnahmen sehr viel detailliertere Angaben machen muß, als dies bei isolierter Beachtung von Art. 12.2 der Fall gewesen wäre. Auch in diesem Zusammenhang führt die teleologische Auslegung dazu, daß dem Mitglied, das eine Schutzmaßnahme gegen ein anderes Mitglied verhängt, zusätzliche Handlungspflichten auferlegt werden; insofern ist es berechtigt, auch in diesem Fall von der expansiven Wirkung der teleologischen Auslegung zu sprechen.358 358 Am Ende der hier wiedergegebenen Passage macht der Appellate Body deutlich, daß die Schaffung von Transparenz kein Selbstzweck ist, sondern wiederum anderen Zielen dient. Zum einen profitieren Mitglieder, gegen die eine Schutzmaßnahme verhängt wird, von diesen zusätzlich bereitzustellenden Informationen. Aufgrund dieser Informationen werden sie in die Lage versetzt, mit dem die Schutzmaßnahme verhängenden Mitglied in Konsultationen zu treten. Derartige Konsultationen können den Konflikt zwischen exportierendem und importierendem Mitglied nur lösen, wenn beide Mitglieder über ein hinreichendes Maß an Informationen verfügen. Zum anderen ermöglichen erst diese Informationen es dem Ausschuß für Schutzmaßnahmen, seine Aufgaben zu erfüllen, die gemäß Art. 12.1(b) des Übereinkommens unter anderem darin bestehen, zu untersuchen, ob die Verfahrensbestimmungen des Übereinkommens im Zusammenhang mit einer Schutzmaßnahme beachtet wurden.

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II. Die Beachtung der Grenze der expansiven Wirkung der teleologischen Auslegung Im Rahmen der allgemeinen methodenrechtlichen Untersuchungen wurde festgestellt,359 daß der Interpret im Rahmen der teleologischen Auslegung an eine Grenze gebunden ist. Die Einschätzung des Interpreten, daß das konkrete Ergebnis zur Erreichung des Ziels geeignet beziehungsweise geeigneter ist als eine andere Auslegung, darf nicht willkürlich zustande kommen. Vielmehr wird gefordert, daß sich diese Prognose auf kausal-empirische Erwägungen stützt und nachvollziehbar ist. Der Umgang des Appellate Body mit dieser Forderung soll im folgenden exemplarisch aufgezeigt werden. 1. Japan – Taxes on Alcoholic Beverages und Korea – Taxes on Alcoholic Beverages Im Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages360 vertrat der Appellate Body die Auffassung, daß ein Verständnis des Begriffs like product, das als tertia comparationis zur Beurteilung der Gleichartigkeit inländischer und importierter Waren nur äußerliche Kriterien verwendet, das Ziel von Art. III GATT 1994 eher verwirklicht als ein Verständnis, das Waren nur dann als gleichartig einstuft, wenn sie aus protektionistischen Motiven und mit protektionistischem Erfolg ungleich behandelt werden.361 Wie gesehen, bewirkt diese Auffassung, daß potentiell mehr Waren als gleichartig beurteilt werden und daher dem Gleichbehandlungsgebot unterfallen als dies der Fall wäre, wenn der sogenannte aims and effects test ausschlaggebend für die Beurteilung wäre. Ausgangspunkt der Überlegungen des Appellate Body war dabei, daß das Ziel von Art. III GATT 1994 in der Förderung eines nicht-diskriminierenden Wettbewerbs besteht. Das in Art. III.2 Satz 1 GATT 1994 festgelegte Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist die Verpflichtung zur Gleichbehandlung inländischer und importierter Waren im Hinblick auf Steuern und Abgaben. Dieses Mittel trägt im Grundsatz zur Erreichung des Ziels bei. Der Begriff Wettbewerb kennzeichnet einen Zustand, in dem eine unverzerrte Marktsituation von Angebot und Nachfrage vorliegt.362 Eine solche Situation liegt grundsätzlich vor, wenn der Markt völlig frei von staatlicher Ein359

Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. D. II. 3. WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R. 361 Dazu ausführlich soeben oben D. I. 1. 362 Umfassend dazu unter Hinweis auf die wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen Tietje, S. 223. 360

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flußnahme bleibt. Sofern der Staat aber beginnt, auf das Marktgeschehen Einfluß zu nehmen, etwa durch die Besteuerung von Waren,363 kann eine Verzerrung des Marktes nur dadurch verhindert werden, daß auf sämtliche Waren eines Marktes in gleicher Weise Einfluß genommen wird. Dies wird erreicht, indem der Staat, wie dies in Art. III.2 GATT 1994 für den Bereich der Steuern und Abgaben geschieht, zur Gleichbehandlung aller Waren eines Marktes verpflichtet wird. Vor diesem Hintergrund ist zu fragen, inwiefern die Auslegung des Appellate Body zur Erreichung des Ziels von Art. III GATT 1994 beiträgt. Wie gesehen, bewirkt das Verständnis des Appellate Body, daß der Kreis der gleich zu behandelnden Waren relativ größer ist als dies nach den Vorgaben des aims and effects test der Fall wäre. Dadurch entsteht für eine größere Anzahl von Waren der Zustand einer unverzerrten Marktsituation; anders ausgedrückt stehen mehr Waren zueinander in dem von Art. III GATT 1994 anvisierten Zustand des Wettbewerbs. Demnach trägt die vom Appellate Body entwickelte Auslegung zur Erreichung des Ziels von Art. III GATT 1994 in einem größeren Maße bei als die den aims and effects test favorisierende Auslegung. Ganz ähnliche Erwägungen gelten auch für die Ausführungen des Appellate Body im Fall Korea – Taxes on Alcoholic Beverages. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs des Tatbestandmerkmals a directly competitive and substitutable product bewirkt, daß mehr Waren in Wettbewerb zueinander treten und die Erwartungen der Produzenten, daß ihre Waren auf ausländischen Märkten die Chance haben, in einen fairen Wettbewerb mit inländischen Anbietern zu treten, in stärkerem Maße in Erfüllung gehen. 2. European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas Im Bananenstreit European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas364 lehnte der Appellate Body die Ansicht, daß die in Art. II GATS enthaltene Meistbegünstigungsklausel nur de jure-Diskriminierungen zwischen Dienstleistungen unterschiedlicher Herkunft untersagt, unter anderem auch mit teleologischen Überlegungen ab: „233. (. . .) Moreover, if Article II was not applicable to de facto discrimination, it would not be difficult – and, indeed, it would be a good deal easier in the case of trade in services, than in the case of trade in goods – to devise discriminatory measures aimed at circumventing the basic purpose of that Article.“ 363 Eine Einflußnahme auf die Marktsituation ist hierin insofern zu sehen, als die Besteuerung von Waren zur Erhöhung des Preises führt. 364 WT/DS27/AB/R; vgl. dazu soeben oben im Text C. II.

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Ausgangspunkt der Argumentation des Appellate Body ist hier wiederum das Ziel der auszulegenden Vorschrift. Wie zuvor festgestellt, geht der Appellate Body davon aus, daß die Meistbegünstigungsklausel Diskriminierungen zwischen Dienstleistungen unterschiedlicher Herkunft verhindern soll. Dazu bedient sie sich der Verpflichtung, alle gleichartigen Dienstleistungen ebenso zu behandeln wie die Dienstleistung, der die günstigste Behandlung zuteil wird. Damit stellt die Meistbegünstigungsklausel ein Gebot zur Gleichbehandlung beziehungsweise ein Verbot der Ungleichbehandlung auf.365 Die Auslegung des Appellate Body bewirkt, daß nicht nur de jure-Benachteiligungen, sondern auch de facto-Benachteiligungen zwischen gleichartigen ausländischen Dienstleistungen untersagt werden.366 Dadurch verringert sich die Zahl möglicher Benachteiligungen. Demzufolge erweist sich die Auslegung des Appellate Body als geeignet zur Erreichung des von der Meistbegünstigungsklausel angestrebten Ziels, Diskriminierungen zu verhindern. 3. European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones) Wie dargestellt, hatte der Appellate Body im Hormonfall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)367 aufgrund systematischer368 und vor allem auch teleologischer Erwägungen die Auffassung des Panels gestützt, wonach die Einführung eines höheren Schutzniveaus auch im Fall von Art. 3.3 Satz 1 1. Alternative des SPSÜbereinkommens der Durchführung einer Risikobewertung nach Art. 5 des SPS-Übereinkommens bedarf. Anders als in den bislang in diesem Abschnitt dargestellten Entscheidungen, ist im Hormonfall weit weniger augenfällig, inwiefern Ziel und Zweck von Art. 3 des SPS-Übereinkommens, wie vom Appellate Body behauptet, diese Entscheidung tragen. Dies bedarf einer näheren Untersuchung.369 365 Kramer, RIW 1989, S. 473 (476); vgl. zur Meistbegünstigungsverpflichtung bereits einleitend oben im Text 2. Teil 1. Kap. B. I. 1. a). 366 Dies bedeutet wiederum eine expansive Wirkung der teleologischen Auslegung, weil sie die Gestaltungsspielräume der Mitglieder bei der Ausgestaltung nationaler Rechtsakte beschränkt. 367 WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R; vgl. dazu soeben im Text C. I. 368 Vgl. die systematischen Ausführungen des Appellate Body in Fn. 334; dazu noch ausführlich unten im Text 9. Kap. C. 369 Soweit im Schrifttum die Auslegung des Appellate Body von Art. 3.3 Satz 1 des SPS Übereinkommens erörtert worden ist, sind die teleologischen Überlegungen allenfalls dargestellt, jedoch durchweg nicht diskutiert worden; vgl. stellvertretend statt vieler Quick/Blüthner, JIEL 2 (1999), S. 603 (614 f.).

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Der Schlüssel zum Verständnis der Interpretation liegt in der vom Appellate Body vorgenommenen Bestimmung von Ziel und Zweck von Art. 3 des SPS-Übereinkommens. Wie ausgeführt, stellte der Appellate Body zunächst fest, daß Art. 3 des SPS-Übereinkommens die Harmonisierung der gesundheitspolizeilichen Maßnahmen der WTO-Mitglieder bezweckt. Harmonisierung bedeutet nach der einschlägigen Definition des SPS-Übereinkommens die Festlegung gemeinsamer Standards durch verschiedene Mitglieder.370 Dadurch daß Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens den Mitgliedern gestattet, individuelle gesundheitspolizeiliche Maßnahmen einzuführen, die in ihrem Schutzniveau über das von den einschlägigen internationalen Gremien empfohlene Maß hinausgehen, läuft die Vorschrift dem vom Appellate Body identifizierten Ziel von Art. 3 des SPS-Übereinkommens zuwider. Gemeinsame Standards werden durch ein individuelles Abweichen von den Empfehlungen der internationalen Gremien gerade nicht erreicht. Vor dem Hintergrund dieses Widerspruchs zwischen Normzweck einerseits und der konkreten Regelung der Norm andererseits hätte der Appellate Body im Rahmen der teleologischen Auslegung diejenige Auslegung wählen müssen, die der Erreichung des Zwecks von Art. 3 des SPS-Übereinkommens am wenigsten entgegenwirkt. Der Versuch zu beurteilen, welche der beiden möglichen Auslegungen von Art. 3.3 Satz 1 1. Alternative des SPS-Übereinkommens dem Zweck von Art. 3 weniger abträglich ist, hätte indes ein nahezu aussichtsloses Unterfangen dargestellt. Um dies beurteilen zu können hätte der Appellate Body nämlich untersuchen müssen, welche der beiden Interpretationen geringere Abweichungen von den internationalen Standards bei der Festsetzung individueller Schutzniveaus bewirken würde. Eine solche generalisierende Prognose wäre aber aufgrund der Besonderheiten der Einzelfälle, in denen sich die Mitglieder auf Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens berufen, nicht möglich gewesen. Offensichtlich war auch der Appellate Body der Auffassung, daß der Primärzweck von Art. 3 des SPS-Übereinkommens ihn kaum zu einer Aussage über die Bedeutung des Begriffs „wissenschaftliche Begründung“ befähigen würde. Er wies nämlich darauf hin, daß die Harmonisierung gesundheitspolizeilicher Maßnahmen einem weiteren Ziel dient. Dieses Ziel beschrieb er, wie gesehen, wie folgt: „177. (. . .) The ultimate goal of the harmonization of SPS measures is to prevent the use of such measures for arbitrary or unjustifiable discrimination between Members or as a disguised restriction on international trade, without pre370 Anhang A § 2: Harmonisierung – Die Festlegung, Anerkennung und Anwendung gemeinsamer gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen durch verschiedene Mitglieder.

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venting Members from adopting or enforcing measures which are both ‚necessary to protect‘ human life or health and ‚based on scientific principles‘, and without requiring them to change their appropriate level of protection (. . .)“.

Damit deutete der Appellate Body an, daß das Ziel der Harmonisierung der SPS-Maßnahmen und damit von Art. 3 des SPS-Übereinkommens darin besteht, einen Ausgleich zu schaffen zwischen dem Interesse an einem ungestörten Warenfluß und dem Interesse, Menschen, Tiere und Pflanzen vor Gefahren zu schützen. Diese Einschätzung bestätigt der nächste Satz, in dem der Appellate Body von einer delicate and carefully negotiated balance in the SPS Agreement between the shared, but sometimes competing, interests of promoting international trade and of protecting the life and health of human beings spricht. Wie Art. 3.2 des SPS-Übereinkommens zeigt, geht das Abkommen selbst davon aus, daß es vorrangig den Empfehlungen der einschlägigen internationalen Institutionen gelingt, diesen Ausgleich herzustellen. Diese Vorschrift bestimmt nämlich, daß SPS-Maßnahmen, die diesen Empfehlungen entsprechen, weder gegen das SPS-Übereinkommen noch gegen Art. XX(g) GATT 1994 verstoßen. Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens gestattet es den WTO-Mitgliedern, im Einzelfall gesundheitspolizeiliche Maßnahmen zu treffen, die außerhalb dieses in generalisierender Weise festgelegten Gleichgewichts zwischen Interessen des Handels und Interessen des Gesundheitsschutzes liegen. Um dem Ziel von Art. 3 des SPS-Übereinkommens nicht zu widersprechen, ist es jedoch erforderlich, daß auch bei der Festlegung dieser individuellen gesundheitspolizeilichen Maßnahmen eine Berücksichtigung beider Interessen stattfindet. Der Appellate Body im Hormonfall war nun der Auffassung, daß eine sich an Art. 5 des SPS-Übereinkommens orientierende individuelle gesundheitspolizeiliche Maßnahme eher die Interessen sowohl des Handels als auch des Gesundheitsschutzes zu berücksichtigen vermag als eine SPSMaßnahme, die diese Voraussetzung nicht erfüllt. Ein Blick auf Art. 5 des SPS-Übereinkommens zeigt, daß diese Einschätzung des Appellate Body zutrifft. Art. 5 des SPS-Übereinkommens, den der Appellate Body auch im Fall der „wissenschaftlichen Begründung“ zur Anwendung kommen lassen will, regelt das Verfahren der Risikobewertung und der Festsetzung eines bestimmten Schutzniveaus.371 Der Begriff Risikobewertung bezeichnet den Vorgang, bei dem sowohl die Gefahr, die von einem Handelsgut für Menschen, Tiere und Pflanzen ausgeht, als auch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts dieser Gefahr ermittelt werden. Art. 5.2 und 5.3 des SPS-Übereinkom371

Classen, JbUTR 49 (1999), S. 345 (348 f.).

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mens schreibt recht detailliert, wenn auch nicht abschließend, vor, welche Gesichtspunkte bei der Bewertung der Gefahren für Menschen, Tiere und Pflanzen zu berücksichtigen sind.372 Art. 5.4 des SPS-Übereinkommens verpflichtet die Mitglieder, bei der Festlegung eines Schutzniveaus aufgrund der Risikobewertung stets die nachteiligen Auswirkungen auf den Handel auf ein Mindestmaß zu beschränken. Damit verlangt Art. 5 des SPS-Übereinkommens im Kern einen verhältnismäßigen Ausgleich zwischen den Interessen des Gesundheitsschutzes und den Interessen eines ungestörten Welthandels.373 Dies entspricht indes genau dem hinter dem Gedanken der Harmonisierung stehenden Ziel von Art. 3 des SPS-Übereinkommens. Wenn auch somit geklärt ist, daß die im Ausgangsverfahren vom Panel entwickelte Auslegung des Begriffs „wissenschaftliche Begründung“ dem Ziel von Art. 3 des SPS-Übereinkommens, einen Ausgleich zwischen freiem Welthandel und Gesundheitsschutz zu schaffen, entspricht, stellt dies jedoch erst den ersten Teil der Überlegungen dar, die erforderlich sind, um das Ergebnis der teleologischen Auslegung des Appellate Body nachzuvollziehen. Dieser ging, wenngleich sich dazu im Bericht keinerlei Anhaltspunkte finden, offensichtlich davon aus, daß die von der Europäischen Gemeinschaft behauptete Auslegung des Begriffs „wissenschaftliche Begründung“ weniger geeignet war, daß Ziel von Art. 3 des SPS-Übereinkommens zu erreichen. Der Vortrag der Europäischen Gemeinschaft enthielt indes überhaupt keine positive Aussage dazu, wie der Begriff zu verstehen sei und führte nicht aus, wie ein Interessenausgleich anders als durch das Verfahren nach Art. 5 des SPS Übereinkommens hätte geschehen können. Die Gemeinschaft beschränkte sich schlicht darauf, die Auslegung des Panels zu bestreiten.374 Somit war eine Alternative zur Auslegung des Panels zunächst 372

Gelbert, S. 62; Weiß/Herrmann, Rdnr. 558. Stoll, ZaöRV 54 (1994), S. 241 (290). 374 „23. The European Communities contends that the Panel’s finding that whatever the difference might be between the two exceptions in Article 3.3, a sanitary measure can only be justified under this provision if it is consistent with the requirements contained in Article 5, in effect reduces the two alternative conditions in the first sentence of Article 3.3 to ‚mere surplusage‘. According to the European Communities, Article 3.3 defines the concept of the first condition (‚scientific justification‘) in the footnote thereto without making a direct reference to Article 5, paragraphs 1 to 8, as it does with respect to the second condition (‚as a consequence of choosing a higher level of protection‘). The absence in the footnote to Article 3.3 of language referring to Articles 5.1–5.8 is in itself sufficient indication of the intention of the drafters to qualify the application of Article 5 in the case of the first condition. Thus, the European Communities asserts, the plain meaning and structure of Article 3.3 imply that the risk assessment requirements of Article 5 apply only if the second of these two alternative conditions is met.“ 373

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

nicht vorhanden. Für die Auffassung des Appellate Body spricht weiterhin, daß weder der Wortlaut von Art. 3.3 Satz. 1 1. Alternative des SPS-Übereinkommens noch die dazugehörige erläuternde Fußnote irgendeinen Hinweis darauf enthalten, entlang welcher Linien der für die Zielverwirklichung erforderliche Interessenausgleich zu vollziehen sein könnte, wenn nicht entlang der Linien des in Art. 5 des Übereinkommens vorgesehenen Verfahrens. Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen zeigt sich, daß die Entscheidung des Appellate Body, den Begriff „wissenschaftliche Begründung“ im Rahmen der teleologischen Auslegung so zu verstehen, daß er die Durchführung eines Verfahrens nach Art. 5 des SPS-Übereinkommens erfordert, ein geeignetes Mittel zur Erreichung des Ziels von Art. 3 des Übereinkommens darstellt.375 4. Zusammenfassung und Bewertung Der vorstehende exemplarische Ausschnitt aus der Spruchpraxis des Appellate Body zeigt, daß das Gremium sich im Rahmen der Grenze der teleologischen Auslegung bewegt. Stets läßt sich nachvollziehen, aufgrund welcher Überlegungen der Appellate Body eine bestimmte Auslegung als geeignetes beziehungsweise geeigneteres Mittel zur Erreichung des Normziels angesehen hat. Dabei bewegen sich die Prognosen, daß die jeweiligen Interpretationen zur Erreichung der zuvor bestimmten Norm- oder Vertragsziele geeignet sind, keineswegs außerhalb dessen, was aufgrund üblicher Lebenserfahrung vorherzusehen ist. Die vorstehenden Ausführungen haben aber auch gezeigt, daß der Appellate Body die Überlegungen, die er im Rahmen der teleologischen Ausführung angestellt hat, um das jeweilige Auslegungsergebnis zu erzielen, zumeist nur stark verkürzt wiedergibt. In der Regel beschränkt er sich darauf, das jeweils zu erreichende Ziel heraus zu arbeiten und die Feststellung zu treffen, daß eine bestimmte Interpretation zur Erreichung dieses Ziels beiträgt (positive Prognose) oder zur Verfehlung dieses Ziels führen wird (negative Prognose). Demgegenüber bleiben die hier aufgezeigten weitergehenden Überlegungen, also insbesondere eine Beschreibung auf welche Weise die als zutreffend bewertete Auslegung zur Erreichung des Ziels beiträgt, in den Berichten des Gremiums regelmäßig unausgesprochen. Insbesondere in 375 Auch in dieser Entscheidung des Appellate Body zeigt sich die expansive Wirkung der teleologischen Auslegung. Die Mitglieder werden zur Rechtfertigung eines höheren Schutzniveaus an das Verfahren nach Art. 5 des SPS-Übereinkommens gebunden. Für andere wissenschaftliche Begründungen bleibt daneben kein Raum.

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Fällen wie dem Hormonstreit, in denen sich die Überlegungen des Appellate Body nicht unmittelbar erschließen, setzt sich das Gremium mit dieser Verfahrensweise in einen gewissen inneren Widerspruch zu seinem Vorgehen bei der Wortlautauslegung. Dieses ist, wie gesehen, von dem Bemühen gekennzeichnet, eine möglichst hohe Akzeptanz für die eigenen Interpretationen zu erzielen. Gerade im Hinblick auf dieses Bemühen wirken die teilweise sehr knappen Ausführungen im Rahmen der teleologischen Auslegung eher kontraproduktiv. III. Restriktive Wirkung der teleologischen Auslegung Während in den bislang dargestellten Fällen die teleologische Auslegung meist expansiv wirkte, also den Handlungsspielraum der WTO-Mitglieder eher beschränkte, bewirkt sie in einigen Fällen das Gegenteil. Dies ist der Fall, wenn der Appellate Body zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Interpretation eines auszulegenden Worts oder Begriffs einen Zustand herbeiführen würde, dessen Erreichung von der Norm oder von dem jeweiligen Übereinkommen nicht bezweckt ist. Das augenfälligste Beispiel376 der restriktiven Wirkung der teleologischen Auslegung entstammt dem Hormonstreit European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones).377 Wie geschildert,378 hatte das Panel den Worten to base on (Art. 3.1 SPS) und to conform to (Art. 3.2 SPS) identische Bedeutung beigemessen. Der Appellate Body korrigierte das Panel bezüglich dieser Auslegung: „165. In the third place, the object and purpose of Article 3 run counter to the Panel’s interpretation. That purpose, Article 3.1 states, is ‚[t]o harmonize [SPS] measures on as wide a basis as possible . . .‘. The preamble of the SPS Agreement also records that the Members ‚[d]esir[e] to further the use of harmonized [SPS] measures between Members on the basis of international standards, guidelines and recommendations developed by the relevant international organizations . . .‘. (emphasis added) Article 12.1 created a Committee on Sanitary and Phytosanitary Measures and gave it the task, inter alia, of ‚furtherance of its objectives, in particular with respect to harmonization‘ and (in Article 12.2) to ‚encourage the use of international standards, guidelines and recommendations by all Members‘. It is clear to us that harmonization of SPS measures of Members on the basis of 376 Ein weiteres Beispiel bilden die Ausführungen des Appellate Body im Fall United States – Measure Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India (WT/DS33/AB/R; vgl. oben A. II.), in denen er aufgrund von Ziel und Zweck des DSU zu dem Ergebnis kam, daß die Panels nicht verpflichtet sind, in einem Verfahren sämtliche Rechtsfragen zu klären. 377 WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R. 378 Vgl. dazu oben im Text B. I. 1.

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international standards is projected in the Agreement, as a goal, yet to be realized in the future. To read Article 3.1 as requiring Members to harmonize their SPS measures by conforming those measures with international standards, guidelines and recommendations, in the here and now, is, in effect, to vest such international standards, guidelines and recommendations (which are by the terms of the Codex recommendatory in form and nature) with obligatory force and effect. The Panel’s interpretation of Article 3.1 would, in other words, transform those standards, guidelines and recommendations into binding norms. But, as already noted, the SPS Agreement itself sets out no indication of any intent on the part of the Members to do so. We cannot lightly assume that sovereign states intended to impose upon themselves the more onerous, rather than the less burdensome, obligation by mandating conformity or compliance with such standards, guidelines and recommendations.379 To sustain such an assumption and to warrant such a far-reaching interpretation, treaty language far more specific and compelling than that found in Article 3 of the SPS Agreement would be necessary.“

Hier begründete der Appellate Body seine divergierende Auffassung mit Ziel und Zweck von Art. 3 des SPS-Übereinkommens. Diese Vorschrift bezweckt die weitgehende Harmonisierung gesundheitspolizeilicher Maßnahmen. Das Verständnis des Panels hatte bedeutet, daß die Mitglieder ihre gesundheitspolizeilichen Maßnahmen bereits unmittelbar nach Inkrafttreten des SPS-Übereinkommens den Vorschlägen der Kodex Alimentarius Kommission hätten angleichen müssen. Eine solche Verpflichtung sah der Appellate Body gemessen an dem Ziel von Art. 3 SPS als zu weitgehend an. Damit entschied sich der Appellate Body für eine Auslegung, die die Handlungsfreiräume der Mitglieder weniger beschränkte als die vom Panel favorisierte Auslegung. Insofern läßt sich hier von einer restriktiven Wirkung der teleologischen Auslegung sprechen. Die Ursache für die restriktive Wirkung der Auslegung ist darin zu sehen, daß die vom Panel befürwortete Auslegung über den Zweck der Vorschrift, im Fall also von Art. 3 des SPS-Übereinkommens, hinausgeht und zu einen Zustand in der Lebenswirklichkeit führen würde, der von der auszulegenden Vorschrift nicht bezweckt ist.

E. Abschließende Bewertung Abschließend ist festzustellen, daß der Appellate Body sich bei der an Ziel und Zweck orientierten Auslegung im Rahmen der methodenrechtlichen Vorgaben des Gewohnheitsrechts bewegt. Bemerkenswert ist der Befund, daß sich das Gremium bei der Bestimmung von Ziel und Zweck der in den einzelnen Fällen jeweils auszulegenden Vorschriften nahezu durch379 Originalfußnote des Appellate Body ausgelassen; zum Inhalt dieser Fußnote vgl. unten im Text 8. Kap. C.

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

311

weg am Text der WTO-Übereinkommen orientiert. Nur in wenigen Ausnahmefällen, greift der Appellate Body auf außerhalb des Texts liegende Quellen zurück, ohne sich dabei jedoch in Widerspruch zu dem hinter der Forderung nach einer Textorientierung stehenden Grundgedanken der strikten Unterscheidung zwischen Normsetzer und Norminterpreten zu setzen.

4. Kapitel

Das Effektivitätsprinzip Neben Wortlautauslegung, systematischer und teleologischer Auslegung spielt in der Spruchpraxis der Appellate Body das Effektivitätsprinzip eine wichtige Rolle. In zahlreichen Fällen nimmt das Gremium auf diesen Grundsatz der Vertragsauslegung Bezug. Dabei lassen sich beide Ausprägungen des Effektivitätsprinzips, sowohl der mit dem Begriff effet utile bezeichnete Grundsatz als auch der Grundsatz ut res magis valeat quam pereat, in den Berichten des Appellate Body ausmachen.380 Dabei ist jedoch an dieser Stelle bereits darauf hinzuweisen, daß der Appellate Body terminologisch nicht zwischen dem Begriff effet utile und dem römisch rechtlichen Satz ut res magis valeat quam pereat, soweit er sie überhaupt verwendet, unterscheidet.

A. Der effet utile-Gundsatz Nach der hier zugrunde gelegten Terminologie bezeichnet der Begriff effet utile den Grundsatz, demzufolge einzelne Begriffe oder Vorschriften nicht so ausgelegt werden dürfen, daß ihnen keinerlei tatsächliche Bedeutung zukommt. Der Appellate Body wendet diesen Grundsatz in zwei Varianten an. Teilweise untersucht er, ob eine Auslegung bewirkt, daß die auszulegende Vorschrift selbst bedeutungslos wird; teilweise untersucht er, ob eine Auslegung bewirkt, daß eine andere als die auszulegende Vorschrift bedeutungslos wird.

380

Zu dieser Unterscheidung vgl. oben 1. Teil 2. Kap. G. III.

312

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

I. Das Verbot, Vorschriften im Wege der Auslegung zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren 1. Das Verbot, die auszulegende Vorschrift zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren Bereits im Fall United States – Standards for Reformulated Gasoline381 brachte der Appellate Body das Effektivitätsprinzip erstmals zur Anwendung. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Auslegung des chapeau von Art. XX GATT 1994 stellte er fest:382 „The enterprise of applying Article XX would clearly be an unprofitable one if it involved no more than applying the standard used in finding that the baseline establishment rules were inconsistent with Article III:4. That would also be true if the finding were one of inconsistency with some other substantive rule of the General Agreement. The provisions of the chapeau cannot logically refer to the same standard(s) by which a violation of a substantive rule has been determined to have occurred. To proceed down that path would be both to empty the chapeau of its contents and to deprive the exceptions in paragraphs (a) to (j) of meaning. Such recourse would also confuse the question of whether inconsistency with a substantive rule existed, with the further and separate question arising under the chapeau of Article XX as to whether that inconsistency was nevertheless justified. One of the corollaries of the ‚general rule of interpretation‘ in the Vienna Convention is that interpretation must give meaning and effect to all the terms of a treaty. An interpreter is not free to adopt a reading that would result in reducing whole clauses or paragraphs of a treaty to redundancy or inutility.45 Note: 45 E.g., Corfu Channel Case (1949) I.C.J. Reports, p.24 (International Court of Justice); Territorial Dispute Case (Libyan Arab Jamahiriya v. Chad) (1994) I.C.J. Reports, p. 23 (International Court of Justice); 1966 Yearbook of the International Law Commission, Vol. II at 219; Oppenheim’s International Law (9th ed., Jennings and Watts eds., 1992), Volume 1, 1280–1281; P. Dallier and A. Pellet, Droit International Public, 5è ed. (1994) para. 17.2); D. Carreau, Droit International, (1994) para. 369.“

Hier diskutierte der Appellate Body die Möglichkeit, dem chapeau dieselbe Bedeutung beizumessen wie dem speziellen Diskriminierungsverbot in Art. III.4 GATT 1994. Eine solche Auslegung wäre insofern denkbar gewesen, als auch der chapeau ein Diskriminierungsverbot enthält.383 Eine solche Auslegung hätte aber zur Folge, daß keine staatliche Maßnahme, die wegen ihres diskriminierenden Inhalts gegen Art. III.4 GATT 1994 verstößt, über Art. XX GATT 1994 gerechtfertigt werden könnte. In keinem Fall könnte eine solche diskriminierende Maßnahme nämlich die Anforde381

WT/DS2/AB/R. I.L.M. 35 (1996), S. 603 (627). 383 Art. XX GATT: Subject to the requirement that such measures are not applied in a manner which would constitute a means of arbitrary and unjustifiable discrimination between countries where the same conditions prevail, (. . .); (Hervorhebung vom Verfasser); vgl. Diem, S. 23. 382

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

313

rungen des chapeau erfüllen. Ein solches Verständnis würde dazu führen, daß Art. XX GATT 1994 jegliche rechtfertigende Wirkung verlöre. Dieses Ergebnis verstieße nach Ansicht des Appellate Body gegen das mit der Wiener Vertragsrechtskonvention einhergehende Verbot, Vorschriften eines Vertrags im Wege der Auslegung überflüssig oder nutzlos werden zu lassen. Wenngleich der Appellate Body nicht ausdrücklich auf das Effektivitätsprinzip Bezug nimmt, entspricht dieses Argument inhaltlich dem effet utile-Grundsatz. Dies bestätigen auch die in Fußnote 45 des Berichts aufgeführten Nachweise, die sich sämtlich auf das Effektivitätsprinzip beziehen. Auch im Fall Brazil – Export Financing Programme for Aircraft384 stützte der Appellate Body sich auf das Effektivitätsprinzip. In diesem Fall mußte das Gremium den in Buchstabe k) des Anhangs I des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen enthaltenen Begriff material advantage385 auslegen. Anhang I des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen enthält eine Aufzählung von Ausfuhrsubventionen, die nach Art. 3 des Übereinkommens verboten sind. Buchstabe k) bestimmt unter anderem, daß die staatliche Übernahme von Kreditkosten, die den Exporteuren aus der Beschaffung von Krediten entstehen, eine Ausfuhrsubvention darstellt, soweit diese Übernahme von Kreditkosten dazu dient, „auf dem Gebiet der Ausfuhrkreditbedingungen einen wesentlichen Vorteil zu erlangen.“386 Das Panel hatte den Begriff material advantage ebenso ausgelegt wie den Begriff benefit, der, wie bereits gesehen,387 gemäß Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen eines der Merkmale ist, die den Begriff der Subvention konstituieren. Diese Auslegung hätte bedeutet, daß jede Subvention, die in der Übernahme von Kreditkosten besteht, automatisch auch dazu führen würde, daß der Empfänger „auf dem Gebiet der Ausfuhrkreditbedingungen einen wesentlichen Vorteil“ erlangen würde. Mit dieser Auslegung verlöre aber dieser Satzteil des Buchstaben k) des Annexes I jegliche eigenständige rechtliche Bedeutung. Unter Berufung auf das Effektivitätsprinzip verwarf der Appellate Body die Auslegung des Panels: 384

WT/DS46/AB/R. Dt.: wesentlicher Vorteil. 386 The grant by governments (. . .) of export credits at rates below those which they actually have to pay for the funds so employed (. . .), in so far as they are used to secure a material advantage in the field of export credit terms. 387 Die Auslegung des Begriffs benefit war Gegenstand des Verfahrens Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft (WT/DS70/AB/R). Vgl. dazu die Ausführungen oben 1. Kap. A. I. zur Wortlautauslegung und oben 2. Kap. A. I. 1., 2. Kap. A. II. 2., 2. Kap. B. I. 2. sowie 2. Kap. B. I. 3. zur systematischen Auslegung. 385

314

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

„179. We note that the Panel adopted an interpretation of the ‚material advantage‘ clause in item (k) of the Illustrative List that is, in effect, the same as the interpretation of the term ‚benefit‘ in Article 1.1(b) of the SCM Agreement adopted by the panel in Canada – Aircraft. If the ‚material advantage‘ clause in item (k) is to have any meaning, it must mean something different from ‚benefit‘ in Article 1.1(b). It will be recalled that for any payment to be a ‚subsidy‘ within the meaning of Article 1.1, that payment must consist of both a ‚financial contribution‘ and a ‚benefit‘. The first paragraph of item (k) describes a type of subsidy that is deemed to be a prohibited export subsidy. Obviously, when a payment by a government constitutes a ‚financial contribution‘ and confers a ‚benefit‘, it is, a ‚subsidy‘ under Article 1.1. Thus, the phrase in item (k), ‚in so far as they are used to secure a material advantage‘, would have no meaning if it were simply to be equated with the term ‚benefit‘ in the definition of ‚subsidy‘. As a matter of treaty interpretation, this cannot be so.110 Therefore, we consider it an error to interpret the ‚material advantage‘ clause in item (k) of the Illustrative List as meaning the same as the term ‚benefit‘ in Article 1.1(b) of the SCM Agreement. Note: 110 As we stated in our report in United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline (‚United States – Gasoline‘), ‚[a]n interpreter is not free to adopt a reading that would result in reducing whole clauses or paragraphs of a treaty to redundancy or inutility.‘ Adopted 20 May 1996, WT/DS2/AB/R, p. 23. This statement is quoted with approval in Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, adopted 1 November 1996, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R, p. 12.“

Schließlich spielte das Effektivitätsprinzip auch im Fall Korea – Definitive Safeguard Measures on Import of Certain Dairy Products388 eine Rolle. Wie gesehen,389 mußte der Appellate Body in diesem Fall klären, ob die Worte as a result of unforeseen developments in Art. XIX.1 GATT 1994 neben den Vorschriften des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen eine eigenständige rechtliche Bedeutung im Zusammenhang mit der Verhängung von Schutzmaßnahmen besitzen. Das Panel hatte dies verneint und seine Auffassung damit begründet, daß das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen Art. XIX GATT 1994 konkretisiere und gegenüber dieser Vorschrift abschließend wirke.390 Auch in diesem Fall bildete das Effektivitätsprinzip die Grundlage der Argumentation, mit der der Appellate Body die Auffassung des Panels widerlegte: „80. (. . .) We have also recognized, on several occasions, the principle of effectiveness in the interpretation of treaties (ut res magis valeat quam pereat) which requires that a treaty interpreter: . . . must give meaning and effect to all the terms of the treaty. An interpreter is not free to adopt a reading that would result in reducing whole clauses or paragraphs of a treaty to redundancy or inutility.42 388

WT/DS98/AB/R. Vgl. oben im Text 1. Kap. A. II. zur Wortlautauslegung und 3. Kap. B. I. zur teleologischen Auslegung. 390 Bericht des Panels WT/DS98/R (21.6.1999), paras. 7.42 f. 389

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

315

81. In light of the interpretive principle of effectiveness, it is the duty of any treaty interpreter to ‚read all applicable provisions of a treaty in a way that gives meaning to all of them, harmoniously.‘43 (. . .) 82. Having said that all of the provisions of a treaty must be given meaning and legal effect, we believe that the clause in Article XIX:1(a) – ‚as a result of unforeseen developments and of the effect of the obligations incurred by a Member under this Agreement, including tariff concessions . . .‘ – must have meaning. We do not agree with the Panel’s conclusion that it ‚does not add conditions for any measure to be applied pursuant to Article XIX but rather serves as an explanation of why an Article XIX measure may be needed‘. We also do not agree with the Panel that this clause ‚only describes generally the situations where the binding nature of the obligations contained in Articles II and XI of GATT may need to be set aside (for a certain period).‘ Notes: 42 Appellate Body Report, United States – Gasoline, supra, footnote 12, p. 23. We also confirmed this principle in Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages, supra, footnote 41, p. 12; Appellate Body Report, Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products, WT/DS103/AB/R, WT/DS113/AB/R, adopted 27 October 1999, para. 133; and Appellate Body Report, Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear, WT/DS121/AB/R, circulated 14 December 1999, para. 88. 43 We have emphasized this in Appellate Body Report, Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear, WT/DS121/AB/R, circulated 14 December 1999, para. 81. See also Appellate Body Report, United States – Gasoline, supra, footnote 12, p. 23; Appellate Body Report, Japan – Alcoholic Beverages, supra, footnote 41, p. 12; and Appellate Body Report, India – Patents, supra, footnote 21, para. 45.“

2. Das Verbot, andere Vorschriften zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren In den bislang dargestellten Berichten erklärte der Appellate Body jeweils Interpretationen für unzulässig, die dazu führten, daß die auszulegende Vorschrift selbst überflüssig wurde. Ebenfalls unzulässig sind daneben nach Ansicht des Appellate Body Auslegungen, die bewirken, daß eine andere als die auszulegende Vorschrift bedeutungslos wird. Auch für diese Variante des effet utile-Grundsatzes finden sich eine Reihe von Beispielen in der Spruchpraxis des Appellate Body. Erstmals wendete der Appellate Body diese Ausprägung des effet utile-Grundsatzes ebenfalls im Fall United States – Standards for Reformulated Gasoline391 an. Im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. XX(g) GATT 1994 führte das Gremium aus:392 „At the same time, Article XX(g) and its phrase, ‚relating to the conservation of exhaustible natural resources,‘ need to be read in context and in such a manner as to give effect to the purposes and objects of the General Agreement. The context of Article XX(g) includes the provisions of the rest of the General Agree391 392

WT/DS2/AB/R. I.L.M. 35 (1996), S. 603 (622).

316

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

ment, including in particular Articles I, III and XI; conversely, the context of Articles I and III and XI includes Article XX. Accordingly, the phrase ‚relating to the conservation of exhaustible natural resources‘ may not be read so expansively as seriously to subvert the purpose and object of Article III:4. Nor may Article III:4 be given so broad a reach as effectively to emasculate Article XX(g) and the policies and interests it embodies. (. . .)“

Hier erklärte der Appellate Body zunächst, daß die Worte relating to the conservation of exhaustible natural resources nicht in einer Weise ausgelegt werden dürften, daß Ziel und Zweck von Art. III.4 GATT 1994 unterlaufen würde. Dies wäre etwa dann der Fall gewesen, wenn an die Verbindung zwischen handelsbeschränkender Maßnahme und dem Regelungsziel Umweltschutz, die durch das Wort relating to ausgedrückt wird, nur geringe Anforderungen zu stellen gewesen wären; also etwa, wenn eine hinreichende Verbindung bereits dann zu bejahen wäre, wenn eine diskriminierende Vorschrift nur einen umweltfreundlichen Nebeneffekt hätte, dieser jedoch nicht deren Hauptzweck wäre. Bei einem solchen Verständnis des Begriffs relating to wären viele mitgliedstaatliche Vorschriften mit handelsbeschränkender Wirkung von Art. XX(g) GATT 1994 erfaßt worden, so daß das spezielle Diskriminierungsverbot leer zu laufen gedroht hätte. Der Appellate Body machte aber gleichzeitig deutlich, daß der Einfluß von Art. III.4 GATT 1994 nicht so weit reichen dürfte, daß Art. XX(g) GATT 1994 Gefahr liefe, verstümmelt zu werden. Dies wäre etwa dann der Fall gewesen, wenn das spezielle Diskriminierungsverbot dazu geführt hätte, daß an die Beziehung zwischen diskriminierender nationaler Vorschrift und Umweltschutz derart hohe Anforderungen gestellt worden wären, die keine nationale Vorschrift hätte erfüllen können. Wenngleich der Appellate Body auch in dieser Passage des Berichts im Fall United States – Standards for Reformulated Gasoline das Effektivitätsprinzip nicht ausdrücklich erwähnte, so entspricht die Argumentationsstruktur gleichwohl den Vorgaben dieses Grundsatzes. Die erste ausdrückliche Erwähnung des Begriffs Effektivitätsprinzip im Zusammenhang mit der hier diskutierten Variante des effet utile-Grundsatzes findet sich im Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear.393 Die sich hier stellende Frage, ob Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren es WTO-Mitgliedern gestattet, Gegenmaßnahmen mit retroaktiver Wirkung zu verhängen,394 verneinte der Appellate Body unter anderem auch mit Hinweis auf das Effektivitätsprinzip: 393

WT/DS24/AB/R. Vgl. dazu bereits ausführlich im Text oben 1. Kap. C. I. zur Wortlautauslegung sowie 2. Kap. A. II. 3., 2. Kap. B. I. 2. und 2. Kap. C. II. 2. zur systematischen Auslegung. 394

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

317

„It further appears to us that to read Article 6.10 as somehow authorizing the backdating, as a matter of course, of the effectivity or operation of a restraint measure, will tend to diminish the utility and significance of prior consultations with the identified exporting Member or Members. (. . .) The requirement of consultations (. . .) should be protected from erosion or attenuation by a treaty interpreter. (. . .) the restraint is to be applied in the future, after the consultations, should these prove fruitless and the proposed measure not withdrawn. The principle of effectiveness in treaty interpretation24 sustains this implication. Note: 24 See Report of the Appellate Body, ‚United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline‘, AB-1996-1, (adopted 20 May 1996) p. 23; and Report of the Appellate Body, ‚Japan – Taxes on Alcoholic Beverages‘, AB-1996-2 (adopted 1 November 1996), p. 12.“

Hier stellte der Appellate Body Art. 6.7 des Übereinkommens über Textilwaren in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Diese Vorschrift bestimmt, daß vor der Verhängung von Schutzmaßnahmen Konsultationen zwischen dem die Schutzmaßnahme planenden und den gegebenenfalls davon betroffenen Mitgliedern stattfinden müssen. Der Sinn dieser Konsultationen, die auf eine einvernehmliche Beilegung der Angelegenheit abzielen, würden nach Ansicht des Appellate Body in Frage gestellt werden, wenn Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren es den Mitgliedern gestattete, Schutzmaßnahmen zurück zu datieren. Damit würden diese Konsultationen und eben auch die sie regelnde Vorschrift nahezu nutzlos. Eine solche Auslegung von Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren ist nach Ansicht des Appellate Body mit dem Effektivitätsprinzip unvereinbar. Auch im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft395 brachte der Appellate Body das Effektivitätsprinzip zur Anwendung. Dort stellte sich die Frage, ob die an einem Panel-Verfahren beteiligten WTO-Mitglieder verpflichtet sind, Auskunftsersuchen eines Panels zu beantworten. Art. 13.1 Satz 3 DSU enthält die Bestimmung A Member should respond promptly and fully to any request by a panel for such information as the panel considers necessary and appropriate. Die Verwendung des Wortes should an Stelle des üblicherweise verwendeten Wortes shall führte zu Zweifeln an der unbedingten Verbindlichkeit der Verpflichtung, auf Anfragen eines Panels zu antworten. Zunächst kam der Appellate Body im Wege der Wortlautauslegung zu dem Ergebnis, daß das Wort should auch eine rechtlich verbindliche Verhaltenspflicht ausdrücken kann.396 Anschließend fuhr der Appellate Body wie folgt fort: 395

WT/DS70/AB/R. „187. We note that Article 13.1 of the DSU provides that ‚A Member should respond promptly and fully to any request by a panel for such information 396

318

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

„188. If Members that were requested by a panel to provide information had no legal duty to ‚respond‘ by providing such information, that panel’s undoubted legal ‚right to seek‘ information under the first sentence of Article 13.1 would be rendered meaningless. A Member party to a dispute could, at will, thwart the panel’s fact-finding powers and take control itself of the information-gathering process that Articles 12 and 13 of the DSU place in the hands of the panel. A Member could, in other words, prevent a panel from carrying out its task of finding the facts constituting the dispute before it and, inevitably, from going forward with the legal characterization of those facts. (. . .)“

Hier vertrat der Appellate Body, daß das sowohl in Art. 13.1 Satz 1 DSU als auch in der Überschrift397 von Art. 13 DSU niedergelegte Recht der Panels, Informationen einzuholen, bedeutungslos zu werden drohte, wenn das in Satz 3 enthaltene Wort should nicht unbedingt verpflichtend verstanden würde. Der Appellate Body sah die Gefahr, daß die Mitglieder in diesem Fall die Kompetenz der Panels, Tatsachen festzustellen, durchkreuzen und ihrerseits den Informationsfluß steuern könnten. Wenngleich der Begriff Effektivitätsprinzip hier anders als in der Mehrzahl der bislang dargestellten Fälle keine ausdrückliche Erwähnung findet, spricht doch die Struktur der Argumentation des Appellate Body dafür, daß er diesen Grundsatz vor Augen hatte. Schließlich nahm der Appellate Body auch in dem bereits mehrfach dargestellten Fall Canada – Term of Patent Protection398 auf das Effektivitätsprinzip Bezug. Im Zusammenhang mit der Auslegung des Wortes acts in Art. 70.1 TRIPS führte er unmittelbar vor den teleologischen Erörterungen folgendes aus: as the panel considers necessary and appropriate.‘ (emphasis added) Although the word ‚should‘ is often used colloquially to imply an exhortation, or to state a preference, it is not always used in those ways. It can also be used ‚to express a duty [or] obligation‘.120 The word ‚should‘ has, for instance, previously been interpreted by us as expressing a ‚duty‘ of panels in the context of Article 11 of the DSU. Similarly, we are of the view that the word ‚should‘ in the third sentence of Article 13.1 is, in the context of the whole of Article 13, used in a normative, rather than a merely exhortative, sense. Members are, in other words, under a duty and an obligation to ‚respond promptly and fully‘ to requests made by panels for information under Article 13.1 of the DSU. Note: 120 The Concise Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1995), p. 1283. See also The Shorter Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1993), Vol. II, p. 2808, and Black’s Law Dictionary, (West Publishing Co., 1990), p. 1379, which states that ‚should‘ ‚ordinarily impl[ies] duty or obligation; although usually no more than an obligation of propriety or expediency, or moral obligation, thereby distinguishing it from ought.‘ “ 397

Right to Seek Information; dt.: Recht auf Information. WT/DS170/AB/R; vgl. zur systematischen Auslegung von Art. 70.1 TRIPS bereits oben 2. Kap. A. II. 1. sowie zur teleologischen Auslegung 3. Kap. A. II., 3. Kap. B. I. und 3. Kap. C. II. 398

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

319

„59. A contrary interpretation would seriously erode the scope of the other provisions of Article 70, especially the explicit provisions of Article 70.2. Almost any existing situation or right can be said to have arisen from one or more past ‚acts‘. For example, virtually all contractual and property rights could be said to arise from ‚acts which occurred‘ in the past. (. . .)“

Hier wies der Appellate Body auf die Gefahr hin, daß eine Auslegung, die, wie von Kanada favorisiert, bereits eingetragene und im Zeitpunkt des Inkrafttretens des TRIPS-Übereinkommens noch geschützte Patente unter das Wort acts subsumiert, den Anwendungsbereich von Art. 70.2 TRIPS ernsthaft verkleinern würde. Diese Auslegung hätte nämlich zur Folge, daß Art. 70.2 Satz 1 TRIPS nur diejenigen Schutzgegenstände (subject matter which is protected), die nicht auf acts beruhen, in den Anwendungsbereich des Übereinkommens einbezöge. Hingegen fielen Schutzgegenstände, die auf acts beruhen, gemäß Art. 70.1 TRIPS nicht in den Anwendungsbereich des Abkommens. Damit liefe Art. 70.2 TRIPS, der bereits bestehende Schutzgegenstände in den Anwendungsbereich des TRIPS-Übereinkommens einbeziehen soll, nahezu völlig leer. Dies wäre mit Effektivitätsprinzip nicht zu vereinbaren. 3. Zusammenfassung und Bewertung Der vorstehende Überblick zeigt, daß der Appellate Body in seiner Spruchpraxis in zahlreichen Fällen auf das Effektivitätsprinzip in der Ausprägung des effet utile-Grundsatzes rekurriert. Wie gesehen, hat der Appellate Body dabei die allgemeinen methodenrechtlichen Vorgaben insoweit präzisiert, als daß weder die auszulegende Vorschrift selbst, noch irgendeine andere Vorschrift durch die Auslegung zur Bedeutungslosigkeit reduziert werden dürfen. Darüber hinaus zeigt eine genauere Betrachtung der Vorgehensweise des Appellate Body aber auch, daß die Anwendung des effet utile-Grundsatzes enge Verbindungen sowohl zur systematischen als auch zur teleologischen Auslegung aufweist. Letztere Beobachtung bestätigt eine bereits im Rahmen der Untersuchung der allgemeinen völkerrechtlichen Methodik gewonnene Erkenntnis.399 a) Das Verhältnis von effet utile-Grundsatz und systematischer Auslegung Nach Auffassung des Appellate Body liegt ein Verstoß gegen das Effektivitätsprinzip vor, wenn eine auszulegende Vorschrift durch die Auslegung bedeutungslos oder überflüssig wird. Wie sich aus den soeben dargestellten 399

Vgl. dazu bereits oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. III.

320

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Fällen ergibt, ist dies ist der Fall, wenn die Auslegung für die Vorschrift einen Regelungsbereich vorsieht, den der Vertrag bereits einer anderen Vorschrift zugewiesen hat. Ob die Auslegung diese Wirkung hat, läßt sich regelmäßig400 nur durch eine Bestimmung des Regelungsbereiches anderer Vorschriften ermitteln. Damit gewinnt der Effektivitätsgrundsatz ebenso wie die systematische Auslegung sein Auslegungsargument aus der Untersuchung einer anderen als der auszulegenden Vorschrift. Auch die zweite Variante des effet utile-Grundsatzes weist diese Parallele zur systematischen Auslegung auf. Hier liegt ein Verstoß gegen das Effektivitätsprinzip vor, wenn eine andere als die auszulegende Vorschrift bedeutungslos zu werden droht. Dies ist der Fall, wenn die Auslegung der zu interpretierenden Vorschrift bewirkt, daß der Regelungsbereich einer anderen Vorschrift derart minimiert wird, daß er nahezu keine tatsächlichen Lebenssachverhalte erfaßt. Ob eine bestimmte Auslegung diese Wirkung hat, läßt sich nur mit Blick auf andere Vorschriften bestimmen, was wiederum der Vorgehensweise der systematischen Auslegung entspricht. Neben diesen Parallelen besteht zwischen effet utile-Grundsatz und systematischer Auslegung jedoch auch ein wesentlicher Unterschied. Anders als der effet utile-Grundsatz leistet die systematische Auslegung einen positiven Beitrag zur Interpretation einer Vorschrift. Das bedeutet, daß die systematische Auslegung regelmäßig eine mögliche Bedeutung der auszulegenden Vorschrift erbringt. Nach Auswahl des auslegungsrelevanten Kontextes untersucht der Appellate Body entweder mit Hilfe konventioneller Argumentationsmuster oder im Wege einer „freien“ Argumentation, welche Rückschlüsse sich aus dem Kontext für die Bedeutung der auszulegenden Vorschrift ziehen lassen. Am Ende dieses Vorgangs steht eine mögliche Bedeutung der auszulegenden Vorschrift. Demgegenüber leistet die Anwendung des effet utile-Grundsatzes nur einen negativen Beitrag zur Auslegung einer Vorschrift. Dieser gibt darüber Auskunft, welche von mehreren möglichen Bedeutungen der auszulegenden Vorschrift unzutreffend sind, weil sie die auszulegende oder eine andere Vorschrift zur Bedeutungslosigkeit reduzieren. Die Anwendung des effet utile-Grundsatzes setzt damit die Existenz einer möglichen Bedeutung der auszulegenden Vorschrift voraus, erbringt jedoch nicht selbst eine solche Bedeutung. Dies führt indes nicht dazu, daß der effet utile-Grundsatz in den Verfahren vor dem Appellate Body keine eindeutigen Ergebnisse erbringt. In diesen Verfahren stehen sich in aller Regel zwei konkurrierende Auslegungen 400 Der Fall Korea – Definitive Safeguard Measures on Import of Certain Dairy Products (dazu soeben oben 1.) bildet hier insofern eine Ausnahme, als daß Panel hier bereits ausdrücklich erklärt hatte, das den Worten as a result of unforeseen developments keine eigenständige Bedeutung zukäme.

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

321

gegenüber, so daß die Anwendung des effet utile-Grundsatzes dazu dient, eine dieser möglichen Auslegungen auszuscheiden. Dies ist aber von der Erbringung eines positiven Beitrags zur Auslegung, wie etwa durch die systematische Auslegung, zu unterscheiden. b) Das Verhältnis von effet utile-Grundsatz und teleologischer Auslegung In einigen Beispielsfällen weisen teleologische Auslegung und die Anwendung des effet utile-Grundsatzes jeweils ähnliche Argumentationsstrukturen auf. Dies ist immer dann der Fall, wenn die unzulässige Reduzierung des Regelungsbereichs einer Vorschrift auch dazu führen würde, daß der mit der Vorschrift verfolgte Zweck nicht erreicht werden könnte. Ein Beispiel für dieses Zusammenfallen von effet utile-Grundsatz und teleologischer Auslegung bietet der Fall Korea – Definitive Safeguard Measures on Import of Certain Dairy Products.401 Dort kam der Appellate Body im Rahmen der teleologischen Auslegung zu dem Ergebnis, daß den Worten as a result of unforeseen developments in Art. XIX GATT 1994 durchaus eine Bedeutung zukommt.402 Entscheidend dafür war, daß das Ziel von Art. XIX GATT 1994 darin besteht, Schutzmaßnahmen nur bei unerwarteten beziehungsweise unvorhergesehener Entwicklungen zu erlauben. Eine Auslegung, die den Worten as a result of unforeseen developments keinerlei Bedeutung zugemessen hätte, hätte zwangsläufig auch dazu geführt, daß der derart bestimmte Zweck der Norm verfehlt worden wäre. Vermutet man, daß Art. 70.2 TRIPS ebenso wie Art. 70.1 TRIPS der Gewährleistung eines möglichst wirksamen Schutzes des geistigen Eigentums dienen soll,403 dann bestätigt auch der Fall Canada – Term of Patent Pro401

WT/DS98/AB/R; vgl. dazu soeben oben 1. 87. This reading of these clauses is also confirmed by the object and purpose of Article XIX of the GATT 1994. The object and purpose of Article XIX is to allow a Member to re-adjust temporarily the balance in the level of concessions between that Member and other exporting Members when it is faced with ‚unexpected‘ and, thus, ‚unforeseen‘ circumstances which lead to a product ‚being imported‘ in ‚such increased quantities and under such conditions as to cause or threaten serious injury to domestic producers . . . of like or directly competitive products‘. This allows an importing Member to give the domestic industry in question enough time to adjust to the new competitive conditions caused by the increased imports. (. . .) 403 Diese Vermutung scheint insofern gerechtfertigt, als der Appellate Body den Zweck von Art. 70.1 TRIPS nicht mit Hilfe von dessen Wortlaut, sondern aufgrund der Präambel des TRIPS-Übereinkommens bestimmt hatte; vgl. dazu soeben oben 3. Kap. A. II. und 3. Kap. B. I. 402

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

tection404 die enge Verbindung von effet utile-Grundsatz und teleologischer Auslegung. Die von Kanada vorgetragene Auslegung des Wortes acts hätte dann nicht nur zur nahezu vollständigen Bedeutungslosigkeit von Art. 70.2 TRIPS geführt, sondern gleichzeitig auch dazu, daß die Vorschrift ihren Zweck nicht hätte erfüllen können. Die anhand der beiden dargestellten Fälle aufgezeigte Parallele bei der Anwendung von effet utile-Grundsatz und teleologischer Auslegung besteht jedoch nicht zwangsläufig. Vielmehr hängt ihre Existenz wesentlich vom Zweck der Vorschrift ab, die aufgrund der Auslegung überflüssig zu werden droht. Dies macht der Fall United States – Standards for Reformulated Gasoline405 deutlich. Wie dargestellt,406 war der Appellate Body in diesem Fall zu dem Ergebnis gekommen, daß der chapeau von Art. XX GATT 1994 bezweckt, eine rechtsmißbräuchliche Anwendung der in Art. XX(a)–(j) GATT 1994 aufgeführten Ausnahmebestimmungen zu verhindern. Dieser Zweck wäre jedoch nicht vereitelt worden, wenn der Appellate Body den chapeau ebenso ausgelegt hätte, wie Art. III.4 GATT 1994 oder eines der anderen speziellen Diskriminierungsverbote des GATT 1994. Zwar hätte dies, wie vom Appellate Body ausgeführt, bewirkt, daß Art. XX GATT 1994 völlig leergelaufen wäre. Jedoch hätte in diesem Fall nicht die gleichzeitige Gefahr bestanden, daß ein Mitglied rechtsmißbäuchlich von Art. XX GATT 1994 Gebrauch gemacht hätte. Eine Reduzierung des Anwendungsbereichs der Ausnahmevorschrift hätte damit vielmehr sehr wirkungsvoll zur Verwirklichung des Normzwecks beigetragen. Diese Beobachtungen zeigen, daß der effet utile-Grundsatz trotz gewisser Überschneidungen mit der teleologischen Auslegung einen eigenständigen Anwendungsbereich neben dieser besitzt. Auch effet utile-Grundsatz und teleologische Auslegung unterscheiden sich grundsätzlich im Hinblick auf den Beitrag, den sie jeweils bei der Auslegung einer Vorschrift erbringen. Wie die systematische Auslegung leistet auch die an Ziel und Zweck orientierte Auslegung einer Vorschrift einen positiven, eigenständigen Beitrag zu deren Auslegung, während der Beitrag des effet utile-Grundsatzes im Sinne der hier verwendeten Terminologie negativ ist. Allerdings kann diese prinzipielle Aussage nicht darüber hinweg täuschen, daß die teleologische Auslegung durch den Appellate Body aufgrund der besonderen Situation des Rechtsmittelverfahrens eine Ausprägung erfahren hat,407 die diesen Unterschied zwischen beiden Auslegungsmethoden teilweise überdeckt. Überwiegend verwendet der Appellate Body 404 405 406 407

WT/DS170/AB/R. WT/DS2/AB/R. Zur teleologischen Auslegung des chapeau vgl. oben 3. Kap. B. II. Vgl. dazu oben 3. Kap. C. vor I.

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

323

die an Ziel und Zweck orientierte Auslegung nicht, um damit selbständig eine mögliche Bedeutung der auszulegenden Vorschrift zu ermitteln. Vielmehr nutzt er die teleologische Auslegung, um eine der ihm vorgetragenen Positionen der Streitparteien oder des Panels zu bestätigen oder zu verwerfen.408 Dies bewirkt, daß die teleologische Auslegung und der Grundsatz des effet utile in der Spruchpraxis des Appellate Body eine nahezu identische Funktion erfüllen. II. Das Gebot der harmonischen Auslegung In einigen Fällen verbindet der Appellate Body die Anwendung des effet utile-Grundsatzes mit dem Hinweis darauf, daß die Vorschriften der WTOÜbereinkommen harmonisch ausgelegt werden müssen. Diese sogenannte harmonische Auslegung stellt die Kehrseite des effet utile-Grundsatzes dar. Während dieser besagt, daß zwei Vorschriften im Zuge der Auslegung nicht so zueinander in Beziehung gesetzt werden dürfen, daß eine von ihnen bedeutungslos wird, geht es bei der harmonischen Auslegung darum, das Verhältnis der beiden Vorschriften positiv zu bestimmen. Zwei Beispiele aus der Spruchpraxis des Appellate Body verdeutlichen, was das Gremium unter harmonischer Auslegung versteht. Im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products409 sprach der Appellate Body im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. XIX.1 GATT 1994 ausdrücklich von der mit dem Grundsatz der Effektivität einhergehenden Pflicht, die anwendbaren Vorschriften harmonisch auszulegen: „81. In light of the interpretive principle of effectiveness, it is the duty of any treaty interpreter to ‚read all applicable provisions of a treaty in a way that gives meaning to all of them, harmoniously.‘ (. . .)“

Im weiteren Verlauf des Berichts wird deutlich, was eine harmonische Auslegung für den konkreten Fall bedeutete. Wie gesehen, mußte der Appellate Body darüber entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Bedeutung den Worten as a result of unforeseen developments in Art. XIX.1 GATT 1994 zukommt.410 Das Panel hatte den Worten jegliche eigenständige Rechtsbedeutung abgesprochen und dies damit 408 Eine Ausnahme bildet hier die teleologische Auslegung des chapeau von Art. XX GATT 1994 im Fall United States – Standards for Reformulated Gasoline. Dort ermittelte der Appellate Body die Bedeutung der Vorschrift im wesentlichen mit Hilfe der teleologischen Auslegung. 409 WT/DS98/AB/R. 410 Vgl. zum folgenden auch die Ausführungen bei Lee, JWT 34/2 (2000), S. 131, 132 ff.

324

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

begründet, daß Art. XIX.1 GATT 1994 durch das Abkommen über Schutzmaßnahmen näher ausgestaltet werde. Dabei hätten die Worte as a result of unforeseen developments keine nähere Ausgestaltung in diesem Übereinkommen gefunden. Aus diesem Grund bestünde ein Konflikt zwischen dem Übereinkommen über Schutzmaßnahmen und Art. XIX.1 GATT 1994. Dieser Konflikt sei nach der Allgemeinen Auslegungsregel zu Anhang 1 A des WTO-Übereinkommens411 zugunsten des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen aufzulösen. Hinsichtlich des effet utile-Grundsatzes ist darauf hinzuweisen, daß nicht erst diese zwingende Rechtsfolge der Allgemeinen Auslegungsregel die Bedeutungslosigkeit von Art. XIX.1 GATT 1994 bewirkt. Bereits die Annahme eines Widerspruchs zwischen Art. XIX.1 GATT 1994 und dem Übereinkommen über Schutzmaßnahmen hat diese Wirkung. Denn diese Annahme beruht auf dem Verständnis, daß das Schweigen des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen bezüglich unvorhergesehener Entwicklungen abschließenden Charakter hat und daß ein im Wege der systematischen Auslegung nachzuvollziehendes Ausstrahlen von Art. XIX.1 GATT 1994 auf die Vorschriften des Übereinkommens daher ausgeschlossen ist. Im Gegensatz zu der Auslegung des Panels vertrat die Europäische Gemeinschaft in ihrem Rechtsmittel die Ansicht, daß Art. XIX.1 GATT 1994 und die relevanten Vorschriften des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen kumulativ anwendbar seien. Diese Auffassung hätte dazu geführt, daß das nicht zu übersehende Fehlen der Worte as a result of unforeseen developments im Übereinkommen über Schutzmaßnahmen ohne jedwede Bedeutung geblieben wäre. Damit standen sich zwei scheinbar nicht miteinander zu versöhnende Auslegungen des Schweigens im Übereinkommen über Schutzmaßnahmen beziehungsweise der Bedeutung der Worte as a result of unforeseen developments in Art. XIX.1 GATT 1994 gegenüber. Der Appellate Body schlug bei der Lösung dieses Problems nunmehr einen Weg ein, der sich nur vor dem Hintergrund seiner Berufung auf das Gebot der harmonischen Auslegung erklären läßt. Er vertrat die Ansicht, daß Art. XIX.1 GATT 1994 zwar keine independent conditions for the application of a safeguard measure aufstelle, daß die Vorschrift aber certain circumstances which must be demonstrated as a matter of fact in order for a safeguard measure to be applied consistently with the provisions of Article XIX of the GATT 1994 beschreibe.412 Der Appellate Body führte hier 411

Vgl. dazu bereits oben 2. Teil 1. Kap. A. para. 85: „(. . .) Although we do not view the first clause in Article XIX:1(a) as establishing independent conditions for the application of a safeguard measure, additional to the conditions set forth in the second clause of that paragraph, we do 412

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

325

eine Unterscheidung zwischen conditions und circumstances ein. Dabei muß das Vorliegen von circumstances als ein matter of fact bewiesen werden. Dies deutet darauf hin, daß die Worte as a result of unforeseen developments in den Augen des Appellate Body nur etwas rein Tatsächliches beschreiben. Danach muß ein WTO-Mitglied, das eine Schutzmaßnahme verhängt, nur beweisen, daß es bestimmte Entwicklungen, infolge derer es zu erhöhten Einfuhren kam, nicht vorhergesehen hat. Demgegenüber enthalten die Worte as a result of unforeseen developments kein normatives Element in dem Sinne, daß sie einem Mitglied ein bestimmtes Maß an Sorgfalt bei der Beobachtung von „Entwicklungen“ vorschreiben. Demnach muß das Mitglied nicht beweisen, daß die „Entwicklungen“ nicht vorhersehbar waren. Entsprechend ist dem beschwerdeführenden Mitglied eine Argumentation verwehrt, die darauf abstellt, daß das die Schutzmaßnahme verhängende Mitglied die „Entwicklungen“ hätte vorhersehen können und müssen.413 Diese vom Appellate Body favorisierte Auslegung bewirkt, daß die Worte as a result of unforeseen developments, die während der UruguayRunde nicht gestrichen wurden, nicht völlig bedeutungslos werden. Gleichzeitig berücksichtigt sie aber, daß die materiellen Voraussetzungen für die Verhängung von Schutzmaßnahmen im Verlauf der Uruguay-Runde im Übereinkommen über Schutzmaßnahmen geregelt wurden. Indem der Appellate Body durch seine Auslegung den Worten as a result of unforeseen developments und damit Art. XIX.1 GATT 1994 gegenüber den Verhaltenspflichten statuierenden Vorschriften des Abkommens über Schutzmaßnahmen eine untergeordnete Stellung gibt, beschreitet er einen Mittelweg zwischen den beiden zunächst scheinbar unvereinbaren Positionen des Panels und der Europäischen Gemeinschaft. Darin besteht die sogenannte harmonische Auslegung. believe that the first clause describes certain circumstances which must be demonstrated as a matter of fact in order for a safeguard measure to be applied consistently with the provisions of Article XIX of the GATT 1994 (. . .).“ Die oben im Text durch Unterstreichungen kenntlich gemachten Hervorhebungen stammen vom Appellate Body. 413 Dem Bericht des Appellate Body kann nicht unmittelbar entnommen werden, welcher Unterschied zwischen conditions und circumstances besteht. Die Tatsache, daß der Appellate Body im Zusammenhang mit circumstances von matter of fact spricht, deutet an, daß er auf die aus dem anglo-amerikanischen Rechtskreis entstammende Unterscheidung zwischen matter of law und matter of fact anspielt und conditions als matter of law ansieht. Der Begriff matter of law bezeichnet „some duty, or standard, which it is the province of the court to apply and enforce“; demgegenüber bezeichnet der Begriff matter of fact „some issue of fact which is raised on the pleadings.“; vgl. Argyle, Rn. 29. Die hier vorgeführte Analyse wird geteilt von Lee, JWT 34/2 (2000), S. 131, 134 f.

326

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Auch im Fall United States – Standard for Reformulated Gasoline414 ließ der Appellate Body erkennen, was er unter einer harmonischen Auslegung versteht. Wie bereits dargestellt, machte er im Zusammenhang mit der Auslegung von Art. XX(g) GATT 1994 die folgenden Ausführungen: „At the same time, Article XX(g) and its phrase, ‚relating to the conservation of exhaustible natural resources,‘ need to be read in context and in such a manner as to give effect to the purposes and objects of the General Agreement. The context of Article XX(g) includes the provisions of the rest of the General Agreement, including in particular Articles I, III and XI; conversely, the context of Articles I and III and XI includes Article XX. Accordingly, the phrase ‚relating to the conservation of exhaustible natural resources‘ may not be read so expansively as seriously to subvert the purpose and object of Article III:4. Nor may Article III:4 be given so broad a reach as effectively to emasculate Article XX(g) and the policies and interests it embodies. (. . .)“

Deutlicher noch als im Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products arbeitete der Appellate Body hier die beiden sich vermeintlich gegenüberstehende Positionen heraus.415 Unmittelbar im Anschluß daran zeigte er dann, wie dieser Konflikt zu lösen sei: „(. . .) The relationship between the affirmative commitments set out in, e.g., Articles I, III and XI, and the policies and interests embodied in the ‚General Exceptions‘ listed in Article XX, can be given meaning within the framework of the General Agreement and its object and purpose by a treaty interpreter only on a case-to-case basis, by careful scrutiny of the factual and legal context in a given dispute, without disregarding the words actually used by the WTO Members themselves to express their intent and purpose.“

Der Appellate Body betonte hier, daß das Verhältnis der konfligierenden Normen nur im jeweiligen Einzelfall bestimmt werden könne, wobei sowohl auf die einschlägigen Vorschriften, aber auch auf den jeweiligen Sachverhalt abzustellen sei. Damit legte der Appellate Body die Marschroute fest, der er im zeitlich späteren Fall Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products gefolgt ist. Im Fall United States – Standard for Reformulated Gasoline hingegen konnte das Gremium auf eine Bestimmung des Verhältnisses von Art. III.4 GATT 1994 und Art. XX(g) GATT 1994 verzichten. Die an dem Streit beteiligten Mitglieder hatten übereinstimmend die bereits im Hinblick auf Art. XX(g) GATT 1947 entwickelte Auslegung des Begriffs relating to akzeptiert.416 Danach 414

WT/DS2/AB/R. Vgl. dazu soeben oben im Text A. I. 2. 416 „All the participants and the third participants in this appeal accept the propriety and applicability of the view of the Herring and Salmon report and the Panel Report that a measure must be ‚primarily aimed at‘ the conservation of exhaustible natural resources in order to fall within the scope of Article XX(g). Accordingly, 415

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

327

mußte eine gegen Art. III.4 GATT 1994 verstoßende Maßnahme in erster Linie auf die Erhaltung erschöpflicher Naturschätze gerichtet sein (primarily aimed at).417 Den zuvor418 aufgestellten inhaltlichen Vorgaben genügte diese Auslegung des Begriffs relating to insofern, als er an die Ausrichtung der handelsbeschränkenden Maßnahme auf das Ziel Umweltschutz keine derart hohen Anforderungen stellte, – etwa dergestalt, daß die staatlichen Maßnahmen keinen Nebenzweck hätten verfolgen dürfen – die keine staatliche Regelung hätte erfüllen können. Aus der Zusammenschau der beiden dargestellten Fälle zeigt sich, daß der Begriff harmonische Auslegung ein Verfahren beschreibt, dessen Ziel darin besteht, Vorschriften, deren Anwendungsbereiche sich zu überschneiden drohen, so auszulegen, daß für jede der Vorschriften ein Anwendungsbereich verbleibt. Ein solcher Ausgleich zwischen zwei Vorschriften kann nach Ansicht des Appellate Body stets nur mit Blick auf den konkreten Einzelfall geschehen. Für den im deutschen Verfassungsrecht geschulten Juristen ist unschwer festzustellen, daß die vom Appellate Body geforderte harmonische Auslegung nahezu inhaltsgleich ist mit der insbesondere im Bereich der Grundrechtsauslegung häufig verwendeten Figur der praktischen Konkordanz. Das Prinzip der praktischen Konkordanz will im Fall von Normwidersprüchen, Normkonkurrenzen oder Normkollisionen sowie im Fall von Überschneidungen von Geltungsbereichen die Grenzen der an diesen Konflikten beteiligten Normen so ziehen, daß jede Norm zu einer optimalen Wirksamkeit gelangt.419 Dies bedeutet, daß die Auflösung der Spannungen zwischen verschiedenen Normen nicht dergestalt erfolgen darf, daß eine der beteiligten Normen ihre Bedeutung völlig verliert.420 Dies schließt von vornherein eine abstrakte Abwägung der durch die Normen geschützten Werte und Rechtsgüter aus, aus der ein Rechtsgut als höherwertig gegenüber den anderen hervorgeht.421 Vielmehr ist es notwendig, am konkreten Einzelfall eine Harmonisierung422 der Vorschriften zu vollziehen. we see no need to examine this point further, save, perhaps, to note that the phrase ‚primarily aimed at‘ is not itself treaty language and was not designed as a simple litmus test for inclusion or exclusion from Article XX(g).“, I.L.M. 35 (1996), S. 603 (622 f.); zur Kritik am Vorgehen des Appellate Body vgl. Petersmann, S. 114 m. Fn. 24. 417 Diese Auslegung des Begriffs relating to entstammt dem Fall Canada – Measures Affecting Exports of Unprocessed Herring and Salmon. BISD 35S/98, para. 4.6; vgl. dazu Diem, S. 28 f. 418 Vgl. dazu soeben oben im Text A. I. 2. 419 Hesse, Rdnr. 72, auf den der Begriff zurückgeht. 420 Rüfner, in: Starck, FS 25 Jahre BVerfG, Bd. 2, S. 453 (466). 421 Anweiler, S. 95; Müller, Juristische Methodik, S. 221.

328

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Dieser kurze Überblick über den Grundsatz der praktischen Konkordanz zeigt, daß die vom Appellate Body propagierte harmonische Auslegung und die Herstellung praktischer Konkordanz einander inhaltlich entsprechen.

B. Der Grundsatz ut res magis valeat quam pereat Bereits im Rahmen der Darstellung der völkerrechtlichen Auslegungsmethoden wurde darauf hingewiesen, daß das Effektivitätsprinzip in der Ausprägung des Grundsatzes ut res magis valeat quam pereat inhaltlich nahezu identisch mit der teleologischen Auslegung ist.423 Sowohl die teleologische Auslegung als auch der Grundsatz ut res magis valeat quam pereat verpflichten den Interpreten, diejenige Auslegung auszuwählen, die am ehesten bewirkt, daß die auszulegende Vorschrift das von ihr oder dem Vertrag als Ganzes verfolgte Ziel erreicht. Insofern überrascht es nicht, daß der Appellate Body den Grundsatz ut res magis valeat quam pereat bislang nur einmal verwendet hat. Im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products424 begründete der Appellate Body seine Auffassung, daß Meeresschildkröten als erschöpfliche Naturschätze im Sinne von Art. XX(g) GATT 1994 anzusehen sind,425 auch mit dem Effektivitätsprinzip: „131. Given the recent acknowledgement by the international community of the importance of concerted bilateral or multilateral action to protect living natural resources, and recalling the explicit recognition by WTO Members of the objective of sustainable development in the preamble of the WTO Agreement, we believe it is too late in the day to suppose that Article XX(g) of the GATT 1994 may be read as referring only to the conservation of exhaustible mineral or other non-living natural resources. Moreover, two adopted GATT 1947 panel reports previously found fish to be an ‚exhaustible natural resource‘ within the meaning of Article XX(g). We hold that, in line with the principle of effectiveness in treaty interpretation116, measures to conserve exhaustible natural resources, whether living or non-living, may fall within Article XX(g).426 Note: 116 See the following Appellate Body Reports: United States – Gasoline, adopted 20 May 1996, WT/ DS52/AB/R, p. 23; Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, adopted 1 November 1996, WT/DS8/AB/ R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R, p. 12; and United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear, adopted 25 February 1997, WT/DS24/AB/R, p. 16. See also Jennings and Watts (eds.), Oppenheim’s International Law, 9th ed., Vol. I (Longman’s, 1992), pp. 1280–1281; M.S. McDougal, H.D. Lasswell and J. Miller, The Interpretation of International Agreements and World 422

Den Begriff „Harmonisierung“ verwenden Müller, S. 220; Rüfner, in: Starck, FS 25 Jahre BVerfG, Bd. 2, S. 453 (466); Scheuner, VVDStRL 20 (1963), S. 125. 423 Vgl. dazu oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. III. 424 WT/DS58/AB/R. 425 Dazu bereits ausführlich oben im Text 1. Kap. D. 426 Hervorhebung vom Verfasser.

4. Kap.: Das Effektivitätsprinzip

329

Public Order: Principles of Content and Procedure (New Haven/Martinus Nijhoff, 1994), p. 184; I. Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, 2nd ed. (Manchester University Press, 1984), p. 118; D. Carreau, Droit International (Editions A. Pedone, 1994), para. 369; P. Daillier and A. Pellet, Droit International Public, 5th ed. (L.G.D.J., 1994), para. 172; L.A. Podesta Costa and J.M. Ruda, Derecho Internacional Pfflblico (Tipografica Editora Argentina, 1985), pp. 109–110 and M. Diez de Velasco, Instituciones de Derecho Internacional Pfflblico, 11th ed. (Tecnos, 1997), p. 169.“

Da im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products Art. XX(g) GATT 1994 nicht zur Bedeutungslosigkeit reduziert zu werden drohte, liegt der Schluß nahe, daß sich der Appellate Body hier auf die zweite Ausprägung des Effektivitätsprinzips stützte, um zu begründen, daß sowohl lebende als auch nicht-lebende Naturschätze in den Anwendungsbereich von Art. XX(g) GATT 1994 fallen. Unausgesprochen bestimmte der Appellate Body hier den Schutz der Natur im weiteren Sinne als das mit Hilfe von Art. XX(g) GATT 1994 zu verwirklichende Ziel. Diese Zweckbestimmung knüpft inhaltlich an die zuvor zur Wirkung der Präambel des WTO-Übereinkommens gemachten Ausführungen an.427 Eine möglichst umfangreiche Zweckerreichung erfordert es schließlich, dem Begriff erschöpfliche Naturschätze einen möglichst umfangreichen Anwendungsbereich zu geben und auch lebende Naturschätze als erschöpflich zu begreifen.

C. Abschließende Bewertung Die vorangehende Untersuchung hat gezeigt, daß das Effektivitätsprinzip in der Spruchpraxis des Appellate Body eine erhebliche Rolle spielt. Dabei steht der effet utile-Grundsatz deutlich im Vordergrund, während der Grundsatz ut res magis valeat quam pereat bislang nur eine untergeordnete Rolle spielt. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß dieser römisch rechtliche Grundsatz inhaltlich mit der teleologischen Auslegung übereinstimmt und deshalb weitgehend von dieser überlagert wird. Die häufige Verwendung des effet utile-Grundsatzes durch den Appellate Body hat zu einer mittlerweile recht ausdifferenzierten Spruchpraxis in diesem Bereich geführt. Das bereits aus dem allgemeinen Völkerrecht bekannte Verbot, Vorschriften im Wege der Auslegung zur Bedeutungslosigkeit zu reduzieren, hatte der Appellate Body um das Gebot einer harmonischen Auslegung ergänzt. Damit unternimmt er den Versuch, einen konstruktiven Ausgleich zwischen konfligierenden Vorschriften herzustellen. Der dabei beschrittene Weg gleicht der aus dem Bereich der Auslegung des deutschen Grundgesetzes bekannten Figur der praktischen Konkordanz.

427

Dazu bereits ausführlich oben im Text 1. Kap. D. I. und 1. Kap. D. III. 1.

330

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

5. Kapitel

Die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien In der Spruchpraxis des Appellate Body spielt die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien als mögliche Quelle von Auslegungsargumenten bislang nahezu keine Rolle. Während der Appellate Body die nachfolgende Praxis in Übereinstimmung mit dem gewohnheitsrechtlich geltenden Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK grundsätzlich als Auslegungsargument anerkennt, hat er der tatsächlichen Verwendung dieses Auslegungsarguments bereits zu Beginn seiner Tätigkeit sehr enge Grenzen gezogen. In Japan – Taxes on Alcoholic Beverages428 mußte sich der Appellate Body mit einer speziellen Frage im Zusammenhang mit dem Auslegungsargument spätere Praxis der Vertragsparteien auseinandersetzen. Schon unter dem GATT 1947 waren die japanischen Alkoholsteuern Gegenstand eines Panel-Verfahrens gewesen.429 Das nunmehr mit den japanischen Alkoholsteuern befaßte WTO-Panel war zu dem Ergebnis gekommen, daß von den VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947 angenommene Panelberichte – und damit auch der Bericht des GATT-Panels im ersten Alkohol-Fall – nachfolgende Praxis im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK darstellten.430 Der Appellate Body setzte sich in seinem Bericht ausführlich mit dieser Rechtsauffassung des Panels auseinander: „Article 31(3)(b) of the Vienna Convention states that ‚any subsequent practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding its interpretation‘ is to be ‚taken into account together with the context‘ in interpreting the terms of the treaty. Generally, in international law, the essence of subsequent practice in interpreting a treaty has been recognized as a ‚concordant, common and consistent‘ sequence of acts or pronouncements which is sufficient to establish a discernable pattern implying the agreement of the parties regarding its interpretation.24 An isolated act is generally not sufficient to establish subsequent practice;25 it is a sequence of acts establishing the agreement of the parties that is relevant.26

428

WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R. Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages, BISD 34S/83 (angenommen am 10.11.1987). 430 WT/DS8/R; WT/DS10/R; WT/DS11/R (11.7.1996): „(. . .) . . . panel reports adopted by the GATT CONTRACTING PARTIES and the WTO Dispute Settlement Body constitute subsequent practice in a specific case by virtue of the decision to adopt them. Article 1(b)(iv) of GATT 1994 provides institutional recognition that adopted panel reports constitute subsequent practice. Such reports are an integral part of GATT 1994, since they constitute ‚other decisions of the CONTRACTING PARTIES to GATT 1947‘ “. 429

5. Kap.: Die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien

331

Notes: 24 Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties (2nd ed., 1984), p. 137; Yasseen, ‚L’interprétation des traités d’après la Convention de Vienne sur le Droit des Traités‘ (1976-III) 151 Recueil des Cours p. 1 at 48. 25 Sinclair, supra., footnote 24, p. 137. 26 (1966) Yearbook of the International Law Commission, Vol. II, p. 222; Sinclair, supra., footnote 24, p. 138.“

Unter Bezugnahme auf das Werk von Sinclair und den Abschlußbericht der International Law Commission, der den Kodifikationsentwurf zur Vertragsrechtskonvention begleitete, definierte der Appellate Body hier zunächst, wie die Praxis der Vertragsparteien beschaffen sein muß, um als nachfolgende Praxis im Sinne der völkerrechtlichen Auslegungsregeln zu gelten. Dabei stellte er fest, daß es sich um eine übereinstimmende, allgemein verbreitete und gleichmäßige Abfolge von Handlungen oder Äußerungen handeln muß, die darüber hinaus dazu geeignet sein muß, ein erkennbares Verhaltensmuster zu beweisen, aus dem sich die Übereinstimmung der Parteien bezüglich der Auslegung ableiten läßt. Grundsätzlich stellt ein einzelner isolierter Akt keine nachfolgende Praxis der Vertragsparteien dar. Diese Vorgaben wendete der Appellate Body nunmehr auf von den VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947 angenommene Panelberichte an: „Although GATT 194727 panel reports were adopted by decisions of the CONTRACTING PARTIES28, a decision to adopt a panel report did not under GATT 1947 constitute agreement by the CONTRACTING PARTIES on the legal reasoning in that panel report. The generally-accepted view under GATT 1947 was that the conclusions and recommendations in an adopted panel report bound the parties to the dispute in that particular case, (. . .) Notes: 27 By GATT 1947, we refer throughout to the General Agreement on Tariffs and Trade, dated 30 October 1947, annexed to the Final Act Adopted at the Conclusion of the Second Session of the Preparatory Committee of the United Nations Conference on Trade and Employment, as subsequently rectified, amended or modified. 28 By CONTRACTING PARTIES, we refer throughout to the CONTRACTING PARTIES of GATT 1947.“

Hier stellte der Appellate Body nunmehr fest, daß die Entscheidung der VERTRAGSPARTEIEN, einen Bericht eine Panels anzunehmen, nicht bedeutete, daß die VERTRAGSPARTEIEN auch bezüglich der vom Panel geäußerten Rechtsansichten übereinstimmten. Diese Aussage ist im Zusammenhang mit den im vorherigen Absatz gemachten Ausführungen zu sehen. Darin hatte der Appellate Body den Grundsatz aufgestellt, daß auslegungsrelevante Praxis nur aus einer Reihe von Handlungen oder Äußerungen erwachsen kann, da sich nur daraus mit hinreichender Sicherheit erkennen läßt, daß die Parteien, wie in Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK gefordert, bezüglich einer bestimmten Auslegung übereinstimmen. Dies bedeutet, daß Einzelakte nur dann als spätere Praxis in Frage kommen, wenn sie die Übereinstimmung der Vertragsparteien sicher zu belegen vermögen. Gerade dies verneinte der

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Appellate Body für die Entscheidung der VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947, einzelne Panelberichte anzunehmen. Unter den VERTRAGSPARTEIEN hätte bezüglich der Rechtsauffassung des Panels regelmäßig keine Übereinstimmung geherrscht. Konsequent zog der Appellate Body die Schlußfolgerung, daß einzelne Panelberichte aus der Zeit des GATT 1947 keine nachfolgende Praxis darstellen: „For these reasons, we do not agree with the Panel’s conclusion in paragraph 6.10 of the Panel Report that ‚panel reports adopted by the GATT CONTRACTING PARTIES and the WTO Dispute Settlement Body constitute subsequent practice in a specific case‘ as the phrase ‚subsequent practice‘ is used in Article 31 of the Vienna Convention. (. . .)“

Nachdem der Appellate Body im Alkohol-Fall die Voraussetzungen für die Anwendung des Auslegungsargumentes spätere Praxis klar umrissen hatte, ergab sich in dem unmittelbar darauffolgenden Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear431 die Möglichkeit, diese Voraussetzungen anzuwenden. In United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear hatten die Vereinigten Staaten ihre Auslegung von Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung, derzufolge die rückwirkende Anwendung einer Schutzmaßnahme erlaubt sein sollte, mit der Argument untermauert, daß seit 1974 eine entsprechende Praxis der Vertragsparteien bestanden habe. Der Appellate Body nahm dazu wie folgt Stellung: „While that may well have been the practice of many importing countries, it was, of course, the practice under the MFA. Two considerations bear upon this matter. Firstly, assuming, arguendo only, that the WTO Members had wanted to keep that practice, it is very difficult to understand why the treaty basis for such practice was not maintained but was instead wiped out. Secondly, it has not been suggested that such a widely followed practice has arisen under Article 6.10 of the ATC notwithstanding the absence of the MFA backdating clause. At any rate, it is much too early for practice to have arisen under the ATC regime which commenced only on 1 January 1995.“

Der Appellate Body wies zunächst darauf hin, daß die von den Vereinigten Staaten herangezogene Praxis eine Praxis gewesen sei, die sich auf das im Jahr 1974 im Rahmen des GATT 1947 abgeschlossene Multifaser-Abkommen (MFA)432 bezogen habe. Auf dieser Feststellung baute das Gremium zwei Überlegungen auf. Zum einen wäre zu erwarten gewesen, daß die Mitglieder des zur WTO gehörenden Textilübereinkommens die vertragliche Basis für die auf dem MFA beruhende Praxis beibehalten hätten, 431 432

WT/DS24/AB/R; vgl. dazu oben 1. Kap. C. I. Dazu Wolfrum, in: Schmidt, BT 2, S. 535 (643 f.).

5. Kap.: Die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien

333

was aber nicht geschehen sei.433 Zum anderen hätten die Vereinigten Staaten nicht vorgetragen, daß sich die behauptete Übung auf Art. 6.10 des WTO-Textilübereinkommens bezöge. Abschließend brachte der Appellate Body den grundsätzlichen Einwand vor, daß im Zeitpunkt des Verfahrens, also im Winter 1996/1997,434 noch keine Praxis bezüglich des am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung entstanden sein könnte. Mit diesen Ausführungen setzte der Appellate Body die im Alkohol-Fall begonnene Präzisierung des Auslegungselementes spätere Praxis fort. Zum einen betonte das Gremium, daß nur ein Verhalten der Vertragsparteien, das sich auf den auszulegenden Vertrag bezieht, als spätere Praxis in Frage kommt. Darüber hinaus äußerte der Appellate Body die Ansicht, daß binnen zwei Jahren keine Praxis entstehen kann, die in hinreichend verläßlicher Weise den Nachweis der Übereinstimmung der Vertragsparteien bezüglich einer bestimmten Auslegung erlaubt. Damit knüpfte er an die im Alkohol-Fall aufgestellte Forderung an, daß es sich um eine Abfolge von Handlungen handeln muß. Im Fall Chile – Price Band System and Safeguard Measures Relating to Certain Agricultural Products435 vedeutlichte der Appellate Body die für das Vorliegen von späterer Praxis erforderlichen Merkmale noch einmal. In diesem Fall stellte sich die Frage, ob das chilenische System variabler Einfuhrzölle für landwirtschaftliche Güter mit Art. 4.2 des Übereinkommens über die Landwirtschaft vereinbar war. Chile hatte in diesem Zusammenhang unter anderem argumentiert, daß kein WTO-Mitglied, das ursprünglich ein solches System unterhalten hatte, dieses aus Anlaß des Inkrafttretens der WTO-Übereinkommen in ein System fester Zollsätze umgewandelt hätte. Der Appellate Body verstand diese Argumentation als Hinweis auf eine vermeintliche nachfolgende Praxis der Vertragsparteien und führte dazu aus: „213. Chile’s argument that it is ‚highly relevant‘ that no country that had a price band system in place before the conclusion of the Uruguay Round actually converted it into ordinary customs duties188 gives rise to another question, namely: is this practice relevant in interpreting Article 4.2 because it constitutes ‚subsequent practice in the application of the treaty which establishes the agreement of the parties regarding its interpretation‘, within the meaning of the cus433 Art. 3(5)(i) MFA gestattete, Schutzmaßnahmen auf den Tag zu datieren, an dem das importierende Mitglied Konsultationen verlangt hatte; vgl. die Ausführungen des Appellate Body. 434 Costa Rica legte am 11.11.1996 Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Panel ein (vgl. WT/DS27/5); der Appellate Body überreichte seinen Bericht am 7.2.1997 dem Vorsitzenden des DSB (vgl. WT/DS27/7). 435 WT/DS207/AB/R.

334

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

tomary rule of interpretation codified in Article 31(3)(b) of the Vienna Convention? In our Report in Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, we defined such ‚subsequent practice‘ as: . . . a ‚concordant, common and consistent‘ sequence of acts or pronouncements which is sufficient to establish a discernible pattern implying the agreement of the parties [to a treaty] regarding its interpretation.189 214. Neither the Panel record nor the participants’ submissions on appeal suggests that there is a discernible pattern of acts or pronouncements implying an agreement among WTO Members on the interpretation of Article 4.2. Thus, in our view, this alleged practice of some Members does not amount to ‚subsequent practice‘ within the meaning of Article 31(3)(b) of the Vienna Convention. Notes: 188 Chile’s appellant’s submission, para. 95. 189 Appellate Body Report, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R, adopted 1 November 1996, DSR 1996:I, 97, at 107.“

In dieser Passage präzisierte der Appellate Body zwei Apekte des Auslegungskriteriums spätere Praxis. Zum einen betonte er in Übereinstimmung mit der im allgemeinen Völkerrecht vorherrschenden Auffassung,436 daß das Verhalten einiger WTO-Mitglieder nicht dazu ausreicht, daß im Rahmen der späteren Praxis erforderliche übereinstimmende Vertragsverständnis aller Vertragsparteien zum Ausdruck zu bringen. Zum anderen machte er auch deutlich, daß nach seiner Auffassung bloße Untätigkeit der Vertragsparteien nicht als nachfolgende Praxis in Betracht kommt. Vielmehr kann nur ein erkennbares Muster von Handlungen oder Äußerungen auf die erforderliche Übereinstimmung der WTO-Mitglieder hindeuten.437 Die Äußerungen des Appellate Body zum Auslegungselement nachfolgende Praxis entsprechen den Vorgaben des allgemeinen Völkerrechts, auf die das Gremium im Alkohol-Fall sogar ausdrücklicher Bezug nahm. Allerdings hatte der Appellate Body bislang keine Gelegenheit, dieses Auslegungsargument tatsächlich anzuwenden. Dies könnte sich vor dem Hintergrund der Ausführungen des Appellate Body in United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Inkrafttreten der WTO-Übereinkommen ändern. Jedoch darf nicht übersehen werden, daß es nach dem Diktum im Fall Chile – Price Band System and Safeguard Measures Relating to Certain Agricul436

Vgl. dazu bereits oben 1. Teil 2. Kap. E. Bereits im Alkohol-Fall hatte der Appellate Body von einem discernible pattern of acts and pronouncements geredet. Da dort allerdings mit der Annahmeentscheidung der VERTRAGSPARTEIEN tatsächlich eine Handlung vorlag, war nicht völlig klar, ob das Gremium Schweigen bzw. Untätigkeit als spätere Praxis ausschließen wollte. Dies wurde erst im Fall Chile – Price Band System and Safeguard Measures Relating to Certain Agricultural Products klar, wo Chile ausdrücklich auf die Untätigkeit der WTO-Mitglieder Bezug genommen hatte. 437

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

335

tural Products mit wachsender Zahl von WTO-Mitgliedern zunehmend schwierig werden dürfte, ein Verhalten nachzuweisen, daß die Übereinstimmung aller WTO-Mitglieder zum Ausdruck bringt. 6. Kapitel

Die zwischen den Vertragsparteien anwendbaren Völkerrechtssätze Verglichen mit der späteren Praxis der Vertragsparteien spielen die in Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK aufgeführten „zwischen den Vertragsparteien anwendbare(n) Völkerrechtssätz(e)“ in der Auslegungspraxis des Appellate Body eine deutlich größere Rolle. Regelmäßig verwendet der Appellate Body sowohl Sätze des Völkergewohnheitsrechts (Art. 38 Abs. 1 lit. b IGHStatut) als auch allgemeine Rechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut) im Rahmen seiner Auslegungsbemühungen. Demgegenüber hat er außerhalb des Systems der WTO stehende völkerrechtliche Verträge (Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut) bislang nahezu unberücksichtigt gelassen.

A. Völkerrechtliche Verträge I. Vorbemerkung Außerhalb des WTO-Systems stehende völkerrechtliche Verträge spielen in der Praxis des Appellate Body bei der Auslegung der WTO-Übereinkommen nur eine geringe Bedeutung. Bei der Betrachtung der Fälle European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment438 und United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products439 im Rahmen der Wortlautauslegung hat sich gezeigt, daß das Gremium vereinzelt von der Möglichkeit Gebrauch macht, Verträge und andere Dokumente wie Wörterbücher zu verwenden und auf diese Weise die Wortbedeutung klärt. Demgegenüber hat der Appellate völkerrechtliche Verträge bislang noch nicht als einschlägige Sätze des Völkerrechts im Sinne von Art. 31 Abs. lit. c WVRK verwendet. Obwohl völkerrechtliche Verträge in der bisherigen Auslegungspraxis des Appellate Body bislang keine Rolle als relevant rules of international law gespielt haben, wird im völkerrechtlichen Schrifttum die Verwendung ein438 WT/DS62/AB/R; WT/DS67/AB/R; WT/DS68/AB/R; 1. Kap. B. 439 WT/DS58/AB/R; vgl. dazu oben 1. Kap. D.

vgl.

dazu

oben

336

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

zelner völkerrechtlicher Verträge als relevant rules of international law applicable between the parties im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK diskutiert. Hintergrund dieser Diskussion sind die möglichen und tatsächlichen Kollisionen zwischen den Interessen des freien Welthandels und anderen Wertvorstellungen der internationalen Gemeinschaft, wie Umweltschutz, Menschen- und Arbeitnehmerrechte. Vielfach wird eine Möglichkeit des Interessenausgleichs darin gesehen, die Vorschriften des WTO-Systems im Lichte einzelner Abkommen auszulegen, die dem Schutz dieser außerwirtschaftlichen Interessen dienen.440 Mögliche Ansatzpunkte für eine solche Öffnung der WTO-Rechtsordnung für welthandelsfremde Werte sind etwa der vielfach verwendete unbestimmte Rechtsbegriff „like“ oder auch Art. XX GATT 1994. In dieser Vorschrift haben die Mitglieder der WTO anerkannt, daß die genannten Werte auch innerhalb des Welthandelsrechts grundsätzlich bedeutsam sind. Die Untersuchung der allgemeinen völkerrechtlichen Methodik hat ergeben, daß völkerrechtliche Verträge grundsätzlich zur Auslegung anderer Verträge herangezogen werden können. Auf die damit einhergehende Frage, ob allerdings auch solche Verträge verwendet werden können, an denen nicht alle Parteien des auszulegenden Vertrags beteiligt sind, gibt es, wie ebenfalls gezeigt, keine allgemeingültige Antwort. Vielmehr bedarf es zur Beantwortung dieser Frage stets auch der Untersuchung des konkret auszulegenden Vertrags.441 An dieser Stelle soll nunmehr diese Frage für das WTO-System beantwortet werden. Ausgangspunkt ist dabei vor dem Hintergrund der in der neueren völkerrechtlichen Literatur geführten Diskussion zunächst Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK. Dabei stehen bei dieser Diskussion zwei Fragen im Mittelpunkt, denen auch hier nochmals nachgegangen wird. Zum einen ist zu untersuchen, ob völkerrechtliche Verträge überhaupt rules im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK sein können. Soweit dies zu bejahen ist, ist weiterhin zu untersuchen, welchen Beteiligungsgrad Verträge aufweisen müssen, um für die Auslegung von Vorschriften des WTO-Systems relevant zu sein.

440 In aller Regel helfen die allgemeinen Kollisionsvorschriften des Völkerrechts wie die lex posterior-Regel (vgl. Art. 30 WVRK) oder die lex generalis-Regel in diesen Fällen nicht weiter; dazu ausführlich mit weiteren Nachweisen Hilf, NVwZ 2000, S. 481 (483 f.). 441 Vgl. dazu die Ausführungen oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. I. 2.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

337

II. Völkerrechtliche Verträge als „rules“ im Sinne von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK Die Untersuchung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK im Hinblick auf die Frage, ob der Begriff rules (dt.: Völkerrechtssatz) auch völkerrechtliche Verträge erfaßt, hat mit der Wortlautauslegung zu beginnen. Das New Shorter Oxford English Dictionary definiert den Begriff rule als A principle, regulation, or maxim governing individual conduct.442 Diese Definition, vor allem die Worte principle und maxim, sprechen eher dafür, daß der Begriff rule nur grundsätzliche Regeln des Völkerrechts, also allgemeine Grundsätze des Völkerrechts, grundlegende Vorschriften des Gewohnheitsrechts sowie allgemeine Rechtsgrundsätze, enthält.443 Allerdings enthält das New Shorter Oxford English Dictionary daneben noch zwei weitere Definitionen, die – ebenso wie der Begriff regulation – darauf hindeuten, daß der Begriff rule umfassender zu verstehen ist und sämtliche Regeln der Völkerrechtsordnung enthält. Diese Definition lautet The code of discipline or body of regulations observed by a religious order beziehungsweise Any of various codes of practice or sets of regulations, esp. governing the playing of a (specified) sport.444 Wenngleich sich beide Definitionen nicht auf den rechtlichen Bereich beziehen, so deuten sie doch auf ein Verständnis des Begriffs hin, wonach alle verhaltenslenkenden Vorschriften und damit auch völkerrechtliche Verträge erfaßt sind. Damit läßt die Wortlautauslegung des Begriffs seine Bedeutung zunächst ambivalent. Die systematische Auslegung der Vorschrift spricht indes dafür, daß Verträge grundsätzlich bei der Vertragsauslegung herangezogen werden können. Art. 31 Abs. 2 lit. a, b und Abs. 3 lit. a WVRK nennen ihrerseits Verträge ausdrücklich als zulässige Erkenntnisquellen für die Auslegung eines Vertrags. Namentlich Schwarzenberger hat gegen diese Ansicht vorgetragen, daß sämtliche möglicherweise „einschlägigen“ Verträge abschließend durch Art. 31 Abs. 2 lit. a, b und Abs. 3 lit. a WVRK erfaßt wären und daß sich daher der Begriff rules nur auf Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze beziehe.445 Diese Auffassung übersieht jedoch, daß die in Art. 31 Abs. 2 lit. a, b und Abs. 3 lit. a WVRK aufgeführten Verträge allesamt vertragsbezüglich sein müssen, sich also auf den auszulegenden Vertrag beziehen müssen. Die in Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK genannten rules 442

Brown, Bd. 2 (N–Z), S. 2646. So auch Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), S. 491 (500), der von dem Begriff rules nur Sätze des Gewohnheitsrechts erfaßt sah und daher vorschlug, den Begriff obligations zu verwenden. 444 Brown (Hrsg.), The New Shorter Oxford English Dictionary on Historical Principles, Bd. 2 (N–Z), S. 2646. 445 Schwarzenberger, International Law and Order, S. 122. 443

338

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

müssen demgegenüber relevant, also einschlägig sein.446 Insofern zieht Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK den Kreis der heranzuziehenden Völkerrechtssätze grundsätzlich weiter. Im Zuge der teleologischen Auslegung ergeben sich für Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK letztlich zwei Zwecke. Zum einen soll die Vorschrift, wie überhaupt Art. 31 und Art. 32 WVRK, einen Beitrag zum Verständnis einer Vertragsvorschrift leisten. Dabei ist aus theoretischer Sicht davon ausgehen, daß das Verstehen einer Vorschrift um so leichter wird, je umfangreicher die zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen sind. Dies spricht dafür, auch völkerrechtliche Verträge in den Begriff rules einzubeziehen, um auf diese Weise die Zahl der bei der Auslegung zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen zu erweitern. Der zweite Zweck von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK besteht darin, der bereits näher dargestellten Vermutung Rechnung zu tragen,447 daß die Parteien eines völkerrechtlichen Vertrags diesen in die geltende Völkerrechtsordnung einbetten wollten.448 Auch diese Zielsetzung spricht dafür, nicht nur Gewohnheitsrecht und Allgemeine Rechtsgrundsätze, sondern auch völkerrechtliche Verträge als Auslegungshilfen zuzulassen. Schließlich bestätigt ein Blick auf die Entstehungsgeschichte von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK das vor allem im Wege der systematischen und teleologischen Auslegung gefundene Ergebnis, daß auch völkerrechtliche Verträge unter den Begriff rules fallen. Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK geht zurück auf zwei Vorschriften, die der von 1964 stammende Konventionsentwurf des damaligen Berichterstatters der International Law Commission, Sir Humphrey Waldock, enthielt. Diese beiden Vorschriften beschäftigten sich mit dem speziellen Problem des intertemporalen Rechts und seiner Auswirkung auf die Vertragsauslegung. Art. 56 des Waldock-Entwurfs lautete:449 Art. 56 – The inter-temporal law 1. A treaty is to be interpreted in the light of the law in force at the time when the treaty was drawn up. 2. (. . .)

Artikel 70 des Waldock-Entwurfs, der allgemeine Regeln der Vertragsauslegung enthielt, bestimmte unter anderem:450 Art. 70 – General rules 1. The terms of a treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the natural and ordinary meaning to be given to each term – 446 447 448 449 450

Näher dazu Yasseen, RdC 151 (1976-III), S. 1 (63). Dazu bereits näher oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. I. 1. Yasseen, RdC 151 (1976-III), S. 1 (63). Abgedruckt bei Wetzel/Rauschning, S. 239. Abgedruckt bei Wetzel/Rauschning, S. 238.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

339

(a) (. . .) (b) in the context of the rules of international law in force at the time of the conclusion of the treaty. 2. (. . .)

Diese beiden Vorschläge wurden von der International Law Commission zusammen diskutiert.451 Im Mittelpunkt dieser Diskussion stand zunächst die Frage, ob ein Vertrag, wie von Waldock vorgeschlagen, im Lichte des im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses geltenden Rechts auszulegen sei oder im Lichte des bei Auslegung geltenden Rechts. Dabei nahmen die einzelnen Mitglieder der ILC vorwiegend Bezug auf basic principles of international law452, fundamental rules of the legal order453 sowie principles of international law454. Diese Ausführungen lassen zunächst vermuten, daß die Mitglieder der ILC nur grundlegende Normen der Rechtsordnung bei der Auslegung von Verträgen berücksichtigt sehen wollten. Diese Schlußfolgerung ist jedoch mit gewissen Vorbehalten zu versehen, weil im Zentrum der Diskussion nicht die Bedeutung der Begriffe the law in force (Art. 56) beziehungsweise rules of international law (Art. 70) stand. Nachdem in der eigentlich diskutierten Frage des bei der Auslegung in Bezug zu nehmenden Zeitpunktes keine Einigung erzielt werden konnte, strich Waldock Art. 56 und änderte Art. 70 seines Entwurfes wie folgt:455 Art. 70 – General rule 1. A treaty shall be interpreted in good faith in accordance with the ordinary meaning to be given to each provision – (a) (. . .) (b) in the light of the rules of international law [in force at the time of its conclusion]. 2. (. . .)

Im Mittelpunkt der Diskussion um diesen neuerlichen Entwurf Waldocks stand nun nicht mehr die Frage des Zeitpunkts, auf den bei der Auslegung Bezug zu nehmen sei, sondern die Frage, welche Rechtsnormen im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen seien. Wiederum äußerten einige Mitglieder zunächst die Auffassung, daß nicht alle Regeln des Völkerrechts, sondern nur basic principles of international law bei der Auslegung eines Vertrags Berücksichtigung finden sollten.456 Dieser Ansicht traten je451 452 453 454 455 456

Vgl. dazu den Bericht von Waldock in YBILC 1964 II, S. 56. § 15. Tunkin, YBILC 1964 I, S. 278, § 49. Yasseen, YBILC 1964 I, S. 279, § 57. Ago, YBILC 1964 I, S. 280 f., § 80; Yasseen, YBILC 1964 I, S. 281, § 93. YBILC 1964 I, S. 309. Tunkin, YBILC 1964 I, S. 310, § 8; Ago, YBILC 1964 I, S. 310, § 9.

340

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

doch einige Mitglieder entschieden entgegen, die dafür plädierten, auch völkerrechtliche Verträge in die Auslegung einzubeziehen.457 Angesichts dieser offensichtlichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der ILC schlug der Vorsitzende vor, diese Frage zunächst zu vertagen.458 In der folgenden Sitzung wurden die Standpunkte zunächst erneut ausgetauscht.459 Daraufhin erklärten sich die ursprünglichen Vertreter der Ansicht, daß nur die Grundsätze des Völkerrechts bei der Auslegung eines Vertrags einfließen sollten, mit der von Waldock vorgeschlagenen Variante einverstanden.460 Dies geschah ausdrücklich auf Grundlage der unmittelbar zuvor sowohl von Waldock461 als nunmehr auch von Yasseen462 vertretenen Auffassung, daß der Begriff rules umfassend zu verstehen sei und auch Verträge erfasse. Damit ergibt die Auslegung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK zunächst, daß auch Verträge zu den rules of international law gehören, die bei der Auslegung eines Vertrags zu berücksichtigen sind. III. Beteiligungsgrad Damit stellt sich die Frage, ob nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK die Parteien des auszulegenden Vertrags und die Parteien des bei der Auslegung zu berücksichtigenden Vertrags identisch sein müssen oder ob es zulässig ist, einen Vertrag zu berücksichtigen, dem sich nicht alle Parteien des auszulegenden Vertrags unterworfen haben. Auch dazu bedarf es zunächst wiederum der Interpretation von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK. Der Wortlaut von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK spricht von relevant rules of international law applicable between the parties. Dieser Wortlaut gibt keine klare Auskunft darüber, ob die bei der Auslegung heranzuziehenden Regeln des Völkerrechts zwischen allen Parteien des auszulegenden Vertrags zur Anwendung kommen müssen oder ob es genügt, wenn die Regeln zwischen einigen Parteien anwendbar sind.463 Der Vorschrift fehlt insofern ein das Wort parties näher konkretisierendes Adjektiv. Auch die systematische Interpretation der Vorschrift vermag keine eindeutige Klarheit zu schaffen. Der Blick auf Art. 31 Abs. 2 WVRK erlaubt zunächst den Schluß, daß parties nicht sämtliche Parteien des auszulegen457 Waldock, YBILC 1964 I, S. 310, § 10; de Luna, YBILC 1964 I, S. 310, § 13; Rosenne, YBILC 1964 I, S. 310 f., § 16. 458 Ago (als Vorsitzender), YBILC 1964 I, S. 312, § 43. 459 Vgl. YBILC 1964 I, S. 316, §§ 13–17. 460 YBILC 1964 I, S. 316, § 19 (Ago); § 20 (Tunkin); § 21 (Verdross). 461 YBILC 1964 I, S. 316, § 17. 462 YBILC 1964 I, S. 316, § 18. 463 Marceau, JWT 33/5 (1999), S. 87 (123).

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

341

den Vertrags bezeichnet. Art. 31 Abs. 2 lit. a WVRK spricht ausdrücklich von all parties. In Art. 31 Abs. 2 lit. b WVRK ist davon die Rede, daß eine oder mehrere Parteien ein Dokument errichtet haben, das von den anderen Parteien als mit dem auszulegenden Vertrag in Verbindung stehend anerkannt wurde; auch die in dieser Vorschrift genannten Parteien ergeben zusammen alle Vertragsparteien. Demgegenüber enthält Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK weder den ausdrücklichen Hinweis auf all parties, noch einen impliziten Hinweis auf alle Vertragsparteien wie Art. 31 Abs. 2 lit. b WVRK. Dies rechtfertigt das argumentum e contrario, daß sich der Begriff parties auf weniger als alle Vertragsparteien bezieht.464 Die systematische Auslegung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK darf sich indes nicht auf eine Betrachtung von Art. 31 Abs. 2 WVRK beschränken. Auch Art. 31 Abs. 3 lit. a, b WVRK bilden einen Teil des auslegungsrelevanten Kontextes. Diese beiden Varianten von Art. 31 Abs. 3 WVRK sind Ausprägungen der sogenannten authentischen Interpretation.465 Als authentische Interpretation bezeichnet man eine Auslegung, die der Normsetzer selbst vorgenommen hat. Da Normsetzer eines völkerrechtlichen Vertrags alle Vertragsparteien gemeinsam sind, bedeutet authentische Interpretation im Völkerrecht eine von allen Vertragsparteien getragene Auslegung.466 Dies zeigt, daß der Begriff parties in Art. 31 Abs. 3 lit. a, b WVRK ebenfalls alle Vertragsparteien bezeichnet. Wenn auch Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK keinen Fall der authentischen Interpretation darstellt, zeigt der Blick auf die beiden vorangestellten Varianten zumindest, daß der Begriff auszulegende Begriff parties auch sämtliche Vertragsparteien bezeichnen kann.467 Im Rahmen der Untersuchung der allgemeinen völkerrechtlichen Methodik wurde auf die Bedeutung des Konsensprinzips sowie die Bedeutung des 464

Marceau, JWT 33/5 (1999), S. 87 (123). Zu Art. 31 Abs. 3 lit. a WVRK: Aust, S. 191; zu Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK: Karl, Spätere Praxis, S. 194; vgl. ausdrücklich auch Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 11 Rdnr. 2; vgl. auch §§ 14, 15 des Kommentars der International Law Commission zu Art. 27 des ILC-Entwurfes zur Vertragsrechtskonvention, der in beiden Fällen von authentischer Auslegung spricht, abgedruckt in Wetzel/Rauschning, S. 253 f. 466 Bernhardt, EPIL II (1995), S. 1416 (1432); Karl, Spätere Praxis, S. 40. 467 Einen weiteren Teil des auslegungsrelevanten Kontextes von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK bilden die Vorschriften der Vertragsrechtskonvention zu Vorbehalten (Art. 19 ff.), Vertragsänderungen (Art. 39 f.) und Modifikationen (Art. 41). Diese Vorschriften gestatten es, daß der Vertrag zwischen unterschiedlichen Vertragsparteien unterschiedliche Inhalte hat, was wiederum dafür spricht, daß Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK nicht verlangt, daß alle Vertragsparteien des auszulegenden Vertrags auch Parteien des auslegungshalber herangezogenen Vertrags sein müssen; vgl. dazu bereits oben im Text 1. Teil 2. Kap. G. I. 2. b) aa) am Ende. Allerdings haben diese Gebiete im Recht der WTO eine jeweils eigene Regelung erfahren. Dazu sogleich unten IV. 2. 465

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Grundsatzes der Integrität multilateraler Verträge und der dazu bestehenden Ausnahmen für die Beantwortung der hier zu untersuchenden Frage hingewiesen. Das Konsensprinzip hat über die in Art. 34 WVRK enthaltene pacta tertiis-Regel Eingang in die Vertragsrechtskonvention gefunden. Die Vorschriften der Vertragsrechtskonvention zu Vorbehalten (Art. 19 ff.), nur für einen Teil der Vertragsparteien in Kraft tretende Vertragsänderungen (Art. 40 Abs. 4) und Modifikationen (Art. 41) kodifizieren die grundsätzlichen Ausnahmen vom Grundsatz der Integrität multilateraler Verträge, indem sie zulassen, daß der Vertrag zwischen unterschiedlichen Vertragsparteien unterschiedliche Inhalte annimmt. Die Zusammenschau der genannten Vorschriften, die ebenfalls zum auslegungsrelevanten Kontext von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK gehören, ergeben in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der allgemeinen methodischen Untersuchung, daß es nicht erforderlich ist, daß der Kreis der Vertragsparteien des auszulegenden Vertrags und des auslegungshalber heranzuziehenden Vertrags identisch sein müssen. Vielmehr genügt es, daß die von einer bestimmten Auslegung betroffenen Parteien durch beide Verträge gebunden sind. Der Zweck von Art. 31 WVRK, besteht, wie gesehen, unter anderem darin, das Verstehen eines Vertrags und seiner Vorschriften zu fördern.468 Da jeder für die Beantwortung der Auslegungsfrage inhaltlich relevante Vertrag das Verstehen des auszulegenden Vertrags möglicherweise erleichtert und damit dem Zweck von Art. 31 WVRK dient, kommt die teleologische Auslegung zu dem Ergebnis, daß sämtliche thematisch einschlägigen Verträge bei der Interpretation einer Vertragsvorschrift herangezogen werden können. Insgesamt ergibt somit die Auslegung von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK, daß zu den bei der Auslegung zu berücksichtigenden rules of international law applicable in the relations between the parties auch völkerrechtliche Verträge zählen, denen nicht alle Vertragsparteien des auszulegenden Vertrags angehören. IV. Besondere Aspekte des WTO-Systems Für den Bereich der Auslegung der Vorschriften des WTO-Systems bedürfen die vorstehenden Überlegungen der Ergänzung beziehungsweise Modifikation. Bereits im Zusammenhang mit den allgemeinen Überlegungen zur völkerrechtlichen Methodik wurde darauf hingewiesen, daß die Beantwortung der Frage, ob ein als Auslegungshilfe verwendeter Vertrag sämtliche Parteien des auszulegenden Vertrags binden muß, nicht bei allgemeinen 468

Dazu soeben oben II.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

343

Erwägungen stehen bleiben darf, sondern stets auch den auszulegenden Vertrag selbst in Blick nehmen muß. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ergebnisse haben dabei Erwägungen zum Grundsatz der Integrität im Mittelpunkt zu stehen. 1. Verpflichtungsstruktur der materiellen Regeln Die zum System der WTO gehörenden Multilateralen Handelsabkommen weisen sämtlich eine bipolare Struktur auf.469 Die Rechtsbeziehungen, also die Pflicht zur Vertragserfüllung und das Recht, Erfüllung zu verlangen, bestehen im Einzelfall nur zwischen Exportstaat und Importstaat, nicht jedoch gegenüber weiteren Mitgliedern der Organisation, die an einem konkreten Handelsvorgang, das heißt dem Austausch von Waren und Dienstleistungen, nicht beteiligt sind. Dies zeigt sich unter anderem auch daran, daß weder die Organe der Organisation, noch ein Mitglied der Organisation, dessen Rechte unberührt sind, ein Vertragsverletzungsverfahren, das heißt ein Verfahren vor dem DSB, anstrengen kann.470 2. Der Grundsatz der Integrität in den organisationsrechtlichen Vorschriften Während diese bipolare Verpflichtungsstruktur dafür spricht, daß der Grundsatz der Integrität in der WTO-Rechtsordnung eher schwach ausgeprägt ist, sprechen eine Reihe von Gesichtspunkten für einen hohen Stellenwert dieses Grundsatzes. Dieser hohe Stellenwert des Grundsatzes der Integrität ergibt sich zunächst aus Art. II.2 des WTO-Übereinkommens, der die Vertragsparteien verpflichtet, das gesamte Abkommen einschließlich der Anlagen 1, 2 und 3 zu akzeptieren (single agreement/undertaking approach)471 und damit dar469 Bleckmann, AVR 34 (1996), S. 218 (233 f.); Doehring, Rdnr. 330; Hahn, S. 152 ff.; Neumann, ZaöRV 61 (2001), S. 529 (540). Diese im wesentlichen für das GATT 1947/94 entwickelte These trifft auch für die übrigen Multilateralen Handelsübereinkünfte zu. 470 Ausführlich zu diesem Komplex Hahn, S. 111–155; Pauwelyn, S. 11–26. 471 Vgl. zu Art. II WTO und zur formellen Struktur der WTO-Übereinkommen als einheitlicher völkerrechtlicher Vertrag bereits oben im Text 2. Teil 1. Kap. A. Die Terminologie in diesem Bereich ist uneinheitlich; vgl. einerseits Meng, in: Müller-Graff, S. 63 (70) und Stoll, EPIL IV (2000), S. 1529 (1530), die von single undertaking approach sprechen, und andererseits Beise, S. 91, der von single agreement approach spricht und davon den single undertaking approach ausdrücklich unterschieden wissen will, a. a. O., S. 66, 91. Demgegenüber spricht Jackson, World Trade Organization, S. 38, von single package concept.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

auf abzielt, einen einheitlichen Bestand von Rechten und Pflichten zu schaffen.472 Diese Konstruktion sollte eine Wiederholung der oft beklagten „Fragmentisierung“ beziehungsweise „Balkanisierung“ des alten GATT 1947-Systems verhindern, das es den Staaten ermöglichte, nur ausgewählten Abkommen beizutreten und auf diese Weise den Grad ihrer völkerrechtlichen Verpflichtung individuell zu bestimmen.473 Daneben schränkt das WTO-Übereinkommen das Recht, Vorbehalte anzubringen, und die Möglichkeit von Vertragsänderungen, die nur für einen Teil der Vertragspartner in Kraft treten, im Vergleich zu den Regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention deutlich ein. Art. XVI.5 des WTO-Übereinkommens bestimmt, daß Vorbehalte zu den Multilateralen Handelsübereinkünften nur angebracht werden dürfen, soweit dies in den betreffenden Übereinkommen vorgesehen ist. Soweit die Multilateralen Übereinkünfte überhaupt Vorbehalte gestatten, stellen sie diese unter die Bedingung der Zustimmung der anderen Mitglieder.474 Dies verringert die Möglichkeit eines WTO-Mitglieds, einen Vorbehalt anzubringen erheblich und sichert einen einheitlichen Verpflichtungsgrad aller Mitglieder. Der Zulässigkeit der nur für einen Teil der Mitglieder der WTO in Kraft tretenden Vertragsänderung, die in Art. 40 Abs. 4 WVRK geregelt sind, werden durch Art. X des WTO-Übereinkommens äußerst enge Grenzen gezogen. Gemäß Art. X.2 des WTO-Übereinkommens können die Vorschriften über die Beschlußfassung innerhalb der Organisation (Art. IX) sowie der Meistbegünstigungsgrundsatz von GATT 1994, GATS und TRIPS nur einstimmig geändert werden. Änderungen anderer Vorschriften des WTOSystems bedürfen nach Art. X.3 Satz 1 der Zustimmung von Zweidritteln aller WTO-Mitglieder, bevor sie für diese in Kraft treten. Bereits dieses relativ hohe Quorum bewirkt, daß sich die Integrität der einzelnen Abkommen erhält. Darüber hinaus enthält Art. X.3 Satz 2 des WTO-Übereinkommens eine weitere Sicherung der Integrität der Abkommen.475 Danach kann die Ministerkonferenz mit Dreiviertelmehrheit beschließen, daß eine Vertragsänderung derart beschaffen ist, daß es jedem Mitglied, das diese Änderung nicht innerhalb einer bestimmten Frist annimmt, in jedem Einzelfall freisteht, aus der WTO auszutreten oder mit Zustimmung der Ministerkon472

Beise, S. 91 f.; Jackson, World Trade Organization, S. 37 ff.; Meng, in: Müller-Graff, S. 63 (70). 473 Beise, S. 91; Meng, in: Müller-Graff, S. 63 (71). 474 Vgl. z. B. Art. 15.1 des Übereinkommens über technische Handelshemmnisse; Art. 18.2 des Antidumpingübereinkommens; Art. 32.2 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen; Art. 72 TRIPS; das GATT 1994, das Übereinkommen über Schutzmaßnahmen und das GATS sehen keine Möglichkeit für die Anbringung von Vorbehalten vor. 475 Vgl. Weiß/Herrmann, Rdnr. 214 f.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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ferenz Mitglied zu bleiben. Diese Bestimmung gibt der Ministerkonferenz also die Möglichkeit, einem Mitglied, daß eine Änderung für sich nicht akzeptieren will, einen „Rat zum Austritt“ aus der WTO zu erteilen.476 Damit ist der Ministerkonferenz ein Instrument in die Hand gegeben, die Einheitlichkeit der Pflichtenstruktur durchzusetzen. Sowohl die zum Inkrafttreten einer Änderung erforderliche Zweidrittelmehrheit als auch das der Ministerkonferenz an die Hand gegebene Druckmittel geben dem Grundsatz der Integrität des Vertrags deutlich größeres Gewicht als Art. 40 Abs. 4 WVRK. Während das WTO-Übereinkommen ausdrückliche Regeln hinsichtlich der Möglichkeit, Vorbehalte anzubringen, und hinsichtlich der Zulässigkeit von nur zwischen einem Teil der Vertragsparteien wirkenden Änderungen enthält, finden sich darin keine ausdrücklichen Regeln über inter se-Modifikationen. Das Fehlen einer solchen ausdrücklichen Regelung führt jedoch nicht dazu, daß die sehr weitgehende Regelung des Art. 41 WVRK, wonach Vertragsmodifikationen grundsätzlich zulässig sind, sofern sie weder gegen die pacta tertiis-Regel verstoßen noch mit der Verwirklichung von Ziel und Zweck unvereinbar sind, eröffnet ist.477 Ein Rückgriff auf diese Vorschrift der Vertragsrechtskonvention wäre überhaupt nur dann zulässig, wenn das WTO-Übereinkommen kein Verbot von Vertragsmodifikationen enthält. Dies wird ebenfalls in Art. 41 WVRK deutlich. Ob das WTO-Übereinkommen Vertragsmodifikationen zwischen einem Teil der Vertragsparteien verbietet, ist zunächst wiederum im Wege der Auslegung zu ermitteln. Dabei erscheint es widersinnig anzunehmen, daß die Mitglieder der WTO einerseits das Recht, Vorbehalte anzubringen, sowie die Möglichkeit des Inkrafttretens von Vertragsänderungen, die nur für einen Teil der Mitglieder gelten, eng begrenzt haben, sich aber andererseits die Möglichkeit erhalten haben, die Multilateralen Handelsübereinkommen nahezu beliebig zu modifizieren. Auf diese Weise könnte die Wirkung, die mit Art. XVI.5 und X des WTO-Übereinkommens gerade verhindert werden soll, mit Hilfe von inter se-Modifikationen erzielt werden. Vor dem Hintergrund dieser Diskrepanz ist davon auszugehen, daß das WTO-Übereinkommen inter se-Modifikationen des WTO-Übereinkommens sowie der Multilateralen Handelsverträge nicht zuläßt. Für inter se-Modifikationen, mit de476

Die genaue Bedeutung der Vorschrift, insbesondere die Folgen einer Weigerung auszutreten, ist unklar; vgl. Jackson, World Trade Organization, S. 45; Meng, in: Müller-Graff, S. 63 (69). 477 So aber Pauwelyn, AJIL 95 (2001), S. 535 (547). Pauwelyn stellt die These auf, daß handelsbegünstigende Modifikationen in Art. XXIV GATT 1994 abschließend geregelt und daher im übrigen verboten seien. Daneben seien aber handelsbeschränkende Modifikationen grundsätzlich möglich, weil sie sich für Drittstaaten grundsätzlich positiv auswirkten (zu dieser These sogleich unten im Text) und auch nicht mit der Verwirklichung von Ziel und Zweck des gesamten WTO-Übereinkommens unvereinbar seien, S. 535 (547 ff.).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

nen sich die Vertragspartner der Modifikation eine günstigere Behandlung versprechen als von den WTO-Regeln gefordert, ergibt sich dieses Ergebnis aber auch aus dem Zusammenwirken von Meistbegünstigungsklausel und pacta tertiis-Regel. Damit ein solches Abkommen Erfolg haben könnte, müßten die Vertragsparteien die Meistbegünstigungsverpflichtung im Verhältnis zu allen anderen WTO-Mitgliedern aufheben. Dies würde einen unzulässigen Vertrag zulasten Dritter darstellen. Ein weiteres Zeichen dafür, daß die Integrität der zum WTO-System gehörenden Übereinkommen ein hohes Gut ist, ist darin zu sehen, daß Art. IX.3, 4 des WTO-Übereinkommens die Möglichkeit der WTO-Mitglieder, Ausnahmegenehmigungen (sogenannte waiver) zu erwirken, gegenüber dem GATT 1947 stark eingeschränkt hat. So sieht Art. IX.4 des WTOÜbereinkommens die ausdrückliche Befugnis der Ministerkonferenz vor, Ausnahmegenehmigungen zu widerrufen.478 3. Außerrechtliches Erfüllungsinteresse Die vorstehenden Beobachtungen zeigen, daß die organisationsrechtlichen Bestimmungen des WTO-Übereinkommens den Grundsatz der Integrität des Vertragssystems und damit einhergehend einen für alle Mitglieder identischen Bestand an Rechten und Pflichten in besonderem Maße betonen. Dabei ist die Integrität des Welthandelssystems kein Selbstzweck. Sie dient vielmehr dem Ziel, ein möglichst verläßliches Handelssystem zu schaffen.479 Dazu gehört auch, daß sich jedes Mitglied beziehungsweise die in den Mitgliedsstaaten tätigen Wirtschaftssubjekte auf Waren- und Dienstleistungsströme einstellen können. Dies ist um so eher gewährleistet, wenn sämtliche Mitglieder den gleichen rechtlichen Bedingungen unterliegen. Die Entscheidung von zwei oder mehr Mitgliedern der WTO, ihre vertraglichen Beziehungen im Verhältnis zueinander zu verändern, wirkt sich nicht nur auf den Waren- und Dienstleistungsstrom zwischen diesen Mitgliedern aus, sondern hat auch unmittelbare Auswirkungen auf den Güteraustausch zwischen diesen Mitgliedern und Dritten. Für diese Drittmitglieder und deren Wirtschaftssubjekte führen derartige Absprachen zu erheblichen Unwägbarkeiten, wobei die pauschale Aussage, daß sich eine Handelsbeschränkung grundsätzlich positiv auf Dritte auswirkt, gerade nicht haltbar ist.480 Derartige Vereinbarungen führen oftmals zu einer Umlenkung von Warenströmen. Diese bewirken regelmäßig Marktverwerfungen, weil auf den Märkten der Drittmitglieder Veränderungen in der Angebots- oder 478 479 480

Umfassend Beise, S. 203 f.; Jackson, World Trade Organization, S. 44. Zu diesem Gedanken bereits Benedek, Rechtsordnung, S. 78. So aber Pauwelyn, AJIL 95 (2001), S. 535 (549).

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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Nachfragestruktur verursacht werden. Dabei ist es sowohl aus wirtschaftlicher Sicht als auch aus Sicht der Drittmitglieder unerheblich, ob es sich dabei um Vereinbarungen handelt, die die Vorschriften der Multilateralen Handelsübereinkommen direkt modifizieren oder die im Wege der Interpretation auf diese einwirken. V. Bewertung Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, daß die Verwendung eines völkerrechtlichen Vertrags als Auslegungshilfe dazu führen kann, daß die vertraglichen Verpflichtungen der Vertragspartner des auszulegenden Vertrags inhaltlich nicht mehr übereinstimmen. Diese Möglichkeit besteht, wenn nicht alle Vertragsparteien des auszulegenden Vertrags gleichzeitig auch Parteien des als Auslegungshilfe heranzuziehenden Vertrags sind. Während das allgemeine Völkerrecht diesen Zustand divergierender Verpflichtungsgrade grundsätzlich hinnimmt, ist dieser Zustand im WTO-Recht nicht erwünscht. Dies führt dazu, daß für den Bereich der WTO die oben getroffene Aussage, wonach dem als Auslegungshilfe heranzuziehenden Vertrag nicht alle Vertragsparteien des auszulegenden Vertrags angehören müssen, zu revidieren ist. Völkerrechtliche Verträge, die eine geringere Zahl von Vertragsparteien haben als das WTO-System, spielen bei der Auslegung von WTO-Vorschriften keine Rolle. Gegen diese Auffassung ist eingewendet worden, daß sie zu dem absurden Ergebnis führe, daß multilaterale Verträge mit hohem Beteiligungsgrad in zunehmende Isolation geräten, weil eine immer kleinere Zahl von Verträgen zu ihrer Auslegung herangezogen werden könnte.481 Letztlich verfängt diese Kritik jedoch nicht. Zwar beschreibt sie zutreffend, den Vorgang, daß bei steigender Zahl der Vertragsparteien des auszulegenden Vertrags eine stetig geringer werdende Zahl von Verträgen zu dessen Auslegung herangezogen werden können. Dabei wird jedoch außer Acht gelassen, daß ein Vertrag bei wachsender Zahl von Vertragsparteien seinerseits beginnt, auf andere Verträge mit geringerer Anzahl von Vertragsparteien auszustrahlen, und dadurch in die Position einer nach Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK zu beachtenden rule of international law erwächst. Das im Rahmen dieser Untersuchung erzielte Ergebnis gilt auch für Verträge, deren Ziel der Schutz und die Durchsetzung von Interessen sind, die mit den Zielen der WTO bisweilen kollidieren. Aus rechtspolitischer Sicht mag dieses Ergebnis unbefriedigend erscheinen. Aus Sicht der von den Vorschriften des WTO-Systems gebildeten Welthandelsordnung ist dieses Ergebnis indes systemgerecht. Die Mitglieder der Organisation haben ein 481

Marceau, JWT 33/5 (1999), S. 87 (124).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Rechtssystem geschaffen, in dem sie einer einheitlichen Pflichtenstruktur aller Mitglieder einen hohen Stellenwert eingeräumt haben. Ein Abweichen einzelner Mitglieder von ihren Verpflichtungen ist nur unter engen Voraussetzungen möglich und erfordert die Zustimmung von regelmäßig mindestens Zweidritteln der Mitglieder. Damit ist die Rechtsordnung der WTO darauf angelegt, daß Probleme möglicher Interessenkollisionen zwischen Welthandel und außerwirtschaftlichen Werten innerhalb der Organisation von deren Mitgliedern gemeinschaftlich gelöst werden. Eine im Wege der Auslegung „konstruierte“ Lösung erscheint daher nur zulässig, wenn und soweit eine Norm des Völkerrechts alle Mitglieder der WTO bindet.

B. Völkergewohnheitsrecht Im Gegensatz zu völkerrechtlichen Verträgen hat der Appellate Body in einigen Fällen Sätze des Völkergewohnheitsrechts zur Auslegung herangezogen. I. European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones) Im Fall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)482 erkannte der Appellate Body erstmals die Möglichkeit an, daß ein außerhalb des Systems der WTO existierender Satz des Völkergewohnheitsrechts Auswirkungen auf die Auslegung einer systeminternen Vertragsvorschrift haben kann. Die Europäische Gemeinschaft trug vor, daß das gewohnheitsrechtlich geltende Vorsorgeprinzip (precautionary principle)483 bei der Auslegung von Art. 5.1 und 5.2 SPS, insbesondere des Begriffs based on in Art. 5.1, Berücksichtigung finden müßte.484 Dieses Prinzip beeinflusse die Auslegung der Vorschriften dergestalt, daß gesundheitspolizeiliche Maßnahmen auch dann als auf wissenschaftlichen Untersuchungen „beruhend“485 gelten würden, wenn die gesundheitlichen Risiken 482

WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R. Das Vorsorgeprinzip hat u. a. Eingang in die Rio-Deklaration von 1992 gefunden. In Punkt 15 heißt es: In order to protect the environment, the precautionary approach shall be widely applied by States according to their capabilities. Where there are threats of serious or irreversible damge, lack of full scientific certainty shall not be used as a reason for postponing cost-effective measures to prevent environmental degradation. 484 Vgl. die Zusammenfassung der Argumente der Europäischen Gemeinschaft im Bericht des Appellate Body, WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R, para. 16. 485 Art. 5.1 SPS: Die Mitglieder stellen sicher, daß ihre gesundheitspolizeilichen oder pflanzenschutzrechtlichen Maßnahmen auf einer den Umständen angepaßten Bewertung der Gefahren für das Leben oder die Gesundheit von Menschen, Tieren 483

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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einer Substanz noch nicht vollständig erforscht seien. Im Hormonfall hätte diese Auslegung dazu geführt, daß das Importverbot für hormonbehandeltes Rindfleisch nicht gegen die Vorschriften des SPS-Übereinkommens verstoßen hätte. Die Vereinigten Staaten und Kanada bestritten, daß das Vorsorgeprinzip bereits den Status eines Satzes des Völkergewohnheitsrechts erlangt hätte und sprachen daher auch nicht von precautionary principle, sondern von precautionary approach, wobei Kanada die Auffassung vertrat, daß „the ‚precautionary approach‘ or ‚concept‘ is ‚an emerging principle of law‘ which may in the future crystallize into one of the ‚general principles of law recognized by civilized nations‘ within the meaning of Article 38(1)(c) of the Statute of the International Court of Justice.“486 Der Appellate Body äußerte sich diesbezüglich wie folgt: „123. The status of the precautionary principle in international law continues to be the subject of debate among academics, law practitioners, regulators and judges. The precautionary principle is regarded by some as having crystallized into a general principle of customary international environmental law. Whether it has been widely accepted by Members as a principle of general or customary international law appears less than clear.69 We consider, however, that it is unnecessary, and probably imprudent, for the Appellate Body in this appeal to take a position on this important, but abstract, question. We note that the Panel itself did not make any definitive finding with regard to the status of the precautionary principle in international law and that the precautionary principle, at least outside the field of international environmental law, still awaits authoritative formulation.70 Notes: 69 Authors like P. Sands, J. Cameron and J. Abouchar, while recognizing that the principle is still evolving, submit nevertheless that there is currently sufficient state practice to support the view that the precautionary principle is a principle of customary international law. See, for example, P. Sands, Principles of International Environmental Law, Vol. I (Manchester University Press 1995) p. 212; J. Cameron, ‚The Status of the Precautionary Principle in International Law‘, in J. Cameron and T. O’Riordan (eds.), Interpreting the Precautionary Principle (Cameron May, 1994) 262, p. 283; J. Cameron and J. Abouchar, ‚The Status of the Precautionary Principle in International Law‘, in D. Freestone and E. Hey (eds.), The Precautionary Principle in International Law (Kluwer, 1996) 29, p. 52. Other authors argue that the precautionary principle has not yet reached the status of a principle of international law, or at least, consider such status doubtful, among other reasons, due to the fact that the principle is still subject to a great variety of interpretations. See, for example, P. Birnie and A. Boyle, International Law and the Environment (Clarendon Press, 1992), p. 98; L. Gündling, ‚The Status in International Law of the Precautionary Principle‘ (1990), 5:1,2,3 International Journal of Estuarine and Coastal Law 25, p. 30; A. deMestral (et. al), International Law Chiefly as Interpreted and Applied in Canada, 5th ed. (Emond Montgomery, 1993), p. 765; D. Bodansky, in Proceedings of the 85th Annual Meeting of the American Society of International Law (ASIL, 1991), p. 415. 70 In Case Concerning the Gabcíkovo-Nagymaros Project (Hungary/Slovakia), the International Court of Justice recognized that in the field of environmental protection ‚. . . new norms and standards have been developed, set forth in a great number of instruments during the last two decades. Such new norms have to be taken into consideration, and such new standards given proper weight . . .‘. However, we note that the Court did not identify the precautionary principle as one of those recently developed

und Pflanzen beruhen, wobei die von den zuständigen internationalen Organisationen entwickelten Risikobewertungsmethoden zugrunde gelegt werden. 486 Vgl. die Zusammenfassung der Argumente der Vereinigten Staaten und Kanadas im Bericht des Appellate Body, WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R, para. 122.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

norms. It also declined to declare that such principle could override the obligations of the Treaty between Czechoslovakia and Hungary of 16 September 1977 concerning the construction and operation of the Gabcíkovo/Nagymaros System of Locks. See, Case Concerning the Gabcíkovo-Nagymaros Project (Hungary/Slovakia), I.C.J. Judgement, 25 September 1997, paras. 140, 111–114. Not yet reported in the I.C.J. Reports but available on internet at http://www.icj-cij.org/idecis.htm.“

Der Appellate Body vermied es hier, die umstrittene Frage, ob das Vorsorgeprinzip bereits Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts geworden ist, zu entscheiden. Er beschränkte sich auf eine Darstellung des Streitstandes in Literatur und Rechtsprechung, den er allerdings mit sehr umfassenden Belegen versah. Am Ende seiner Ausführungen stellte er fest, daß das Vorsorgeprinzip auf der Ebene des Völkerrechts bislang nur im Bereich des Umweltschutzes überhaupt formuliert worden sei, nicht jedoch auf dem Gebiet des Gesundheitsschutzes. Dies führte letztendlich dazu, daß die Europäischen Gemeinschaft mit ihrer Auslegungsbehauptung nicht durchzudringen vermochte.487 Aus der Sicht der Auslegungsmethodik sind die Ausführungen des Appellate Body vor allem deshalb bedeutsam, weil das Gremium hier erstmals in seiner Spruchpraxis die mögliche Relevanz von Sätzen des Völkergewohnheitsrechts für die Auslegung des WTO-Rechts implizit anerkannt hat. II. United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products 1. Die Ausführungen des Appellate Body Im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products488 stellte der Appellate Body erstmals den Einfluß eines Satzes des Völkergewohnheitsrechts auf die Auslegung einer Vorschrift des WTO-Rechts positiv fest. Nachdem das Gremium zunächst zu dem Ergebnis gekommen war, daß die von den Vereinigten Staaten geschützten Meeresschildkröten erschöpfliche Naturschätze im Sinne von Art. XX(g) GATT 1994 darstellen,489 mußte es überprüfen, ob das gegen die beschwerdeführenden Staaten verhängte Importverbot für Garnelen auch den Anforderungen des chapeau von Art. XX GATT 1994 genügte. In einem ersten Schritt gelangte es zu der Auffassung, daß der chapeau in verklausulierter Form eine Ausprägung des bona fides-Grundsatzes darstellt: „158. The chapeau of Article XX is, in fact, but one expression of the principle of good faith. This principle, at once a general principle of law and a general 487 Ausführlich zur Entscheidung des Appellate Body in der Sache Quick/Blüthner, JIEL 2 (1999), S. 603 (619 ff.). 488 WT/DS58/AB/R. 489 Dazu ausführlich oben im Text 1. Kap. D.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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principle of international law, controls the exercise of rights by states. One application of this general principle, the application widely known as the doctrine of abus de droit, prohibits the abusive exercise of a state’s rights and enjoins that whenever the assertion of a right ‚impinges on the field covered by [a] treaty obligation, it must be exercised bona fide, that is to say, reasonably.‘ An abusive exercise by a Member of its own treaty right thus results in a breach of the treaty rights of the other Members and, as well, a violation of the treaty obligation of the Member so acting. (. . .)

Diese Auslegung des chapeau bedurfte jedoch der weiteren inhaltlichen Konturierung. Der Appellate Body mußte den bona fides-Grundsatz mit einem konkreten Maßstab ausfüllen, anhand dessen er das Importverbot der Vereinigten Staaten bewerten konnte. Dabei bediente er sich der allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts: „158. (. . .) Having said this, our task here is to interpret the language of the chapeau, seeking additional interpretative guidance, as appropriate, from the general principles of international law.157 Note: 157 Vienna Convention, Article 31(3)(c).“

Unter Zuhilfenahme dieser allgemeinen Grundsätze kam der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß im Umweltvölkerrecht und daher auch im Hinblick auf Meeresschildkröten eine völkerrechtliche Pflicht der Staaten besteht, bei der Lösung grenzüberschreitender Umweltprobleme eine internationale Zusammenarbeit anzustreben. „168. Second, the protection and conservation of highly migratory species of sea turtles, that is, the very policy objective of the measure, demands concerted and cooperative efforts on the part of the many countries whose waters are traversed in the course of recurrent sea turtle migrations. (. . .)“

Diese Pflicht zur Zusammenarbeit konkretisiert das bona fides-Prinzip im chapeau von Art. XX GATT 1994. Demnach ist ein Staat erst nachdem er sich auf zwischenstaatlicher Ebene intensiv um eine einvernehmliche Lösung eines Umweltproblems bemüht hat, berechtigt, aufgrund Art. XX(g) GATT 1994 einseitige Handelsbeschränkungen zum Schutz des bedrohten Umweltgutes zu verhängen. Im Shrimp-Fall hatten sich die Vereinigten Staaten auf internationaler Ebene nicht hinreichend um den Schutz von Meeresschildkröten bemüht, so daß der Appellate Body zu dem Ergebnis kam, daß die Einfuhrbeschränkungen für Garnelen den Voraussetzungen von Art. XX GATT 1994 nicht genügten.490 490 Der Appellate Body sah daneben weitere Verhaltensweisen der Vereinigten Staaten im Zusammenhang mit dem Importverbot für Garnelen im Widerspruch zum bona fides-Grundsatz; vgl. dazu die prägnante Aufzählung bei Hudec, in: Morrison/Wolfrum, S. 133 (148 f.).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Die bei der konkretisierenden Ausfüllung des bona fides-Grundsatzes herangezogene Pflicht zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet des internationalen Umweltschutzes wies der Appellate Body nach, indem er darstellte, daß sowohl multilaterale völkerrechtliche Verträge als auch internationale umweltpolitische Dokumente eine solche Pflicht zur Zusammenarbeit enthalten. Dabei berief er sich zum Teil auf Verträge und Resolutionen, die auch schon im Zusammenhang mit der gewandelten sprachlichen Bedeutung des Begriffs natural resources491 eine Rolle gespielt hatten: „168. Second, the protection and conservation of highly migratory species of sea turtles, that is, the very policy objective of the measure, demands concerted and cooperative efforts on the part of the many countries whose waters are traversed in the course of recurrent sea turtle migrations. The need for, and the appropriateness of, such efforts have been recognized in the WTO itself as well as in a significant number of other international instruments and declarations. (. . .) Of particular relevance is Principle 12 of the Rio Declaration on Environment and Development, which states, in part: Unilateral actions to deal with environmental challenges outside the jurisdiction of the importing country should be avoided. Environmental measures addressing transboundary or global environmental problems should, as far as possible, be based on international consensus. (emphasis added) In almost identical language, paragraph 2.22(i) of Agenda 21 provides: Governments should encourage GATT, UNCTAD and other relevant international and regional economic institutions to examine, in accordance with their respective mandates and competences, the following propositions and principles: . . . (i) Avoid unilateral action to deal with environmental challenges outside the jurisdiction of the importing country. Environmental measures addressing transborder problems should, as far as possible, be based on an international consensus. (emphasis added) Moreover, we note that Article 5 of the Convention on Biological Diversity states: . . . each contracting party shall, as far as possible and as appropriate, cooperate with other contracting parties directly or, where appropriate, through competent international organizations, in respect of areas beyond national jurisdiction and on other matters of mutual interest, for the conservation and sustainable use of biological diversity. The Convention on the Conservation of Migratory Species of Wild Animals, which classifies the relevant species of sea turtles in its Annex I as ‚Endangered Migratory Species‘, states: The contracting parties [are] convinced that conservation and effective management of migratory species of wild animals requires the concerted action of 491

Vgl. dazu ausführlich oben im Text 1. Kap. D.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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all States within the national boundaries of which such species spend any part of their life cycle. Furthermore, we note that WTO Members in the Report of the CTE, forming part of the Report of the General Council to Ministers on the occasion of the Singapore Ministerial Conference, endorsed and supported: . . . multilateral solutions based on international cooperation and consensus as the best and most effective way for governments to tackle environmental problems of a transboundary or global nature. WTO Agreements and multilateral environmental agreements (MEAs) are representative of efforts of the international community to pursue shared goals, and in the development of a mutually supportive relationship between them, due respect must be afforded to both.169 (emphasis added) Note: 169 Report (1996) of the Committee on Trade and Environment, WT/CTE/1, 12 November 1996, para. 171, Section VII of the Report of the General Council to the 1996 Ministerial Conference, WT/ MIN(96)/2, 26 November 1996.“

Die hier vom Appellate Body zusammengestellten internationalen Instrumente verlangen von den Staaten, grenzüberschreitende Umweltprobleme nicht mit unilateralen Maßnahmen zu begegnen, sondern zunächst ein einvernehmliches internationales Zusammenwirken zur Lösung der Probleme anzustreben. 2. Analyse des Berichts des Appellate Body Während der Appellate Body im Hormonfall im Zusammenhang mit dem Vorsorgeprinzip ausdrücklich von Völkergewohnheitsrecht (customary international environmental law) sprach, wird aus dem Bericht im Shrimp-Fall nicht unmittelbar deutlich, welcher Rechtsquelle das Gremium die Pflicht zur Zusammenarbeit auf dem Bereich des internationalen Umweltschutzes zuordnet. Zunächst deutet die Verwendung des Begriffs general principles of international law in Abschnitt 158 darauf hin, daß der Appellate Body sich auf dem Gebiet der allgemeinen Rechtsgrundsätze (general principles of law) im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut bewegte. Demgegenüber läßt die Tatsache, daß der Appellate Body sich im Rahmen des Nachweises der Kooperationspflicht unter anderem auch auf zwei völkerrechtliche Verträge stützte, auch die Schlußfolgerung zu, daß es um die Berücksichtigung völkerrechtlicher Verträge im Rahmen der Auslegung von Art. XX GATT 1994 ging. Eine nähere Betrachtung der Ausführungen des Appellate Body zeigt jedoch, daß das Gremium diese Kooperationspflicht im Völkergewohnheitsrechts verankert sah. Mit dem Begriff general principles of international law griff das Gremium eine im völkerrechtlichen Schrifttum vorzufindende Differenzierung zwischen allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts (ge-

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

neral principles of international law) und allgemeinen Rechtsgrundsätzen (general principles of law) im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut auf.492 Dies belegen die bereits dargestellten Ausführungen zum bona fides-Prinzip, in deren Zusammenhang der Appellate Body die beiden Begriffe ausdrücklich nebeneinander stellte: „158 The chapeau of Article XX is, in fact, but one expression of the principle of good faith. This principle, at once a general principle of law and a general principle of international law, controls the exercise of rights by states. (. . .)“493

Der Begriff general principles of international law wird von einer Vielzahl von Autoren im völkerrechtlichen Schrifttum verwendet. Bei diesen general principles of international law handelt es sich um fundamentale Rechtsgrundsätze des internationalen Staatenverkehrs.494 Nach nahezu einhelliger Meinung zählen zu diesen Grundsätzen die Unabhängigkeit und die die souveräne Gleichheit der Staaten sowie das Recht auf staatliche Existenz und damit das Recht zur Selbstverteidigung.495 Übereinstimmend wird festgestellt, daß diese Grundsätze nicht wie die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut aus den nationalen Rechtsordnungen auf die Ebene des Völkerrechts gehoben werden, sondern daß es sich dabei um unmittelbar der Ebene des Völkerrechts zuzuordnende Grundsätze handelt.496 Allgemein werden sie dem Völkergewohnheitsrecht zugeordnet.497 Des Nachweises entsprechender Praxis und Rechtsüberzeugung bedarf es nach einhelliger Auffassung allerdings nicht. Die Grundsätze können vielmehr mit den Mitteln juristischer Logik unmittelbar aus der Struktur der Völkerrechtsordnung, das heißt dem corpus der bestehenden Verträge und Regeln des Gewohnheitsrechts, abgeleitet werden.498 Neben den bereits dargestellten werden teilweise weitere Grundsätze als general principles of international law bezeichnet, wie etwa der Grundsatz pacta sunt servanda499 oder die Pflicht der Staaten zur internationalen Zusammenarbeit in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen.500 Diese Unterschiede beruhen letztlich auf unterschiedlichen Auffas492 Ausführlich, jedoch kritisch zu dieser Differenzierung Weiß, AVR 39 (2001), S. 394 (396–403). 493 Hervorhebung vom Verfasser. 494 Mosler, EPIL II (1995), S. 511 (520 f.). 495 Schachter, S. 53. 496 Dupuy, § 334; Jaenicke, WdV III, S. 766 (771). 497 Berber, Bd. 1, S. 69 f.; Degan, S. 83; Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 16 Rdnr. 43. 498 Brownlie, Principles, S. 19; Jaenicke, WdV III, S. 766 (771); Malanczuk, S. 48; Verdross/Simma, § 605; Weiß, AVR 39 (2001), S. 394 (399). 499 Brownlie, Principles, S. 19; Dupuy, § 334.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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sungen darüber, wie häufig, in welcher Art von Instrumenten und über welchen Zeitraum sich ein Rechtsgedanke in der Völkerrechtsordnung manifestiert haben muß, bevor er zu einem allgemeinen Grundsatz erwächst.501 Vor dem Hintergrund dieses Konzeptes der general principles of international law wird die Vorgehensweise des Appellate Body im Shrimp-Fall deutlich. Der Appellate Body zählte zunächst fünf internationale Instrumente auf, in denen sich die Staaten dazu bekannt haben, weltweite Umweltprobleme durch einvernehmliches Zusammenwirken bewältigen zu wollen. Aus diesem Bekenntnis der Staaten zur Zusammenarbeit im Bereich des internationalen Umweltschutzes leitete der Appellate Body eine Rechtspflicht zur Zusammenarbeit ab, die er als general principle of international law qualifizierte. Dieses Vorgehen entspricht zunächst rein formal der soeben dargestellten Methode für die Gewinnung eines allgemeinen Grundsatzes des Völkerrechts. Gleichwohl werfen die Ausführungen des Appellate Body Bedenken auf. Nur das Übereinkommen über biologische Vielfalt und das Übereinkommen über die Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten502 sind als völkerrechtliche Verträge Teile der Völkerrechtsordnung, aus der sich die allgemeinen Grundsätze der Völkerrechtsordnung ergeben. Die übrigen vom Appellate Body aufgeführten Instrumente, nämlich die Erklärung von Rio, die Agenda 21503 und der Bericht des Komitees für Handel und Umwelt der WTO,504 sind rechtlich unverbindliche Dokumente505 und daher nicht Bestandteil der Völkerrechtsordnung. Soweit die Pflicht zur Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes nicht auch unabhängig von ihnen besteht und aus der Rechtsordnung abgeleitet werden kann, kann ihr Beitrag zur Entstehung einer solchen Pflicht allenfalls darin liegen, daß sie Staatenpraxis und opinio iuris beeinflussen.506 Dies freilich hätte dann wiederum des Nachweises bedurft. Eine überzeugendere Begründung einer rechtlichen Pflicht zur Kooperation im Bereich des Umweltschutzes wäre schließlich auch vor dem Hintergrund, daß die Existenz einer solchen Kooperationspflicht im gegenwärti500 Degan, S. 86 f.; dazu ausführlich Wolfrum, EPIL II (1995), S. 1242 ff., der sich jedoch zurückhaltend bezüglich einer Rechtspflicht äußert (S. 1244 ff.). 501 Insofern ist die Bemerkung von Bernhardt (EPIL I (1992), S. 898 [901]), daß der Nachweis von Gewohnheitsrecht stets auch von der subjektiven Wertung desjenigen, der den Nachweis führt, abhängt, auch hier durchaus zutreffend. 502 Zum Übereinkommen über biologische und zum Übereinkommen über die Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten bereits oben 1. Kap. D. II. 503 Zur Erklärung von Rio und zur Agenda 21 bereits 1. Kap. D. II. 504 Zum Komitee für Handel und Umwelt, das vom Allgemeinen Rat der WTO am 31.1.1995 eingesetzt wurde, vgl. bereits oben 2. Teil 1. Kap. C. II. 505 Vgl. statt vieler Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn. Rdnr. 150. 506 Zu dieser Wirkung Heintschel v. Heinegg, in: Ipsen, § 18 Rdnr. 21.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

gen völkerrechtlichen Schrifttum keinesfalls als gesichert gilt, wünschenswert gewesen. Von einer im Vordringen begriffenen Ansicht wird eine Rechtspflicht zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes bejaht.507 Die Begründung dieser Pflicht erfolgt dabei auf zwei unterschiedlichen Wegen. Zum einen wird sie aus einer Vielzahl von Verträgen abgeleitet, in denen sich Staaten zur Zusammenarbeit bezüglich bestimmter Umweltgüter verpflichtet haben.508 Diese Konstruktion entspricht der vom Appellate Body vorgeschlagenen Konstruktion der Kooperationspflicht als allgemeinem Grundsatz des Völkerrechts. Ebenso wird aber argumentiert, daß die große Anzahl der heutigen umweltvölkerrechtlichen Verträge das Ergebnis einer von den Staaten anerkannten Rechtspflicht zur Zusammenarbeit sei.509 Diese Begründung entspricht dem klassischen Nachweis eines Satzes des Völkergewohnheitsrechts. Dieser die Existenz einer allgemeinen Kooperationspflicht bejahenden Ansicht steht eine wohl traditionellere Ansicht gegenüber, die eine gewohnheitsrechtliche Kooperationspflicht nur im Nachbarrecht anerkennt.510 Dort soll sie dem Grundsatz sic utere tuo ut alienum non laedas entspringen und den Staat, von dessen Gebiet eine Gefahr für Nachbarstaaten ausgeht, zur Information und Schadensminimierung verpflichten.511 Bezüglich einer weitergehenden Kooperationspflicht wird eingewandt, daß sie sich abseits spezialvertraglicher Regelungen bislang nicht habe etablieren können, weil sie den Souveränitätsinteressen der Staaten zuwiderlaufe.512 Dieser Befund verdeutlicht, daß der Appellate Body keine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit notiert hat, sondern eine wertende Entscheidung getroffen hat,513 als er die Kooperationspflicht angenommen hat. Insofern wäre es zu begrüßen gewesen, wenn das Gremium seine Entscheidung umfangreicher begründet hätte und präziser an den Vorgaben ausgerichtet hätte, denen es sich durch die Einordnung der Kooperationspflicht als general principle of international law selbst unterworfen hatte. 507 Odendahl, S. 215 mit zahlreichen weiteren Nachweisen in Fn. 410; Tietje, EuR 35 (2000), S. 285 (293 f.). 508 Odendahl, S. 212. 509 Odendahl, S. 214 f. m. Nachweisen in Fn. 407; Fn. 408; Fn. 409. 510 Bezeichnend ist, daß eine Kooperationspflicht im Bereich des Umweltschutzes vielfach keine Erwähnung findet; vgl. Beyerlin, der Kooperationspflichten nur im Zusammenhang mit einzelnen vertraglichen Instrumenten erwähnt; Kimminich, in: ders./v. Lersner/Storm, Bd. 1, Sp. 2510–2535; Kloepfer, § 9.C. – Umweltvölkerrecht. 511 Vgl. Graf Vitzthum, in: ders., 5. Abschn. Rdnr. 158. 512 Ott, Umweltregime im Völkerrecht, S. 276. 513 So auch Sands, EJIL 11 (2000), S. 291 (300), der erklärt, die Annäherung des Appellate Body an die Kooperationspflicht enthalte ein subjektives Element.

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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III. Canada – Term of Patent Protection Auch im Fall Canada – Term of Patent Protection514 zog der Appellate Body im Rahmen der Auslegung von Art. 70 TRIPS einen als general principle of international law eingestuften Satz des Völkergewohnheitsrechts heran. Nachdem das Gremium zu dem Ergebnis gekommen war, daß Art. 70.1 TRIPS die Anwendbarkeit des TRIPS für vor Inkrafttreten des Abkommens eingetragene Patente nicht ausschließt515 und daß Art. 70.2 TRIPS diese Alt-Patente ausdrücklich in den Regelungsbereich des Abkommens einbezieht,516stellte sich die Frage, ob dieses Verständnis der beiden Vorschriften im Einklang mit Art. 28 WVRK steht. Diese Vorschrift statuiert die Nichtrückwirkung (non-retroactivity) völkerrechtlicher Verträge. Der Appellate Body verneinte einen Widerspruch seiner vorangegangenen Auslegungsbemühungen mit Art. 28 WVRK und begründete dies wie folgt: „72. This conclusion is supported by the general principle of international law found in the Vienna Convention, which establishes a presumption against the retroactive effect of treaties in the following terms: Article 28 Non-retroactivity of treaties Unless a different intention appears from the treaty or is otherwise established, its provisions do not bind a party in relation to any act or fact which took place or any situation which ceased to exist before the date of the entry into force of the treaty with respect to that party. (emphasis added)49 Note: 49 We have endorsed this general principle of international law in Appellate Body Report, Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut, WT/DS22/AB/R, adopted 20 March 1997, p. 15, and in Appellate Body Report, European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas, WT/DS27/AB/R, adopted 25 September 1997, para. 235.

73. Article 28 of the Vienna Convention covers not only any ‚act‘, but also any ‚fact‘ or ‚situation which ceased to exist‘. Article 28 establishes that, in the absence of a contrary intention, treaty provisions do not apply to ‚any situation which ceased to exist‘ before the treaty’s entry into force for a party to the treaty. Logically, it seems to us that Article 28 also necessarily implies that, absent a contrary intention, treaty obligations do apply to any ‚situation‘ which has not ceased to exist – that is, to any situation that arose in the past, but continues to exist under the new treaty. Indeed, the very use of the word ‚situation‘ suggests something that subsists and continues over time; it would, therefore, include ‚subject matter existing . . . and which is protected‘, such as Old Act patents at issue in this dispute, even though those patents, and the rights conferred 514

WT/DS170/AB/R. Dazu oben 2. Kap. A. II. 1. (Systematische Auslegung); 3. Kap. A. II., 3. Kap. B. I., 3. Kap. C. II. (Teleologische Auslegung); 4. Kap. A. I. 2. (Effektivitätsprinzip). 516 Dazu oben 2. Kap. A. II. 2., 2. Kap. B. I. 1., 2. Kap. C. II. 3. (Systematische Auslegung). 515

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

by those patents, arose from ‚acts which occurred‘ before the date of application of the TRIPS Agreement for Canada.“

Der hier vom Appellate Body herangezogene Art. 28 WVRK schließt die Anwendung eines Vertrags auf eine Handlung oder Tatsache aus, die vor Inkrafttreten des Vertrags vorgenommen wurde oder eingetreten ist. Ebenso schließt die Vorschrift die Anwendung eines Vertrags auf eine Lage (situation) aus, die vor Inkrafttreten des Vertrags aufgehört hat zu bestehen. Aus dieser letztgenannten Bestimmung von Art. 28 WVRK leitete der Appellate Body im Wege eines Umkehrschlusses ab, daß ein völkerrechtlicher Vertrag auf Situationen anwendbar ist, die bei Inkrafttreten des Vertrags bereits begonnen haben zu bestehen und die über den Zeitpunkt des Inkrafttretens hinweg weiter bestehen.517 Da die Auslegung von Art. 70 TRIPS bewirkt hatte, daß die Vorschriften des TRIPS auf geistige Eigentumsrechte anwendbar sind, die vor Inkrafttreten des Abkommens entstanden sind und über diesen Zeitpunkt hinweg fortdauern, konnte der Appellate Body keinen Widerspruch zu Art. 28 WVRK feststellen. Wie die Ausführungen zu Beginn von Abschnitt 70 und in der dazu gehörenden Fußnote 49 zeigen, nahm der Appellate Body auch bezüglich des Grundsatzes der Nichtrückwirkung völkerrechtlicher Verträge an, daß es sich dabei um einen gewohnheitsrechtlich verankerten allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts (general principle of international law) handelt. Dementsprechend beschränkte er sich darauf, als Nachweis für die Existenz dieses Grundsatzes Art. 28 WVRK zu zitieren. In der Sache ist der Einschätzung, daß es sich bei Art. 28 WVRK um eine Norm des Völkerge517 Dieser Umkehrschluß wird, wie vom Appellate Body dargestellt, auch von der Entstehungsgeschichte der WVRK bestätigt: „73. This interpretation is confirmed by the Commentary on Article 28, which forms part of the preparatory work of the Vienna Convention: If, however, an act or fact or situation which took place or arose prior to the entry into force of a treaty continues to occur or exist after the treaty has come into force, it will be caught by the provisions of the treaty. The non-retroactivity principle cannot be infringed by applying a treaty to matters that occur or exist when the treaty is in force, even if they first began at an earlier date. This point is further explained by the Special Rapporteur: The main point . . . was that ‚the non-retroactivity principle cannot be infringed by applying a treaty to matters that occur or exist when the treaty is in force, even if they first began at an earlier date‘. In these cases, the treaty does not, strictly speaking, apply to a fact, act or situation falling partly within and partly outside the period during which it is in force; it applies only to the fact, act or situation which occurs or exists after the treaty is in force. This may have the result that prior facts, acts or situations are brought under consideration for the purpose of the application of the treaty; but this is only because of their causal connexion with the subsequent facts, acts or situations to which alone in law the treaty applies. (emphasis added)“

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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wohnheitsrechts handelt, angesichts der „gewohnheitsrechtsbildenden“ Kraft der Wiener Vertragsrechtskonvention auf jeden Fall zuzustimmen. Ob es sich dabei auch um einen allgemeinen Grundsatz der Völkerrechtsordnung im Sinne der Definition dieses Begriffs handelt, scheint zumindest zweifelhaft. Aus einem einzigen Vertrag dürfte sich nur schwerlich ein Grundsatz der Rechtsordnung ableiten lassen. IV. United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea Im Fall United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea518 nahm der Appellate Body bei der Auslegung einer Vorschrift des WTO-Systems Bezug auf einen Satz des Völkergewohnheitsrechts im eigentlichen Sinne. In diesem Fall mußte der Appellate Body Art. 5.1 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen auslegen. Diese Vorschrift regelt die Anwendung von Schutzmaßnahmen – üblicherweise erhöhte Zollsätze, Importquoten oder gänzliche Importverbote – und deren zulässiges Ausmaß und bestimmt, daß eine Schutzmaßnahme nur in dem Maße zulässig ist, wie dies zur Verhinderung oder Beseitigung eines ernsthaften Schadens erforderlich ist. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Begriff „ernsthafter Schaden“ (serious injury) eine erhebliche allgemeine Verschlechterung der Lage eines inländischen Wirtschaftszweiges, die auf den zumeist sprunghaften Anstieg von Importen zurückzuführen ist. Bezüglich der Auslegung von Art. 5.1 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen stellte sich die Frage, ob es in einem Fall, in dem der „ernsthafte Schaden“ nachweislich durch Importe aus mehreren Mitgliedstaaten verursacht wird, zulässig ist, Schutzmaßnahmen, die geeignet sind, den gesamten Schaden zu beseitigen, gegenüber nur einem der betreffenden Mitglieder zu verhängen. Nachdem der Appellate Body den Wortlaut der Vorschrift, deren Kontext sowie Ziel und Zweck untersucht hatte, machte er die folgenden Ausführungen: „259. We note as well the customary international law rules on state responsibility, to which we also referred in US – Cotton Yarn.254 We recalled there that the rules of general international law on state responsibility require that countermeasures in response to breaches by States of their international obligations be proportionate to such breaches. Article 51 of the International Law Commission’s Draft Articles on Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts provides that ‚countermeasures must be commensurate with the injury suffered, taking into account the gravity of the internationally wrongful act and the rights in 518

WT/DS202/AB/R (15.2.2002).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

question‘.255 Although Article 51 is part of the International Law Commission’s Draft Articles, which do not constitute a binding legal instrument as such, this provision sets out a recognized principle of customary international law.256 We observe also that the United States has acknowledged this principle elsewhere. In its comments on the International Law Commission’s Draft Articles, the United States stated that ‚under customary international law a rule of proportionality applies to the exercise of countermeasures‘.257 Notes: 254 Appellate Body Report, supra, footnote 251, para. 120. 255 Draft articles on Responsibility of States for internationally wrongful acts adopted by the International Law Commission at its fifty-third session (2001). (United Nations International Law Commission, Report on the work of its fifty-third session (23 April–1 June and 2 July–10 August 2001), General Assembly, Official Records, Fifty-fifth Session, Supplement No. 10 (A/56/10), chapter IV.E.1). 256 See, Case Concerning Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Merits, Judgment of 27 June 1986, (1986) I.C.J. Rep., p. 14, at p. 127, para. 249; and, Case Concerning the Gabcikovo-Nagymaros Project (Hungary v. Slovakia), (1997) I.C.J. Rep., p. 7, at p. 220. 257 See, Draft Articles on State Responsibility: Comments of the Government of the United States of America, dated 22 October 1997, in response to the United Nations Secretary General’s request of 12 February 1997 for comments and observations on the draft articles on State responsibility adopted provisionally on first reading by the International Law Commission, reprinted in, M. Nash, ‚Contemporary Practice of the United States Relating to International Law‘, American Journal of International Law, Vol. 92, No. 2 (1998), p. 251, at pp. 252 and 254.

The United States has also acknowledged this principle before the Arbitral Tribunal established by the Compromis of 11 July 1978 in the Case Concerning the Air Services Agreement of 27 March 1946 (United States vs. France). See, Reply of the United States to the Memorial Submitted by France, excerpted in M. Nash, Digest of United States Practice in International Law 1978 (Office of the Legal Adviser, Department of State, 1980), at p. 776.“ Hier zog der Appellate Body den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dem er gewohnheitsrechtliche Geltung zumaß, bei der Auslegung von Art. 5.1 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen heran. Ausfluß dieses Grundsatzes ist es nach Ansicht des Appellate Body, daß eine als Reaktion auf einen Völkerrechtsbruch unternommene Gegenmaßnahme in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere dieses Völkerrechtsbruchs stehen muß. Diesen Gedanken der Verhältnismäßigkeit übertrug das Gremium auf Art. 5.1 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen und kam zu dem Ergebnis, daß eine Praxis, die einem Mitglied die gesamten Schutzmaßnahmen aufbürdet, die zur Beseitigung eines „ernsthaften Schadens“ erforderlich sind, mit dieser Vorschrift nicht vereinbar ist.519 519 In dem in Fußnote 254 in Bezug genommenen Fall United States – Transitional Safeguard Measure on Combed Cotton Yarn from Pakistan (WT/DS192/AB/R [8.10.2001]) hatte der Appellate Body dieselbe Auslegungsfrage im Hinblick auf Art. 6.4 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung zu beantworten. Auch dort hatte er bereits den gewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei Auslegung der Vorschrift herangezogen (para. 120). Dort hatte

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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Zum Nachweis des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bezog sich der Appellate Body zunächst auf Art. 51 der von der International Law Commission im Sommer 2001 fertiggestellten Draft articles on Responsibility of States for internationally wrongful acts.520 Bezüglich der Draft articles räumte das Gremium ein, daß es sich dabei nicht um ein bindendes Rechtsinstrument handelt, stellte jedoch fest, daß Art. 51 geltendes Völkergewohnheitsrecht wiedergibt. Dies belegte der Appellate Body mit zwei Nachweisen aus der Judikatur des Internationalen Gerichtshofs. Darüber hinaus stellte er ausdrücklich fest, daß die Vereinigten Staaten die gewohnheitsrechtliche Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anerkannt hätten; einerseits in ihrem Kommentar zu einem früheren Entwurf der Draft articles, andererseits in einem Schiedsgerichtsverfahren.521 V. Zusammenfassung Die dargestellten Fälle zeigen, daß der Appellate Body entsprechend der Vorgaben von Art. 31 Abs. 3 lit. c WVRK Sätze des universellen Völkergewohnheitsrechts bei der Auslegung von Vorschriften des WTO-Systems berücksichtigt. Eine vergleichsweise große Bedeutung spielen dabei die general principles of international law, die sowohl in den meisten völkerrechtlichen Publikationen wie auch in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nur eine untergeordnete Rolle spielen.

C. Allgemeine Rechtsgrundsätze Nur in einem der bislang vom Appellate Body entschiedenen Fälle spielte ein allgemeiner Rechtsgrundsatz (general principle of law recognized by civilised nations) im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut bei der Auslegung einer Vorschrift des WTO-Systems eine Rolle. Im Fall United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underer seinen Überlegungen noch hinzugefügt, daß der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Fällen, in denen es nicht um die Beantwortung eines Völkerrechtsbruchs, sondern um eine Reaktion auf erlaubtes Verhalten geht, umso eher anzuwenden sei. Dieser Gedanke läßt sich auch auf Art. 5.1 des Übereinkommens über Schutzmaßnahmen übertragen, da der „ernsthafte Schaden“ regelmäßig ebenfalls nicht durch völkerrechtswidrige Importe entsteht. 520 Abgedruckt bei Tomuschat, S. 97 ff. 521 Die relativ ausführliche Beweisführung des Appellate Body erklärt sich in der Zusammenschau mit den im Fall United States – Transitional Safeguard Measure on Combed Cotton Yarn from Pakistan gemachten Ausführungen. Dort hatte sich der Appellate Body darauf beschränkt, den Entwurf der ILC zu zitieren, ohne dazu nähere Bemerkungen zu machen.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

wear522 zog der Appellate Body, wiederum im Zusammenhang mit der Frage, ob eine Zurückdatierung der Schutzmaßnahme erlaubt ist,523 das Verbot rückwirkender belastender Entscheidungen bei der Auslegung von Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung heran. Nachdem er im Wege der Wortlautauslegung zu dem Ergebnis gelangt war, daß eine Vermutung dafür bestünde, daß Schutzmaßnahmen nicht mit Wirkung für die Vergangenheit, sondern nur mit Wirkung für die Zukunft verhängt werden dürften, führte er weiter aus:524 „(. . .) This presumption appears to us entirely appropriate in respect of measures which are limitative or deprivational in character or tenor and impact upon Member countries and their rights or privileges and upon private persons and their acts.“

Der Appellate Body erklärte hier, daß diese Vermutung insbesondere im Hinblick auf solche Maßnahmen angebracht sei, die wie die Verhängung von Schutzmaßnahmen die Rechte anderer Mitglieder der WTO und auch die Handlungsmöglichkeiten Privater begrenzten. Mit diesen Ausführungen knüpft der Appellate Body an die Idee des Rückwirkungsverbotes an. Danach sind Maßnahmen unzulässig, die ein bestimmtes Verhalten nachträglich veränderten Bedingungen unterwirft, die für den Betroffenen nachteilig sind.525 Diese Beschreibung trifft auch auf die Situation zu, die einträte, wenn Art. 6.10 des Übereinkommens über Textilwaren und Bekleidung ein rückwirkendes Inkraftsetzen einer Schutzmaßnahme gestattete. Dies hätte zur Folge, daß Importe, die zu „gewöhnlichen“ Bedingungen abgewickelt wurden, nachträglich den Bedingungen unterfielen, die durch die Schutzmaßnahme geschaffen wurden, also beispielsweise höheren Zollsätzen unterlägen, die nachträglich entrichtet werden müßten. Die Argumentation des Appellate Body zerfällt trotz ihrer Kürze in zwei Teile, die einer getrennten Analyse bedürfen. Das Gremium wendet den Gedanken des Rückwirkungsverbotes einerseits zwischen den Mitgliedern der WTO an. Darüber hinaus wendet er diesen Gedanken aber auch im Verhältnis von Importstaat und privaten Exporteuren an. Soweit der Appellate Body das Rückwirkungsverbot zwischen den WTOMitgliedern zur Anwendung bringt, ist zu vermuten, daß er dies aus der Überzeugung heraus tut, daß es sich dabei um einen allgemeinen Rechts522

WT/DS24/AB/R. Dazu bereits oben 1. Kap. C. I. (Wortlautauslegung); 2. Kap. A. II. 3., 2. Kap. B. I. 2., 2. Kap. C. II. 2. (Systematische Auslegung); 4. Kap. A. I. 2. (Effektivitätsprinzip). 524 WT/DS24/AB/R, S. 14 (ohne Absatznummer). 525 Vgl. beispielhaft statt vieler Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 284 ff. 523

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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grundsatz im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. c IGH-Statut handelt. Insofern ist zunächst festzustellen, daß das Völkergewohnheitsrecht nur den in United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear nicht einschlägigen Grundsatz der Nichtrückwirkung von Verträgen enthält.526 Allerdings kennt eine Vielzahl von Rechtsordnungen das Rückwirkungsverbot zum einen in seiner speziellen strafrechtlichen Ausprägung (nullum crimen sine lege praevia);527 darüber hinaus gilt das Rückwirkungsverbot vielfach auch für die Bereiche der Exekutive und Legislative.528 Damit erfüllt es die Voraussetzungen, als allgemeiner Rechtsgrundsatz auf die Ebene des Völkerrechts transformiert zu werden und zwischen Völkerrechtssubjekten zur Anwendung zu kommen.529 Gegen die Anerkennung eines solchen zwischenstaatlichen Rückwirkungsverbotes spricht auch nicht dessen Herkunft aus dem öffentlichen Recht im weiteren Sinne. Mittlerweile hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß allgemeine Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. c WVRK nicht zwangsläufig dem Privatrecht entstammen müssen.530 Zwar entsprechen Privatrechtsordnung und Völkerrechtsordnung einander insofern, als sich in ihnen grundsätzlich Rechtssubjekte auf der Ebene der Gleichordnung gegenüberstehen. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß sich Staaten in Vertragsregimen wie etwa dem System der WTO – wenn auch im Wege der Gegenseitigkeit – der Entscheidungsgewalt anderer Staaten unterwerfen. Dies hat zur Folge, daß sich das ursprüngliche Gleichordnungsverhältnis in bestimmten Fällen, wie etwa bei der Entscheidung über die Verhängung von Schutzmaßnahmen, in ein Verhältnis mit subordinationsrechtlichen Zügen verwandelt. In diesen Fällen erscheint es durchaus angemessen, zur Regelung dieser Rechtsverhältnisse auch auf allgemeine Rechtsgrundsätze zurückzugreifen, die dem Bereich des öffentlichen Rechts entstammen.531 526

Vgl. dazu soeben im Text B. III. Vgl. den Überblick über ausländische Verfassungen bei Nolte, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 103 vor Rdnr. 1. 528 Vgl. zur Rechtslage in Frankreich: Chapus, § 101; zur Rechtslage im Vereinigten Königreich, wo trotz des Primats des Parlamentes eine Vermutung dafür besteht, daß Gesetze keine rückwirkende Kraft haben: Bradley/Ewing, S. 72; zur Rechtslage in den Vereinigten Staaten: Tribe, S. 629; auch der EuGH hat anerkannt, daß außerhalb des Strafrechts die Rückwirkung von Rechtsakten grundsätzlich verboten ist, vgl. EuGH, 13.11.1990, Fedesa (C-331/88, Slg. 1990, I-4023[4069, Rdnr. 45]); zur Rechtslage in der Bundesrepublik: Sommermann, in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 20 Rdnr. 284 ff. 529 Zur Gewinnung allgemeiner Rechtsgrundsätze vgl. Brownlie, Principles, S. 16. 530 In diesem Sinne noch Lauterpacht, Oppenheim’s International Law, Bd. 1, S. 29. 531 Im Ergebnis ähnlich Brownlie, Principles, S. 16 m. Fn. 92; Doehring, Rdnr. 410. 527

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Ob darüber hinaus, wie vom Appellate Body in seinem zweiten Argumentationsstrang angedeutet, eine völkerrechtliche Verpflichtung zur Beachtung des allgemeinen Rückwirkungsverbotes gegenüber Privaten besteht, ist hingegen zweifelhaft. Theoretisch sind auch staatliche grundrechtliche und andere individualschützende Gewährleistungen derart auf die Ebene des Völkerrechts transformierbar, daß sie dort als allgemeine Rechtsgrundsätze Völkerrechtssubjekte zu einem bestimmten Verhalten gegenüber Individuen verpflichten.532 Allerdings könnte im Fall eines generellen Rückwirkungsverbotes die verbreitet angenommene Subsidiarität der allgemeinen Rechtsgrundsätze533 dieser Transformation des Rechtsgrundsatzes auf die Ebene des Völkerrechts entgegenstehen. Teilweise wird angenommen Subsidiarität bedeute, daß ein allgemeiner Rechtsgrundsatz im Völkerrecht nur insoweit Bedeutung erlangen könne, als Völkervertragsrecht und Gewohnheitsrecht eine Regelungslücke ließen.534 Das Bestehen einer Regelungslücke im Bereich eines allgemeinen Rückwirkungsverbotes muß aber bezweifelt werden, weil zahlreiche Menschenrechtsverträge535 sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte536 zwar den Grundsatz nullum crimen sine lege praevia enthalten,537 ein darüber hinausgehendes allgemeines Verbot rückwirkender Belastungen aber gerade nicht statuieren. Geht man davon aus, daß die Staaten in diesen Menschenrechtsverträgen den Menschenrechtsschutz abschließend geregelt haben, was insofern plausibel erscheint, als sich darüber hinaus gehendes Gewohnheitsrecht bislang nicht hat bilden können, dann bleibt für ein als allgemeiner Rechtsgrundsatz zu qualifizierendes generelles Rückwirkungsverbot wegen einer fehlenden Lücke kein Raum mehr. Der Auffassung, die die Anerkennung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes an das Bestehen einer Lücke in der Völkerrechtsordnung knüpft, wird entgegengehalten, daß sie dazu führe, daß die allgemeinen Rechtsgrundsätze als völkerrechtliche Rechtsquelle nahezu bedeutungslos würden. In einer Vielzahl von Fällen ließe sich die Existenz einer Regelungslücke näm532

Brownlie, Principles, S. 18; Mosler, EPIL II (1995), S. 511 (525). Graf Vitzthum, in: ders., 1. Abschn. Rdnr. 142. 534 Doehring, Rdnr. 416; Jaenicke, in: WdV III, S. 766 (771). 535 Art. 15 IPbpR (BGBl. 1973 II 1553); Art. 9 AMRK (Council of Europe, Human Rights in Int’l Law, Basic Text, S. 67 ff.); Art. 7 EMRK (BGBl. 1952 II 685, 953); Art. 7.2 Afr.MRK (Jahrbuch f. afrikanisches Recht 1981, S. 243 ff.); Art. 99 des Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen (BGBl. 1954 II 838). 536 Art. 11 AEMR (Textsammlung Sartorius II, Nr. 19). 537 Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot ist auch zu Gewohnheitsrecht erstarkt; vgl. Lillich, in: Meron, Bd. 1, S. 115 (145). Der Grundsatz nullum crimen sine lege praevia ist auch enthalten in Art. 24.1 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs. 533

6. Kap.: Die anwendbaren Völkerrechtssätze

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lich mit der Vermutung zugunsten der staatlichen Handlungsfreiheit verneinen.538 Nach dieser Auffassung bedeutet die Subsidiarität der allgemeinen Rechtsgrundsätze, daß der internationale Richter den Grundsatz der Handlungsfreiheit der Staaten erst heranziehen darf, nachdem weder Vertragsrecht noch Gewohnheitsrecht, noch etwaige allgemeine Rechtsgrundsätze ein Rechtsproblem zu lösen vermögen.539 Demnach bliebe hier trotz des speziellen strafrechtlichen Rückwirkungsverbotes Raum für einen allgemeinen Rechtsgrundsatz, der ein generelles Verbot rückwirkender belastender Hoheitsakte statuiert. Vor dem Hintergrund dieser wiederum nicht völlig eindeutigen Rechtslage, wäre es wie schon im Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products wünschenswert gewesen, wenn der Appellate Body umfangreichere Ausführungen bezüglich des Rückwirkungsverbotes zugunsten privater Exporteure gemacht hätte.

D. Abschließende Bewertung Ähnlich wie die in Art. 31 Abs. 3 lit. b WVRK aufgeführte nachfolgende Praxis der Vertragsparteien kommt auch den zwischen den Vertragsparteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssätzen in der Auslegungspraxis des Appellate Body nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Dabei überwiegen die Fälle, in denen das Gremium Sätze des Völkergewohnheitsrechts berücksichtigt. Soweit der Appellate Body bei der Auslegung einschlägige Völkerrechtssätze verwendet, erfüllen diese innerhalb des Auslegungsvorgangs letztlich zwei unterschiedliche Funktionen. Zum einen dienen die Völkerrechtssätze dazu, ein mit Hilfe anderer Auslegungsargumente gefundenes Auslegungsergebnis zu bestätigen. Insofern kommt ihnen gegenüber den anderen Auslegungsmethoden nur eine eher untergeordnete Bedeutung zu. Eine Ausnahme bildet hier nur der Shrimp-Fall, in dem das Gremium die Pflicht zur Zusammenarbeit auf dem Gebiet des internationalen Umweltschutzes heranzog, um auf diese Weise die unbestimmten Rechtsbegriffe des chapeau von Art. XX GATT 1994 und den darin verkörperten bona fides-Grundsatz inhaltlich zu präzisieren. Daneben geben die einschlägigen allgemeinen Rechtsgrundsätze und Normen des Völkergewohnheitsrechts dem Appellate Body aber auch immer wieder Gelegenheit, deutlich zu machen, daß er mit seinen Berichten keinen Sonderweg beschreitet, sondern daß diese sich in den Rahmen des allgemei538 539

Verdross/Simma, § 607. Verdross/Simma, § 608.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

nen Völkerrechts einpassen. Darin dürfte die wesentliche Bedeutung der Inbezugnahme der einschlägigen Völkerrechtssätze im Rahmen der Auslegung liegen. Abschließend ist darauf hinzuweisen, daß über die Frage, welche Rolle außerhalb des WTO-Systems stehende Völkerrechtssätze bei der Auslegung der Vorschriften der WTO-Übereinkommen spielen sollten, bereits bei den Verhandlungen der Uruguay-Runde beraten wurde. Damals befand sich im Understanding on the Interpretation and Application of Articles XXII and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade540 vom Dezember 1990 ein Verweis auf die Regeln und die Praxis des Völkerrechts, der nicht auf die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln beschränkt war: „The dispute settlement system of GATT is a central element in providing security and predictability to the multilateral trading system. Contracting parties recognize that it serves to preserve the rights and obligations of contracting parties under the General Agreement and to clarify the existing provisions of the General Agreement [in accordance with the rules and practice of international law].“

Diese Formulierung veranlaßte einige Teilnehmer der Verhandlungen541 vor der damit möglicherweise verbundenen Einbeziehung völkerrechtlicher Vorschriften in das Vertragssystem des GATT zu warnen: „However, it would appear that a broad reference to the principles of public international law might subject the multilateral trading system to the risk of having to accept emerging peremptory rules or obligations not negotiated within GATT. A number of participants recalled that the dispute settlements mechanisms could not add or diminish the rights and obligations provided in the General Agreement. These participants stressed, therefore, that the CONTRACTING PARTIES should continue to have exclusive competence on all issues concerning the General Agreement including the essential question of the establishment of rights and obligations. Non-GATT law should have no rôle in the interpretation of the General Agreement as this was the exclusive prerogative of the CONTRACTING PARTIES.“542

Ob diese kritische Haltung einiger Teilnehmer der Uruguay-Runde ein Grund für die Zurückhaltung des Appellate Body bei der Verwendung allgemeinen Völkerrechts ist, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Letztlich spricht jedoch die vielfach zitierte Aussage des Gremiums im GasolineFall, daß das General Agreement is not to be read in clinical isolation from public international law, dagegen. Eher ist wohl davon auszugehen, daß 540

Vgl. dazu bereits oben 2. Teil 2. Kap. A. II. 1. Vgl. zu den Verhandlungen über Art. 3.2 Satz 2 DSU bereits die Ausführungen oben im Text 2. Teil 2. Kap. B. I. 2. b). 542 Meeting of 26 September 1991, Note by the Secreteriat, MTN.GNG/IN/1 (18.10.1991). 541

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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aus Sicht des Appellate Body das allgemeine Völkerrecht bislang nur in wenigen Fällen brauchbare Antworten auf die sich stellenden Auslegungsfragen bereit hielt. 7. Kapitel

Die Historische Auslegung A. Einleitung Zentraler Gesichtspunkt der Untersuchung der historischen Auslegung ist die Frage, nach dem Stellenwert, den der Appellate Body dieser Methode innerhalb des Auslegungsvorgangs einräumt. Wie die einleitende Untersuchung der völkerrechtlichen Auslegungsmethoden gezeigt hat, nimmt die historische Auslegung im Kreis der übrigen Methoden des Völkerrechts eine besondere Stellung ein. Anders als die übrigen Methoden, die Eingang in Art. 31 WVRK gefunden haben, kommt der historischen Methode nur eine eingeschränkte, untergeordnete Bedeutung im Auslegungsprozeß zu. Nur wenn die übrigen Methoden die Bedeutung des Auslegungsgegenstandes mehrdeutig oder dunkel gelassen haben oder aber wenn die Anwendung dieser Methoden zu einem sinnwidrigen Ergebnis geführt hat, darf die historische Auslegung herangezogen werden, um die Bedeutung des Auslegungsgegenstandes endgültig zu klären. Soweit die Methoden, die in Art. 31 WVRK aufgenommen worden sind, ein eindeutiges Ergebnis erbringen, das weder sinnwidrig noch unvernünftig ist, darf die historische Auslegung nur verwendet werden, um dieses Ergebnis zu bestätigen. Entsprechend bezeichnet Art. 32 WVRK die historische Auslegung als ergänzendes (supplementary) Auslegungsmittel. Die auch von der gewohnheitsrechtlichen Praxis bestätigte Entscheidung, die historische Auslegung als nur ergänzendes Auslegungsmittel einzuordnen, gilt als das augenfälligste Zeichen dafür, daß sich die objektive Auslegungslehre gegenüber der subjektiven Auslegungslehre durchgesetzt hat. Damit wird der Stellenwert, den ein Interpret der historischen Auslegung einräumt, zum Indikator dafür, ob er der subjektiven oder objektiven Auslegungslehre zuneigt.543 543 Die Frage nach dem Stellenwert, den der Appellate Body der historischen Auslegung einräumt, weist neben dem allgemein methodenrechtlichen auch einen WTO-spezifischen Aspekt auf. Wie dargestellt, wurden die unter dem GATT 1947 zur Streitbeilegung eingerichteten Panels unter anderem wegen ihrer Neigung kritisiert, der historischen Auslegung, insbesondere den travaux préparatoires der Havanna Charta und des GATT 1947, einen zu großen Stellenwert einzuräumen; vgl. oben 2. Teil 2. Kap. B. I. 2. a).

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Vor der Untersuchung der Bedeutung, die der Appellate Body der historischen Auslegung im Auslegungsprozeß einräumt, soll eine Darstellung der Erkenntnisquellen stehen, auf die das Gremium bei seinen Auslegungsbemühungen zurückgreift.

B. Elemente der historischen Auslegung Im Rahmen der historischen Auslegung untersucht der Appellate Body zum einen die vorbereitenden Arbeiten (travaux préparatoires) des GATT 1947 und der Abkommen der Uruguay-Runde. Daneben berücksichtigt er aber unter dem Begriff „Umstände und Hintergründe des Vertragsschlusses“ eine Reihe weiterer Faktoren. I. Die travaux préparatoires des GATT 1947 Erstmals spielte die historische Auslegung im Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages544 eine Rolle. Dort sah der Appellate Body seine Auffassung, daß sich die Pflicht zur Inländerbehandlung (Art. III GATT 1994) auf alle importierten Waren erstreckt und nicht nur auf Waren, die in den Zugeständnislisten aufgeführt sind,545 von der Entstehungsgeschichte von Art. III GATT 1994 bestätigt: „(. . .) The sheltering scope of Article III is not limited to products that are the subject of tariff concessions under Article II. The Article III national treatment obligation is a general prohibition on the use of internal taxes and other internal regulatory measures so as to afford protection to domestic production. This obligation clearly extends also to products not bound under Article II. This is confirmed by the negotiating history of Article III.39 Note: 39 At the Second Session of the Preparatory Committee of the United Nations Conference on Trade and Employment, held in 1947, delegates in the Tariff Agreement Committee addressed the issue of whether to include the national treatment clause from the draft Charter for an International Trade Organization (‚ITO Charter‘) in the GATT 1947. One delegate noted: This Article in the Charter had two purposes, as I understand it. The first purpose was to protect the items in the Schedule or any other Schedule concluded as a result of any subsequent negotiations and agreements – that is, to ensure that a country offering a tariff concession could not nullify that tariff concession by imposing an internal tax on the commodity, which had an equivalent effect. If that were the sole purpose and content of this Article, there could really be no objection to its inclusion in the General Agreement. But the Article in the Charter had an additional purpose. That purpose was to prevent the use of internal taxes as a system of protection. It was part of a series of Articles designed to concentrate national protective measures into the forms permitted under the Charter, i. e. subsidies and tariffs, and since we have taken over this Article from the Charter, we are, by including the Article, doing two things: so far as the countries become parties to the Agreement, we are, first of all, ensuring 544

WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R. Zu dieser Frage vgl. bereits oben im Text 3. Kap. A. I. (teleologische Auslegung). 545

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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that the tariff concessions they grant one another cannot be nullified by the imposition of corresponding internal taxes; but we are also ensuring that those countries which become parties to the Agreement undertake not to use internal taxes as a system of protection. This view is reinforced by the following statement of another delegate: . . . [Article III] is necessary to protect not only scheduled items in the Agreement, but, indeed, all items for all our exports and the exports of any country. If that is not done, then every item which does not appear in the Schedule would have to be reconsidered and possibly tariff negotiations re-opened if Article III were changed to permit any action on these non-scheduled items. See EPCT/TAC/PV.10, pp. 3 and 33.“

Der Appellate Body berief sich hier auf die Äußerungen von zwei Delegierten im Zusammenhang mit der Aushandlung des GATT 1947. In beiden Stellungnahmen kam zum Ausdruck, daß der Anwendungsbereich des späteren Art. III GATT 1947 sich nicht nur auf in den Zugeständnislisten enthaltene Waren beziehen, sondern darüber hinaus reichen würde. Auch im Shrimp-Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products546 griff der Appellate Body zur Entstehungsgeschichte der auszulegenden Vorschrift. Im Zuge der Auslegung von Art. XX GATT 1994 stellte der Appellate Body fest, daß der chapeau der Vorschrift bewirkt, daß die einzelnen in Art. XX GATT 1994 aufgeführten Ausnahmen ein Abweichen von den GATT-Verpflichtungen nur in eng begrenzten Fällen gestatten: „157 In our view, the language of the chapeau makes clear that each of the exceptions in paragraphs (a) to (j) of Article XX is a limited and conditional exception from the substantive obligations contained in the other provisions of the GATT 1994, that is to say, the ultimate availability of the exception is subject to the compliance by the invoking Member with the requirements of the chapeau. (. . .)“

Im Anschluß daran führte er aus: „(. . .) This interpretation of the chapeau is confirmed by its negotiating history.152 The language initially proposed by the United States in 1946 for the chapeau of what would later become Article XX was unqualified and unconditional.153 Several proposals were made during the First Session of the Preparatory Committee of the United Nations Conference on Trade and Employment in 1946 suggesting modifications.154 In November 1946, the United Kingdom proposed that ‚in order to prevent abuse of the exceptions of Article 32 [which would subsequently become Article XX]‘, the chapeau of this provision should be qualified.155 This proposal was generally accepted, subject to later review of its precise wording. Thus, the negotiating history of Article XX confirms that the paragraphs of Article XX set forth limited and conditional exceptions from the obligations of the substantive provisions of the GATT. (. . .) Notes: 152 Article 32 of the Vienna Convention permits recourse to ‚supplementary means of interpretation, including the preparatory work of the treaty and the circumstances of its conclusion, in order to confirm 546

WT/DS58/ABR; dazu bereits oben 1. Kap. D. I.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

the meaning resulting from the application of article 31, or to determine the meaning when interpretation according to article 31: (a) leaves the meaning ambiguous or obscure; or (b) leads to a result which is manifestly absurd or unreasonable.‘ Here, we refer to the negotiating history of Article XX to confirm the interpretation of the chapeau we have reached from applying Article 31 of the Vienna Convention. 153 The chapeau of Article 32 of the United States Draft Charter for an International Trade Organization, which formed the basis for discussions at the First Session of the Preparatory Committee of the United Nations Conference on Trade and Employment in late 1946, read, in relevant part: Nothing in Chapter IV of this Charter shall be construed to prevent the adoption or enforcement by any member of measures: . . . 154 For example, the Netherlands, Belgium and Luxembourg stated that the exceptions should be qualified in some way: Indirect protection is an undesirable and dangerous phenomenon. . . . Many times, the stipulations to ‚protect animal or plant life or health‘ are misused for indirect protection. It is recommended to insert a clause which prohibits expressly to direct such measures that they constitute an indirect protection or, in general, to use these measures to attain results, which are irreconsiliable [sic] with the aim of chapters IV, V and VI. E/PC/T/C.II/32, 30 October 1946 155 The United Kingdom’s proposed text for the chapeau read: The undertaking in Chapter IV of this Charter relating to import and export restrictions shall not be construed to prevent the adoption or enforcement by any member of measures for the following purposes, provided that they are not applied in such a manner as to constitute a means of arbitrary discrimination between countries where the same conditions prevail, or a disguised restriction on international trade. E/PC/T/C.II/50, pp. 7 and 9; E/PC/T/C.II/54/Rev.1, 28 November 1946, p. 36.“

Der Appellate Body zeichnete hier die Verhandlungsgeschichte des chapeau nach. Der von den Vereinigten Staaten stammende erste Entwurf hatte die Anwendung der einzelnen Ausnahmetatbestände in keiner Weise beschränken wollen. Eine Reihe von Staaten sah jedoch die Gefahr, daß die unqualifizierten Ausnahmebestimmungen als Deckmantel für protektionistische Maßnahmen verwendet werden könnten und forderte daher eine Beschränkung der einzelnen Ausnahmen. Diese Forderungen setzten sich schließlich durch. Insofern bestätigt die Verhandlungsgeschichte die Auffassung des Appellate Body. II. Die travaux préparatoires der Übereinkommen der Uruguay-Runde Anders als die travaux préparatoires des GATT 1947 spielen die vorbereitenden Arbeiten zu den Abkommen der Uruguay-Runde in den Berichten des Appellate Body bislang nahezu keine Rolle. Nur vereinzelt finden sich längere Ausführungen zur Verhandlungsgeschichte einzelner Abkommen. Dabei gelangt der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß sich der Verhandlungsgeschichte keine schlüssigen Aussagen im Hinblick auf die Auslegungsfrage entnehmen ließen.547 Demzufolge findet die Verhandlungsge547 United States – Section 211 Omnibus Appropriations Act of 1998 (WT/ DS176/AB/R; 2.01.2002): „339. As for the import of the negotiating history, we do not see it as in any way decisive to the issue before us. The documents on which the Panel relied are not conclusive of whether the TRIPS Agreement covers trade names. The passages quoted by the Panel from the negotiating history of Article 1.2 do not even refer to

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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schichte in diesen Fällen letztlich auch keinen Eingang in die Argumentation des Gremiums. III. Die Umstände und Hintergründe des Vertragsschlusses In einigen Fällen bezieht der Appellate Body auch die Umstände und Hintergründe des Abschlusses des jeweils auszulegenden Abkommen in seine Interpretationsbemühungen ein. Im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut548 mußte der Appellate Body, wie bereits dargestellt, darüber entscheiden, ob Art. VI GATT 1994 unabhängig von den Vorschriften des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen anwendbar war.549 Nachdem das Gremium eine separate Anwendbarkeit dieser Vorschrift aufgrund der systematischen und teleologischen Auslegung der Vorschriften des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen verneint hatte, wendete es sich im Anschluß daran den Begleitumständen des Abschlusses dieses Übereinkommens zu. Dabei untersuchte der Appellate Body, welche Aussagen für die Auslegung des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen sich aus den Beschlüssen entnehmen ließen, die den Übergang von GATT 1947 und den Übereinkommen der Tokio-Runde zur WTO regelten. Sowohl der Übergang von GATT 1947 zur WTO als auch der Übergang vom Subventionsübereinkommen der Tokio-Runde550 zur WTO wurde mit Hilfe sogenannter „Decisions on Transitional Co-Existence“ geregelt.551 Beide Beschlüsse sahen ein befristetes Nebeneinander alter und neuer Übereintrade names. There is nothing at all in those passages to suggest that Members were either for or against their inclusion. Indeed, the only reference to a debate about the categories for coverage in the TRIPS Agreement relates, not to trade names, but to trade secrets. The Panel itself acknowledged that ‚[t]he records do not contain information on the purpose of the addition‘ of the words ‚in respect of‘ at the beginning of Article 2.1. Therefore, we do not consider that any conclusions may be drawn from these records about the interpretation of the words ‚in respect of‘ in Article 2.1 as regards trade names.“ United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea (WT/DS202/AB/R; 15.02.2002): „175. We also note that the negotiating history of Article XIX of the GATT 1947 and of the Agreement on Safeguards does not provide guidance as to whether the Members intended to establish a requirement of a discrete determination of serious injury or of threat of serious injury.“ 548 WT/DS22/AB/R. 549 Dazu bereits oben im Text 3. Kap. A. III. und 3. Kap. B. I., jeweils zur teleologischen Auslegung. 550 ABl. 1980, Nr. L 71, S. 72 ff.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

kommen für die Dauer eines Jahres, also bis zum 31. Dezember 1995 vor. Während dieser Zeit war es den Parteien der Altabkommen möglich, Streitigkeiten unter diesen Abkommen in das WTO-Streitbeilegungsverfahren zu überführen.552 Darüber hinaus existierte ein weiterer Beschluß, der das Streitbeilegungsverfahren des Subventionsübereinkommens der TokioRunde für ein weiteres Jahr, also bis zum 31.12.1996, aufrecht erhielt.553 Bezüglich dieser Beschlüsse führte der Appellate Body aus: „We agree with the Philippines that the transitional decisions approved by the Tokyo Round Subsidies and Countervailing Measures Committee and the CONTRACTING PARTIES25 do not modify the scope of rights and obligations under the WTO Agreement. We believe, however, that they contribute to understanding the significance of Article 32.3 of the SCM Agreement as a transitional rule. The Decision on Transitional Co-Existence of the GATT 1947 and the WTO Agreement and the Decision on Transitional Co-Existence of the Tokyo Round SCM Code and the WTO Agreement provide for the legal termination of the GATT 1947 and the Tokyo Round SCM Code one year after the date of entry into force of the WTO Agreement, i. e. by 31 December 1995. They also permit WTO Members, during the period of co-existence of the GATT 1947 and the Tokyo Round SCM Code with the WTO Agreement, to bring their disputes under the DSU where the measure in issue is one to which the WTO Agreement applies. The Decision on Consequences of Withdrawal from or Termination of the Tokyo Round SCM Code, adopted by the Tokyo Round Subsidies and Countervailing Measures Committee, extended dispute settlement under the Tokyo Round SCM Code for two years, one year beyond the legal termination of the Tokyo Round SCM Code. The Tokyo Round Committee on Subsidies and Countervail551 Decision on Transitional co-existence of the GATT 1947 and the WTOAgreement (PC/12 – L/7583), 13.12.1994 (abgedruckt bei Hummer/Weiss, S. 302 f.); Decision on Transitional co-existence of the Agreement on interpretation and application of Articles VI, XVI and XXIII of the General Agreement of Tariffs and Trade and the Marrakesh Agreement establishing the World Trade Organization (PC/15 – L/7586), 13.12.1994. Ein inhaltlich identisches Abkommen zur Regelung des Übergangs zwischen dem Antidumpingübereinkommen der Tokyo-Runde und dem Antidumpingübereinkommen der WTO ist abgedruckt bei Hummer/Weiss, S. 308 f. Zusammenfassend zu diesen Abkommen Moore, AJIL 90 (1996), S. 317 (319 ff.). 552 Dazu mußte die beschwerdeführende Partei ein unter dem Streitbeilegungsmechanismus des Altabkommens anhängiges Verfahren nunmehr erneut vor dem DSB der WTO anhängig machen. Dies führte zu einem automatischen Erlöschen der Zuständigkeit des unter dem Altabkommen eingesetzten Panels. 553 Decision on Consequences of Withdrawal from or Termination of the Agreement on Interpretation and Application of Articles VI, XVI and XXIII of the General Agreement on Tariffs and Trade (PC/16 – L/7587), 13.12.1994. Ein inhaltlich identisches Abkommen hinsichtlich des Antidumpingübereinkommens der TokyoRunde und dem Antidumpingübereinkommen der WTO ist abgedruckt bei Hummer/ Weiss, S. 310 f. Zusammenfassend zu diesen Abkommen Moore, AJIL 90 (1996), S. 317 (324 ff.).

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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ing Measures was to remain in operation by agreement of the signatories to the Tokyo Round SCM Code until 31 December 1996, to deal with disputes arising out of countervailing duty investigations or reviews initiated pursuant to applications made prior to 1 January 1995. Signatories to the Tokyo Round SCM Code agreed to make their best efforts to expedite domestic investigations and dispute settlement procedures to permit the Tokyo Round Subsidies and Countervailing Measures Committee to consider covered disputes within this two-year period. (. . .) Like the Panel, ‚we are hesitant, in interpreting the WTO Agreement, to give great weight to the effect of decisions that had not yet been taken at the time the WTO Agreement was signed‘. (. . .) While we agree with the Panel that these transitional decisions are of limited relevance in determining whether Article VI of the GATT 1994 can be applied independently of the SCM Agreement, they reflect the intention of the Tokyo Round SCM Code signatories to provide a forum for dispute settlement arising out of disputes under the Tokyo Round SCM Code for one year after its legal termination date. At the time the Tokyo Round SCM Code signatories agreed to these decisions, they were fully cognizant of the implications of the operation of Article 32.3 of the SCM Agreement. We agree with the Panel that the complaining party in this dispute, the Philippines, had legal options available to it, and, therefore, was not left without a right of action as a result of the operation of Article 32.3 of the SCM Agreement. Until 31 December 1995, the GATT 1947 continued to co-exist with the WTO Agreement, and dispute settlement was available to the Philippines pursuant to Articles VI and XXIII of the GATT 1947. Until 31 December 1996, as a result of the Decision on Consequences of Withdrawal from or Termination of the Tokyo Round SCM Code approved by the signatories to the Tokyo Round SCM Code, dispute settlement was available under the provisions of the Tokyo Round SCM Code. (. . .) Any WTO Member, which was not a signatory to the Tokyo Round SCM Code, had a right of action under Articles VI and XXIII of the GATT 1947 until 31 December 1995, (. . .). Note: 25 The Decision on Transitional Co-Existence of the GATT 1947 and the WTO Agreement (PC/12-L/ 7583, 13 December 1994) was adopted by the CONTRACTING PARTIES to the GATT 1947 (6SS/ SR/1); the Decision on Transitional Co-Existence of the Tokyo Round SCM Code and the WTO Agreement (SCM/186, 16 December 1994) was adopted by the Tokyo Round Committee on Subsidies and Countervailing Measures and noted by the CONTRACTING PARTIES (6SS/SR/1) and the WTO Committee on Subsidies and Countervailing Measures (G/SCM/M/1). The Decision on Consequences of Withdrawal from or Termination of the Tokyo Round SCM Code (SCM/187, 16 December 1994) was adopted by the Tokyo Round Committee on Subsidies and Countervailing Measures and noted by the CONTRACTING PARTIES (6SS/SR/1) and the WTO Committee on Subsidies and Countervailing Measures (G/SCM/M/1).“

In dieser Passage seines Berichts erläuterte der Appellate Body in kurzen Worten die soeben beschriebenen Übergangsregeln. Dabei betonte er gleich zu Beginn seiner Ausführungen, daß sie einen Beitrag zum Verständnis von Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnah-

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

men leisten könnten. Nach Ansicht des Gremiums gewährleisteten die Übergangsregeln, daß eine Vertragspartei entweder eines oder beider Altabkommen während der Übergangsphase zu jeder Zeit effektiv gegen möglicherweise rechtswidrige Ausgleichszölle vorgehen konnte. Dies galt auch für die Philippinen, die gegen den brasilianischen Ausgleichszoll bis zum 31. Dezember 1995 aus dem GATT 1947 und bis zum 31. Dezember 1996 aus dem Subventionsübereinkommen der Tokio-Runde hätten vorgehen können. Dieser Befund ließ den Appellate Body zu der Auffassung gelangen, daß seine zuvor vorgenommene Auslegung von Art. 32.3 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen keine Verkürzung von Rechtsschutzmöglichkeiten bedeutete. Insofern konnte der Appellate Body sein zuvor mit Hilfe der systematischen und teleologischen Auslegung gewonnenes Ergebnis als bestätigt betrachten. Auch im Fall European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment554 spielten die Umstände des Vertragsschlusses eine Rolle im Rahmen des Auslegungsprozesses. Nachdem der Appellate Body auf die Bedeutung des Harmonisierten Systems für die Interpretation der Zugeständnisliste der Europäischen Gemeinschaft hingewiesen hatte,555 wendete er sich der historischen Auslegung zu. Dabei stellte er zunächst fest, daß die Frage der Eingruppierung netzwerkfähiger Computer im Rahmen der Uruguay Runde nicht verhandelt worden war. Allerdings seien die Parteien wohl davon ausgegangen, die bisherige Verfahrensweise fortzusetzen. Daher wäre es im Rahmen der Auslegung erforderlich gewesen, die während der Tokio-Runde geführten Verhandlungen näher auf die Frage zu untersuchen, in welcher Zolltarifgruppe die entsprechenden Geräte eingeordnet worden seien: „91. We note that the European Communities stated that the question whether LAN equipment was bound as ADP machines, under headings 84.71 and 84.73, or as telecommunications equipment, under heading 85.17, was not addressed during the Uruguay Round tariff negotiations with the United States. We also note that the United States asserted that: In many, perhaps most, cases, the detailed product composition of tariff commitments was never discussed in detail during the tariff negotiations of the Uruguay Round . . . (emphasis added) and that: The US-EC negotiation on Chapter 84 provided an example of how two groups of busy negotiators dealing with billions of dollars of trade and hundreds of tariff lines relied on a continuation of the status quo. (emphasis added) 554 555

WT/DS62/AB/R; WT/DS67/AB/R; WT/DS68/AB/R. Vgl. dazu oben im Text 1. Kap. B. am Anfang zur Wortlautauslegung.

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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This may well be correct and, in any case, seems central to the position of the United States. Therefore, we are surprised that the Panel did not examine whether, during the Tokyo Round tariff negotiations, the European Communities bound LAN equipment as ADP machines or as telecommunications equipment.80 Note: 80 We note that in paragraph 8 of its third participant’s submission, Japan stated that: ‚[i]n particular, the classification of the LAN equipment among the Members of the EC was not identical before the Uruguay Round‘.“

Im Anschluß an diesen Hinweis auf die Bedeutung der Vertragsverhandlungen für die Auslegung nahm der Appellate Body schließlich Bezug auf die Umstände des Vertragsschlusses: „92. (. . .) the Panel examined (. . .) the classification practice regarding LAN equipment in the European Communities during the Uruguay Round tariff negotiations. The Panel did this on the basis of certain BTIs and other decisions relating to the customs classification of LAN equipment, issued by customs authorities in the European Communities during the Uruguay Round.82 In the light of our observations on ‚the circumstances of [the] conclusion‘ of a treaty as a supplementary means of interpretation under Article 32 of the Vienna Convention, we consider that the classification practice in the European Communities during the Uruguay Round is part of ‚the circumstances of [the] conclusion‘ of the WTO Agreement and may be used as a supplementary means of interpretation within the meaning of Article 32 of the Vienna Convention. However, two important observations must be made: first, the Panel did not examine the classification practice in the European Communities during the Uruguay Round negotiations as a supplementary means of interpretation within the meaning of Article 32 of the Vienna Convention; and, second, the value of the classification practice as a supplementary means of interpretation is subject to certain qualifications discussed below. Note: 82 The lists of the BTIs and classification decisions in the form of a letter, submitted by the parties and considered by the Panel, were attached to the Panel Report as Annex 4 and Annex 6 thereof.“

Zunächst stellte der Appellate Body fest, daß auch die Umstände des Vertragsschlusses bei der Auslegung der Zugeständnisliste hätten Berücksichtigung finden müssen. Dabei zählte das Gremium insbesondere die Praxis der Vertragsparteien während der Vertragsverhandlungen zu den auslegungsrelevanten Umständen des Vertragsschlusses; im konkreten Fall also die Praxis der Zollbehörden556 bei der Einordnung der netzwerkfähigen Computer in eine bestimmte Zollkategorie.557 Dabei betonte der Appellate 556

Der Appellate Body bezieht sich hier u. a. auf BTIs. Dabei handelt es sich um verbindliche Zollauskünfte (binding tarriff informations). 557 Wenig später wies der Appellate Body darauf hin, daß nicht nur die Praxis der Zollbehörden selbst relevant sei, sondern auch die gesetzlichen Grundlagen dieser Praxis, im konkreten Fall also einer EG-Verordnung: „94. In this context, we also note that while the Panel examined the classification practice during the Uruguay Round negotiations, it did not consider the EC legislation on customs classification of goods that was applicable at that time. In

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Body, daß die Untersuchung der Praxis nur einer Vertragspartei allenfalls begrenzten Erkenntniswert habe. Vor dem Hintergrund des Ziels der Vertragsauslegung, der Ergründung des gemeinsamen Willens der Parteien, sei es vorzugswürdig, die Praxis aller Parteien zu untersuchen: „93. We note that the Panel examined the classification practice of only the European Communities, and found that the classification of LAN equipment by the United States during the Uruguay Round tariff negotiations was not relevant.86 The purpose of treaty interpretation is to establish the common intention of the parties to the treaty. To establish this intention, the prior practice of only one of the parties may be relevant, but it is clearly of more limited value than the practice of all parties. (. . .) Note: 86 See Panel Report, para. 8.60. We note that in paragraph 8.58 of the Panel Report, the Panel stated that the classification of LAN equipment by other WTO Members was not relevant either.“

Schließlich wies der Appellate Body darauf hin, daß eine Praxis nur dann für den Auslgungsvorgang relevant sei, wenn sie zur Zeit der Vertragsverhandlungen einheitlich gewesen sei: „95. Then there is the question of the consistency of prior practice. Consistent prior classification practice may often be significant. Inconsistent classification practice, however, cannot be relevant in interpreting the meaning of a tariff concession. We note that the Panel, on the basis of evidence relating to only five out of the then 12 Member States, made the following factual findings with regard to the classification practice in the European Communities: To rebut the presumption raised by the United States, the European Communities has produced documents which indicate that LAN equipment had been treated as telecommunication apparatus by other customs authorities in the European Communities. (emphasis added) . . . it would be reasonable to conclude at least that the practice [regarding classification of LAN equipment] was not uniform in France during the Uruguay Round. Germany appears to have consistently treated LAN equipment as telecommunication apparatus. . . . LAN equipment was generally treated as ADP machines in Ireland and the United Kingdom during the Uruguay Round. (emphasis added) particular, it did not consider the ‚General Rules for the Interpretation of the Combined Nomenclature‘ as set out in Council Regulation 2658/87 on the Common Customs Tariff.87 If the classification practice of the importing Member at the time of the tariff negotiations is relevant in interpreting tariff concessions in a Member’s Schedule, surely that Member’s legislation on customs classification at that time is also relevant. Note: 87 Title I, Part I of Annex I of Council Regulation (EEC) No. 2658/87 of 23 July 1987, Official Journal No. L 256, 7 September 1987, p. 1.“

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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As a matter of logic, these factual findings of the Panel lead to the conclusion that, during the Uruguay Round tariff negotiations, the practice regarding the classification of LAN equipment by customs authorities throughout the European Communities was not consistent.“

Im Fall European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment gelangte der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß die Klassifizierungspraxis der europäischen Zollbehörden in bezug auf netzwerkfähige Computer während der Uruguay-Runde nicht einheitlich war. Dies erübrigte eine Untersuchung der Praxis weiterer WTO-Mitglieder. Damit ließ sich nicht endgültig klären, in welche Zollkategorie netzwerkfähige Computer einzuordnen waren. Für die Vereinigten Staaten bedeutete dieses Ergebnis, daß sie mit ihrer Beschwerde, daß die Europäischen Gemeinschaft diese Computer weniger günstig behandelten als in der Zugeständnisliste zugesichert,558 nicht durchzudringen vermochten.

C. Stellenwert der historischen Auslegung Der Stellenwert, den der Appellate Body der historischen Auslegung einräumt, läßt sich mit Hilfe von zwei Indikatoren bestimmen. Einerseits erlaubt die Funktion, die diese Methode im Einzelfall innerhalb des Auslegungsvorgangs einnimmt, Rückschlüsse auf ihren Stellenwert. Ein Einsatz der historischen Auslegung im Sinne von Art. 32 WVRK, also zur Beseitigung am Ende des Auslegungsvorgangs verbleibender Unklarheiten oder zur Bestätigung bereits anderweitig erzielter Ergebnisse, deutet darauf hin, daß diese Methode nur nachrangige Bedeutung hat. Daneben sind die ausdrücklichen Stellungnahmen des Appellate Body darauf hin zu untersuchen, welchen Stellenwert das Gremium der historischen Methode zuweist. I. Funktionen der historischen Auslegung in der Spruchpraxis des Appellate Body 1. Bestätigung eines eindeutigen Auslegungsergebnisses Im überwiegenden Teil der Fälle verwendet der Appellate Body die historische Auslegung, um ein bereits mit Hilfe der übrigen Auslegungsmethoden gefundenes Auslegungsergebnis zu bestätigen. Beispiele für diese Vorgehensweise sind die soeben dargestellten Ausführungen des Appellate Body im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut559 sowie im 558 559

Zur Beschwerde der Vereinigten Staaten bereits oben 1. Kap. B. am Anfang. WT/DS22/AB/R; vgl. dazu soeben oben im Text B. I.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

japanischen Alkohol-Fall560 und im Shrimp-Fall561. In den beiden letztgenannten Fällen erklärte der Appellate Body ausdrücklich, daß die Entstehungsgeschichte die zuvor ermittelten Auslegungsergebnisse bestätige. Auch im Fall European Communities – Measures Affecting the Importation of Certain Poultry Products562 zog der Appellate Body die historische Auslegung zur Bestätigung eines bereits anderweitig gefundenen Auslegungsergebnisses heran. In diesem Fall mußte der Appellate Body wie auch im Fall European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment die während der Uruguay-Runde ausgehandelte Zugeständnisliste LXIII der Europäischen Gemeinschaft auslegen. Darin hatte sich die Europäische Gemeinschaft verpflichtet, jährlich 15.500 Tonnen tiefgefrorenes Geflügelfleisch zollfrei auf den europäischen Markt gelangen zu lassen. Brasilien vertrat die Auffassung, daß dieses Importkontingent exklusiv für brasilianisches Tiefkühlgeflügel galt. Dabei stützte sich Brasilien insbesondere auf das 1993 zwischen der Gemeinschaft und Brasilien abgeschlossene Ölsaatenabkommen.563 Der Appellate Body ließ sich nicht auf die Argumente Brasiliens ein, sondern betonte, daß es vorrangig darum ginge, die Zugeständnisliste der Europäischen Gemeinschaft auszulegen und nicht das Ölsaatenabkommen. Dabei gelangte er zu dem Ergebnis, daß sich der Zugeständnisliste der Gemeinschaft nicht entnehmen lasse, daß die Importquote ausschließlich Brasilien zugute kommen sollte. Dieses Auslegungsergebnis sah der Appellate Body durch das Ölsaatenabkommen als Teil des historischen Hintergrundes der Zugeständnisliste564 der Gemeinschaft bestätigt: 560 WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R; vgl. dazu soeben oben im Text B. I. 561 WT/DS58/AB/R; vgl. dazu soeben oben im Text B I. 562 WT/DS69/AB/R (13.7.1998). 563 ABl. 1994 Nr. L 47, S. 1 (8 ff.); Die Gemeinschaft schloß gleichlautende Abkommen auf jeweils bilateraler Basis mit Argentinien, Brasilien, Kanada, Polen, Schweden und Uruguay. Diese Abkommen waren erforderlich geworden, nachdem ein GATT 1947 Panel (BISD 37S/86) zu dem Ergebnis gekommen war, daß das Beihlifenregime der Gemeinschaft für Ölsaaten gegen Vorschriften des GATT 1947 verstieß. Daraufhin handelte die Gemeinschaft mit den genannten Staaten auf Grundlage von Art. XXVIII GATT 1947 Änderungen in der Zugeständnisliste LXIII der Gemeinschaft aus; vgl. dazu Korte/van Rijn, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, Art. 40 Rdnr. 87. 564 „83. We recognize that the Oilseeds Agreement was negotiated within the framework of Article XXVIII of the GATT 1947 with the authorization of the CONTRACTING PARTIES and that both parties agree that the substance of the Oilseeds Agreement was the basis for the 15,500 tonne tariff-rate quota for frozen poultry meat that became a concession of the European Communities in the Uruguay Round set forth in Schedule LXXX. Therefore, in our view, the Oilseeds Agreement may serve as a supplementary means of interpretation of Schedule

7. Kap.: Die Historische Auslegung

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„91. This view is confirmed by an examination of the relevant provisions of the Oilseeds Agreement as a supplementary means of interpretation of the concessions made by the European Communities in Schedule LXXX. A footnote in the Oilseeds Agreement states: Duty exemption shall be applicable for cuts falling within subheadings 0207.41.10, 0207.41.41 and 0207.41.71 within the limits of a global annual tariff quota of 15.500 tonnes to be granted by the competent Community authorities. (emphasis added) 92. The Oilseeds Agreement uses the term ‚global annual tariff quota‘ in describing the 15,500 tonnes. Although we agree with the Panel that this term is ‚non-legal‘, nevertheless, this is a term well-understood in GATT/WTO practice to mean a tariff-rate quota that is to be administered on a non-discriminatory basis pursuant to Article XIII of the GATT 1994. As early as the Havana Conference in 1947, it was pointed out during discussions on the provision that later became Article XIII of the GATT that ‚global quotas not allocated among supplying countries might sometimes operate in a manner unduly favourable to those countries best able for any reason to take prompt advantage of the global quotas at the opening of the quota period‘.35 (emphasis added) We also refer to the statement in Panel on Newsprint: In examining the EEC Regulation 3684/83, the Panel found that it did not in fact constitute a change in the administration or management of the tariff quota from a global quota system to a system of country shares, as had been asserted by the EC.36 (emphasis added) In both cases, the term ‚global quota‘ was used in contrast with quotas allocated on a country-specific basis. In the light of this, and in the absence of any persuasive evidence to the contrary, we cannot construe the term ‚global annual tariff quota‘ as used in the Oilseeds Agreement to mean a country-specific quota allocated exclusively to Brazil.37 Notes: 35 Reports of Committees and Principal Sub-Committees: ICITO I/8, Geneva, September 1948, p. 91, para. 28, cited in GATT, Analytical Index: Guide to GATT Law and Practice (1995), Vol. I, p. 400. 36 Adopted 20 November 1984, BISD 31S/114, para. 51. 37 See Jackson, J., World Trade and the Law of GATT (Bobbs-Merrill, 1969), p. 232. See also, for example, the Dictionary of Trade Policy Terms (Centre for International Economic Studies, 1998), and the Dictionary of International Trade (World Trade Press, 1998).“

Der Appellate Body stellte hier darauf ab, daß das Ölsaatenabkommen in einer Fußnote den Hinweis enthielt, daß eine global annual quota von 15.500 Tonnen Tiefkühlgeflügel von Zöllen befreit werde. Bezüglich des Begriffs global quota wies das Gremium ausführlich nach, daß er im allgemeinen Sprachgebrauch des GATT 1947 ein Kontingent bezeichnete, das sich nicht nur auf eine einzelne Vertragspartei beziehungsweise ein einzelnes Mitglied bezog, sondern auf sämtliche. Insofern fand der Appellate LXXX pursuant to Article 32 of the Vienna Convention, as it is part of the historical background of the concessions of the European Communities for frozen poultry meat.“ (Hervorhebung im Original).

380

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Body eine Bestätigung seiner zuvor geäußerten Auffassung mit Hilfe der historischen Auslegung. 2. Beseitigung von Unklarheiten Nur in wenigen Fällen dient die historische Auslegung dazu, nach Anwendung der übrigen Auslegungsmethoden verbliebene Unklarheiten zu beseitigen. Im Fall Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products565 mußte der Appellate Body ähnlich wie im Fall European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment566 eine Zugeständnisliste auslegen. Kanada hatte in seiner Zugeständnisliste den Zollsatz für Milch und Milchprodukte gebunden. Danach durften 64.500 Tonnen Milch zu einem Zollsatz von 17.5% nach Kanada eingeführt werden. Importe außerhalb dieser Quote unterlagen einem Zollsatz von 283,8%. Neben dieser Zollbindung hatte Kanada eine gemäß Art. II.1(b) GATT 1994 erlaubte „Bedingung“ beziehungsweise „nähere Bestimmung“567 in seine Liste aufgenommen. Darin hieß es, daß die Quote von 64.500 Tonnen represents the estimated annual cross-border purchases imported by Canadian consumers. Die Praxis der kanadischen Zollbehörden ging dahin, auf Milch, die in Einzelhandelsverpackungen abgefüllt war und die von kanadischen Privatpersonen für den privaten Verbrauch nach Kanada eingeführt wurde, keinerlei Zölle zu erheben und sie auch sonst keinerlei Kontrollen oder Beschränkungen zu unterwerfen. Dies führte dazu, daß nicht festgestellt werden konnte, ob sich die private Einfuhr noch innerhalb der in die Liste aufgenommenen 64.500 Tonnen bewegte oder diese bereits überstieg. Andere Einfuhren von Milch – das heißt die Einfuhren gewerblicher Importeure, aber auch die Einfuhren von Milch in nicht für den Einzelhandelsverkauf bestimmten Behältnissen durch Private – wurden von den Zollbehörden so behandelt, als fielen sie nicht in die Quote, so daß sie dem Zollsatz von 283,8% unterlagen.568 Die Vereinigten Staaten vertraten die Auffassung, daß die Beschränkungen, die Kanada bei der Einfuhr von Milch anwendete, gegen die Verpflichtung aus Art. II.1(b) GATT 1994 verstieß. Diese Vorschrift untersagt es den Mitgliedern der WTO, auf eingeführte Waren höhere Zölle zu erheben als in der Zugeständnisliste vorgesehen. 565

WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R; vgl. bereits oben 1. Kap. A. II. Dazu soeben oben B. III. 567 Im Originaltext von Art. II.1(b) GATT 1994 ist von „terms“, „conditions“ und „qualifications“ die Rede. 568 Zum Sachverhalt vgl. den Bericht des Panels WT/DS103/R; WT/DS113/R (13.5.1999), paras. 7.142–7.145 sowie den Bericht des Appellate Body paras. 125, 126. 566

7. Kap.: Die Historische Auslegung

381

Das Panel kam zu der Auffassung, daß der Zusatz in der kanadischen Zugeständnisliste die von den Zollbehörden geübte Praxis nicht zu decken vermochte. Die Begriffe consumer und cross-border purchases könnten nicht nur in dem Sinne der von Kanada geübten Praxis ausgelegt werden, sondern hätten eine weitergehende Bedeutung.569 Der Appellate Body stimmte mit der Auslegung des Panels nicht überein: „136. We note that the Panel also adopted an overly literal and narrow view of the words ‚cross-border purchases imported by Canadian consumers‘ in the notation at issue. Moreover, the Panel erred in failing to give meaning to all of the words in that notation. On the basis of its ordinary meaning, the Panel stated that the language in the notation could not refer only to ‚consumer packaged milk for personal use.‘ (emphasis in original) We do not agree that the ordinary meaning of that phrase in the notation is so unequivocal. We do not see anything in the text of the notation which necessarily precludes such an interpretation. The notation refers to ‚cross-border purchases imported by Canadian consumers‘. It seems, to us, that this language may well be taken to refer to imports of fluid milk made by Canadian consumers for personal use in the course of cross-border shopping.“

Zunächst stellte der Appellate Body fest, daß die Sprache des kanadischen Listenzusatzes keineswegs so unzweideutig sei, wie vom Panel zunächst behauptet. Der Text des Zusatzes enthalte nichts, was die von Kanada vorgetragene Auslegung ausschlösse. Im Anschluß daran führte das Gremium aus: „138. In our view, the language in the notation in Canada’s Schedule is not clear on its face. Indeed, the language is general and ambiguous, and, therefore, requires special care on the part of the treaty interpreter. For this reason, it is appropriate, indeed necessary, in this case, to turn to ‚supplementary means of interpretation‘ pursuant to Article 32 of the Vienna Convention. In so doing, we are unable to share the apparent view of the Panel that the meaning of the notation at issue is so clear and self-evident that there was ‚no need to also examine the historical background against which these terms were negotiated.‘ (emphasis added) 139. In considering ‚supplementary means of interpretation‘, we observe that the ‚terms and conditions‘ at issue were incorporated into Canada’s Schedule after lengthy negotiations between Canada and the United States, regarding reciprocal market access opportunities for dairy products. (. . .) Our reading of the circumstances surrounding the conclusion of the WTO Agreement leads us to ob569 Bericht des Panels (WT/DS103/R; WT/DS113/R), para. 7.152: „(. . .) [I]n our view, the ordinary meaning of the words ‚cross-border purchases‘ by ‚consumers‘ in this context does not warrant the conclusion that only consumer packaged milk for personal use can enter under the tariff-rate quota. An imported good, by definition, crosses a border. Also, the dictionary meaning of ‚consumer‘ is not restricted to a person buying for personal use in small retail packages. All dictionary definitions of ‚consumer‘ referred to by the parties include wider definitions without these restrictions“.

382

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

serve that, although Canada’s commitment on fluid milk was made unilaterally, both Canada and the United States understood that this commitment represented a continuation by Canada of ‚current access‘ opportunities, not a commitment to provide ‚minimum access‘ opportunities under the Agreement on Agriculture.“

Der Appellate Body bekräftigte zunächst erneut, daß der Text des von Kanada in der Liste eingefügten „näheren Bestimmung“ mehrdeutig sei. Aus diesem Grund sah sich das Gremium veranlaßt, die Umstände des Abschlusses der kanadischen Zugeständnisliste in seine Auslegungsbemühungen einzubeziehen, wobei es wiederum ausdrücklich Bezug auf Art. 32 WVRK nahm. Diese Umstände verstand der Appellate Body derart, daß die kanadischen Zugeständnisse eine Fortsetzung der bereits bestehenden Marktzugangsgbedingungen darstellen sollten.570 Da Kanada Milcheinfuhren bereits seit 1970 entsprechend der auch noch nach der Uruguay-Runde geübten Praxis behandelt hatte, kam der Appellate Body zu dem Ergebnis, daß die kanadische Praxis im wesentlichen nicht gegen Art. II.1(b) GATT 1994 verstieß.571 3. Bewertung Die in diesem sowie im vorangegangenen Abschnitt dargestellten Fälle zeigen, daß der Appellate Body die historische Auslegung vorrangig einsetzt, um die Auslegungsergebnisse, die er mit Hilfe der übrigen Auslegungsmethoden ermittelt hat, abzusichern. In einzelnen Fällen, in denen diese Methoden die Bedeutung eines Begriffes oder einer Vorschrift nicht endgültig zu klären vermögen, kommt der historischen Auslegung die Aufgabe zu, die bestehenden Unklarheiten zu beseitigen.572 Damit entspricht 570 Die vom Appellate Body verwendeten Begriffe „‚current access‘ opportunities“ und „‚minimum access‘ opportunities“ beschreiben die im Bereich der Landwirtschaft während der Uruguay-Runde ausgehandelten Marktzugangsregelungen. Zum einen verpflichteten sich die Staaten, vor der Uruguay-Runde bereits bestehende Zugangsmöglichkeiten („current access“) zu konsolidieren, das heißt beizubehalten und in Zölle umzuwandeln, und darüber hinaus für andere Produkte einen Mindestzugang zu gewähren; vgl. Priebe/Mögele, Agrarrecht, in: Dauses, Bd. 1, G.3, Rdnr. 39. 571 Die Praxis der kanadischen Zollbehörden beruhte auf einer Verwaltungsvorschrift. Darin war die zollfreie Einfuhr von Milch auf den Gegenwert von 20 kanadische Dollar beschränkt. Wenngleich die Zollbehörden diese Wertgrenze nicht anwendeten, war dieser Passus der Verwaltungsvorschrift nicht mit dem Listenzusatz vereinbar, der keinerlei wertmäßige Begrenzung enthielt. Insofern stellte der Appellate Body einen Verstoß gegen Art. II.1(b) GATT 1994 fest. 572 Im Fall United States – Countervailing Duties on Certain Corrosion-Resistant Carbon Steel Falt Products from Germany (WT/DS213/AB/R) erklärte der Appellate Body ausdrücklich, daß eine Notwendigkeit zur Heranziehung der Auslegungsmittel des Art. 32 WVRK nur besteht, wenn die Auslegung im übrigen zu absurden

7. Kap.: Die Historische Auslegung

383

die Verwendung der historischen Auslegung den Vorgaben von Art. 32 WVRK. II. Ausdrückliche Stellungnahmen in der Spruchpraxis des Appellate Body Die enge Bindung des Appellate Body an die Vorgaben von Art. 32 WVRK äußert sich auch in der Darstellungsweise und in der Wortwahl des Gremiums im Zusammenhang mit der historischen Auslegung. Vielfach nimmt der Appellate Body entweder im Text des Berichts573 oder aber in einer Fußnote574 ausdrücklich Bezug auf Art. 32 WVRK. Dabei betont er jeweils auch, daß es sich bei der historischen Auslegung um ein supplementary means of interpretation handelt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang eine Passage des Berichts des Gremiums im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut,575 in der sich weder ein Hinweis auf die Vorschriften der Vertragsrechtskonvention noch auf den lediglich ergänzenden Charakter der historischen Auslegung findet: „Like the Panel, ‚we are hesitant, in interpreting the WTO Agreement, to give great weight to the effect of decisions that had not yet been taken at the time the WTO Agreement was signed‘. (. . .)“

Hier deutet der Appellate Body an, daß er die Bedenken teilt, die dazu geführt haben, daß der historischen Auslegung in Art. 32 WVRK und im Völkergewohnheitsrecht lediglich nachrangige Bedeutung zukommt.576 Travaux préparatoires und Umstände des Vertragsschlusses datieren aus einer Zeit, in der die Übereinkunft der Vertragsparteien noch nicht vorlag. Deshalb erlauben diese Erkenntnismittel nur eine begrenzte Aussage über den Inhalt der Übereinkunft der Vertragsparteien. Ergebnissen führen würde: „89. For these reasons, we consider that the non-application of an express de minimis standard at the review stage, and limiting the application of such a standard to the investigation phase alone, does not lead to irrational or absurd results. Accordingly, we do not consider it strictly necessary to have recourse to the supplementary means of interpretation identified in Article 32 of the Vienna Convention.“ (Hervorhebung vom Verfasser). 573 Vgl. soeben die Darstellung der Fälle: European Communites – Customs Classification of Certain Computer Equipment para. 92; Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products, para. 138; European Communities – Measures Affecting the Importation of Certain Poultry Products, para. 91. 574 United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, para. 157 m. Fn. 152. 575 WT/DS22/AB/R; vgl. dazu soeben oben B. III. 576 Vgl. dazu 1. Teil 2. Kap. F.

384

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Im Fall India – Quantitative Restrictions on Imports of Agricultural, Textile and Industrial Products577 schränkte der Appellate Body die Verwendung der historischen Auslegung weiter ein, indem er betonte, daß die Verhandlungsgeschichte einer Vorschrift nur dann Berücksichtigung bei der Auslegung finden kann, wenn sie in hinreichender Weise schriftlich dokumentiert ist. In diesem Verfahren hatte Indien die Zuständigkeit des ursprünglichen Panels bestritten und argumentiert, daß der Disput vor dem nach Art. IV.7 des WTO-Übereinkommens einzurichtenden Ausschuß für Zahlungsbilanzbeschränkungen hätte verhandelt werden müssen. Zur Stützung dieser Position hatte sich Indien unter anderem auch auf die Entstehungsgeschichte der Fußnote 1 zur Vereinbarung über die Zahlungsbilanzbestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens berufen. Nach dem Text dieser Fußnote können sich die Mitglieder auch bei GATTwidrigen Einfuhrbeschränkungen aus Zahlungsbilanzgründen auf die Art. XXII und XXIII GATT 1994 und das DSU berufen. Indien machte demgegenüber geltend, daß sich aus der Entstehungsgeschichte der Fußnote bestimmte Einschränkungen dieser Vorschrift ergeben sollten, die gerade im konkreten Fall die Anwendbarkeit der allgemeinen Streitbeilegungsvorschriften ausschlössen. Zu dieser Argumentation578 führte der Appellate Body aus: 94. We note India’s arguments relating to the negotiating history of the BOP Understanding.84 However, in the absence of a record of the negotiations on footnote 1 to the BOP Understanding, we find it difficult to give weight to these arguments.85 We do not exclude that footnote 1 to the BOP Understanding was ‚heavily negotiated‘, and that it tries to accommodate opposing views held by different parties to the negotiations on the BOP Understanding.86 We are convinced, however, that the second sentence of footnote 1 does not accord with the position held by India. To interpret the sentence as proposed by India would require us to read into the text words which are simply not there. Neither a panel nor the Appellate Body is allowed to do so.87 Notes: 84 India’s appellant’s submission, paras. 17 and 83. 85 In its appellant’s submission, India states that ‚there is no formal record of the discussions leading to the adoption of this clause‘. See India’s appellant’s submission, para. 11. The United States agrees with India that ‚there is no relevant negotiating history for the [BOP Understanding]‘. See United States’ appellee’s submission, para. 84. The only document referred to by India is the United States – Canadian Proposal for a ‚Declaration on Trade Measures Taken for Balance-of-Payments Purposes‘, discussed by the Panel in paras. 5.106-5.109 of its Report. 86 India refers to the ‚heavily negotiated text of the footnote in the [BOP Understanding]‘. See India’s appellant’s submission, para. 17. 87 European Communities – Hormones, supra, footnote 18, para. 181.“ 577

WT/DS90/AB/R (23.8.1999). Indien hatte zur Begründung seiner Position weitere Argumente vorgetragen, die der Appellate Body jedoch allesamt im Zuge von Wortlautauslegung, systematischer Auslegung und teleologischer Auslegung der einschlägigen Vorschriften widerlegt hatte; vgl. WT/DS90/AB/R, paras. 80 ff. 578

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

385

Hier sah sich der Appellate Body nicht nur aufgrund der allgemeinen Erwägung, daß der Wortlaut der Vorschrift der von Indien vorgetragenen Auslegung entgegenstand, daran gehindert, Indien zu folgen. Ausdrücklich erklärte der Appellate Body auch, daß er Indiens Argument nicht berücksichtigen konnte, weil es keinerlei schriftliche Aufzeichnungen (record) über die Verhandlungen der entscheidenden Fußnote 1 gab. Damit machte der Appellate Body klar, daß er die Verhandlungsgeschichte einer Vorschrift nur dann überhaupt in seine Erwägungen einzubeziehen bereit ist, wenn diese auch schriftlich dokumentiert ist.

D. Abschließende Zusammenfassung Auch im Rahmen der historischen Auslegung orientiert sich der Appellate Body wiederum eng an den Vorgaben der Wiener Vertragsrechtskonvention. In verhältnismäßig wenigen Fällen greift er überhaupt auf die historische Auslegung zurück. Dabei stehen einerseits die gut dokumentierte Entstehungsgeschichte des GATT 1947, andererseits die Hintergründe der einzelnen Zugeständnislisten im Vordergrund. Die Entstehungsgeschichte der Übereinkommen der Uruguay-Runde, deren Dokumentation wegen des umfangreichen Materials noch im Flusse befindlich ist, spielt bislang nahezu keine Rolle in den Ausführungen des Appellate Body. Soweit das Gremium sich der historischen Auslegung bedient, steht die Bestätigung anderweitig gefundener Auslegungsergebnisse im Vordergrund. 8. Kapitel

Die Sonstigen Erkenntnisquellen Neben den sich aus Art. 31 und 32 WVRK ergebenden Auslegungskriterien finden bisweilen weitere Erkenntnisquellen Eingang in die Auslegungserwägungen des Appellate Body. So zieht das Gremium im Rahmen seiner Überlegungen regelmäßig Präzedenzfälle heran. Daneben hat es in einem Fall bei der Auslegung einer Zugeständnisliste auch auf einseitige Äußerungen eines WTO-Mitglieds Bezug genommen. Die Auslegungsvermutung in dubio mitius hat das Gremium ebenfalls ausdrücklich in seine Überlegungen einbezogen. Demgegenüber hat der Appellate Body der Vermutung für eine enge Auslegung von Ausnahmebestimmungen eine deutliche Absage erteilt.

386

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

A. Die Verwendung von Präzedenzfällen Wie bei einer Vielzahl anderer Gerichte spielen auch in der Spruchpraxis des Appellate Body Präjudizien eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dies gilt auch für den Bereich der Vertragsauslegung,579 wo das Gremium neben eigenen Berichten sowohl Berichte von WTO-Panels als auch Berichte von GATT 1947-Panels verwertet. I. GATT 1947-Präjudizien Seit Aufnahme seiner Tätigkeit legt der Appellate Body Vorschriften des GATT 1994 auch unter Zuhilfenahme von Panel-Berichten aus der Zeit des GATT 1947 aus. So stellte das Gremium im japanischen Alkohol-Fall Japan – Taxes on Alcoholic Beverages580 im Anschluß an die systematische Auslegung von Art. III.2 Satz 1 GATT 1994 fest, daß seine Interpretation der Vorschrift in Übereinstimmung mit der früheren Praxis unter dem GATT 1947 stand: „This approach to an examination of Article III:2, first sentence, is consistent with past practice under the GATT 1947.42 (. . .) Note: 42 See Brazilian Internal Taxes, BISD II/181, para. 14; Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages, BISD 34S/83, para. 5.5(d); United States – Taxes on Petroleum and Certain Imported Substances, BISD 34S/136, para. 5.1.1; United States – Measures Affecting the Importation, Internal Sale and Use of Tobacco, DS44/R, adopted on 4 October 1994.“

Auch im Shrimp-Fall United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products581 wies der Appellate Body darauf hin, daß seine Interpretation des Begriffs exhaustible natural resource im Einklang mit früheren Fällen stand: „131. (. . .)Moreover, two adopted GATT 1947 panel reports previously found fish to be an ‚exhaustible natural resource‘ within the meaning of Article XX(g).115 (. . .) Note: 115 United States – Prohibition of Imports of Tuna and Tuna Products from Canada, adopted 22 February 1982, BISD 29S/91, para. 4.9; Canada – Measures Affecting Exports of Unprocessed Herring and Salmon, adopted 22 March 1988, BISD 35S/98, para. 4.4.“

579 Vgl. dazu bereits im Rahmen der Untersuchung der teleologischen Auslegung oben im Text 3. Kap. B. II. 2. 580 WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R; vgl. dazu bereits oben im Text 3. Kap. A. I., 3. Kap. B. II. 2., 3. Kap. D. I. 1. (teleologische Auslegung) sowie 5. Kap. am Anfang (spätere Praxis). 581 WT/DS58/AB/R; vgl. dazu bereits oben 1. Kap. D.

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

387

In der Sache entspricht die Zuhilfenahme von Präzedenzfällen im Rahmen der Vertragsauslegung der Vorgehensweise einer Vielzahl internationaler Gerichte und Tribunale. Der Appellate Body sah sich jedoch mit dem Problem konfrontiert, daß das GATT 1947 am 31.12.1995 außer Kraft getreten war und daß das GATT 1994 ein davon in rechtlicher Hinsicht zu trennendes aliud ist und daß sich folglich die aus diesem Vertragsregime herstammenden Panel-Berichte streng genommen auf einen anderen Auslegungsgegenstand beziehen. Dementsprechend nutzte das Gremium früh die Gelegenheit zu erklären, weshalb es berechtigt ist, Entscheidungen zur Auslegung des GATT 1994 auf Erwägungen zu stützen, die allein das GATT 1947 betrafen. Zwar lehnte es der Appellate Body im japanischen Alkohol-Fall zunächst ab, die unter dem GATT 1947 von den VERTRAGSPARTEIEN angenommenen Panel-Berichte als spätere Praxis der Vertragsparteien im Sinne von Art. 31 Abs. 3 WVRK zu werten; er machte jedoch im Anschluß daran umfangreiche Ausführungen dazu, welche Bedeutung diesen Berichten im Rahmen der WTO statt dessen zukommt: „Article XVI:1 of the WTO Agreement and paragraph 1(b)(iv) of the language of Annex 1A incorporating the GATT 1994 into the WTO Agreement bring the legal history and experience under the GATT 1947 into the new realm of the WTO in a way that ensures continuity and consistency in a smooth transition from the GATT 1947 system. This affirms the importance to the Members of the WTO of the experience acquired by the CONTRACTING PARTIES to the GATT 1947 – and acknowledges the continuing relevance of that experience to the new trading system served by the WTO. (. . .)“

Zunächst stellte der Appellate Body losgelöst von der Frage der Bedeutung der alten Panel-Berichte klar, daß vor allem zwei Vorschriften der WTO-Übereinkommen, nämlich Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens und § 1(b)(iv) des einführenden Textes,582 die Geschichte und die Erfahrungen des GATT 1947 in die WTO überführen und so für Kontinuität und einen sanften Übergang zwischen diesen beiden Handelsregimen sorgen. Im Anschluß daran wendete sich der Appellate Body der Frage der Panel-Berichte zu: „(. . .) Adopted panel reports are an important part of the GATT acquis. They are often considered by subsequent panels. They create legitimate expectations among WTO Members, and, therefore, should be taken into account where they are relevant to any dispute. (. . .)“

Dabei führte er aus, daß die alten Panel-Berichte einen wichtigen Teil der Geschichte und der Erfahrung des GATT 1947 oder kurz des GATTacquis darstellen. Sie fließen in die Erwägungen nachfolgender Panels mit 582

Vgl. dazu 2. Teil 1. Kap. A.

388

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

ein und wecken bei den Mitgliedern der WTO berechtigte Erwartungen bezüglich der Auslegung des textidentischen GATT 1994 und verwandter Vorschriften. Gerade aus diesem Grund hält der Appellate Body es für wichtig, sie, sofern sie relevant sind, auch in Streitfällen innerhalb der WTO zu berücksichtigen. Im Anschluß an diese Ausführungen nahm der Appellate Body, wenngleich auch nur indirekt, Stellung zur rechtlichen Einordnung der Panel-Berichte: „(. . .) However, they are not binding, except with respect to resolving the particular dispute between the parties to that dispute.30 In short, their character and their legal status have not been changed by the coming into force of the WTO Agreement. For these reasons, we do not agree with the Panel’s conclusion in paragraph 6.10 of the Panel Report that ‚panel reports adopted by the GATT CONTRACTING PARTIES and the WTO Dispute Settlement Body constitute subsequent practice in a specific case‘ as the phrase ‚subsequent practice‘ is used in Article 31 of the Vienna Convention. Further, we do not agree with the Panel’s conclusion in the same paragraph of the Panel Report that adopted panel reports in themselves constitute ‚other decisions of the CONTRACTING PARTIES to GATT 1947‘ for the purposes of paragraph 1(b)(iv) of the language of Annex 1A incorporating the GATT 1994 into the WTO Agreement. Note: 30 It is worth noting that the Statute of the International Court of Justice has an explicit provision, Article 59, to the same effect. This has not inhibited the development by that Court (and its predecessor) of a body of case law in which considerable reliance on the value of previous decisions is readily discernible.“

Zunächst rief der Appellate Body die Tatsache in Erinnerung, daß die Panel-Berichte des GATT 1947 nur für die Streitparteien, jedoch nicht für die übrigen Vertragsparteien verbindlich waren. Dabei wies das Gremium auf die ausdrückliche Regelung in Art. 59 des IGH-Statuts hin, die als Ausfluß einer generellen Absage des Völkerrechts an die Verbindlichkeit von Präzedenzfällen verstanden wird. Anschließend betonte der Appellate Body, daß sich die Rechtsnatur der Panel-Berichte auch durch den Übergang von GATT 1947 auf WTO und GATT 1994 nicht geändert hat und schloß eine Wirkung der Berichte als nachfolgende Praxis aus. Ebenso schloß er auch eine Wirkung nach § 1(b)(iv) des einführenden Textes aus, den er zuvor als eine der möglichen Einbruchstellen für den GATT-acquis dargestellt hatte. Nach dieser Vorschrift wären die Panel-Berichte nicht nur bei der Auslegung des GATT 1994 zu berücksichtigen gewesen, sondern sie wären Bestandteil des GATT 1994 gewesen, hätten also eine vergleichsweise stärkere Rolle gespielt. Die Tatsache, daß der Appellate Body im letzten Teil der hier dargestellten Passage seines Berichts gerade nicht mehr die zu Beginn ebenfalls angesprochene Vorschrift des Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens er-

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

389

wähnte, läßt den Schluß zu, daß er die Panel-Berichte des GATT 1947 dort eingeordnet wissen will. Nach dieser Vorschrift läßt sich die WTO „von den Beschlüssen, Verfahren und üblichen Praktiken der VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947 sowie der im Rahmen des GATT 1947 eingesetzten Organe leiten.“ Demnach leiten auch die Panel-Berichte des GATT 1947 den DSB mit seinen Hilfsorganen. Während Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens eine für alle Regelungsbereiche des WTO-Systems geltende Vorschrift ist, hat der Appellate Body im Verfahren United States – Anti-Dumping Act of 1916583 aufgezeigt, daß im Bereich des Verfahrensrechts des Streitbeilegungsverfahrens Art. 3.1 DSU ebenfalls einen Rückgriff auf GATT 1947 Panel-Berichte erlaubt. In diesem Fall mußte der Appellate Body die Frage beantworten, ob sich eine Beschwerde zulässigerweise auch „nur“ abstrakt gegen ein Gesetz richten kann, ohne einen konkreten auf diesem Gesetz fußenden Ausführungsakt anzugreifen. Zu dieser Frage führte das Gremium aus: „60. Prior to the entry into force of the WTO Agreement, it was firmly established that Article XXIII:1(a) of the GATT 1947 allowed a Contracting Party to challenge legislation as such, independently from the application of that legislation in specific instances. While the text of Article XXIII does not expressly address the matter, panels consistently considered that, under Article XXIII, they had the jurisdiction to deal with claims against legislation as such. In examining such claims, panels developed the concept that mandatory and discretionary legislation should be distinguished from each other, reasoning that only legislation that mandates a violation of GATT obligations can be found as such to be inconsistent with those obligations. We consider the application of this distinction to the present cases in section IV(B) below. 61. Thus, that a Contracting Party could challenge legislation as such before a panel was well-settled under the GATT 1947. We consider that the case law articulating and applying this practice forms part of the GATT acquis which, under Article XVI:1 of the WTO Agreement, provides guidance to the WTO and, therefore, to panels and the Appellate Body. Furthermore, in Article 3.1 of the DSU, Members affirm ‚their adherence to the principles for the management of disputes heretofore applied under Articles XXII and XXIII of GATT 1947‘. (. . .) Note: 34 See, for example, Panel Report, United States – Taxes on Petroleum and Certain Imported Substances (‚United States – Superfund‘), adopted 17 June 1987, BISD 34S/136; Panel Report, United States – Section 337 of the Tariff Act of 1930, adopted 7 November 1989, BISD 36S/345; Panel Report, Thailand – Restrictions on Importation of and Internal Taxes on Cigarettes (‚Thailand – Cigarettes‘), adopted 7 November 1990, BISD 37S/200; Panel Report, United States – Measures Affecting Alcoholic and Malt Beverages (‚United States – Malt Beverages‘), adopted 19 June 1992, BISD 39S/ 206; and Panel Report, United States – Tobacco, supra, footnote 16. See also Panel Report, United States – Wine and Grape Products, supra, footnote 18, examining this issue in the context of a claim brought under the Tokyo Round Agreement on Interpretation and Application of Articles VI, XVI and XXIII of the General Agreement of Tariffs and Trade.“

583

WT/DS136/AB/R (28.8.2000).

390

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Hier beschrieb der Appellate Body zunächst, daß die Panel-Praxis unter dem GATT 1947 dahin gegangen war, Beschwerden, die sich nicht gegen einen bestimmten Akt des Gesetzesvollzugs, sondern gegen ein Gesetz als solches richteten, zuzulassen. Im Anschluß daran verortete das Gremium die Praxis der GATT 1947-Panels zunächst wie im japanischen AlkoholFall bei Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens. Zusätzlich wies es dann aber auf Art. 3.1 DSU hin, der die Mitglieder und damit auch mittelbar die Streitbeilegungsorgane verpflichtet, „die Grundsätze über die Streitbeilegung, die bisher aufgrund der Art. XXII und XXIII des GATT 1947 angewendet“ und im DSU „weiterentwickelt und abgeändert wurden“, einzuhalten. Diese Verpflichtung bezieht der Appellate Body offensichtlich auch auf die Berichte der damaligen Panels und nicht nur auf die Beschlüsse der VERTRAGSPARTEIEN des GATT 1947, mit denen das Streitbeilegungsverfahren weiterentwickelt wurde.584 Wie ausführlich dargestellt hatte es die Konstruktion des Streitbeilegungsverfahrens des GATT 1947 insbesondere der unterliegenden Streitpartei ermöglicht, die Annahme eines Panel-Berichtes durch die VERTRAGS585 Aus dieser Möglichkeit resultierten PARTEIEN dauerhaft zu blockieren. einige Panel-Berichte, die bis zum Außer-Kraft-Treten des GATT 1947 nicht angenommen wurden. Welche Relevanz diese Berichte, die innerhalb des GATT 1947 formell ein rechtliches Nullum darstellten, für das System der WTO haben, mußte der Appellate Body ebenfalls im japanischen Alkohol-Fall beantworten. „However, we agree with the Panel’s conclusion in that same paragraph of the Panel Report that unadopted panel reports ‚have no legal status in the GATT or WTO system since they have not been endorsed through decisions by the CONTRACTING PARTIES to GATT or WTO Members‘.31 Likewise, we agree that ‚a panel could nevertheless find useful guidance in the reasoning of an unadopted panel report that it considered to be relevant‘.32 Notes: 31 Panel Report, para. 6.10. 32 Ibid.“

Der Appellate Body bestätigte hier das Panel darin, daß die nicht angenommenen Panel-Berichte auch innerhalb der Rechtsordnung der WTO ein rechtliches Nullum darstellen. Gleichwohl erkannte das Gremium an, daß die Erwägungen eines solchen Berichtes, soweit sie im Einzelfall relevant sind, eine nützliche Orientierungshilfe für ein Panel sein können. Wenngleich diese Berichte aufgrund ihrer fehlenden Rechtsqualität nicht von Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens erfaßt werden, stellt der Appellate 584 585

Vgl. zu diesen Beschlüssen bereits oben im Text 2. Teil 2. Kap. B. II. Vgl. dazu oben im Text 2. Teil 2. Kap. A. II. 1.

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

391

Body sie in der Sache doch mit den in Art. XVI.1 genannten Rechtsakten gleich. Dies zeigt sich daran, daß zur Beschreibung ihrer Wirkung (guidance) dasselbe Wort verwendet, das auch Art. XVI.1 verwendet, um auszudrücken, in welcher Weise die Rechtsakte des GATT 1947 auf die WTO Einfluß nehmen (guide). Der Appellate Body mußte jedoch nicht nur die rechtliche Stellung angenommener und nicht angenommener Berichte der GATT 1947-Panels erörtern. Darüber hinaus mußte er auch die vage Vorgabe des Wortes guide in Art. XVI.1 des WTO-Übereinkommens konkretisieren und klären, welcher Stellenwert den alten Panel-Berichten im Verhältnis zu den customary rules of interpretation of public international law (Art. 3.2 DSU) zukommt. Aus seinen Äußerungen im Zusammenhang mit der Verwendung von früheren Panel-Berichten läßt sich entnehmen, daß er den Präzedenzfällen des GATT 1947 dieselbe Bedeutung zumißt wie der historischen Auslegung. Im Zusammenhang mit der sich im Verfahren European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas586 stellenden Frage, ob die Bananemarktordnung der EG auch an den Vorschriften des GATS gemessen werden konnte nahm der Appellate Body, wie gesehen, auch Bezug auf einen GATT 1947 Panel-Bericht: „220. In addressing this issue, we note that Article I:1 of the GATS provides that ‚[t]his Agreement applies to measures by Members affecting trade in services‘. In our view, the use of the term ‚affecting‘ reflects the intent of the drafters to give a broad reach to the GATS. The ordinary meaning of the word ‚affecting‘ implies a measure that has ‚an effect on‘, which indicates a broad scope of application. This interpretation is further reinforced by the conclusions of previous panels that the term ‚affecting‘ in the context of Article III of the GATT is wider in scope than such terms as ‚regulating‘ or ‚governing‘127 (. . .) Note: 127 Panel Reports, WT/DS27/R/ECU, WT/DS27/R/MEX and WT/DS27/R/USA, para. 7.281. See, for example, the panel report in Italian Agricultural Machinery, adopted 23 October 1958, BISD 7S/60, para. 12.“

Hier beschrieb der Appellate Body mit dem Wort reinforce die Wirkung des Panel-Berichts im Traktorenfall587 auf die Auslegung des Begriffs affecting. Dabei war das Gremium der Ansicht, daß das mit Hilfe der Wortlautauslegung gefundene Ergebnis durch diesen Präzedenzfall bestätigt beziehungsweise gestützt wurde. Dies entspricht, wenn auch nicht in der präzisen Wortwahl so doch in der Sache, der Wirkung der historischen Auslegung, die anderweitig erzielte Auslegungsergebnisse ebenfalls bestätigt. 586 WT/DS27/AB/R; vgl. dazu bereits ausführlich oben im Text 1. Kap. C. I. (Wortlautauslegung) und 2. Kap. B. I. 1. (systematische Auslegung). 587 Vgl. den Nachweis und die Erläuterungen dazu oben 2. Kap. C. I.

392

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Im Fall India – Quantitative Restrictions on Imports of Agricultural, Textile and Industrial Products588 fand der Appellate Body Bestätigung für seine Ansicht,589 daß weder Art. XVIII.B GATT 1994 noch die Vereinbarung über die Zahlungsbilanzbestimmungen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens der Zuständigkeit des Panels entgegenstand, auch in dem Bericht eines GATT 1947-Panels: „96. Our view that panels are competent to review any matters that arise from the application of balance-of-payments restrictions is also confirmed by past GATT practice. The panel in Korea – Beef found: . . . the wording of Article XXIII was all-embracing; it provided for dispute settlement procedures applicable to all relevant articles of the General Agreement, including Article XVIII:B in this case. Recourse to Article XXIII procedures could be had by all contracting parties. However, the Panel noted that in GATT practice there were differences with respect to the procedures of Article XXIII and Article XVIII:B. The former provided for the detailed examination of individual measures by a panel of independent experts whereas the latter provided for a general review of the country’s balance-of-payments situation by a committee of government representatives. It was the view of the Panel that excluding the possibility of bringing a complaint under Article XXIII against measures for which there was claimed balance-of-payments cover would unnecessarily restrict the application of the General Agreement. This did not preclude, however, resort to special review procedures under Article XVIII:B. Indeed, either procedure, that of Article XVIII:12(d) or Article XXIII, could have been pursued by the parties in this dispute. But as far as this Panel was concerned, the parties had chosen to proceed under Article XXIII.38 Note: 38 Korea – Beef, complaint by the United States, supra, footnote 15, paras. 117–118.“

Bereits unter der Geltung des GATT 1947 war ein Panel zu der Auffassung gelangt, daß auch im Fall von auf Zahlungsbilanzbeschränkungen gestützten Einfuhrbeschränkungen keinesfalls der Weg zu dem allgemeinen Streitbeilegungsverfahren des Art. XXIII GATT 1947 versperrt war. Anders als in der soeben zitierten Passage aus dem Bericht im Fall European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas verwendete der Appellate Body hier auch das häufig im Zusammenhang mit der historischen Auslegung anzutreffende Wort confirm, um die Wirkung des Präzedenzfalles innerhalb des Auslegungsvorgangs zu beschreiben. 588

WT/DS90/AB/R; vgl. dazu soeben oben 7. Kap. C. II. Vor den Ausführungen zu dem früheren Panel-Bericht hatte der Appellate Body bereits umfangreiche Ausführungen unter Anwendung der übrigen Auslegungsmethoden gemacht. 589

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

393

Neben diesen indirekten Äußerungen zu Wirkung und Stellenwert der GATT 1947-Präzedenzfälle im Auslegungsprozeß finden sich in der Auslegungspraxis des Appellate Body jedoch auch ausdrückliche Stellungnahmen zur Einordnung dieser Erkenntnisquellen. Im Verfahren Argentina – Measures Affecting Imports of, Apparel and Other Items590 machte der Appellate Body deutlich, daß die Analyse alter Präzedenzfälle in keinem Fall ein Vorgehen nach Art. 31 WVRK ersetzen kann. Dort stellte sich die Frage, ob der Wechsel zwischen Wertzöllen und spezifischen Zöllen591 per se einen Verstoß gegen Art. II.1 GATT 1994 darstellt, wenn der betreffende Mitgliedstaat zuvor in seiner Zugeständnisliste die jeweils andere Zoll-Art gebunden hat. Das zuvor mit der Angelegenheit befaßte Panel hatte diese Frage ausschließlich unter Rückgriff auf Präjudizien beantwortet. Diese Vorgehensweise kommentierte der Appellate Body wie folgt: „42. In paragraphs 6.31 and 6.32 of the Panel Report, the Panel holds that any variance between the type of duty provided for in a Member’s Schedule and the type of duty actually applied by that Member ‚constitutes a less favourable treatment to the commerce of the other Members‘22 than that provided for in the Member’s Schedule, and therefore is inconsistent with Article II of the GATT 1994. Furthermore, the Panel asserts that the complaining party ‚does not have to provide further evidence that the resultant duties exceed the bound tariff rate.‘23 We note that the Panel did not base its finding on a textual analysis of either paragraph (a) or (b) of Article II:1 of the GATT 1994. It observes that ‚[t]he wording of Article II does not seem to address explicitly whether WTO Members have an obligation to use a particular type of duty‘24, and then asserts that ‚the wording of Article II must be interpreted in the light of past GATT practice . . .‘.25 The Panel relies heavily on what it characterizes as ‚past GATT practice‘, without undertaking any analysis of the ordinary meaning of the terms of Article II in their context and in the light of the object and purpose of the GATT 1994, in accordance with the general rules of treaty interpretation set out in Article 31 of the Vienna Convention. After citing three working party reports26, the adopted report of the Panel on Newsprint27 and the unadopted panel report in EEC – Import Regime for Bananas28 (‚Bananas II‘), the Panel declared that ‚. . . the past GATT practice is clear: a situation whereby a contracting party applies one type of duties while its Schedule refers to bindings of another type of duties constitutes a violation of Article II of GATT . . .‘.29 Notes: 22 Panel Report, para. 6.32. 23 Ibid. 24 Panel Report, para. 6.24. 25 Ibid.

590

WT/DS56/AB/R (27.3.1998). Zur Unterscheidung dieser Berechnungsmethoden für Zölle vgl. Stoll/Schorkopf, Rdnr. 206. 591

394

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

26 Working Party Report, Rectifications and Modifications of Schedules, adopted 24 October 1953, BISD 2S/63, para. 8; Working Party Report, Transposition of the Schedule XXXVII – Turkey, adopted 20 December 1954, BISD 3S/127; and Working Party Report, Fourth Protocol on Rectifications and Modifications, adopted 3 March 1955, BISD 3S/130. 27 Adopted 20 November 1984, BISD 31S/114. 28 DS38/R, 11 February 1994, unadopted. 29 Panel Report, para. 6.31.“

Zunächst beschrieb der Appellate Body hier die Vorgehensweise des Panels, das sich, nachdem es festgestellt hatte, daß der Wortlaut von Art. II.1 GATT 1994 die zu klärende Frage nicht ausdrücklich beantwortete, ausschließlich der Analyse von Präjudizien aus der Zeit des GATT 1947 gewidmet hatte. Ausdrücklich betonte der Appellate Body, daß das Panel nicht den Vorgaben von Art. 31 WVRK gefolgt war. Im darauffolgenden Abschnitt seines Berichts stellte das Gremium klar, daß die vom Panel herangezogenen Präjudizien allesamt nicht hätten herangezogen werden dürfen. Bemerkenswert sind dabei vor allem die Ausführungen zur Verwendung des nicht angenommenen Panel-Berichts: „43. (. . .) Finally, the Panel relied extensively on the unadopted panel report in Bananas II. In our Report in Japan – Taxes on Alcoholic Beverages33, we agreed with that panel that ‚unadopted panel reports have no legal status in the GATT or WTO system . . .‘, although we believe that ‚a panel could nevertheless find useful guidance in the reasoning of an unadopted panel report that it considered to be relevant‘. In the case before us, the Panel’s use of the Bananas II panel report appears to have gone beyond deriving ‚useful guidance‘ from the reasoning employed in that unadopted panel report. The Panel, in fact, relies upon the Bananas II panel report. Note: 33 Adopted 1 November 1996, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R, pp. 14–15.“

Nunmehr schloß der Appellate Body eine ausführliche Analyse des Regelungszusammenhangs von Art. II.1 GATT 1994 sowie von Ziel und Zweck der Vorschrift an, in deren Verlauf er herausarbeitete, daß ein Verstoß gegen Art. II.1 GATT 1994 nur dann vorliegt, wenn es aufgrund des Wechsels der Berechnungsmethode zu einer tatsächlich höheren Belastung der Waren kommt. Im Verlauf seiner Ausführungen betonte der Appellate Body, daß er seine Vorgehensweise streng an Art. 31 WVRK ausrichtete. „47. In accordance with the general rules of treaty interpretation set out in Article 31 of the Vienna Convention, Article II:1(b), first sentence, must be read in its context and in light of the object and purpose of the GATT 1994. (. . .)“

Diese Ausführungen machen deutlich, daß der Appellate Body einer Verwendung von Präzedenzfällen anstelle der herkömmlichen Auslegungsmethoden des Art. 31 WVRK entschieden entgegen tritt. Zwar kritisierte er das Panel auch, weil die herangezogenen Präzedenzfälle inhaltlich nicht einschlägig waren. Der zweimalige ausdrückliche Hinweis auf Art. 31

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

395

WVRK zeigt aber, daß das Gremium die vom Panel eingeschlagene Vorgehensweise insbesondere auch wegen der Nichtbeachtung der customary rules of interpretation of public international law verwarf. Somit wird klar, daß eine Berufung auf Präzedenzfälle keinesfalls ein methodisches Vorgehen nach Art. 31 WVRK ersetzen kann. Damit wird aber ebenfalls deutlich, daß die Bedeutung der Präzedenzfälle allenfalls auf Ebene der ergänzenden Auslegungsmittel des Art. 32 WVRK anzusiedeln ist. Diese Schlußfolgerung wird durch die Äußerungen des Appellate Body im Fall United States – Definitve Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea592 bestätigt. Dort erklärte das Gremium im Anschluß an Wortlaut-, systematische und teleologische Auslegung von Art. 2.1 des Anti-Dumping-Übereinkommens: „174. Following the Vienna Convention approach, we have also looked to the GATT acquis and to the relevant negotiating history of the pertinent treaty provisions. We have concluded that our view is reinforced by the jurisprudence under the GATT 1947. (. . .)“

Hier stellte der Appellate Body die Berücksichtigung des GATT-acquis und die historische Auslegung auf dieselbe Stufe. Auf beide Erkenntnisquellen griff er erst im Anschluß an den Vienna Convention approach, also das Vorgehen nach Art. 31 WVRK, zurück. Damit wird auch anhand dieses Falls deutlich, daß der Appellate Body die aus dem GATT 1947 Präzedenzfälle als ergänzende Auslegungsmittel im Sinne von Art. 32 WVRK einordnet. II. WTO-Präjudizien Neben den aus der Zeit des GATT 1947 stammenden Präjudizien verwendet der Appellate Body im Rahmen der Vertragsauslegung auch Präzedenzfälle aus der eigenen Spruchpraxis. So stützte er im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft593 seine Auslegung des Wortes should in Art. 13.1 DSU594 mit dem Hinweis darauf, daß er dieses Wort im Hormon-Fall ebenfalls nicht nur als unverbindliche Aufforderung, sondern als eine Rechtspflicht enthaltend ausgelegt hatte: 592

WT/DS202/AB/R. WT/DS70/AB/R; vgl. dazu oben im Text 4. Kap. A. I. 2. 594 Each panel shall have the right to seek information and technical advice from any individual or body which it deems appropriate. However, before a panel seeks such information or advice from any individual or body within the jurisdiction of a Member it shall inform the authorities of that Member. A Member should respond promptly and fully to any request by a panel for such information as the panel considers necessary and appropriate. Confidential information which is provided shall not be revealed without formal authorization from the individual, body, or authorities of the Member providing the information (Hervorhebung vom Verfasser). 593

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

„187. We note that Article 13.1 of the DSU provides that ‚A Member should respond promptly and fully to any request by a panel for such information as the panel considers necessary and appropriate.‘ (emphasis added) Although the word ‚should‘ is often used colloquially to imply an exhortation, or to state a preference, it is not always used in those ways. It can also be used ‚to express a duty [or] obligation‘.120 The word ‚should‘ has, for instance, previously been interpreted by us as expressing a ‚duty‘ of panels in the context of Article 11 of the DSU.121 Similarly, we are of the view that the word ‚should‘ in the third sentence of Article 13.1 is, in the context of the whole of Article 13, used in a normative, rather than a merely exhortative, sense. Members are, in other words, under a duty and an obligation to ‚respond promptly and fully‘ to requests made by panels for information under Article 13.1 of the DSU. Notes: 120 The Concise Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1995), p. 1283. See also The Shorter Oxford English Dictionary, (Clarendon Press, 1993), Vol. II, p. 2808, and Black’s Law Dictionary, (West Publishing Co., 1990), p. 1379, which states that ‚should‘ ‚ordinarily impl[ies] duty or obligation; although usually no more than an obligation of propriety or expediency, or moral obligation, thereby distinguishing it from ought.‘ 121 European Communities – Hormones, supra, footnote 64, para. 133.“

Auch in dem bereits im vorangehenden Abschnitt dargestellten Fall United States – Anti-Dumping Act of 1916595 nahm der Appellate Body Bezug auf eine Reihe von eigenen Berichten sowie auch auf einige Berichte von WTO-Panels. Wie aus der unter dem GATT 1947 geübten Praxis ergab sich auch aus diesen Berichten, daß ein Beschwerdeführer gegen ein Gesetz vorgehen kann, ohne sich gegen einen konkreten Ausführungsakt zu wenden: „61. (. . .) We note that, since the entry into force of the WTO Agreement, a number of panels have dealt with dispute settlement claims brought against a Member on the basis of its legislation as such, independently from the application of that legislation in specific instances.35 Note: 35 See, for example, Panel Report, Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8/R, WT/DS10/R, WT/DS11/R, adopted 1 November 1996, as modified by the Appellate Body Report, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R; Panel Report, Canada – Certain Measures Concerning Periodicals, WT/DS31/R, adopted 30 July 1997, as modified by the Appellate Body Report, WT/DS31/AB/R; Panel Report, European Communities – Hormones, WT/DS26/R, WT/DS48/R, adopted 13 February 1998, as modified by the Appellate Body Report, supra, footnote 24; Panel Report, Korea – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS75/R, WT/DS84/R, adopted 17 February 1999, as modified by the Appellate Body Report, WT/DS75/AB/R, WT/DS84/AB/R; Panel Report, Chile – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS87/R, WT/DS110/R, adopted 12 January 2000, as modified by the Appellate Body Report, WT/DS87/AB/R, WT/DS110/AB/R; Panel Report, United States – FSC, WT/DS108/R, adopted 20 March 2000, as modified by the Appellate Body Report, supra, footnote 22; and Panel Report, United States – Section 110(5) of the US Copyright Act, WT/DS160/R, adopted 27 July 2000.“

Anders als im Fall der dem GATT 1947 entstammenden Präjudizien hat der Appellate Body im Fall der WTO-Präjudizien keine Ausführungen dazu gemacht, weshalb er diese in den Auslegungsprozeß einbezieht. 595

WT/DS136/AB/R; vgl. dazu soeben oben I.

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

397

Zunächst ist daran zu erinnern, daß dem Streitbeilegungssystem der WTO eine mit dem anglo-amerikanischen Recht vergleichbare doctrine of precedent fremd ist.596 Dementsprechend ist der Appellate Body an seine vorangehenden Entscheidungen nicht gebunden. Ebensowenig schaffen die vom DSB angenommenen Berichte von Panels und Appellate Body für andere als für die Streitparteien Recht, so daß auch auf diese Weise keine Bindung an die Ergebnisse abgeschlossener Streitverfahren eintritt. Einzig Art. 3.2 Satz 1 DSU bietet daher eine normative Grundlage für die Verwendung von WTO-Präjudizien im Rahmen des Auslegungsvorganges.597 Diese Vorschrift bestimmt die Schaffung von Sicherheit und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem zum zentralen Element des Streitbeilegungssystems der WTO. Durch diese Bestimmung werden der Appellate Body sowie die ad hoc eingesetzten Panels auf die Einhaltung einer gewissen Kontinuität in ihrer Spruchpraxis verpflichtet, denn nur diese Kontinuität gewährleistet die in der Vorschrift geforderte Vorhersehbarkeit. Im japanischen Alkohol-Fall hatte der Appellate Body festgestellt, daß die GATT 1947 Panel-Berichte bei den Mitgliedern der WTO legitimate expectations in den Ausgang eines Streitbeilegungsverfahrens schaffen.598 Diese Ausführungen gelten letztlich auch für die Berichte des Appellate Body. Auch diese lassen bei den Mitgliedern die Erwartung entstehen, daß das Gremium in vergleichbaren Fällen eine vergleichbare Entscheidung treffen wird. Wie Art. 3.2 DSU zeigt, ist diese Erwartung durchaus berechtigt. Sie ist die Kehrseite der von den Streitbeilegungsorganen zu gewährleistenden Kontinuität. Die Vorgehensweise des Appellate Body entspricht aber auch der Vorgehensweise anderer internationaler Gerichte, insbesondere der des Internationalen Gerichtshofs (IGH), der wie der Appellate Body nicht an eigene Präzedenzfälle gebunden ist.599 Daß sich der Gerichtshof gleichwohl regelmäßig an seinen eigenen Entscheidungen orientiert, entspringt insbesondere auch der Erkenntnis, daß Einheitlichkeit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsanwendung per se werthaltig sind und wesentliche Elemente einer ordnungsgemäßen Rechtsprechungsfunktion darstellen. Darüber hinaus beugt eine konsistente Entscheidungspraxis stets auch dem Vorwurf der Willkür vor. Für ein 596

Vgl. dazu bereits oben 2. Teil 2. Kap. C. So auch Stoll/Schorkopf, Rdnr. 486 unter Hinweis den Panel-Bericht im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products (WT/DS79/R; 24.8.1998). 598 Vgl. die Ausführungen des Appellate Body im japanischen Alkohol-Fall zur Wirkung der GATT 1947 Panel-Berichte soeben im Text I. 599 Vgl. dazu und zum folgenden grundlegend Lauterpacht, Development of International Law, S. 13 ff.; Rosenne, Bd. 2, S. 610 ff.; sowie aus rechtstheoretischer Sicht Rüthers, Rdnr. 242. 597

398

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

internationales Gericht wiegen diese Erwägungen um so schwerer, als seine Befassung mit einem Rechtsstreit stets vom Willen der Staaten abhängt.600 Dies gilt trotz des obligatorischen Charakters des Streitbeilegungssystems der WTO im Ergebnis auch für den Appellate Body. Anders als im Bereich der dem GATT 1947 entstammenden Präzedenzfälle läßt sich der Spruchpraxis des Appellate Body nicht deutlich entnehmen, welchen Stellenwert das Gremium den WTO-Präjudizien im Rahmen des Auslegungsvorgangs beimißt. Das Vorgehen in den beiden eingangs dieses Abschnitts dargstellten Textpassagen entspricht im wesentlichen der Vorgehensweise im Zusammenhang mit den früheren Panel-Berichten, wenngleich der subsidiäre Charakter der Erkenntnisquelle „Präzedenzfall“ weniger deutlich zum Ausdruck kommt. Demgegenüber finden sich in der Spruchpraxis des Appellate Body zunehmend auch Fälle, in denen die Bemühungen um eine methodengerechte Auslegung zurücktreten zugunsten der Darstellung früherer Entscheidungen. Dies zeigte sich etwa im Fall Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef,601 wo der Appellate Body die Bedeutung des Tatbestandsmerkmals no less favourable in Art. III.4 GATT 1994 ausschließlich unter Rückgriff auf zwei Präzedenzfälle klärte: „135. The Panel stated that ‚any regulatory distinction that is based exclusively on criteria relating to the nationality or origin‘ of products is incompatible with Article III:4. We observe, however, that Article III:4 requires only that a measure accord treatment to imported products that is ‚no less favourable‘ than that accorded to like domestic products. A measure that provides treatment to imported products that is different from that accorded to like domestic products is not necessarily inconsistent with Article III:4, as long as the treatment provided by the measure is ‚no less favourable‘. According ‚treatment no less favourable‘ means, as we have previously said, according conditions of competition no less favourable to the imported product than to the like domestic product. In Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, we described the legal standard in Article III as follows: The broad and fundamental purpose of Article III is to avoid protectionism in the application of internal tax and regulatory measures. More specifically, the purpose of Article III ‚is to ensure that internal measures not be applied to imported or domestic products so as to afford protection to domestic production‘. Toward this end, Article III obliges Members of the WTO to provide equality of competitive conditions for imported products in relation to domestic products. ‚[T]he intention of the drafters of the Agreement was clearly to treat the imported products in the same way as the like domestic products once they had been cleared through customs. Otherwise indirect protection could be given‘.69 (emphasis added) 600

So ausdrücklich Lauterpacht, Development of International Law, S. 15. WT/DS161/AB/R; WT/DS169/AB/R; dazu bereits oben im Text 1. Kap. A. II. (Wortlautauslegung) und 2. Kap. A. I. (systematische Auslegung). 601

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136. This interpretation, which focuses on the conditions of competition between imported and domestic like products, implies that a measure according formally different treatment to imported products does not per se, that is, necessarily, violate Article III:4. In United States – Section 337, this point was persuasively made. In that case, the panel had to determine whether United States patent enforcement procedures, which were formally different for imported and for domestic products, violated Article III:4. That panel said: On the one hand, contracting parties may apply to imported products different formal legal requirements if doing so would accord imported products more favourable treatment. On the other hand, it also has to be recognised that there may be cases where the application of formally identical legal provisions would in practice accord less favourable treatment to imported products and a contracting party might thus have to apply different legal provisions to imported products to ensure that the treatment accorded them is in fact no less favourable. For these reasons, the mere fact that imported products are subject under Section 337 to legal provisions that are different from those applying to products of national origin is in itself not conclusive in establishing inconsistency with Article III:4.70 (emphasis added) 137. A formal difference in treatment between imported and like domestic products is thus neither necessary, nor sufficient, to show a violation of Article III:4. Whether or not imported products are treated ‚less favourably‘ than like domestic products should be assessed instead by examining whether a measure modifies the conditions of competition in the relevant market to the detriment of imported products. Notes: 69 Appellate Body Report, WT/DS8/AB/R, WT/DS10/AB/R, WT/DS11/AB/R, adopted 1 November 1996, pp. 16–17. The original passage contains footnotes. The second sentence is footnoted to United States – Section 337 of the Tariff Act of 1930 (‚United States – Section 337‘), BISD 36S/345, para. 5.10. The third sentence is footnoted to United States – Taxes on Petroleum and Certain Imported Substances, BISD 34S/136, para. 5.1.9; and Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages, BISD 34S/83, para. 5.5(b). The fifth sentence is footnoted to Italian Discrimination Against Imported Agricultural Machinery, BISD 7S/60, para. 11. 70 United States – Section 337, supra, footnote 69, paragraph 5.11.“

Während diese Vorgehensweise aus streng methodischer Sicht nicht vollends überzeugt, weil sie theoretisch die Gefahr in sich birgt, daß der Appellate Body Aspekte einer möglicherweise vorzunehmenden dynamischen Auslegung übersieht, erscheint sie jedoch aus Gründen der Verfahrensökonomie durchaus gerechtfertigt.602 Dies gilt jedoch nur, sofern die in Bezug genommenen Präjudizien ihrerseits methodisch einwandfrei zustande gekommen sind.

602

Dies deutet auch Lauterpacht, Development of International Law, S. 14 an.

400

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

B. Einseitige Äußerungen einer Vertragspartei Im Gegensatz zu Präjudizien spielen sonstige außerhalb von Art. 31 WVRK stehende Auslegungsmittel in der Spruchpraxis des Appellate Body nur eine sehr untergeordnete Rolle. Im Fall Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef603 interpretierte der Appellate Body die koreanische Zugeständnisliste unter Berücksichtigung von Äußerungen eines koreanischen Vertreters vor dem WTO-Ausschuß für Landwirtschaft. Nachdem sich der Appellate Body zunächst intensiv mit Wortlaut und Regelungszusammenhang des fraglichen Zugeständnisses auseinandergesetzt hatte,604 führte er mit Blick auf die Äußerungen Koreas aus: „103. The above view is reflected in Korea’s subsequent statements before the Committee on Agriculture. At a November 1996 Committee on Agriculture meeting, New Zealand asked Korea this question: ‚Noted that Korea’s Schedule contains two sets of figures regarding annual and final bound commitment levels. Which set is accurate?‘ Korea responded as follows: The figures in brackets correspond to Korea’s real annual commitment level, using the 1993 base period for rice and the 1989–1991 base period for other products, as indicated in the footnote of Korea’s Schedule LX. The said calculation and annual commitment level of AMS were already reviewed and agreed upon by Member countries in March 1994. The other set of figures corresponds to the annual commitment using the base period of 1989–1991 for all the products.38 (emphasis added) Note: 38 G/AG/R/9, 17 January 1997.“

Im Anschluß daran bezog sich der Appellate Body schließlich auch auf die jährliche offizielle Notifikation Koreas gegenüber dem Ausschuß für Landwirtschaft: „104. Furthermore, in its official annual Notifications to the Committee on Agriculture concerning domestic support commitments for 1995 to 1998, Korea made reference to its commitment level for the period in question. In each Notification, the figure Korea provided was the relevant commitment level from Korea’s Schedule set out in the figures in brackets. Next to the AMS figure in each Notification is a note which says ‚See Note 1 of Supporting Table 6 in G/AG/AGST/KOR‘. 39 Note: 39 See G/AG/N/KOR/24, 25 August 1999; G/AG/N/KOR/18, 16 September 1998; G/AG/N/KOR/14, 15 September 1997; G/AG/N/KOR/7, 18 November 1996.“ 603

WT/DS161/AB/R; WT/DS169/AB/R; dazu soeben A. In der Sache ging es – verkürzt ausgedrückt – bei der Auslegung der Zugeständnisliste um die Frage, welche von zwei Zahlenkolonnen das tatsächlich von Korea übernommene Zugeständnis enthielt. 604

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

401

In beiden Fällen bestätigten die einseitigen Äußerungen Koreas gegenüber dem WTO-Organ das zuvor gefundene Auslegungsergebnis. Eine Rechtfertigung für die Verwendung dieser Erkenntnisquelle im Auslegungsvorgang und eine Bestimmung ihres Stellenwertes ergibt sich aus dem Vergleich mit den herkömmlichen Auslegungsmitteln der Art. 31 und 32 WVRK. Ebenso wie die in Art. 31 Abs. 2 und Abs. 3 WVRK genannten Auslegungsmittel und die Entstehungsgeschichte stehen die einseitigen Äußerungen einer Vertragspartei außerhalb des eigentlichen Vertragstextes. Wie diese Vorschriften zeigen, schließt dieser Umstand die Verwendung im Rahmen der Vertragsauslegung keinesfalls aus, solange die einseitigen Äußerungen einer Vertragspartei ebenso wie die in diesen Vorschriften genannten Auslegungsmittel auch vertragsbezüglich sind. Die Vertragsbezüglichkeit der Äußerungen Koreas ergab sich im Fall daraus, daß diese Äußerungen gegenüber dem Ausschuß für Landwirtschaft abgegeben worden waren und sich auf den Inhalt der auszulegenden Zugeständnisliste bezogen. Anders als die in Art. 31 WVRK genannten Auslegungsmittel wohnt der einseitigen Äußerung einer Vertragspartei jedoch nicht der Konsens aller oder wenigstens eines Teils der Vertragsparteien inne. Nur der Gedanke von Treu und Glauben in den Vertragsbeziehungen (Art. 26 WVRK) führt dazu, daß die übrigen Vertragsparteien, hier also die Mitglieder der WTO, die die Äußerung zur Kenntnis genommen und keine Einwendung dagegen erhoben haben, diese später gegen sich gelten lassen müssen. Damit ist die Bindungswirkung der einseitigen Äußerung einer Vertragspartei jedoch geringer als bei einem auf dem Konsens der Vertragsparteien beruhenden Auslegungsmittel. Dies spricht für eine Einordnung dieser Erkenntnisquelle als subsidiäres Auslegungsinstrument.

C. Der Grundsatz in dubio mitius Im Hormon-Fall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones)605 zog der Appellate Body die Vermutung in dubio mitius in seine Überlegungen zur Auslegung des Begriffes based on in Art. 3.1 des SPS-Übereinkommens ein. Nachdem er bereits aufgrund von Wortlautauslegung und systematischer Auslegung zu dem Ergebnis gelangt war, daß based on nicht dieselbe Bedeutung haben könne wie der Begriff to conform to des Absatzes 2606, sah er diese Auffassung auch auf605

WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R. Wie bereits dagestellt (oben im Text 2. Kap. B. I. 1.) hatte das Panel to base on mit dem in Absatz 2 der Vorschrift enthaltenen to conform to gleichgesetzt und so einen stärkeren Verpflichtungsgrad der Mitgliedstaaten erzielt. 606

402

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

grund der Vermutung in dubio mitius bestätigt, auf die er im Zusammenhang mit der teleologischen Auslegung607 hinwies: „165. (. . .) It is clear to us that harmonization of SPS measures of Members on the basis of international standards is projected in the Agreement, as a goal, yet to be realized in the future. To read Article 3.1 as requiring Members to harmonize their SPS measures by conforming those measures with international standards, guidelines and recommendations, in the here and now, is, in effect, to vest such international standards, guidelines and recommendations (which are by the terms of the Codex recommendatory in form and nature) with obligatory force and effect. The Panel’s interpretation of Article 3.1 would, in other words, transform those standards, guidelines and recommendations into binding norms. But, as already noted, the SPS Agreement itself sets out no indication of any intent on the part of the Members to do so. We cannot lightly assume that sovereign states intended to impose upon themselves the more onerous, rather than the less burdensome, obligation by mandating conformity or compliance with such standards, guidelines and recommendations.120 To sustain such an assumption and to warrant such a far-reaching interpretation, treaty language far more specific and compelling than that found in Article 3 of the SPS Agreement would be necessary. Note: 120 The interpretative principle of in dubio mitius, widely recognized in international law as a ‚supplementary means of interpretation‘, has been expressed in the following terms: ‘The principle of in dubio mitius applies in interpreting treaties, in deference to the sovereignty of states. If the meaning of a term is ambiguous, that meaning is to be preferred which is less onerous to the party assuming an obligation, or which interferes less with the territorial and personal supremacy of a party, or involves less general restrictions upon the parties.‘ R. Jennings and A. Watts (eds.), Oppenheim’s International Law, 9th ed., Vol. I (Longman, 1992), p. 1278. The relevant case law includes: Nuclear Tests Case (Australia v. France), (1974), I.C.J. Reports, p. 267 (International Court of Justice); Access of Polish War Vessels to the Port of Danzig (1931) PCIJ Rep., Series A/B, No.43, p. 142 (Permanent Court of International Justice); USA-France Air Transport Services Arbitration (1963), 38 International Law Reports 243 (Arbitral Tribunal); De Pascale Claim (1961), 40 International Law Reports 250 (Italian – United States Conciliation Commission). See also: I. Brownlie, Principles of Public International Law, 4th ed. (Clarendon Press, 1990), p. 631; C. Rousseau, Droit International Public, Vol. I (1990), p. 273; D. Carreau, Droit International, 4th ed. (Editions A. Pedone, 1994), p. 142; M. Díez de Velasco, Instituciones de Derecho Internacional Pfflblico, 9th ed., Vol. I (Editorial Tecnos, 1991), pp. 163–164; and B. Conforti, Diritto Internazionale, 3rd ed. (Editoriale Scientifica, 1987), pp. 99–100.“

Hier lehnte der Appellate Body die vom Panel favorisierte Auslegung des Begriffs based on auch mit der Begründung ab, daß nicht angenommen werden könne, daß souveräne Staaten beabsichtigten, sich eher einer belastenden Verpflichtung zu unterwerfen als eine weniger strengen. Ausdrücklich bezeichnete das Gremium die Auslegungsvermutung in dubio mitius in Fußnote 120 seines Berichts als ergänzendes Auslegungsmittel. Damit stellte der Appellate Body dieses Auslegungsmittel denen des Art. 32 WVRK gleich.

607 Dazu oben im Text 2. Kap. B. I. 1. (systematische Auslegung) und 3. Kap. A. I. (teleologische Auslegung).

8. Kap.: Die Sonstigen Erkenntnisquellen

403

D. Die restriktive Auslegung von Ausnahmevorschriften Während der Appellate Body die aus methodentheoretischer Sicht nicht unproblematische Vermutung in dubio mitius als zulässiges Auslegungsmittel ansieht, hat er die Vermutung für eine enge Auslegung von Ausnahmevorschriften verworfen. Im Zusammenhang mit seinen Ausführungen zur Auslegung von Art. 3.3 SPS erklärte er im Hormon-Fall, daß die bloße Einordnung einer Vorschrift als Ausnahmevorschrift es nicht rechtfertigt, diese strenger oder enger auszulegen. Entscheidend ist nach Ansicht des Gremiums auch in diesen Fällen nur eine Auslegung, die sich an Wortlaut, Regelungszusammenhang und Sinn und Zweck der Vorschrift orientiert: „104. The Panel relies on two interpretative points in reaching its above finding. First, the Panel posits the existence of a ‚general rule – exception‘ relationship between Article 3.1 (the general obligation) and Article 3.3 (an exception)40 and applies to the SPS Agreement what it calls ‚established practice under GATT 1947 and GATT 1994‘ to the effect that the burden of justifying a measure under Article XX of the GATT 1994 rests on the defending party.41 (. . .) In much the same way, merely characterizing a treaty provision as an ‚exception‘ does not by itself justify a ‚stricter‘ or ‚narrower‘ interpretation of that provision than would be warranted by examination of the ordinary meaning of the actual treaty words, viewed in context and in the light of the treaty’s object and purpose, or, in other words, by applying the normal rules of treaty interpretation. (. . .) Notes: 40 US Panel Report, para. 8.86; Canada Panel Report, para. 8.89. 41 US Panel Report, footnote 288; Canada Panel Report, footnote 393.“

E. Zusammenfassung Mit Ausnahme der Verwendung von Präzedenzfällen wendet der Appellate Body andere als die in Art. 31 und 32 WVRK ausdrücklich genannten Auslegungsmethoden nur sehr zurückhaltend an. Eine ausdrückliche Absage hat er der Vermutung erteilt, daß Ausnahmetatbestände eng auszulegen sind. Diese Vermutung kann nach Ansicht des Gremiums eine Auslegung, die sich an den Vorgaben von Art. 31 WVRK orientiert, nicht ersetzen. Die in Art. 31 und 32 WVRK ungenannten Auslegungsmittel stellt der Appellate Body auf eine Stufe mit den ergänzenden Auslegungsmitteln des Art. 32 WVRK. Eine Ausnahme davon bilden die zunehmend an Bedeutung gewinnenden vom Appellate Body selbst geschaffenen Präzedenzfälle. Anders als die aus der Zeit des GATT 1947 stammenden Präjudizien vermögen sie teilweise, einen „gewöhnlichen“ Auslegungsvorgang zu ersetzen. Damit treten sie an die Stelle der primären Methoden des Art. 31 Abs. 1 WVRK.

404

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

9. Kapitel

Der Ablauf des Auslegungsvorganges A. Entwicklung einer Normhypothese Wie die Untersuchung der Auslegungspraxis ergeben hat, beginnt der Appellate Body den Interpretationsvorgang in der ganz überwiegenden Zahl aller Fälle mit der Wortlautanalyse. Mit Hilfe von Wörterbüchern oder aufgrund eigener Sprachkompetenz stellt er eine erste Hypothese bezüglich der Bedeutung des auszulegenden Begriffs oder der auszulegenden Vorschrift auf. Mehrheitlich entspricht diese Bedeutungshypothese der alltagssprachlichen Bedeutung der auszulegenden Wörter und Begriffe. Vereinzelt nehmen daneben fachsprachliche, vor allem juristische Wortbedeutungen Einfluß auf das Zustandekommen der Normhypothese. Allerdings führt die Wortlautauslegung nicht in allen Fällen zu einer hinreichend konkreten Bedeutungshypothese. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Vertragsparteien unbestimmte Begriffe mit einer Vielzahl möglicher Bedeutungen gewählt haben und sich die zu beantwortende Auslegungsfrage auf eine sehr spezielle Fallkonstellation bezieht. So mußte der Appellate Body im unmittelbaren Anschluß an die Wortlautauslegung des Begriffs benefit im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft608 bekennen: „153. (. . .) Clearly, however, dictionary meanings leave many interpretive questions open.“

Hier gaben die Bedeutungen, die das Wörterbuch für den Begriff benefit bereit hielt,609 keine Auskunft hinsichtlich der Frage, ob – wie von Kanada behauptet – ein „Vorteil“ im Sinne von Art. 1.1(b) des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen nur dann vorliegt, wenn der Regierung, die diesen Vorteil vermeintlich gewährt, Kosten entstehen.610 Dieselbe Feststellung traf der Appellate Body auch im Fall United States – Tax Treatment for „Foreign Sales Corporations“.611 Dort war fraglich, ob auch Steuererleichterungen für Unternehmen, deren Tätigkeitsschwerpunkt der Export landwirtschaftlicher Güter ist, der Verpflichtung zur Senkung von Subventionen in Art. 9.1(d) des Übereinkommens über die Landwirtschaft unterliegen. Panel und Appellate Body untersuchten, ob die in 608

WT/DS70/AB/; vgl. oben 1. Kap. A. I. Dort waren folgende Bedeutungen aufgeführt: „advantage“, „good“, „gift“, „profit“ und „a favourable or helpful factor or circumstance“. 610 Vgl. die Argumentation Kanadas WT/DS70/AB/R, para. 7 ff. 611 WT/DS108/AB/R (24.2.2000). 609

9. Kap.: Der Ablauf des Auslegungsvorganges

405

Rede stehenden Steuererleichterungen die costs of marketing exports612 verringerten und daher als Subventionen einzustufen waren. Dazu führte der Appellate Body aus:613 „129. We turn, first, to the word ‚marketing‘ in Article 9.1(d), which is at the heart of the phrase ‚to reduce the costs of marketing exports‘ in Article 9.1(d). Taken alone, that word can have, as the Panel indicated, a range of meanings. The Panel noted the Webster’s Dictionary meaning, according to which ‚marketing‘ is the ‚aggregate of functions involved in transferring title and in moving goods from producer to consumer including among others buying, selling, storing, transporting, standardizing, financing, risk bearing and supplying market information‘.147 The New Shorter Oxford Dictionary provides a similar meaning: ‚The action, business, or process of promoting and selling a product. . .‘.148 However, we must look beyond dictionary meanings, because, as we have said before, ‚dictionary meanings leave many interpretive questions open.‘149 Notes: 147 Panel Report, para. 7.154, citing Webster’s Third International Dictionary, Vol. II. 148 The New Shorter Oxford English Dictionary, Lesley Brown (ed.) (Clarendon Press, 1993), Vol. I, p. 1700. 149 Canada – Aircraft, supra, footnote 58, para. 153.“

Auch hier ließ sich aus den in den Wörterbüchern angegebenen Bedeutungen keine hinreichende konkrete Hypothese bilden, die der Beantwortung der Auslegungsfrage gedient hätte. Vielmehr blieb unklar, ob Unternehmenssteuern Kosten der sich hinter dem Sammelbegriff marketing of exports verbergenden Tätigkeiten sind. Ähnliche Schwierigkeiten ergaben sich auch im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products614, in dem der Appellate Body die Mindestanforderungen klären mußte, die das Rechtssystem eines Entwicklungsland-Mitglieds erfüllen muß, das vorübergehend von den Verpflichtungen des TRIPS befreit ist. Nach Art. 70.8(a) TRIPS ist das Mitglied verpflichtet, eine Möglichkeit (means) für das Einreichen von schriftlichen Patentanmeldungen für bestimmte Erfindungen vorzusehen.615 Im Zusammenhang mit der Frage, wie diese Möglichkeit ausgestaltet sein muß, erklärte der Appellate Body: „54. Article 70.8(a) imposes an obligation on Members to provide ‚a means‘ by which mailbox applications can be filed ‚from the date of entry into force of the WTO Agreement‘. (. . .) The issue before us in this appeal is: what precisely is the ‚means‘ for filing mailbox applications that is contemplated and required by Article 70.8(a)? To answer this question, we must interpret the terms of Article 70.8(a). 612 613 614 615

Dt.: Kosten für die Marktbetreuung bei der Ausfuhr. WT/DS108/AB/R, para. 12. WT/DS50/AB/R. Vgl. die ausführliche Schilderung der Sachverhaltes oben 3. Kap. B. I.

406

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

55. We agree with the Panel that ‚[t]he analysis of the ordinary meaning of these terms alone does not lead to a definitive interpretation as to what sort of means is required by this subparagraph‘.36 Therefore, in accordance with the general rules of treaty interpretation set out in Article 31 of the Vienna Convention, to discern the meaning of the terms in Article 70.8(a), we must also read this provision in its context, and in light of the object and purpose of the TRIPS Agreement. Note: 36 Panel Report, para. 7.25.“

Auch hier ließ die gewöhnliche Bedeutung des Wortes means keine Rückschlüsse über die konkrete Ausgestaltung des von Indien vorzuhaltenden Anmeldesystems bereit.

B. Überprüfung und Konkretisierung der Normhypothese Im zweiten Schritt des Auslegungsvorgangs überprüft der Appellate Body die aufgrund der Wortlautanalyse gefundene Normhypothese. Dazu untersucht er, ob die Bedeutung, die sich jeweils bei Anwendung einer der übrigen Auslegungsmethoden ergibt, mit der Normhypothese der Wortlautauslegung übereinstimmt. Dabei greift der Appellate Body stets auf wenigstens eine der beiden in Art. 31 Abs. 1 WVRK genannten Auslegungsmethoden zurück. Entweder untersucht er den Zusammenhang, in dem die auszulegenden Begriffe stehen, oder er untersucht Ziel und Zweck der auszulegenden Vorschrift. In einer Vielzahl von Fällen vergleicht er die Normhypothese sogar sowohl mit der im Wege der systematischen Auslegung erzielten Bedeutung als auch mit der im Wege der teleologischen Auslegung gewonnenen Bedeutung. Daneben wendet der Appellate Body teilweise die weiteren Methoden des Art. 31 Abs. 2, 3 und des Art. 32 WVRK an, soweit diese für den Fortgang des Auslegungsvorgangs inhaltlich ergiebig sind. In den Fällen, in denen die Wortlautanalyse keine eindeutige Normhypothese erbracht hat, steht naturgemäß nicht deren Überprüfung, sondern deren Konkretisierung im Vordergrund der Anwendung der weiteren Auslegungsmethoden. Im Verfahren United States – Tax Treatment for „Foreign Sales Corporations“616 griff der Appellate Body dabei vorrangig auf die systematische Auslegung zurück: „130. The text of Article 9.1(d) lists ‚handling, upgrading and other processing costs, and the costs of international transport and freight‘ as examples of ‚costs of marketing‘. The text also states that ‚export promotion and advisory services‘ are covered by Article 9.1(d), provided that they are not ‚widely available‘. These are not examples of just any ‚cost of doing business‘ that ‚effectively 616

WT/DS108/AB/R; dazu soeben oben A.

9. Kap.: Der Ablauf des Auslegungsvorganges

407

reduce[s] the cost of marketing‘ products.150 Rather, they are specific types of costs that are incurred as part of and during the process of selling a product. They differ from general business costs, such as administrative overhead and debt financing costs, which are not specific to the process of putting a product on the market, and which are, therefore, related to the marketing of exports only in the broadest sense. Note: 150 See Panel Report, para. 7.155.“

Zunächst untersuchte der Appellate Body hier die in Art. 9.1(d) des Übereinkommens über die Landwirtschaft ausdrücklich genannten costs of marketing exports, deren Subventionierung zu reduzieren sich die Mitglieder im Übereinkommen über die Landwirtschaft verpflichtet haben. Dabei stellte er fest, daß die in der Vorschrift genannten Kosten Teil des Verkaufsprozesses sind und während des Verkaufsvorgangs anfallen. Sie unterscheiden sich von allgemeinen Kosten eines Unternehmens, wie etwa Verwaltungskosten oder Zinszahlungsverpflichtungen, die nicht speziell beim Verkauf von Waren anfallen und daher mit dem Exportvorgang nur im weitesten Sinne in Zusammenhang stehen. Nachdem das Gremium diese beiden Kategorien von Kosten gebildet hatte, ordnete es die Steuerpflicht, gegen deren Ermäßigung die Europäische Gemeinschaft im Fall vorging, einer der beiden Kategorien zu: „131. It seems to us that income tax liability under the FSC measure can also be viewed as related to the business of marketing exports only in the very broadest sense. Income tax liability under the FSC measure arises only when goods are actually sold for export, that is, when they have been the subject of successful marketing. Such liability arises because goods have, in fact, been sold, and not as part of the process of marketing them. Furthermore, at the time goods are sold, the costs associated with putting them on the market – costs such as handling, promotion and distribution costs – have already been incurred and the amount of these costs is not altered by the income tax, the amount of which is calculated by reference to the sale price of the goods. In our view, if income tax liability arising from export sales can be viewed as among the ‚costs of marketing exports‘, then so too can virtually any other cost incurred by a business engaged in exporting. This cannot be what was intended by Article 9.1(d). We, therefore, hold that income tax liability arising from export sales is not part of the ‚costs of marketing‘ a product.“

Der Appellate Body kam hier zu dem Ergebnis, daß die fragliche Steuerverpflichtung erst anfällt, weil und nachdem eine Ware erfolgreich verkauft worden ist und nicht Bestandteil des Verkaufsvorganges ist. Darüber hinaus befand das Gremium, daß die Steuerverpflichtung sich nicht auf die Höhe der Kosten auswirkt, die beim Verkauf einer Ware anfallen. Schließlich erklärte der Appellate Body, daß die Einbeziehung von Einkommenssteuern in die costs of marketing exports bewirken würde, daß nahezu alle Kosten eines Exportunternehmens darin einbezogen werden müßten. Dieses Ergeb-

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

nis sah er nicht im Einklang mit dem, was Art. 9.1(d) des Übereinkommens über die Landwirtschaft bezweckt. Mit dieser Äußerung deutete das Gremium an, daß auch das Effektivitätsprinzip dagegen spricht, Steuern in die costs of marketing exports einzubeziehen. Dieses Verständnis der Vorschrift würde bewirken, daß den ausdrücklich aufgezählten Beispielen keinerlei eigenständige Bedeutung mehr zukäme, weil der Anwendungsbereich der Vorschrift weit über diese Beispiele hinausreichen würde. Damit zog der Appellate Body im dargestellten Fall also die systematische Auslegung und das Effektivitätsprinzip zur Konkretisierung des bei der Wortlautauslegung vage gebliebenen Begriffs costs of marketing exports heran. Wie bereits im Rahmen der Darstellung der einzelnen Auslegungsmethoden gezeigt wurde, konkretisierte der Appellate Body den Begriff benefit im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft sowie den Begriff means im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products in ähnlicher Weise, indem er insbesondere systematische617 und teleologische618 Auslegungsargumente verwendete.

C. Korrektur der Normhypothese In nahezu allen Fällen, in denen die anfängliche Wortlautanalyse eine hinreichend konkrete Normhypothese erbringt, entspricht diese Normhypothese auch dem endgültigen Auslegungsergebnis. In aller Regel bestätigen die im Wege der Anwendung der übrigen Auslegungsmethoden gewonnenen Erkenntnisse die auf der Wortlautauslegung beruhende Normhypothese. Nur in bislang zwei Fällen hat das Gremium seine Normhypothese korrigieren müssen, nachdem sowohl systematische als auch teleologische Auslegung in seinen Augen ein anderes Auslegungsergebnis gefordert haben. Im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut619 stellte sich, wie bereits dargestellt, die Frage, ob auf Ausgleichsmaßnahmen neben den Vorschriften des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaß617 Vgl. zur umfangreichen systematischen Untersuchung des Appellate Body im Fall Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft die zahlreichen Ausführungen oben im Text 2. Kap. A. I. 1., 2. Kap. A. II. 1., 2. Kap. A. II. 2., 2. Kap. B. I. 2., 2. Kap. B. I. 3. sowie 2. Kap. C. II. 1.; vgl. zur systematischen Auslegung des Appellate Body im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products die Ausführungen oben 3. Kap. B. I. mit Fn. 299. 618 Vgl. zur teleologischen Auslegung des Appellate Body im Fall India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products die Ausführungen oben im Text 3. Kap. B. I. und 3. Kap. C. I. 619 WT/DS22/AB/R; dazu bereits oben 3. Kap. A. III.

9. Kap.: Der Ablauf des Auslegungsvorganges

409

nahmen (SCM) auch Art. VI GATT 1994 anwendbar ist. Die Antwort auf diese Frage bemißt sich nach der Auslegung von Art. 32.2 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, der bestimmt, daß die „Bestimmungen dieses Übereinkommens für Untersuchungen und für Überprüfungen bestehender Maßnahmen (. . .)“ gelten. Nachdem der Appellate Body den Text der Vorschrift zitiert hatte, stellte er fest: „Examination of the ordinary meaning of this provision alone could lead us to the conclusion that the term, ‚this Agreement‘, in Article 32.3 means the SCM Agreement. However, it is necessary also to consider this provision in its context and in light of the object and purpose of the WTO Agreement.“

Nach dem vermeintlich eindeutigen Wortlaut der Vorschrift bezieht sich der Begriff „dieses Abkommen“ nur auf das Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen. Bereits die Analyse des Regelungszusammenhangs der Vorschrift ergab jedoch ein anderes Bild: „2. Context The relationship between the SCM Agreement and Article VI of the GATT 1994 is set out in Articles 10 and 32.1 of the SCM Agreement. Article 10 reads as follows: Application of Article VI of GATT 1994 Members shall take all necessary steps to ensure that the imposition of a countervailing duty36 on any product of the territory of any Member imported into the territory of another Member is in accordance with the provisions of Article VI of GATT 1994 and the terms of this Agreement. (. . .) Note: 36 The term ‚countervailing duty‘ shall be understood to mean a special duty levied for the purpose of offsetting any subsidy bestowed directly or indirectly upon the manufacture, production or export of any merchandise, as provided for in paragraph 3 of Article VI of GATT 1994.

Article 32.1 reads as follows: No specific action against a subsidy of another Member can be taken except in accordance with the provisions of GATT 1994, as interpreted by this Agreement.56 Note: 56 This paragraph is not intended to preclude action under other relevant provisions of GATT 1994, where appropriate.

From reading Article 10, it is clear that countervailing duties may only be imposed in accordance with Article VI of the GATT 1994 and the SCM Agreement. A countervailing duty being a specific action against a subsidy of another WTO Member, pursuant to Article 32.1, it can only be imposed ‚in accordance with the provisions of GATT 1994, as interpreted by this Agreement‘. The ordinary meaning of these provisions taken in their context leads us to the conclusion that the negotiators of the SCM Agreement clearly intended that, under the integrated WTO Agreement, countervailing duties may only be imposed in accordance with

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

the provisions of Part V of the SCM Agreement and Article VI of the GATT 1994, taken together. If there is a conflict between the provisions of the SCM Agreement and Article VI of the GATT 1994, furthermore, the provisions of the SCM Agreement would prevail as a result of the general interpretative note to Annex 1A. (. . .) If Article 32.3 is read in conjunction with Articles 10 and 32.1 of the SCM Agreement, it becomes clear that the term ‚this Agreement‘ in Article 32.3 means ‚this Agreement and Article VI of the GATT 1994‘. (. . .)“

Hier entnahm der Appellate Body sowohl Art. 10 als auch Art. 32.1 des Übereinkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen, daß Gegenmaßnahmen nur verhängt werden dürfen, wenn die Voraussetzungen von Art. VI GATT 1994 und des SCM-Übereinkommens kumulativ vorliegen. Daraus schloß der Appellate Body, daß sich auch eine nachträgliche Überprüfung an diesen Vorschriften zu orientieren hat und nicht auf das SCMÜbereinkommen beschränkt bleiben kann. Wie bereits dargestellt,620 kam der Appellate Body auch im Rahmen seiner teleologischen Auslegung zu dem Ergebnis, daß sich der Begriff „dieses Übereinkommen(s)“ sowohl auf das SCM-Übereinkommen als auch auf Art. VI GATT 1994 bezieht. Damit sprachen sowohl das aus der systematischen Auslegung als auch das aus der teleologischen Auslegung gewonnene Auslegungsargument gegen die ursprüngliche Normhypothese. Dies veranlaßte den Appellate Body dazu, seine ursprüngliche Normhypothese aufzugeben und der Vorschrift eine Bedeutung zu geben, die den systematischen und teleologischen Erwägungen entsprach. Ähnlich wie im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut verfuhr der Appellate Body auch bei der Auslegung von Art. 3.3 des SPSÜbereinkommens im Hormonfall European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones).621 Dort mußte das Gremium klären, wie der Begriff scientific justification in Art. 3.3 Satz 1 1. Alternative des SPS-Übereinkommens zu verstehen ist. Dabei stellte sich insbesondere die Frage, ob eine „wissenschaftliche Begründung“, die nach dieser Vorschrift ein höheres gesundheitliches Schutzniveau rechtfertigen kann, erfordert, daß ein Verfahren zur Risikobewertung nach Art. 5 des SPS-Übereinkommens durchgeführt wird. Nach dem Wortlaut der Vorschrift622 kann 620

Vgl. dazu ausführlich bereits oben 3. Kap. A. III. WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R; dazu bereits oben 2. Kap. B. I. 1. 622 Members may introduce or maintain sanitary or phytosanitary measures which result in a higher level of sanitary or phytosanitary protection than would be achieved by measures based on the relevant international standards, guidelines or recommendations, if there is a scientific justification, or as a consequence of the level of sanitary or phytosanitary protection a Member determines to be appropriate in accordance with the relevant provisions of paragraphs 1 through 8 of Article 5.2 Not621

9. Kap.: Der Ablauf des Auslegungsvorganges

411

ein höheres Schutzniveau entweder durch eine wissenschaftliche Begründung oder durch die Durchführung eines solchen Verfahrens gerechtfertigt werden. Entsprechend verlief die Argumentation der Europäischen Gemeinschaft, deren SPS-Maßnahme in dem Verfahren auf dem Prüfstand stand: „174. The European Communities argues that there are two situations covered by Article 3.3 and that its SPS measures are within the first of these situations. It is claimed that the European Communities has maintained SPS measures ‚which result in a higher level of . . . protection than would be achieved by measures based on the relevant‘ Codex standard, guideline or recommendation, for which measures ‚there is a scientific justification‘. It is also, accordingly, argued that the requirement of a risk assessment under Article 5.1 does not apply to the European Communities. (. . .)“

Diesem streng am Wortlaut der Vorschrift orientierten Verständnis stellte der Appellate Body, beginnend mit der systematischen Auslegung, sein eigenes Verständnis gegenüber: „175. Article 3.3 is evidently not a model of clarity in drafting and communication. The use of the disjunctive ‚or‘ does indicate that two situations are intended to be covered. These are the introduction or maintenance of SPS measures which result in a higher level of protection: (a) ‚if there is a scientific justification‘; or (b) ‚as a consequence of the level of . . . protection a Member determines to be appropriate in accordance with the relevant provisions of paragraphs 1 through 8 of Article 5‘. It is true that situation (a) does not speak of Articles 5.1 through 5.8. Nevertheless, two points need to be noted. First, the last sentence of Article 3.3 requires that ‚all measures which result in a [higher] level of . . . protection‘, that is to say, measures falling within situation (a) as well as those falling within situation (b), be ‚not inconsistent with any other provision of [the SPS] Agreement‘. ‚Any other provision of this Agreement‘ textually includes Article 5. Secondly, the footnote to Article 3.3, while attached to the end of the first sentence, defines ‚scientific justification‘ as an ‚examination and evaluation of available scientific information in conformity with relevant provisions of this Agreement . . .‘. This examination and evaluation would appear to partake of the nature of the risk assessment required in Article 5.1 and defined in paragraph 4 of Annex A of the SPS Agreement.“ withstanding the above, all measures which result in a level of sanitary or phytosanitary protection different from that which would be achieved by measures based on international standards, guidelines or recommendations shall not be inconsistent with any other provision of this Agreement. Note: 2 For the purposes of paragraph 3 of Article 3, there is a scientific justification if, on the basis of an examination and evaluation of available scientific information in conformity with the relevant provisions of this Agreement, a Member determines that the relevant international standards, guidelines or recommendations are not sufficient to achieve its appropriate level of sanitary or phytosanitary protection.

412

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Zunächst wies der Appellate Body im Rahmen der systematischen Auslegung auf Art. 3.3 Satz 2 des SPS-Übereinkommens hin. Danach dürfen SPS-Maßnahmen, die ein höheres Schutzniveau festlegen, nicht gegen die übrigen Vorschriften des Übereinkommens verstoßen. Zu den übrigen Vorschriften des Übereinkommens zählte das Gremium auch Art. 5 des SPSÜbereinkommens, die Vorschrift, in der das Verfahren der Risikobewertung verankert ist. Anschließend nahm der Appellate Body Bezug auf die zu Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens gehörende Fußnote, die den Begriff „wissenschaftliche Begründung“ näher definiert. Danach setzt eine wissenschaftliche Begründung eine Prüfung „verfügbarer wissenschaftlicher Angaben gemäß den einschlägigen Bestimmungen dieses Übereinkommens“ voraus. In dieser Fußnote sah das Gremium einen Verweis auf Art. 5.1 des SPS-Übereinkommens, so daß die systematische Auslegung insgesamt nahelegte, für eine wissenschaftliche Begründung ebenfalls die Durchführung eines Verfahrens der Risikobewertung durchzuführen. Dabei war sich der Appellate Body jedoch bewußt, daß er die in Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens angelegte Unterscheidung der beiden Tatbestandsalternativen gegenstandslos machte: „176. On balance, we agree with the Panel’s finding that although the European Communities has established for itself a level of protection higher, or more exacting, than the level of protection implied in the relevant Codex standards, guidelines or recommendations, the European Communities was bound to comply with the requirements established in Article 5.1. We are not unaware that this finding tends to suggest that the distinction made in Article 3.3 between two situations may have very limited effects and may, to that extent, be more apparent than real. Its involved and layered language actually leaves us with no choice.“

Wie bereits ausführlich dargestellt,623 sah der Appellate Body das aufgrund systematischer Erwägungen gefundene Ergebnis durch eine Auslegung von Art. 3.3 des SPS-Übereinkommens im Lichte von Ziel und Zweck der Vorschrift und des gesamten SPS-Übereinkommens bestätigt. Wie auch im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut bewirkte das übereinstimmende Ergebnis von systematischer und teleologischer Auslegung, daß der Appellate Body seine aufgrund der Wortlautauslegung aufgestellte Normhypothese korrigierte. Die beiden vorstehend analysierten Fälle zeigen, daß die Bedeutungshypothese der Wortlautauslegung nicht unumstößlich ist, auch wenn sie im weitaus überwiegenden Teil der Fälle mit dem endgültigen Ergebnis des Auslegungsvorgangs übereinstimmt. Vielmehr vermögen systematische und teleologische Erwägungen, soweit sie ihr kumulativ entgegenstehen und 623

III. 3.

Vgl. die ausführliche Darstellung oben im Text 3. Kap. C. I. und 3. Kap. D.

9. Kap.: Der Ablauf des Auslegungsvorganges

413

übereinstimmend auf eine andere Bedeutung hindeuten, die Bedeutungshypothese der Wortlautauslegung zu widerlegen. Diese Analyse bestätigte der Appellat Body im Fall European Communities – Trade Description of Sardines.624 Im Rahmen der Wortlautauslegung625 von Art. 2.4 des Überinkommens über technische Handelshemmnisse (TBT) gelangte der Appellate Body hier zu dem Ergebnis, daß eine internationale Norm nur dann als Grundlage für (as a basis for) eine nationale technische Vorschrift dient, wenn zwischen der nationalen Vorschrift und der internationalen Norm eine enge inhaltliche Verbindung besteht. Die Europäische Gemeinschaft vertrat demgegenüber die Ansicht, daß das Tatbestandsmerkmal as a basis for bereits erfüllt sei, wenn zwischen nationaler Vorschrift und internationaler Norm eine vernünftige Verbindung (rational relationship) bestünde, was dann der Fall sein sollte, wenn die technische Vorschrift die wesentlichen Züge der internationalen Norm aufwies.626 Der Appellate Body wies dieses Verständnis von Art. 2.4 TBT zurück: „247. Yet, we see nothing in the text of Article 2.4 to support the European Communities’ view, nor has the European Communities pointed to any such support. Moreover, the European Communities does not offer any arguments relating to the context or the object and purpose of that provision that would support its argument that the existence of a ‚rational relationship‘ is the appropriate criterion for determining whether something has been used ‚as a basis for‘ something else.“

Der Appellate Body erklärte hier, daß die Europäische Gemeinschaft weder systematische noch teleologische Aspekte aufgezeigt hatte, die ihn zu 624

WT/DS231/AB/R. Vgl. dazu bereits oben 1. Kap. C. II. (Bedeutungsübertragung) sowie daran anschließend: „244. (. . .) In addition to the definition of ‚basis‘ in Webster’s New World Dictionary that was used by the Panel, we note, as well, the similar definitions for ‚basis‘ that are set out in the The New Shorter Oxford English Dictionary, and also provide guidance as to the ordinary meaning of the term: 3 [t]he main constituent. . . . 5 [a] thing on which anything is constructed and by which its constitution or operation is determined; a determining principle; a set of underlying or agreed principles.170 625

Note: 170 The New Shorter Oxford English Dictionary, L. Brown (ed.) (Clarendon Press, 1993), Vol. I, p. 188.

245. From these various definitions, we would highlight the similar terms ‚principal constituent‘, ‚fundamental principle‘, ‚main constituent‘, and ‚determining principle‘ – all of which lend credence to the conclusion that there must be a very strong and very close relationship between two things in order to be able to say that one is ‚the basis for‘ the other.“ 626 Vgl. zur Argumentation der Gemeinschaft im Bericht des Appellate Body, WT/DS231/AB/R, para. 246.

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3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

einer Korrektur der mit der Wortlautauslegung gewonnenen Normhypothese veranlaßt hätten. Damit machte das Gremium zugleich deutlich, daß es die Korrektur der Normhypothese unter bestimmten Voraussetzungen für möglich hält.

D. Die Grenzen der Auslegung Wie im Rahmen der allgemeinen Untersuchung der Auslegungsmethoden gezeigt wurde, ist der Interpret bei der Auslegung an die Grenzen der möglichen Wortbedeutung gebunden.627 Gelangt er zu Auslegungsergebnissen, die sich nicht mehr innerhalb dieser Grenze bewegen, so überschreitet er die Grenze zwischen Auslegung und Änderung der Norm. Bereits aus der Tatsache, daß die vom Appellate Body zu Beginn des Auslegungsvorgangs aufgestellte Bedeutungshypothese regelmäßig auch das endgültige Auslegungsergebnis darstellt, ergibt sich, daß sich das Gremium innerhalb dieser Wortlautgrenze hält. Neben diese in den Berichten bislang nicht explizit erwähnte Wortlautgrenze hat der Appellate Body eine weitere Grenze der Auslegung gestellt. Ausdrücklich hat er erklärt, daß er nur diejenigen Worte auslegen darf, die die Vertragsparteien im Text der auszulegenden Vorschriften verwendet haben. Worte die nach Auffassung des Interpreten im Text hätten verwendet werden sollen, dürfen demgegenüber nicht Gegenstand der Auslegung sein.628 Anders als die Wortlautgrenze, die den Interpreten hinsichtlich des geschriebenen Textes beschränkt, beschränkt diese zweite Grenze den Interpreten bezüglich des ungeschriebenen Textes. Dabei formuliert sie im Grunde nur die Selbstverständlichkeit, daß Gegenstand der Auslegung ausschließlich die lex scripta ist. Wie auch die Wortlautgrenze schützt sie den Vertragstext vor Änderungen des ausschließlich zur Auslegung befugten Interpreten. Gewisse Spannungen zu den so beschriebenen Grenzen der Auslegung und deren Grundgedanken – dem Schutz des Vertrags vor Änderungen durch 627

Vgl. dazu die Ausführungen oben im Text 1. Teil 2. Kap. I. II. European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones) (WT/DS26/AB/R; WT/DS48/AB/R), para. 181: „Thus, the Panel’s distinction, (. . .) has no textual basis. The fundamental rule of treaty interpretation requires a treaty interpreter to read and interpret the words actually used by the agreement under examination, and not words which the interpreter may feel should have been used.“ India – Quantitative Restrictions on Imports of Agricultural, Textile and Industrial Products (WT/DS90/AB/R), para. 94: „(. . .)To interpret the sentence as proposed by India would require us to read into the text words which are simply not there. Neither a panel nor the Appellate Body is allowed to do so.“ 628

9. Kap.: Der Ablauf des Auslegungsvorganges

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den Interpreten – ergeben sich in den beiden im vorangehenden Abschnitt dargestellten Fällen Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut und European Communities – Measures Concerning Meat and Meat Products (Hormones). In beiden Fällen war sich der Appellate Body bewußt, den Wortlaut der auszulegenden Vorschriften zu übergehen. Während das Gremium sein Vorgehen im Fall Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut nicht weitergehend kommentierte, machte es im Hormon-Fall deutlich, daß es Art. 3.3 Satz 1 des SPS-Übereinkommens als wenig gelungen ansah. Dies zeigt sich an der Wortwahl im Zusammenhang mit der Beschreibung der Vorschrift. Zu Beginn der Auslegung der Vorschrift erklärte er: „175. Article 3.3 is evidently not a model of clarity in drafting and communication. (. . .)“

Diesen Gedanken griff er am Ende seiner Überlegungen erneut auf: „176. (. . .) We are not unaware that this finding tends to suggest that the distinction made in Article 3.3 between two situations may have very limited effects and may, to that extent, be more apparent than real. Its involved and layered language actually leaves us with no choice.“

Hier vertrat der Appellate Body die Ansicht, daß er in Fällen, in denen es den Mitgliedern der WTO nicht gelungen ist, ihre Vorstellungen so zum Ausdruck zu bringen, daß die sprachliche Fassung einer Vorschrift mit deren Regelungszusammenhang und deren Ziel und Zweck übereinstimmt, berechtigt ist, den Wortlaut der Vorschrift zu übergehen und damit im Ergebnis auch zu korrigieren. Allerdings hat sich der Appellate Body diesbezüglich eine große Zurückhaltung auferlegt. Dies zeigt bereits eine rein zahlenmäßig ausgerichtete Betrachtung.

E. Das Verhältnis der Auslegungsmethoden Wie die vorstehende Untersuchung der Spruchpraxis des Appellate Body ergeben hat, dominiert die Wortlautauslegung den Auslegungsvorgang. Regelmäßig steht die Wortlautanalyse am Beginn des Auslegungsprozesses und liefert die erste Auslegungshypothese. Dabei besteht eine Vermutung dafür, daß die endgültige Bedeutung der auszulegenden Vorschrift dieser anfänglichen Bedeutungshypothese entspricht. Diese Vermutung kann nur durch das übereinstimmende Zusammenwirken der beiden ebenfalls in Art. 31 Abs. 1 WVRK genannten Auslegungsmethoden, der systematischen und teleologischen Methode, widerlegt werden. Nur wenn diese beiden Methoden übereinstimmend Argumente für eine andere Bedeutung als die der Wortlautanalyse erbringen, bestimmen sie das endgültige Auslegungsergebnis.

416

3. Teil: Die Auslegung des Appellate Body

Die in Art. 31 Abs. 3 WVRK genannten Auslegungskriterien verwendet der Appellate Body weit weniger häufig als die primären Auslegungsmethoden. Dies erschwert eine klare Aussage bezüglich des inhaltlichen Stellenwertes dieser Methoden innerhalb des Auslegungsvorgangs. In der bisherigen Spruchpraxis des Appellate Body haben sie die Bedeutungshypothese der Wortlautauslegung nicht widerlegt. Die historische Auslegungsmethode spielt sowohl zahlenmäßig als auch inhaltlich nur eine untergeordnete Rolle. Entsprechend der gewohnheitsrechtlichen Vorgabe verwendet der Appellate Body die historische Auslegung nur als ergänzendes Auslegungskriterium. Er läßt sie nur dann zu, wenn sie ein zuvor gefundenes Ergebnis bestätigt. In der bisherigen Spruchpraxis ist ein Fall, in dem die Bedeutung einer Norm nach Anwendung der primären Auslegungsmethoden unklar geblieben ist oder absurd erschien, nicht vorgekommen. Dementsprechend bedurfte es der historischen Methode zur endgültigen Klärung der Bedeutung noch nicht. Eine Sonderstellung nehmen die vom Appellate Body als GATT-acquis bezeichneten Präzedenzfälle des GATT 1947 und die seit Inkrafttreten der WTO-Übereinkommen entschiedenen „Neufälle“ ein. Ihnen kommt ein tendenziell stärkeres Gewicht zu als der subsidiären historischen Auslegung. Gleichwohl scheint es ausgeschlossen, daß sie ein von der Wortlautanalyse vorbestimmtes Ergebnis abzuändern vermögen.

Zusammenfassung der Erkenntnisse I. Im ersten Teil der vorliegenden Untersuchung hat sich gezeigt, daß unter dem Einfluß der Kodifikation des Völkervertragsrechts gewohnheitsrechtliche Auslegungsvorschriften entstanden sind, die mit den Auslegungsvorschriften in Art. 31 und 32 WVRK inhaltlich übereinstimmen. Diese Erkenntnis wird sowohl von der Spruchpraxis internationaler Gerichte als auch von zahlreichen Äußerungen in der völkerrechtlichen Literatur bestätigt. Vor dem Hintergrund dieser tatsächlichen Entwicklung dürfte die Diskussion um die Rechtsqualität von Auslegungsregeln ins Leere laufen. Die gewohnheitsrechtlichen Auslegungsvorschriften basieren auf der Vorstellung, daß der Vertragstext die authentische Äußerung des übereinstimmenden Willens der Vertragsparteien ist. Demzufolge ist der Vertragstext die wichtigste Quelle der Vertragsauslegung. Daneben treten der Kontext der auszulegenden Vorschrift sowie teleologische Aspekte. Da der Kontext stets dem auszulegenden Vertrag entstammen muß, und Ziel und Zweck eines Vertrags vorrangig dem Vertragstext zu entnehmen sind, weisen auch diese Auslegungskriterien eine enge Koppelung an den Vertragstext auf. Für die Auslegung von Bedeutung sind schließlich auch die spätere Praxis der Vertragsparteien sowie die den jeweils auszulegenden Vertrag umgebende Völkerrechtsordnung. Nur eine untergeordnete Bedeutung kommt der historischen Auslegung zu. Adressaten dieser Auslegungsvorschriften sind nicht nur internationale Gerichte oder Schiedsinstanzen, die mit der Auslegung völkerrechtlicher Verträge befaßt sind, sondern auch und vor allem die Völkerrechtssubjekte, die vertragliche Bindungen eingehen. Auch die Staaten sind somit zur Auslegung der untereinander abgeschlossenen Verträge entsprechend der in diesen Vorschriften aufgestellten Regeln verpflichtet. Etwas anderes gilt nur, wenn diese Regeln ausdrücklich abbedungen sind. Die Auslegungsvorschriften erfüllen im völkerrechtlichen Verkehr eine wichtige Aufgabe. Sie binden das Auslegungsermessen der Interpreten, indem sie die bei der Auslegung anzuwendenden Kriterien bestimmen und – jedenfalls im Hinblick auf die historische Auslegung – eine Rangfolge dieser Kriterien aufstellen. Dadurch wird das konkrete Auslegungsergebnis be-

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Zusammenfassung der Erkenntnisse

rechenbarer, was das Vertrauen der Rechtssubjekte in das Regelungsinstrument völkerrechtlicher Vertrag insgesamt erhöhen dürfte. II. Die Welthandelsorganisation (WTO) bildet den institutionellen Rahmen für die materiellen Vorschriften des internationalen Warenhandels, des internationalen Handels mit Dienstleistungen und der handelsrelevanten Aspekte des geistigen Eigentums. Diese Vorschriften sind im GATT 1994 und den dazugehörigen Seitenabkommen sowie dem GATS und dem TRIPS enthalten. Sämtliche dieser Abkommen werden von der WTO verwaltet. Zur Beilegung von Handelsstreitigkeiten zwischen den Mitgliedern der WTO existiert unter dem Dach der Organisation ein obligatorisches Streitbeilegungsverfahren. Dieses Verfahren ist eine Weiterentwicklung des bereits unter dem GATT 1947 existierenden Streitbeilegungsverfahrens. Die wohl wesentlichste Neuerung des unter der WTO eingerichteten Verfahrens ist die Schaffung einer Rechtsmittelinstanz, des sogenannten Appellate Body. Dieses Gremium überprüft die Berichte der in erster Instanz mit der Streitbeilegung befaßten Panels auf Rechtsfehler und Fehler bei der Auslegung. Der Appellate Body ist der bedeutendste Interpret der Vorschriften des Welthandelsrechts. Zwar ist er nicht zur authentischen Auslegung des Welthandelsrechts befugt. Dies können nur die Mitglieder der Organisation, die jedoch von ihrer Befugnis bislang keinen Gebrauch gemacht haben. Trotz dieser Einschränkung entfalten die Berichte des Appellate Body über den jeweiligen Einzelfall hinaus Bedeutung, da das Gremium gewöhnlich nicht von einmal eingeschlagenen „Rechtsprechungslinien“ abweicht. Wie den Urteilen anderer internationaler Gerichte kommt den Berichten des Appellate Body damit eine tatsächliche Bindungswirkung zu. Denn die Furcht vor einem möglichen Unterliegen in zukünftigen Verfahren, veranlaßt die Mitglieder dazu, ihr Verhalten an den Vorgaben des Appellate Body auszurichten. Das Beibehalten einmal eingeschlagener „Rechtsprechungslinien“ gebietet dem Appellate Body Art. 3.2 Satz 1 DSU. Diese Vorschrift stellt fest, daß das Streitbeilegungsverfahren ein zentrales Element zur Gewährleistung von Stabilität und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem ist. Der Appellate Body erfüllt diese Verpflichtung an das Streitbeilegungsverfahren, in dem er einmal beschrittene Wege nicht ohne Not verläßt. Seit Aufnahme seiner Tätigkeit orientiert sich der Appellate Body bei der Auslegung der Übereinkünfte der Welthandelsordnung streng an den Vorgaben der mit Art. 31 und 32 WVRK inhaltlich identischen Vorschriften des Völkergewohnheitsrechts. Art. 3.2 Satz 2 DSU bindet die Streitbeilegungs-

Zusammenfassung der Erkenntnisse

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organe der WTO und damit auch den Appellate Body an die customary rules of interpretation of public international law, also an die Auslegungsregeln des Völkergewohnheitsrechts. Die konsequente Ausrichtung der Vertragsaulegung an diesen Vorschriften stellt ihrerseits einen Beitrag zur Gewährleistung von Stabilität und Vorhersehbarkeit im multilateralen Handelssystem dar. Denn die Vertragsauslegung mit Hilfe der gewohnheitsrechtlichen Vorschriften bewirkt, daß der Verfahrensausgang für die Parteien berechenbarer wird. Gleichzeitig eröffnet sich den Mitgliedern der WTO die Möglichkeit, die vertraglich übernommenen Verpflichtungen und die erworbenen Rechte im Lichte der gewohnheitsrechtlichen Vorschriften auszulegen und so etwaige Streitigkeiten zu vermeiden. III. Die Spruchpraxis des Appellate Body der WTO reicht in ihrer Bedeutung jedoch über die Organisation und das Welthandelsrecht hinaus. Der Appellate Body ist das erste nahezu weltweit agierende Streitbeilegungsgremium, das sich jedenfalls mittelbar auf die Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention beruft und das gleichzeitig eine signifikante Anzahl von Fällen zu entscheiden hat. Dieser letztgenannte Aspekt unterscheidet den Appellate Body auch vom Internationalen Gerichtshof. Zwar hat der IGH gerade in jüngerer Vergangenheit ebenfalls keinen Zweifel mehr an der gewohnheitsrechtlichen Geltung von Auslegungsregeln gelassen hat, die mit den Vorschriften der Art. 31 und 32 WVRK übereinstimmen. Jedoch steht das Fallaufkommen des Weltgerichtshofs zahlenmäßig weit hinter dem des Appellate Body zurück. Die häufige Inanspruchnahme des Rechtsmittelverfahrens durch die Mitglieder der WTO ermöglicht es dem Appellate Body, im Bereich der Vertragsauslegung eine vertiefte „Dogmatik“ zu entwickeln und Spielräume, die diese Vorschriften dem Interpreten belassen, auszufüllen. Insofern geht die Spruchpraxis des Appellate Body zu den Auslegungsmethoden völkerrechtlicher Verträge inhaltlich über die Praxis anderer internationaler Spruchkörper einschließlich des Internationalen Gerichtshofs hinaus. Am Anfang der Auslegung der Vorschriften des Welthandelsrechts durch den Appellate Body steht stets eine sorgfältige Analyse der Wortbedeutung der in den Übereinkommen verwendeten Begriffe. Das auf diese Weise gefundene vorläufige Auslegungsergebnis überprüft und konkretisiert der Appellate Body nunmehr anhand systematischer und teleologischer Auslegungen. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch das Effektivitätsprinzip. Von bislang nur geringer zahlenmäßiger Bedeutung sind die Fälle, in denen der

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Zusammenfassung der Erkenntnisse

Appellate Body die in Art. 31 Abs. 3 WVRK genannten Auslegungsmittel zur Hilfe nimmt. Der historischen Auslegung kommt nur eine untergeordnete Bedeutung zu. Dasselbe gilt für weitere, in Art. 31 und 32 WVRK nicht ausdrücklich genannte Auslegungskriterien, wie etwa die aufgrund von Art. XVI WTO bei der Auslegung zu berücksichtigenden aus der Zeit des GATT 1947 stammenden Präzedenzfälle. Innerhalb der einzelnen Auslegungsmethoden hat der Appellate Body die Entwicklung einer Auslegungsdogmatik weiter voran gebracht. Hervorzuheben ist hier insbesondere die konsequente Verwendung von Wörterbüchern im Rahmen der Wortlautauslegung. Diese Technik zur Ermittlung der Wortbedeutung macht den Auslegungsprozeß sicher, vorhersehbar und transparent. Im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung hat der Appellate Body eine ganze Reihe von wiederkehrenden Argumentationsmustern entwickelt beziehungsweise aufgegriffen und für das Welthandelsrecht fruchtbar gemacht. Dabei hat sich gezeigt, daß die in der Literatur teilweise als eigenständige Auslegungsregeln verstandenen Regeln der Logik, wie das argumentum e contrario, nichts anderes sind als Argumentationsmuster im Rahmen systematischer Erwägungen. Für die Auswahl des auslegungsrelevanten Kontextes hat der Appellate Body allgemein nachvollziehbare und auf andere Verträge übertragbare inhaltliche Kriterien entwickelt, die auch in anderen Bereichen des Rechts gültig sind. Im Rahmen der teleologischen Auslegung ermittelt der Appellate Body Norm- oder Vertragszwecke nahezu ausschließlich unter Rückgriff auf den Text des auszulegenden Vertrags. Damit betont er seine enge Orientierung am Vertragstext. Im übrigen bestätigt die Spruchpraxis des Appellate Body die im Rahmen der allgemeinen Auslegungslehre gemachte Beobachtung, daß die an Ziel und Zweck eines Vertrags oder einzelner Vorschriften orientierte Vertragsauslegung in der Regel expansiv wirkt und den Handlungsspielraum der verpflichteten Rechtssubjekte schmälert. Dabei bewegen sich die Erwägungen des Appellate Body zur teleologischen Auslegung innerhalb der Grenzen der teleologischen Auslegung, die es erforderlich machen, daß die gewählte Auslegung, soweit dies prognostizierbar ist, einen Beitrag zur Verwirklichung des zuvor ermittelten Vertrags- oder Normziels leistet. Eine wichtige Rolle in der Spruchpraxis des Appellate Body spielt auch das Effektivitätsprinzip, das in die Wiener Vertragsrechtskonvention keine ausdrückliche Aufnahme gefunden hat, das jedoch aufgrund seiner engen Verbindungen zur systematischen und teleologischen Auslegung in Art. 31 Abs. 1 WVRK hineingelesen werden kann. Ähnlich wie weite Teile der völkerrechtlichen Literatur nimmt der Appellate Body keine exakte Unterscheidung zwischen den beiden Ausprägungen des Effektivitätsprinzips, dem effet utile-Gundsatz und dem Grundsatz ut res magis valeat quam pereat vor. Be-

Zusammenfassung der Erkenntnisse

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sondere Beachtung verdient die Betonung des Gebotes der harmonischen Auslegung als Kehrseite des effet utile-Grundsatzes. Ähnlich wie das Gebot der praktischen Konkordanz im nationalen Recht soll die harmonische Auslegung einen Ausgleich zwischen konfligierenden Vertragsvorschriften ermöglichen. In dieser Deutlichkeit ist dieser Aspekt der Vertragsauslegung in der Praxis anderer Gerichte bislang nicht hervorgetreten. Die nachfolgende Praxis der Vertragsparteien und die zwischen den Vertragsparteien anwendbaren Sätze des Völkerrechts, die in Art. 31 Abs. 3 WVRK dem Kontext gleichgestellt werden, sind vom Appellate Body ausdrücklich als relevante Kriterien der Vertragsauslegung anerkannt worden. Sie spielen jedoch in der Spruchpraxis des Appellate Body bislang keine wesentliche Rolle. Ungeklärt ist bislang die Frage, ob zur Auslegung der WTO-Übereinkommen auch solche Sätze des Völkerrechts herangezogen werden können, die nicht für alle WTO-Mitglieder gelten. Dagegen spricht nach der hier vertretenen Ansicht insbesondere der in der WTO-Rechtsordnung stärker als der in anderen multilateralen Verträgen zum Ausdruck kommende Gedanke der Integrität der Welthandelsordnung. Im Bereich der ungeschriebenen Sätze des Völkerrechts rekurriert der Appellate Body bislang häufiger auf Regeln des universellen Völkergewohnheitsrechts als auf allgemeine Rechtsgrundsätze. Dabei gelingt der Nachweis der Sätze des Gewohnheitsrechts letztlich nicht in allen Fällen überzeugend. Die in Art. 32 WVRK geregelte historische Auslegung spielt in der Spruchpraxis des Appellate Body ebenfalls nur eine untergeordnete Rolle. Nur in wenigen Fällen bezieht sich das Gremium auf die Entstehungsgeschichte der Abkommen der Welthandelsordnung. Stets stellt das Gremium in diesen Fällen entweder durch ausdrückliche Ausführungen oder durch die Art der Verwendung – zur Bestätigung eines Auslegungsergebnisses – klar, daß es der historischen Auslegung auch inhaltlich nur eine subsidiäre Bedeutung beimißt. Die offene Formulierung von Art. 32 WVRK, die die historische Auslegung nur als einen Unterfall ergänzender Auslegungsmittel ansieht, hat der Appellate Body bislang nur zurückhaltend dazu genutzt, sich weiterer Auslegungsmittel zu bedienen. Eine Ausnahme bilden hier in gewisser Weise die aus dem GATT 1947 stammenden Präzedenzfälle. Jedoch ist deren umfangreiche Nutzung bei der Auslegung der WTO-Verträge in erster Linie auf die Vorschrift des Art. XVI.1 WTO zurückzuführen, die den acquis des GATT 1947 ausdrücklich in die WTO überführt. Zusammenfassend läßt sich damit feststellen, daß der Appellate Body die der Wiener Vertragsrechtskonvention zugrundeliegende, auch in das Völkergewohnheitsrecht aufgenommene Konzeption einer weitestgehend am Vertragstext orientierten Auslegung völkerrechtlicher Verträge bestätigt.

Verzeichnis der zitierten Entscheidungen A. Berichte der Streibeilegungsorgane der Welthandelsorganisation (WTO) I. Berichte des Appellate Body United States – Standards for Reformulated Gasoline, WT/DS2/AB/R (29.4.1996) Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/ DS11/AB/R (4.10.1996) United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear, WT/DS24/AB/R (10.2.1997) Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut, WT/DS22/AB/R (21.2.1997) United States – Measures Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India, WT/DS33/AB/R (25.4.1997) Canada – Measures Concerning Periodicals, WT/DS31/AB/R (30.6.1997) European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas, WT/DS27/AB/R (9.9.1997) India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Products, WT/ DS50/AB/R (19.12.1997) European Communities – Measures Affecting Meat and Meat Products (Hormones), WT/DS26/AB/R; WT/DS/48/AB/R (16.1.1998) Argentina – Measures Affecting Imports of Apparel and Other Items, WT/DS56/ AB/R (27.3.1998) European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment, WT/DS62/AB/R; WT/DS67/AB/R; WT/DS68/AB/R (5.6.1998) European Communities – Measures Affecting the Importation of Certain Poultry Products, WT/DS69/AB/R (13.7.1998) United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/ DS58/AB/R (12.10.1998) Guatemala – Anti-Dumping Investigation Regarding Portland Cement from Mexico, WT/DS60/AB/R (2.11.1998) Korea – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS75/AB/R; WT/DS84/AB/R (18.1.1999) Japan – Measures Affecting Agricultural Products, WT/DS76/AB/R (22.2.1999) Brazil – Export Financing for Aircraft, WT/DS46/AB/R (2.8.1999)

Verzeichnis der zitierten Entscheidungen

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Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft, WT/DS70/AB/R (2.8.1999) India – Quantitative Restrictions on Imports of Agricultural, Textile and Industrial Products, WT/DS90/AB/R (23.8.1999) Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products, WT/DS103/AB/R; WT/DS113/AB/R (13.10.1999) Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear, WT/DS121/AB/R (14.12.1999) Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products, WT/DS98/AB/R (14.12.1999) United States – Tax Treatment for Foreign Sales Corporations, WT/DS108/AB/R (24.2.2000) Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry, WT/DS139/AB/ R; WT/DS142/AB/R (31.5.2000) United States – Anti-Dumping Act of 1916, WT/DS136/AB/R (28.8.2000) Canada – Term of Patent Protection, WT/DS170/AB/R (18.9.2000) Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef, WT/ DS161/AB/R; WT/DS169/AB/R (11.12.2000) United States – Import Measures on Certain Products from the European Communities, WT/DS165/AB/R (11.12.2000) United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Wheat Gluten from the European Communities, WT/DS166/AB/R (22.12.2000) European Communities – Anti-Dumping Duties on Imports of Cotton-Type Bed Linen from India, WT/DS141/AB/R (1.3.2001). Thailand – Anti-Dumping Duties on Angles, Shapes and Sections of Iron or NonAlloy Steel and H-Beams from Poland, WT/DS122/AB/R (12.3.2001) European Communities – Measures Affecting Asbestos and Asbestos Containing Products, WT/DS135/AB/R, (12.3.2001) United States – Anti-Dumping Measures on Certain Hot-rolled Steel Products from Japan, WT/DS184/AB/R (24.7.2001) United States – Transitional Safeguard Measure on Combed Cotton Yarn from Pakistan, WT/DS192/AB/R (8.10.2001) United States – Section 211 Omnibus Appropriations Act of 1998, WT/DS176/ AB/R (2.1.2002) United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea, WT/DS202/AB/R (15.2.2002) Chile – Price Band System and Safeguard Measures Relating to Certain Agricultural Products, WT/DS207/AB/R (23.9.2002) European Communities – Trade Description of Sardines, WT/DS231/AB/R (26.9.2002)

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Verzeichnis der zitierten Entscheidungen

United States – Countervailing Duties on Certain Corrosion-Resistant Carbon Steel Flat Products from Germany, WT/DS213/AB/R (28.11.2002)

II. Panel-Berichte United States – Measures Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India, WT/DS33/R (6.1.1997) European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas, WT/DS27/R/ECU (22.5.1997) India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Chemical Products, WT/DS79/R (24.8.1998) Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft, WT/DS70/R (14.4.1999) Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products, WT/DS98/R (21.6.1999) Canada – Term of Patent Protection, WT/DS170/R (5.5.2000) Korea – Measures Affecting Imports of Fresh, Chilled and Frozen Beef, WT/ DS161/R; WT/DS169/R (31.7.2000)

B. GATT 1947-Panel-Berichte Italian Discrimination against Imported Agricultural Machinery, BISD 7S/60 (angenommen am 23.10.1958) United States – Income Tax Legislation (DISC), BISD 23S/98 (angenommen am 7./8.12.1981) Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages, BISD 34S/83 (angenommen am 10.11.1987) Canada – Measures Affecting Exports of Unprocessed Herring and Salmon, BISD 35S/98 (angenommen am 22.3.1988) United States – Section 337 of the Tariff Act 1930, BISD 36S/345 (angenommen am 7.11.1989) United States – Measures Affecting Alcoholic and Malt Beverages, BISD 39S/ 206 (angenommen am 19.6.1992) United States – Taxes on Automobiles, DS31/R (nicht angenommen; I.L.M. 33 [1994], S. 1397 ff.)

Verzeichnis der zitierten Entscheidungen

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C. Urteile und Gutachten internationaler Gerichte und Schiedsgerichte I. Ständiger Internationaler Gerichtshof (StIGH/PCIJ) Competence of the ILO to Regulate Agricultural Labour (Advisory Opinion, 12.8.1922), StIGH/PCIJ, Serie B. No. 2 & 3 Interpretation of the Convention of 1919 concerning Employment of Women during the Night (Advisory Opinion, 15.11.1932), StIGH/PCIJ, Serie A/B No. 50

II. Internationaler Gerichtshof (IGH/ICJ) Case Concerning Rights of Nationals of the United States of America in Morocco (France v. United States of America), Urteil v. 27.8.1952, ICJ Rep. 1952, S. 176 North Sea Continental Shelf Case (Federal Republic of Germany v. Denmark; Federal Republic of Germany v. Netherlands), Urteil v. 20.2.1969, ICJ Rep. 1969, S. 3 Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia (South West Africa) Notwithstanding Security Council Resolutuion 276 (1970), Advisory Opinion v. 21.6.1971, ICJ Rep. 1971, S. 16 Aegean Sea Continental Shelf Case (Greece v. Turkey), Urteil v. 19.12.1978, ICJ. Rep. 1978, S. 3 Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua, (Nicaragua v. United Staes of America), Merits, Urteil v. 27.6.1986, ICJ Rep. 1986, S. 14 Case Concerning Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) (United States of America v. Italy), Urteil v. 20.7.1989, ICJ Rep. 1989, S. 15 Case Concerning the Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea-Bissau v. Senegal), Urteil v. 12.11.1991, ICJ Rep. 1991, S. 53 Case Concerning the Territorial Dispute (Libyan Arab Jamahiriya v. Chad), Urteil v. 3.2.1994, ICJ Rep. 1994, S. 6 Case Concerning Maritime Delimination and Territorial Questions between Qatar and Bahrain (Qatar v. Bahrain), Jurisdiction and Admissibility, Urteil v. 15.2.1995, ICJ Rep. 1995, S. 6 Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict, Advisory Opinion v. 8.7.1996, ICJ Rep. 1996 (I), S. 66 Case Concerning Oil Platforms (Islamic Republic of Iran v. United States of America), Preliminary Objection, Urteil v. 12.12.1996, ICJ Rep. 1996 (II), S. 803 Case Concerning Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia), Urteil v. 13.12.1999, I.L.M. 39 (2000), S. 310 La Grand Case (Germany v. United States of America), Urteil vom 27.6.2001, I.L.M. 40 (2001), S. 1069

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Verzeichnis der zitierten Entscheidungen

III. Schiedsgerichte Königreich Griechenland gegen Bundesrepublik Deutschland, Urteil des Schiedsgerichtshofs für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden v. 26.1.1972 (Nr. 5), in: Schiedsgerichtshof und Gemischte Kommission für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden, Entscheidungen und Gutachten 1970/1972, S. 12 (42) Belgien, Vereinigte Staaten von Amerika, Frankreich, Vereinigtes Königreich und Schweiz gegen Bundesrepublik Deutschland (Young Loan Arbitration), Urteil des Schiedsgerichtshofs für das Abkommen über deutsche Auslandsschulden v. 16.5.1980, GYIL 23 (1980), S. 414 Dispute Concerning the Delimination of the Maritime Boundary (Guinea v. Guinea-Bissau), Urteil des Schiedsgerichts vom 14.2.1985, I.L.M. 25 (1986), S. 251 (271 f.)

IV. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Golder/Vereinigtes Königreich, Urteil v. 21.2.1975, Serie A, Nr. 18 Luedicke, Belkacem & Koc/Bundesrepublik Deutschland, Urteil v. 28.11.1978, Serie A, Nr. 29 Johnston et al./Republik Irland, Urteil v. 18.12.1986, Serie A, Nr. 112

V. Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Urteil v. 13.11.1990, Fedesa (C-331/88), Slg. 1990, I-4023

D. Urteile nationaler Gerichte I. Bundesrepublik Deutschland Urteil des Bundesverfassungsgerichts v. 24.4.1985 (2 BvF 2, 3, 4/83 und 2/84), BVerfGE 69, S. 11

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Sachverzeichnis Alkoholfall siehe Japan – Taxes on Alcoholic Beverages Allgemeine Rechtsgrundsätze als Erkenntnisquelle 60, 361 ff. Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen siehe GATS Allgemeines Zoll und Handelsabkommen siehe GATT 1947 und GATT 1994

argumentum e contrario siehe Umkehrschluss Auslegungsregeln – Kodifizierung 73 ff. – Rechtscharakter 87 ff. – Völkergewohnheitsrecht 79 ff. Authentische Auslegung 30, 57, 65, 72, 341 – in der WTO 120, 124, 169

Analytical Index 159 Antidumpingübereinkommen 109 f. – Art. 2.4.2 175 f. – Art. 3.1 259 f. – Art. 6.1.1 242 ff. – Art. 6.8 243 ff. – Art. 9.4 187 f. – Art. 17.4 254 f. – Art. 17.6 174 Appellate Body – Aufgabe 144 ff. – Divisions 148, 151 – Entstehung 137 ff. – Mitglieder 146 ff. – Sekretariat 149 f. – Verfahrensgang 150 ff. – Working Procedures 148 ff. – Zusammensetzung 146 ff. Argentina – Measures Affecting Imports of Apparel and Other Items, WT/DS56/AB/R 393 ff. Argentina – Safeguard Measures on Imports of Footwear, WT/DS121/ AB/R 186

Bananenstreit siehe European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas Bedeutungswandel siehe Dynamische Auslegung siehe Wortlautauslegung bona fides-Grundsatz (in der Auslegung) 47, 71, 73 f. Brazil – Export Financing Programme for Aircraft, WT/DS46/AB/R 313 f. Brazil – Measures Affecting Desiccated Coconut, WT/DS22/AB/R 273 ff., 279, 371 ff., 408 ff. Canada – Certain Measures Affecting the Automotive Industry, WT/ DS139/AB/R; WT/DS142/AB/R 226 f., 233, 236 f., 279 f., 292 f. Canada – Measures Affecting the Export of Civilian Aircraft, WT/DS70/ AB/R 174 f., 219 f., 222, 224 f., 233 f., 252, 317 f., 395 f. Canada – Measures Affecting the Importation of Milk and the Exportation of Dairy Products, WT/DS103/ AB/R; WT/DS113/AB/R 176 f., 240 ff., 380 ff.

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Sachverzeichnis

Canada – Measures Concerning Periodicals, WT/DS31/AB/R 168 Canada – Term of Patent Protection, WT/DS170/AB/R 178, 222 ff., 225, 228, 239 f., 258, 272 f., 279, 294 f., 318 f., 321 f., 357 ff. Chile – Price Band System and Safeguard Measures Relating to Certain Agricultural Products, WT/DS207/ AB/R 333 ff. Codex Alimentarius 270 Dispute Settlement Body 121 – Appellate Body siehe Appellate Body – Hilfsorgane 129 – Negativer Konsens 124 – Panel siehe Panel (WTO) Dispute Settlement Understanding siehe DSU DSB siehe Dispute Settlement Body DSU – Art. 1.1 126 f. – Art. 2 129 – Art. 2.4 124 – Art. 3.1 127, 152, 165 f., 389 f. – Art. 3.2 127 f., 152, 153 ff., 162 ff., 164 f., 166 f., 397 – Art. 3.5 131 – Art. 3.6 131 – Art. 3.7 128 – Art. 3.9 169 – Art. 4 130 – Art. 4.7 131 – Art. 6 131 – Art. 6.2 254 f. – Art. 7 254 f. – Art. 8.1 131, 146 – Art. 8.6 131 – Art. 11 132, 145 f., 271 f. – Art. 12.9 133 – Art. 13 132, 317 f., 395 f. – Art. 15 132

– Art. 16.4 133, 150 f., 168 f. – Art. 16.13 151 – Art. 17.1 144, 146, 148 – Art. 17.3 146 f. – Art. 17.5 133, 134 – Art. 17.6 133, 144, 149 f., 151, 152 – Art. 17.12 133 – Art. 17.14 133, 152 – Art. 19.2 152, 166 f. – Art. 20 134 – Art. 21.1 134 – Art. 21.3 135 – Art. 21.5 135 – Art. 22 135 f. – Art. 23.1 127 – Art. 27 149 Dynamische Auslegung 79 Effektivitätsprinzip 66 ff., 156, 311 ff. – effet utile 67, 311 ff. – ut res magis valeat quam pereat 67, 328 ff. effet utile siehe Effektivitätsprinzip European Communities – Anti-Dumping Duties on Imports of CottonType Bed Linen from India, WT/ DS141/AB/R 175 European Communities – Customs Classification of Certain Computer Equipment, WT/DS62/AB/R; WT/ DS67/AB/R; WT/DS68/AB/R 181 ff., 374 ff. European Communities – Measures Affecting Meat and Meat Products (Hormones), WT/DS26/AB/R; WT/ DS/48/AB/R 230 f., 269 ff., 277, 289 ff., 304 ff., 348 ff., 401 f., 410 ff. European Communities – Measures Affecting the Importation of Certain Poultry Products, WT/DS69/AB/R 378 ff.

Sachverzeichnis European Communities – Regime for the Importation, Sale and Distribution of Bananas, WT/DS27/AB/R 185 f., 232 f., 234 ff., 248 ff., 251, 253, 279 f., 293, 303 f., 309 f., 391 European Communities – Trade Description of Sardines, WT/DS231/ AB/R 189 f., 413 f. Gasoline-Fall siehe United States Standards for Reformulated Gasoline GATS 115 f. – Art. I.1 186, 251 – Art. I.2 116 – Art. I.3 251 – Art. II 116 – Art. II.1 232 f., 234 ff., 248 ff., 279 f., 293, 303 f. – Art. XVI 116 – Art. XVII 116 – Art. XVII.1 234 ff. – Art. XIX 116 – Art. XX.1 116 – Art. XXVIII(b) 251 GATT 1947 – Art. XXII 127, 165 – Art. XXIII 127, 165 – Auslegungsmethoden 157 ff. – grandfather clause 159 f. – Panel-Berichte 284 ff., 330 ff., 386 ff. – protocol of provisional application 158 – Streitbeilegung 126, 129, 142 f., 157 ff. – VERTRAGSPARTEIEN 111, 330 ff. GATT 1994 – Art. I.1 232 f., 280, 293 – Art. II.1 104, 181 ff., 380 ff., 393 f. – Art. II.7 104 – Art. III 102, 268 f., 302 f., 368 f. – Art. III.1 285

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– Art. III.2 175, 285 f., 293 f., 296 ff., 299 f., 302 f., 386 – Art. III.4 106, 233, 250, 398 – Art. VI 273 ff., 371 ff. – Art. VI.1 109 – Art. VI.3 109 – Art. VII 105 – Art. XI 105 f. – Art. XII 106 – Art. XVI 109 – Art. XVIIIbis 103 f. – Art. XIX 112 ff., 177, 276 f., 314 f., 321, 323 ff. – Art. XX 106, 114, 282 f., 284, 312 f., 322, 348 ff., 369 f. – Art. XX(d) 179 f., 220 f. – Art. XX(g) 173 f., 191 ff., 255 f., 315 f., 326 f., 386 – Art. XXI 114 f. – Art. XXV.5 111 f. GATT-acquis 165, 287, 387 f. Gegenseitigkeit 103, 125 Golder-Fall (EGMR) 83 f. Grenzen der Auslegung 72 f., 414 f. Guatemala – Anti-Dumping Investigation Regarding Portland Cement from Mexico, WT/DS60/AB/R 253 ff. Harmonische Auslegung 323 ff. Havanna-Charta 282 f. Historische Auslegung 57 ff., 367 ff. Hormonfall siehe European Communities – Measures Affecting Meat and Meat Products in claris non fit interpretatio siehe sens-clair-Regel in dubio mitius 68 f., 401 f. India – Patent Protection for Pharmaceutical and Agricultural Products, WT/DS50/AB/R 167, 277 f., 289, 405 f.

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Sachverzeichnis

India – Quantitative Restrictions on Imports of Agricultural, Textile and Industrial Products, WT/DS90/ AB/R 384 f., 392 Inländerbehandlung 101 f. – GATS 116, 234 ff. – GATT 1947/1994 268 f., 294 – TRIPS 117 – WTO 101 f. Integrität multilateraler Verträge 61, 203, 342 ff. International Law Commission (ILC) 74, 338 ff. Internationaler Gerichtshof 30, 32, 80, 90 – Aegean Sea Continental Shelf Case 208 ff. – Case Concerning Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) 80 f. – Case Concerning Kasikili/Sedudu Island 86 f. – Case Concerning Maritime Delimination and Territorial Questions between Qatar and Bahrain 85 – Case Concerning Oil Platforms 86 – Case Concerning the Arbitral Award of 31 July 1989 84, 91 f. – Case Concerning the Territorial Dispute 85 – ELSI-Fall siehe Case Concerning Elettronica Sicula S.p.A. (ELSI) – La Grand Case 81 f., 87 – Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia 204 ff. – Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict 85 – North Sea Continental Shelf Case 213 – Richter 147 Italian Discrimination against Imported Agricultural Machinery, BISD 7S/ 60 249, 286, 391

Japan – Customs Duties, Taxes and Labelling Practices on Imported Wines and Alcoholic Beverages, BISD 34S/83 285 f., 330 f. Japan – Measures Affecting Agricultural Products, WT/DS76/AB/R 252 Japan – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS8/AB/R; WT/DS10/AB/R; WT/DS11/AB/R 154 f., 268 f., 285 f., 296 ff., 302 f., 330 f., 368 f., 386 Konsensprinzip 61 ff., 341 f. Korea – Definitive Safeguard Measure on Imports of Certain Dairy Products, WT/DS98/AB/R 156 f., 177, 228f., 276 f., 281 f., 292, 300 ff., 314 f., 321, 323 ff. Korea – Measures Affecting Imports of fresh, chilled and frozen Beef, WT/DS161/AB/R; WT/DS169/AB/ R 179 f., 220 f., 398 f., 400 Korea – Taxes on Alcoholic Beverages, WT/DS75/AB/R; WT/DS84/ AB/R 175, 293 f., 299 f., 302 f. Landwirtschaft siehe Übereinkommen über die Landwirtschaft like product 101 f., 296 ff., 302 f. list of concessions siehe Zugeständnislisten Marktöffnung 102 f. Meistbegünstigung 100 f. – GATS (vgl. Art. II.1 GATS) 116, 232 f., 234 ff., 248 ff., 293, 303 f. – GATT 1947/1994 292 f. – TRIPS 117 – WTO 100 f. Meistbegünstigungsklausel 279 f.

Sachverzeichnis Nachfolgende Praxis siehe Spätere Praxis Namibia-Gutachten (IGH) siehe Legal Consequences for States of the Continued Presence of South Africa in Namibia Objektive Auslegungstheorie – Nationales Recht 33 f. – Völkerrecht 34 ff., 48 f., 56, 58 f., 78 f. Ordinary Meaning 47 f., 215 f. pacta tertiis-Regel 62, 342 Panel (GATT 1947) 157 ff., 330 ff. Panel (WTO) 129, 131 Parteiwille 29, 34 ff., 48, 55 f., 58 plain meaning rule siehe sens-clairRegel Positivlisten siehe Zugeständnislisten GATS Präjudizien 284 ff., 385 ff. Praktische Konkordanz siehe auch Harmonische Auslegung 327 f. principle of contemporaneity 48 f. Safeguards siehe Übereinkommen über Schutzmaßnahmen security exception siehe GATT 1994 Art. XXI sens-clair-Regel 43 f. Shrimp-Fall siehe United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/ AB/R Spätere Praxis 55 ff., 330 ff. SPS 107 f. – Art. 3.1 108, 189 f., 231, 269 ff., 277, 309 f., 401 f. – Art. 3.2 108, 231, 269 ff., 306, 309 f. – Art. 3.3 108, 231, 289 ff., 304 ff., 410 ff. – Art. 5 304, 306, 348 ff.

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Ständiger Internationaler Gerichtshof 90 – Competence of the ILO to Regulate Agricultural Labour 265 ff. – Interpretation of the Convention of 1919 concerning Employment of Women during the Night 38 Streitbeilegungsverfahren (WTO) 125 ff. – cross retaliation 136 – Empfehlungen 133 f. – Konsultationen 130 f. – Panel-Phase 131 ff. – Revision (Appellate Body) 133 f. – Umsetzungsphase 135 f. Subjekte der Auslegung 29 ff., 45 f. – Internationale Gerichte 31 f. – Internationale Organisationen 30 f. – Vertragsparteien 29 f. Subjektive Auslegungstheorie – Nationales Recht 33 – Völkerrecht 34 ff., 48, 55 f., 58 f., 78 f. Subventionen 110 f. Systematische Auslegung 49 ff., 218 ff. – Auslegungsvermutungen 50, 228 ff. – Kontextermittlung 247 ff., 264 ff. – Norminterner Zusammenhang 221 ff. – Sinnzusammenhang 50, 75, 221 ff. – Syntaktischer Zusammenhang 49 f., 75, 219 ff. – Vertragsinterner Zusammenhang 224 ff. – Vertragsübergreifender Zusammenhang 226 ff. tariffs only-Maxime 105 TBT 106 f. – Art. 2.4 189 f., 413 f. Technical Barriers to Trade siehe TBT

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Teleologische Auslegung 51 ff., 75, 268 ff. – Expansive Wirkung 54, 295 ff. – Gesamtziel 51 – Normzweck 268 ff. – Teilziel 51 – Textorientierung 52, 286 f. – Vertragszweck 271 ff. – Zielermittlung 52 f., 276 ff. Teleologische Auslegungstheorie 41 f. Textilhandel siehe Übereinkommen über Textilwaren und Bekleidung Thailand – Anti-Dumping Duties on Angles, Shapes and Sections of Iron or Non-Alloy Steel and H-Beams from Poland, WT/DS122/AB/R 174, 258 ff. Traktorenfall siehe Italian Discrimination against Imported Agricultural Machinery travaux préparatoires siehe auch Historische Auslegung 34, 42, 57 ff., 76 TRIPS 117 ff. – Art. 33 178, 225, 239 f., 258 – Art. 62.2 258 – Art. 70.1 223 f., 272 f., 279, 295, 318 f., 357 ff. – Art. 70.2 225, 228, 239 f., 321 f., 357 ff. – Art. 70.8 277 f., 289, 405 f. Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen siehe SPS Übereinkommen über die Landwirtschaft – Art. 1(e) 188 f. – Art. 4.2 333 f. – Art. 9.1 176 f., 240 ff., 404 f., 406 f. Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des geistigen Eigentums siehe TRIPS

Übereinkommen über Schutzmaßnahmen 112 ff. – Art. 2.1 186 f., 229 f. – Art. 2.2 230 – Art. 4.2 186 f., 292 – Art. 5.1 359 ff. – Art. 12.2 229, 281 f., 292, 300 ff. Übereinkommen über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen 110 f., 283 f. – Anhang I Buchstabe k 313 f. – Art. 1.1 174 f., 219 f., 222, 224 f., 233 f. – Art. 3.1(a) 188 f. – Art. 3.1(b) 226 f., 233, 236 f. – Art. 14 224 f. – Art. 25.3 256 f. – Art. 27.4 256 f. – Art. 32.3 273 ff., 371 ff., 409 ff. Übereinkommen über technische Handelshemmnisse siehe TBT Übereinkommen über Textilwaren und Bekleidung 106 – Art. 6.10 185, 226, 234, 238 f., 252 f., 316 f., 332 f., 362 ff. Umkehrschluß 69, 233 ff. Umstände des Vertragsschlusses siehe auch Historische Auslegung 58 United States – Anti-Dumping Act of 1916, WT/DS136/AB/R 389 f., 396 United States – Anti-Dumping Measures on Certain Hot-rolled Steel Products from Japan, WT/DS184/AB/R 187 f., 242 ff. United States – Countervailing Duties on Certain Certain Corrosion-Resistant Carbon Steel Flat Products from Germany, WT/DS213/AB/R 283 f. United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Circular Welded Carbon Quality Line Pipe from Korea, WT/DS202/AB/R 359 ff., 395

Sachverzeichnis United States – Definitive Safeguard Measures on Imports of Wheat Gluten from the European Communities, WT/DS166/AB/R 229 f. United States – Import Measures on Certain Products from the European Communities, WT/DS165/AB/R 169 United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R 190 ff., 213 ff., 284, 328 f., 350 ff., 369 f., 386 United States – Income Tax Legislation (DISC), BISD 23S/98 161 United States – Measures Affecting Imports of Woven Wool Shirts and Blouses from India, WT/DS33/AB/ R 271 f., 279 United States – Restrictions on Imports of Cotton and Man-made Fibre Underwear, WT/DS24/AB/R 184 f., 226, 234, 238 f., 252 f., 316 f., 332 f., 361 ff. United States – Section 337 of the Tariff Act 1930, BISD 36S/345 285 United States – Standards for Reformulated Gasoline, WT/DS2/AB/R 153 f., 172 ff., 255 f., 282 f., 312 f., 315 f., 322, 326 f. United States – Tax Treatment for Foreign Sales Corporations, WT/DS108/ AB/R 188 f., 404 f., 406 ff. United States – Transitional Safeguard Measure on Combed Cotton Yarn from Pakistan, WT/DS192/AB/R 360 f. Uruguay-Runde 97 ut res magis valeat quam pereat siehe Effektivitätsprinzip Völkergewohnheitsrecht als Erkenntnisquelle 60 f., 348 ff. Völkerrechtliche Verträge als Erkenntnisquelle 61 ff., 181 ff., 335 ff. Vorsorgeprinzip 348 ff.

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Waiver 111 f., 124, 346 Welthandelsorganisation siehe WTO Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK) – Art 19 ff. 342 – Art. 28 357 ff. – Art. 31 Abs. 1 74 f., 154 – Art. 31 Abs. 2 75 f. – Art. 31 Abs. 3 lit. a 76 – Art. 31 Abs. 3 lit. b 76 – Art. 31 Abs. 3 lit. c 76 f., 336 ff. – Art. 31 Abs. 4 77 – Art. 33 74 – Art. 34 62, 342 – Art. 40 65, 342, 344 – Art. 41 65, 342, 345 f. Wille der Vertragsparteien siehe Parteiwille Wortlautauslegung 47 ff., 75, 172 ff. – Eigendefinition 184 ff. – Bedeutungsübertragung 187 ff. – Bedeutungswandel 49, 57, 190 ff. – Rechtswörterbücher 176 ff. – Wörterbücher 48, 172 ff., 216 ff. WTO (Organisation) – Allgemeiner Rat 120 – Aufgaben 119 – Beschlußverfahren 123 f. – Dispute Settlement Body siehe DSB – Funktionen 119 – Ministerkonferenzen 119 f. – Organe 120 ff. – Sekretariat 121 f. – Überprüfung der Handelspolitik 119 – Völkerrechtssubjektivität 118 WTO-Übereinkommen (WTO) – Anhänge 98, 104 – Art. I 118 – Art. II.1 118 – Art. II.2 97, 203, 343 f. – Art. II.3 97, 119

450 – – – – – – – –

Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art. Art.

Sachverzeichnis III 119 f. IV 120 f., 122 f., 129, 384 VI 120, 122 VIII.1 118 IX 112, 120, 123 f., 169, 346 X 344 f. XVI.1 165 f., 287, 387 ff. XVI.3 112

– Art. XVI.5 203, 344, 345 f. – Präambel 100, 102 f., 192 Young Loan Arbitration 83 Zugeständnislisten 98 f. – Auslegung 182 ff. – GATS 115 ff. – GATT 104 f., 268 f., 382 f., 400 f.