Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge: Eine Darstellung der Auslegungsregeln unter Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung [1 ed.] 9783428557073, 9783428157075

Da völkerrechtliche Verträge in der Regel nicht nur in einer, sondern in mehreren Sprachen abgefasst sind, können sich b

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Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge: Eine Darstellung der Auslegungsregeln unter Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung [1 ed.]
 9783428557073, 9783428157075

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Schriften zum Völkerrecht Band 233

Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge Eine Darstellung der Auslegungsregeln unter Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung

Von

Benedikt Nehls

Duncker & Humblot · Berlin

BENEDIKT NEHLS

Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge

Schriften zum Völkerrecht Band 233

Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge Eine Darstellung der Auslegungsregeln unter Berücksichtigung ihrer historischen Entwicklung

Von

Benedikt Nehls

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Wintersemester 2018/2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D29 Alle Rechte vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-15707-5 (Print) ISBN 978-3-428-55707-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-85707-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2018/2019 vom Fach­ bereich Rechtswissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg als Dissertation angenommen. Für die Druckfassung konnte rele­ vante Literatur bis Dezember 2018 berücksichtigt werden. Das Entstehen dieser Arbeit wurde von zahlreichen Personen begleitet, die mich während der Zeit der Niederschrift sowie dem nachfolgenden Verfahren unterstützt und so maßgeblich zum erfolgreichen Abschluss dieses Projekts beigetragen haben. Auch wenn die Danksagung in einem solchen Vorwort stereotypisch erscheinen mag und keine Verschriftlichung der eigenen ge­ danklichen Dankbarkeit sein kann, ändert es nichts daran, dass ich es den­ noch aufrichtig mit gutem Willen versuchen und wenigstens einige Personen namentlich würdigen möchte. Mein Dank gilt zunächst meinem Doktorvater Herrn Professor Dr. Bernd Mertens, der es mir angeboten bzw. ermöglicht hatte, an seinem Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Deutsche und Europäische Rechtsgeschichte eine völkerrechtsdogmatische Arbeit (mit rechtshistorischem Einschlag) unter seiner Betreuung in relativ kurzer Zeit von etwa eineinhalb Jahren zu verfas­ sen. Die insoweit ausgezeichneten Forschungsbedingungen an seinem Lehr­ stuhl sowie das zügig erstellte Erstgutachten haben hierzu maßgeblich beige­ tragen und ohne das entgegengebrachte Vertrauen seit meinem dritten Studi­ ensemester im Wintersemester 2012/2013 würde es die vorliegende Arbeit heute nicht geben. In angenehmer Erinnerung wird mir schließlich auch seine Ermutigung und Unterstützung hinsichtlich meiner Entscheidung zur Auf­ nahme bzw. Bewerbung zum LL.M.-Studium „International Criminal Law“ am Irish Centre for Human Rights an der National University of Ireland, Galway, verbleiben. Danken möchte ich darüber hinaus meinem Zweitgutachter Herrn Profes­ sor Dr. Markus Krajewski, der mein akademisches Interesse am Völkerrecht durch seine Lehrveranstaltungen im Schwerpunktbereich geweckt und meine Art juristischen Denkens stark geprägt hat. Ohne die von ihm vermittelte völkerrechtliche Vorbildung hätte ich dieses Dissertationsthema vermutlich mit einer deutlich ungünstigeren fachlichen Ausgangsbasis angetreten. Di­ verse wertvolle Hinweise im Zweitgutachten habe ich für die Fertigstellung der Druckfassung dankbar aufgegriffen.

4 Vorwort

Schließlich gilt mein Dank als weiterem Mitglied der Prüfungskommission Herrn Professor Dr. Andreas Funke für seine kritischen Anregungen in der mündlichen Doktorprüfung sowie Herrn Dr. Kevin Pike für die Durchsicht der englischsprachigen Thesen. Besonderer Dank gilt zuletzt meinen Eltern, Großeltern, Geschwistern und Freunden – hinsichtlich Letzteren werde ich mich auf ein paar Namen be­ schränken müssen. Namentlich erwähnen möchte ich insbesondere meine früheren Lehrstuhlkollegen Dr. Sascha Giller und Sven Seeger für den wert­ vollen fachlichen Austausch in zahlreichen Kaffeepausen, sowie außerdem meine NUIG-Kommilitonin Lara Patricia Klose die im Oktober 2018 in Galway zur Vorbereitung auf meine mündliche Doktorprüfung mit großer Geduld meine Ausschweifungen zur Auslegung mehrsprachiger völkerrecht­ licher Verträge tapfer ertragen und wertvolles Feedback gegeben hat. Hiervon ungeachtet bin ich allen anderen namentlich Nichtgenannten zutiefst dankbar für die gemeinsam verbrachte wunderbare Zeit, die mir auch immer wieder den teils erforderlichen Abstand zur Dissertation gegeben hat. Ohne meine Eltern, auf deren Unterstützung ich mich während meiner gesamten Ausbil­ dung uneingeschränkt verlassen konnte, wäre indes an die Inangriffnahme und den erfolgreichen Abschluss eines solchen Vorhabens von Vornherein nicht zu denken gewesen. Ihre unerschütterliche Zuversicht und ihr Zuspruch hinsichtlich der Bewältigung des Dissertationsprojektes und zukünftiger He­ rausforderungen bedeuten mir mehr als alles andere. Galway, im Frühjahr 2019

Benedikt Nehls

Inhaltsübersicht 1. Teil

Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential im Völkerrecht 

23

A. Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Der gegenwärtige Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Mehrsprachigkeit als Problemstellungbei der Ausarbeitung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Historische Entwicklung der Sprachen in der Diplomatie . . . . . . . . . . . . 31 II. Festlegung der authentischen Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger Verträge als Schnittbereich der allgemeinen Hermeneutik und der Jurisprudenz 

46

A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Einordnung verschiedensprachiger Vertragstexte bei der Auslegung . . . . 50 II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 B. Die Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen . . . . . I. Auslegungsregeln mit Bezügen zur völkerrechtlichen Rechtspraxis . . . . . II. Völkerrechtswissenschaftlich geprägte Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . III. Das Verhältnis der besonderen Auslegungsregeln von mehrsprachigen Verträgen zu allgemeinen Auslegungsgrundsätzen im Völkerrecht – Alte Regeln in neuem Gewande? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

60 61 179 190

C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 3. Teil

Die Bedeutung von Art. 33 WVK für die Auslegung mehrsprachiger Verträge 

195

A. Die Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 I. Die Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Die Auslegung von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

6 Inhaltsübersicht III. Das Verhältnis völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln zu Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 B. Der Wert von Art. 33 WVK als Auslegungsvorschrift für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger Verträge im Lichte der Fragmentierung des Völkerrechts 

250

A. Die Fragmentierung des Völkerrechts und die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 I. Der Begriff der Fragmentierung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 II. Die Auswirkung der Fragmentierung des Völkerrechts auf die Aus­ legung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . 258 I. Die dynamische Auslegung menschenrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . 259 II. Das Prinzip der progressiven Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge . . . . . . . 269 I. Die Vertragsauslegung durch den WTO Appellate Body . . . . . . . . . . . . . 269 II. Die Auslegung bilateraler Investitionsschutzverträge . . . . . . . . . . . . . . . . 274 D. Schlussfolgerungen aus der Fragmentierung des Völkerrechts für die Aus­ legung mehrsprachiger v ­ ölkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland 

279

A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes . . . . . . . . . . . . . . . . 279 I. Die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit der Wiener Vertrags­ rechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 II. Die Anwendbarkeit der Arbeitssprachenregel auf innerstaatlicher Ebene . 286 B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte als Herausforderung für den innerstaatlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 I. Die unvermeidbare Konfrontation des innerstaatlichen R ­ ichters mit fremdsprachigen Vertragstexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 II. Mögliche Lösungsansätze zur Bewältigung linguistischer Herausforde­ rungen bei der Auslegung f­remdsprachiger authentischer Vertragstexte  . 296 III. Zusammenfassung der Erkenntnisse zur Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Inhaltsübersicht7 6. Teil

Schlussteil und Ausblick: Das Spannungsfeld von Jurisprudenz und Fremdsprachenkompetenz 

305

A. Neubewertung der Fremdsprachenkompetenz als unabdingbare ­Qualifikation des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 B. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 C. Summarizing Theses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Inhaltsverzeichnis 1. Teil

Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential im Völkerrecht 

23

A. Einführung in die Thematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Der gegenwärtige Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Mehrsprachigkeit als Problemstellungbei der Ausarbeitung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Entwicklung der Sprachen in der Diplomatie . . . . . . . . . . . . II. Festlegung der authentischen Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klassifizierung von völkerrechtlichen Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Erste Ansätze der Klassifizierung völkerrechtlicher Verträge . . . . . b) Differenzierung nach Sachgebieten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bilaterale und multilaterale Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Folgen für die Redaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bilaterale Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Multilaterale Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29 31 35 36 37 37 38 39 40 43

2. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger Verträge als Schnittbereich der allgemeinen Hermeneutik und der Jurisprudenz 

A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einordnung verschiedensprachiger Vertragstexte bei der Auslegung . . . . 1. Divergenzen zwischen authentischem und offiziellem Text . . . . . . . . . 2. Divergenzen zwischen authentischem Text und amtlicher Überset­ zung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Divergenzen zwischen authentischem Text und nationalem Umset­ zungsgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Divergenzen zwischen authentischen Texten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erscheinungsformen von Textdivergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46 46 50 51 54 55 58 58 60

B. Die Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen . . . . . 60 I. Auslegungsregeln mit Bezügen zur völkerrechtlichen Rechtspraxis . . . . . 61

10 Inhaltsverzeichnis 1. Die Gleichwertigkeitsregel als zentraler Auslegungsgrundsatz . . . . . . 61 a) Die historische Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 aa) Ansätze in der außereuropäischen und interkontinentalen zwischenstaatlichen Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (1) Praxis der Vereinigten Staaten von Amerika . . . . . . . . . . . 66 (a) Rechtsprechung des US Supreme Court . . . . . . . . . . . 68 (b) Aufgreifen der Gleichwertigkeitsregel im anglo­ amerikanischen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 (2) Europäisch-südasiatische Vertragspraxis . . . . . . . . . . . . . . 74 (3) Mehrsprachige Verträge mit lateinamerikanischen ­Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 (4) Mehrsprachige Verträge mit afrikanischen Staaten . . . . . . 80 (5) Fazit zur interkontinentalen zwischenstaatlichen Rechts­ praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Die Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel in Kontinental­ europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 (1) Die Gleichwertigkeitsregel vor dem Versailler Vertrag . . . 83 (2) Die Gleichwertigkeitsregel nach dem Versailler Vertrag  . 87 cc) Die Harvard Draft Convention on the Law of Treaties . . . . . . 90 b) Folgen für die Bewertung der völkerrechtlichen Relevanz . . . . . . . 92 c) Bedeutung der Gleichwertigkeitsregel für die Auslegung mehr­ sprachiger völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 aa) Rückbindung der Gleichwertigkeitsregel an die allgemeinen Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 bb) Einfluss der Gleichwertigkeitsregel auf die Arbeitssprachen­ regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 2. Die Arbeitssprachenregel als wichtigster Gegenpol zur gleichwerti­ gen Betrachtung der Vertragstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 a) Die Arbeitssprachenregel in der völkerrechtlichen Rechtspraxis  . 98 aa) Rechtsprechung internationaler Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (1) Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichts­ hofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (a) Das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten . . . . . . . 100 (b) Das Gutachten zum Vertrag von Lausanne vom 30.01.1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 (c) Das Gutachten zur Nachtarbeit von Frauen . . . . . . . . 103 (2) Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs . . . . . . . 105 (a) Das LaGrand-Urteil vom 27.06.2001 . . . . . . . . . . . . . 106 (b) Weitere Rechtsprechung des Internationalen ­Gerichtshofs mit Bezugnahme auf den Originaltext . 110 (3) Schiedsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 bb) Rechtsprechung nationaler Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Nachweisbarkeit der Arbeitssprachenregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

Inhaltsverzeichnis11 aa) Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 bb) Allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Dogmatische Vor- und Nachteile der Arbeitssprachenregel . . . . . . 121 aa) Ermittlung des Urtextes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Die Arbeit mit Präsumtionen als zulässige Methode? . . . . . . . 123 3. Die Klarheitsregel als besondere Ausprägung der Arbeitssprachen­ regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Die Klarheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem . . . . 125 aa) Nachweise in der internationalen Rechtsprechung . . . . . . . . . . 125 bb) Nachweise in der nationalen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . 128 cc) Nachweise im völkerrechtlichen Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . 131 dd) Schlussfolgerungen für die Einordnung im Rechtsquellen­ system . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Die dogmatischen Schwächen der Klarheitsregel . . . . . . . . . . . . . . 134 4. Die Gemeinsamer-Nenner-Regel – Der Übergang vom Supremats­ verständnis zur harmonisierenden Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Die Gemeinsamer-Nenner-Regel im völkerrechtlichen Rechts­ quellensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 aa) Das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Die Draft-Articles zur Vertragsauslegung der 7. Internatio­ nalen Konferenz der Amerikanischen Staaten . . . . . . . . . . . . . 138 cc) Die Harvard Draft Convention on the Law of Treaties . . . . . . 140 dd) Der Schiedsspruch im Flegenheimer Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 ee) Rezeption der Gemeinsamer-Nenner-Regel im völkerrecht­ lichen Schrifttum und durch die International Law Commis­ sion  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 ff) Schlussfolgerungen für die Einordnung im Rechtsquellen­ system . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 b) Die dogmatischen Schwächen der Gemeinsamer-Nenner-Regel  . 145 5. Die Ausgewogenheitsregel – Der Versuch der Realisierung des Reziprozitätsgedankens bei mehrsprachigen Verträgen  . . . . . . . . . . . . 147 a) Der Ursprung der Ausgewogenheitsregel und seine Anwendung in der Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 b) Die Fiktion des ausgeglichenen Vertragsverhältnisses  . . . . . . . . . . 151 6. Die Einheitsregel als bedeutsame Vermutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 a) Die Einheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem . . . . . 154 aa) Die historische Entwicklung der Einheitsregel im völker­ rechtlichen Rechtsquellensystem  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 (1) Das Urteil des Supreme Court im Fall United States v. Percheman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (2) Das Urteil des Supreme Court im Fall United States v. Arredondo and others . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (3) Das Urteil des Court of Appeals of Alaska im Fall Busby v. State . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

12 Inhaltsverzeichnis bb) Schlussfolgerungen für die Einordnung als völkergewohn­ heitsrechtliche Auslegungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Die konzeptionelle Nähe zur Gleichwertigkeitsregel . . . . . . . . . . . 159 c) Auswirkungen der Einheitsregel auf den Auslegungsprozess . . . . . 160 aa) Die Berechtigung des Verlassens auf einen authentischen Vertragstext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 bb) Die Notwendigkeit des sprachlichen Vergleichs der Vertrags­ texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 cc) Die Möglichkeit des Auseinanderdriftens des Sinns der ­Vertragstexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 7. Die Kontextregel – Der Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte als völkergewohnheitsrechtliche Pflicht des Rechts­ anwenders? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 a) Die Kontextregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem . . . . . 168 aa) Der Begriff des Kontextes in der Wiener Vertragsrechts­ konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 bb) Die Kontextregel als völkergewohnheitsrechtliche Aus­ legungsregel für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge . . . 169 (1) Ältere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (2) Die Kontextregel in der Rechtsprechung des Interna­ tionalen Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 (a) Das Urteil im Fall Elettronica Sicula . . . . . . . . . . . . . 171 (b) Das Urteil im Fall Island and Maritime Frontier Dispute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 (c) Das Urteil im Fall LaGrand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (d) Das Urteil im Fall Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 cc) Einordnung als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungs­ regel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 b) Der irreführende Begriff der Kontextregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 II. Völkerrechtswissenschaftlich geprägte Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . 179 1. Die Einklangregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Die Günstigkeitsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 3. Die Belastetenregel als besondere Ausprägung des Auslegungs­ grundsatzes verba ambigua accipiuntur contra proferentem für mehrsprachige Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 4. Die Bezugsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 5. Die Landessprachenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 6. Die Gerichtssprachenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 7. Die Mehrheitsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 8. Die kombinatorische Anwendung der Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . 189 III. Das Verhältnis der besonderen Auslegungsregeln von mehrsprachigen Verträgen zu allgemeinen Auslegungsgrundsätzen im Völkerrecht – Alte Regeln in neuem Gewande? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 C. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

Inhaltsverzeichnis13 3. Teil

Die Bedeutung von Art. 33 WVK für die Auslegung mehrsprachiger Verträge 

195

A. Die Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 I. Die Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 1. Der dritte Bericht zum Völkervertragsrecht von Spezialbericht­ erstatter Sir Humphrey Waldock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 a) Art. 74 – Treaties drawn up in two or more languages . . . . . . . . . 198 b) Art. 75 – Interpretation of treaties having two or more texts or versions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Die Rezeption des vorgelegten Berichts von Waldock in der International Law Commission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 aa) 765. Sitzung der International Law Commission . . . . . . . . . . . 205 bb) 767. Sitzung der International Law Commission . . . . . . . . . . . 207 cc) Änderungen an Art. 74, 75 durch das Drafting Committee . . . 208 d) Reaktionen aus der Staatengemeinschaft auf den überarbeiteten Entwurf von 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2. Der sechste Bericht zum Völkervertragsrecht von Waldock . . . . . . . . . 212 a) „Text“ oder „version“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 b) Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder zum sechsten Bericht zum Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Der finale Entwurf an die Generalversammlung von 1966 . . . . . . . . . 216 4. Die Wiener Vertragsrechtskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 a) Anmerkungen und Änderungsvorschläge der Staaten . . . . . . . . . . . 218 b) Letzte redaktionelle Überarbeitung durch das Drafting ­Committee und Renummerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 II. Die Auslegung von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Die Normstruktur von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 a) Art. 33 Abs. 1 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 b) Art. 33 Abs. 2 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Art. 33 Abs. 3 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 d) Art. 33 Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 2. Das Verhältnis von Art. 33 WVK zu den allgemeinen Auslegungs­ vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Die Bedeutung von Art. 31, 32 WVK bei der Auflösung von Textdivergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 b) Die Frage der Redundanz der Verweisung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3. Auslegungsfragen bei Art. 33 Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Der Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte im norma­ tiven System von Art. 33 Abs. 3 und Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . 230 aa) Stellungnahmen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

14 Inhaltsverzeichnis bb) Der Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte in der Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgen für die Bestimmung des Zeitpunkts des Text­ vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Begriff der reconciliation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die wiederholte Bezugnahme auf „object and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Verhältnis völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln zu Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 33 WVK zwischen Kodifizierung bestehenden Völkergewohn­ heitsrechts und progressiver Fortentwicklung des Völkervertrags­ rechts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Frage der Fortgeltung der Arbeitssprachenregel . . . . . . . . . . . . . . a) Die Auflösung einer Kollision der Völkerrechtsquellen in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die eingeschränkte Bedeutung der Arbeitssprachenregel als ­völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel neben Art. 33 WVK  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232 236 237 240 242 243 244 245 246

B. Der Wert von Art. 33 WVK als Auslegungsvorschrift für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 4. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger Verträge im Lichte der Fragmentierung des Völkerrechts 

A. Die Fragmentierung des Völkerrechts und die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Begriff der Fragmentierung des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Auswirkung der Fragmentierung des Völkerrechts auf die Aus­ legung völkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Daseinsberechtigung und Erklärung für unterschiedliche Aus­ legungsmaßstäbe in Teilrechtsgebieten des Völkerrechts . . . . . . . . . . . 2. Potentielle Auswirkungen auf die Auslegung mehrsprachiger ­Verträge  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . I. Die dynamische Auslegung menschenrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsprechung des EGMR mit Bezug zur Thematik der Mehr­ sprachigkeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Übertragbarkeit der dynamischen Auslegung auf mehrsprachige völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Prinzip der progressiven Realisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250

251 251 252 253 256 258 259 262 263 265

Inhaltsverzeichnis15 1. Auflösung von Textdivergenzen bei kulturellen Menschenrechten am Beispiel des Rechts auf Bildung nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 a) Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.04.2009 . . . . . 266 b) Kritik am methodischen Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts  . 266 2. Folgen der progressiven Realisierung für die Auslegung von Art. 33 WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge . . . . . . . I. Die Vertragsauslegung durch den WTO Appellate Body . . . . . . . . . . . . . 1. Die Frage der Existenz besonderer Auslegungsmaßstäbe im WTO-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Rolle des Textvergleichs bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge in der Rechtsprechung des Appellate Body . . . . . . . . . . . . . . II. Die Auslegung bilateraler Investitionsschutzverträge . . . . . . . . . . . . . . . .

269 269 270 272 274

D. Schlussfolgerungen aus der Fragmentierung des Völkerrechts für die Aus­ legung mehrsprachiger v ­ ölkerrechtlicher Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 5. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland 

279

A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes . . . . . . . . . . . . . . . . 279 I. Die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit der Wiener Vertrags­ rechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 1. Die Einbeziehung von Völkervertragsrecht in das innerstaatliche Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 2. Unmittelbare Anwendbarkeit der Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention und ihre Auswirkungen auf die Ermittlung des innerstaatlich verbindlichen Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 II. Die Anwendbarkeit der Arbeitssprachenregel auf innerstaatlicher Ebene . 286 1. Geltung nach Art. 25 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2. Nachweisbarkeit gem. Art. 100 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte als Herausforderung für den innerstaatlichen Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 I. Die unvermeidbare Konfrontation des innerstaatlichen R ­ ichters mit fremdsprachigen Vertragstexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 1. Auswirkungen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs  . . . . . . . . . . . 291 a) Verfassungsrechtliche Grundlage des Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . 291 b) Einfachrechtliche Ausprägung am Beispiel des § 108 Abs. 2 VwGO und prozessrechtliche Konsequenzen der Gehörsverlet­ zung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 2. Der Wandel in der Zugriffsmöglichkeit auf fremdsprachige Vertrags­ texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

16 Inhaltsverzeichnis II. Mögliche Lösungsansätze zur Bewältigung linguistischer Herausforde­ rungen bei der Auslegung f­remdsprachiger authentischer Vertragstexte  . 296 1. Die Bedeutung der Verwendung von Wörterbüchern . . . . . . . . . . . . . . 296 2. Die Frage der analogen Anwendung von § 293 ZPO . . . . . . . . . . . . . . 298 III. Zusammenfassung der Erkenntnisse zur Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6. Teil

Schlussteil und Ausblick: Das Spannungsfeld von Jurisprudenz und Fremdsprachenkompetenz 

305

A. Neubewertung der Fremdsprachenkompetenz als unabdingbare Qualifika­ tion des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 B. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 C. Summarizing Theses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

Abkürzungsverzeichnis a. A.

andere Ansicht

Abs. Absatz Advoc. Q.

Advocates Quarterly

a. E.

am Ende

AJIL

American Journal of International Law

AJIL Special Sup.

American Journal of International Law Special Supplement

AJIL Sup.

American Journal of International Law Supplement

AMRK

Amerikanische Menschenrechtskonvention

Appl. No.

Application Number

ARSP

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie

Art. Artikel ASIL Proceedings

Proceedings of the American Society of International Law

A.T.S.

Australian Treaty Series

AVR

Archiv des Völkerrechts

Bd. Band BeckOK

Beck’scher Onlinekommentar

BerDGesVölkR

Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht

BFH Bundesfinanzhof BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHZ

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen

BIT

Bilateral Investment Treaty

BSG Bundessozialgericht B.T.R.

British Tax Review

Buchst. Buchstabe B. v.

Beschluss vom

BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerwG Bundesverwaltungsgericht BYIL

British Yearbook of International Law

C.A.

Quebec Official Reports, Court of Appeal

18 Abkürzungsverzeichnis CED

Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance CEDAW Convention on the Elimination of Discrimination against Women CESCR Committee on Economic, Social and Cultural Rights Ch. civ. Chambre civile Chinese J. Int’l L. Chinese Journal of International Law Columb. L. Rev. Columbia Law Review CRC Committee on the Rights of the Child C.S. Quebec Official Reports, Superior Court ders. derselbe Diss. Dissertation DRiG Deutsches Richtergesetz DSU Dispute Settlement Understanding Duke L. J. Duke Law Journal DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EFG Entscheidungen der Finanzgerichte EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EJIL European Journal of International Law EL Ergänzungslieferung EMRK Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfrei­ heiten EPL European Public Law EuGH Gerichtshof der Europäischen Union Eur. J. Legal Stud. European Journal of Legal Studies F.2d Federal Reporter FG Festgabe FGO Finanzgerichtsordnung Fn. Fußnote FS Festschrift FYBIL Finnish Yearbook of International Law Ga. J. Int’l & Georgia Journal of International and Comparative Law   Comp. L. GA Res. General Assembly Resolution GATS General Agreement on Trade in Services GATT General Agreement on Tariffs and Trade GC Grand Chamber GG Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland GVG Gerichtsverfassungsgesetz

Abkürzungsverzeichnis19 GYIL

German Yearbook of International Law

Harv. Int’l L. J.

Harvard International Law Journal

Hastings Int’l &   Comp. L. Rev.

Hastings International and Comparative Law Review

HRC

Human Rights Committee

Hrsg. Herausgeber IAGMR

Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte

I.C.J. Reports

International Court of Justice. Reports of Judgments, Advi­ sory Opinions and Orders

ICLQ

International and Comparative Law Quarterly

ICSID

International Centre for Settlement of Investment Disputes

ICTR

International Criminal Tribunal for Rwanda

ICTY

International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia

IGH

Internationaler Gerichtshof

IGH-Statut

Statut des Internationalen Gerichtshofs

ILC

International Law Commission

ILO

International Labour Organization

ILR

International Law Reports

Indian Y.B.   Int’l Aff.

Indian Yearbook of International Affairs

IPwskR

Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kultu­ relle Rechte

i. S. d.

im Sinne des

i. S. v.

im Sinne von

ITLOS

International Tribunal for the Law of Sea

J. Afr. Hist.

Journal of African History

J. Dr. Int’l

Journal de Droit International

JIDS

Journal of International Dispute Settlement

J. Legal. Educ.

Journal of Legal Education

Jura

Juristische Ausbildung

JZ Juristenzeitung K.B.

King’s Bench

LJIL

Leiden Journal of International Law

L.N.T.S.

League of Nations Treaty Series

Loy. LA. Int’l &   Comp. L. Rev.

Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Review

Melb. J. Int’l L.

Melbourne Journal of International Law

Mich. J. Int’l L.

Michigan Journal of International Law

MPEPIL

Max Planck Encyclopedia of Public International Law

20 Abkürzungsverzeichnis MünchKommZPO

Münchener Kommentar zur Zivilprozessordnung

m. w. N.

mit weiteren Nachweis(en)

NILR

Netherlands International Law Review

N.N.

Nomen nominandum

No. Number Nord. J. Int’l L.

Nordic Journal of International Law

NVwZ

Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht

NYIL

Netherlands Yearbook of International Law

Ocean Dev. &   Int’l L.

Ocean Development and International Law

ÖstZöffR

Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völker­ recht

Ottawa L. Rev.

Ottawa Law Review

OVG Oberverwaltungsgericht P.3d

West’s Pacific Reporter

Penn St. Int’l L. Rev. Penn State International Law Review Polish Y.B. Int’l L.

Polish Yearbook of International Law

RabelsZ

Rabels Zeitschrift für Ausländisches und Internationales Pri­ vatrecht

RdC

Recueil des Cours de l’Académie de Droit International de la Haye

Rep. Int’l Arb.  Awards

Reports of International Arbitral Awards

Rev. quebecoise   de droit int’l

Revue quebecoise de droit international

Rn. Randnummer Rs. Rechtssache RW Rechtswissenschaft SALT

Strategic Arms Limitation Talks

S.D.N.Y.

US District Court for the Southern District of New York

Sec. Section SG Sozialgericht SGG Sozialgerichtsgesetz Stan. L. Rev.

Stanford Law Review

Stat.

United States Statutes at Large

StIGH

Ständiger Internationaler Gerichtshof

St. Rspr.

Ständige Rechtsprechung

SUR-Int’l J.   on Hum RTS

SUR-International Journal on Human Rights

Abkürzungsverzeichnis21 T.A.M. Tex. Int’l L. J. Tex. L. R. Trib. Civ. TRIPS

Recueil des décisions des tribunaux arbitraux mixtes Texas International Law Journal Texas Law Review Tribunal Civil Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights Tul. L. Rev. Tulane Law Review u. a. und andere/unter anderem UNCLOS United Nations Convention on the Law of the Sea UN-KRK Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen U.N.T.S. United Nations Treaty Series U. Pa. L. Rev. University of Pennsylvania Law Review U.S. Reports United States Reports U. Toronto L. J. University of Toronto Law Journal U. v. Urteil vom Va. J. Int’l L. Virginia Journal of International Law Vand. J. Transnat’l L. Vanderbilt Journal of Transnational Law VCLT Vienna Convention on the Law of Treaties VG Verwaltungsgericht vgl. vergleiche Vol. Volume VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WTO World Trade Organization WÜK Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen WVK Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge Yale Std. Wld. Yale Studies in World Public Order   Pub. Ord. YLJ Yale Law Journal ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völker­ recht ZNR Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte ZöR Zeitschrift für öffentliches Recht ZPO Zivilprozessordnung ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZVglRWiss Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft

1. Teil

Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential im Völkerrecht A. Einführung in die Thematik „Les mots n’ont pas de signification intrinsèque: leur sens est celui qu’on leur donne dans tel milieu à telle époque; de plus, chaque langue possède son genie propre, qui influe sur le choix des mots et sur l’ordonnance de la phrase.“1

Diese Ausführungen von Jean Hardy in seiner im Jahr 1960 erschienenen Dissertation zur Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge lassen deutlich werden, dass der Vorgang der Auslegung eines Vertrages mit einer irgendwie gearteten Vorstellung des Rechtsanwenders von einem Rechtsbe­ griff einhergeht – diese Vorstellung erst verleiht einem Wort die Konturen und die Bedeutung, welche mit diesem assoziiert wird.2 Diese Vorstellung entsteht jedoch ihrerseits nicht aus sich selbst heraus, sie setzt einen weiteren inneren Vorgang voraus: Hans Kelsen spricht hier etwa von einem reinen Erkennen,3 welches jedoch aufgrund mangelnder Eindeutigkeit des Sprach­ sinnes einer Rechtsnorm zu einem unterschiedlichen Ergebnis führen kann.4 Divergierende Deutungen eines (angeblich) eindeutig festgelegten Begriffes sind damit auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Auslegung eines jeden Wortes mit Sprachverständnis zu tun hat.5 Ein unterschiedliches Sprachverständnis wird in der Regel zu der unter­ schiedlichen Auslegung eines Begriffes führen. Dies kann sich bereits bei ei­ nem Gesetz oder einem Vertrag zeigen, welcher nur in einer verbindlichen Sprachfassung abgefasst ist.6 Bei Gesetzen oder Verträgen mit mehreren ver­ 1  Hardy,

L’Interprétation (1960), S. 23. dazu Philbrick, Language (1949), S. 26; Probert, J. Legal Educ. 20 (1968), 253 (254); aus der frühen völkerrechtlichen Literatur bereits auch Vattel, Droit des Gens (1758), S. 469. 3  Kelsen, Rechtslehre (1960), S. 74 f.; ähnlich auch Vollmer, Auslegung (1990), S. 200. Berber, Völkerrecht (1975), S. 476, spricht von einem „spezifischen Erkennt­ nisverfahren“. 4  Kelsen, Rechtslehre (1960), S. 348 f. 5  Busse, Semantik (2010), S. 22. 6  Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 50. 2  Vgl.

24

1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

bindlichen Sprachfassungen potenziert sich – insbesondere im Hinblick auf die von Hardy angemerkten Eigenheiten, welche jeder Sprache innewohnen – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Tatbestandsmerkmal von verschiedensprachigen Rechtsanwendern mit unterschiedlichem Sprachverständnis unterschiedlich ausgelegt wird:7 Zahlreiche Streitfälle insbesondere bei der Auslegung mehr­ sprachiger völkerrechtlicher Verträge sind ein Zeugnis für die unterschiedliche Auslegung eines im Vorfeld gemeinsam festgelegten Vertragstextes. Meinungsverschiedenheiten in der Auslegung eines mehrsprachigen völ­ kerrechtlichen Vertrages sind nicht nur rein akademisch-juristischer Natur, sondern können konkrete machtpolitische Konsequenzen nach sich ziehen. Im Extremfall können die Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung einer in mehreren Sprachen verbindlichen Vertragsbestimmung sogar in ei­ nen bewaffneten Konflikt münden: So wird etwa angenommen, dass die Unsicherheiten über die Auslegung von Art. 17 des Vertrags von Uccialli zum italienisch-äthiopischen Krieg von 1896 geführt haben.8 Auch im modernen internationalen Abrüstungsrecht sowie im internationa­ len Seerecht sind Textdivergenzen zwischen den russischen und englischen Fassungen der relevanten Verträge (ABM-Vertrag, SALT-II, Art. 22 UNC­ LOS) bekannt.9 Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, im Falle der di­ vergierenden Auslegung eines mehrsprachigen Vertragsbegriffs durch die Vertragsparteien Auslegungsregeln verwenden zu können, welche die Mei­ nungsverschiedenheiten der Vertragsparteien über die Auslegung der streitge­ genständlichen Vertragsbestimmung entschärfen. Es ist bereits ein Gewinn, wenn Textdivergenzen zwischen authentischen Sprachfassungen in völkerrechtlichen Verträgen entdeckt werden. Dies ver­ langt jedoch nicht nur juristische Kompetenz, sondern vielmehr ein ausge­ feiltes Sprachverständnis, um die Bedeutungsunterschiede in den Sprachfas­ sungen erschließen zu können, sowie überhaupt die Bereitschaft, bei der Rechtsanwendung die verschiedenen Sprachfassungen regelmäßig verglei­ chend heranzuziehen.10 7  So auch Hilf, Verträge (1973), S. 22; Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (612). 8  Ausführlich Giglio, J. Afr. Hist. 6 (1965), 221 (224 ff.); zu dessen Auslegung Kuner, ICLQ 40 (1991), 952; Rousseau, Principes généraux (1944), S. 167 f.; Tabory, Multilingualism (1980), S. 5. 9  Dazu etwa Tuzmukhamedov, Polish Y.B. Int’l L. 21 (1994), 213 ff.; Wirth, Yale Std. Wld. Pub. Ord. 6 (1980), 429 ff.; zur Auslegung von Art. 22 UNCLOS – die unterschiedlichen Auffassungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion zur Auslegung dieser Norm hätten beinahe in einen bewaffneten Konflikt geführt – siehe Aceves, Ocean Dev. & Int’l L. 27 (1996), 187 (205 ff.). 10  Instruktiv ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung in einem aktuellen Urteil des Sozialgerichts Frankfurt zu einem deutsch-polnischen Sozialversicherungs­



A. Einführung in die Thematik25

Der Umgang mit entdeckten Textdivergenzen in authentischen Sprachfas­ sungen völkerrechtlicher Verträge stellt den Rechtsanwender vor mehrere Herausforderungen: In einem Rechtsstreit werden die streitenden Vertrags­ staaten in aller Regel darauf pochen, im „Recht zu sein“ und sich hierbei auf die für sie günstige Sprachfassung berufen, während der zuständige Spruch­ körper eine Entscheidung treffen muss, die auf eine irgendwie geartete Weise beide verbindliche Sprachfassungen berücksichtigen muss und nach der trotzdem eine der beiden streitenden Parteien unterliegen wird. Die hier vorliegende Arbeit versucht, diese Herausforderungen, mit denen der Rechtsanwender im Völkerrecht konfrontiert ist, dogmatisch zu durch­ dringen und systematisiert aufzubereiten.

I. Der gegenwärtige Forschungsstand Der Thematik der Mehrsprachigkeit im Völkervertragsrecht und der Aus­ legung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge ist bisher als solcher eher geringe Aufmerksamkeit gewidmet worden, wenn man dem die Vielzahl an Aufsätzen und Monographien zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge ge­ genüberstellt. So sucht man etwa in deutschsprachigen Lehrbüchern zum Völkerrecht teilweise vergebens11 und auch sonst eher mit bescheidenem Erfolg zu dieser Thematik.12 Nichtsdestotrotz sind in der Vergangenheit ei­ nige Monographien und längere Aufsätze erschienen, die sich mit mehrspra­ chigen völkerrechtlichen Verträgen befassen. Hervorzuheben sind insbesondere ältere Monographien, welche sich mit dem Phänomen der Mehrsprachigkeit in völkerrechtlichen Verträgen ausein­ andersetzen, zu nennen sind hier insbesondere Hardy13, Hilf14, Rest15 und abkommen, dass auch deshalb der authentische polnische Text des Abkommens her­ angezogen werden konnte, weil der Kammervorsitzende Kenntnisse in der polnischen Sprache und einen Magister im polnischen Recht hat, siehe SG Frankfurt, U. v. 01.03.2017 – S 29 R 530/16 –, juris, Rn. 38. Zu der Bereitschaft, generell verschie­ dene Sprachfassungen bei der Rechtsanwendung heranzuziehen, etwa Mertens, ZNR 2013, 157 (169). 11  Allgemein zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge Stein/von Buttlar/Kotzur, Völkerrecht (2017), § 7; von Arnauld, Völkerrecht (2016), § 3, Rn. 227 ff. 12  Kursorische Ausführungen zur Mehrsprachigkeit finden sich bei Vitzthum/ Proelß, Völkerrecht (2016), 1. Abschnitt Rn. 123; Heintschel von Heinegg, in: Ipsen, Völkerrecht (Hrsg. Epping/Heintschel von Heinegg) (2018), § 14 V; Herdegen, Völ­ kerrecht (2018), § 15, Rn. 30; Krajewski, Völkerrecht (2017), § 4, Rn. 86; Verdross/ Simma, Völkerrecht (1981), S. 396 f. 13  Hardy, L’Interprétation (1960). Ebenso zu erwähnen ist in diesem Zusammen­ hang der 83-seitige Aufsatz desselben Autors im BYIL 37 (1961), 72 ff., welcher die Auslegung mehrsprachiger Verträge durch internationale Gerichte zum Gegenstand hat und auf seiner Dissertation von 1960 aufbaut.

26

1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

Tabory16. Insbesondere die Dissertation von Hardy geht auch auf Ausle­ gungsfragen ein, denen im Hinblick auf ihren Zeitpunkt – die Wiener Ver­ tragsrechtskonvention von 1969 war noch nicht in Kraft getreten – besondere Relevanz für die vorliegende Arbeit zukommt. Auslegungsfragen zu mehr­ sprachigen völkerrechtlichen Verträgen werden etwa auch von Dölle17 und Mössner18 besprochen. Im Übrigen fällt auf, dass sich Abhandlungen zur Auslegung mehrsprachiger Verträge insbesondere auf Art. 33 WVK konzent­ rieren19 und nicht bzw. selten mit den dogmatischen Feinheiten bei der Auf­ lösung von Textdivergenzen auseinandersetzen. Auch in neueren Arbeiten wird eher kursorisch auf die historischen Auslegungsregeln und ihre Ent­ wicklung eingegangen, während stattdessen der Fokus auf die Auslegung und Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK gelegt wird.20 Zu konstatieren ist, dass (neuere) Abhandlungen, welche gezielt den Rechtscharakter der Auslegungsregeln in den Fokus nehmen und hierbei de­ ren historische Entwicklung nachzeichnen, kaum vorhanden sind. Dies gilt auch für die Aufbereitung der dogmatischen Stärken und Schwächen dieser Regeln. Soweit dies im älteren Schrifttum bereits im Ansatz geschehen ist, ist anzumerken, dass seitdem einige Zeit vergangen ist und sich damit die Gelegenheit bietet, zu untersuchen, inwieweit bei neueren Abkommen mit dem Problem der Mehrsprachigkeit umgegangen wird. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass im völkerrechtlichen Schrifttum die Thematik der Vertragsauslegung immer wieder unter neuen Gesichtspunkten diskutiert wird und teilweise neue Auslegungsprinzipien präsentiert werden.21 In diese Lücke soll die vorliegende Arbeit stoßen: eine dogmatische Durchdringung der Auflösung von Textdivergenzen bei mehrsprachigen völ­ kerrechtlichen Verträgen, welche nachzuzeichnen versucht, ob und falls ja, 14  Hilf,

Verträge (1973). Rechtsbegriffe (1971), S. 102 ff. 16  Tabory, Multilingualism (1980). 17  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (21 ff.). 18  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (281 ff.). 19  So insbesondere Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 231 ff.; Engelen, Tax Treaties (2004), S.  381 ff.; Gardiner, Interpretation (2015), S. 413 ff.; Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 ff.; Linderfalk, Interpretation (2010), S. 355 ff. 20  So etwa Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 224 ff., die einen Schwer­ punkt insbesondere auch bei der Entwicklung der Vertragssprachen setzt. 21  Als Beispiel siehe etwa nur das Symposium im European Journal of Internatio­ nal Law „The Interpretation of Treaties – A Re-examination“, Weiler, EJIL 21 (2010), 507; ähnlich Sullivan, Tex. L. R. 86 (2007–2008), 779 ff.; speziell zur Thematik der dynamischen Auslegung siehe etwa Bjorge, Evolutionary Interpretation (2014); Helmersen, Eur. J. Legal Stud. 6 (2013), 161 ff.; Van Alstine, U. Pa. L. Rev. 146 (1997– 1998), 687 ff. 15  Rest,



A. Einführung in die Thematik27

inwieweit der Wandel der Zeit auch einen Wandel in Auslegung und Metho­ dik nach sich zieht.

II. Gang der Darstellung Im nachfolgenden Teil soll zunächst erörtert werden, wie allgemein mit der Thematik der Mehrsprachigkeit in völkerrechtlichen Verträgen umgegan­ gen wurde. Hierzu wurde in Literatur und Rechtspraxis eine Vielzahl von Auslegungsregeln22 zur Auflösung von Textdivergenzen entwickelt.23 In die­ sem Zusammenhang soll untersucht werden, wie sich diese Regeln in der damaligen Rechtspraxis herausgebildet haben und inwieweit sie Niederschlag in der historischen Staatspraxis gefunden haben. Hiermit kann auch der Be­ antwortung der Frage nachgegangen werden, welche völkerrechtliche Rele­ vanz diesen Auslegungsregeln vor dem Inkrafttreten der Wiener Vertrags­ rechtskonvention zukam.24 Ziel dieses Teils ist eine Darstellung der Ausle­ gungsregeln zu mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen, die auch auf die von Mössner aufgeworfene Frage, inwiefern es überhaupt rechtlich verbind­ liche Interpretationsprinzipien für diesen Bereich geben könne,25 Antworten gibt. In dem darauffolgenden dritten Teil soll anschließend auf Art. 33 WVK eingegangen werden. Hierbei wird untersucht, inwieweit sich die im vorheri­ gen Teil dargestellten Auslegungsregeln völkervertraglich in der Wiener Vertragsrechtskonvention niedergeschlagen haben. Hierbei wird zunächst auf die Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK eingegangen. Im Anschluss hieran werden Auslegungsprobleme dieser Vorschrift thematisiert. Abschlie­ ßend wird geklärt, ob und in welchem Umfang Art. 33 WVK die Anwendung nicht kodifizierter Auslegungsregeln zulässt. Im vierten Teil werden die gefundenen Ergebnisse aus den vorstehenden Teilen einer Überprüfung anhand der Auslegung spezieller völkerrechtlicher 22  Betrachtet man den Auslegungsvorgang wie Kelsen als (reines) Erkennen, lässt sich durchaus die Frage aufwerfen, inwiefern es überhaupt Auslegungsregeln als Me­ thodenanweisung an den Rechtsanwender geben kann. Auf diese Thematik geht Vollmer, Auslegung (1990), S. 201 f., kritisch ein. Aus dem Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit soll diese Thematik jedoch ausgeklammert werden, da dies für den Be­ reich des Völkervertragsrechts eine eigene Arbeit erfordern würde. 23  Für einen Überblick siehe Mössner, AVR 15 (1972), 273 (281 ff.). 24  Für die Rechtspraxis und -wirklichkeit macht es einen erheblichen Unterschied, ob eine Auslegungsregel rein akademischer Natur oder eine verbindliche Rechtsregel ist. Allein aus diesem Grund soll daher analog wie bei Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 29 ff. die völkerrechtliche Relevanz dieser besonderen Regeln geklärt werden. 25  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (273). Für die Frage der Rechtsverbindlichkeit der Auslegungsregeln wird Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut maßgebend sein.

28

1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

Verträge unterzogen. Beleuchtet werden sollen hier multilaterale Verträge, die unter der Ägide internationaler Organisationen ausgearbeitet wurden; als rele­ vante Teilrechtsgebiete des Völkerrechts sind hier insbesondere der internati­ onale Menschenrechtsschutz und das Wirtschaftsvölkerrecht zu nennen. Ins­ besondere in Wissenschaft und Praxis dieser Rechtsgebiete wurden vielfach dogmatische Besonderheiten hinsichtlich der Auslegung von Verträgen in diesen Rechtsgebieten angemerkt und wahrgenommen, sodass kritisch der Frage nachgegangen werden muss, inwieweit die Auslegungsregeln für mehr­ sprachige völkerrechtliche Verträge (noch) eine in sich geschlossene dogmati­ sche Kohärenz abbilden können oder sich nicht doch spezielle Auslegungsre­ geln für Verträge aus diesen Rechtsgebieten herausgebildet haben, die auch auf die Thematik der Mehrsprachigkeit ausstrahlen.26 Kritisch hinterfragt werden soll hier insbesondere, inwieweit die dynamisch-evolutive Auslegung von Verträgen im internationalen Menschenrechtsschutz die Auflösung von Textdivergenzen mit beeinflussen kann. Gleiches gilt für die Doktrin der pro­ gressiven Realisierung im Bereich der kulturellen Menschenrechte (vgl. etwa Art. 2 IPwskR).27 Ziel dieses Teils ist es, diese bereits vielfach im Schrifttum 26  Dem wird die Hypothese zugrunde gelegt, dass die Auslegung völkerrechtlicher Verträge auch von deren Klassifizierung abhängen kann; die Ausführungen von Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 81 ff., werden als Vorbild angesehen. Für die Auslegung nach Vertragsart gibt es sowohl in Rechtsprechung als auch Literatur hinreichend Anhaltspunkte, aus der Rechtsprechung insbesondere ICTY, Appeals Chamber, Prosecutor v. Tadic, Jurisdiction, ILR 105 (1995), 419 (458): „International law, because it lacks a centralized structure, does not provide for an integrated judicial system operating an orderly division of labour among a number of tribunals, where certain aspects or components of jurisdiction as a power could be centralized or vested in one of them but not the others. In international law, every tribunal is a self-contained system (unless otherwise provided)“; zu internationalen Organisationen siehe IGH, Legality of the use by a State of nuclear weapons in armed conflict, Advisory Opi­ nion of 8 July 1996, I.C.J. Reports 1996, 66, § 19: „But the constituent instruments of international organizations are also treaties of a particular type; their object is to create new subjects of law endowed with a certain autonomy, to which the parties entrust the task of realizing common goals. Such treaties can raise specific problems of interpretation owing, inter alia, to their character which is conventional and at the same time institutional […].“ Aus der umfangreichen Literatur siehe etwa Brölmann, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 507 ff.; Fritzmaurice/Merkouris, in: Tams [et al.] (Hrsg.), Research Handbook (2014), S. 341 ff.; Ghouri, Chinese J. Int’l L. 11 (2012), 247 ff.; Herdegen, Völkerrecht (2018), § 5, Rn. 20 ff., § 15, Rn. 30; Letsas, EJIL 21 (2010), 509 (512; 532 ff.); McNair, Treaties (1961), S. 739 ff.; Mezger, Auslegung (1926), S. 40 f.; Mosler, Völkerrechtspraxis (1957), S. 26; Qualye, LJIL 29 (2016), 853 ff.; Waibel, in: Bianchi [et al.] (Hrsg.), Interpretation (2015), S. 147 ff.; ders., in: Research Handbook (2014), S. 388 ff.; kritisch zu dieser Vorgehensweise jedoch etwa Bjorge, in: Aust/ Nolte (Hrsg.), Domestic Courts (2016), S. 49 ff. 27  So bereits CESCR, General Comment No. 3 (1991), Rn. 9; die Doktrin der pro­ gressiven Realisierung wird zudem auch im Bereich der Kinderrechte vertreten, siehe



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung29

diskutierten Ansätze unter dem Blickwinkel der Mehrsprachigkeit (neu) zu beleuchten. Hieraus soll die Schlussfolgerung gewonnen werden, dass für die Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen als (neues) Pos­ tulat etwa eine progressiv-harmonisierende Auslegung möglich ist. Hierbei soll gezeigt werden, dass Art. 33 Abs. 4 WVK auch besondere, aus der Frag­ mentierung des Völkerrechts hervorgegangene spezielle Auslegungsmethoden auffangen kann. Hierbei wird das Tatbestandsmerkmal in Art. 33 Abs. 4 WVK „having regard to the object and purpose“ entscheidend sein.28 Eng verwoben zu dieser Fragestellung eines kohärenten Auslegungssystems bei Textdiver­ genzen mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge ist letztendlich die Diskus­ sion um die „Fragmentierung des Völkerrechts“29. Im letzten Teil dieser Arbeit wird auf die Implikationen der völkerrechtli­ chen Auslegungsregeln für mehrsprachige Verträge auf das nationale Recht eingegangen. Der Fokus liegt hierbei auf der Darstellung der Staatspraxis der Bundesrepublik Deutschland. Abschließend wird dafür plädiert, dass auch der innerstaatliche Richter den Textvergleich in mehrsprachigen Verträgen suchen soll und es keinen Anlass gibt, vor fremdsprachigen Vertragstexten zurückzuschrecken.

B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung bei der Ausarbeitung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge Völkerrechtliche Verträge sind wie staatliche Gesetze durch Sprache deter­ miniert. Sie ermöglicht es erst, einen Vertrag inhaltlich mit Leben zu füllen und gibt den Vertragsbestimmungen einen Sinn.30 Der Sprachenwahl eines hierzu CRC, General Comment No. 19 (2016), Rn. 29. Aus der Rechtspraxis bietet sich insbesondere das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.04.2009 zur Ver­ einbarkeit von Studienbeiträgen mit Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR (BVerwGE 134, 1 [23]) näher als Anknüpfungspunkt an, zumal das Bundesverwaltungsgericht explizit die verschiedenen Bedeutungsgehalte mehrerer authentischer Vertragstexte aufzeigt, dies aber nicht näher verfolgt. 28  Diese Hypothese scheint zumindest im Ausgangspunkt durch die Dissertation von Casals, Auslegungsmethoden (2010), S. 79, gestützt zu werden. 29  Siehe dazu Thiele, AVR 46 (2008), 1 (14) zur Rechtsprechung durch verschie­ dene internationale Gerichte; zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge im Lichte der Fragmentierung des Völkerrechts insbesondere die ILC Study Group in ihrem Bericht „Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law“, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S. 216. 30  Zum Entstehen des Rechts aus vorgefundener Sprache siehe Kirchhof, in: Ebke [et al.] (Hrsg.), Rechtssprache (2009), S. 35; ähnlich auch Oksaar, ARSP 53 (1967), 91 (94 ff.).

30

1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

Vertrages kommt hierbei eine hervorgehobene Stellung zu: Die eigene Spra­ che als Vertragssprache durchsetzen zu können wird der betreffenden Ver­ tragspartei nicht nur politisches Selbstbewusstsein, sondern auch Vertrauen in die beabsichtigte inhaltliche Richtigkeit der Vertragsbestimmungen geben. Hinzukommen wird in aller Regel auch noch das Gefühl einer irgendwie gearteten Deutungshoheit über den Vertrag, da sich die betreffende Vertrags­ partei in ihrer Verkehrssprache besser auskennen wird als der Vertragspart­ ner. Aus diesem Grund erscheint es – auch unter dem Aspekt der in der UN-Charta garantierten souveränen Gleichheit der Staaten – eher unwahr­ scheinlich, dass eine Vertragspartei sich auf einen völkerrechtlichen Vertrag einlässt, dessen ausschließlich verbindliche Sprache nicht die eigene Ver­ kehrssprache ist.31 Aus diesem Grund verwundert es nicht, dass die große Mehrheit der geltenden völkerrechtlichen Verträge in zwei oder mehr au­ thentischen Sprachen abgefasst ist und monolinguale Abkommen eher die Ausnahme als die Regel darstellen.32 Ein Blick in einige bedeutsame völker­ rechtliche Verträge bestätigt diese Regel: So ist etwa die Charta der Verein­ ten Nationen nach Art. 111 in fünf authentischen Sprachfassungen (Chine­ sisch, Französisch, Russisch, Englisch und Spanisch) abgefasst, während neuere menschenrechtliche Abkommen neben den fünf Sprachen des Art. 111 UNCh mit Arabisch sogar sechs verbindliche Sprachen haben.33 Der Rechts­ anwender wird sich, wenn er den Vertrag anwenden muss, dennoch in aller Regel auf den authentischen Vertragstext konzentrieren, der seiner Mutter­ sprache entspricht und andere authentische Texte nur dann heranziehen, wenn eine Vertragsbestimmung in seiner Muttersprache nach seiner Auffas­ sung einen unklaren Sinngehalt hat oder ihm Textdivergenzen zu anderen authentischen Vertragstexten auffallen.34 Gelegentlich kann auch festgestellt werden, dass nicht verbindliche Übersetzungen eines Vertrages anstatt einer 31  Vgl. McNair, Treaties (1961), S. 30 f.; Pitamic, ÖstZöffR 21 (1971), 305 (305). Die wenigen Beispiele, in denen ein Vertrag in der Sprache von nur einer Vertrags­ partei abgefasst wurde, belegen, dass der benachteiligte Vertragspartner nicht als gleichberechtigtes Mitglied der Staatengemeinschaft anerkannt wurde, siehe dazu Rudolf, Diplomatiesprache (1972) S. 54 f. 32  Siehe etwa die Übersicht bei Hilf, Verträge (1973), S. 11, zur Entwicklung der Vertragspraxis der Bundesrepublik Deutschland; allgemein zur Entwicklung der Ver­ tragssprachenpraxis Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (615). Im Übrigen wird die Zunahme mehrsprachiger Verträge auch durch eine Einschät­ zung der ILC bestätigt: „[t]he phenomenon of treaties drawn up in two or more lan­ guages has become extremly common and, with the advent of the United Nations, general multilateral treaties drawn up, or finally expressed, in five different languages have become quite common“, Report of the ILC to the General Assembly on the Work of its 18th Session, Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 224. 33  Siehe etwa Art. 30 CEDAW, Art. 54 UN-KRK, Art. 45 CED. 34  Vgl. Gardiner, Interpretation (2015), S. 420; Hardy, BYIL 37 (1962), 72 (139); Linderfalk, Interpretation (2010), S. 356; Weisgerber, Vertragstexte (1961), S. 2.



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung31

der authentischen Texte zur Auslegung herangezogen werden,35 ungeachtet von geäußerter Kritik an diesem methodischen Vorgehen.36 Nimmt man als Rechtsanwender im Völkerrecht die sprachliche Herausforderung dagegen an, auch andere authentische Sprachfassungen vergleichend heranzuziehen, muss im Falle des Entdeckens von Textdivergenzen auch die Bereitschaft gezeigt werden, mit den methodischen Auslegungsgrundsätzen den Spra­ chenkonflikt juristisch aufzulösen. Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass Textdivergenzen zwischen authentischen Sprachfassungen eher die Regel als die Ausnahme darstellen.37

I. Historische Entwicklung der Sprachen in der Diplomatie Mehrsprachige völkerrechtliche Verträge sind im asiatischen38 und ameri­ kanischen39 Raum seit dem 18. bzw. 19. Jahrhundert bekannt. Die Entwick­ lung in Kontinentaleuropa verlief nach verbreiteter Auffassung demgegenüber deutlich restriktiver: Erst der Versailler Vertrag sei kennzeichnend für den Beginn einer innereuropäischen Mehrsprachenvertragspraxis,40 obgleich demgegenüber mehrsprachige Gesetzgebung in Europa41 schon lange bekannt war. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zunächst bis zur Mitte des 17. Jahr­ hunderts Latein die dominierende Sprache in den internationalen Beziehun­ 35  Beispielhaft BVerwGE 134, 1 (23) zur Frage der Vereinbarkeit der Erhebung von Studiengebühren mit Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR, wo ausdrücklich darauf hingewiesen wird, dass Deutsch keine authentische Vertragssprache ist, während die authentischen Sprachfassungen weitgehend außer Acht gelassen werden; noch deutli­ cher dazu die Entscheidung der Vorinstanz, OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 09.10. 2007 – 15 A 1596/07 = DVBl. 2007, 1442 (1443), die meint, dass die dem Vertrags­ gesetz beigefügte amtliche (deutsche) Übersetzung heranzuziehen sei, da davon aus­ gegangen werden müsse, dass der Gesetzgeber dem Vertragsgesetz den Inhalt des Vertrages zugrunde gelegt hat, der dieser deutschen Übersetzung zu entnehmen sei; allgemein zur Versuchung, den Text der Muttersprache heranzuziehen, Hilf, Verträge (1973), S. 2. 36  Kritisch etwa gegenüber der Methodik des OVG Nordrhein-Westfalen Paulus, in: Sloss (Hrsg.), Treaty Enforcement (2009), S. 222, dort Fn. 64. 37  So auch Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (962); Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (619). 38  Eingehend zu der Geschichte mehrsprachiger europäisch-asiatischer Verträge Alexandrowicz, RdC 100 (1960 II), 207 (291 ff.); ders., Law of Nations in the East Indies (1967), S. 164. 39  Siehe etwa den Adams-Onís-Vertrag vom 22.02.1819, in welchem Spanien Flo­ rida an die USA abtrat. 40  Zurückhaltender jedoch offenbar Mössner, AVR 15 (1972), 273 (279 f.). Dass die Zurückhaltung von Mössner möglicherweise berechtigt ist, wird sich noch zeigen. 41  Dazu eingehend Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (5 ff.); Mertens, ZNR 2013, 157 ff.

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

gen der europäischen Staaten war.42 Dies änderte sich ab dem 18. Jahrhun­ dert, Französisch war nun die bestimmende Sprache in der europäischen Vertragspraxis.43 Zwar gab es vereinzelte Versuche, an der übermächtigen Stellung der französischen Sprache in den internationalen Beziehungen zu rütteln: Eine Reihe bedeutender Verträge des 18. und des 19. Jahrhunderts, etwa die Wiener Schlussakte 1815, enthielten unter anderem Klauseln, wo­ nach der Gebrauch der französischen Sprache in Vertragsverhandlungen nicht als Präjudiz dergestalt angesehen werden solle, dass es den Staaten verwehrt sei, sich bei zukünftigen Verträgen und Vertragsverhandlungen ihrer eigenen Sprachen zu bedienen.44 Es versteht sich jedoch von selbst, dass dies (noch) kein Bekenntnis zum paritätischen Nebeneinander der verschiedenen Sprach­ fassungen darstellt. Die einstige Dominanz der französischen Sprache auf der diplomatischen Ebene ist insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Nieder­ lagen Frankreichs in den Napoleonischen Kriegen und dem FranzösischPreußischen Krieg 1871 bemerkenswert.45 Dies gilt umso mehr, als Franzö­ sisch selbst bei den Haager Konferenzen von 1899 und 1907 noch Verhand­ lungssprache war, zudem ist Französisch die authentische Sprache bei den einzelnen Abkommen zur Haager Landkriegsordnung.46 Obgleich die franzö­ sische Sprache sich als Verhandlungssprache bei den Haager Konferenzen und den Abkommen zur Haager Landkriegsordnung noch durchsetzen konnte, waren jedoch mit der Anerkennung anderer Verfahrenssprachen beim Ständi­ gen Schiedsgerichtshof bereits Anzeichen vom Ende der Vormachtstellung der französischen Sprache zu erkennen.47 Als Wendepunkt in der Sprachen­ wahl in den internationalen Beziehungen stellen sich die Verhandlungen für den Versailler Friedensvertrag von 1919 dar: Zwar war Französisch auch 42  Siehe nur Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 54 ff.; Hardy, L’Interpréta­ tion (1960), S. 3; Liang, AJIL 47 (1953), 263 (263); Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 21. 43  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 57 ff.; Hardy, L’Interprétation (1960), S. 3; Rudolf, Diplomatiesprache (1970), S. 25 ff. 44  Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 26; weitergehend noch Arsanjani/Reisman, in: Caron [et al.] (Hrsg.), Arbitration (2015), S. 407, die meinen, dass mit Art. CXX der Wiener Schlussakte Französisch als die Lingua franca für völkerrecht­ liche Verträge entthront worden sei. Art. CXX der Wiener Schlussakte lautete wie folgt: „La Langue Françoise ayant été exclusivement employée dans toutes les Cop­ ies du présent Traité, il est reconnu par les Puissances qui ont concouru à cet Acte, que l’emploi de cette langue ne tirera point à conséquence pour l’avenir; de sorte, que chaque Puissance Se réserve d’adopter dans les Négociations et Conventions futures, la Langue dont elle S’est servie jusqu’ici dans Ses Relations Diplomatiques, sans que le Traité actuel puisse être cité comme example contraire aux usages étab­ lis.“ (nach Parry, Consolidated Treaty Series 64 [1815], 453 [492 f.]). 45  Ähnlich Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 60, dort Fn. 155. 46  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 61. 47  Vgl. Hudson, International Tribunals (1944), S. 90.



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung33

noch hier Konferenzsprache, jedoch ist eine zunehmende Präsenz und Aner­ kennung des Englischen zu beobachten, welche sich insbesondere darin zeigt, dass nach Art. 440 Versailler Vertrag Englisch und Französisch authentische Sprachen sind.48 Eine weitere Stärkung der englischen Sprache erfolgte mit der Anerkennung als Verfahrenssprache beim Ständigen Internationalen Ge­ richtshof.49 Der Text in Art. 39 des StIGH-Statuts täuscht allerdings darüber hinweg, dass auch hier seitens britischer Vertreter im Völkerbund hart gerun­ gen wurde, Englisch als Verfahrenssprache aufzunehmen: „Again, the second contemplates that French should be the only language of the tribunal. I do not think that this, quite apart from the merits of the case, could be accepted until America joined the League, and an opportunity of officially express­ ing her opinion on the subject. Apart from American opinion, it has to be observed that the Treaty of Versailles puts the two languages on an equality; and that in every instrument issuing out of the Treaty of Versailles this equality is maintained. The League of Nations itself carries on its business in French and English; and the English is not regarded as a mere translation of the French, but is treated as of equal authority. It would seem unfortunate to make an exception in respect to the Permanent Court; and I have no doubt that my Government would regard any such exception with the greatest disfavor.“50

Auffällig ist, dass nach Art. 39 Abs. 2 Satz StIGH-Statut dem Gericht die Aufgabe übertragen wurde, im Falle des Fehlens einer Einigung auf eine Verfahrenssprache diese für das zu fällende Urteil verbindlich festzulegen. Diese gibt dem Gericht die Möglichkeit, im Falle von Textdivergenzen sich auf eine Fassung festzulegen und so den sprachlichen Konflikt aufzulö­ 48  Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 157; Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 62, 66. Das Streben um eine Anerkennung der englischen Sprache zu den Verhandlungen um den Versailler Vertrag wurde je­ doch auch mit Missfallen aufgenommen, siehe nur Scott, Langue Diplomatique (1924), S. 13; näher zu den Meinungsverschiedenheiten der alliierten Siegermächte bezüglich Art. 440 VV siehe Mezger, Auslegung (1926), S. 49. 49  Siehe Art. 39 des Statuts über den Ständigen Internationalen Gerichtshof, L.N.T.S. 6 (1921), 391: „The official languages of the Court shall be French and English. If the parties agree that the case shall be conducted in French, the judgment will be delivered in French. If the parties agree that the case shall be conducted in English, the judgment will be delivered in English. In the absence of an agreement as to which language shall be employed, each party may, in the pleadings, use the language which it prefers; the decision of the Court will be given in French and English. In this case the Court will at the same time determine which of the two texts shall be considered as authoritative. The Court may, at the request of any party, au­ thorize a language other than French or English to be used.“ 50  Note on the Permanent Court of International Justice, submitted by Mr Balfour to the Council of the League of Nations, Brüssel, Oktober 1920, in: League of Na­ tions, Permanent Court of International Justice, Documents concerning the Action taken by the Council of the League of Nations under Article 14 of the Covenant (1921), S. 39.

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

sen.51 Art. 39 StIGH-Statut ist später weitgehend – bis auf Nuancen in Abs. 3 – im späteren Art. 39 des Statuts des Internationalen Gerichtshofs der Vereinten Nationen aufgegangen. Spätestens mit der Ära der Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbundes hat die englische Sprache die französische als Verhand­ lungs- und Vertragssprache weitgehend verdrängt.52 Dies gilt nicht nur für die völkervertragliche Praxis und die Arbeit internationaler Gerichte, sondern allgemein für die Staatenpraxis in den internationalen Beziehungen.53 Bei den Vereinten Nationen waren zunächst Englisch und Französisch als Ar­ beitssprache anerkannt, während es fünf offizielle Sprachen (Englisch, Fran­ zösisch, Russisch, Spanisch, Chinesisch) gibt.54 Der Aufstieg des Englischen zur Weltsprache55 stellt das Ende einer Reihe von Epochen dar, in welchen jeweils bestimmte Sprachen – wie etwa Latein oder Französisch – die inter­ nationalen Beziehungen prägten. Es wäre jedoch verfehlt, hieraus zu schluss­ folgern, den Aufstieg des Englischen als eine neue Phase der Sprachendomi­ nanz analog der Phase der Dominanz des Lateinischen oder des Französi­ schen zu sehen: Die Parität der Sprachen in der völkervertraglichen Praxis der Staaten wird ungeachtet der hohen praktischen Bedeutung des Englischen zumindest formal ernst genommen,56 zudem sind mittlerweile neben Eng­ lisch und Französisch auch Spanisch, Russisch, Chinesisch und Arabisch Arbeitssprachen in den Vereinten Nationen.57 Hierzu sind kontrastierend die Bemühungen einzelner Staaten in der Zeit vor Versailles zu sehen, die Domi­ nanz der jeweils herrschenden Sprache zu brechen und auf eine Anerkennung der eigenen Sprache als Vertragssprache zu dringen. 51  Kohen, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 39, Rn. 32. 52  Zur Sprachenwahl bei der Konferenz von San Francisco siehe Kotzur, in: Simma/ Kahn/Nolte/Paulus (Hrsg.), UN Charta (2012), Art. 111, Rn. 7; Sinclair, Vienna Con­ vention (1984), S. 147 f.; Tabory, Multilingualism (1980) S. 6 f. 53  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S.  63; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 36, meint sogar ein Vordringen des Englischen zulasten des Französischen im völkerrechtlichen Schrifttum zu erkennen. 54  Siehe Art. 51 der Rules of Procedure of the General Assembly zum 31.12.1965, UN Doc. A/520/Rev.8; ausführlich zur Sprachen- und Vertragspraxis der Vereinten Nationen Rosenne, RdC 86 (1954 II), 283 ff. 55  Die Charakterisierung des Status der englischen Sprache auf der internationalen Ebene ist allerdings umstritten; Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 67  f., spricht von einer „supranationalen Sprache“, die ein „neutrales, von seinen nationalen kuturellen Kontexten gelöstes Kommunikationsmittel“ sei, relativiert jedoch diese Einschätzung sogleich wieder; gegen die Einordnung von Englisch als die neue Lin­ gua franca Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 36. 56  Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 36. 57  Siehe Art. 51 der Rules of Procedure of the General Assembly, Stand September 2007, UN Doc. A/520/Rev. 17.



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung35

Die nach der überwiegenden Ansicht in der Literatur so betrachtete verzö­ gerte Entwicklung einer paritätischen Vertragssprachenpraxis in Europa ist auch politisch erklärbar. Gächter-Alge spricht von einem neben dem politi­ schen Nationalismus bestehenden „Sprachennationalismus“.58 Legt man dem politischen Nationalismus die Annahme zugrunde, der souveränen Gleichheit der Staaten im Sinne einer internationalen Friedensordnung entgegenzuwir­ ken, liegt auch die Erklärung auf der Hand, warum ein gelebter Sprachenna­ tionalismus in Europa vor 1919 den Blick auf die mehrsprachigen Verträgen innewohnenden Auslegungsschwierigkeiten verstellte:59 Eine mangelnde Be­ reitschaft der Anerkennung der Gleichwertigkeit von Sprachen muss unwei­ gerlich zu einem fehlenden Problembewusstsein für sprachliche Diskrepan­ zen in mehrsprachigen Verträgen führen.

II. Festlegung der authentischen Texte Die Ausarbeitung eines völkerrechtlichen Vertrages an sich ist bereits eine komplexe Angelegenheit, bei mehrsprachigen Verträgen stellen sich zudem noch sprachliche Herausforderungen bei der Redaktion der authentischen Fassungen. Völkervertragliche Regelungen, die detailliert festlegen, wie das Prozedere der Ausarbeitung und abschließenden Redaktion erfolgen soll, gibt es nicht.60 Gächter-Alge meint, dass die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 das Zustandekommen, die Durchführung und Beendigung völker­ rechtlicher Verträge der beteiligten Staaten regelt.61 Dies ist im Hinblick auf die Zeit nach der Wiener Vertragsrechtskonvention im Kern zutreffend. Gleichwohl geben die Vorschriften der WVK zur Ausarbeitung von Verträ­ gen allenfalls einen groben Rahmen her: Nach Art. 10 Buchst. a) WVK wird der Text eines Vertrages als authentisch und endgültig nach dem Verfahren festgelegt, das darin vorgesehen wurde oder von den an seiner Abfassung beteiligten Staaten vereinbart wurde. Nach Art. 10 Buchst. b) WVK wird der authentische Text – sofern ein Verfahren i. S. d. Art. 10 Buchst. a) WVK fehlt – durch Unterzeichnung, Unterzeichnung ad referendum, Paraphierung des Vertragswortlauts oder einer den Wortlaut enthaltenden Schlussakte einer Konferenz festgelegt. Bereits dies stellt klar, dass die WVK bei der Authen­ tifizierung grundsätzlich ein irgendwie geartetes Verfahren voraussetzt, aber 58  Gächter-Alge,

Mehrsprachigkeit (2011), S. 61. Mössner, AVR 15 (1972), 273 (280). 60  Art. 9 WVK legt lediglich das Prozedere zur Annahme des Textes fest, Art. 10 WVK zur Festlegung des authentischen Textes. Zur Nichtreglementierung des Ausar­ beitungsverfahrens siehe Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 154 f.; Hilf, Ver­ träge (1973), S. 34; Korontzis, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 179. 61  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 119. 59  Vgl.

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

keines vorschreibt.62 Keine Antwort vermag die Wiener Vertragsrechtskon­ vention dagegen gem. Art. 4 WVK für die Authentifizierung völkerrechtli­ cher Vertragstexte vor der Zeit der Wiener Vertragsrechtskonvention zu ge­ ben. Nicht ganz klar erscheint in diesem Zusammenhang, ob Art. 10 WVK sich als Kodifikation geltenden Völkergewohnheitsrechts darstellt.63 1959 stellte die International Law Commission jedoch fest: „[I]t next becomes pertinent to ask why the concept of authentication has until recently remained largely unrecognized as a definite, separate, and necessary part of treaty-making process. The explanation lies in the fact that in the past, and apart from the possibility of initialling and signature ad referendum, signature was the normal method of authentication in a text, but that signature invariably had and has a further and much more important aspect.“64

Diese Ausführungen der International Law Commission sind insofern auf­ schlussreich, als dass sie erkennen lassen, dass insbesondere in der Zeit vor der WVK eine Staatenpraxis hinsichtlich der Festlegung des authentischen Texts dahingehend erkennbar ist, die in Art. 10 Buchst. b) WVK beschrieben ist. Rückschlüsse auf Art. 10 Buchst. a) WVK lassen sich hieraus indes nicht ziehen. Dem Verfahren der Authentifizierung vorgelagert ist die eigentliche Re­ daktion des Vertrages. Gerade bei mehrsprachigen Verträgen stellt sich im Hinblick auf die Anzahl der Vertragssprachen jedoch zunächst die Überle­ gung, zwischen verschiedenen Typen von völkerrechtlichen Verträgen zu differenzieren. 1. Klassifizierung von völkerrechtlichen Verträgen Obgleich völkerrechtliche Verträge eine große Gemeinsamkeit haben, zwi­ schenstaatliches Recht zu setzen und dadurch die Rechtsbeziehungen zwi­ schen Staaten zu regeln, können sie sich im Hinblick auf ihren Regelungsge­ genstand und ihre einzelnen Vorschriften nicht unerheblich voneinander un­ terscheiden.65 Umstritten ist indes, nach welchen Kriterien differenziert werden kann. Im Lauf der Geschichte haben sich diverse Modelle herausge­ 62  Dies erscheint auch im Lichte der souveränen Gleichheit der Staaten zwingend. Art. 10 WVK stellt klar, dass es den Vertragsstaaten überlassen ist, wie sie die authen­ tischen Texte festlegen. 63  Siehe dazu Hoffmeister, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 10, Rn. 5; Thouvenn, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 10, Rn.  4 ff. 64  Y.B. Int’l L. Comm’n 1959, Vol. II, 103. 65  Siehe etwa Berber, Völkerrecht (1975), S. 443 ff.; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 81 ff.; aus der frühen völkerrechtlichen Literatur bereits Woolsey, International Law (1874), S. 176 ff.: „Treaties are of various kinds.“



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung37

bildet, um völkerrechtliche Verträge zu klassifizieren. Die wichtigsten wer­ den im Nachfolgenden dargestellt. Hierbei sollen auch die Zusammenhänge der verschiedenen Abgrenzungsmöglichkeiten angedeutet werden. a) Erste Ansätze der Klassifizierung völkerrechtlicher Verträge Als Ansatzpunkt für eine Differenzierung bietet sich bereits die Bezeich­ nung Vertrag oder Konvention an. Beide Begriffe werden häufig synonym benutzt, ohne näheres Eingehen auf den inhaltlichen Kontext.66 Jedoch sind bereits bei Grotius Ansätze erkennbar, dass Vertrag und Konvention unter­ schiedlich zu sehen sind: Hiernach sei Konvention der weitere Begriff und Vertrag eine Subkategorie.67 Grotius folgt hierbei dem Ansatz, dass Konven­ tionen sinnbegrifflich mit Frieden gleichzusetzen seien, kontrastierend zu dem Begriff Vertrag.68 Wirklich ergiebig ist diese enge Art von Differenzie­ rung im modernen Völkervertragsrecht jedoch nicht, insbesondere da das Begriffsverständnis von „Konvention“ heute wesentlich weiter ist. Hinter dem Verständnis von Grotius scheint jedoch die Überlegung auf, hinsichtlich des Vereinbarten zwischen Frieden oder sonstigen, vom Friedensbegriff los­ gelösten Inhalten zu differenzieren. Knüpft man diesen Gedanken weiter, bietet sich im weiteren Sinne eine Differenzierung nach Sachgebieten bei völkerrechtlichen Verträgen an. b) Differenzierung nach Sachgebieten Naheliegender und auch ergiebiger erscheint eine Differenzierung nach dem Sachgebiet des Vertrages – unabhängig davon, ob die Bezeichnung Ver­ trag oder Konvention von den Parteien gewählt wurde. Denkbar ist etwa nach Wildman eine Unterscheidung in Friedensverträge, Bündnisverträge und Wirtschaftsverträge,69 jedoch bedeutet dies keineswegs eine abschlie­ ßende Aufzählung: Die Vielfalt von Verträgen im Völkerrecht lässt gerade im Lauf der Zeit eine noch feingliedrigere Unterteilung zu als in Friedens- und Wirtschaftsverträge. Deutlich wird dies mit dem Auftreten von Verträgen im internationalen Menschenrechtsschutz und insbesondere im Völkerstrafrecht im 20. Jahrhundert, wo das Merkmal der Reziprozität der zwischenstaatli­ chen vertraglichen Verpflichtungen abgeschwächt oder kaum noch vorhanden 66  Wilson/Tucker,

International Law (1910), S. 203. De Iure Belli ac Pacis, Lib. II, Cap. XV, II., übersetzt von Schätzel (1950), S. 276. 68  Vgl. Grotius, De Iure Belli ac Pacis, Lib. II, Cap. XV, V. 3., übersetzt von Schätzel (1950), S. 278. 69  Vergleiche die Beispiele bei Wildman, International Law (1850), S. 89. 67  Grotius,

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

ist.70 Die Einteilung von Grotius in gleiche und ungleiche Verträge, wonach bei einem gleichen Vertrag die vertraglichen Pflichten wechselseitig zueinan­ der bestünden, bei einem ungleichen Vertrag dagegen eine Vertragspartei besserstellen,71 hilft in diesem Zusammenhang jedoch nicht weiter: So ist die Frage der Gleichheit ein reines Tatsachenkriterium, welches einer näheren Bestimmung durch Dritte kaum möglich sein wird. c) Bilaterale und multilaterale Verträge Am naheliegendsten – gerade im Hinblick auf die Thematik der Mehrspra­ chigkeit – ist die Klassifizierung völkerrechtlicher Verträge anhand der An­ zahl ihrer Vertragsparteien, welches in der Sache auf eine Differenzierung zwischen bilateralen und multilateralen Verträgen hinausläuft.72 Insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Anzahl multilateraler Ver­ träge erheblich zu, hier sind insbesondere Verträge im humanitären Völker­ recht, im internationalen Menschenrechtsschutz, im Völkerstrafrecht und Umweltvölkerrecht zu nennen.73 Hierdurch zeigt sich, dass auch mit der Einteilung in bilaterale und multilaterale Verträge eine Klassifizierung an­ hand Sachgebieten mitschwingt: Während bilaterale Verträge in der Regel gegenseitige Rechte und Pflichten der Vertragsstaaten enthielten,74 ist bei multilateralen Verträgen häufig sinnbildlich die Inangriffnahme eines Groß­ projektes mit Bedeutung für die internationale Gemeinschaft als Ganzes er­ kennbar.75 Besonders deutlich wird dies bei Verträgen wie dem Römischen 70  Vgl. dazu Simma, Reziprozität (1972), S. 170 ff. Bereits 1926 wurde auch von Mezger, Auslegung (1926), S. 40 f., erkannt, dass die Unterscheidung nach dem sach­ lichen Gehalt von völkerrechtlichen Verträgen eine wichtige Methode zur Klassifizie­ rung völkerrechtlicher Verträge darstellt. 71  Siehe dazu Grotius, De Iure Belli ac Pacis, Lib. II, Cap. XV, VI. 1., VII., über­ setzt von Schätzel (1950), S. 278 f.; Wildman, International Law (1850), S. 89. 72  So auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 124. 73  Beispielhaft für das Humanitäre Völkerrecht sind insbesondere die Genfer Ab­ kommen, im Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes sind insbesondere die Menschenrechtsverträge der Vereinten Nationen zu nennen. Kennzeichnend für das moderne Völkerstrafrecht ist insbesondere das Römische Statut des Internationa­ len Strafgerichtshofs. Sämtliche Verträge aus diesen Gebieten stehen für eine Stär­ kung des Multilateralismus ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vgl. Alvarez, EJIL 11 (2000), 393 (398). Siehe auch Spinedi, EJIL 13 (2002), 1099 (1107) zur Stärkung des Multilateralismus im Zusammenhang der Arbeiten der ILC zum Ver­ tragsrecht. 74  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 124. 75  Dies geht in die Richtung einer Unterscheidung nach normbildenden Verträgen (law-making-treaties/traité loi) und Austauschverträgen (contractual treaties/traité contrat), siehe hierzu Brölmann, Nord. J. Int’l L. 74 (2005), 383 ff.



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung39

Statut des Internationalen Strafgerichtshofes76 oder dem Pariser Klimaschutz­ abkommen 201577. Es soll hier keine abschließende Bewertung vorgenommen werden, welcher Methode der Einteilung völkerrechtlicher Verträge der Vorzug zu geben ist. Es zeigt sich, wie bereits angedeutet, dass eine Einteilung isoliert nach einer be­ stimmten Methode selten zielführend ist, da gleichzeitig andere Methoden sich geradezu aufdrängen. Zudem sind auch Überschneidungen in der Methode der Klassifizierung denkbar: So könnte etwa ein rechtsetzender Vertrag (law-ma­ king-treaty/traité loi) von einem Austauschvertrag (contractual treaty/traité contrat) sowohl nach der unter b) als auch c) beschriebenen Methode unter­ schieden werden. Eine gewichtige Rolle spielt die Klassifizierung von völker­ rechtlichen Verträgen für ihre abschließende Redaktion: Da kein Vertrag dem anderen gleicht, sei es nach seinem Regelungsgebiet oder der Anzahl der Ver­ tragsparteien, wird zu klären sein, inwieweit dies die Festlegung der authenti­ schen Texte beeinflusst. Als nicht trennbare Thematik im Hinblick auf die Klassifizierung völkerrechtlicher Verträge und deren Auswirkungen auf die Redaktion der authentischen Texte stellen sich zudem weiterführend entspre­ chende Auslegungsfragen. Hierauf wird im 4. Teil dieser Arbeit eingegangen. 2. Folgen für die Redaktion Die abschließende Redaktion mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge stellt das Ergebnis mehr oder weniger intensiver Verhandlungen dar. Hierbei können sich sprachliche Herausforderungen stellen, aus den Materialien und Entwürfen der Verhandlungen – die oft in lediglich einer Sprache abgefasst sind – einen oder gar mehrere authentische Texte zu erstellen. Während bei bilateralen Verträgen die Anzahl authentischer Texte sehr begrenzt ist, erhö­ hen sich bei multilateralen Verträgen mit fünf oder sechs authentischen Tex­ ten die sprachlichen Herausforderungen erheblich.78 Bei hochspezialisierten Verträgen, wie etwa im Umweltvölkerrecht, stellt sich zudem das Problem, dass sich bestimmte Fachbegriffe nur schwer in andere Sprachen übersetzen lassen.79 Bei bestimmten Verträgen mit langer oder unbestimmter Vertrags­ laufzeit – wie etwa die Gründungsverträge internationaler Organisationen80 – muss außerdem bedacht werden, dass Worte als Beschreibungen immer nur 76  U.N.T.S. 2183

(2004), 91 (Nr. 38544). Agreement, 12.12.2015, siehe hierzu UN Doc. FCCC/CP2015/L.9/Rev.1. 78  Vgl. Aust, Treaty Law (2007), S. 90; Linderfalk, Interpretation (2010), S. 355; Korontzis, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2010), S. 189; Tabory, Multilingualism (1980), S. 70. 79  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 126. 80  Als prägendstes Beispiel dient die Charta der Vereinten Nationen. 77  Paris

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

eine Bestandsaufnahme sind und sich ihre Bedeutung – und damit ggf. sogar der Zweck des Vertrages – in den Jahren oder Jahrzehnten ändern kann.81 Freilich wird man nicht alle möglichen Wandlungen der sprachlichen Bedeu­ tungen bestimmter Vertragsbegriffe – gerade bei der Redaktion mehrerer verschiedensprachiger Vertragstexte – antizipieren und hiernach die Verhand­ lungen bei der abschließenden Redaktion ausrichten können. Entscheidend ist jedoch, dass die Redaktion der authentischen Texte einen irgendwie gear­ teten Willen der Vertragsparteien erkennen lässt, welcher Ziel und Zweck des Vertrages abbildet und etwaige Textdivergenzen – sei es, diese entstanden durch redaktionelle Fehler oder durch einen Bedeutungswandel von Vertrags­ begriffen – mit den Auslegungsmethoden auflösen lässt.82 a) Bilaterale Verträge Bei bilateralen Verträgen stellen sich mehrere Möglichkeiten bei der Fest­ legung der authentischen Texte. Die trivialste Form ist die Ausarbeitung eines Textes in nur einer verbindlichen Sprache, in den meisten Fällen wird der endgültige Text hier direkt aus einem Vertragsentwurf hervorgehen, welcher in der sog. Arbeitssprache abgefasst ist.83 Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass durch die Identität von Arbeitssprache und Vertragssprache Arbeits­ aufwand durch Übersetzungen des Vertrages in andere authentische Sprachen wegfällt. Wie bereits angesprochen, ist eine solche Vorgehensweise jedoch häufig von einem erheblichen Ungleichgewicht der Verhandlungspositionen der Vertragsparteien gekennzeichnet, wenn einem Vertragspartner die Mög­ lichkeit genommen wird, den Vertragstext in seiner Verkehrssprache nachzu­ vollziehen. Dem kann zwar dadurch entgegengewirkt werden, dass neben dem authentischen Text eine nicht verbindliche Übersetzung des Vertragstex­ tes erstellt wird.84 Dennoch erscheint es möglich, dass in diesem Fall Rest­ zweifel der benachteiligten Vertragspartei bestehen bleiben, wenn dem Text in ihrer Verkehrssprache nicht dieselbe Autorität zukommt wie dem authenti­ schen, insbesondere wenn dieser in der Verkehrssprache des Vertragspartners abgefasst ist.85 Abgesehen von Fällen, in denen Vertragspartner eine gemein­ same Verkehrssprache haben, dürfte die Festlegung eines authentischen Tex­ tes in nur einer Sprache daher nur geringe Bedeutung haben.86 81  Vgl. Fattal, Multilinguisme (1994), S. 311; in dieselbe Richtung bereits auch Hardy, L’Interprétation (1960), S. 14; Vattel, Droit des Gens (1758), S. 468. 82  In diese Richtung auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 155. 83  Hilf, Verträge (1973), S. 34. 84  Korontzis, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 189. 85  Dies hängt freilich von dem sprachlichen Können der benachteiligten Vertrags­ partei in der Verkehrssprache ihres Vertragspartners ab. 86  So auch Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 54.



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung41

Größere Bedeutung kommt bilateralen Verträgen zu, welche in zwei oder mehr authentischen Sprachen abgefasst sind.87 Hier kommen mehrere Vorge­ hensweisen bei der Festlegung der authentischen Texte in Betracht: Nahelie­ gend ist die Option, dass die Vertragsparteien sich zunächst auf eine Arbeits­ sprache einigen, die Ausarbeitung des Vertragsentwurfs erfolgt sodann in dieser Sprache, während erst im Anschluss daran der Vertrag in eine zweite authentische Sprache übersetzt wird.88 Alternativ zu dieser Vorgehensweise kann auch zu der Ausarbeitung des Vertragstextes in der authentischen Spra­ che, die zugleich Arbeitssprache ist, parallel ein Vertragstext in der zweiten authentischen Sprache abgefasst werden.89 Diese redaktionelle Ausarbeitung mittels der Festlegung auf eine Arbeitssprache wird bei der Thematik der Auslegungsregeln noch eine wichtige Rolle spielen. Auch eine Kombination beider Vorgehensweisen mag in Erwägung gezo­ gen werden: Der Vertragstext wird zunächst anhand der Arbeitssprache er­ stellt, während parallel bestimmte Kernbegriffe des Vertrages übersetzt wer­ den, die wiederum als Grundlage für die abschließende Übersetzung des Vertragstextes in die zweite authentische Sprache dienen.90 Jede dieser Möglichkeiten hat ihre Vor- und Nachteile: Während die zweite Option ins­ besondere vom sprachlichen Können der Vertragsparteien abhängt, hat die erste Option das Manko, dass der Vorgang der abschließenden Übersetzung in die zweite authentische Sprache zu sehr losgelöst von den vorhergehenden Verhandlungen steht.91 Ob man die abschließende Übersetzung in die zweite authentische Sprache auch als Chance sehen kann, wie Gächter-Alge meint,92 erscheint schwierig: Die genaueste Sinnübereinstimmung der verschiedenen authentischen Texte wird man am ehesten dann noch erreichen, wenn das Bewusstsein für Ziel und Zweck des Vertrages und damit auch im weitesten Sinne für den gefundenen Konsens der Vertragsparteien möglichst frisch ist.93 Man wird davon ausgehen müssen, dass selbst die fähigsten Übersetzer kein exaktes Duplikat des Ausgangstextes kreieren können, da Textdivergen­ zen aufgrund der Eigenheiten jeder Sprache nahezu unvermeidbar sind.94 Die größeren Chancen, Textdivergenzen im Vorfeld auszuräumen, bieten sich 87  Rudolf,

Diplomatiesprache (1972), S. 55. Mehrsprachigkeit (2011), S. 156; Hilf, Verträge (1973), S. 35; Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 417. 89  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 156; Hilf, Verträge (1973), S. 34; Tabory, Multilingualism (1980), S. 113 f. 90  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 156. 91  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 156. 92  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 157. 93  Vgl. Lessig, Tex. L. Rev. 71 (1992–1993), 1165 (1194 ff.), der „Familiarity“ des Übersetzers im Hinblick auf den Kontext für eine gelungene Übersetzung voraussetzt. 94  Zur Unvermeidbarkeit von Textdivergenzen Hilf, Verträge (1973), S. 20 ff. 88  Gächter-Alge,

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

daher eher noch im Kontext des Verhandlungsdialogs, wo auch besser auf solche Ungereimtheiten reagiert werden kann, als wenn erst bei der abschlie­ ßenden Übersetzung in die zweite authentische Sprache Fehler auffallen.95 Neben der Möglichkeit, einen bilateralen Vertrag in zwei authentischen Sprachen abzufassen, kommt die Option in Betracht, einen dritten authenti­ schen Vertragstext zu verfassen, in keiner der beiden Verkehrssprachen der Vertragsparteien.96 Hierbei kann wiederum differenziert werden: Entweder der Text in der dritten Sprache wird ebenfalls als authentisch eingestuft oder man lässt dem Text in der dritten Sprache sogar eine Vorrangstellung im Falle von Textdivergenzen der ersten beiden Sprachen zukommen.97 Da sich der Text in der dritten Sprache nicht selten als Folge sprachlicher Unsicher­ heiten der Texte der ersten beiden Sprachen darstellt, ist es nachvollziehbar, diesem eine Vorrangstellung einzuräumen und damit auch den Charakter als Vermittlungssprache zu verdeutlichen.98 In Verhandlungen wird häufig versucht, etwaigen Textdivergenzen in bila­ teralen Verträgen durch die Verwendung von Vertragsmustern entgegenzu­ wirken:99 bedeutende Beispiele aus der Praxis sind insbesondere in Muster­ verträgen der OECD zu Doppelbesteuerungsabkommen100 und Musterverträ­ gen für bilaterale Investitionsschutzabkommen101 zu finden. Hilf deutet je­ doch zu Recht an, dass solche Vertragsmuster in vielen Fällen nicht verallgemeinerungsfähig sind und eigene Vertragsverhandlungen zur Ausar­ beitung der authentischen Texte nicht ersetzen können.102 Wie bereits oben angedeutet, wurde das Festlegen eines authentischen Textes durch die Vertragsstaaten jedoch lange nicht als gesonderter Akt wahrgenommen: Vielfach bestand früher die Festlegung des authentischen Textes durch Unterzeichnung oder Unterzeichnung ad referendum bzw. durch 95  Die Vorgehensweise der parallelen Ausarbeitung der authentischen Texte scheint daher auch die Regel darzustellen, Tabory, Multilingualism, S. 113. 96  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 151; Hilf, Verträge (1973), S. 14; Korontzis, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 189; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 56. 97  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 151; Korontzis, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 189. 98  Hilf, Verträge (1973), S. 14, 37. 99  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 156; Hilf, Verträge (1973), S. 35. 100  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 156; Hilf, Verträge (1973), S. 35; vertiefend zu dem Einfluss der OECD-Musterverträge auf Doppelbesteuerungsab­ kommen Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 486 ff. 101  Connolly, Vand. J. Transnat’l L. 40 (2007), 1579 (1590); Dolzer/Stevens, BITs (1995), S. 13; Schill, Investment Law (2010), S. 31. 102  Hilf, Verträge (1973), S. 35.



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung43

das Setzen des Siegels.103 Insbesondere dem Setzen des Siegels kam vor dem 20. Jahrhundert herausragende Autorität zu.104 Die dadurch hervorgehobene Bedeutung des Akts der Unterzeichnung steht kontrastierend zu den Vorge­ hensweisen, die Festlegung des authentischen Textes als selbstständigen Akt zu kennzeichnen. Die oben beschriebenen Optionen zur Festlegung der au­ thentischen Texte bei bilateralen Verträgen in zwei oder mehr Sprachen können daher auch erst im Zusammenhang mit dem Auftreten einer paritäti­ schen Vertragssprachenpraxis gesehen werden. Diese Entwicklung verlief, wie bereits dargelegt, insbesondere in Europa langsamer als in anderen Teilen der Welt. Bei modernen bilateralen Verträgen erschöpft sich die Festlegung des bzw. der authentischen Texte freilich nicht mehr im nun eher formalen Akt der Unterzeichnung:105 Dem unterschriftsreifen Vertrag gingen – je nach textlichen und sprachlichen Schwierigkeiten – mehr oder weniger umfangrei­ che Verhandlungen voraus, welche schließlich in die Festlegung der authen­ tischen Texte in den verschiedenen Sprachen mündeten. Hierüber täuscht auch Art. 10 Buchst. b) WVK etwas hinweg. b) Multilaterale Verträge Multilaterale Verträge zeichnen sich im Gegensatz zu bilateralen Verträgen durch die deutlich erhöhte Anzahl an Vertragsstaaten aus, ausgearbeitet wer­ den solche Verträge in der Regel auf internationalen Konferenzen oder unter der Ägide internationaler Organisationen.106 Eine herausragende Rolle neh­ men hierbei multilaterale Verträge ein, welche im Rahmen der Vereinten Nationen hervorgegangen sind,107 jedoch kommt auch regionalen multilatera­ len Verträgen eine wichtige Rolle zu.108 Aufgrund der hohen Anzahl der Vertragsstaaten ist es in der Regel nicht möglich, alle Landessprachen als Arbeitssprache in die Verhandlungen einzubringen, geschweige einen authen­ tischen Vertragstext in den Sprachen aller Vertragsstaaten auszuarbeiten.109 Es versteht sich beispielhaft von selbst, dass multilaterale Verträge wie die 103  Vgl. Thouvenn, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 10, Rn. 5; ähnlich Y.B. Int’l L. Comm’n 1959, Vol. II, 103. 104  Vgl. Thouvenn, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 10, Rn. 5, dort Fn. 10. 105  Vgl. Korontzis, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 191. 106  Hilf, Verträge (1973), S. 37. 107  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S.  165  ff.; Tabory, Multilingualism (1980), S.  71 ff. 108  Als Beispiel siehe nur regionale Menschenrechtsverträge wie die Europäische Menschenrechtskonvention des Europarats, die Afrikanische Charta der Menschen­ rechte und der Rechte der Völker und die Amerikanische Menschenrechtskonvention. 109  Hilf, Verträge (1973), S. 37; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 58.

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1. Teil: Die Sprache als Kommunikationsmedium und Konfliktpotential

Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen110 aus Praktikabilitätsgrün­ den nicht in 140 authentischen Texten ihrer damaligen 140 Unterzeichner­ staaten111 abgefasst werden können. Es ist daher unabdingbar, dass die An­ zahl der Vertragssprachen bis auf einige wenige eingegrenzt wird, wobei häufig auf international gebräuchliche Sprachen wie Englisch und Franzö­ sisch zurückgegriffen wird.112 Die praktisch bedeutsamste Ausnahme von diesem Modell dürfte derzeit lediglich die Sprachenpraxis der Organe der Europäischen Union mit ihren 24 Amtssprachen sein.113 Wenn Verträge unter der Ägide internationaler Organisationen entstehen, ist zu beachten, dass diese nicht selbst als Akteur auftreten, sondern ledig­ lich den institutionellen Rahmen bilden, in welchem die Ausarbeitung des Vertrages stattfindet.114 Bei der Ausarbeitung mehrsprachiger multilateraler Verträge unter den Vereinten Nationen ist es üblich, dass verschiedene Or­ gane bei sprachlichen Fragen und Herausforderungen unterstützend tätig werden.115 Soweit Verträge im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nati­ onen ausgearbeitet werden, wird in der Regel auf die Geschäftsordnung der Generalversammlung (Rules of Procedure of the General Assembly) zurück­ gegriffen, da es keine speziellen Regelungen zur Ausarbeitung gibt.116 In er­ heblichem Umfang leisten andere Organe der Vereinten Nationen, wie etwa das Sekretariat oder die International Law Commission, wichtige inhaltliche Vorarbeiten: So wurden etwa der grundlegende Text der Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermords von 1948 vom Sekretariat,117 die Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969, das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 sowie die Wiener Konventionen zum Dip­ lomatenrecht von der International Law Commission entworfen, um nur ein 110  U.N.T.S. 1577

(1999), 3 (No. 27531). https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails.aspx?src=TREATY&mtdsg_no =IV-11&chapter=4&clang=_en (05.10.2016). 112  Hilf, Verträge (1973), S. 37; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 58. 113  Art. 217 EWGV (jetzt Art. 342 AEUV) i. V. m. Art. 1 VO Nr. 1 zur Regelung der Sprachenfrage für die EWG; näher zur Sprachenfrage in der EU Mertens, ZNR 2013, 157 (169); Streinz, Europarecht (2016), § 4 Rn. 277 ff.; ausführlich SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 59 ff. 114  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 166. 115  Näher dazu im Einzelnen Tabory, Multilingualism (1980), S. 72 ff.; siehe au­ ßerdem zur Rolle des Sekretariats der Vereinten Nationen: Memorandum by the Sec­ retariat, „Preparation of multilingual treaties“, UN Doc. A/CN.4/187. 116  Memorandum by the Secretariat, „Preparation of multilingual treaties“, Rn. 16, UN Doc. A/CN.4/187. 117  Memorandum by the Secretariat, „Preparation of multilingual treaties“, Rn. 17, UN Doc. A/CN.4/187. 111  Siehe



B. Mehrsprachigkeit als Problemstellung45

paar Beispiele zu nennen.118 Das Aufstellen der verschiedensprachigen au­ thentischen Vertragstexte verlangt den am Ausarbeitungsprozess beteiligten Sprachendiensten erhebliche Anstrengungen ab. Werden auf der abschließen­ den Konferenz oder erst kurz vor der Abstimmung in der Generalversamm­ lung in den Vereinten Nationen noch Textdivergenzen entdeckt, dürfte dies für einige Spannungen und auch Hektik sorgen. Sobald der Vertrag von den Vertragsstaaten angenommen wurde, lassen sich etwaige Textdivergenzen gem. Art. 79 Abs. 3 WVK nur in dem in diesem Artikel vorgesehenen Ver­ fahren beheben. Es liegt auf der Hand, dass das dort niedergelegte Verfahren noch umständlicher und aufwendiger ist, als Textdivergenzen vor der endgül­ tigen Annahme des Vertrages zu beseitigen. Eine parallele Ausarbeitung der verschiedensprachigen authentischen Texte scheint bei multilateralen Verträgen im Vergleich zu bilateralen Verträgen erst recht unumgänglich. Im Vergleich zu bilateralen Verträgen kann den Verhandlungen aufgrund der größeren Anzahl der Vertragsstaaten eine noch größere Dynamik zukommen, welche das Erfassen der Verhandlungspositio­ nen im Nachhinein schwerer nachvollziehen lässt. Eine rein textliche, nach­ gelagerte Übersetzung des Vertragsentwurfs nach Abschluss der Verhandlun­ gen in die übrigen Vertragssprachen kann daher in noch größerem Maße als bei bilateralen Verträgen Gefahr laufen, Diskrepanzen im Sinngehalt der übersetzten Begriffe zu produzieren. Es hat sich demnach gezeigt, dass Unterschiede in der Redaktion und Au­ thentifizierung mehrsprachiger Verträge vor allem zwischen bilateralen und multilateralen Verträgen bestehen. Dies wird durch Art. 10 WVK nur ganz im Ansatz angedeutet.

118  Memorandum by the Secretariat, „Preparation of multilingual treaties“, Rn. 26, 32, UN Doc. A/CN.4/187; siehe näher auch Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 11.

2. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger Verträge als Schnittbereich der allgemeinen Hermeneutik und der Jurisprudenz A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge Der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge kommen zu­ nächst keine größeren Herausforderungen und Schwierigkeiten zu als ein­ sprachigen völkerrechtlichen Verträgen, wenn keine Textdivergenzen beste­ hen, die verschiedensprachigen Texte also miteinander harmonieren.119 Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge an sich – losgelöst von der Thematik der Mehrsprachigkeit – warf jedoch früher einige Fragen auf. Symptomatisch ist folgende Ausführung von Oppenheim: „There are no precise rules of customary or conventional International Law concer­ ning the Interpretation of treaties.“120

Dies mag möglicherweise für die Auslegung von Verträgen im 19. und frühen 20. Jahrhundert zutreffen. Nach Hyde gibt es verschiedene Ausle­ gungsstandards, die Vertragsstaaten seien frei, darüber zu entscheiden, wel­ chen Standard sie wählen.121 Wirft man einen Blick in frühe völkerrechtliche Literatur zur Auslegung von Verträgen, trifft man jedoch immer wieder auf einige postulierte Grundsätze. Einer dieser tragenden Grundsätze ist die Auslegung eines Vertragstextes nach dem natürlichen Wortsinn, welcher diesem allgemein beigemessen wird.122 Engelen, Tax Treaties (2004), S. 382. International Law (1955), S. 950 f. 121  Hyde, International Law (1922), S. 61: „It is important to observe that various standards of interpretation are available. The contracting States are free to adopt any one they choose“; dies scheint allerdings nicht unumstritten, siehe nur Vattel, Droit des Gens (1758), S. 462: „Voici une 3me Maxime générale, ou un 3me Prinicipe, au sujet de l’interprétation: ni l’un ni l’autre intéressés, ou des Contractans n’est en droit d’interpréter à son gré l’Acte, ou le Traité“; ähnlich wie Vattel auch Martens, Völker­ recht (1796), S. 117. 122  So bereits Grotius, De Iure Belli ac Pacis, Lib. II, Cap. XVI, II., übersetzt von Schätzel (1950), S. 289; Pufendorf, De Jure Naturæ et Gentium, Lib. V, Cap. XII., § 3, zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1711, Bd. 2, S. 190. 119  Vgl.

120  Oppenheim/Lauterpacht,



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge47

Dies wirft die Frage auf, was unter einem allgemeinen oder natürlichen Ver­ ständnis eines Vertragsbegriffes zu verstehen ist. Dieses Verständnis soll nach Grotius von einem grammatischen Verständnis abgegrenzt werden, welches lediglich einer Begriffsableitung dient.123 Der natürliche Sinn eines Vertrags­ begriffes liegt daher in der Vorstellung, welche gewöhnlich mit diesem Begriff assoziiert wird – die Ausführungen von einem natürlichen Sinn zielen daher auf die extrinsische Aussagekraft des Vertrages bzw. eines Vertragsbegriffes ab.124 Die Aussage eines Vertragsbegriffes bzw. des ganzen Vertrages bildet wiederum einen weiteren wichtigen Aspekt der Auslegung eines völkerrecht­ lichen Vertrages ab: Die Auslegung muss stets im Einklang mit dem stehen, was die Vertragsparteien mit dem Eingehen in ihre völkerrechtlichen Ver­ pflichtungen beabsichtigt oder gewollt haben.125 Aus diesem Grund lässt sich auch erklären, weshalb vielfach vertreten wird, dass die Auslegung eines Vertragsbegriffes, die den Vertrag offensichtlich ad absurdum führt oder inef­ fektiv macht, abgelehnt werden muss.126 Die größtmögliche Wirksamkeit ei­ nes Vertrages wird unter anderem auch dadurch erreicht, dass dieser von den Vertragsparteien nach Treu und Glauben erfüllt wird – die Vertragsbestim­ mungen müssen daher auch in diesem Sinne ausgelegt werden.127 Der Grundsatz, dass eine Auslegung nicht zur Ineffektivität eines Vertra­ ges führen darf, hat sich über die Jahrhunderte erhalten und ist auch heute noch ein zentrales Prinzip des modernen Völkervertragsrechts.128 Gleiches 123  Grotius, De Iure Belli ac Pacis, Lib. II, Cap. XVI, II., übersetzt von Schätzel (1950), S. 289. 124  Vgl. Hyde, International Law (1922), S. 63. Streng genommen geht es beim natürlichen Wortsinn zunächst jedoch nur um den Verstehensprozess im Sinne der allgemeinen Hermeneutik, vgl. Köck, Vertragsinterpretation (1976), S. 71. 125  Dies wird häufig unter den Schlagwörtern „Intention of the parties“ diskutiert, siehe dazu Glenn, International Law (1895), S. 144; Hyde, International Law (1922), S. 63; Phillimore, Commentaries (1855), S. 75; Wildman, International Law (1850), S. 112. 126  Aus der früheren Rechtsprechung siehe insbesondere US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844), 51 (69 f.); aus der Literatur Glenn, International Law (1895), S. 145; Moore, Digest, S. 249; Vattel, Droit des Gens (1758), S. 474 ff.; Wildman, International Law (1850), S. 112; Woolsey, Interna­ tional Law (1874), S. 186. 127  Geläufigere Wendungen sind Auslegung „bona fides“ bzw. „Interpretation in good faith“, vgl. aus der früheren Rechtsprechung US Supreme Court, Tucker v. Alexandroff, U.S. Reports 183 (1901), 424 (437): „[T]he rights of the parties must be determined by the treaty, but that this particular convention being operative upon both powers and intended for their mutual protection, should be interpreted of uberrima fides, and in a manner to carry out its manifest purpose“; aus der Literatur Phillimore, Commentaries (1855), S. 81; Puente, International Law (1928), S. 240. 128  Vielfach werden in diesem Kontext die Begriffe „effectiveness“, der vor allem aus dem Unionsrecht bekannte Terminus des „effet utile“ oder der Grundsatz „ut res

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

gilt für den Auslegungsgrundsatz, dass ein Vertragsbegriff nach seinem na­ türlichen Wortsinn auszulegen sei – dieser Grundsatz ist im modernen Völ­ kervertragsrecht unter dem Schlagwort des „ordinary meaning“ bekannt.129 Auch die Auslegung nach Treu und Glauben (good faith) hat sich als zentra­ ler Pfeiler des modernen Völkervertragsrechts etabliert.130 Die Ausführung von Oppenheim, dass keine präzisen Regeln zur Ausle­ gung völkerrechtlicher Verträge bestünden, muss vor diesem Hintergrund daher zurückhaltend betrachtet werden, da gefestigte Kerngrundsätze zur Vertragsauslegung sich bereits seit dem 18. Jahrhundert in Rechtspraxis und Völkerrechtswissenschaft entwickelt und bis in die Gegenwart gehalten ha­ ben. Problematisch erscheint jedoch – und in diesem Punkt kann Oppenheim zugestimmt werden –, ob diesen in der Rechtspraxis und Völkerrechtswis­ senschaft postulierten Grundsätzen auch unmittelbare völkerrechtliche Rele­ vanz zukommt.131 Da es vor der Wiener Vertragsrechtskonvention keine ge­ schriebenen Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge gab, kommen als Rechtsquellen nur das Völkergewohnheitsrecht oder die allgemeinen Rechts­ grundsätze in Betracht.132 Das Entstehen von Völkergewohnheitsrecht setzt eine hinreichende konsistente Staatenpraxis, welche auf einer zugrundelie­ genden Rechtsüberzeugung gründet, voraus.133 Die Meinungen im frühen völkerrechtlichen Schrifttum zur Auslegung von Verträgen stellen jedoch schon keine rechtserhebliche Handlung eines Völkerrechtssubjekts dar, son­ dern können allenfalls als Hilfsmittel zur Feststellung gewohnheitsrechtlicher magis valeat quam pereat“ angeführt, aus der Rechtsprechung siehe insbesondere IGH, Fisheries Jurisdiction Case (Spain v. Canada), Jurisdiction of the Court, Judg­ ment, I.C.J. Reports 1998, 432, § 52; IGH, Application of the International Convention on the Elimination of All Kinds of Racial Discrimination (Georgia v. Russian Federation), Preliminary Objections, I.C.J. Reports 2011, 70, § 133, 134; IGH, Questions relating to the Obligation to Prosecute or Extradite (Belgium v. Senegal), Judg­ ment, I.C.J. Reports 2012, 422, § 74; aus der Literatur Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 35; Herdegen, Interpretation (MPEPIL 03/2013), Rn. 30; vertiefend Lauterpacht, BYIL 26 (1949), 48 (51). 129  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 41; Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 31, Rn. 29; Villiger, Commentary (2009), Art. 31, Rn. 9. 130  Vgl. Art. 31 Abs. 1 WVK; aus der neueren Rechtsprechung IGH, Nuclear Tests Case (Australia v. France), Judgment, I.C.J. Reports 1974, 253, § 46. 131  Vergleiche statt vieler Mössner, AVR 15 (1972), 273 (277), der nicht eine ge­ wohnheitsrechtliche Geltung dieser Auslegungsregeln anzunehmen scheint, anders die wohl herrschende Kommentarliteratur, siehe Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 6; Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 31, Rn. 13. 132  So auch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (277). 133  Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 38, Rn. 209 ff.; von Ungern-Sternberg, Jura 2011, 39 (39).



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge49

Rechtssätze herangezogen werden.134 Etwas anderes gilt demgegenüber für die Rechtspraxis: Wenn nationale Gerichte bestimmte Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge ausdrücklich anwenden, liegen damit Handlungen vor, welche dem betreffenden Staat als Völkerrechtssubjekt zuzurechnen sind und daher zumindest mittelbar, wenn nicht sogar unmittelbar auf dessen Staatspraxis einwirken.135 Insbesondere die oben zitierte ältere Rechtspre­ chung des US Supreme Court stellt sich damit als Ausprägung einer bedeu­ tenden Staatspraxis dar, zudem gibt auch die Rechtsprechung des StIGH136 134  Zu der Einordnung völkerrechtlicher Lehrmeinungen in das System der Rechts­ quellen Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 38, Rn. 335 ff. 135  Vgl. Art. 4 der ILC Draft Articles on State Responsibility. Art. 4 wird vom In­ ternationalen Gerichtshof gewohnheitsrechtlicher Charakter beigemessen, siehe IGH, Difference Relating to Immunity from Legal Process of a Special Rappoteur of the Commission on Human Rights, Advisory Opinion, I.C.J. Reports 1999, 62, § 62: „Ac­ cording to well established rule of international law, the conduct of any organ of a State must be regarded as an act of that State. This rule, which is of customary cha­ racter […].“ Auch im Schrifttum gibt es hinreichend Anhaltspunkte für diese Auffas­ sung, so etwa Hernández, in: Bianchi [et al.] (Hrsg.), Interpretation (2015), S. 174 f.; Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), S. 352 f.; Lauterpacht, BYIL 10 (1929), 65 (80 f.); Pellet, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 38, Rn. 321; Roberts, ICLQ 60 (2011), 57 (70); Thirlway, in: Evans (Hrsg.), In­ ternational Law (2014), S. 106, der nationalen Gerichtsentscheidungen im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) und d) eine „dual role“ zuspricht; Tzanakopoulos, Loy. L.A. Int’l & Comp. L. Rev. 34 (2011–2012), 133 (155). In der deutschsprachigen völkerrechtlichen Literatur wird die Rolle nationaler Gerichte mit Verweis auf Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut überwiegend zurückhaltender betrachtet, siehe etwa von Arnauld, Völkerrecht (2016), § 3, Rn. 251 – mit der Einschränkung, dass die natio­ nale Gerichtsentscheidung über eine bloße Rechtsfeststellung hinausgehen muss; ge­ wohnheitsrechtliche Geltung verneinend etwa Vitzthum/Proelß, Völkerrecht (2016), 1. Abschnitt, Rn. 157; zurückhaltend auch Hilf, Verträge (1973), S. 84; Krajewski, Völ­ kerrecht (2017), § 4, Rn. 11; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (277), die Gerichtsent­ scheidungen nicht anders behandeln wollen wie Lehrmeinungen im völkerrechtlichen Schrifttum, a. A. hierzu wiederum Andenas/Ruben Leiss, ZaöRV 2017, 907 (943 f.). Im angloamerikanischen Rechtsraum gilt jedoch im Hinblick auf die Common Law Tradition, dass richterlichen Urteilen erhebliche rechtsschöpferische Bedeutung zu­ kommt (vgl. hierzu von Ungern-Sternberg, Jura 2011, 39 [41]). Insbesondere frühen Urteilen des US Supreme Court zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge kommt daher mangels Vorliegens einheitlicher Auslegungsgrundsätze zu dieser Zeit (auch) rechtsschöpferische Kraft zu. 136  Vgl. beispielhaft zur Auslegung nach der „effectiveness“ eines völkerrechtli­ chen Vertrages StIGH, Exchange of Greek and Turkish Populations, Advisory Opi­ nion, Series B, N° 10, S. 17; StIGH, Free Zones of Upper Savoy and the District of Gex, Order of August 19th, 1929, Series A, N° 22, S. 13; zur Auslegung nach dem natürlichen Wortsinn StIGH, Polish Postal Service in Danzig, Advisory Opinion of May 15th, 1925, Series B, N° 11, S. 39: „It is a cardinal principle of interpretation that words must be interpreted in the sense which they would normally have in their context […].“

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge ein starkes Indiz für das Bestehen einer entsprechenden Staatenpraxis, welche die frühen Auslegungsregeln als gewohnheitsrechtliche Rechtssätze qualifizieren kann.137 Es hat sich gezeigt, dass bereits der völkerrechtliche Status der oben auf­ gezeigten Auslegungsregeln vor Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskon­ vention nicht unumstritten ist. Dies lässt erahnen, dass der völkerrechtliche Status der frühen Auslegungsregeln für die Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen noch schwieriger zu klären ist. Inwieweit die oben angeführten Auslegungsgrundsätze sich auch bei Textdivergenzen bei mehrsprachigen Verträgen wiederfinden, wird sich ggf. zeigen.

I. Einordnung verschiedensprachiger Vertragstexte bei der Auslegung Zusätzlich zu den bereits bestehenden Herausforderungen der Auslegung völkerrechtlicher Verträge stellen Textdivergenzen den Rechtsanwender vor weitere Schwierigkeiten. Entscheidend ist hierbei zunächst, welche Trag­ weite die Textdivergenzen haben: Die Spannweite ist hier denkbar von mar­ ginalen Bedeutungsunterschieden bis hin zu gravierenden Diskrepanzen, bei welchen die verschiedenen Texte einen völlig unterschiedlichen Sinngehalt haben. Geklärt werden muss auch, in welchen Konstellationen Textdivergen­ zen generell Relevanz zukommt. Unterschieden werden muss jedenfalls zwischen Texten mit gleicher Verbindlichkeit und Texten mit ungleicher Verbindlichkeit.138

137  Andere Auffassung jedoch offenbar Mössner, AVR 15 (1972), 273 (277), je­ doch ohne nähere Begründung: „Besondere völkerrechtliche Auslegungsregeln kön­ nen somit nicht als geltende Rechtsnormen angenommen werden, obgleich die Welt­ gerichtshöfe auf solche Regeln zurückgegriffen […] haben.“ Die Auffassung von Mössner erscheint jedoch allein unter dem Gesichtspunkt zweifelhaft, als dass er sich im Zusammenhang mit seiner Aussage nicht hinreichend mit Art. 38 Nr. 4 StIGHStatut auseinandersetzt. Nach der hier vertretenen Auffassung, dass nationale Gerichte wie der US Supreme Court einen wichtigen Beitrag zur (Weiter-)Entwicklung von Auslegungsgrundsätzen zu völkerrechtlichen Verträgen geleistet haben (vgl. Fran­ cioni, Tex. Int’l L. J. 36 (2001), 587 [589]), kann auch konstatiert werden, dass die Common Law Tradition einen erheblich größeren Anteil an der Fortentwicklung des relevanten Völkergewohnheitsrechts haben muss; siehe hierzu Lauterpacht, BYIL 10 (1929), 65 (77 f., 80 f.). 138  So bereits die Differenzierung bei Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (74; 123); Hilf, Verträge (1973), S. 48, 103; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 138, 147.



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge51

1. Divergenzen zwischen authentischem und offiziellem Text Die Begriffe des authentischen und offiziellen Texts erscheinen auf den ersten Blick nahezu deckungsgleich. Die Bezeichnung als offizieller Text scheint rechtliche Autorität zu vermitteln, da die Vertragsparteien diesen – wie auch die authentischen Texte – unterzeichnet haben.139 Es ist jedoch ein Trugschluss, allein aus der Unterzeichnung zu schlussfolgern, dass dem offi­ ziellen Text die gleiche Bedeutung zukommt wie dem authentischen Text: Zusätzlich zur Unterzeichnung eines Vertrages verleiht die Authentifizierung eines völkerrechtlichen Vertragstextes diesem eine höhere rechtliche Autori­ tät, die sich aus den terminologischen Begrifflichkeiten auf den ersten Blick nicht aufdrängt.140 Im Gegensatz zu einem offiziellen Text soll durch die Kennzeichnung eines Vertragstextes als „authentisch“ der Sache nach ausge­ drückt werden, dass der Text vom Verfasser stammt141 – dem offiziellen Text wird eine solche Bekräftigung gerade nicht zugeschrieben. Ein offizieller Text unterscheidet sich von einem authentischen Text damit dadurch, dass ersterer trotz der Gemeinsamkeit der Unterzeichnung nicht als verbindlich angesehen wird.142 Hardy nennt als Beispiel für die Existenz of­ fizieller Texte den italienischen Friedensvertrag vom 10. Februar 1947.143 Die verschiedenen Begriffe des authentischen und offiziellen Texts implizie­ Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (123); Hilf, Verträge (1973), S. 103. zu den Begrifflichkeiten „authentic text“ und „official text“ GächterAlge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 131 ff.; Gardiner, Interpretation (2015), S. 421 f.; Gazzini, Investment Treaties (2016), S. 268; Hardy, BYIL 37 (1962), 72 (123). 141  Zur Begriffsbedeutung von „authentisch“ siehe Brockhaus (2006), S. 9, der neben der Beschreibung „vom Verfasser stammend“ auch „Beglaubigung“ nennt; siehe aber noch weiterführend Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 131, die zwar im Grundsatz die Übereinstimmung der Brockhaus-Definition mit dem Sinnge­ halt von Art. 10 WVK anmerkt, jedoch darauf hinweist, dass in den Fällen, in wel­ chen die Vertragstexte nicht koredaktionell ausgearbeitet und redigiert wurden, die Authentizität der nachfolgenden faktischen Übersetzungen durch eine rechtliche Fik­ tion begriffen wird; Hilf, Verträge (1973), S. 52. 142  Grundlegend Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (123); dieser Unterteilung folgte 1966 auch die International Law Commission, siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 224; unklar hingegen die Ausführungen von Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 140, welche die Kategorien des offiziellen Texts und der amtlichen Über­ setzung zu vermischen scheinen; den Unterschied zwischen offiziellen Text und amt­ licher Übersetzung stellt Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 149, klarer heraus. 143  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (123). Der Friedensvertrag mit Italien (U.N.T.S. 49 (1950), 7 [No. 747]) war in Französisch, Englisch, Russisch und Italienisch geschlos­ sen (vgl. die Schlussphrase „Done in the city of Paris in the French, English, Russian and Italian languages […]“), authentische Sprachen waren jedoch nur die erstgenann­ ten drei (vgl. Art. 90). 139  Vgl.

140  Näher

52

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

ren ein Stufenverhältnis dergestalt, dass dem authentischen Text mehr Auto­ rität zukommt als dem offiziellen Text, der gerade nicht verbindlich ist.144 Es ist jedoch nicht völlig klar, welche Folgen sich im Falle von Divergen­ zen zwischen authentischem und offiziellem Text ergeben. Die naheliegende Annahme, dass der authentische Text automatisch dem offiziellen Text vor­ geht, kann sich unter Umständen als Schnellschuss erweisen.145 Eine gene­ relle Auslegungsregel, dass dem authentischen Text stets der Vorrang vor dem offiziellen Text zukäme, lässt sich jedenfalls den Ausführungen der In­ ternational Law Commission im Zusammenhang ihrer Vorarbeiten zu Art. 33 WVK nicht entnehmen: „The Commission considered whether there were any further principles which it might be appropriate to codify as general rules for the interpretation of plurilingual treaties. [I]t [does not] think that it would be appropriate to formulate any general rule regarding recourse to non-authentic versions, though these are sometimes re­ ferred to for such light as they may throw on the matter.“146

Diese Ausführungen implizieren – insbesondere der letzte Halbsatz –, dass es zwar Auslegungsregeln für Divergenzen zwischen authentischen und offi­ ziellen Texten geben muss, die International Law Commission sich jedoch nicht abschließend festlegen wollte, welcher Auslegungsregel der Vorzug gewährt werden sollte. Hardy meint, dass die abschließenden Sprachenklau­ seln in Verträgen nicht notwendig inhaltlich kohärent sein müssen: Neben Sprachenklauseln, in denen der authentische Text ohne weitere Zusätze ne­ ben dem offiziellen Text steht, gebe es auch Sprachenklauseln, wonach offi­ zielle Texte in einem flexiblen Verhältnis zu den authentischen stünden und gegebenenfalls sogar unter bestimmten Bedingungen zu einer authentischen Sprache avancieren können – dies könne die Auslegung bei Divergenzen zwischen authentischem und offiziellen Text erheblich beeinflussen.147 Hardy bezeichnet solche Texte als quasi-authentisch, da ihnen eine relative Authen­ tizität zukäme.148 144  Hardy,

BYIL 37 (1961), 72 (123); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 131. Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (124), der den automatischen Vorrang des authentischen Texts jedoch als offene Frage formuliert. 146  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 226. 147  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (124 f.). 148  Siehe Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (125), der als Beispiele die Verträge von Saint-Germain, Neuilly und Trianon anführt. Die Sprachenklausel des Vertrags von Saint-Germain lautet wie folgt: „The present Treaty, in French, in English, and in Italian, shall be ratified. In case of divergence, the French Text shall prevail, except in Part I (Covenant of the League of Nations) and XIII (Labour), where the French and English texts shall be of equal force.“ Nach Hardy sollen bei diesen Verträgen dem englischen und italienischen Text relative Authentizität zukommen, dem franzö­ sischen jedoch absolute Authentizität, da er im Falle von Textdivergenzen den beiden erstgenannten Vertragstexten vorgehe. 145  Vgl.



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge53

Diese vorgenommene Unterscheidung zwischen offiziellen Texten, denen Quasi-Authentizität zukomme, und den sonstigen authentischen Texten, de­ nen absolute Authentizität beigemessen werden soll, vermag nicht zu über­ zeugen und verkompliziert die Betrachtung unnötig. In den von Hardy ange­ führten Beispielen der Verträge von Saint-Germain, Neuilly und Trianon wird deutlich, dass die Vertragstexte nicht paritätisch nebeneinanderstehen und dies näher an Bedingungen geknüpft wird.149 Dass die englischen und italienischen Vertragstexte in diesen Beispielen nur quasi-authentisch seien, erscheint bereits anhand der von Hardy zitierten Vertragsklausel zweifelhaft. Die Klausel „The present Treaty, in French, in English, and in Italian, shall be ratified“ lässt dem Wortlaut nach nicht erkennen, warum eine dieser Spra­ chen nicht authentisch sein soll. Inwieweit im Falle von Textdivergenzen eine Vertragssprache den anderen vorgeht, ist in diesem Beispiel eine Frage der Verbindlichkeit der Vertragstexte, jedoch keine ihrer Authentizität.150 Nach der hier vertretenen Auffassung zielen die oben erwähnten Vertrags­ klauseln auf die rechtliche Autorität bzw. Verbindlichkeit ab, d. h. auf das Verhältnis der authentischen Texte untereinander und nicht auf ihre Authen­ tizität selbst.151 Es verbleibt daher bei dem Grundsatz, dass sich der oder die authentischen Texte gegen offizielle Texte im Falle von Textdiskrepanzen durchsetzen.152 Inwieweit offizielle Texte die Auslegung eines authentischen Textes im Ein­ 149  Vgl. näher zur bedingten Autorität von Vertragstexten Rest, Rechtsbegriffe (1971), S.  129 f. 150  Siehe nur Oberster Gerichtshof (Polen), Archdukes of the Habsburg-Lorraine House v. The Polish State Treasury, Annual Digest Of Public International Law Cases 5 (1929–1930), 365 (367 f., 370), der sich mit der fraglichen Sprachenklausel des Vertrags von Saint-Germain auseinandersetzt. Der Oberste Gerichtshof geht davon aus, dass alle drei Sprachen (Französisch, Englisch, Italienisch) gleichermaßen au­ thentisch sind, der Vorrang des Französischen im Falle von Textdivergenzen jedoch eine Frage der Verbindlichkeit („authoritative“) ist, die der Vertrag selbst anordnet. Hardy zitiert das Urteil des Obersten Gerichtshofs auch (BYIL 37 [1961], 72 [130]), erwähnt jedoch an keiner Stelle, dass der Oberste Gerichtshof alle drei Vertragsspra­ chen als authentisch ansieht. 151  Die Ausführungen von Hardy erscheinen außerdem nicht immer konsistent, da er die Begriffe „authentic“ und „authoritative“ zu vermischen scheint, vgl. Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (126 f.); ähnlich fehlerhaft auch Rosenne, in: FS Mosler (1983), S. 759, der die Begriffe „authentic“ und „authoritative“ sogar synonym verwenden will; zutreffend dagegen Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 138, die darauf abstellt, dass ein authentischer Text nicht verbindlich sein muss, genauso wenig wie umgekehrt. 152  Vgl. Italian-United States Conciliation Commission, Flegenheimer Case, Deci­ sion No. 182 of 20 December 1958, Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. XIV, 327 (382): „It cannot be denied that the interpretation of the text of a treaty can be made only by using the versions that have been declared to be authentic originals by the treaty it­ self.“

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

zelfall bestätigen können, also als Auslegungshilfe dienen,153 ist eine andere Frage, die jedoch für die Klärung der Auflösung textlicher Diskrepanzen zwischen den authentischen Vertragstexten hier keiner näheren Untersuchung bedarf. 2. Divergenzen zwischen authentischem Text und amtlicher Übersetzung Einen noch geringeren Stellenwert als offizielle Texte nehmen amtliche Übersetzungen der authentischen Texte ein. Amtliche Übersetzungen werden in der Regel von den Vertragspartnern, von einer Regierung der beteiligten Vertragspartner oder einer internationalen Organisation zeitnah zum Ver­ tragsschluss erstellt.154 Diese haben einen größeren Wert als sog. innerstaat­ liche Übersetzungen, welche erst mit deutlicher zeitlicher Verzögerung und einseitig durch eine Vertragspartei erstellt werden.155 Hinsichtlich amtlicher Übersetzungen gilt im Konfliktfall mit authentischen Texten dasselbe wie bei offiziellen Texten: Als höherrangig ist stets der authentische Text anzusehen, welcher sich gegen die amtliche Übersetzung durchsetzen muss.156 In Einzel­ fällen mag es denkbar sein, dass eine amtliche Übersetzung die Auslegung eines authentischen Textes bestätigen kann, hierfür also Indizien liefert.157 Sofern die authentischen Texte und die amtlichen Übersetzungen miteinander harmonieren, dürfte insbesondere beim innerstaatlichen Rechtsanwender die Verlockung groß sein, lediglich die Übersetzung heranzuziehen – bis eine Diskrepanz zwischen der amtlichen Übersetzung und dem authentischen Text entdeckt wird.158 Obgleich es im Hinblick auf die Frage der Fremdsprachen­ kompetenz natürlich erscheint, dass der Rechtsanwender in aller Regel auf Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (24), jedoch zu Übersetzungen. BYIL 37 (1961), 72 (136); Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 224. 155  Hilf, Verträge (1973), S. 106 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschafts­ recht (2004), S. 148. 156  Dies verkennt u. a. der BGH, indem er meint, dass auch die deutsche Überset­ zung der EMRK als authentisch angesehen werden müsse (jedoch mit Verweis auf die Rechtsauffassung der Bundesregierung), siehe BGHZ 45, 58 (68), zu Recht kritisch hierzu Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 149; ähnlich feh­ lerhaft auch das OVG Nordrhein-Westfalen, DVBl. 2007, 1442 (1443), welches auf die Maßgeblichkeit der amtlichen deutschen Übersetzung abstellt (Vereinbarkeit der Erhebung von Studiengebühren mit dem UN-Sozialpakt). 157  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (24); Fattal, Multilinguisme (1994), S. 54. 158  Vgl. etwa Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 141 f. Aus der deutschen Rechtsprechung siehe insbesondere OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 11.02.1992 – 8 B 536/92 –, juris, Rn. 28. Das OVG hatte sich jedoch explizit vergewissert, dass kein Bedeutungsunterschied zwischen amtlicher Übersetzung und authentischem Text besteht. 153  Vgl.

154  Hardy,



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge55

die amtlichen Übersetzungen zurückgreifen wird – sofern seine Mutterspra­ che nicht eine der authentischen Sprachen ist –, haftet dieser Methode das Manko an, dass so Diskrepanzen mangels Vergleichs der Texte leicht überse­ hen werden können. In der Sache läuft dies darauf hinaus, dass das Entde­ cken etwaiger Textdivergenzen zwischen authentischem Text und amtlicher Übersetzung auf die Prozessparteien abgewälzt wird.159 3. Divergenzen zwischen authentischem Text und nationalem Umsetzungsgesetz Einen Sonderfall nehmen Diskrepanzen zwischen dem authentischen Ver­ tragstext und dem Text des nationalen Umsetzungsgesetzes ein. Hierbei muss zwischen zwei Konstellationen unterschieden werden: Einerseits ist es denk­ bar, dass der Text des Umsetzungsgesetzes nicht in derselben Sprache wie der authentische Vertragstext abgefasst ist, jedoch ist auch das Gegenteil vorstellbar, dass das Umsetzungsgesetz ein exaktes Duplikat des authenti­ schen Vertragstextes ist.160 In ersterem Fall stellt sich das Umsetzungsgesetz prima facie nicht anders dar als eine amtliche Übersetzung. Anders als einer amtlichen Übersetzung kommt dem nationalen Umsetzungsgesetz jedoch eine hervorgehobenere Rolle zu: Da der Richter an das Gesetz gebunden ist, kann er dieses, anders als eine amtliche Übersetzung, nicht ignorieren. Eine praktisch wichtige Entscheidung zu dieser Konstellation erging vom engli­ schen House of Lords im Fall Fothergill v. Monarch Airlines.161 Das dem Rechtsstreit zugrunde liegende Warschauer Abkommen über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 12. Oktober 1929162 war im Zusammen­ hang mit dem Haager Zusatzprotokoll vom 28. September 1955 in ein engli­ sches Gesetz inkorporiert worden (Carriage by Air Act163). Der Carriage by Air Act bestimmte, dass im Falle von Textdivergenzen zwischen der engli­ schen Gesetzesfassung und dem französischen Vertragstext Letzterer Vorrang hat (Sec. 1 (2)). Ähnlich wie bei amtlichen Übersetzungen eines Vertragstex­ tes kann jedoch auch eine Inkorporierung in ein innerstaatliches Gesetz zu der Verfahrensweise verleiten, das Augenmerk nur noch auf dieses zu richten 159  Vgl. nur US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844), 51 (52): „The Spanish part of the treaty was not then brought into view, and it was then supposed there was no variance between them.“ 160  Siehe näher zu den verschiedenen Konstellationen die Ausführungen des Lordrichters Wilberforce im Fall James Buchanan and Co. Ltd. v. Babco Forwarding and Shipping, ILR 74 (1987), 574 (593). 161  House of Lords, Fothergill v. Monarch Airlines, ILR 74 (1987), 627 ff. 162  L.N.T.S. 137 (1933), 13 (No. 3145). 163  Carriage by Air Act 1961, 9 & 10 ELIZ. 2 Ch. 27.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

und nicht mehr auf den authentischen Vertragstext.164 Auffällig ist, dass das House of Lords keine sich aufdrängende triviale Lösung wählt, nämlich bei Bemerken von Unstimmigkeiten zwischen dem englischen Gesetzestext und dem französischen Vertragstext Letzterem ohne weiteres Zögern den Vorzug zu geben. Die Ausführungen der Lordrichter lassen ein sehr bedächtiges Vor­ gehen erkennen, um die Bedeutungsunterschiede zwischen den Begriffen „damage“ und „avarie“ in Art. 26 (2) des Abkommens zu erhellen.165 Um­ stritten war hierbei die Rolle der travaux préparatoires unter den Lordrich­ tern.166 Im Ergebnis bestand jedoch Einigkeit darin, dass die Begriffsbedeu­ tung von „avarie“ der von „damage“ vorgehen muss. Die methodische Vorgehensweise des House of Lords ist trotz Bezugnahme auf den authentischen französischen Vertragstext nicht ohne Kritik geblieben. Kritisiert wurde insbesondere die zu sehr am buchstäblichen Wortsinn haf­ tende Auslegung, welche sich stark anhand des muttersprachlichen Texts orientierte.167 Die Vorgehensweise des House of Lords ist trotz ihrer Bedäch­ tigkeit Ausdruck von Unsicherheiten der Lordrichter in der französischen Rechtssprache.168 Zustimmung verdient diese Vorgehensweise jedoch hin­ sichtlich des Bemühens, die Bedeutungsunterschiede der beiden streitgegen­ ständlichen Begriffe exakt zu ermitteln und sich hierbei auch mit der franzö­ sischen Rechtssprache auseinander zu setzen. Wohin eine solche mangelnde Bereitschaft führt, zeigt dagegen exemplarisch ein Fall des New York Court of Appeal zu Art. 17 des Warschauer Abkommens: Der Court of Appeal ging fehlerhaft lediglich auf den Begriff „bodily injury“ ein und legte diesen nach seinem natürlichen Wortsinn aus, anstatt den authentischen französischen Begriff „lésion corporelle“ heranzuziehen.169 164  Siehe nur folgende Ausführung des Lordrichters Dennings, ILR 74 (1987), 631 ff.: „That Act appended an English text and a French Text: and said (section 1 (2)) that if there was any inconsistency between the two ‚the text in French shall prevail‘. That is a funny sort of thing to tell us English lawyers. Some of us have no French. Others have schoolboy French. None of us has sufficient knowledge of French to be able to detect any inconsistency.“ 165  Siehe nur die Ausführungen des Lordrichters Wilberforce, ILR 74 (1987), 651. 166  Vgl. die Ausführungen des Lordrichters Diplock, ILR 74 (1987), 657, der sei­ nen Richterkollegen bis auf die Ausführungen zu den travaux préparatoires zustimmt, da diese nicht notwendig seien, um die Umstimmigkeiten in den Bedeutungen zwi­ schen „damage“ und „avarie“ zu erkennen. 167  Kuner, ICLQ 40 (1991), 953 (961). 168  Vgl. Johnson, Ga. J. Int’l & Comp. L. 20 (1990), 619 (639). 169  Court of Appeal of the State of New York, Rosman v. Transworld Airlines, 34 N.Y.2d (1974), 385 (392 ff.). Das Gericht meinte zwar, dass „French legal usage must be considered at in arriving at an adequate English translation of the French.“ Gleich­ wohl kommt hier das Gericht zirkelschlussartig zu dem Ergebnis, dass es keiner nä­ heren Untersuchung des französischen Begriffes „lésion corporelle“ bedürfe, da die



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge57

Es hat sich gezeigt, dass der Text eines innerstaatlichen Umsetzungsgeset­ zes, welcher nicht in der Sprache des authentischen Vertragstextes abgefasst ist, den Richter verleiten kann, sich auf dieses zu stützen. Diesem Umstand ist es geschuldet – wie die oben angeführten Fälle zum Warschauer Abkom­ men über die Beförderung im internationalen Luftverkehr zeigen –, dass der Richter beim Umsetzungsgesetz in noch stärkerem Maße der Versuchung widerstehen muss, unreflektiert auf seine Muttersprache bei der Auslegung eines mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrages zurückzugreifen, sofern diese keine authentische Vertragssprache ist. Anders stellt sich demgegenüber die Konstellation dar, in welcher der Text des Umsetzungsgesetzes ein exaktes Abbild eines authentischen Vertragstex­ tes ist. Ein praktisch bedeutender Fall zu dieser Situation wurde ebenfalls vom House of Lords in James Buchanan and Co. Ltd. v. Babco Forwarding and Shipping Ltd. entschieden.170 Diesem Rechtsstreit lagen unter anderem Auslegungsfragen zur Internationalen Vereinbarung über Beförderungsver­ träge auf Straßen vom 19. Mai 1956171 zugrunde. Die authentischen Texte dieses Vertrages waren in Englisch und Französisch abgefasst (Art. 51), der englische Text wurde in ein englisches Gesetz inkorporiert (Carriage of Goods by Road Act172). Die Frage, inwieweit Divergenzen zwischen dem englischen Gesetzestext und dem französischen Vertragstext aufzulösen seien, wurde von den Lordrichtern jedoch offengelassen, da sie keine Un­ stimmigkeiten zwischen den Texten zu erkennen vermochten.173 Es sei je­ doch legitim, ergänzend den französischen Text heranzuziehen, um die kor­ rekte Auslegung des englischen Texts bestätigen zu können.174 In der Sache kommt dem Text des Carriage of Goods by Road Act der gleiche Stellenwert zu wie dem englischen Vertragstext. Sofern das House of Lords Textdivergenzen zwischen dem Carriage of Goods by Road Act und dem französischen Vertragstext angenommen hätte, hätte sich keiner der Texte formal durchgesetzt. Das House of Lords hätte dann vielmehr nach englische Übersetzung einwandfrei sei; kritisch zu dem Ansatz des New York Court of Appeal ebenso Johnson, Ga. J. Int’l & Comp. L. 20 (1990), 619 (632). Auch der US Supreme Court zog im Fall Eastern Airlines, INC v. Floyd et al., U.S. Reports 499 (1990), 530 (536) schließlich die Ansicht vor, dass der französische Text von Art. 17 des Warschauer Abkommens jedenfalls berücksichtigt werden müsse. 170  House of Lords, James Buchanan and Co. Ltd. v. Babco Forwarding and Shipping (U.K.) Ltd., ILR 74 (1987), 574 ff. 171  U.N.T.S. 399 (1961), 189 (No. 5742). 172  Carriage of Goods by Road Act 1965, Elizabeth II, 1965 Chapter 37. 173  So etwa die Lordrichter Edmund-Davies und Fraser of Tullybelton, ILR 74 (1987), 574 (610, 613). 174  Siehe insbesondere die Meinung des Lordrichters Wilberforce, ILR 74 (1987), 574 (593).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

einer Auslegung suchen müssen, welche die Textdivergenzen auflöst. Die prinzipielle Bereitschaft des House of Lords, auch ergänzend den französi­ schen Text heranzuziehen, deutete hierbei immerhin im Ansatz auf eine pari­ tätische Würdigung des englischen und französischen Textes des Warschauer Abkommens hin und gegen ein ausschließliches Einschwenken auf den lan­ dessprachlichen Text i. S. d. Carriage of Goods by Road Act. 4. Divergenzen zwischen authentischen Texten Die authentischen Vertragstexte nehmen – wie bereits oben angedeutet – den höchsten Stellenwert ein im Verhältnis zu den sonstigen Texten, wie etwa offizielle Texte oder amtliche Übersetzungen. Diese im Verhältnis zu offiziellen Texten und amtlichen Übersetzungen übergeordnete Wertigkeit impliziert im Ansatz bereits die Parität der verschiedenen authentischen Ver­ tragstexte. Ob dies in Einzelfällen anders ist und eine solche Parität der au­ thentischen Texte sich in der Rechtspraxis wiederfindet, soll an dieser Stelle noch nicht diskutiert werden. Der Umgang mit Textdiskrepanzen zwischen authentischen Vertragstexten bedeutet daher für den Rechtsanwender die größten Herausforderungen: Während er offizielle Texte oder amtliche Über­ setzungen im Zweifelsfall ignorieren und dem authentischen Text den Vorzug geben kann, damit also eine verhältnismäßig triviale Lösung zur Hand hat, ist es erheblich komplizierter, eine Auslegungslösung für formal gleichwer­ tige, einander widersprechende Texte zu finden. Dies hängt freilich davon ab, in welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen für den konkreten Fall authentische Texte voneinander abweichen. 5. Erscheinungsformen von Textdivergenzen Die Spannweite von Textdivergenzen zwischen authentischen Texten kann sehr weit sein. Denkbar sind marginale Bedeutungsunterschiede in einzelnen Vertragsbegriffen bis hin zu gravierenden Diskrepanzen ganzer Vertragstext­ passagen. Wie in der Rechtsprechung mit Textdiskrepanzen, welche nur ge­ ringe Bedeutungsunterschiede aufwiesen, umgegangen wurde, zeigen insbe­ sondere mehrere Urteile des Ständigen Internationalen Gerichtshofs: So stellte im Fall Nationality Decrees in Tunis and Morocco das Gericht zwar fest, dass zwischen dem englischen und französischen Text in Art. 15 Abs. 8 der Völkerbund-Charta kleine Unterschiede bestünden, diese jedoch rechtlich keine Relevanz hätten, da der Wortsinn derselbe sei.175 Das Urteil zu Natio175  StIGH, Nationality Decrees Issued in Tunis and Morocco, Advisory Opinion, Series B, N° 4, S. 21 f.; ähnlich StIGH, Competence of the International Labour Or-



A. Auslegung völkerrechtlicher Verträge59

nality Decrees in Tunis and Morocco legt instruktiv dar, dass Unterschiede im Sinngehalt einzelner Begriffe in den verschiedenen Vertragssprachen je­ denfalls ein gewisses Gewicht für ihre Entscheidungserheblichkeit haben müssen. Als gegensätzliches Beispiel für gravierende Textdiskrepanzen zwischen authentischen Vertragstexten dient der ICSID-Schiedsfall Kiliç Ĭnşaat Ĭthalat Ĭhracat Sanayi Ve Ticaret Anonim Şirketi v. Turkmenistan.176 Die größte He­ rausforderung lag bereits darin, festzustellen, welcher der Vertragstexte au­ thentisch war: Nach dem authentischen englischen Text waren Englisch und Russisch authentische Sprachen, während nach dem russischen Text Tür­ kisch, Turkmenisch, Englisch und Russisch genannt waren.177 Ungeachtet dessen waren die Diskrepanzen zwischen dem englischen und russischen Text von so großem Gewicht, dass das Schiedstribunal von grammatikalisch fehlerhaften Wendungen des englischen Textes sprach, die zudem unelegant seien.178 In der Literatur ist dieser Fall zu Recht als härteste Bewährungs­ probe für die Auslegung mehrsprachiger Verträge bezeichnet worden.179 Die Beispiele zeigen, dass Divergenzen zwischen authentischen Vertrags­ texten sich nicht nur hinsichtlich ihrer Schwere und ihres Ausmaßes für einen zu entscheidenden Fall, sondern auch hinsichtlich möglicher Schnittmengen oder Gemeinsamkeiten in der Bedeutung unterscheiden können. So kann etwa bei der Divergenz zwischen den Begriffen „employment“ und „travail“ im Gutachten des StIGH zu Competence of the International Labour Organization in regard to International Regulation of the Conditions of Labour of Persons Employed in Agriculture zur Kenntnis genommen werden, dass beide Begriffe eine gemeinsame Bedeutung haben, jedoch der Wortsinn eines der beiden Begriffe weiter sein kann als der andere. Umgekehrt hat die frag­ liche Sprachenklausel im Türkei-Turkmenistan-BIT 1992, mit welcher sich das ICSID Schiedsgericht im Fall Kiliç Ĭnşaat Ĭthalat Ĭhracat Sanayi Ve Ticaret Anonim Şirketi v. Turkmenistan auseinandersetzen musste, nur einen Schnittbereich, oder anders ausgedrückt, einen kleinen gemeinsamen Nenner. Hilfreich zur Vorstellung dieser Kategorien ist die Darstellung mit Zwei­ kreisfiguren: Während im erstgenannten Beispiel konzentrische Kreise als ganization in regard to International Regulation of the Conditions of Labour of Persons Employed in Agriculture, Advisory Opinion, Series B, N° 2, S. 35, 39. 176  ICSID, Kiliç Ĭnşaat Ĭthalat Ĭhracat Sanayi Ve Ticaret Anonim Şirketi v. Turkmenistan, ICSID Case No.  ARB 10/1, Entsch. v. 07.05.2012. 177  Arsanjani/Reisman, in: Caron [et al.], Arbitration (2015), S. 412; Gardiner, Interpretation (2015), S. 438. 178  ICSID, Kiliç Ĭnşaat Ĭthalat Ĭhracat Sanayi Ve Ticaret Anonim Şirketi v. Turkmenistan, ICSID Case No.  ARB 10/1, Entsch. v. 07.05.2012, Rn. 9.14. 179  Gardiner, Interpretation (2015), S. 438.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Darstellung dienen könnten, könnten im zweiten Beispiel die Diskrepanzen anhand sich schneidender Kreise symbolisiert werden.180

II. Zusammenfassung Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge kann nicht iso­ liert von allgemeinen Auslegungsgrundsätzen zu völkerrechtlichen Verträgen betrachtet werden. Umstritten ist jedoch insbesondere der völkerrechtliche Status von Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge vor dem Inkraft­ treten der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969. Nach der hier vertre­ tenen Auffassung kommt jedenfalls seit jeher vertretenen Kerngrundsätzen zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge gewohnheitsrechtliche Geltung zu. Inwieweit diese Kerngrundsätze bei der Auslegung mehrsprachiger völker­ rechtlicher Verträge im Falle von Textdivergenzen herangezogen werden können, wird sich noch zeigen. Für die Auslegung mehrsprachiger Verträge muss zudem zwischen Texten gleicher und ungleicher Verbindlichkeit unterschieden werden. Authentische Texte, offizielle Texte und amtliche Übersetzungen bilden in diesem Zusam­ menhang eine absteigende Hierarchie ab. Ein in dieser Hierarchie höherran­ giger Text setzt sich daher im Falle von Textdivergenzen gegen den nieder­ rangigen durch. Eine Sonderrolle können innerstaatliche Gesetze haben, wenn sie ein exaktes Duplikat von einem der authentischen Ausgangstexte sind. Im Falle von Textdivergenzen zwischen dem nationalen Gesetz und einer der authentischen Vertragssprachen kommt nationalen Gerichten eine wichtige Rolle zu. Maßgeblich für die Auslegung mehrsprachiger Verträge sind daher stets die authentischen Texte. Die Auslegung solcher Verträge muss sich daran orientieren, wie sich die Divergenz zwischen den authentischen Vertragstex­ ten im Einzelnen gestaltet.

B. Die Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen Für die Auslegung mehrsprachiger Verträge im Falle von Textdivergenzen wird eine Vielzahl an unterschiedlichen Auffassungen vertreten.181 Manche dieser Meinungen werden lediglich im völkerrechtlichen Schrifttum vertre­ 180  Siehe hierzu insbesondere die Darstellung bei Linderfalk, Interpretation (2010), S. 367. 181  Überblicksweise Darstellung bei Mössner, AVR 15 (1972), 273 (281 ff.).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen61

ten, andere wurden ausdrücklich von nationalen oder auch internationalen Gerichten aufgegriffen. In historischer Hinsicht sind erste Anhaltspunkte für das Bewusstsein der Probleme bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge erst ab dem 19. Jahrhundert erkennbar.182 Bei den völkerrechtlichen Klassi­ kern von Grotius, Pufendorf und Vattel finden sich dementsprechend keine Hinweise auf die Problematik als solche. Das Verhältnis der nachfolgend dargelegten Auslegungsregeln untereinander wird im Anschluss hieran disku­ tiert werden.

I. Auslegungsregeln mit Bezügen zur völkerrechtlichen Rechtspraxis Zunächst sollen die wichtigsten Auslegungsregeln dargestellt werden, die deshalb als vorrangig angesehen werden können, da sie verstärkt in der völ­ kerrechtlichen Rechtspraxis herangezogen wurden und auch ab 1969 teil­ weise Niederschlag in die Vorschriften der Art. 31–33 WVK gefunden haben. Hierzu werden anschließend kontrastierend – nach der hier vertretenen Auf­ fassung – nachrangig empfundene Auslegungsregeln dargestellt, welche in der völkerrechtlichen Rechtspraxis keinen oder kaum Niederschlag gefunden haben und so eher von akademischem Interesse geblieben sind.183 1. Die Gleichwertigkeitsregel als zentraler Auslegungsgrundsatz Ein zentraler Grundsatz bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtli­ cher Verträge besagt, dass die authentischen Texte gleich viel wert sind.184 Ausnahmen von diesem Grundsatz können sich insofern ergeben, als dass der Vertrag im Falle von Textdivergenzen den Vorrang einer Sprache statu­ iert. Die von Hudson vertretene Auffassung, dass vor allem bei multilateralen 182  Andere Ansicht insbesondere Degan, L’Interprétation (1963), S. 84; dem fol­ gend Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 228, die erste Ansätze für das Be­ wusstsein dieses Problems im 20. Jahrhundert festmachen wollen. Insbesondere Degan verkennt mit seinem Hinweis auf die europäische Entwicklung der Diplomatie­ sprachen jedoch, dass räumlich in anderen Teilen der Welt mehrsprachige Verträge schon länger bekannt waren (siehe oben die Nachweise in Fn. 38 und 39). 183  Diese Unterteilung in rechtswissenschaftlich und rechtspraktisch geprägte Aus­ legungsregeln folgt hierbei bewusst der von Kelsen vorgenommenen Unterscheidung zwischen rechtswissenschaftlicher Interpretation und Interpretation durch Rechtsor­ gane, siehe Kelsen, Reine Rechtslehre (1960), S. 352 ff. 184  Aus dem völkerrechtlichen Schrifttum siehe Ehrlich, RdC 24 (1928 IV), 5 (98); Hudson, AJIL 26 (1932), 368 (372); McNair, Treaties (1961), S. 432; Rousseau, Principes généraux (1944), S. 721; im Ansatz auch bereits Moore, Digest (1906), S. 252.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Verträgen mit drei oder mehr authentischen Sprachen im Falle von Divergen­ zen einer Sprache der Vorrang eingeräumt werden wird,185 hat sich jedoch nicht bestätigt. In diesem Zusammenhang spielt letztendlich die Entwicklung der Vertragssprachenpraxis in der Zeit nach Versailles eine entscheidende Rolle: Wie bereits oben aufgezeigt, begann insbesondere mit den Vereinten Nationen eine neue Ära des Multilateralismus, welche sich in der Sprachen­ praxis dahingehend niedergeschlagen hat, dass authentische Vertragstexte in fünf bzw. mittlerweile sechs Sprachen abgefasst sind. Ein Blick in die Spra­ chenklauseln moderner multilateraler Vertragswerke zeigt, dass die authenti­ schen Vertragstexte in den sechs UN-Sprachen regelmäßig gleichermaßen verbindlich und damit gleichwertig sind. Mössner und Dölle stellen damit auch zu Recht fest, dass die Gleichwertigkeitsregel stark mit einer Gleichbe­ rechtigung der Sprachen auf der diplomatischen Ebene verknüpft und im weiteren Sinne Ausfluss der souveränen Gleichheit der Staaten ist.186 Es versteht sich jedoch von selbst, dass bei multilateralen Verträgen mit einer sehr großen Anzahl an Vertragsstaaten der Vertrag nicht alle Sprachen der beteiligten Staaten in die authentischen Vertragstexte mit aufnehmen kann. Eine gegenteilige Vorgehensweise wäre praktisch kaum vorstellbar. Die Be­ schränkung auf die sechs UN-Sprachen versteht sich daher auch als Kompro­ miss, Praktikabilitätsaspekte bei der Vertragsausarbeitung- und Auslegung zu gewährleisten. An dieser Stelle zeigt sich damit auch, dass die Unterschei­ dung nach bilateralen und multilateralen Verträgen im Hinblick auf die Gleichwertigkeitsregel berechtigt ist, da der mit dieser Regel verbundene Aspekt der formalen Gleichberechtigung der Sprachen unweigerlich mit Praktikabilitätsaspekten verknüpft ist. Die Gleichwertigkeitsregel setzt begriffsnotwendig die Akzeptanz und die Bereitschaft des Rechtsanwenders, auch andere authentische Vertragstexte für die Auslegung heranzuziehen, voraus, anderenfalls verkäme die postu­ lierte Gleichwertigkeit zur leeren Hülle, insbesondere wenn bei Kenntnis von Textdivergenzen bewusst nicht auf den anderssprachigen Text eingegangen wird. Folgende Ausführungen des Österreichischen Obersten Gerichtshofs im Fall Evangelical Church (Ausburg and Helvitic Confessions) in Austria v. Grezda verdeutlichen auf positive Weise, wie der Gleichwertigkeit der ver­ schiedenen Vertragstexte Rechnung getragen werden kann: „However much the defendant seeks to construe the English text of the Agreement in a manner favourable to himself, the decisive fact is that this Agreement was drawn up in German and English, as well as in four other languages, all of which versions are equally authentic. He cannot therefore be permitted to cite the English 185  Hudson,

AJIL 26 (1932), 368 (372). RabelsZ 26 (1961), 4 (20); Mössner, AVR 15 (1972), 273 (282); ähnlich auch Pitamic, ÖstZöffR 21 (1971), 305 (305). 186  Dölle,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen63 text alone in order to attribute to this concept another meaning, one which does not emerge from the German text.“187

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs verdeutlicht, dass die Zu­ rückweisung einer Auslegung, welche sich lediglich auf einen bestimmten authentischen Text stützt und den divergierenden Text (bewusst) ausblendet, förderlich ist für die paritätische Auslegung der Vertragstexte. Der zitierten Ausführung kann daher uneingeschränkt zugestimmt werden. In der Sache trifft die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs auch den oben zitierten, von Vattel postulierten Auslegungsgrundsatz, dass keine Vertragspartei einen Vertrag nach ihrem Belieben zu ihren Gunsten auslegen dürfe.188 Soweit in mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen die Gleichwertig­ keit der verschiedensprachigen Texte dadurch impliziert wird, dass alle ver­ schiedensprachigen Texte als authentisch erklärt werden, bestätigt dies ledig­ lich deklaratorisch die Gleichwertigkeitsregel und konstituiert diese nicht in jedem Einzelfall neu.189 Nichtsdestotrotz kann eine solche deklaratorische Bestätigung in den Vertragsschlussbestimmungen als Mittel für die Erfor­ schung entsprechender historischer Staatspraxis und opinio juris dienen. Hierdurch kann sich der Einordnung der Gleichwertigkeitsregel im völker­ rechtlichen Rechtsquellensystem aus historischer Sicht angenähert werden. a) Die historische Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem Die Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel ist eng mit der historischen Vertragssprachenpraxis verwoben. Unklar erscheinen jedoch insbesondere die Folgen, welche sich aufgrund der unterschiedlichen Praxis in Kontinen­ taleuropa und im anglo-amerikanischen Rechtsraum ergeben. Anerkannt ist, dass mit dem Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskon­ vention von 1969 die Gleichwertigkeitsregel völkervertraglich kodifiziert worden ist und damit völkerrechtliche Relevanz i.  S.  v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) IGH-Statut hat.190 Da die Wiener Vertragsrechtskonvention gem. Art. 4 WVK jedoch nicht rückwirkend angewendet werden kann, wirft dies insbesondere die Frage auf, welcher völkerrechtliche Status der Gleichwer­ 187  Oberster Gerichtshof (Österreich), Evangelical Church (Ausburg and Helvitic Confessions) in Austria v. Grezda, ILR 38 (1969), 453 (454). 188  Vattel, Droit des Gens (1758), S. 462. 189  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (282). 190  Nach ganz überwiegender Auffassung ist die Gleichwertigkeitsregel in Art. 33 Abs. 1 WVK kodifiziert, siehe etwa Bos, NILR 27 (1980), 135 (146); Mössner, AVR 15 (1972), 273 (298); Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 5.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

tigkeitsregel vor deren Inkrafttreten zukam.191 Auf der Hand liegt die Über­ legung, die Gleichwertigkeitsregel als gewohnheitsrechtliche Rechtsregel zu betrachten.192 Eine schematische Annahme als gewohnheitsrechtliche Regel kann sich jedoch als Schnellschuss erweisen, da keinesfalls erwiesen ist, dass die Voraussetzungen für eine gewohnheitsrechtliche Regel – hinreichend konsistente staatliche Praxis auf basierender opinio juris – für die Zeit vor der Wiener Vertragsrechtskonvention vorlagen.193 Dies unterstreicht bereits eine Passage im Schiedsspruch des zuständigen Schiedstribunals im YoungAnleihen-Fall: „The Tribunal takes the view that the habit occasionally found in earlier interna­ tional practice of referring to the basic or original text as an aid to interpretation is now, as a general rule, incompatible with the principle, incorporated in Article 33 (1) of the VCT, of the equal status of all authentic texts in plurilingual treaties.“194

Der Rückgriff auf „basic“ – bzw. „original texts“ hängt mit den einem völkerrechtlichen Vertrag vorgelagerten Arbeitsmaterialien, den travaux préparatoires, zusammen.195 Die Ausführungen des Schiedstribunals werfen die Frage auf, inwieweit der im Young-Urteil bezeichnete, in der Vergangen­ heit praktizierte Rückgriff auf die travaux préparatoires einer entsprechenden Übung bezüglich der gleichwertigen Auslegung der verschiedensprachigen Vertragstexte entgegenwirkte. In seinem Sondervotum zum Young-AnleihenUrteil vertrat etwa der Schiedsrichter Arndt unter Verweis auf diverse Recht­ sprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs, dass die Gleichwer­ tigkeit der Texte gerade nicht den Blick auf die vorbereitenden Materialien 191  Diese Frage wirft auch implizit Seidl-Hohenveldern, GYIL 23 (1980), 401 (404) auf; vgl. auch Tabory, Multilingualism (1980), S. 207. 192  Insbesondere Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 5, bejaht die gewohnheitsrechtliche Geltung der in Art. 33 WVK aufge­ griffenen Auslegungsregeln unter Verweis auf diverse IGH-Rechtsprechung; ähnlich Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 124. 193  Vgl. Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 171; Papaux/Samson, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 33, Rn. 29 ff.; zurückhaltend auch Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 16. Insbesondere die bei Dörr genannten Verweise auf die Rechtsprechung des Internationalen Gerichts­ hofs sind nicht tragend, da der IGH in keiner der dort zitierten Urteile explizit die Aussage getroffen hat, dass Art. 33 WVK als Ganzes bereits vor 1969 bestehendes Gewohnheitsrecht widerspiegelt. Messer bezieht sich für seine Annahme lediglich auf die hier zitierte Kommentarstelle von Villiger, die jedoch gerade das Gegenteil bestä­ tigt (vgl. nur die Ausführung „It is doubtful whether until 1966 customary rules had developed in this particular constellation on the subject“ in Rn. 16). 194  Arbitral Tribunal for the Agreement on German External Debts, The United Kingdom of Belgium, The French Republic, The Swiss Confederation, The United Kingdom and The United States of America v. The Federal Republic of Germany, Young Loan Arbitration, ILR 59 (1980), 494 (529). 195  Vgl. Hahn/Braun, in: Hahn [et al.] (Hrsg.), Wertsicherung (1984), S. 16 f.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen65

versperrt, selbst wenn dies entgegen der postulierten Gleichwertigkeit im Ergebnis zu einem Vorrang einer Vertragssprache führen würde: „The equality of texts in international treaties is neither a bar to establishing an order of precedence among them with regard to specific points nor a bar to recog­ nizing the superiority of an original version. A reference to the preparatory work generally enables the judge to determine from the original text the true intentions of the parties.“196

Schiedsrichter Arndt konnte sich mit dieser Auffassung gegenüber der Mehrheit im Schiedstribunal nicht durchsetzen. Die Auffassung von Arndt kann jedoch als Anregung dahingehend verstanden werden, zu untersuchen, ob und wie sich die Gleichwertigkeitsregel zu einem verbindlichen völker­ rechtlichen Rechtssatz entwickelt hat.197 Unterstellt, dass Schiedsrichter Arndt mit seiner Einschätzung recht hatte, müsste in der völkerrechtlichen Praxis häufig der Rekurs auf einen vertraglichen Urtext vorgekommen sein, selbst wenn dies die vertraglich festgelegte Parität der authentischen Ver­ tragstexte im Einzelfall ausgehöhlt hätte; hiermit müsste man zwangsläufig von einer verzögerten Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel ausgehen.198 Im Anschluss an die Klärung der Stellung der Gleichwertigkeitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem wird auch näher auf den Inhalt der Meinung von Arndt eingegangen, welche das Verhältnis der Gleichwertig­ keitsregel zu anderen Auslegungsregeln tangiert. aa) Ansätze in der außereuropäischen und interkontinentalen zwischenstaatlichen Rechtspraxis Ausgehend von der These, dass mehrsprachige völkerrechtliche Verträge vor allem schon früh – im Gegensatz zu Kontinentaleuropa – im angloameri­ kanischen Rechtsraum bekannt waren, erscheint es logisch, dort nach ersten Ansätzen der Gleichwertigkeitsregel zu suchen. Beachtung verdienen auch mehrsprachige europäisch-asiatische Verträge aus dem 16. und 17. Jahrhun­ dert, allerdings muss in diesem Zusammenhang konstatiert werden, dass Un­ tersuchungen zu Auslegungsfragen in diesem Zusammenhang, soweit ersicht­ lich, nicht vorhanden sind. Die Arbeiten von Alexandrowicz zu mehrsprachi­ gen europäisch-asiatischen Verträgen stellen bereits eine Rarität dar, jedoch wird nicht näher auf Auslegungsfragen im Zusammenhang mit der Mehrspra­ Opinion of Arbitrator Arndt, ILR 59 (1980), 550 (581). Seidl-Hohenveldern, GYIL 23 (1980), 401 (404). 198  Ähnliche Überlegung auch Seidl-Hohenveldern, GYIL 23 (1980), 401 (404): „Es stellt sich also das Problem, ob Art. 33 Abs. 1 WVK eine neue, erst nach den in der Abweichenden Meinung zitierten Entscheidungen entstandene Gewohnheits­ rechtsregel kodifizieren wollte […].“ 196  Dissenting 197  Vgl.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

chigkeit eingegangen.199 Die von Alexandrowicz erwähnten Verträge können allerdings durchaus noch dahingehend untersucht werden, inwieweit in der Praxis die Vertragssprachen auch paritätisch nebeneinanderstanden. Ungeach­ tet bisheriger Untersuchungen sollten auch mehrsprachige Verträge zu latein­ amerikanischen und afrikanischen Staaten200 in den Blick genommen werden. (1) Praxis der Vereinigten Staaten von Amerika Richtet man allerdings zunächst den Blick auf die Vertragspraxis der Ver­ einigten Staaten von Amerika, stellt man fest, dass abschließende Sprachen­ klauseln, welche mehr als eine Vertragssprache bezeichnen, bereits aus der Zeit unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 verwendet wurden. Hierbei ist freilich eine zurückhaltende Betrachtung angezeigt, da jedenfalls die Sprachenklauseln in amerikanischen Verträgen Ende des 18. Jahrhunderts noch keine Gleichwertigkeit der Sprachen explizit festleg­ ten. Dies exemplifiziert etwa die Sprachenklausel des Freundschafts- und Handelsvertrags zwischen den Vereinigten Staaten und Frankreich vom 06.02.1778, deren Art. XXXI folgenden Inhalt hatte: „In faith whereof the respective plenipotentiaries have signed the above articles, both in the French and English languages, declaring nevertheless, that the present treaty was originally composed and concluded in the French language, and they have thereto affixed their seals. Done at Paris, this sixth of February, one thousand seven hundred and seventy eight.“201

Die Sprachenklausel am Ende von Art. XIII des Bündnisvertrages von 1778 muss so verstanden werden, dass der englische Vertragstext keinen gleichwertigen Status wie der französische hat. Zwar wurde das Siegel in Bezug auf beide Texte gesetzt, sodass beide Texte als authentisch angesehen werden können. Die beigefügte Erklärung, dass der Vertrag ursprünglich in französischer Sprache geschlossen wurde, stellt sich jedoch fast schon als Steilvorlage dahingehend dar, im Falle von Textdivergenzen allein den fran­ zösischen Vertragstext als Urtext für die Auslegung heranzuziehen. Diese Sprachenklausel unterstützt damit die Ansicht von Arndt in seinem Sonder­ votum zum Young-Anleihen-Fall. Eine Wende ist am Anfang des 19. Jahrhunderts erkennbar. In amerikani­ schen Verträgen treten nun immer wieder Sprachenklauseln auf, welche die 199  Alexandrowicz, RdC 100 (1960 II), 207 (291 ff.); ders., Law of Nations in the East Indies (1967), S. 164. 200  Mit nordafrikanisch-asiatischen Verträgen hat sich etwa Mössner, Völker­ rechtspersönlichkeit (1968), S. 107, bereits auseinandergesetzt. 201  Treaty of Amity and Commerce between the United States of America and His Most Christian Majesty, Stat. 8 (1778–1845), 12 (30).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen67

Gleichwertigkeitsregel andeuten. Dies belegt etwa Art. VIII der St. Peters­ burger Konvention vom 12.07.1822: „A certified copy of this convention, when duly ratified by His Majesty the Em­ peror of all the Russias, by the President of the United States, […] shall be deliv­ ered by each of the contracting parties, respectively […]. In faith whereof, the re­ spective plenipotentiaries have signed this convention, drawn up in two languages, and have hereunto affixed their seals. Done in triplicate, at St. Petersburg, this twelfth day of July, one thousand eight hundred and twenty-two.“202

Diese Sprachenklausel sagt zwar nicht explizit aus, dass beide Vertrags­ sprachen gleichwertig sind, anders als im amerikanisch-französischen Bünd­ nisvertrag von 1778 fehlt jedoch nun gerade der Verweis auf einen Urtext. Dass eine solche Sprachenklausel als Novum im 19. Jahrhundert angesehen werden muss, belegen etwa Art. XVI des Amerikanisch-Preußischen Han­ dels- und Schifffahrtabkommens vom 01.05.1828203 sowie Art. X des Vertra­ ges zwischen den Vereinigten Staaten und dem König von Hanover vom 20.05.1840,204 wonach die Unterzeichnung des Vertrages mit zwei verschie­ densprachigen Vertragstexten nicht als Präzedenzfall angeführt werden soll.205 Betrachtet man diese Ausführung im Lichte vorangegangener Ver­ träge der Vereinigten Staaten von Amerika, drängt sich der Eindruck auf, dass die neu gewählte Sprachenklausel im Vertrag vom 01.05.1828 eine ge­ wisse Besserstellung der Vereinigten Staaten darstellt. Deutlich wird dies etwa im Vergleich der Schlussbestimmungen des Amerikanisch-Preußischen Freundschaft- und Handelsabkommens vom 11.07.1799206 und dem Ameri­ kanisch-Preußischen Handels- und Schifffahrtabkommens vom 01.05.1828. Während das erstgenannte Abkommen von 1799 – so wie es in der offiziel­ len Datenbank United States Statutes At Large wiedergegeben ist – zwar bereits einen parallel laufenden französischen Text hat, fehlt es jedoch gerade an einer Schlussbestimmung wie im Abkommen von 1828. Das Verhältnis der beiden verschiedensprachigen Vertragstexte des Abkommens von 1799 scheint damit etwas unklar, da der Vertrag selbst keine Anordnung hierzu 202  Treaty

with Great Britain, Stat. 8 (1778–1845), 282 (290). of Commerce and Navigation between the United States of America, and his Majesty the King of Prussia, Stat. 8 (1778–1845), 378 (386). 204  Treaty with the King of Hanover, Stat. 8 (1778–1845), 552 (558). 205  In den Sprachenklauseln der beiden Verträge findet sich folgende gleichlaut­ ende Schlussbestimmung: „In faith whereof the respective Plenipotentiaries have signed the above articles, both in the French and English languages, and they have thereto affixed their seals; declaring nevertheless, that the signing in both languages shall not be brought into precedent, nor in any way operate to the prejudice of either party.“ 206  Treaty of Amity and Commerce between his Majesty the King of Prussia and the United States of America, Stat. 8 (1778–1845), 162 (176). 203  Treaty

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

traf.207 Die Gründe dafür, dass es den Vereinigten Staaten im frühen 19. Jahr­ hundert jedoch erstmals gelang, einen englischsprachigen Vertragstext expli­ zit auf dieselbe gleichwertige Ebene zu heben wie einen französischsprachi­ gen Vertragstext, dürften vor allem politischer Natur sein. Die Schlussbe­ stimmungen der Verträge von 1828 und 1840, dass die Unterzeichnung der Verträge in beiden Sprachen – Englisch und Französisch – nicht als Präze­ denzfall angeführt werden solle, dürfte vor allem im Hinblick auf den immer noch vorhandenen Respekt vor der französischen Sprache als führende Di­ plomatensprache und weitergehend damit auch die diplomatischen Beziehun­ gen zu Frankreich zu erklären sein.208 Gleichwohl markiert die Vertragspraxis der Vereinigten Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Ent­ wicklung, welche auf eine paritätische Stellung der Vertragssprachen in völ­ kerrechtlichen Verträgen dringt. Eine bemerkenswerte Rolle hinsichtlich der Staatenpraxis der Vereinigten Staaten kommt zudem der Rechtsprechung des Supreme Court zu, welche bereits früh zu dem Verhältnis der verschie­ densprachigen Vertragstexte in mehrsprachigen Verträgen Stellung nahm. (a) Rechtsprechung des US Supreme Court Einen herausragenden Beitrag zur Entwicklung der Auslegung mehrspra­ chiger völkerrechtlicher Verträge stellt die frühe Rechtsprechung des Sup­ reme Court der Vereinigten Staaten von Amerika dar. Diesem ist in späteren Abhandlungen zu der Thematik auch selten der seiner Bedeutung für die Thematik der Auslegung mehrsprachiger Verträge gebührende Platz gewid­ 207  Siehe auch die Entscheidung des Oberprisengerichts Berlin, Urteil vom 17.02.1916, Vapeur anglais Indian Prince, zitiert nach: Fauchille/De Visscher, Juris­ prudence Allemande en matière de Prises Maritimes (1922), S. 69 ff., in welcher das Gericht zwar feststellte, dass der englische und französischsprachige Text in Art. VIII des Abkommens voneinander abwichen, diese Abweichung jedoch für den konkreten Fall nicht entscheidungserheblich war. Aus diesem Grund musste aus Sicht des Ge­ richts auch nicht geklärt werden, welcher der beiden Texte des Abkommens von 1799 verbindlich war; näher dazu auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (108 f.). 208  Das Interesse der Vereinigten Staaten an guten diplomatischen Beziehungen zu Frankreich ergibt sich auch aus dem Bündnisvertrag vom 06.02.1778, 8 Stat. (1778– 1845), 6, nach deren Art. I sich die Vereinigten Staaten gegenüber Frankreich zum Beistand im Falle eines Krieges zwischen England und Frankreich verpflichteten, während nach Art. II Ziel und Zweck des Bündnisvertrags die Sicherung der Freiheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten war. Die Vereinigten Staa­ ten konnten es sich daher im Hinblick auf die fragilen Beziehungen zu England nicht leisten, einen mächtigen Verbündeten wie Frankreich vor den Kopf zu stoßen, indem sie die Bedeutung des Französischen als Diplomatensprache begannen zu untergra­ ben. Vgl. näher zu den damaligen zwischenstaatlichen Beziehungen der Vereinigten Staaten und Frankreich auch Grewe, Epochen (1988), S. 458, der von einer allgemei­ nen diplomatisch bedenklichen Lage der Vereinigten Staaten ausgeht.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen69

met worden, nur sehr vereinzelt wurde im völkerrechtlichen Schrifttum auf einzelne relevante Urteile des Supreme Court hingewiesen.209 Der Supreme Court war bereits im frühen 19. Jahrhundert immer wieder mit Klagen be­ fasst, welche den Adams-Onís-Vertrag vom 22.02.1819210 zum Gegenstand hatten. Dieser Vertrag hatte einen englischen und einen spanischen Text, wobei der Vertrag wie auch das Amerikanisch-Preußische Freundschafts- und Handelsabkommen vom 11.07.1799 keine Schlussbestimmung enthielt, in welchem Verhältnis die verschiedensprachigen Vertragstexte zueinander stan­ den. Erwartbar wäre, dass der Supreme Court wie auch das Oberprisengericht Berlin in seinem fast 100 Jahre späteren Fall Vapeur anglais Indian Prince eine Aussage scheut zu dem Verhältnis der verschiedensprachigen Vertrags­ texte, wenn der Vertrag keine ausdrückliche Anordnung trifft. Streitgegen­ ständlich in den vom Supreme Court entschiedenen Fällen über den AdamsOnís-Vertrag war hauptsächlich dessen Art. 8, dessen englischer und spani­ scher Text u. a. lauteten: All the grants of land made before the 24th of January, 1818, by this Catholic Majesty, or by his lawful authorities, in the said territories ceded by His Majesty to the United States, shall be ratified and confirmed to the persons in possession of the lands, to the same extent that the same grants would be valid if the territories had remained under the dominion of His Catholic Majesty. […]

Todas las concesiones de terrenos hechas por S. M. Ca-ó por sus legitimas autoridades antes del 24 de Enero, de 1S1S, en los expresados territorios que S. M. cede á los Estados Unidos, quedarán ratificadas y reconocidas á las personas que esten en posesion de ellas; del mismo modo que lo.serian si S. M. hubiese continuado en el dominio de estos territorios; […]

Bemerkenswert ist zunächst einmal die Ausführung des Supreme Court im Fall United States v. Percheman, dass beide Texte als Originale zu betrachten seien und von den Parteien unzweifelhaft als identisch angesehen wurden: „The treaty was drawn up in the Spanish as well in the English languages. Both are original, and were unquestionably intended by the parties to be identical.“211

Der Supreme Court scheint mit der Ausführung „both are original“ davon auszugehen, dass beide Texte gleichrangig sind.212 Insbesondere geht er nicht 209  So etwa mit eigenem Kapitel zu den Anfängen der Entwicklung der Gleichwer­ tigkeitsregel Fattal, Multilinguisme (1994), S. 45 ff.; kurze Erwähnung bei Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (955); Ostrower, Language (1965), Vol. 1, S. 484 f. 210  Treaty of Amity, Settlements, and Limits, Between the United States of Ame­ rica and his Catholic Majesty, Stat. 8 (1778–1845), 252. 211  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 (88). 212  Zu der gleichen Einschätzung kommt auch Fattal, Multilinguisme (1994), S. 46.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

davon aus, dass es einen irgendwie gearteten Vorrang eines Urtextes gäbe, auf welchen im Falle von Auslegungszweifeln zurückzugreifen sei. Dem Supreme Court war im Gegenteil vielmehr bekannt, dass der spanische Text aus einer Übersetzung des englischen Vertragstexts stammte, der Vertrag also ursprünglich in der englischen Sprache ausgearbeitet wurde und damit als Urtext anzusehen gewesen wäre.213 Der Supreme Court ging stattdessen noch weiter, dass die Auslegung vorzugswürdig sei, die auf die beiden verschie­ densprachigen Vertragstexte eingeht und diese miteinander in Einklang bringt: „If the English and Spanish parts can, without violence, be made to agree, that construction which establishes this conformity ought to prevail. No violence is done to the language of the treaty by a construction which conforms the English and Spanish to each other.“214

Erwähnt werden muss jedoch gleichwohl, dass der Supreme Court auf die beiden Vertragstexte auch deshalb einging, weil er von den Klägern aus­ drücklich auf Textdivergenzen zwischen dem englischen und spanischen Text hingewiesen worden war und den spanischen Text deshalb als Anlass nahm, sein Verständnis des Passus „shall be ratified and confirmed“ im englischen Text zu überdenken. Die vom Supreme Court vorgenommene Auslegung im Fall United States v. Percheman belegt, dass das Gericht nicht von selbst hierauf gekommen wäre, wenn die Klageparteien nicht einen entsprechenden Sachvortrag geliefert hätten.215 Die Rechtsprechung des Supreme Court zum Adams-Onís-Vertrag mar­ kiert insgesamt einen Beginn, dass bei mehrsprachigen Verträgen beide ver­ schiedensprachigen Vertragstexte gleichberechtigt berücksichtigt werden müssen. Dem Supreme Court waren hierbei auch die grundsätzlichen Interes­ sen der Vertragsstaaten bewusst und er unterstrich dementsprechend beim Adams-Onís-Vertrag die Bedeutung des spanischen Textes.216 Die Frage der 213  Vgl. US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 (52). 214  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 (88). 215  Dies gibt der Supreme Court in United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 (52), auch unumwunden zu, dass ihm in einem ähnlich gelagerten, frü­ heren Fall eine solche Auslegung nicht in den Sinn gekommen wäre: „In the case of Foster v. Elam, 2 Peters, 253, this court considered those words importing a contract. The Spanish part of the treaty was not then brought into view, and it was then sup­ posed there was no variance between them. It was not supposed that there was ever a formal difference of expression in the same instrument, drawn up in the language of each party. Had this circumstance been known, it is believed it would have pro­ duced the construction which is now given to the article.“ 216  Maßgebliche Bedeutung kommt hier insbesondere der Entscheidung im Fall United States v. Arredondo and others, U.S. Reports 31 (1832), 691 (736 f.), zu, in



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen71

Auslegung des zweisprachigen Adams-Onís-Vertrags warf nicht nur Fragen der Parität der Vertragstexte und im weiteren Sinn der souveränen Gleichheit der Staaten auf, sondern berührte auch die völkerrechtlich umstrittene Frage, inwieweit Private aus einem völkerrechtlichen Vertrag unmittelbar eigene Rechte ableiten können.217 In den 27 geführten Verfahren vor dem US Supreme Court betreffend des Adams-Onís-Vertrags waren die Kläger ganz überwiegend erfolgreich.218 Das Urteil im Fall United States v. Percheman dürfte hierbei einen nicht unerheblichen Anteil gehabt haben, da, wie aufgezeigt, der Supreme Court seine Meinung anhand des spanischen Texts zum Passus „shall be ratified and confirmed“ im englischen Text dahingehend überdachte, dass es gerade nicht eines weiteren innerstaatlichen Umsetzungsaktes benötige, damit die Kläger ihre Landrechte geltend machen können.219 Eine wichtige Erkenntnis, die aus der Rechtsprechung des Supreme Court gezogen werden kann, ist damit, dass der Supreme Court mit seiner Rechtsprechung zum Adams-OnísVertrag nicht nur entscheidende erste Akzente zur Gleichwertigkeitsregel gesetzt hat, sondern dass mit der Anwendung der Gleichwertigkeitsregel auch weitere völkerrechtliche – von der Auslegung völkerrechtlicher Verträge losgelöste – Fragestellungen verknüpft sein können. Die Auffassung von Schiedsrichter Arndt im Young-Anleihen-Fall, dass auf einen vertraglichen Urtext zurückgegriffen werden müsse, um den Willen der Vertragsparteien zu ermitteln und dies auch in der Rechtspraxis geschehen sei, kann jedenfalls bezüglich der frühen Rechtsprechung des US Supreme Court nicht bestätigt werden. (b) A  ufgreifen der Gleichwertigkeitsregel im angloamerikanischen Schrifttum Als Nachweise für erste Ansätze der Gleichwertigkeitsregel in der Rechts­ praxis der Vereinigten Staaten im frühen 19. Jahrhundert dient zudem das Aufgreifen dieser Regel in der Literatur. Federführend war hier insbeson­ welcher das Gericht die Interessen der spanischen Krone am spanischen Text hervor­ hob. Der spanischen Krone ging es insbesondere darum, die Rechte der Landeigentü­ mer zu bewahren und sie brachte naturgemäß einem Vertragstext in der eigenen Muttersprache mehr Vertrauen entgegen, siehe näher auch Fattal, Multilinguisme (1994), S. 45 f. Im Fall United States v. Arredondo and others postulierte der Supreme Court auch erstmalig die gleiche Verbindlichkeit des spanischen und englischen Tex­ tes („[b]oth being originals and of equal authority“, U.S. Reports 31 [1832], 691 [738]). 217  Vgl. Puder, Am. J. Legal Hist. 53 (2013), 329 (347). 218  Lavinbuk, YLJ 114 (2004–2005), 855 (884 f.). 219  Puder, Am. J. Legal Hist. 53 (2013), 329 (347).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

dere John Bassett Moore mit seinem achtbändigen Lehrwerk zum Völker­ recht. Bemerkenswert ist insbesondere folgende Ausführung von Moore in Band 5: „Where treaties are drawn up in two languages each text is considered as the equivalent of the other and as being explanatory of it. […] Both parties to it stand on a footing of equality, and the object sought to be attained is accomplished.“220

Moore betont hier, soweit ersichtlich, erstmals in bis dato kaum gekannter Eindeutigkeit die Gleichrangigkeit der verschiedensprachigen Vertragstex­ te.221 In anderen, insbesondere in der Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen Lehrwerken wie etwa von Phillimore222 oder Wildman223 sucht man vergeb­ lich nach solchen Aussagen. Hierbei muss man jedoch auch bedenken, dass sich viele Autoren – insbesondere Phillimore – bei ihren Ausführungen zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge vor allem an den Werken von Grotius, Pufendorf und Vattel orientierten, welche sich mit der Thematik der Mehr­ sprachigkeit nicht auseinandersetzten.224 Weitere Gründe können die vergan­ genen Jahrzehnte nach den relevanten Entscheidungen des US Supreme Court gewesen sein oder ihre mangelnde Bekanntheit, sodass sie in der wis­ senschaftlichen Diskussion nicht präsent waren und daher (zunächst) keine Beachtung erfuhren. Entscheidend dürfte jedoch die Tatsache gewesen sein, dass in den Jahrzehnten nach den Entscheidungen des Supreme Court sich in der Literatur kein eindeutiges Bild zeichnen ließ,225 welches Verhältnis mehr­ sprachige völkerrechtliche Vertragstexte zueinander hatten. Kontrastierend zu Moore stellt sich folgende Ausführung von Hyde dar: 220  Moore,

Digest (1906), S. 252. Auffassung diente als Grundlage für weitere Kommentatoren, der Auf­ fassung von Moore schloss sich etwa mit Crandall, Treaties (1916), S. 389 f. ein weiterer bedeutender Autor an. Crandall bezieht sich insbesondere auch auf das Ur­ teil im Fall United States v. Percheman. 222  Phillimore, Commentaries (1855), S. 70, zu allgemeinen Grundsätzen der Ver­ tragsauslegung. 223  Wildmann, International Law (1850), S. 112 ff., zu allgemeinen Auslegungsre­ geln völkerrechtlicher Verträge. 224  Siehe etwa die Nachweise bei Phillimore, Commentaries (1855), S. 75, S. 79. 225  Siehe jedoch Elliot, American Diplomatic Code (1834), S. VI: „In general, where treaties have been negotiated, in two languages, both are presented in opposite pages; not only for the satisfaction of those, who may find it necessary to consult a copy of the original, but also also for the satisfaction of foreign ministers, who may prefer perusing these public instruments in that dress. It is important for another reason, to preserve both languages, in order that the reader may arrive at the literal meaning of doubtful stipulations, where difference of opinion may arise ‚upon the construction‘ of the text of an article where it stands.“ Der letzte Satz von Elliot impliziert jedenfalls, dass man sich der Auslegungsprobleme im Falle der Kollision verschiedensprachiger Vertragstexte bewusst war. 221  Diese



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen73 „It is customary for States at the present time to execute their written agreements in their own languages whereever those may differ. Such is the practice of the United States.“226

Diese Auffassung von Hyde steht insofern im Widerspruch zur Gleichwer­ tigkeitsregel, als dass das bewusste Ausblenden des anderen Vertragstextes gegen die Gleichrangigkeit der Vertragstexte abzielt, obgleich sie nicht wört­ lich die Gleichrangigkeit anzweifelt. Ergänzend kann man feststellen, dass Hyde keine näheren Ausführungen zu den frühen von den Vereinigten Staaten geschlossenen Verträgen bringt und stattdessen darauf abstellt, dass völker­ rechtliche Verträge vor dem Versailler Friedensvertrag generell in Französisch geschlossen wurden.227 Dass Hyde fast 100 Jahre später nicht wenigstens auf die Rechtsprechung des Supreme Court zum Adams-Onís-Vertrag einging und sich auch nicht näher mit den Auffassungen von Moore (den er auch an ande­ rer Stelle zitiert228) zur Auslegung mehrsprachiger Verträge auseinandersetzte, überrascht. Die zitierte Auffassung von Hyde steht zudem im Widerspruch zum Urteil des Supreme Court im Fall United States v. Percheman: Dort hatte der Supreme Court gerade vorgegeben, dass die Auslegung vorzuziehen ist, die beide Vertragstexte bei einem zweisprachigen völkerrechtlichen Vertrag berücksichtigt.229 Im Hinblick auf die im angloamerikanischen Rechtsraum vorherrschende Common Law Tradition hätte damit eigentlich die Folge sein müssen, dass dem Urteil im Fall United States v. Percheman insbesondere im amerikanischen Schrifttum stärkere Resonanz zukommt. Als Erklärung bleibt daher nur die Möglichkeit, dass das Urteil im Fall United States v. Percheman nicht als „Precedent“230 angesehen oder in der wissenschaftlichen Diskussion 226  Hyde, International Law (1922), S. 38, unter Verweis auf Department of State, Instructions to the diplomatic officers of the United States (1897), § 245. Dieser Ver­ weis von Hyde ist jedoch nicht zielführend, da sich an keiner Stelle des zitierten § 245 in den Diplomatic Instructions to the diplomatic officers of the United States eine Aussage wiederfindet, welche die Behauptung von Hyde zu tragen vermag. Vielmehr deutet das von Hyde zitierte Werk eine gegensätzliche Auffassung an: „The utmost care should be taken to insure the substantial equivalence of sense of the two texts, as to exclude any erroneous effect due to translation. Though a strictly literal translation is often harsh and sometimes impossible, the absolute identity of the idea conveyed is indispensable. To this end, the punctuation of the two texts should also be attentively scrutinized and brought into substantial conformity.“ Vergleicht man diese Textstelle mit der in Fn. 220 zitierten Aussage von Moore, drängt sich der Ein­ druck auf, dass sich Moore mit seiner Einschätzung deutlich näher an den offiziellen Anweisungen des Departement of State an die US-Diplomaten befindet als Hyde. 227  Vgl. Hyde, International Law (1922), S. 38. 228  Siehe Hyde, International Law (1922), S. 39, dort Fn. 3. 229  Siehe oben die zitierte Passage bei Fn. 214. 230  Allgemein zu dem Prinzip des Legal Precedent siehe etwa Schauer, Stan. L. Rev. 39 (1986–1987), 571 ff.; Waddams, U. Toronto L.J. 59 (2009), 127 ff.; zur bin­ denden Wirkung von Urteilen des US Supreme Court für die Exekutive siehe Neu-

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

um die Jahrhundertwende übersehen wurde.231 Insgesamt kann damit festge­ halten werden, dass die völkerrechtliche Literatur in den Jahrzehnten nach der Rechtsprechung des Supreme Court zum Adams-Onís-Vertrag keine so deut­ lichen Tendenzen erkennen lässt wie der Oberste Gerichtshof selbst. (2) Europäisch-südasiatische Vertragspraxis Im Gegensatz zum angloamerikanischen Rechtsraum gibt die frühe euro­ päisch-südasiatische Vertragspraxis ein schwer zu zeichnendes Bild für die Vertragsauslegung und insbesondere für die Entwicklung der Gleichwertig­ keitsregel bei mehrsprachigen Verträgen ab. Wie bereits oben erwähnt, kommt den Arbeiten von Alexandrowicz, der sich mit der frühen europäischsüdasiatischen Vertragspraxis seit dem 16. Jahrhundert auseinandergesetzt hat, Seltenheitswert zu. Alexandrowicz führt aus, dass solche Verträge ge­ wöhnlich in zwei Sprachen abgefasst waren, in einer europäischen und einer bestimmten asiatischen Sprache.232 Als einer der ältesten mehrsprachigen Verträge kann der 1507 zwischen Portugal und dem König von Hormus ge­ schlossene Vertrag angesehen werden, welcher in der persischen und in der arabischen Sprache abgefasst war.233 Dieser völkerrechtliche Vertrag steht am Anfang einer Reihe von völkerrechtlichen Verträgen, welche vor allem von europäischen Mächten wie Portugal, den Niederlanden und Frankreich ausgingen und insbesondere den Handel mit südasiatischen Staaten betra­ fen.234 Insbesondere die Portugiesen schlossen noch in der Folgezeit, vor al­ lem im 18. Jahrhundert, eine ganze Reihe von Verträgen mit lokalen Herr­ schern, nachdem sie sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts an der Westküste der heutigen Republik Indien festgesetzt hatten.235 Einer dieser Verträge, der borne, Tul. L. Rev. 61 (1986–1987), 991 (993 ff.). Insbesondere Neuborne stellt je­ doch in überzeugender Weise klar, dass nach der US-Verfassung Urteilen des Sup­ reme Court eine rechtlich bindende Wirkung zukommt, womit dem Absprechen der Einordnung des Urteils im Fall United States v. Percheman als Precedent nicht viel Überzeugungskraft zukäme. 231  Der Eindruck drängt sich jedenfalls hinsichtlich Hyde auf, anderenfalls wäre er auf die ihm bekannte Monographie von Moore mit der gegenläufigen Ansicht einge­ gangen. 232  Alexandrowicz, RdC 100 (1960 II), 207 (291 ff.); ders., Law of Nations in the East Indies (1967), S. 164. 233  Condições com que Affonso de Albuquerque fez a paz com o Rey de Ormuz, veröffentlicht in: Biker, Collecção de tratados, Bd. 1 (1881), S. 1 f.; siehe näher dazu auch Alexandrowicz, Law of Nations in the East Indies (1967), S. 164. 234  Siehe näher Verosta, History of International Law, 1648 to 1815 (MPEPIL 06/2007), Rn. 46; näher zu den Ursprüngen dieser Handelsverträge siehe Köhler, Zeitschrift für Völkerrecht und Bundesstaatsrecht 4 (1910), 140 (145 ff.). 235  Verosta, in: FG Preiser (1983), 95 (98).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen75

Vertrag zwischen Portugal und dem Marathen-Staat von 1779,236 beschäftigte annährend 200 Jahre später sogar den Internationalen Gerichtshof.237 Die Herausforderungen, die sich bei der Untersuchung derart alter Verträge hin­ sichtlich ihrer authentischen Sprachen stellen, spiegeln sich auch in diesem Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof wider: Der beklagte Staat Indien verteidigte sich ausführlich mit dem Argument, dass gar kein authen­ tischer Vertragstext seitens des klagenden Staats Portugal vorgelegt worden sei.238 Der Internationale Gerichtshof folgte diesen Argumenten nicht und meinte, dass der Marathen-Staat selbst von der Wirksamkeit des Vertrages ausgegangen sei.239 Der Internationale Gerichtshof traf jedoch hiermit keine Aussage, welcher der Vertragstexte authentisch ist, ungeachtet der Divergen­ zen zwischen den Vertragstexten,240 welche dem Gericht präsentiert wurden und auch bekannt waren. Die Erklärung dürfte hierin liegen, dass es zwar in der Tat überhaupt einen wirksam geschlossenen völkerrechtlichen Vertrag zwischen Portugal und dem damaligen Marathen-Staat gab, es jedoch auch dem Internationalen Gerichtshof nicht möglich war, zu klären, welcher der vorgelegten Texte der maßgebende authentische Vertragstext ist.241 Anschei­ 236  Der Vertragstext ist in Biker, Collecção de tratados, Bd. 8 (1885), S. 62 f., so­ weit ersichtlich, erstmalig veröffentlicht worden; weitere Veröffentlichungen zudem bei Parry, Consolidated Treaty Series 47 (1778–1781), S. 127 ff.; Verosta, in: FG Preiser (1983), 95 (99 ff.). 237  IGH, Case concerning Right of Passage over Indian Territory (Merits), Judgment of 12 April 1960, I.C.J. Reports 1960, 6. 238  IGH, Case concerning Right of Passage over Indian Territory, Oral Arguments concerning the merits and the preliminary objections joined to the merits, Section B, 733 ff. 239  IGH, Case concerning Right of Passage over Indian Territory (Merits), Judgment of 12 April 1960, I.C.J. Reports 1960, 6 (37): „India objects on various grounds that what is alleged to be the Treaty of 1779 was not validly entered into and never became in law a treaty binding upon the Marathas. The Court’s attention has, in this connection, been drawn inter alia to the divergence between the different texts of the Treaty placed before the Court and to the absence of any text accepted as authentic by both parties and attested by them or by their duly authorized representatives. The Court does not consider it necessary to deal with these and other objections raised by India to the form of the Treaty and the procedure by means of which agreement upon its terms was reached. […] The Marathas themselves regarded the Treaty of 1779 as valid and binding upon them, and gave effect to its provisions. The Treaty is fre­ quently referred to as such in subsequent forma1 Maratha documents, including the two sanads of 1783 and 1785, which purport to have been issued in pursuance of the Treaty. The Marathas did not at any time cast any doubt upon the validity or binding character of the Treaty.“ 240  Verosta, in: FG Preiser (1983), 95 (105 f.) weist etwa auf Diskrepanzen im fallentscheidenden Art. 17 des Vertrages hin. 241  Allenfalls Erklärungsansätze zu der Frage der Authentizität der Vertragstexte wurden in der mündlichen Verhandlung aufgezeigt, siehe IGH, Case concerning

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

nend sah der Internationale Gerichtshof die ihm bekannten Divergenzen in den ihm vorgelegten Vertragstexten auch als nicht so gravierend an, dass er es als notwendig erachtete zu klären, welcher Text authentisch ist. Hierfür spricht, dass nicht einmal der Richter Quintana in seinem Sondervotum eine Notwendigkeit des Gerichts sah, sich näher mit den Diskrepanzen im Art. 17 auseinanderzusetzen, die er lediglich als „purely historical interest“ betrach­ tete.242 Zur Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel lassen sich mit diesem Urteil des Internationalen Gerichtshofs keine hinreichenden Erkenntnisse ziehen. Im Gegenteil zeigt der in diesem Verfahren ausgefochtene Streit zwischen Portugal und Indien zur Authentizität der Vertragstexte, dass gerade keine irgendwie gearteten Anhaltspunkte für eine Gleichwertigkeit der Texte er­ kennbar waren und stattdessen versucht wurde, einen Text gegen den ande­ ren durchzusetzen. Die von Alexandrowicz angeführten mehrsprachigen Ver­ träge zwischen europäischen Mächten und südasiatischen lokalen Herrschern ab dem 16. Jahrhundert treffen keine Aussagen über das Verhältnis der Ver­ tragstexte zueinander. Unklar bleibt bereits, ob es überhaupt eine hinrei­ chende gefestigte Praxis gab, zwei oder gar mehrere authentische Vertrags­ texte auszuarbeiten und weitere, verschiedensprachige Texte sich nicht le­ diglich als Übersetzung eines vertraglichen Urtextes darstellen. Jedenfalls für den portugiesisch-marathischen Vertrag von 1779 im Fall Right of Passage over Indian Territory legen die Ausführungen der beklagten Republik Indien im Counter-Memorial sowie die Aufzeichnungen der mündlichen Verhandlung nahe, dass weitere Texte nur Übersetzungen eines marathischen Urtextes waren.243 Als Indiz für eine sich entwickelnde Parität der Sprachen in den Vertrags­ texten kann zwar, wie bereits dargelegt, auf die allgemeinen historischen Umstände der Ausarbeitung und des Abschlusses des Vertrages abgestellt werden, insbesondere ob die Vertragspartner auf gleichberechtigter Ebene agierten. Es erscheint hier allerdings zweifelhaft, ob allein die Existenz eines portugiesischen und marathischen Textes für eine Gleichberechtigung der Right of Passage over Indian Territory, Oral Arguments concerning the merits and the preliminary objections joined to the merits, Section B, 718. 242  IGH, Case concerning Right of Passage over Indian Territory (Merits), Judgment of 12 April 1960, Dissenting Opinion Judge Quintana, I.C.J. Reports 1960, 88 (92). Bemerkenswert ist jedoch der nachgeschobene Hinweis, dass im Zweifel die engere Auslegung Vorrang habe (unter Verweis auf das Mavrommatis Konzessionen Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs). 243  IGH, Case concerning Right of Passage over Indian Territory, Oral Arguments concerning the merits and the preliminary objections joined to the merits, Section B, 718; zum Counter-Memorial der Republik Indien siehe IGH, Pleadings, Case concern­ ing the Right of Passage over Indian Territory (Portugal v. India), Vol. II, Rn. 77 ff.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen77

Vertragsparteien steht.244 Nicht ganz zu Unrecht ist darauf hingewiesen wor­ den, dass damals die europäischen Staaten andere, nicht-europäische Staaten allgemein als rückständig betrachteten und nur dann als Partner, wenn wirt­ schaftliche Vorteile mittels völkerrechtlicher Verträge nach vorangegangener Unterwerfung gesichert werden sollten.245 Dass der europäische Kolonialis­ mus seit dem 16. Jahrhundert in Asien für gleichberechtigte Beziehungen zwischen europäischen und asiatischen Mächten spricht, erscheint schwer vorstellbar, sodass kaum Anhaltspunkte für eine paritätische Vertragsspra­ chenpraxis bleiben. Anders als bei der Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel in der Praxis der Vereinigten Staaten von Amerika macht sich zudem das Fehlen von Rechtsprechung hinsichtlich der Auslegung europäisch-südasiatischer Ver­ träge bemerkbar.246 Ein wesentlicher Grund hierfür wird insbesondere in dem Niedergang der Schiedsgerichtsbarkeit im spanischen und französischen Zeitalter liegen.247 Das Fehlen internationaler Spruchkörper zur Auslegung europäisch-südasiatischer Verträge in dieser Zeit konnte – anders als später mit dem US Supreme Court nach der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika – auch nicht durch nationale Gerichte kompensiert werden.248 Ins­ besondere für die Region der heutigen Republik Indien muss konstatiert werden, dass es bis zur Unabhängigkeit 1947 keine wirkliche Trennung von Exekutive und Judikative gab, vielmehr waren die früheren Herrscher sowohl Gesetzgeber als auch Rechtsanwender.249 Hierdurch lässt sich nur schwer nachvollziehen, ob mehrsprachige völkerrechtliche Verträge zwischen euro­ päischen Mächten und lokalen südasiatischen Herrschern auf der Grundlage der Parität der Vertragstexte im Streitfalle ausgelegt wurden. 244  So aber Verosta, in: FG Preiser (1983), 95 (104); ders., History of International Law, 1648 to 1815 (MPEPIL 06/2007), Rn. 46, 49. 245  Sastri, Indian Y.B. Int’l Aff. 2 (1953), 133 (134). Vgl. auch Pattel, in: Fassben­ der/Peters (Hrsg.), Oxford Handbook (2012), S. 509 (Beziehungen der englischen East India Company zu altindischen Staaten); Tabory, Multilingualism (1980), S. 5: „While attention is usually paid to the rivalry between French and English during the first half of the twentieth century, a neglected aspect of the choice-of-language prob­ lem is that of bilingualism in the relations between European States and those of others continents, which possibly may have served as a means of imperialist abuse by Western powers.“ 246  Vgl. Pattel, in: Fassbender/Peters (Hrsg.), Oxford Handbook (2012), S. 507. 247  Grewe, Epochen (1988), S. 235 f.; 423 ff. 248  Der US Supreme Court ist in der Literatur sogar als quasi-internationales-Tri­ bunal betitelt worden, dessen Rechtsprechung auch das Völkerrecht im 18. und 19. Jahrhundert beeinflusste, siehe Lee, Columb. L. Rev. 104 (2004), 1765 (1774). Eine solche Instanz wie den US Supreme Court gab es jedoch für die Auslegung eu­ ropäisch-südasiatischer Verträge nicht. 249  Pattel, in: Fassbender/Peters (Hrsg.), Oxford Handbook (2012), S. 517.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Festgehalten werden kann, dass die frühe europäisch-südasiatische Ver­ tragspraxis nicht nur ein schwer zu zeichnendes Bild abgibt hinsichtlich der Vertragsauslegung, gerade bei mehrsprachigen Verträgen bleibt im hohen Maße zweifelhaft, ob die Vertragstexte gleichwertig nebeneinanderstanden. (3) Mehrsprachige Verträge mit lateinamerikanischen Staaten Soweit ersichtlich, sind mehrsprachige völkerrechtliche Verträge in Bezug auf lateinamerikanische Staaten in der Literatur nicht näher untersucht wor­ den, sodass dies in Bezug auf die Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel Anlass gibt, einschlägige Vertragsschlussbestimmungen mit lateinamerikani­ schen Staaten in den Blick zu nehmen. Die Anfänge einer paritätischen Mehrsprachenvertragspraxis mit lateiname­ rikanischen Staaten reichen weit in das 19. Jahrhundert zurück,250 wobei ins­ besondere die Vereinigten Staaten von Amerika erneut mit Pionierleistungen hinsichtlich einer mehrsprachigen Vertragspraxis auffallen. So ist bereits aus dem Jahr 1824 ein Freundschafts- und Handelsvertrag der Vereinigten Staaten mit Kolumbien dokumentiert, welcher zwar in seinen Schlussbestimmungen die Vertragssprachen nicht nennt; jedoch ist im Vertragstext eine Erklärung des Präsidenten der Vereinigten Staaten vorangestellt, die Englisch und Spanisch als Vertragssprachen nennt.251 In den Folgejahrzehnten haben die Vereinigten Staaten weitere mehrsprachige Verträge mit lateinamerikanischen Staaten ge­ schlossen, darunter unter anderem Chile252, die Dominikanische Republik253, 250  Eine gezielte Suche mit dem Begriff „languages“ in der Datenbank Hein On­ line ergab allein in der Rubrik „U.S. Treaties and Agreements Library“ und weiterer Eingrenzung auf „Treaties and Conventions Concluded between the United States of America and Other Powers“ für den Zeitraum für den Zeitraum 1850–1899 60 Tref­ fer. Hierbei sind freilich nicht alle Ergebnisse verwertbar, da sich das Suchfeld auf alle geschlossenen US-amerikanischen Verträge bezieht, jedoch befinden sich unter den Ergebnissen auch Verträge der Vereinigten Staaten mit lateinamerikanischen Staaten, wie noch gezeigt wird. 251  General Convention of Peace, Amity, Navigation, and Commerce between the United States of America and the Republic of Columbia vom 03.10.1824, Stat. 8 (1778–1845), 306 ff.; die Erklärung des Präsidenten der Vereinigten Staaten zu den Vertragssprachen ist in einer Parallelveröffentlichung bei Elliot, American Diplomatic Code (1834), Bd. 2, S. 18 abgedruckt. 252  Convention between the United States of America and the Republic of Chili – Arbitration of Macedonian claims – vom 10.11.1855, zit. nach: Treaties and Conven­ tions concluded by the United States of America and other powers (1873), 129 (130). 253  General Convention of Amity, Commerce, and Navigation, and for the surren­ der of fugitive criminals between the United States of America and the Dominican Republic vom 08.02.1867, zit. nach: Treaties and Conventions concluded by the Uni­ ted States of America and other powers (1873), 217 (227).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen79

Haiti254, Peru255, Venezuela256 und Mexiko257. Die einschlägigen Schlussbe­ stimmungen dieser Verträge sind im Wesentlichen gleichlautend, teilweise werden Formulierungen verwendet wie „in duplicate“ oder „signed the same“, welche die Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Texte andeuten. Das Verdienst von Hardy ist es, beim Friedensvertrag der Vereinigten Staaten mit Mexiko vom 02.02.1848 erhebliche nachfolgende diplomatische Spannungen hinsichtlich Art. 11 dieses Vertrages aufzuzeigen; dieser wurde mit einem weiteren Vertrag vom 30.12.1853 schließlich aufgehoben, jedoch zu dem Preis, dass jener Aufhebungsartikel eine frappierende Textdivergenz enthielt, welche 1874 sogar schiedsgerichtlich geklärt werden musste.258 Dies zeigt, dass in der interamerikanischen Staatenpraxis im 19. Jahrhundert mehrspra­ chige Verträge durchaus vorkamen und die Parität der Vertragstexte ernst ge­ nommen wurde, wie der erwähnte Schiedsfall von 1874 dergestalt zeigt, dass beide verschiedensprachigen Texte berücksichtigt wurden. Auch seitens europäischer Staaten sind mehrsprachige Verträge mit latein­ amerikanischen Staaten mit einschlägigen Schlussbestimmungen bekannt.259 Vertragssprachen waren in solchen Fällen in der Regel die englische und spanische Sprache, wie die beiden zitierten Verträge zeigen. Damit ist eine 254  Treaty of Amity, Commerce, and Navigation, and for the extradition of fugitive criminals between the United States of America and the Republic of Hayti vom 03.11.1864, zit. nach: Treaties and Conventions concluded by the United States of America and other powers (1873), 475 (485). 255  Convention with Peru, respecting claims, vom 17.03.1841, zit. nach: Treaties and Conventions concluded by the United States of America and other powers (1873), 673 (698). 256  Treaty of Peace, Friendship, Navigation and Commerce between the United States of America and the Republic of Venezuela vom 20.01.1836, zit. nach: Treaties and Conventions concluded by the United States of America and other powers (1873), 873 (895). 257  Siehe etwa Treaty of Peace, Friendship, Limits, and Settlement with the Repu­ blic of Mexiko vom 02.02.1848, zit. nach Stat. 9 (1841–1851), 922 ff.; Convention providing for an international boundary survey to relocate the existing frontier line between the two countries west of the Rio Grande vom 29.07.1882, zit. nach: Treaties and Conventions concluded by the United States of America and other powers (1889), 711 (713). 258  Die Bedeutung dieses Schiedsspruchs ist rechtlich gesehen jedoch überschau­ bar, da vor allem dargelegt wird, dass die mexikanische Regierung für die Textdiver­ genz selbst verantwortlich sei und insbesondere der spanische Text dem Senat der Vereinigten Staaten nicht vorgelegt worden sei, siehe Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (95 f.). 259  Siehe beispielhaft den Slave Trade Treaty between Bolivia and Great Britain vom 25.09.1840, nach dessen Art. XIV die Vertragssprachen Englisch und Spanisch waren (Parry, Consolidated Treaty Series 90 [1840], 471 [482]) sowie den Treaty of Friendship, Commerce and Navigation between Great Britain and Peru vom 10.04.1850 (Parry, Consolidated Treaty Series 104 [1850], 27 [40]).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Tendenz zur Mehrsprachigkeit vor allem dann wahrzunehmen, wenn die französische Sprache nicht Gegenstand bei den Vertragsverhandlungen war. Eine bereits kursorische Durchsicht der Consolidated Treaty Series von Parry zeigt hierbei, dass mehrsprachige Verträge von europäischen Staaten mit la­ teinamerikanischen Staaten eher die Ausnahme darstellen. Die wenigen Bei­ spiele für eine paritätische Mehrsprachenvertragspraxis können gleichwohl als Indiz für eine entsprechende – wenn auch eher schwach ausgeprägte – Staatenpraxis für die Feststellung der Gleichwertigkeitsregel als gewohn­ heitsrechtliche Regel dienen. (4) Mehrsprachige Verträge mit afrikanischen Staaten Ähnlich stiefmütterlich behandelt wurden im Schrifttum mehrsprachige völkerrechtliche Verträge mit afrikanischen Staaten als Vertragspartner. So­ weit ersichtlich, ist Mössner der einzige Autor, der sich zumindest kursorisch mit mehrsprachigen afrikanischen Verträgen auseinander gesetzt hat.260 Die von Mössner zitierten Verträge reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück und betrafen vor allem nordafrikanische Staaten, wobei jedoch die Vertragsspra­ chen nicht genannt wurden.261 Die fehlende Nennung der Vertragssprachen im Vertrag selbst bei solch alten mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen ist indes ein Phänomen, welches sich nicht auf den afrikanischen Raum be­ schränkte.262 Kontrastierend hierzu sind erstmals gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts mehrsprachige Verträge erkennbar, welche die Vertragssprachen ausdrücklich nennen und deren Schlussklauseln zudem einen deutlichen Hinweis auf die Gleichwertigkeit der Texte andeuten. Dies verdeutlichen beispielhaft Art. VIII des Abkommens zwischen den Vereinigten Staaten und Madagaskar sowie Art. VI des britisch-äthiopischen Freundschaftsvertrags vom 14.05.1897: „Duplicate originals of this treaty, with corresponding text in the English and Mal­ agasy languages, which shall be both of equal authority, have been signed at sealed at Antananarivo this day.“263 „IN FAITH OF WHICH His Majesty Menelek II, King of Kings of Ethiopia, in his own name and James Rennell Rodd, Esq, on behalf of Her Majesty Victoria, Queen of Great Britain and Ireland, Empress of India, have signed the present Treaty, in 260  Mössner,

Völkerrechtspersönlichkeit (1968), S. 107. Völkerrechtspersönlichkeit (1968), S. 92 ff.; S. 107. 262  Siehe den Abschnitt B. I. b) zur Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel in Europa. 263  Treaty between the United States of America and the Queen of Madagascar vom 14.02.1867, zit. nach: Treaties and Conventions concluded between The United States of America and other powers (1873), 532 (534). 261  Mössner,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen81 duplicate, written in the English and Amharic languages identically, both texts be­ ing considered as official, and have thereto affixed their seals.“264

Die Gleichwertigkeit der Vertragstexte im Vertrag zwischen den Vereinig­ ten Staaten und Madagaskar wird mit der Formulierung „shall be of equal authority“ fast schon überdeutlich klargestellt. Die wesentlichen Anhalts­ punkte für die Gleichwertigkeit der beiden Texte im letzteren Vertrag deuten sich dagegen insbesondere in den Vokabeln „in duplicate“ und „identically“ an. Verwirrend ist hier allerdings die Bezeichnung „considered as official“, da sich ein offizieller Text von einem authentischen Text – wie bereits oben dargelegt – nicht nur terminologisch unterscheidet. Möglich ist hier ein schlichtes Redaktionsversehen, zumal die als offiziell bezeichneten Texte besiegelt worden waren. Auffällig ist indes eine Note des äthiopischen Kö­ nigs Menelek II. an den britischen Gesandten James Rennell Rodd, die auf sprachliche Hürden hindeutet sowie Französisch als eine dritte Vertragsspra­ che ins Spiel bringt: „With reference to the Treaty which we have written in the Amharic and English languages at Adis Abeba, as I have no interpreter with me who understands the English language well enough to compare the English and Amharic version, if by any possibility in the future there should be found any misunderstanding between the Amharic and English versions in any of the Articles of this Treaty, let this translation, which is written in the French language, and which I enclose in this letter, be the witness between us, and if you accept this proposal, send me word of your acceptance by letter.“265

Diese Note kann zunächst dahingehend verstanden werden, dass König Menelek II. zu der Gleichwertigkeit des englischen und des amharischen Tex­ tes steht, da er trotz seiner mangelnden Kenntnisse in der englischen Sprache darin übereingekommen ist, eine Schlussbestimmung dergestalt in den Vertrag aufzunehmen, die beide Texte als identisch und offiziell bezeichnet. Gleich­ wohl hat Menelek II. im Nachhinein im Hinblick auf seine mangelnden Kennt­ nisse in der englischen Sprache Bedenken. Um etwaige Auslegungsprobleme im Falle von Textdivergenzen zu lösen, legt er seiner Note einen französischen Vertragstext, welcher sich freilich nur als Übersetzung darstellt, bei. Über die Motive kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden, die Überlegung, dass mit der französischen Übersetzung eine bestimmte Auslegung eines der als offizi­ ell erklärten Vertragstexte untermauert werden sollte, erscheint indes nicht fernliegend. An dieser Stelle zeigt sich zudem erneut der Einfluss der franzö­ sischen Sprache in den zwischenstaatlichen Beziehungen. 264  Treaty of Friendship between the United Kingdom of Great Britain and Ireland and Ethopia, zit. nach: A.T.S. 1901, No. 36. 265  Treaty of Friendship between the United Kingdom of Great Britain and Ireland and Ethopia, zit. nach: A.T.S. 1901, No. 36, Annex 2 (Übersetzung in die englische Sprache).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Bei mehrsprachigen Verträgen mit einem afrikanischen Staat als Vertrags­ partner sollte zudem der jeweilige historische Kontext berücksichtigt werden. Gerade bei Verträgen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte die Politik der Kolonialisierung und des Imperialismus europäischer Mächte ge­ danklich mitberücksichtigt werden. Der oben zitierte britisch-äthiopische Freundschaftsvertrag von 1897 mag zwar als Beispiel für eine paritätische Sprachenpraxis stehen, er zeigt aber auch, dass die europäische Politik der Kolonialisierung auch europäische Sprachen, wie etwa die französische Sprache, nach Afrika gebracht hat und so auch die Vertragssprachenpraxis beeinflusst haben muss. Die Note des äthiopischen Königs Menelek II. an den britischen Gesandten verdeutlicht dies im Ansatz. (5) Fazit zur interkontinentalen zwischenstaatlichen Rechtspraxis Mehrsprachige Verträge waren in der interkontinentalen zwischenstaatli­ chen Rechtspraxis im 19. Jahrhundert bereits weiter verbreitet, als dies bisher gemeinhin angenommen wurde. Die Vorstellung, dass Französisch vor dem Versailler Vertrag nahezu ausschließlich die internationale Vertragspraxis dominiert habe, verkennt, dass es gerade bei Verträgen zwischen Staaten, in denen die französische Sprache nicht gesprochen wurde, kein Bedürfnis gab, auf diese bei Vertragsverhandlungen zurückzugreifen.266 Dies dürfte erklä­ ren, dass vor allem Staaten, in denen Englisch die vorherrschende Sprache war, eher die Bereitschaft zeigten, einen völkerrechtlichen Vertrag in zwei Sprachen auszuhandeln, wenn die Sprache des Vertragspartners nicht Franzö­ sisch war. Es verwundert daher kaum, dass insbesondere die Vereinigten Staaten hier eine entsprechende Vorreiterrolle einnahmen,267 als sie etwa mit Staaten aus Südamerika oder Afrika in entsprechende Vertragsverhandlungen eintraten. bb) Die Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel in Kontinentaleuropa Im Schrifttum ist die verbreitete Aussage anzutreffen, dass die Praxis mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge in Europa erst mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 ihre Anfänge gefunden habe.268 Insbesondere Eden legt sich sehr deutlich fest: 266  Ähnlich auch die zutreffende Kritik von Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 147, die diese weithin verbreitete Betrachtungsweise im Schrifttum als eurozentrisch cha­ rakterisiert. 267  So auch im Ansatz die Tendenz bei Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 160. 268  Degan, L’Interprétation (1963), S.  84; Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 157; Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011),



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen83 „In contrast to the general practice of the 19th and early 20th centuries, article 440 of the Treaty of Versailles states that ‚the English and French texts are both authentic‘.“269

Soweit ersichtlich, ist Mössner der einzige Autor, der diese Aussage zu­ rückhaltend kommentiert und dies jedenfalls für den europäischen Rechts­ raum offenlassen möchte, da mehrsprachige Verträge weltweit betrachtet schon lange vor dem Versailler Vertrag bekannt seien.270 Dies gibt die Gele­ genheit zu hinterfragen, ob wirklich erst der Versailler Friedensvertrag von 1919 den Grundstein für eine europäische Mehrsprachenvertragspraxis dar­ stellt und insbesondere die Aussage von Eden zu prüfen. Hiervon ausgehend werden auch die Implikationen für die Entwicklung der Gleichwertigkeitsre­ gel in Europa dargestellt. (1) Die Gleichwertigkeitsregel vor dem Versailler Vertrag Es gibt diverse Anhaltspunkte, dass die europäische Mehrsprachenver­ tragspraxis weiter in die Vergangenheit zurückreicht, als dies bisher im völ­ kerrechtlichen Schrifttum gemeinhin angenommen wurde. Ein Blick in die Consolidated Treaty Series von Parry zeigt, dass es mehrsprachige völker­ rechtliche Verträge in Europa bereits zwei Jahrhunderte vor dem Versailler Friedensvertrag von 1919 gegeben hat. Als Beispiel für einen solchen mehr­ sprachigen Vertrag, bei welchem schon im Ansatz die Gleichwertigkeit der Vertragstexte erkannt werden kann, ist der Preußisch-Russische Bündnisver­ trag aus dem Jahr 1764.271 Von diesem Vertrag sind in der zitierten Fundstelle in der Treaty Series von Parry ein französischer und parallellaufender russi­ scher Text dokumentiert. Dies stellt bereits – anders als bei dokumentierten frühen europäisch-südasiatischen Verträgen – ein Indiz für die Gleichwertig­ keit der Texte dar.272 Weiteren Aufschluss über die Gleichwertigkeit gibt Art. XIV des Vertrages: S. 62, 66; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 102 f.; Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (614 f.). 269  Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 157. 270  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (279 f.). 271  Treaty of Alliance between Prussia and Russia, signed at St. Petersburg, 31 March (11 April) 1764, in: Parry, Consolidated Treaty Series 43 (1764–1767), 3 ff. 272  Vgl. Department of State, Instructions to the diplomatic officers of the United States (1897), § 245: „The texts in the two languages should be engrossed in parallel columns on the same page, if possible, or on opposite pages of the same sheet. Two separate copies in different languages are not advisable, although this expedient is sometimes resorted to in eastern countries.“ Das in dieser Textstelle bezeichnete Pro­ blem getrennter Texte hat sich bei den frühen europäisch-altindischen Verträgen ins­ besondere dadurch verstärkt gezeigt, dass keiner der veröffentlichten Texte eine nä­ here Schlussbestimmung enthielt, in welchem Verhältnis die Texte zueinanderstehen.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

„Le présent traité sera ratifié et les ratifications échangées ici dans l’espace le six semaines ou plutôt, si faire se pourra. En foi de quoi les Ministres soussignés en ont fait deux exemplaires semblables, signés de leurs mains, et y ont appose les cachets de leurs armes.“273

Art. XIV stellt klar, dass es zwei verschiedensprachige Vertragstexte gibt, welche beide unterzeichnet und besiegelt wurden. Mit dem Setzen des Siegels sowohl unter den russischsprachigen als auch den französischen Text wird verdeutlicht, dass die Vertragsparteien beide Texte als authentisch ansahen und ihnen gleich viel Vertrauen entgegenbrachten. Relativiert wird dieses Vertrauen indes etwas durch das Verwenden des Adjektivs „semblable“ in Art. XIV: Nach deutschem Sprachverständnis hieße dies, dass die Texte gleichförmig sind. Diese Formulierung überrascht, da die Vertragsparteien im Umkehrschluss davon ausgegangen sind, dass sie gerade keine Texte mit identischem Inhalt besiegelt haben. Jedoch wird man davon ausgehen müs­ sen, dass die Vokabel „semblable“ nicht primär die Gleichwertigkeit der Texte tangiert, sondern eher die Frage der vermuteten Sinneinheit.274 Umgekehrt hätte gleichwohl eine irgendwie geartete Aussage der Vertragsparteien, dass die verschiedensprachigen Texte spiegelbildlich zueinanderstehen, als zusätz­ liches Indiz für die Gleichwertigkeit der Texte gewertet werden können. Kontrastierend zu Art. XIV des preußisch-russischen Bündnisvertrages von 1764 sind Mitte des 19. Jahrhunderts Vertragsschlussklauseln, welche in noch deutlicherem Maße die Gleichwertigkeit verschiedensprachiger Ver­ tragstexte andeuten, erkennbar. Der Unterschied zu Art. XIV des preußischrussischen Bündnisvertrages von 1764 besteht insofern, als dass die Vertrags­ parteien nun auch klarstellen, dass sie nicht nur zwei verschiedensprachige Vertragstexte besiegelt haben, sondern auch von der Identität der Texte aus­ gehen. Dies verdeutlicht etwa die Schlussbestimmung eines britisch-toskani­ schen Handelsabkommens aus dem Jahr 1854, welches einen englischen und einen parallelen italienischen Text hatte: „In witness whereof the respective Plenipotentiaries have signed the present Treaty in 2 originals, and have affixed thereto the seals of their arms.“275 Dies hat das gegenseitige Anzweifeln der Authentizität der vorgelegten Vertragstexte durch die streitenden Parteien im IGH-Fall Right of Passage over Indian Territory bestätigt. Bei parallel gedruckten Vertragstexten stellt sich dieses Problem hingegen nicht. 273  Treaty of Alliance between Prussia and Russia, signed at St. Petersburg, 31 March (11 April) 1764, in: Parry, Consolidated Treaty Series 43 (1764–1767), 3 (10). 274  Nach den Maßstäben der Wiener Vertragsrechtskonvention hätte bezüglich die­ ser Frage insbesondere Art. 33 Abs. 3 WVK maßgebliche Bedeutung. 275  Convention between Great Britain and Tuscany for the Reciprocal Opening of the Coasting Trade, signed at Florence, 30 December 1854, zit. in: Parry, Consolidat­ed Treaty Series 112 (1854–1855), 375 (379).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen85

Im Gegensatz zum preußisch-russischen Bündnisvertrag von 1764 ver­ deutlicht der Hinweis auf die „2 originals“ ein fast unmissverständliches Bekenntnis nicht nur hinsichtlich der Parität der Vertragstexte, sondern auch die spiegelbildliche Identität der Texte. Betont werden muss allerdings, dass solche Vertragsschlussbestimmungen wie im englisch-toskanischen Handels­ vertrag von 1854, in welchen explizit beide Texte als Original bezeichnet werden, eher die Ausnahme darstellen, obgleich weitere Verträge mit ähnlich lautenden Schlussbestimmungen bekannt sind.276 Häufiger sind hingegen am Ende von Verträgen lediglich Bestimmungen zu lesen, dass der Vertrag in zweifacher (manchmal sogar dreifacher277) Ausfertigung unterzeichnet und besiegelt wurde, wobei auch die Tatsache der Existenz zweier verschie­ densprachiger Texte dafür spricht, dass sich diese auf die bezeichnete zwei­ fache Ausfertigung beziehen.278 In der Sache kommen auch Formulierungen 276  Siehe beispielhaft Art.  20 der zweisprachigen Postal Convention between France and Sweden-Norway, signed at Stockholm, 1 September 1854, zit. in: Parry, Consolidated Treaty Series 112 (1854–1855), 175 (191). Der französischsprachige Text lautete wie folgt: „En foi de quoi, les Plénipotentiaires respectifs ont signé la présente Convention en double original et y ont appose leurs cachets.“ Nahezu gleichlautend sind etwa die Schlussbestimmungen der zwölf Jahre früheren Conven­ tion of Commerce and Navigation between Belgium and Spain (Parry, Consolidated Treaty Series 94 [1842–1843], 19 [27]) sowie der Postal Convention between Bel­ gium and Spain (Parry, Consolidated Treaty Series 94 [1842–1843], 89 [95]). 277  So etwa Art. XIV des Slave Trade Treaty between Bolivia and Great Britain, signed at Sucre, 25 September 1840, in: Parry, Consolidated Treaty Series 90 (1840), 471 (482). Der englische Text hatte folgenden Inhalt: „In witness whereof the respec­ tive Plenipotentiaries have signed in triplicate originals, English and Spanish, the present Treaty, and have hereunto affixed the seal of their arms.“ 278  Ähnlich auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (98), der meint, dass sich die Gleich­ wertigkeit auch ohne ausdrücklichen Hinweis auch aus Umständen und Indizien bei mehreren Textversionen ergibt. So gebraucht Art. IX der Postal Convention between Portugal and Spain, signed at Madrid, 22 June 1850, zit. in: Parry, Consolidated Treaty Series 104 (1850), 143 (149) die Vokabel „duplicado“. Dass sich die zweifa­ che Ausfertigung eines Vertrages auf die beiden verschiedenen Vertragstexte bezieht, erscheint auch deshalb zwingend, als Parry in seinen Consolidated Treaty Series (zutreffend) zwischen den Originaltexten und Übersetzungen unterscheidet. Die Überlegung, dass sich die zweifache Ausfertigung lediglich auf ein und denselben Vertragstext in einer Sprache beziehe, ergibt damit keinen Sinn, wenn Parry den pa­ rallelen Text gerade nicht gesondert als Übersetzung gekennzeichnet hat. Dies wird auch nicht etwa durch Vertragsschlussklauseln wie in dem in Fn. 277 zitierten Vertrag erschüttert: Die Tatsache, dass es gelegentlich mehr Originaltexte gibt im Verhältnis zu der Anzahl der verwendeten Vertragssprachen, ist in der Regel auf die Anzahl der Vertragsstaaten zurückzuführen, von denen jede einen Originaltext erhalten sollte. Dies exemplifiziert besonders gut die Convention between France, Great Britain and the Hanse Towns (Bremen, Hamburg and Lubeck), for the Accession of the Latter to the Slave Trade Conventions, signed at Hamburg, 9 June 1837, zit. in: Parry, Conso­ lidated Treaty Series 87 (1837–1838), 19 ff. Die Schlussbestimmung dieses zweispra­ chigen Vertrages (Englisch und Französisch) lautete wie folgt: „In witness whereof

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

wie „signed in duplicate“ bzw. deren Pendant in anderen Sprachen dem Hinweis, dass der Vertrag in zwei Originaltexten unterzeichnet sei, ziemlich nahe, dies unterstreicht folgende Schlussbestimmung279 der Postal Conven­ tion between France and Great Britain vom 03.04.1843: „Done in duplicate at London, the 3rd day of April, in the year of our Lord 1843.“

„Fait à Londres, en double original le 3ème jour du mois d’Avril, l’an de grâce 1843.“

Eine wesentliche Erkenntnis, die sich aus dem Verwenden solcher Ver­ tragsschlussbestimmungen ziehen lässt, ist, dass die oben zitierte Aussage von Eden, die generelle Vertragspraxis vor dem Versailler Friedensvertrag von 1919 beinhalte keine mehrsprachigen, authentischen Texte, in dieser Pauschalität nicht richtig ist. Die oben zitierten Vertragsschlussklauseln sind ein Beleg dafür, dass mehrsprachige Vertragstexte auch in der Zeit vor dem Versailler Friedensvertrag gleichberechtigt nebeneinanderstanden. Die Durchsicht einiger Übersichten der Bände der Consolidated Treaty Series von Parry bezüglich Verträgen aus dem 19. Jahrhundert zeigt, dass mehrspra­ chige Texte in der europäischen Vertragspraxis zwar nicht die Regel waren, allerdings auch keinesfalls die absolute Ausnahme, so wie es häufig darge­ stellt wird. Bemerkenswert ist allerdings, dass bei einer Durchsicht der Bände the abovenamed Plenipotentiaries have signed the present Convention, in 5 originals, and have affixed thereto the Seal of their arms.“ Hier ist offensichtlich, dass die „5 originals“ mit den fünf Vertragsstaaten Frankreich, Großbritannien und den hanseati­ schen Städten Bremen, Hamburg und Lübeck zusammenhängen. Dem eventuellen e-contrario-Gegenargument, dass die Formulierung „signed in duplicate“ oder „signed in 2 originals“ gerade einen ausdrücklichen Verweis auf die verwendeten Vertragssprachen vermissen lässt – konstrastierend etwa zu der Schluss­ bestimmung des englisch-italienischen Auslieferungsvertrages von 1873 (Parry, Con­ solidated Treaty Series 145 [1872–1873], 463 [473], in welchen ausdrücklich die zwei Vertragssprachen, Englisch und Italienisch, genannt werden – lässt sich entgeg­ nen, dass auch andere Verträge ohne eine ausdrückliche Nennung ihrer Vertragsspra­ chen im Vertrag selbst als mehrsprachige Verträge dokumentiert und auch so wieder­ gegeben wurden. Der zitierte englisch-italienische Auslieferungsvertrag von 1873 unterscheidet sich nicht in seiner Darstellung in den Treaty Series von Parry von sonstigen mehrsprachigen Verträgen, welche nicht selbst ihre Vertragssprachen nen­ nen; selbst bei neueren völkerrechtlichen Verträgen kann sogar noch vereinzelt beob­ achtet werden, dass es mehrere authentische Vertragstexte gibt, der Vertragstext selbst zum Verhältnis der verschiedensprachigen Texte jedoch keine Auskunft gibt (siehe beispielhaft die Amerikanische Menschenrechtskonvention, U.N.T.S. 1144 [1987], 143 ff. [No. 17955]). Nach der hier vertretenen Auffassung hat die zusätzliche Nen­ nung der Vertragssprachen durch den Vertrag selbst – in Zusatz zu Formulierungen wie „signed in duplicate“ oder „signed in 2 originals“ – lediglich deklaratorischen Charakter. 279  Postal Convention between France and Great Britain, signed at London, 3 April 1843, zit. in: Parry, Consolidated Treaty Series 94 (1842–1843), 265 (318).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen87

der Consolidated Treaty Series im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts sich der Eindruck einer Tendenz zu einsprachigen Verträgen (größtenteils in Fran­ zösisch, mehrfach aber auch in englischer Sprache) aufdrängt. In diesem Zusammenhang zeigt sich erneut die Dominanz der französischen Sprache. Schlussendlich muss jedoch konstatiert werden, dass die überwiegend anzu­ treffende Bemerkung, dass völkerrechtliche Verträge zunächst lediglich in Latein, dann Französisch und anschließend in mehreren Sprachen abgefasst wurden, zu allgemein und zu oberflächlich ist. Die Vorstellung, dass Art. 440 des Versailler Friedensvertrags sprichwörtlich den Urknall einer europäischen paritätischen Mehrsprachenvertragspraxis darstelle, erscheint deshalb mehr als zweifelhaft. (2) Die Gleichwertigkeitsregel nach dem Versailler Vertrag Die Sprachenklausel in Art. 440 des Versailler Friedensvertrags von 1919 unterscheidet sich von den Sprachenklauseln früherer mehrsprachiger Ver­ träge in wenigen Punkten: „The Present Treaty, of which the French and English texts are both authentic, shall be ratified. […] Done at Versailles, the twenty-eighth day of June, one thou­ sand nine hundred and nineteen, in a single copy which will remain deposited in the archives of the French Republic, and of which authenticated copies will be transmitted to each of the Signatory Powers.“280

Der erste Unterschied besteht in der Art und Weise der Authentifizierung des Vertragstextes: Im Gegensatz zu früheren Verträgen wurde, wie bereits festgestellt, durch die Besiegelung der Texte als authentisch gekennzeichnet. Dies ist ausweislich des Art. 440 beim Versailler Friedensvertrag von 1919 nicht mehr der Fall, stattdessen erfolgt dies durch die bezeichnete Textpas­ sage selbst. Der zweite Unterschied besteht in dem angedeuteten Verweis auf ein Originaldokument („single copy“), von dem authentische Kopien („au­ thenticated copies“) hergestellt und an die Signatarstaaten übermittelt wur­ den. Die Bezeichnung „authenticated copies“ stellt klar, dass diese nicht weniger wert als der ursprünglich ausgearbeitete Vertragstext im Originaldo­ kument und mit diesem identisch sind. Von diesen genannten Unterschieden abgesehen, unterscheidet sich Art. 440 des Versailler Friedensvertrags von 1919 nicht unwesentlich von Schlussbestimmungen in den oben untersuch­ 280  Treaty of Peace between the British Empire, France, Italy, Japan and the Uni­ ted States (the Principal Allied and Associated Powers), and Belgium, Bolivia, Brazil, China, Cuba, Czechoslovakia, Ecuador, Greece, Guatemala, Haiti, the Hedjaz, Hon­ duras, Liberia, Nicaragua, Panama, Peru, Poland, Roumania, The Serb-Croat-Slovene State, Siam, and Uruguay, and Germany, signed at Versailles, in: Parry, Consolidated Treaty Series 225 (1919), 188 (392).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

ten, früheren mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen: Die publizierten, in parallelen Spalten gedruckten Vertragstexte ließen unzweifelhaft erkennen, dass es zwei oder mehr verschiedensprachige Vertragstexte gab und deren Abschlussklauseln auch auf eine paritätische Stellung der Texte hindeuten. Ein Blick auf die Vertragspraxis bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen in der Zeit des Völkerbundes lässt erkennen, dass der Wortlaut von Art. 440 des Versailler Vertrages nicht in einer irgendwie gearteten Weise einzigartig ist und auch nicht den Maßstab für die Formulierung späterer Schlussbestimmungen in mehrsprachigen Verträgen gab. Auffällig ist zwar zunächst, dass die Anzahl mehrsprachiger Verträge – insbesondere betrachtet auf den verhältnismäßig kurzen Zeitraum von zwei Jahrzehnten – stark ange­ stiegen ist: Eine Suche in der Datenbank „International Treaties Collection“ des World Legal Information Institute281 ergab für den Suchbegriff „authen­ tic“ bei gleichzeitigem Eingrenzen auf die League of Nations Treaty Series über 600 verwertbare Treffer auf einschlägige Vertragsschlussbestimmungen. Eine auch nur kursorische Durchsicht der durch diese Suche gefundenen Ergebnisse zeigt, dass die Schlussbestimmungen sich teilweise in der Formu­ lierung denen früherer Verträge wieder annähern. Hierzu sei bespielhaft auf folgende Vertragsschlussbestimmungen hingewiesen: „[…] Urkund dessen haben die Bevollmächtigten beider Staaten dieses Überein­ kommen in deutscher und čechoslovakischer Sprache, welche Texte gleich authen­ tisch sind, unterzeichnet und mit Siegeln verstehen, und zwar in zwei Urschriften, von denen einer der österreichischen Regierung und die andere der čecho­slo­va­ kischen Regierung übergeben wird.“282 „[…] Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten dieses Abkommen in doppel­ ter Ausfertigung in deutscher und polnischer Urschrift unterzeichnet und mit ihren Siegeln versehen.“283 „[…] In witness whereof the undersigned, duly authorized to that effect, have signed the present Agreement and have affixed thereto their seals. Done in dupli­ cate in London, the 17th day of July, 1937, in English and German, both texts being equally authentic.“284 281  Die Datenbank „International Treaties Collection“ ermöglicht als Recherche­ tool u. a. das Durchsuchen aller dokumentierten Verträge der United Nations Treaty Series und der League of Nations Treaty Series, siehe http://www.worldlii.org/int/ special/treaties/ (23.03.2018). 282  Art. XIV des Übereinkommens zwischen der Ĉechoslovakischen Republik und der Republik Österreich über die Erfüllung von Lebens- und Rentenversicherungsver­ trägen vom 29.05.1925, in: L.N.T.S. 98 (1930), 91 ff. (No. 2242). 283  Art. 76 des deutsch-polnischen Aufwertungsabkommens vom 05.07.1928, in: L.N.T.S. 113 (1931), 189 ff. (No. 2646). 284  Art. 30 des deutsch-britischen Abkommens über die Begrenzung der Seerüs­ tungen und den Nachrichtenaustausch über Flottenbaupläne vom 17.07.1937, in: L.N.T.S. 187 (1937), 43 ff. (No. 4332).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen89

Diese zitierten Schlussbestimmungen zeigen, dass der Wortlaut von Art. 440 des Versailler Friedensvertrags nicht prägend für spätere mehrspra­ chige Verträge war. Insbesondere die in den Fußnoten 283 und 284 zitierten Bestimmungen lehnen sich stark an die Schlussbestimmungen von mehrspra­ chigen Verträgen aus dem 19. Jahrhundert an („done in duplicate“; „have affixed thereto their seals“). Der einzige Unterschied ist die nun auch dekla­ ratorische Bestätigung, dass der Vertrag in zwei (oder mehr) Sprachen abge­ fasst wurde und diese benannten Texte authentisch sind. Die Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Texte wird durch diese zusätzliche Deklaration weder gesteigert noch abgeschwächt, sie unterstreicht nur deren Prinzip, wie Mössner zutreffend festgestellt hat.285 Soweit die Texte gerade nicht gleich­ wertig sein sollen, wurde dies auch weiterhin von den Vertragsparteien aus­ drücklich im Vertragstext selbst festgelegt, so wie dies bereits in der Schluss­ bestimmung des Freundschafts- und Handelsvertrags zwischen den Vereinig­ ten Staaten und Frankreich vom 06.02.1778 geschah. Dies verdeutlicht etwa die Schlussbestimmung im Handelsübereinkommen von Österreich und Un­ garn vom 08.02.1922: „[…] Das Übereinkommen wird in ungarischer und deutscher Urschrift ausgefer­ tigt. Bei Auslegung des Übereinkommens soll in Zweifelsfällen der deutsche Text gelten, da die Verhandlungen in deutscher Sprache geführt worden sind. Zu Urkund dessen haben die Bevollmächtigten das vorliegende Abkommen unterzeichnet und ihre Siegel beigedrückt.“286

Das Beispiel des ungarisch-österreichischen Handelsabkommens vom 08.02.1922 zeigt zudem, dass die Staaten nun in immer stärkerem Maße ihre eigenen Sprachen in Vertragsverhandlungen und völkerrechtliche Verträge einbrachten und bei Auslegungszweifeln sogar teilweise zur allein verbindli­ chen Sprache erklärten (so etwa die deutsche Sprache im Handelsabkommen von 1922), obgleich die französische Sprache auch nach dem Versailler Frie­ densvertrag von 1919 durchaus noch dominant war.287 Die häufig anzutreffende Bemerkung, der Versailler Vertrag stelle den Be­ ginn einer europäischen Mehrsprachenvertragspraxis dar, muss daher inso­ 285  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (282); vgl. auch Ostrower, Language (1965), Vol. 1, S. 479. 286  Art. 14 des Handelsübereinkommens zwischen dem Königreich Ungarn und der Republik Österreich vom 08.02.1922, in: L.N.T.S. 16 (1923), 19 ff. (No. 402). 287  Siehe beispielhaft Art. 11 der dreisprachigen Convention between Norway and Finland for the pacific settlement of disputes vom 03.02.1926 (L.N.T.S. 60 [1927], 353 ff. [No. 1420]): „La présente convention est rédigée en langues norvégienne, fin­ noise, suédoise et française. Dans toutes les questions relatives à son interprétation, c’est le text français qui fera foi.“ Die Vereinbarung des Vorrangs des französischen Textes bei Auslegungszweifeln ist umso bemerkenswerter, als Frankreich nicht Ver­ tragspartei dieser Konvention war.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

weit präzisiert werden, dass dieser einen Wendepunkt dahingehend darstellt, dass in Vertragsschlussklauseln mehrsprachiger Verträge die Vertragssprachen nun ausdrücklich genannt und als authentisch bezeichnet wurden. Richtig ist, dass nach dem Versailler Friedensvertrag eine sprunghafte Zunahme mehr­ sprachiger völkerrechtlicher Verträge zu beobachten ist und auch explizit die Frage nach den besonderen Auslegungsproblemen bei mehrsprachigen Ver­ trägen aufkam.288 Hieraus im Umkehrschluss zu schlussfolgern, dass es vor diesem Zeitpunkt keine mehrsprachigen Verträge in Europa gegeben habe und bei früheren mehrsprachigen Verträgen die verschiedensprachigen Ver­ tragstexte aufgrund der fehlenden Angabe der Vertragssprachen und ihr Ver­ hältnis zueinander im Vertrag nicht paritätisch nebeneinander standen, ist unzutreffend: Wenn man mit Mössner zutreffend davon ausgeht, dass die Nennung der Vertragssprachen und ihre Bezeichnung als authentisch ledig­ lich das Prinzip der Gleichwertigkeitsregel unterstreichen,289 mussten der Versailler Friedensvertrag und weitere mehrsprachige völkerrechtliche Ver­ träge in der Zeit des Völkerbundes an eine völkerrechtliche Regel anknüpfen, die sich in der Vorzeit zum Versailler Friedensvertrag von 1919 zumindest schleichend herausgebildet hatte. cc) Die Harvard Draft Convention on the Law of Treaties Als Hilfsmittel zur Feststellung, ob die Gleichwertigkeitsregel einen ver­ bindlichen völkerrechtlichen Rechtssatz darstellt, kann die 1935 im American Journal of International Law Supplement veröffentlichte Harvard Draft Con­ vention on the Law of Treaties dienen.290 Art. 19 Buchst. b) dieses Entwurfs befasst sich explizit mit der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge: „When the text of a treaty is embodied in versions in different languages, and when it is not stipulated that the version in one of the languages shall prevail, the treaty is to be interpreted with a view to giving to corresponding provisions in the different versions a common meaning which will effect the general purpose which the treaty is intended to serve.“291 288  Siehe insbesondere den Fragebogen Nr. 5 („Procedure of International Confe­ rences and Procedure for the Conclusion and Drafting of Treaties“) des Committee of Experts an den Völkerbundrat im Rahmen der „Progressive Codification of Internati­ onal Law“, League of Nations Doc. C.47.M.24.1926.V., Nachdrucke in Rapport au Conseil de la Société des Nations (1927), Questionnaire N° 5, S. 114; AJIL Special Sup. 20 (1926), 17 (219). 289  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (282). 290  AJIL Sup. 29 (1935), 653 ff. 291  AJIL Sup. 29 (1935), 653 (661).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen91

Die Gleichwertigkeitsregel deutet sich in der Textstelle „and when it is not stipulated that the version in one of the languages shall prevail“ an. Die Verfasser der Harvard Draft Convention gingen damit davon aus, dass die Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte die Regel darstellt und ein Abweichen hiervon einer ausdrücklichen Klarstellung im Vertrag selbst bedürfe. Art. 19 Buchst. b) der Harvard Draft Convention ist zwar nicht völkerrechtlich verbindlich, sie ist lediglich eine wissenschaftliche Pu­ blikation. Gleichwohl kommt die Einordnung einer solchen Publikation wie die der Harvard Law School als Rechtserkenntnisquelle i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut bzw. Art. 38 Nr. 4 StIGH-Statut in Betracht. Die „Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtler der Welt“ können insbesondere als Nachweis oder Indiz für die Etablierung von Völkergewohnheitsrecht dienen.292 Das Hauptanliegen der Verfasser der Harvard Draft Convention on the Law of Treaties war, bestehende Kerngrundsätze zur Auslegung völker­ rechtlicher Verträge zusammenzufassen und diese vorschlagshalber im Stil einer Auslegungsregel – vergleichbar, wie dies später bei den Art. 31–33 WVK geschehen ist – zu formulieren.293 Für die Einordnung der Harvard Draft Convention als Lehrmeinung i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGHStatut spricht, dass diese im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion um die Auslegung mehrsprachiger Verträge von bedeutender Seite zitiert wurde294 und sich zudem als kollektive Leistung namhafter Personen295 unter der Ägide der renommierten Harvard Law School darstellt. Art. 19 Buchst. b) der Harvard Draft Convention trägt bestehende Kerngrundsätze zur Ausle­ gung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge zusammen. Art. 19 Buchst. b) stellt betreffend der Gleichwertigkeitsregel klar: Die Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte ist die Regel und der Vorrang eines Tex­ tes die Ausnahme, welche zudem einer ausdrücklichen Vereinbarung bedarf. Diese Feststellung in Art. 19 Buchst. b) korreliert mit der Staatenpraxis be­ 292  Siehe StIGH, The Case of the S.S. „Lotus“, Series A, N° 10, S. 26: „In the first place, as regards the teaching of publicists, and apart from the question as to what their value may be from the point of view of establishing the existence of a rule of customary law […].“ 293  Vgl. die Allgemeine Einführung, AJIL Sup. 29 (1935), 1 ff. sowie den ein­ leitenden Kommentar zur Harvard Draft Convention, AJIL Sup. 29 (1935), 653 (666 ff.). 294  Der Harvard Draft wurde etwa mehrfach von Mitgliedern der International Law Commission im Rahmen der Ausarbeitung der Wiener Vertragsrechtskonvention in die Diskussion eingebracht, siehe beispielhaft Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 33, 193, 296. 295  Der wohl bekannteste mitwirkende Berater bei der Ausarbeitung der Harvard Draft Convention on the Law of Treaties dürfte insbesondere der amerikanische Völ­ kerrechtler und Diplomat Philip C. Jessup sein, der später als Richter am Internatio­ nalen Gerichtshof tätig war, vgl. AJIL Sup. 29 (1935), 1 (7).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

treffend die Formulierung relevanter Vertragsschlussbestimmungen mehr­ sprachiger Verträge im 18. und 19. Jahrhundert.296 b) Folgen für die Bewertung der völkerrechtlichen Relevanz Die vorstehenden Ausführungen geben nach der hier vertretenen Auffas­ sung genügend Substanz, die Gleichwertigkeitsregel als völkergewohnheits­ rechtlichen Rechtssatz zu betrachten, welchem in der Zeit vor der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 herausragende Bedeutung zukommt.297 Die beiden Elemente für die Begründung von Völkergewohnheitsrecht, eine hinreichend gefestigte Staatenpraxis (allgemeine Übung), basierend auf einer entsprechenden opinio juris, liegen bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen vor. Problematisch ist indes sowohl, ab wann in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht von einer völkergewohnheitsrechtlichen Geltung aus­ gegangen werden kann. In räumlicher Dimension kommt die Unterscheidung zwischen universel­ lem und regionalem Völkergewohnheitsrecht in Betracht.298 Hinsichtlich der räumlichen Komponente ist zu bedenken, dass nach der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs Völkergewohnheitsrecht sogar lediglich in bila­ teralen Beziehungen entstehen und bestehen kann.299 Da sich die Gleichwer­ tigkeitsregel in der völkerrechtlichen Praxis erst nach und nach manifestiert hat, sollte hinsichtlich des regionalen Geltungsanspruchs einer völkerge­ wohnheitsrechtlichen Gleichwertigkeitsregel der Blick sich zunächst auf diejenigen Staaten richten, deren Praxis diese erkennen lässt. Wie bereits 296  Siehe nur beispielhaft die Vertragsschlussbestimmungen in den Fn. 201, 286 und 287. 297  Die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Gleichwertigkeitsregel bejaht auch ausdrücklich – jedoch ohne nähere Begründung und eher im Stile einer Behaup­ tung – das OVG Nordrhein-Westfalen, B. v. 11.02.1992 – 8 B 536/92 –, juris, Rn. 26 = NJW 1992, 2043 ff. Die gegenläufige Ansicht von Mosler, Völkerrechtspraxis (1957), S. 30, erscheint dagegen unhaltbar. 298  Zu der Feststellung von regionalem Völkergewohnheitsrecht siehe etwa Alvarez-Jiménez, ICLQ 60 (2011), 681 (703). Zu der Unterscheidung zwischen universel­ lem bzw. allgemeinem Völkergewohnheitsrecht einerseits und regionalem (bzw. par­ tikularem oder speziellem) Völkergewohnheitsrecht andererseits siehe – auch zur Terminologie – Byers, Custom (1999), S. 3, dort Fn. 3; D’Amato, AJIL 63 (1969), 211 (212); Villiger, Customary International Law (1997), S. 56. 299  IGH, Case concerning Right of Passage over Indian Territory (Merits), Judgment of 12 April 1960, I.C.J. Reports 1960, 6 (37): „It is difficult to see why the number of States between which a local custom may be established on the basis of long practice must be necessarily larger than two. The Court sees no reason why long continued practice between two States accepted by them as regulating their relations should not form the basis of mutual rights and obligations between the two States.“



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen93

dargelegt, weist die Staatspraxis der Vereinigten Staaten von Amerika seit dem frühen 19. Jahrhundert recht deutlich auf die Gleichwertigkeit mehrspra­ chiger Vertragstexte hin. Diese war auch hinreichend konsistent, da die Kon­ tinuität dieser Praxis auch um die Jahrhundertwende, fast 70 Jahre nach dem grundlegenden Urteil des US Supreme Court im Fall United States v. Percheman, noch wahrnehmbar ist, wie etwa die Instructions to the diplomatic officers of the United States von 1897 und die führenden Lehrwerke von Moore gezeigt haben. In räumlicher Hinsicht kann damit eine gewohnheitsrechtliche Geltung der Gleichwertigkeitsregel im 19. Jahrhundert für den amerikanischen Raum an­ genommen werden. Hierfür spricht insbesondere, dass bei den internationa­ len Konferenzen der Amerikanischen Staaten Ende des 19. Jahrhunderts auch auf multilateraler Ebene Tendenzen zu einer paritätischen Vertragssprachen­ praxis beobachtet werden können.300 In der Sache wird hiermit an eine ent­ sprechende paritätische bilaterale Vertragssprachenpraxis angeknüpft, wel­ che – wie oben dargelegt – auch schon in den Jahrzehnten vor den internati­ onalen Konferenzen der Amerikanischen Staaten in den bilateralen Bezie­ hungen amerikanischer Staaten wahrnehmbar ist. Zu weitgehend wäre indes der Vorstoß, eine gewohnheitsrechtliche Geltung der Gleichwertigkeitsregel über den amerikanischen Raum hinaus im 19. Jahrhundert anzunehmen: Zwar gab es – wie aufgezeigt – eine Reihe interkontinentaler bilateraler Ver­ träge mit zwei oder ganz vereinzelt drei Sprachen, diese stellen jedoch, ins­ besondere im Hinblick auf die lange Zeitspanne und die deutlich größere Zahl einsprachiger Verträge, singuläre Ereignisse dar, welche für eine hinrei­ chend konsistente Staatenpraxis von einiger Dauer nicht ausreichen. Mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 wird man von einer univer­ sellen völkergewohnheitsrechtlichen Geltung der Gleichwertigkeitsregel ausgehen können. Wie aufgezeigt, nahm die Zahl mehrsprachiger völker­ rechtlicher Verträge in der Ära des Völkerbundes stark zu und damit auch die erforderliche Staatenpraxis für die Parität von Vertragssprachen. Dem Ver­ sailler Vertrag kommt als Nachweis für das Bestehen dieser Staatenpraxis 300  Vgl. Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 160, jedoch ohne weitere Nachweise. So waren nach Art. XIX der Rules of the Internatio­ nal American Conference Englisch und Spanisch Arbeitssprachen (veröffentlicht in International American Conference – Reports of Committees and Decisions thereon, Bd. 1 [1890], S. 55 ff.). In den Verhandlungen wurde teilweise dezidiert über die Be­ deutungsnuancen zwischen englischen und spanischen Wörtern diskutiert, um eine möglichst präzise Übereinstimmung beim Erstellen mehrsprachiger Dokumente zu erreichen, siehe nur International American Conference – Reports of Committees and Decisions thereon, Bd. 1 (1890), S. 468. Zudem wurden beschlossene Resolutionen in beiden Sprachen vorgetragen (International American Conference – Reports of Com­ mittees and Decisions thereon, Bd. 1 [1890], S. 245).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

auch deshalb eine so herausragende Rolle zu, als dass er der erste große multilaterale mehrsprachige Vertrag in Europa war. Obgleich der Versailler Friedensvertrag von 1919 zwar nicht den Beginn einer europäischen Mehr­ sprachenvertragspraxis markierte, wird man ihn deshalb dennoch als Anker­ punkt für eine universelle gewohnheitsrechtliche Geltung der Gleichwertig­ keitsregel ansehen müssen. c) Bedeutung der Gleichwertigkeitsregel für die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge Der Gleichwertigkeitsregel kommt für die Auslegung mehrsprachiger völ­ kerrechtlicher Verträge herausragende Bedeutung zu. Sie lässt sich nicht nur dogmatisch in die allgemeinen Prinzipien zur Auslegung völkerrechtlicher Verträge einordnen, sondern beeinflusst auch andere Auslegungsregeln, insbe­ sondere die sog. Arbeitssprachenregel, wie der bereits erwähnte Young Anleihen Fall und die dortigen Meinungsverschiedenheiten der Schiedsrichter­ mehrheit und des Schiedsrichters Arndt in seinem Sondervotum gezeigt haben. aa) Rückbindung der Gleichwertigkeitsregel an die allgemeinen Auslegungsregeln Die Gleichwertigkeitsregel ist keine Regel betreffend der Interpretation des Inhalts der Vertragstexte als solche, da sie nach ihrem Sinn und Zweck nicht beschreiben möchte, wie der Inhalt eines Vertragstextes zu verstehen ist. Sie legt vielmehr den Maßstab für die Auslegung völkerrechtlicher Ver­ träge in rechtsverbindlicher Weise fest. Gleichwohl lässt sich die Gleichwer­ tigkeitsregel dogmatisch an allgemeine völkerrechtliche Auslegungsgrund­ sätze rückbinden. An dieser Stelle sollen erneut zentrale Postulate des Schweizer Völkerrechtlers Emer de Vattel und des deutschen Völkerrechtlers Georg Friedrich von Martens in Erinnerung gerufen werden: „Voici une 3me Maxime générale, ou un 3me Prinicipe, au sujet de l’interprétation: ni l’un ni l’autre intéressés, ou des Contractans n’est en droit d’interpréter à son gré l’Acte, ou le Traité.“301 „Da hier kein Staat dem andren seine Grundsätze aufzudringen, oder sich sein aus­ schließliches Interpretationsrecht der Vertra͑ ge beyzulegen berechtiget ist […]“302

Man wird davon ausgehen müssen, dass Vattel mit dieser Ausführung selbstverständlich nicht an zwei- oder mehrsprachige Verträge dachte. Beide 301  Vattel,

Droit des Gens (1758), S. 462. Völkerrecht (1796), S. 117. Hierbei muss jedoch erwähnt werden, dass Martens sich ausdrücklich auf Vattel bezog. 302  Martens,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen95

Postulate beziehen sich jedoch auf einen zentralen allgemeinen Grundsatz zur Vertragsauslegung im Völkerrecht: dem des Good Faith, also die Ausle­ gung eines Vertrages nach Treu und Glauben. Der Grundsatz des Good Faith ist, da er in nahezu allen Staaten als Rechtsprinzip bekannt ist, als allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut aner­ kannt303 und hat dementsprechend auch Eingang in zentrale Grundsätze des Völkervertragsrechts und insbesondere zur Vertragsauslegung gefunden.304 In der Sache ist der Grundsatz des Good Faith eng verwoben mit dem ebenso zentralen vertraglichen Grundsatz pacta sunt servanda.305 Bei mehrsprachi­ gen Verträgen würde bei bewusster Nichtberücksichtigung eines divergieren­ den Textes nicht nur die entsprechende Vertragspartei benachteiligt, sie stellt auch gleichzeitig eine Weigerung der Durchsetzung des Vertragsinhaltes dar, über den sich die Vertragsparteien gerade geeinigt haben. Die bedächtigen Ausführungen des US Supreme Court in United States v. Percheman zu den zwei verschiedensprachigen Vertragstexten und dem vereinbarten Willen der Vertragsparteien306 sind insoweit ein Zeugnis für die effektive Durchsetzung des Vertrages im Sinne des pacta sunt servanda-Grundsatzes. Löst man aus dem Wortstamm der Gleichwertigkeitsregel den Begriff „gleichwertig“ her­ aus, erklärt sich, dass diese Regel zwar keine interpretative Lösung für die Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen bietet, sie je­ doch im Sinne einer billigen Wertung der verschiedensprachigen Texte im Sinne von Treu und Glauben nicht nur notwendiger Ankerpunkt für eine eventuelle Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen ist,307 sondern auch die Einhaltung zentraler völkerrechtlicher Grundsätze zum Vertragsrecht wie pacta sunt servanda sicherstellt.308

303  Kotzur,

Good Faith (Bona Fide) (MPEPIL 01/2009), Rn. 22. Prinzip des Good Faith wird etwa an diversen Stellen in der Wiener Ver­ tragsrechtskonvention ausdrücklich oder sinngemäß aufgegriffen, siehe Art. 18, 26, 31 Abs. 1, 46 Abs. 2, 69 Abs. 2 Buchst. b) WVK. Auch die Präambel verhält sich sehr deutlich zu diesem Prinzip: „Noting that the principles of free consent and of good faith and the pacta sunt servanda rule are universally recognized […].“ 305  Kotzur, Good Faith (Bona Fide) (MPEPIL 01/2009), Rn. 19. 306  Vgl. US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833– 1834), 51 (65, 68). 307  Im Ansatz auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 269. 308  Vgl. auch Colzani, Trattari internationali (2014), S. 219, jedoch in Bezug auf die zur Gleichwertigkeit verwandte Thematik der postulierten Einheit eines mehrspra­ chigen völkerrechtlichen Vertrages. 304  Das

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

bb) Einfluss der Gleichwertigkeitsregel auf die Arbeitssprachenregel Die Ausführungen des Schiedstribunals im Young-Anleihen-Fall haben gezeigt, dass die Gleichwertigkeitsregel und die sog. Arbeitssprachenregel in einem Spannungsverhältnis stehen. Besonders deutlich wurde dies in der unterschiedlichen Auffassung der Mehrheitsmeinung und dem Sondervotum des Schiedsrichters Arndt. Arndt betonte, dass die Gleichwertigkeit der Texte einen Rückgriff auf die travaux préparatoires nicht verbieten würde, um den Willen der Vertragsparteien und ggf. den Vorrang eines Textes zu erfor­ schen.309 Diese Auffassung von Arndt sollte nicht überbewertet werden im Sinne einer prinzipiellen Absage an die Gleichwertigkeitsregel. Nicht bestä­ tigt hat sich jedoch, dass in der historischen Mehrsprachenvertragspraxis gerade die von Arndt gesehene Vorgehensweise des Rückgriffs auf die vor­ bereitenden Materialien sich gegenüber der Gleichwertigkeitsregel dominant niedergeschlagen hatte. So hat etwa die historische Staatspraxis der Verei­ nigten Staaten von Amerika im 19. und 20. Jahrhundert und in Europa nach dem Versailler Friedensvertrag von 1919 gerade eine hohe Sensibilität für die Gleichwertigkeit mehrsprachiger Vertragstexte bewiesen; Sprachenklau­ seln wie im Amerikanisch-Französischen Freundschafts- und Handelsvertrag vom 06.02.1778 mit Verweis auf einen Urtext310 blieben die absolute Aus­ nahme. Das implizite Verständnis von Arndt, die Arbeitssprachenregel sei in der Völkerrechtspraxis bereits länger vorhanden und damit von höherer Be­ deutung als die Gleichwertigkeitsregel gewesen,311 lässt sich daher nicht halten. Um Friktionen zwischen der Gleichwertigkeit der Vertragstexte bei einem Rekurs auf die vorbereitenden Materialien zu vermeiden, ist es entscheidend, wann und wie auf diese Materialien zurückgegriffen wird.312 Primäre Quelle für die Auslegung sollte zunächst immer der Vertragstext selbst sein, auch wenn der Wille der Vertragsparteien ermittelt werden muss.313 Wenn reflex­ 309  Dissenting Opinion of Arbitrator Arndt, Young Loan Arbitration, ILR 59 (1980), 550 (581). 310  Vgl. oben die zitierte Schlussbestimmung in Art. XXXI des Vertrags (Fn. 201). 311  Vgl. erneut Seidl-Hohenveldern, GYIL 23 (1980), 401 (404). 312  Vgl. Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (98); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 116, warnt vor einer Überbetonung der Arbeitssprache, zudem hänge die Brauchbarkeit dieser Auslegungsmethode maßgeblich vom Einzelfall ab. 313  Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Wille der Vertragsparteien in der Arbeitssprache unter Umständen zuverlässiger ermittelt werden kann, vgl. Seidl-Hohenveldern, GYIL 23 (1980), 401 (411). Wer sich der Ermittlung des Willens der Vertragsparteien insofern verweigert, indem er nicht zunächst im Wege der Auslegung der Vertragstexte vorgeht, sieht sich entgegen Seidl-Hohenveldern leicht dem Vorwurf ausgesetzt, über die Arbeitssprache einen bequemen Weg zu gehen, um etwaige Text­ divergenzen zu beseitigen.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen97

haft bei mehrsprachigen Vertragstexten auf die Vertragssprache, in welcher die vorbereitenden Materialien abgefasst sind, zurückgegriffen wird, steigt in der Tat die Gefahr, die verschiedensprachigen Vertragstexte nicht paritätisch zu würdigen. Jedenfalls bei einer so verstandenen Anwendung der Arbeits­ sprachenregel wird man Mössner zustimmen müssen: Die unkritisch oder reflexhaft bevorzugte Würdigung des Vertragstextes in der Sprache der vor­ bereitenden Materialien stellt einen Verstoß gegen die Gleichwertigkeit der Vertragstexte dar.314 Inwieweit die jüngere Praxis zur Arbeitssprachenregel bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge mit der Gleichwertigkeit der Texte in Einklang steht, wird sich im Folgenden zeigen. Dies gilt auch für die von Arndt genannte Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Ge­ richtshofs als Beleg für seine Auffassung. 2. Die Arbeitssprachenregel als wichtigster Gegenpol zur gleichwertigen Betrachtung der Vertragstexte Die Auslegungsmethode, welche bei mehrsprachigen Verträgen einen Vor­ rang der Vertragssprache, die den vorbereitenden Materialien entspricht, vorsieht, wird im völkerrechtlichen Schrifttum uneinheitlich benannt. So sprechen Dölle und Rest etwa von einem Vorrang der „führenden Sprache“,315 während andererseits von der „Arbeitssprache“316, der „Originalsprache“317, dem „Urtext“318 oder dem „ursprünglichen Text“319 gesprochen wird. Im Kern zielen sämtliche dieser Formulierungen auf ein Bedürfnis ab, die Pari­ tät der verschiedensprachigen Vertragstexte nach Maßgabe autoritativ ver­ standener Materialien zu durchbrechen, um Textdivergenzen aufzulösen. Dieses Bedürfnis ist unter anderem auf den Hintergrund zurückzuführen, dass trotz aller erdenklichen Anstrengungen bei paritätischer Würdigung der Vertragstexte die Auflösung von Textdivergenzen sich als unmöglich erwei­ 314  Vgl. Mössner, AVR 15 (1972), 273 (290). Für die Zeit nach dem Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention weist Hahn/Braun, in: Hahn [et al.] (Hrsg.), Wertsicherung (1984), S. 17, zudem darauf hin, dass für eine generelle Bevorzugung der Arbeitssprache kein praktisches Bedürfnis bestehe. 315  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (22); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 116; Verdross, Völkerrecht (1964), S. 174. 316  Als zusammenfassende Bezeichnung für diese Auslegungsregel Mössner, AVR 15 (1972), 273 (290). 317  So etwa Gardiner, Interpretation (2015), S. 426 ff.; Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (98). 318  Diesen Begriff verwenden insbesondere Hilf, Verträge (1973), S. 88 ff.; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 117; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 70, in Bezug auf die Auslegung nach der führenden Sprache; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (289), spricht von der Ursprache. 319  Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 418.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

sen kann. Insofern ist es nachvollziehbar, dass unter Umständen die Gleich­ wertigkeit der Texte zum Zwecke der Auflösung von Textdiskrepanzen nicht als absolut verstanden wird.320 Verdross geht sogar noch einen Schritt weiter und sieht das Heranziehen des Originaltextes im Falle von Textdivergenzen als unumgänglich an.321 Nichtsdestotrotz gab und gibt es auch grundsätzliche Kritik an der Vorgehensweise, einen Vertragstext gegenüber anderen entge­ gen der Gleichwertigkeit der Texte zu privilegieren.322 Die vor allem in rechtspraktischer Hinsicht empfundenen Vorteile der Arbeitssprachenregel dürften gerade jene konservativen Kritiker, welche eisern an der Parität der Vertragstexte als zentralem dogmatischen Grundsatz festhalten, nicht über­ zeugt haben. Nicht geleugnet werden kann allerdings, dass die Arbeitsspra­ chenregel in der Rechtspraxis wiederholt herangezogen wurde, sodass sich die Frage nach der Stellung der Arbeitssprachenregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem stellt. a) Die Arbeitssprachenregel in der völkerrechtlichen Rechtspraxis Eine Regelung, wonach sich im Falle von Textdivergenzen in mehrspra­ chigen Verträgen die Vertragssprache der vorbereitenden Materialien durch­ setzen soll, ist völkervertraglich nicht kodifiziert. Die Vorschriften der Wie­ ner Vertragsrechtskonvention sehen zwar als subsidiäre Auslegungsregel in Art. 32 WVK unter bestimmten Umständen die Berücksichtigung der vorbe­ reitenden Materialien vor, als spezielle Auslegungsvorschrift für mehrspra­ chige Verträge verweist Art. 33 Abs. 4 WVK zudem auf Art. 32 WVK. In Betracht kommt somit allenfalls die Einordnung der Arbeitssprachenregel als völkergewohnheitsrechtlicher Rechtssatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut oder allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsgrundsatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut. Die eben zitierten Vorschriften aus der WVK stellen nämlich lediglich klar, dass zwar ein Rückgriff auf die travaux prépa­ ratoires unter Umständen zulässig sein kann, treffen jedoch keine Aussage über den Stellenwert der Arbeitssprache als solcher.323 Hieraus ergäbe sich Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (98). Völkerrecht (1964), S. 174. 322  Sehr deutliche Kritik kommt insbesondere von Mössner, AVR 15 (1972), 273 (289 f.), der der Arbeitssprachenregel eine Missachtung des Prinzips der Gleichwer­ tigkeit vorwirft; differenzierte Kritik von Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 131. 323  Vgl. Hilf, Verträge (1973), S. 88. Dass zudem der Rückgriff auf die travaux préparatoires und der Urtext als solcher verschiedene Thematiken sind, wird von Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 130, zutreffend herausgearbeitet; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (289), spricht von einem Sonderfall der Heranziehung der tra­ vaux préparatoires. 320  Vgl.

321  Verdross,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen99

folgerichtig die Überlegung, dass die Sprache der vorbereitenden Materialien die Auslegung des Vertragstextes in der korrespondierenden Sprache ent­ scheidend lenken kann; diese Vorgehensweise stellt jedoch in der Sache keine Auslegung nach Maßgabe eines „Urtextes“ oder eines „ursprünglichen Textes“ dar.324 Streng genommen zeigen sich damit bereits erste Unschärfen in der Verwendung von Begriffen wie „Arbeitssprache“ und „Ursprache“ bzw. „Urtext“, die der Versuch, einen weithin bekannten Auslegungsgrund­ satz – die historisch-genetische Auslegung – auf mehrsprachige völkerrecht­ liche Verträge zu übertragen, mit sich bringt.325 Diese Grundsätze müssen bei der Untersuchung von angeführter Rechtsprechung als Nachweis für die Ar­ beitssprachenregel berücksichtigt werden. Ob man wie Teile des Schrifttums dann überhaupt noch von einer Auslegung nach Maßgabe des „Urtextes“ sprechen kann, wird sich zeigen. aa) Rechtsprechung internationaler Gerichte In der Gerichtspraxis kann in verschiedener Hinsicht ein Rekurs auf die vorbereitenden Materialien zur Auflösung von Textdivergenzen in mehrspra­ chigen Verträgen beobachtet werden.326 Jedoch wurde darauf hingewiesen, dass diese Gerichtspraxis in hohem Maße uneinheitlich und teilweise wenig aussagekräftig sei.327 Dies gibt Anlass zu untersuchen, ob bestimmte, aus der Gerichtspraxis herangezogene Beispiele für die Arbeitssprachenregel, von Teilen des Schrifttums möglicherweise überinterpretiert worden sind. (1) Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs Im völkerrechtlichen Schrifttum wird als Nachweis für das Bestehen der Arbeitssprachenregel häufig Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 130. Gardiner, Interpretation (2015), S. 426, der darauf hinweist, dass der Be­ griff „original“ im Zusammenhang mit der Sprache eines Vertrages im Völkerrecht nicht verbindlich geklärt ist. Siehe jedoch auch andererseits Métall, ZöR 9 (1930), 357 (361), der die Lösung von Textdivergenzen maßgeblich in historischer Forschung sieht und die Vorbildfunktion der schweizerischen Rechtswissenschaft lobt, die bei Auslegungsschwierigkeiten mehrsprachiger Gesetzestexte auf die historische Ausle­ gung zurückgriff. 326  Die Kommentierung zu Art. 19 Buchst. b) der Harvard Draft Convention on the Law of Treaties bemerkt in diesem Zusammenhang fast schon trocken: „Where a treaty has been drafted in one language, and later translated into several versions of equal authority, courts have shown a tendency to resort to the ‚basic‘ language when confronted with a divergence“ (AJIL Sup. 29 [1935], 661 [972]). 327  So etwa Hilf, Verträge (1973), S. 88 ff. 324  Vgl. 325  Vgl.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Gerichtshofs zitiert.328 Genannt werden insbesondere das MavrommatisKonzessionen Gutachten,329 das Gutachten zum Vertrag von Lausanne330 sowie das Gutachten zur Nachtarbeit von Frauen331. (a) Das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten Aus dem Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten des Ständigen Internatio­ nalen Gerichtshofs vom 30.08.1924 wird als Nachweis für die (behauptete) Existenz der Arbeitssprachenregel insbesondere von Arndt,332 Makarov333, Rest334 und Rousseau335 folgende Passage zitiert: „In the present case this conclusion is indicated with special force because the question concerns an instrument laying down the obligations of Great Britain in her capacity as Mandatory for Palestine and because the original draft of this in­ strument was probably made in English.“336

Diese vom Ständigen Internationalen Gerichtshof gewählte Formulierung zeigt einige Zurückhaltung: Es wird deutlich, dass der Gerichtshof sich nicht abschließend sicher war, ob der Entwurf des streitgegenständlichen Mandats­ vertrags tatsächlich in der englischen Sprache abgefasst war.337 Konkret ging es um Bedeutungsnuancen der Begriffe „public ownership or control“ und „propriété ou au contrôle public“ in Art. 11 des Mandatsvertrags. Der Ge­ richtshof setzte sich ausführlich mit der sprachlichen Interpretation dieser beiden Begriffe auseinander und kam schließlich zu der Schlussfolgerung, 328  Siehe etwa die Nachweise bei Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (23); Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (103); Hilf, Verträge (1973), S. 89; Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 419, 421; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 119; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S.  70 f. 329  StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Advisory Opinion, Series A, N° 2, S. 7 ff. 330  StIGH, Exchange of Greek and Turkish Populations, Advisory Opinion, Series B, N° 10, S. 7 ff. 331  StIGH, Interpretation of the Convention of 1919 concerning the Employment of Women at Night, Series A/B, N° 50, S. 365 ff. 332  Young Loan Arbitration, Dissenting Opinion of Arbitrator Arndt, ILR 59 (1980), 550 (582). 333  Siehe Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 421. 334  Siehe Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 119. 335  Rousseau, Principes Généraux (1944), S. 722. 336  StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Advisory Opinion, Series A, N° 2, S. 19. Anders als bei Makarov und Rest wurde hier jedoch der englische Text des Gutachtens zitiert. 337  Vgl. auch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (290), wonach internationale Gerichte für die Auslegung mehrsprachiger Verträge lediglich behutsam auf die Existenz eines Urtextes hingewiesen hätten.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen101

dass das englische „public ownership or control“ enger zu verstehen sei als das französische „propriété ou au contrôle public“.338 Diese Textdivergenz will der Gerichtshof nach Maßgabe einer (restriktiven339) harmonisierenden Auslegung auflösen.340 Bei genauer Lektüre der oben zitierten Ausführung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs lässt sich der Zusammenhang zu dieser direkt vorangestellten postulierten (restriktiven) harmonisierenden Auslegung nicht leugnen.341 Diese Tatsache wird sowohl von Arndt als von Makarov und Rest übergangen, indem sie die oben zitierte Textstelle teil­ weise ohne nähere Begründung als Beleg für die Existenz der Arbeitsspra­ chenregel ansehen wollen.342 Eine Aussage über den Wert eines irgendwie verstandenen Urtextes für die Auslegung mehrsprachiger Verträge sucht man in der zitierten Ausführung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs ver­ gebens. Es stellt sich auch die Frage, inwiefern man überhaupt noch von ei­ 338  StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Advisory Opinion, Series A, N° 2, S. 18. Erwähnenswert ist zudem der Verdacht des Richters Moore in seinem Sondervotum, dass das französische „propriété ou au contrôl public“ eine misslunge wörtliche Übersetzung des englischen „public ownership or control“ sei: „I strongly incline to the believe that the French text, in the present instance, is a so-called ‚lit­ eral‘ translation of the English text, and was intended to mean the same thing. A ‚literal‘ translation, however, is often only a verbal imitation, which, if taken alone, may be so interpreted as to pervert or even destroy the meaning of the other text. But I take the two texts as they stand, discarding neither in favour of the other […].“ 339  Ob man die vom StIGH gewählte Auslegung als restriktiv charakterisieren kann ist im Schrifttum umstritten, siehe statt vieler nur folgende Ausführung von Arndt, ILR 59 (1980), 550 (582): „Hardy explains at length that the assertion of cer­ tain authors that the Permanent Court thus endorsed a ‚limited interpretation‘ as a rule for solving discrepancies between is erroneous.“ 340  StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Advisory Opinion, Series A, N° 2, S. 19: „The Court is of opinion that, where two versions possessing equal au­ thority exist one which appears to have a wider bearing that the other, it is bound to adopt a more limited interpretation which can be made to harmonize with both ver­ sions and which, as far as it goes, is doubtless in accordance with the common inten­ tion of the Parties.“ Diese Auslegungsmethode wurde auch in der Literatur die Kleinste-Gemeinsamer-Nenner-Methode genannt, siehe hierzu unten unter B. I. 4. 341  Dies erscheint schon allein aufgrund des Passus „this conclusion“ zwingend. 342  Arndt beschränkt sich als Begründung für den Nachweis der Arbeitssprachen­ regel in seinem Sondervotum zum Young-Anleihen- Schiedsspruch auf die Behaup­ tung, dass der englische Text eine wichtige Rolle gespielt habe für den Ständigen Internationalen Gerichtshof, da der Entwurf des Mandatsvertrags wahrscheinlich („probably“) in englischer Sprache abgefasst sei (ILR 59 [1980], 550 [582]). Hieraus ergibt sich indes kein argumentativer Mehrwert, da für den Gerichtshof die (mögli­ che) Tatsache des englischsprachigen Entwurfs zwar in der Tat eine Rolle gespielt hat, jedoch gerade für seine Argumentation der harmonisierenden Auslegung, um auf den restriktiveren englischen Text des Mandatsvertrags abstellen zu können. Arndt versucht auf diese Weise, einen Zusammenhang zur Wertigkeit der Arbeitssprachen­ regel herzustellen, der so nicht nachvollziehbar ist und spekulativ anmutet.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

ner (restriktiven) harmonisierenden Auslegung sprechen kann, wenn man das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten als Beleg für einen Vorrang der Ar­ beitssprache sieht – von einer harmonisierenden Auslegung kann schließlich keine Rede sein, wenn entgegen der Gleichwertigkeit der authentischen Ver­ tragstexte der Text der Arbeitssprache privilegiert wird.343 Es drängt sich der Eindruck auf, dass Arndt, Makarov und Rest aus dem Mavrommatis-Konzes­ sionen-Gutachten Schlussfolgerungen für die Arbeitssprachenregel ziehen, für welche dieses zu wenig Ansatzpunkte bietet. Der schlank gehaltene Hin­ weis auf den englischen Entwurf kann vielmehr nur dahingehend verstanden werden, dass der Ständige Internationale Gerichtshof seine vorstehende Ar­ gumentation zur (restriktiven) harmonisierenden Auslegung als Zusatzargu­ ment untermauern wollte.344 Das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten ist damit als Nachweis für die Arbeitssprachenregel entgegen der Meinung di­ verser Kommentatoren nicht gut geeignet345 und wird damit erst im Zusam­ menhang mit der restriktiven harmonisierenden Auslegung der Vertragstexte wieder relevant. (b) Das Gutachten zum Vertrag von Lausanne vom 30.01.1923 Nach Ansicht von Dölle, Rousseau und Rudolf ist das Gutachten des Stän­ digen Internationalen Gerichtshofs zum Vertrag von Lausanne über den Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerung vom 30.01.1924 ein Beleg für die Existenz der Arbeitssprachenregel.346 Nach ihrer Ansicht sei insbesondere in folgender Textstelle in dem Gutachten auf diese Auslegungs­ regel eingegangen: „The Convention was drawn up in French and therefore regard must be had to the meaning of the disputed term in that language.“347 343  Vgl. Uerpmann-Wittzack, Mavrommatis Concessions Cases (MPEPIL 03/2013), Rn. 5, der zwar wie Arndt, Makarov und Rest einen Beleg für den Vorrang der Ar­ beitssprache erkennen will, jedoch im Folgenden darauf hinweist, dass nach Ansicht des StIGH der Sinngehalt des anderen authentischen Vertragstextes nicht zunichte gemacht werden darf. 344  Vgl. Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 281, der darauf hinweist, dass der Hin­ weis des StIGH auf den englischsprachigen Entwurf des Mandatsvertrags auf die „limited interpretation“ abzielt. 345  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (22 f.) nennt hingegen gar nicht das MavrommatisKonzessionen-Gutachten als Beleg für die Existenz der Arbeitssprachenregel. 346  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (22); Rousseau, Principes généraux (1944), S. 722; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 70 f. 347  StIGH, Exchange of Greek and Turkish Populations, Advisory Opinion, Series B, N° 10, S. 18. Auch hier wurde der englische Text des Gutachtens zitiert, während Dölle den französischen Text verwendete.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen103

Zum besseren Verständnis dieser Ausführung ist auch hier eine Berück­ sichtigung dieser im streitgegenständlichen Kontext hilfreich. Ähnlich wie beim Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten ging es hier um feine Unter­ schiede zwischen dem englischen und französischen Vertragstext: Während der englische Text des Vertrages348 von „established“ sprach, verwendete der französische Text die Vokabel „établis“. Der Ständige Gerichtshof setzte sich mit den verschiedenen Bedeutungsgehalten dieser beiden Begriffe ausführ­ lich auseinander.349 Letztendlich unterschlagen Dölle und Rousseau jedoch ein entscheidendes Detail: Ausweislich der Dokumentation in der League of Nations Treaty Series war der Vertrag vom 30.01.1923 lediglich in Franzö­ sisch abgefasst, damit gab es nur einen authentischen Vertragstext, der engli­ sche Text ist hingegen als Übersetzung gekennzeichnet.350 Auch die von Dölle und Rousseau zitierte Passage aus dem Gutachten besagt letztendlich eindeutig, dass es nur einen authentischen Vertragstext, und zwar in franzö­ sischer Sprache gab („drawn up in French“). Das von Dölle und Rousseau angeführte Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs zum Ver­ trag von Lausanne vom 30.01.1923 ist damit als Nachweis für den Vorrang des Textes der Arbeitssprache ungeeignet. (c) Das Gutachten zur Nachtarbeit von Frauen Häufig wird auch das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichts­ hofs zur Nachtarbeit von Frauen als Nachweis für die Existenz der Arbeits­ sprachenregel angeführt.351 Die im Gutachten aufgeworfenen Auslegungsfra­ gen zu Art. 3 der Washingtoner Konvention zur Nachtarbeit von Frauen vom 28.11.1919352 waren eng mit dem vorgelegten Entwurf des durch die erste Internationale Arbeitskonferenz 1919 eingesetzten Komitees verknüpft, wo­ nach unklar war, ob die Konvention sich ausschließlich nur auf weibliche Angestellte („ouvrières) oder auf alle Frauen („femmes“) – damit auch sol­ 348  L.N.T.S. 32

(1925), 76 ff. (No. 807). Exchange of Greek and Turkish Populations, Advisory Opinion, Series B, N° 10, S. 18 ff. 350  Siehe L.N.T.S. 32 (1925), 77. 351  So etwa in der abweichenden Meinung von Arndt im Young-Anleihen Fall, ILR 59 (1980), 550 (581); Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (103); Makarov, in: FS Gug­ genheim (1968), S. 419; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 70 f. 352  Convention concerning the employment of women during the night, U.N.T.S. 38 (1949), 67 ff. (No. 587). Die Vorlagefrage an den StIGH lautete wie folgt: „Does the Draft Convention concerning the employment of women at night apply to women employed in the industrial undertakings covered by the Draft Convention who hold positions of supervision or management and are not ordinarily engaged in manual work?“ (Series A/B, N° 50, S. 372). 349  StIGH,

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

che in gehobenen oder leitenden Positionen – bezog.353 Der Ständige Inter­ nationale Gerichtshof stellte zwischen dem englischen und französischen Text des Dokuments einige Unstimmigkeiten dergestalt fest, dass der franzö­ sische Text insgesamt sechs Mal das Wort „femmes“ und nur einmal das Wort „ouvrières“ verwendete, während der englische Text hingegen von „working women“ sprach.354 In concreto führte der Ständige Internationale Gerichtshof zu dieser Problematik aus: „To be exact, in the French text only, six times words are used which are consist­ ent with the view that ‚femmes‘ means ‚femmes‘ and not ‚ouvrières‘, and once only the word used is ‚ouvrières‘, and that only in the general statement at the end of the report that an effective prohibition of night work for women will constitute a marked progress in the ‚protection de la santé des ouvrières‘. As to this last sentence, it is well to note that the French and English texts do not correspond, that the English word is the phrase ‚women workers‘, and that Miss Smith, who sub­ mitted the report, was English and used her own language.“355

Insbesondere der letzte Satz aus diesen Ausführungen des Ständigen Inter­ nationalen Gerichtshofs wurde dahingehend verstanden, dass der Gerichtshof in dem englischen Text ein präziseres Abbild der Meinung des Komitees sah.356 Der Gerichtshof kam aufgrund dessen, wenn auch in einer knappen Mehrheit von 6:5 der Richterstimmen, zu dem Ergebnis, dass die Washingto­ ner Konvention auf alle Frauen Anwendung fand und nicht auf „ouvrières“ beschränkt war.357 Das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs lässt jedoch auch hier einige wichtige Fragen zur Wertigkeit der Arbeitsspra­ chenregel offen. Die dem Gerichtshof vorgelegte Frage lässt sich zwar in der Tat nicht ohne Weiteres mit dem Wortlaut des Art. 3 der Washingtoner Kon­ vention beantworten: Der englische Text der Konvention spricht lediglich von „women“, der französische Text von „les femmes“. Der Vergleich dieser beiden Vertragsbegriffe gibt keine Hinweise auf durchgreifende Textdiver­ genzen, sodass sich die Frage des eventuellen Vorrangs eines der beiden Texte nach Maßgabe der Arbeitssprachenregel gar nicht stellt. Die formu­ lierte Vorlagefrage war hier aus Sicht des Gerichtshofs vielmehr nur unter Heranziehung der travaux préparatoires als Hilfsmittel zur Auslegung zu be­ antworten; hierbei stellte sich die grundsätzliche Problematik, inwieweit 353  Siehe näher zu den Hintergründen auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (103); Köck, Vertragsinterpretation (1976), S. 32. 354  StIGH, Interpretation of the Convention of 1919 concerning the employment of women during the night, Advisory Opinion, Series A/B, N° 50, S. 379. 355  StIGH, Interpretation of the Convention of 1919 concerning the employment of women during the night, Advisory Opinion, Series A/B, N° 50, S. 379. 356  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (103 f.); ihm folgend Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S.  419 f. 357  Siehe auch Köck, Vertragsinterpretation (1976), S. 32.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen105

diese zur Auslegung herangezogen werden dürfen.358 Wie bereits dargestellt, sind die Heranziehung der travaux préparatoires als Hilfsmittel zur Ausle­ gung und der Inhalt der Arbeitssprachenregel jedoch verschiedene Themati­ ken. Dies unterstreicht auch der Ständige Internationale Gerichtshof in Bezug auf seine frühere Rechtsprechung: „In doing so, the Court does not intend to derogate in any way from the rule which it has laid down on previous occasions that there is no occasion to have regard to the preparatory work if the text of a convention is sufficiently clear in itself.“359

Die oben zitierten Divergenzen im englischen und französischen Text des Entwurfs, auf welche der Ständige Internationale Gerichtshof näher eingeht, betreffen indes die travaux préparatoires selbst und nicht den Vertragstext.360 Selbst wenn man mit dem Ständigen Internationalen Gerichtshof davon aus­ geht, dass dem englischen Text des Entwurfs ein höherer Interpretationswert zukommt als dem französischen Text, ließe sich hieraus nicht die Aussage ableiten, der englische Text der Konvention sei vorrangig zum französischen Text heranzuziehen. Gerade diese wichtige Tatsache, dass sich die Ausfüh­ rungen des Ständigen Internationalen Gerichtshof auf ein zweisprachiges Dokument der travaux préparatoires beziehen,361 wird insbesondere von Hardy übergangen. Aus diesem Grund ist das Gutachten des Ständigen Inter­ nationalen Gerichtshofs zur Nachtarbeit von Frauen ebenfalls kein geeigneter Nachweis zur Existenz der Arbeitssprachenregel. Hinsichtlich der Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichts­ hofs kann damit insgesamt festgehalten werden, dass diese keine geeigneten Nachweise für einen gewohnheitsrechtlich verstandenen Rechtssatz des Vor­ rangs der Arbeitssprache gibt. (2) Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs Im Gegensatz zur Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichts­ hofs kommt jedoch der Judikatur des Internationalen Gerichtshofs mögli­ 358  In diesem Sinne stellt auch Köck, Vertragsinterpretation (1976), S. 32 ff., das Gutachten dar. 359  StIGH, Interpretation of the Convention of 1919 concerning the employment of women during the night, Advisory Opinion, Series A/B, N° 50, S. 378. 360  Erwähnenswert ist hierbei auch, dass der StIGH keine Probleme im Zusam­ menhang mit dem Wortlaut von Art. 3 der Konvention erkennen will: „The wording of Article 3, considered by itself, gives rise to no difficulty; it is general in its terms and free from ambiguity or obscurity“ (Series A/B, N° 50, S. 373). 361  Siehe in diesem Zusammenhang weiterführend auch Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 72, der hinsichtlich der Ermittlung des Urtextes auf die Möglichkeit mehr­ sprachiger Vertragsverhandlungen aufmerksam macht.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

cherweise eine größere Rolle zu. Insbesondere das Urteil im Fall LaGrand362 vom 27.06.2001 hat eine große Resonanz in der jüngeren Literatur zu mehr­ sprachigen Verträgen erfahren,363 ist aber auch kritisiert worden. Aus diesem Grund soll dieses Urteil eingehend auf seine Relevanz für die Arbeitsspra­ chenregel untersucht werden. Im Anschluss wird auf weitere relevante Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshof eingegangen. (a) Das LaGrand-Urteil vom 27.06.2001 Das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall LaGrand stellt eine der wichtigsten jüngeren Entscheidungen zu mehrsprachigen Verträgen dar. Obgleich hierbei viele in Zusammenhang mit diesem Urteil vermutlich eher an das Recht aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b) des Wiener Übereinkommens über Konsularische Beziehungen (WÜK)364 denken werden, musste sich der Internationale Gerichtshof mit einer weiteren umstrittenen Rechtsfrage ausei­ nandersetzen: der Frage der Bindungswirkung seiner von ihm erlassenen einstweiligen Anordnungen nach Art. 41 IGH-Statut. Hintergrund war ein von der Bundesrepublik Deutschland angestrengtes Verfahren gegen die Vereinigten Staaten von Amerika, welches die Rechte der Brüder LaGrand – die von einem Gericht in Arizona wegen Mordes zum Tode verurteilt worden waren – nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b) WÜK betraf. Die Brüder LaGrand waren entgegen den Verpflichtungen der Vereinigten Staaten aus Art. 36 Abs. 1 Buchst. b) WÜK von den Strafverfolgungsbehör­ den nicht über ihr Recht auf konsularischen Beistand informiert worden. Um die Hinrichtung von Walter LaGrand abzuwenden, erwirkte die Bundesrepu­ blik Deutschland am Internationalen Gerichtshof zwar eine entsprechende einstweilige Anordnung,365 diese wurde von den zuständigen Behörden in Arizona jedoch nicht beachtet. 362  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466 ff. 363  Siehe etwa Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S.  175 ff.; Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 275 ff.; Gardiner, Interpretation (2015), S. 427; Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 132 f. 364  Vienna Convention on Consular Relations, U.N.T.S.  596 (1967), 261  ff. (No. 8638). 365  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Order of 3 March 1999, I.C.J. Reports 1999, 9 ff. Den Vereinigten Staaten wurde hierbei u. a. aufgege­ ben: „The United States of America should take all measures at its disposal to ensure that Walter LaGrand is not executed pending the final decision in these proceedings, and should inform the Court of all the measures which it has taken in implementation of this order […].“



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen107

Im Hauptsacheverfahren bestritten die Vereinigten Staaten die Bindungs­ wirkung von einstweiligen Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs, dies wurde auch bereits in einer Stellungnahme des Generalanwalts der USRegierung an den Supreme Court deutlich, nachdem die Bundesrepublik vor dem Supreme Court zwei Stunden vor der Hinrichtung von Walter LaGrand die erwirkte einstweilige Anordnung des Internationalen Gerichtshofs ver­ suchte durchzusetzen.366 Der Internationale Gerichtshof entschied letztend­ lich mit mehreren Argumentationssträngen anders. Zunächst stellte der Inter­ nationale Gerichtshof fest, dass es zwischen dem englischen und französi­ schen Text in Art. 41 IGH-Statut Divergenzen gebe,367 dies war allerdings auch schon länger bekannt.368 Die Divergenzen in Art. 41 IGH-Statut gestal­ ten sich wie folgt (Hervorhebung nach IGH): The Court shall have the power to indicate, if it considers that circumstances so require, any provisonal measures which ought to be taken to preserve the respective rights of either party.

La Cour a le pouvoir d’indiquer, si elle estime que les circonstances l’exigent, quelle mésures conservatoires du droit de chacun doivent être prises à titre provisoire.

Diese Unterschiede wurden vom Internationalen Gerichtshof dahingehend charakterisiert, der englische und französische Text seien nicht in „total harmony“.369 Auffällig ist vor allem der unterschiedliche Bedeutungsgehalt der Verbformen „ought“ und „doivent“; während Ersteres mit „sollten“ über­ setzt werden kann, weicht Letzteres mit „müssen“ deutlich ab. Der Internati­ onale Gerichtshof nahm diese Textdivergenz zum Anlass, Art. 33 Abs. 4 WVK anzuwenden.370 Der Internationale Gerichtshof bejahte hiernach die Verbindlichkeit seiner einstweiligen Anordnungen im Hinblick auf Sinn und Zweck von Art. 41 IGH-Statut und zog als zusätzliche Argumente Art. 94 Abs. 1 UNCh und die travaux préparatoires von Art. 41 IGH-Statut heran.371 Obgleich das Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen zeit­ 366  US Supreme Court, Federal Republic of Germany et al. vs. United States et al., U.S. Reports 526 (1998), 111 (113). 367  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 100. 368  Siehe etwa Mennecke/Tams, GYIL 42 (1999), 192 (204); Sztucki, Interim mea­ sures (1983), S. 263 ff. 369  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101. 370  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101. Hiermit traf der IGH implizit auch die Aussage, dass er die Vermutung gem. Art. 33 Abs. 3 WVK als widerlegt ansah. 371  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 102 ff.; jüngst bekräftigt in IGH, Jadhav Case (India v. Pakistan), Order of 18 May 2017, § 59.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

lich erst nach der Wiener Vertragsrechtskonvention in Kraft trat und damit für Art. 4 WVK kein Raum blieb, ließ es sich der Internationale Gerichtshof zudem nicht nehmen, darauf hinzuweisen, dass Art. 33 Abs. 4 WVK gelten­ des Völkergewohnheitsrecht widerspiegle.372 Insbesondere diese Feststellung hätte einige Auswirkungen für die Einordnung der Arbeitssprachenregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem, sofern man in der methodischen Vor­ gehensweise des Internationalen Gerichtshofs die Arbeitssprachenregel wie­ dererkennen kann. Hierfür gibt das Urteil in der Tat einige Anhaltspunkte. Erwähnenswert ist folgende Ausführung des Gerichtshofs: „It might however be argued, having regard to the fact that in 1920 the French text was the original version, that such terms as ‚indicate‘ and ‚ought‘ have a meaning equivalent to ‚order‘ and ‚must‘ or ‚shall‘.“373

Der Verweis auf die „original version“ ist insofern bemerkenswert, da die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention – welcher der Ge­ richtshof explizit herangezogen hatte – einen solchen Begriff gerade nicht kennen.374 Noch erstaunlicher ist der Rekurs auf den französischen Original­ text von 1920 – gemeint ist die korrespondierende Vorschrift aus dem Statut des Ständigen Internationalen Gerichtshofs –, um den Bedeutungsgehalt des über 20 Jahre später in Kraft getretenen Statuts des Internationalen Gerichts­ hofs – und damit eines anderen völkerrechtlichen Vertrags – zu klären. Es drängt sich im Folgenden der Eindruck auf, dass im Vorgehen des Internati­ onalen Gerichtshofs keine völlig klare methodische Linie erkennbar ist.375 Diese Ausführung wirkt in ihrem Kontext im Urteil so, als sei sie der Argu­ mentationslinie der Vereinigten Staaten entgegengesetzt, welche sich gerade auf die Vokabel „ought“ als Argument für die Unverbindlichkeit der einst­ weiligen Anordnungen beriefen. Die etwas zurückhaltend wirkende Einlei­ tung „It might […] be argued […]“ ändert nichts daran, dass die zitierte Textstelle als Argumentation für eine Auslegung nach Maßgabe eines so vom Internationalen Gerichtshof verstandenen französischen Urtextes verstanden werden kann. Diese Argumentation ist jedoch der eigentlichen Prüfung der Textdivergenz vorgelagert; erst eine Randnummer später im Urteil geht der Internationale Gerichtshof auf die begrifflichen Unterschiede in Art. 41 IGHStatut ein. Hiermit wird klar, dass der Internationale Gerichtshof die zitierte 372  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101. 373  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 100. 374  Ähnlich auch Gardiner, Interpretation (2015), S. 427. 375  Ähnlich etwa die Dissenting Opinion des Richters Oda, I.C.J. Reports 2001, 525, § 33, der von einer „roundabout method of analysis“ spricht; kritisch auch Gardiner, Interpretation (2015), S. 427.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen109

Textstelle jedenfalls nicht direkt in Zusammenhang mit den Textdivergenzen in Art. 41 IGH-Statut und insbesondere deren Auflösung in Zusammenhang mit Art. 33 Abs. 4 WVK anführt. Die Auflösung der Textdivergenzen nimmt der Internationale Gerichtshof gem. Art. 33 Abs. 4 WVK mit einer rein teleo­ logischen Argumentation vor, indem er ausführlich Sinn und Zweck der Re­ gelung darlegt.376 Der Internationale Gerichtshof kommt jedoch hierbei zu einem Ergebnis – seine von ihm erlassenen einstweiligen Anordnungen seien bindend –, welches sich bereits bei der oben zitierten Textstelle abgezeichnet hat. Der Einfluss der Argumentation mit dem französischen Originaltext von 1920 auf die nachfolgende teleologische Argumentation im Rahmen von Art. 33 Abs. 4 WVK lässt sich nur schwer abschätzen. Der Internationale Gerichtshof bemerkt im Anschluss an seine Argumentation im Rahmen von Art. 33 Abs. 4 WVK fast schon trocken, dass die travaux préparatoires dem gefundenen Ergebnis nicht entgegenstehen würden.377 Dies schließt nicht aus, dass sich der Internationale Gerichtshof für seine Auslegung von Art. 41 IGH-Statut zwar anhand des französischen Entwurfs hat leiten lassen und dementsprechend auch das Judiz der Richtermehrheit geprägt haben könnte; dennoch lag der methodische Fokus auf der teleologischen Auslegung. Die Anmerkung von Ben Hammadi und Stephens, dass das Eingehen auf die travaux préparatoires nicht mehr erforderlich gewesen sei und sich als über­ flüssige Vorsichtsmaßnahme darstelle,378 ist in diesem Zusammenhang me­ thodisch gesehen zwar richtig. Sie unterschätzt jedoch möglicherweise die Bedeutung und den Einfluss des Urentwurfs auf den Rechtsanwender, Ziel und Zweck einer Rechtsnorm eines völkerrechtlichen Vertrages zu ermitteln. Hierin liegt letztendlich auch die Bedeutung des Urteils im Fall LaGrand für die Auslegung mehrsprachiger Verträge: Es ist kein prinzipielles Plädoyer für den Vorrang des Urtextes im Sinne der Arbeitssprachenregel, sondern führt vor Augen, wie der Urtext und Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrages ineinandergreifen.

376  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 102. 377  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 104: „The Court would nevertheless point out that the preparatory work of the Statute does not preclude the conclusion that orders under Article 41 have binding force.“ Hiermit stellte sich der IGH gegen Teile im Schrifttum, welche die Unverbindlichkeit einstweiliger Anordnungen aus den travaux préparatoires ent­ nehmen wollen bzw. diese als nicht hilfreich erachten, so etwa Mennecke/Tams, GYIL 42 (1999), 192 (204); Oellers-Frahm, in: Zimmermann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 41, Rn. 81. 378  Ben Hammadi, Rev. quebecoise de droit int’l 14 (2001), 53 (71); Stephens, Melb. J. Int’l L. 3 (2002), 143 (159).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

(b) W  eitere Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs mit Bezugnahme auf den Originaltext Art. 41 IGH-Statut ist nicht die einzige Norm mit Diskrepanzen zwischen dem englischen und französischen Vertragstext. In mehreren Urteilen musste sich der Internationale Gerichtshof mit weiteren Divergenzen in anderen Nor­ men des Statuts auseinandersetzen, in concreto Art. 36 Abs. 5 und Art. 62 IGH-Statut. Im Urteil Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua379 befasste sich der Internationale Gerichtshof mit den Divergen­ zen des französischen und englischen Texts zu Art. 36 Abs. 5 IGH-Statut. Besonders umstritten war hierbei die Auslegung von Art. 36 Abs. 5 IGH-Sta­ tut im Nicaragua-Urteil.380 Eine Gegenüberstellung des englischen und fran­ zösischen Vertragstextes in Art. 36 Abs. 5 zeigt folgende Unstimmigkeiten: Declarations made under Article 36 of the Statute of the Permanent Court of International Justice and which are still in force shall be deemed, as between the parties to the present Statute, to be acceptances of the compulsory jurisdiction of the International Court of Justice for the period which they still have to run and in accordance with their terms. (Hervorhebung durch Verf.)

Les déclarations faites en application de l’Article 36 du Statut de la Cour permanente de Justice internationale pour une durée qui n’est pas encore expirée seront considérées, dans les rapports entre parties au présent Statut, comme compor­ tant acceptation de la juridiction obliga­ toire de la Cour internationale de Justice pour la durée restant à courir d’après ces déclarations et conformément à leurs termes. (Hervorherbung durch Verf.)

Im Fall Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua war die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs, da die Vereinigten Staa­ ten die Wirksamkeit der Unterwerfungserklärung Nicaraguas unter die Ge­ richtsbarkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofs i. S. v. Art. 36 Abs. 5 IGH-Statut anzweifelten, fraglich. Maßgeblich war in diesem Zusammenhang das Tatbestandsmerkmal „still in force“. Die Tatbestandsmerkmale „still in force“ und „pour une durée qui n’est pas encore expirée“ in den beiden Ver­ tragstexten wurden im Nicaragua-Urteil jedoch als „apparent discrepancy“ charakterisiert.381 Der Gerichtshof konzediert anschließend auf ziemlich 379  IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Jurisdiction and Admissibility, Judgment, I.C.J. Reports 1984, 392. 380  Siehe näher Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 172 f. Wie umstritten die Auslegung von Art. 36 Abs. 5 IGH-Statut durch die Rich­ termehrheit im Nicaragua-Urteil war, zeigt sich auch darin, dass es insgesamt sieben Sondervoten (sechs separate opinions und eine dissenting opinion) gab. 381  IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Jurisdiction and Admissibility, Judgment, I.C.J. Reports 1984, 392, § 28.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen111

knappe Weise im Urteil, dass der Wortlaut des französischen und englischen Texts in Art. 36 Abs. 5 IGH-Statut nicht in Einklang gebracht werden kön­ ne.382 Der Internationale Gerichtshof stellte im Folgenden fest, dass der französische Text „pour une durée qui n’est pas encore expirée“ weiter ge­ fasst sei als der englische Text und bezieht sich hierbei ausdrücklich auf die travaux préparatoires.383 Die bewusste Entscheidung für die großzügigere Formulierung im französischen Text genügte hierbei dem Internationalen Gerichtshof, die frühere Unterwerfungserklärung von Nicaragua unter die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Gerichtshofs als wirksam an­ zusehen und damit seine Zuständigkeit für die Klage Nicaraguas gegen die Vereinigten Staaten gem. Art. 36 Abs. 5 i. V. m. Art. 36 Abs. 2 IGH-Statut anzunehmen. Diese methodische Vorgehensweise zeigt ziemlich deutlich eine Bevorzugung des französischen Textes gegenüber dem engeren engli­ schen Text, welche von den unterlegenen Richtern in ihren Sondervoten kri­ tisiert wurde.384 Diese Bevorzugung gründet zwar nicht auf der Ermittlung des Urtextes,385 ist aber gerade Ausfluss der Arbeit mit den travaux prépara­ toires, wonach nach Meinung der Richtermehrheit die bewusste Entschei­ 382  IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Jurisdiction and Admissibility, Judgment, I.C.J. Reports 1984, 392, § 30: „First it does not appear possible to reconcile the two versi­ ons of Article 36, paragraph 5 […].“ 383  IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Jurisdiction and Admissibility, Judgment, I.C.J. Reports 1984, 392, § 31. Der Internationale Gerichtshof bezieht sich in diesem Zu­ sammenhang vor allem auf die Tatsache, dass bei der Ausarbeitung des französischen Vertragstextes gerade nicht das engere „encore en vigeur“ gewählt wurde, welches dem englischen „still in force“ deutlich nähergekommen wäre. 384  So kritisierte etwa der Richter Mosler, I.C.J. Reports 1984, 461, § 2, die Nicht­ beachtung des englischen Textes als Verstoß gegen die Gleichwertigkeit der Texte, zudem seien die Unterschiede zwischen dem englischen und französischen Text nicht durchgreifend. Noch weitergehender ist die Kritik von Richter Schwebel, I.C.J. Re­ ports 1984, 558, § 23, der darauf hinweist, dass der ebenfalls authentische spanische, chinesische und russische Text bei der Auslegung von Art. 36 Abs. 5 IGH-Statut nicht berücksichtigt wurde. Letztendlich teilt die große Mehrheit der Sondervoten die Ge­ meinsamkeit, dass die Überwindung der Divergenz im französischen und englischen Text anhand einer Auslegung nach Art. 33 WVK vermisst wird, in diesem Zusam­ menhang ist in der Literatur jedoch zu Recht auch die intertemporale Problematik im Hinblick auf Art. 4 WVK angemerkt worden sowie die Tatsache, dass die Vereinigten Staaten die Wiener Vertragsrechtskonvention nicht ratifiziert haben und Nicaragua sogar nicht einmal unterzeichnet hat, siehe Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 173. 385  Aus dem Urteil geht vielmehr deutlich hervor, dass das französische „une du­ rée qui n’est pas encore expirée“ gerade eine nachgelagerte Übersetzung des engli­ schen „still in force“ war, IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), Jurisdiction and Admissibility, Judgment, I.C.J. Reports 1984, 392, § 31.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

dung für den großzügigeren französischen Text den Willen der Vertragspar­ teien besser abbildet. Wesentlich deutlicher noch als das Nicaragua- und LaGrand-Urteil dient das Urteil vom 23.10.2001 im Fall Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia)386 als Nachweis der Arbeitssprachenregel. Der Internationale Gerichtshof musste sich in diesem Fall mit Textdivergenzen in Art. 62 IGH-Statut auseinandersetzen, welche die Tatbestandsmerkmale „in­ terest of a legal nature“ bzw. „un intérêt d’ordre juridique est pour lui en cause“ betraf. Hierzu führte der Internationale Gerichtshof aus: „The English text of Article 62 refers in paragraph 1 to ‚an interest of a legal na­ ture which may be affected by the decision in the case‘. The French text for its part refers to ‚un intérêt d’ordre juridique … en cause‘ for the State seeking to inter­ vene. The word ‚decision‘ in the English version of this provision could be read in a narrower or a broader sense. However, the French version clearly has a broader meaning. Given that a broader reading is the one which would be consistent with both language versions and bearing in mind that this Article of the Statute of the Court was originally drafted in French, the Court concludes that this is the inter­ pretation to be given to this provision.“387

Anders als im LaGrand-Urteil bezieht sich der Internationale Gerichtshof hier explizit im Rahmen der Auflösung der Textdivergenz auf den aus seiner Sicht vorzugswürdigen Urtext. Im Gegensatz zu den abweichenden Meinun­ gen der Richter im Nicaragua-Urteil liegt hier der Internationale Gerichtshof wegen Art. 4 WVK richtig, Art. 33 WVK zur Auslegung der Textdivergenz in Art. 62 IGH-Statut nicht heranzuziehen. Aus diesem Grund ist dieses Ur­ teil als Nachweis für völkervertraglich nicht kodifizierte Auslegungsregeln wie die Arbeitssprachenregel besonders wertvoll. Die Kritik von GächterAlge, dass der Internationale Gerichtshof den Rückgriff auf den Urtext im Rahmen der „reconciliation“ nach Art. 33 Abs. 4 WVK vorgenommen und hierbei Auslegungsmethoden vermischt habe,388 verkennt in diesem Zusam­ menhang zwar die intertemporale Problematik des Art. 4 WVK, ist aber inso­ fern im Ansatz berechtigt, als dass in der zitierten Urteilspassage in der Tat verschiedene methodische Auslegungsansätze ineinandergreifen. Wie bereits beim LaGrand-Urteil angedeutet, verwendet der Internationale Gerichtshof den Rückgriff auf den Originaltext nicht als exklusive Auslegungsmethode, sondern um die eingeschlagene methodische Vorgehensweise zu untermauern und zu bekräftigen. Dies mag man wie Gächter-Alge zwar nicht als metho­ disch stringent begreifen, es erhärtet aber auch die Einschätzung, dass die 386  IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575. 387  IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575, § 47. 388  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 281.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen113

Arbeitssprachenregel eng mit weiteren Auslegungsmethoden zur Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen verwoben ist. Dies wird sich zum gegebenen Zeitpunkt noch zeigen. (3) Schiedsgerichtsbarkeit Nachweise für die Existenz der Arbeitssprachenregel wurden insbesondere von Arndt in seinem Sondervotum zum Young-Anleihen-Fall sowie von Hardy unter Verweis auf diverse Schiedssprüche angeführt.389 Diese Schieds­ sprüche stehen ebenso wie manche Urteile des Internationalen Gerichtshofs im Kontext der Nichtverfügbarkeit völkervertraglich kodifizierter Ausle­ gungsregeln zur Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträ­ gen. So waren etwa immer wieder Vorschriften des Versailler Friedensver­ trags von 1919 Gegenstand von Schiedsurteilen, wobei die Tatsache, dass der Versailler Vertrag ursprünglich in Englisch abgefasst wurde, für die einge­ setzten Schiedsgerichte teilweise von hervorgehobener Bedeutung war. Dies zeigt sich etwa im Schiedsspruch des gemischten deutsch-belgischen Schieds­ tribunals im Fall Rymenans et Co. c. Etat allemand.390 Das Schiedstribunal bezog sich für die Auflösung der Textdiskrepanz im Annex zu Art. 297, Ab­ satz 1, dergestalt auf den englischen Text als Urtext, als dass der französische Text in der Sache lediglich einer Übersetzung des englischen Urtextes gleichkäme.391 Hardy zweifelt jedoch an der Überzeugungskraft dieser me­ thodischen Vorgehensweise, anhand bestimmter linguistischer Merkmale die Überlegenheit des englischen gegenüber dem französischen Text anzuneh­ men und verweist auf einen anderen Schiedsspruch des gemischten amerika­ nisch-deutschen Schiedstribunals, welches mit genau derselben Argumenta­ tion zum gegenläufigen Ergebnis gekommen war.392 Die methodische Vorge­ hensweise des gemischten deutsch-belgischen Schiedstribunals zeigt eine Schwäche der Arbeitssprachenregel auf, nämlich dass der Urtext vom Rechtsanwender überhaupt ermittelt werden muss. Die Vorgehensweise der Untersuchung linguistischer Merkmale stellt hierbei nicht mehr als das Zu­ sammentragen von Indizien dar, wie das Schiedstribunal auch selbst zu kon­ zedieren scheint. Nichtsdestotrotz zeigt dieser Schiedsspruch, dass trotz der 389  Arndt,

ILR 59 (1980), 550 (581); Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (100 ff.). Recueil des décisions 1 (1922), 878 ff. 391  T.A.M., Recueil des décisions 1 (1922), 878 (881). Eine ähnliche Argumenta­ tion findet sich auch im Schiedsurteil im Fall The Deutsche Amerikanische Petroleum Gesellschaft oil tankers, Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. II, 777 (792), worauf Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 420 f., hinweist. 392  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (100 f.). In dem von Hardy angeführten Schiedsfall Tesdorpf c. Etat allemand bezog sich das Schiedstribunal gerade auf den französi­ schen Text. 390  T.A.M.,

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

vertraglich festgelegten Parität des englischen und französischen Textes in Art. 440 des Versailler Vertrages die Überlegenheit eines der Texte gegen­ über dem anderen Text im Sinne der Arbeitssprachenregel angenommen wurde. Demgegenüber sehr häufig zitiert393 wird als Nachweis für die Arbeits­ sprachenregel der Schiedsspruch im Guastini-Fall.394 Relevant ist insbeson­ dere folgende Passage im Schiedsurteil, welche die Auslegung der Divergenz in den Vertragsbegriffen „injury“ und „danni“ des Protokolls vom 13.02.1903 zur Entschädigung italienischer Staatsangehöriger, die im Rahmen der revo­ lutionären Unruhen nach 1903 zu Schaden gekommen waren, betraf: „The text of the protocol is in English and Italian. It was the result of long nego­ tiations between the representatives of England, Germany, and Italy on the one hand, and Mr. Bowen, Venezuela’s representative, on the other. These negotiations were carried on almost altogether in English, and the drafts (afterwards becoming protocols) were in English. It is therefore evident that the basic language is Eng­ lish, and in case of difference of translation resort should be had to it.“395

Der Verweis auf den englischen Text ist hier umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass nach dem Vortrag der am Verfahren beteiligten italieni­ schen Regierung die Entschädigungsverhandlungen auf ein Memorandum zurückgingen, welches gerade den italienischen Begriff „danno“ enthielt.396 Der Guastani-Schiedsspruch verdeutlicht, dass die Ermittlung des Urtextes verschiedene Ansatzpunkte bieten kann, die zu konträren Schlussfolgerungen für die Auslegung der Textdiskrepanzen führen können.397 Nicht ganz zu Unrecht spricht Hilf in Bezug auf das Guastani-Schiedsurteil von Verwirrun­ gen und Unsicherheiten für die Auslegung, welche sich gerade erst durch den Versuch der Ermittlung des Urtextes ergeben haben.398 Dies exemplifiziert auch bereits die Ausführung „almost altogether“, welche gerade den Um­ kehrschluss zulässt, dass die Verhandlungen des venezolanisch-italienischen Protokolls von 1903 eben nicht ausschließlich in Englisch geführt wurden – womit die exklusiv-autoritative Einordnung des englischen Texts gegenüber 393  So etwa Arndt, ILR 59 (1980), 550 (581); Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (101 f.); Hilf, Verträge (1973), S. 92; Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 419; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 117. 394  Italian-Venezuela Commission, Guastini Case, Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. X, 561 ff. 395  Italian-Venezuela Commission, Guastini Case, Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. X, 561 (579). 396  Italian-Venezuela Commission, Guastini Case, Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. X, 561 (562); siehe näher auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (101 f.); Hilf, Verträge (1973), S. 92; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 118. 397  Vgl. Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 118. 398  Hilf, Verträge (1973), S. 92.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen115

dem italienischen Text durchaus in Zweifel gezogen werden kann.399 Nichts­ destotrotz reiht sich der Schiedsspruch im Guastani-Fall in eine Reihe von Entscheidungen internationaler Gerichte ein, welche trotz Unsicherheiten und Zweifel den Rekurs auf den Urtext anstrengten, um Textdivergenzen aufzulösen. Gerade das Bekräftigen dieser Vorgehensweise in Bezug auf vorgetragene valide Gegenargumente wie etwa von der italienischen Regie­ rung im Guastani-Fall muss bei der Einordnung der Arbeitssprachenregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem berücksichtigt werden. bb) Rechtsprechung nationaler Gerichte Auch in der nationalen Rechtsprechung finden sich Hinweise auf die Ar­ beitssprachenregel. Der wohl in diesem Zusammenhang bekannteste Fall betraf einen Fall des Straßburger Ziviltribunals, welcher die Auslegung von Art. 311 des Versailler Vertrags zum Gegenstand hatte.400 Das Gericht wies die von den Klägern geltend gemachten Ansprüche, welche sie aus dem fran­ zösischen Text zu Art. 311 des Versailler Vertrags ableiteten, zurück und be­ zog sich hierbei maßgeblich auf den englischen Text: „Attendu, sur ce point, que l’examen de l’édition anglaise du Traité, langue dans laquelle fut rédigé, au cours des dicussions d’élaboration, le chapitre visant ces droits de propriété, est un enseignement précieux sur les intentions des rédacteurs du Traité de paix; que ce texte, en effet, ne mentionne pas le futur, pas plus d’ail­ leurs que la traduction allemande qui fut établie par la suite […].“401

Die Einschätzung des englischen Textes als „enseignement précieux“ un­ terstreicht den autoritativ verstandenen Charakter zur Ermittlung von Ziel und Zweck der Norm – anders als der französische Text, den das Gericht unter Heranziehung linguistischer Merkmale gerade zurückweist. Das Straß­ burger Gericht verfolgt damit eine sehr ähnliche methodische Linie wie be­ reits im oben angesprochenen Schiedsfall Rymenans et Co. c. Etat allemand. Auffällig ist allerdings der Verweis auf die deutsche Übersetzung des Versail­ ler Vertrags: Obwohl diese nicht zu den authentischen Texten nach Art. 440 des Versailler Vertrages zählt, zieht das Gericht diese heran, um die Einord­ nung des englischen Textes als Urtext zu untermauern. Die methodische Vorgehensweise des Straßburger Gerichts, eine (nachgelagerte) unverbindli­ che Übersetzung heranzuziehen, um die Einordnung des englischen Textes als Urtext zu bekräftigen, ist, soweit ersichtlich, singulär geblieben. Kritik auch von Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (102). civ. Strasbourg (1re Ch. civ.), Société Audiffren-Singrun c. Liquidation Morlang, Binger et Société et Atlas, J. Dr. Int’l 55 (1928), 732 ff. 401  Trib. civ. Strasbourg (1re Ch. civ.), Société Audiffren-Singrun c. Liquidation Morlang, Binger et Société et Atlas, J. Dr. Int’l 55 (1928), 732 (734). 399  Ähnliche 400  Trib.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Wie bereits oben ausgeführt, stellt sich bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge durch nationale Gerichte die zusätzliche Thematik, dass die meisten völkerrechtlichen Verträge durch ein Umsetzungsgesetz ra­ tifiziert wurden, dieses entspricht in aller Regel der Gerichtssprache des be­ treffenden Staates.402 Nationale Gerichte werden daher häufig versuchen eine Auslegung zu finden, welche auf den ihnen vertrauten Auslegungsgrundsät­ zen des nationalen Rechts basiert403 – im Idealfall können sie diese anhand der travaux préparatoires eines der authentischen Texte erhärten. Das Urteil des House of Lords im Fall Fothergill v. Monarch Airlines404 passt jedoch nicht richtig in diese sich aufdrängende Einschätzung. Das diesem Rechts­ streit zugrundeliegende Warschauer Abkommen über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 12. Oktober 1929 war zwar gem. Art. 36 lediglich auf Französisch abgefasst, womit sich das innerstaatliche englische Umsetzungsgesetz lediglich als nicht-authentische amtliche Übersetzung dar­ stellt. Der authentische französische Vertragstext wäre im Sinne der Arbeits­ sprachenregel damit zugleich als Urtext einzuordnen. Die Lordrichter stimm­ ten weitgehend darin überein, dass wegen der Unstimmigkeiten der Begriffe „damage“ und „avarie“ der Rückgriff auf den französischen Vertragstext le­ gitim sei.405 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang insbesondere fol­ gende Ausführung des Lordrichters Fraser of Tullybelton: „For these reasons the meaning of ‚damage‘ in article 26 (2) of the English text is, in my opinion, ambigous. It therefore becomes necessary to refer to the French text. Such reference would have been proper even if the French and English text had been equally authentic, and it is essential in this case, where the French text is to prevail.“406

Diese Ausführung führt vor Augen, dass das House of Lords keine andere Möglichkeit sah, die Divergenz der beiden oben genannten Tatbestandsmerk­ male in Art. 26 Abs. 2 durch den Rekurs auf den französischen Urtext aufzu­ lösen. Unter Bezugnahme auf das Urteil im Fall James Buchanan and Co. Ltd. v. Babco Forwarding and Shipping (U.K.)407 hatte das House of Lords klargestellt, dass es für die Auflösung von Textdivergenzen gerade auf „broad principles of general acceptation“ ankomme und nicht auf die Methodik des Common Law – unter jene „broad principles of general acceptation“ wurde 402  Siehe

oben 2. Teil, A. I. 3. die Einschätzung von Waibel, in: Aust/Nolte (Hrsg.), Domestic Courts (2016), S. 31. 404  House of Lords, Fothergill v. Monarch Airlines, ILR 74 (1987), 627 ff. 405  Siehe die Zusammenfassungen der Ausführungen der Lordrichter bei ILR 74 (1987), 627 (629 ff.). 406  House of Lords, Fothergill v. Monarch Airlines, ILR 74 (1987), 627 (665). 407  House of Lords, James Buchanan and Co. Ltd. v. Babco Forwarding and Shipping (U.K.) Ltd., ILR 74 (1987), 574 ff. 403  Vgl.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen117

insbesondere die Heranziehung der travaux préparatoires verstanden.408 Ob­ gleich man dem House of Lords vorwerfen könnte, nicht genau genug zwi­ schen den travaux préparatoires und der Bezugnahme auf den Urtext zu dif­ ferenzieren, liegt die methodische Stoßrichtung des House of Lords zuguns­ ten des Urtextes sowie der Folgen für die Auslegung der nationalen Umset­ zungsgesetzes auf der Hand. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Einschätzung in der Kommentierung des Entwurfs zu Art. 19 Buchst. b) der Harvard Draft Con­ vention on the Law of Treaties, Gerichte würden tendenziell bei der Auflö­ sung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen versuchen, auf den Urtext zurückzugreifen, zutreffend ist. Dies wirft die Frage auf, ob diese Tendenz ausreicht für den Nachweis einer völkergewohnheitsrechtlichen Re­ gel i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut. b) Nachweisbarkeit der Arbeitssprachenregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem Wie bereits dargelegt, kommen hinsichtlich der völkerrechtlichen Geltung der Arbeitssprachenregel als völkerrechtliche Rechtsquellen das Völkerge­ wohnheitsrecht (Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut) und die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts (Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut) in Be­ tracht. Zur Frage des Nachweises der Arbeitssprachenregel als allgemeiner Rechtsgrundsatz sind hingegen ausschließlich innerstaatliche Rechtssätze409 und nicht die zwischenstaatliche Übung maßgebend, weshalb ein verglei­ chender Blick auf die Thematik der Auslegung mehrsprachiger Gesetze an­ gezeigt ist. aa) Völkergewohnheitsrecht Obgleich sich die Verwendung der Arbeitssprachenregel in der völker­ rechtlichen Rechtspraxis teilweise etwas uneinheitlich darstellt,410 lässt sich diese Regel als völkergewohnheitsrechtlicher Rechtssatz gerade im Hinblick auf die jüngere Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs nur schwer 408  Vgl. House of Lords, Fothergill v. Monarch Airlines, ILR 74 (1987), 627 (660) (Lord Diplock). 409  Vgl. Thirlway, in: Evans (Hrsg.), International Law (2014), S. 104. 410  So die Einschätzung von Hilf, Verträge (1973), S. 90, für die Schiedsgerichts­ praxis. Diese Einschätzung ist insofern zutreffend, als dass jedenfalls die Spruch­ praxis der gemischten Schiedsgerichte für die Auslegung des Versailler Vertrags teil­ weise uneinheitlich und widersprüchlich war (vgl. oben zu Fn. 392).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

leugnen.411 Zwar sind die Hinweise auf die Arbeitssprachenregel in der zwi­ schenstaatlichen Vertragspraxis rar gesät, so sind etwa Vertragsschlussbe­ stimmungen wie in Art. XXXI des amerikanisch-französischen Freund­ schafts- und Handelsvertrags vom 06.02.1778 mit dem Passus „declaring nevertheless, that the present treaty was originally composed and concluded in the French language“ die Ausnahme geblieben.412 Nichtsdestotrotz gibt insbesondere die Rechtspraxis der Internationalen Gerichtsbarkeit, insbeson­ dere die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall LaGrand und Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan hinreichend Nach­ weise für die gewohnheitsrechtliche Geltung der Arbeitssprachenregel. Diese Schlussfolgerung ergibt sich im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGHStatut, wonach Judikate des Internationalen Gerichtshofs als Hilfsmittel zur Feststellung von Völkergewohnheitsrecht dienen können.413 Man wird zwar diese beiden Urteile des Internationalen Gerichtshofs nicht dergestalt inter­ pretieren können, dass im Falle von Textdiskrepanzen in mehrsprachigen Verträgen stets auf den Urtext zurückgegriffen werden muss. Zur Kenntnis genommen werden muss, dass trotz der völkervertraglich kodifizierten Aus­ legungsregeln in Art. 31–33 WVK es sich der Internationale Gerichtshof im LaGrand-Fall nicht nehmen ließ, auf eine mögliche Auslegung nach Maß­ gabe des Urtextes hinzuweisen. Damit kann nicht geleugnet werden, dass die Arbeitssprachenregel jedenfalls neben anderen Auslegungsregeln wie etwa der Gleichwertigkeitsregel koexistieren kann.414 Dies gilt insbesondere auch vor dem zeitlichen Hintergrund, dass sich die Arbeitssprachenregel auch über 100 Jahre nach dem Guastani-Schiedsurteil weiter in der Rechtspraxis inter­ 411  Andere Ansicht jedoch offenbar Grabau, Interpretation (1990), S. 175; Hilf, Verträge (1973), S. 100 f.; Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 74, die die Existenz der Arbeitssprachenregel zu verneinen scheinen. Hierbei muss jedoch selbstverständ­ lich berücksichtigt werden, dass diese Autoren die jüngere Rechtsprechung des IGH nicht berücksichtigen konnten. 412  Vgl. Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (99); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 117. 413  Buergenthal, ASIL Proceedings 103 (2009), 403 (404); Pellet, in: Zimmer­ mann/Tomuschat/Oellers-Frahm (Hrsg.), Commentary (2012), Art.  38, Rn.  316; Schmalenbach, ZöR 59 (2004), 213 (217 f.). Anders als Gerichtsentscheidungen auf nationaler Ebene im Common Law-Rechtskreis ist die strikte stare decisis-Doktrin auf Entscheidungen des IGH dagegen nicht anwendbar, wie Schmalenbach unter Ver­ weis auf Art. 59, 60 und 63 Abs. 2 IGH-Statut darlegt. Nichtdestotrotz haben Ent­ scheidungen des IGH eine enorme autoritative Wirkung auf die Staatspraxis, was ei­ ner faktischen Bindungswirkung gleichkommt. 414  Andere Ansicht jedoch Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (418): „It is sometimes asserted that, in case of a divergence between different authentic language versions of a treaty the text in which the treaty was first drafted is decisive. Under the Vienna Convention, however, this principle cannot be considered a valid rule.“ Be­ achtet werden muss hierbei jedoch, dass Germer naturgemäß die oben zitierten Ent­ scheidungen des IGH nicht zur Kenntnis nehmen konnte.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen119

nationaler Gerichte gehalten hat. Hiermit stellt sich im Hinblick auf Art. 33 WVK jedoch auch die Frage, ob und inwieweit gewohnheitsrechtliche Aus­ legungsregeln neben den völkervertraglichen Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention angewendet werden können.415 Dies wird zum ge­ gebenen Zeitpunkt noch zu klären sein. Obgleich die Arbeitssprachenregel als völkergewohnheitsrechtliche Ausle­ gungsmethode anerkannt werden kann, bedeutet dies nicht, dass andere Aus­ legungsmethoden nicht existent wären oder gar ihre Berechtigung verlören. Im Gegenteil, die Rechtspraxis des Internationalen Gerichtshofs zeigt, dass die Arbeitssprachenregel in ein System von Auslegungsregeln – seien diese völkervertraglich oder völkergewohnheitsrechtlich verbindlich – eingebettet ist und eine Heranziehung dieser Regel stets eine Frage des Einzelfalles ist.416 bb) Allgemeine Rechtsgrundsätze Grundsätzlich denkbar ist auch die Einordnung der Arbeitssprachenregel als allgemeiner Rechtsgrundsatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut. Ein allgemeiner völkerrechtlicher Rechtsgrundsatz wird aus einem Vergleich der nationalen Rechtsordnungen gewonnen; die Existenz eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes kann jedoch nur dann angenommen werden, wenn ein innerstaatlicher Rechtssatz in allen oder zumindest in einer großen Mehrzahl der innerstaatlichen Rechtsordnungen nachgewiesen werden kann.417 Diese Grundannahme bringt es mit sich, dass die selektive Betrachtung von Rechts­ sätzen in einzelnen Staaten zur Etablierung eines allgemeinen Rechtsgrund­ satzes nicht in Betracht kommen kann.418 Legt man diese Maßstäbe zur Etablierung eines allgemeinen Rechtsgrund­ satzes der separaten Thematik der Auslegung mehrsprachiger Gesetze zu­ grunde, wird man zu der Einschätzung kommen müssen, dass die Annahme der Arbeitssprachenregel als allgemeiner Rechtsgrundsatz eben jener selekti­ ven Bündelung von innerstaatlichen Rechtssätzen in einzelnen Staaten 415  Siehe zur Thematik der Einordnung solcher Auslegungsregeln im völkerrecht­ lichen Rechtsquellensystem des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut auch explizit Tabory, Mul­ tilingualism (1980), S. 207. 416  So auch Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 116; andere Ansicht jedoch offenbar Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (37). 417  Thirlway, in: Evans (Hrsg.), International Law (2014), S. 104; von UngernSternberg, Jura 2011, 39 (40). 418  Dies spiegelt sich insbesondere in der Rechtsprechung des Internationalen Ge­ richtshofs wider, näher hierzu Gaja, General Principles of Law (MPEPIL 05/2013), Rn. 16.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

gleichkäme. Im Schrifttum wurde zwar vorgebracht, dass die historisch-ge­ netische Auslegung sowohl im Common Law als im kontinentaleuropäischen Rechtskreis eine Methode sei, die jedem Rechtsanwender bekannt und daher unentbehrlich sei.419 Diese Aussage ist jedoch zu abstrakt, um in Bezug auf die Thematik der Mehrsprachigkeit konkrete Schlussfolgerungen zu ziehen, da sie keinen Rechtssatz in Bezug auf das Heranziehen bzw. das Verhältnis der verschiedensprachigen Rechtstexte im Falle einer Textdivergenz enthält. Um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz in Bezug auf die Auslegung mehr­ sprachiger Verträge nachweisen zu können, müssen daher entsprechende Rechtssätze in Staaten mit einem mehrsprachigen Gesetzgebungssystem vergleichend herangezogen werden. Als Beispiel für Staaten mit einem mehr­ sprachigen Gesetzgebungssystem werden in historischer Hinsicht Österreich, Belgien, die Schweiz und Frankreich genannt.420 Gegen die Annahme der Arbeitssprachenregel als allgemeinen Rechtsgrundsatz spricht hierbei zu­ nächst der teilweise disparate Rechtszustand in den genannten Staaten.421 Selbst wenn man jedoch aus der historischen Rechtspraxis dieser Staaten ei­ nen Rechtssatz dergestalt ableiten wollte, dass die paritätische Würdigung der verschiedensprachigen Rechtstexte sich nicht durchhalten ließe422 und deshalb ein bestimmter Rechtstext – etwa unter Zugrundelegung der histo­ risch-genetischen Auslegungsmethode – bevorzugt herangezogen wurde, scheidet die Übertragbarkeit eines solchen Rechtssatzes auf die völkerrecht­ liche Ebene aus. Wie bereits dargelegt, erfordert die Übertragbarkeit eines innerstaatlichen Rechtssatzes auf die völkerrechtliche Ebene, dass dieser mindestens in einer großen Mehrzahl der Staaten nachgewiesen werden kann. Die Thematik der mehrsprachigen Gesetzgebung und Gesetzesauslegung be­ schränkt sich indes auf eine geringe Anzahl an Staaten, sodass etwa die Übertragung von Auslegungsmaßstäben in Bezug auf das Allgemeine Bür­ gerliche Gesetzbuch von 1811 in Österreich auf die völkerrechtliche Ebene einer unzulässigen Parallelisierung von nationalem Recht und Völkerrecht gleichkäme. Darüber hinaus erscheint es fragwürdig, die Thematik der Gesetzesausle­ gung und der (völkerrechtlichen) Vertragsauslegung miteinander zu vermi­ schen. Anders als bei der Auslegung mehrsprachiger Gesetze etwa in Öster­ reich oder der Schweiz steht der Grundsatz der Gleichwertigkeit der ver­ schiedensprachigen authentischen Vertragstexte bei der völkerrechtlichen 419  Dölle,

RabelsZ 26 (1961), 4 (37). hierzu insbesondere Mertens, ZNR 2013, 157 (158 ff.); Métall, ZöR 9 (1930), 357 (361). 421  Beispielhaft zu den Unterschieden im Rechtszustand in Österreich und der Schweiz Mertens, ZNR 2013, 157 (164). 422  Mertens, ZNR 2013, 157 (163). 420  Näher



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen121

Vertragsauslegung im Zusammenhang mit übergreifenden Grundsätzen wie der Gleichberechtigung der beteiligten Vertragspartner im Sinne der souverä­ nen Gleichheit der Staaten und der Vertragstreue.423 Die Reaktion der ver­ tragschließenden Staaten, wenn die Gleichwertigkeit der Vertragstexte mit Vokabeln wie „legislatorischer Nonsens“ oder „Gleichberechtigungsschwär­ merei“ infrage gestellt würde,424 dürfte stattdessen verheerend ausfallen. Der faktisch empfundene Rechtszustand bei der Auslegung mehrsprachiger Ge­ setze in Österreich oder in der Schweiz ermöglicht damit generell keine Rückschlussfolgerungen für die völkerrechtliche Rechtspraxis bei der Ausle­ gung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge;425 es lassen sich also weder allgemeine Rechtsgrundsätze i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut aus dem faktischen Rechtszustand bei der Auslegung mehrsprachiger Gesetze ableiten noch können hiermit völkerrechtliche Grundsätze wie die Gleich­ wertigkeit der authentischen Vertragstexte in Zweifel gezogen werden. c) Dogmatische Vor- und Nachteile der Arbeitssprachenregel Die dogmatischen Vor- und Nachteile der Arbeitssprachenregel lassen sich pointiert darstellen: Gelingt die Ermittlung des Urtextes und scheint dessen Heranziehung im Einzelfall auch geboten zur besseren Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrages, erscheint es relativ leicht, Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen aufzulösen, da sich die Auslegung nur noch auf einen Text konzentriert und sich das Problem der Mehrsprachigkeit streng genommen gar nicht mehr stellt. Dies ist jedoch nur die theoretische Vorstel­ lung, in praktischer Hinsicht kann die Ermittlung des Urtextes einige Schwie­ rigkeiten aufwerfen. Auch wenn dessen Ermittlung gelingt, muss das konkur­ rierende Verhältnis der Arbeitssprachenregel zu weiteren Auslegungsregeln wie der Gleichwertigkeitsregel bedacht werden. Die Legitimation der Ar­ 423  Vgl.

oben unter B. I. 1. c). Begriffe verwendete Lukas, Gesetzes-Publikation (1903), S. 226, zur Bekanntmachung von Gesetzen in mehreren authentischen Sprachen im Vielvölker­ staat Österreich. 425  Dies gilt auch für die Feststellung von Mertens, ZNR 2013, 157 (159 f.), dass bezüglich der Auslegung mehrsprachiger Gesetze in Österreich Theorie und Praxis auseinanderklafften. Die von Mertens beschriebene Diskrepanz zwischen der Theorie (zunächst war in Österreich ausschließlich der deutsche Text verbindlich, ab 1848 wurden Gesetze in zehn verschiedenen Sprachen als authentisch veröffentlicht) und der faktischen Gesetzesanwendung (aus Gründen der Sprachkompetenz wurden häu­ fig nicht-authentische Übersetzungen verwendet) kann bei der Auslegung mehrspra­ chiger völkerrechtlicher Verträge nicht festgestellt werden, da aus völkerrechtsdogma­ tischer Sicht die Annahme der Gleichwertigkeit der authentischen Vertragstexte ge­ rade durch die oben dargestellte völkerrechtliche Rechtspraxis determiniert ist (vgl. das Erfordernis der „allgemeinen Übung“ i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut). 424  Diese

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

beitssprachenregel kann sich nämlich gerade dann bestätigen, wenn sie mit anderen Auslegungsregeln wie etwa der Gleichwertigkeitsregel harmoniert und ein gefundenes Auslegungsergebnis im Einzelfall bestätigen kann, selbst wenn der methodische Weg dem ersten Anschein nach widersprüchlich er­ scheint.426 Die oben dargestellten Beispiele aus der neueren Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs bieten hierfür den besten Beleg. aa) Ermittlung des Urtextes Die Ermittlung des Urtextes wirft keine besonderen Schwierigkeiten auf, wenn Vertragsschlussbestimmungen wie „declaring nevertheless, that the present treaty was originally composed and concluded in the French lan­ guage“ in Art. XXXI des amerikanisch-französischen Freundschafts- und Handelsvertrags von 06.02.1778 verwendet werden. Solche Vertragsschluss­ bestimmungen weisen auf eine Übereinkunft der Vertragsparteien dergestalt hin, dass bei Zweifeln über die Auslegung des Vertrages gerade der Original­ text herangezogen werden soll. Verweigert sich dem der Rechtsanwender, verstößt er gegen den erklärten Willen der Vertragsparteien. Wie bereits dar­ gelegt sind solche eindeutigen Vertragsschlussbestimmungen mit erklärtem Willen der Vertragsparteien jedoch die Ausnahme gewesen, so lässt etwa die Schlussbestimmung zum Chicagoer Abkommen über die Internationale Zivil­ luftfahrt vom 07.12.1944 eine solche Aussage gerade vermissen: „Done at Chicago the seventh day of December 1944, in the English language. A text drawn up in the English, French and Spanish languages, each of which shall be of equal authenticity, shall be open for signature at Washington, D.C.“427

Die Ermittlung des englischen Vertragstextes als Urtext ergibt sich hier im Gegensatz zum amerikanisch-französischen Freundschafts- und Handelsver­ trag vom 06.02.1778 nur implizit aus der Auslegung des Passus „Done […] in the English language.“428 Wenn auch dies in abgeschwächter Weise im Vergleich zum amerikanisch-französischen Freundschafts- und Handelsver­ trag vom 06.02.1778 geschehen ist, so lässt sich hier zumindest im Wege der Auslegung die Deklaration entnehmen, dass sich der parteiliche Konsens am präzisesten im englischen Vertragstext niedergeschlagen hat. In den ganz überwiegenden Fällen lässt sich jedoch der Urtext auch nicht im Wege der 426  Vgl.

Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (38); Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (106). on International Civil Aviation, U.N.T.S. 15 (1948), 295 (362)

427  Convention

(No. 102). 428  Dies gilt jedenfalls dann, wenn man nur den Wortlaut der Schlussbestimmung des Chicagoer Abkommens über die Zivilluftfahrt vorliegen hat; relativ einfach ma­ chen kann man es sich, wenn man die offizielle Publikation des Abkommens in der United Nations Treaty Series heranzieht – diese enthält zu dieser Schlussbestimmung eine Fußnote, die den englischen Text als Originaltext kennzeichnet.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen123

Auslegung der relevanten Schlussklauseln eines Vertrages ermitteln. Weiter­ helfen kann dann nur der forensische Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte. bb) Die Arbeit mit Präsumtionen als zulässige Methode? Der Hauptnachteil der Arbeitssprachenregel zeigt sich dann, wenn in einer aufwendigen forensischen Analyse der verschiedensprachigen Vertragstexte der Urtext ermittelt werden muss. Nach teilweiser Ansicht im Schrifttum sowie in der Rechtsprechung soll hierbei durch den textlichen Vergleich eine fehlerhafte Übersetzung präsumiert und so die Vermutung zugunsten des Urtextes gewonnen werden.429 Eine solche Vorgehensweise ist indes als sprachliche Aufgabe im Sinne der allgemeinen Hermeneutik charakterisiert, hängt maßgeblich vom sprachlichen Können des Rechtsanwenders ab und hat daher nur noch wenig mit juristischer Auslegung als solcher gemein. Das fehlende Wissen um die chronologische Reihenfolge der Erstellung der Texte kann jedoch selbst bei der Entdeckung von Übersetzungsfehlern nicht weiter­ helfen, was das tatsächlich Gewollte der Vertragsparteien ist. Dies gilt insbe­ sondere dann, wenn im Vertrag ausdrücklich die gleiche Verbindlichkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte angeordnet ist. Die einzig denkbare rea­ lisierbare Chance zur Ermittlung des Urtextes ist in diesem Zusammenhang daher eine kombinierte Vorgehensweise des sprachlichen Vergleichs der ver­ schiedensprachigen Vertragstexte bei gleichzeitiger Heranziehung der travaux préparatoires. Auch wenn die travaux préparatoires z. B. anhand der Proto­ kollierung von Formulierungsvorschlägen und Gegenvorschlägen der verhan­ delnden Vertragsstaaten einen gewissen extrinsischen Wert für die Ermittlung des Willens der Vertragsparteien darstellen können,430 bleiben Unsicherheiten bestehen, welche gerade aus den verwendeten verschiedenen Sprachen in den diplomatischen Verhandlungen resultieren können. Die von Hardy vorge­ schlagene Möglichkeit der Widerlegung der Vermutung zugunsten des Urtex­ tes431 offenbart gleichzeitig die große Schwäche der Arbeit mit Präsumtionen zur Ermittlung des Urtextes: Je nach Lesart von Stellungnahmen in den tra­ vaux préparatoires mag man eine Vermutung zugunsten des Urtextes als aufgezeigt ansehen und gleichzeitig als widerlegt; sie ist damit geeignet mehr 429  Aus der Rechtsprechung siehe insbesondere den bereits oben angesprochenen Schiedsspruch im Fall Rymenans et Co. c. Etat allemand, T.A.M., Recueil des déci­ sions 1 (1922), 878 (881); aus der Literatur maßgeblich Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (104); Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 421. 430  Vgl. Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (104); kritisch jedoch Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 130. 431  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (104).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Verwirrung über den erzielten Konsens der Vertragsparteien zu stiften als ihn zu erhellen.432 Im Lichte der Gleichwertigkeitsregel erscheint die Präsumtion des Urtextes anhand stilistischer Merkmale und der travaux préparatoires daher kaum noch tragbar, anders als in den Fällen, in denen sich die Ermitt­ lung des Urtextes auf methodisch vertretbarer Auslegung des Vertragstex­ tes – insbesondere seiner Schlussbestimmungen – gründet. 3. Die Klarheitsregel als besondere Ausprägung der Arbeitssprachenregel Einen engen konzeptionellen Bezug zur Arbeitssprachenregel weist die sog. Klarheitsregel auf. Nach dieser Auslegungsmethode soll demjenigen Vertragstext der Vorzug zu Lasten der anderen authentischen Vertragstexte eingeräumt werden, welcher aufgrund seiner klareren Sprache den Willen der Vertragsparteien besser abbildet.433 Die Gemeinsamkeit zwischen der Ar­ beitssprachenregel und der Klarheitsregel manifestiert sich in der Tatsache des autoritativ verstandenen textlichen Supremats, welches sich auf ein be­ stimmtes Merkmal gründet: So wie dem Originaltext ein höherer Interpreta­ tionswert beigemessen wird, gilt genau dasselbe für den verständlicheren Text. Nicht wenige würden vermutlich – wenn auch nicht bewusst – einen ermittelten Urtext als verständlicher im Hinblick auf Ziel und Zweck des Vertrages begreifen, da dieser anders als nachgelagerte Übersetzungen, die anschließend als authentisch erklärt werden, weniger anfällig für redaktio­ nelle Fehler ist, welche aus Übersetzungsfehlern resultieren können. Die Klarheitsregel kann, wie sich im Folgenden zeigen wird, auf eine län­ gere Geschichte zurückblicken. Die vorhandenen zahlreichen Ausführungen im völkerrechtlichen Schrifttum zur Auslegung des klareren Textes sowie deren Heranziehung in der historischen Rechtspraxis werfen ebenfalls wie bei der Arbeitssprachenregel die Frage nach der Stellung im völkerrechtli­ chen Rechtsquellensystem auf.

432  Anders jedoch offenbar Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (104 f.): „In principle, it can be rebutted by any form of evidence that may be available, including a study of the successive phrases in the preparation of the instrument; and nothing could be more arbitrary than the automatic rejection of the preparatory work on the pretext that it is rarely conclusive and often gives rises to abuse.“ 433  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (35); Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 230; Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (87); Hilf, Verträge (1973), S. 94 f.; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (285); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 108 f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 140 f.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen125

a) Die Klarheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem Die Klarheitsregel ist völkervertraglich nicht kodifiziert worden. Die Vor­ arbeiten der International Law Commission zur Wiener Vertragsrechtskon­ vention von 1969 ließen eine gewisse Skepsis gegenüber dieser Regel erken­ nen und diese wurde schließlich auch nicht in den finalen Entwurf von Art. 33 WVK aufgenommen.434 Aus diesem Grund kommt für die völker­ rechtliche Verbindlichkeit der Klarheitsregel ebenfalls wie bei der Arbeits­ sprachenregel nur die Einordnung als völkergewohnheitsrechtlicher Rechts­ satz in Betracht. Als Hilfsmittel zur Feststellung eines solchen völkerge­ wohnheitsrechtlichen Rechtssatzes (Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut) kommen auch hier diverse Nachweise aus der Rechtspraxis und dem völker­ rechtlichen Schrifttum in Betracht. aa) Nachweise in der internationalen Rechtsprechung Die Klarheitsregel findet sich vor allem in der Praxis von Schiedsgerichten wieder. Insbesondere hinsichtlich der Auslegung des Versailler Vertrages griffen Schiedsgerichte auf diese Regel zurück. Einige Beachtung fand etwa der Schiedsspruch im Fall Affaire des réparations allemandes selon l’article 260 du Traité de Versailles.435 Folgende Ausführungen von Schiedsrichter Beichmann deuten auf die Bevorzugung des klareren Textes hin: „La situation se présente donc ainsi: il y a un texte clair – le texte anglais – et un texte qui n’est pas clair et dont le sens a besoin d’être dégagé par une interpréta­ tion – le texte français. Les deux textes font foi. Ils ont tous les deux été soumis à la signature des Parties. Dans ce cas, il ne semble pas permis de faire abstraction du texte anglais et d’interpréter le texte français, comme si le texte anglais n’exis­ tait pas. Au contraire, le texte clair, le texte anglais, fournira le meilleur moyen pour l’interprétation du texte français. Les deux textes sont évidemment destinés à exprimer les mêmes idées. S’il y avait deux textes également clairs mais qui ne se concordaient pas entre eux, on pourrait soutenir que le texte qui comportait le moins d’obligations pour la partie obligée mériterait la préférence. Mais si l’un des textes est clair et l’autre ne l’est pas, la solution qui s’impose est celle d’interpréter

434  Siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 208: „The Commission considered whether there were any further principles which it might be appropriate to codify as general rules for the interpretation of plurilingual treaties. For example, it examined whether it should be specified that there is a legal presumption in favour of the text with a clear meaning. It felt, however, that to state this as a general rule might be going too far, since much depend on the circumstances of each case and the evidence of the intention of the parties.“ 435  Affaire des réparations allemandes selon l’article 260 du Traité de Versailles (Allemagne c. Commission des Réparations), Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. I, 429 ff.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

le texte moins clair à la lumière de l’autre texte et conformément au sens qui ré­ sulte des termes de ce dernier texte.“436

Den Ausführungen lassen sich einige grundsätzliche Aspekte zur Klar­ heitsregel und ihrer Einbettung im Lichte der anderen Auslegungsregeln entnehmen. Zunächst ist es nicht weiter überraschend, dass Schiedsrichter Beichmann als zentralen Ausgangspunkt der Auslegung auf die Parität der Vertragstexte abstellt und keiner der Texte unberücksichtigt bleiben dürfe. Dieser Grundsatz solle jedoch nicht absolut gelten, wenn einem der authen­ tischen Texte aufgrund der klareren Formulierung ein höherer Interpretati­ onswert zukommt. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Vermutung der gleichen inhaltlichen Bedeutung der verschiedensprachi­ gen Vertragstexte: Hiermit wird prima facie konzediert, dass es keine inhalt­ lichen Divergenzen gibt, also eine Vermutung der Einheit der Vertragstexte,437 die durch die Benennung und Heranziehung eines verstandenen klareren Textes erschüttert würde.438 Hierbei muss bedacht werden, dass diese Vermu­ tung gerade vom Konsens der Vertragsparteien im Moment der Vertragsun­ terzeichnung getragen wird, der auch bewusst die Verwendung klarer und unklarer Ausdrücke im Vertragstext mitumfassen kann.439 Lobenswert ist, dass Beichmann die Implikationen der Gleichwertigkeitsregel und auch der Vermutung der Sinneinheit der Texte für seine Schlussfolgerungen für die Klarheitsregel berücksichtigt. Nur dieses Verständnis von einem koexistie­ renden Nebeneinander dieser Regeln kann letztendlich die Legitimation der Klarheitsregel bekräftigen: Der unklarere Text wird gerade nicht ausgeblen­ det für die Auflösung von Textdivergenzen, sondern herangezogen, um eine Auslegung des klareren Textes zu bekräftigen. Eine gegensätzliche Betrachtungsweise zur Klarheitsregel zeigt sich im Schiedsspruch zum Fall Rafael Aguirre vs. United States.440 Bemerkenswert ist hier nicht so sehr der Rekurs auf den englischen Text, sondern die mani­ feste Ablehnung des spanischen Texts,441 welcher von Schiedsrichter Thorn­ ton sogar als linguistisch falsch angesehen wurde: 436  Affaire des réparations allemandes selon l’article 260 du Traité de Versailles (Allemagne c. Commission des Réparations), Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. I, 429 (439). 437  Dies wird u. a. unter der Einheitsregel verstanden, siehe näher unter B. I. 7. 438  Vgl. die Joint Dissenting Opinion zum Aerial Incident Case der Richter Lauterpacht, Koo und Spender, I.C.J. Reports 1959, 156 (161 f.): „That interpretation is supported by the French text which is as authoritative as the English text and which is even more clear and indisputable than the latter. […] There is no question here of giving preference to the French text. Both texts have the same meaning.“ 439  Dies wurde bereits von Guggenheim, Traité (1953), S. 138; Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (88) und Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 415, erkannt. 440  Rafael Aguirre vs. United States, abgedruckt in Moore, Arbitration (1898), Bd. 2, S. 1307 ff.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen127 „The true meaning of the words ‚every claim‘ is each one of all claims, and is hardly rendered by the Spanish words todas las reclamaciones. The more exact counterpart of the English text would have been cada una de todas las reclamaciones.“442

Die Ausführung zeigt, dass Thornton den spanischen Text für die Ausle­ gung nicht einmal in Erwägung gezogen hat, indem er aus seiner Sicht eine verbesserte redaktionelle Formulierung des spanischen Textes angab. Die Annahme von Hardy, dass Schiedsrichter Thornton im Fall Rafael Aguirre vs. United States methodisch dem Ansatz von Schiedsrichter Beichmann in Affaire des réparations allemandes selon l’article 260 du Traité de Versailles gefolgt sei,443 ist damit nicht ganz zutreffend, da im ersteren Fall der unkla­ rere Text völlig ausgeblendet worden ist; dies sollte nach dem Ansatz von Beichmann gerade nicht passieren. Die Klarheitsregel wurde auch wiederholt von den gemischten Schiedsge­ richten für die Auslegung des Versailler Vertrages herangezogen. Die Ent­ scheidung im Fall Weitzenhoffer c. Etat allemand444 steht exemplarisch für die Bestimmung des englischen Vertragstextes als den klareren Text: „Le texte français de la partie X est particulièrement défectueux, plusieurs clauses pouvant être interprétées de deux ou trois manières […]. Dans d’autres cependant, le texte anglais – qui fait foi comme le texte français (art. 440, alin. 3) – tranche la difficulté, sa redaction claire ne permettant qu’une interprétation. Tel est le cas de l’art. 298, alin. 1. Le texte français est ambigu […]. Mais le texte anglais ne laisse place à aucune équivoque […].“445

Die Entscheidung des gemischten rumänisch-deutschen Schiedstribunals zeigt besonders gut eine Möglichkeit der Ermittlung des klareren Textes auf. Das Tribunal führt lehrreich vor, welche Interpretationsmöglichkeiten sich anhand des linguistischen Vergleichs der verschiedensprachigen Texte erge­ ben und knüpft hiervon ausgehend an den englischen Text an, welcher im Gegensatz zum französischen Text eine eindeutigere Auslegung erlaube. Gleichzeitig zeigen die Ausführungen des Schiedstribunals auch, dass die Texte in einem Enger-weiter-Verhältnis stehen.446 Die bedächtigen Ausfüh­ 441  Treaty of Peace, Friendship, Limits and Settlement with the Republic of Me­ xico, Stat. 9 (1841–1851), 922. Die Auslegung der Textdivergenz in Art. III dieses Vertrages prägte den Rechtsstreit maßgeblich; siehe näher auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (85). 442  Rafael Aguirre vs. United States, abgedruckt in Moore, Arbitration (1898), Bd. 2, S. 1308. 443  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (85). 444  T.A.M., Weitzenhoffer c. Etat Allemand, Recueil des Décisions 5 (1926), 935 ff. 445  T.A.M., Weitzenhoffer c. Etat Allemand, Recueil des Décisions 5 (1926), 935 (942). 446  Von einem solchen Verhältnis scheint Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286), bei der Klarheitsregel grundsätzlich auszugehen.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

rungen des Schiedstribunals zu den Bedeutungsgehalten der verschiedenspra­ chigen Texte lassen erahnen, dass die Ermittlung des klareren Textes ähnlich wie die Ermittlung des Urtextes bei der Arbeitssprachenregel eine zunächst rein sprachliche Aufgabe im Sinne der allgemeinen Hermeneutik ist.447 Diese methodische Vorgehensweise in Weitzenhoffer c. Etat allemand setzte zwar keine neuen Maßstäbe, zumal sich das gemischte rumänisch-deutsche Schieds­ tribunal auf frühere Rechtsprechung bezieht.448 Aus der internationalen Rechtsprechung lässt sich vielmehr zusammenfassend weitgehend eine Kon­ tinuität im Verständnis der Klarheitsregel dergestalt beobachten, dass der klarere Text nicht absolut über den unklareren Text triumphiert, sondern sich aus einer paritätischen Würdigung gerade die Legimitation des Rückgriffs auf den klareren Text speist. bb) Nachweise in der nationalen Rechtsprechung Die Rolle nationaler Gerichte für den Nachweis der Existenz der Klarheitsregel ist, soweit ersichtlich, bisher kaum im völkerrechtlichen Schrifttum zur Ausle­ gung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge diskutiert worden.449 Ers­te Ansatzpunkte für die Klarheitsregel finden sich insbesondere in der Recht­ sprechung kanadischer Gerichte zur Auslegung mehrsprachiger Gesetzestex­ te.450 Zwar soll die Rechtsprechung in Bezug auf die bilinguale Gesetzgebung in Kanada als solche für Rückschlüsse auf die Einordnung der Klarheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem nicht überbewertet werden,451 in 447  Bei genauer Betrachtung erscheinen die methodischen Parallelen zum Schieds­ fall Rymenans et Co. c. Etat allemand (erwähnt oben bei B. I. 2. a) aa) (3) als Nach­ weis für die Arbeitssprachenregel) frappierend. So wie das Schiedstribunal die Er­ mittlung des englischsprachigen Urtextes aufgrund eines linguistischen Vergleichs zum französischen Text rechtfertigt, geht auch hier das Schiedstribunal im Fall Weitzenhoffer c. Etat Allemand mittels eines textlichen Vergleichs vor, um zur Einordnung des englischen Texts als Supremat im Sinne der Klarheitsregel zu kommen. Dies gilt umso mehr, als dass sich beide Schiedssprüche auf denselben Normenkomplex im Versailler Vertrag beziehen. 448  Weitere Nachweise zur Rechtsprechung der T.A.M. auch bei Mössner, AVR 15 (1972), 273 (285). 449  Lediglich Fattal, Multilinguisme (1994), S. 281 ff., geht hierauf ein. Auch die umfangreichen Nachweise bei Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (82 ff.) beschränken sich auf die internationale Gerichtsbarkeit. 450  Zur Anwendung der Klarheitsregel in der kanadischen Rechtsprechung siehe Salembier, Ottawa L. Rev. 35 (2003–2004), 75 (88 ff.). 451  Auch hier gilt wie bei der Arbeitssprachenregel, dass im Lichte der Anforde­ rungen von Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut eine Parallelisierung des nationalen methodischen Auslegungsmaßstabs im Hinblick auf mehrsprachige Gesetzestexte für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge kaum möglich ist.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen129

einem auch von Fattal452 erwähnten Fall mussten sich zwei Instanzgerichte aus Québec jedoch mit einem französisch-britischen Auslieferungsvertrag aus dem Jahr 1876453 beschäftigen.454 Die Richter mussten sich mit einer Textdi­ vergenz in Art. X des Vertrages auseinandersetzen: If the fugitive criminal who has been committed to prison be not surrendered and conveyed away within two months after such committal, or within two months after the decision of the Court upon the return to a writ of habeas corpus in the United Kingdom, he shall be discharged from custody, unless sufficient cause be shown to the contrary.

Si le fugitive qui a été arrêté n’a pas été livre et emmené dans les deux mois après son arrestation, ou dans les deux mois après la decision de la Cour sur le renvoi d’une ordonnance d’habeas corpus dans le Royaume Uni, il sera mis en liberté, à moins qu’il n’y ait d’autre motif de le retenir en prison.

Ein Vergleich der Texte ergibt recht deutlich, dass das französische „arres­ tation“ ein klarerer Vertragsbegriff als das englische „committed to prison“ ist.455 Zugleich sieht man auch hier exemplarisch, dass ersterer Begriff deut­ lich enger verstanden werden muss als letzterer. Zur Lösung dieses Interpre­ tationsproblems zogen die kanadischen Richter die ihnen aus ihrem Rechts­ kreis bekannte Klarheitsregel auch zur Auflösung von Textdivergenzen für den Auslieferungsvertrag von 1876 heran, stützten sich also auf den franzö­ sischen Text.456 Diese Auslegung kam dem Habeas Corpus ersuchenden 452  Fattal,

Multilinguisme (1994), S. 282. between France and Great Britain for the Mutual Surrender of Fugitive Criminals, signed at Paris, 14 August 1876, in: Parry, Consolidated Treaty Series 151 (1876–1877), 35 ff. Das von den kanadischen Gerichten und in der Literatur angege­ bene abweichende Jahr 1878 erweckt missverständlich den Eindruck, dass der Vertrag erst 1878 geschlossen worden sei; tatsächlich wurden in diesem Jahr die Ratifikati­ onsurkunden ausgetauscht, womit der Vertrag in Kraft trat (Art. XVII). 454  Cour supérieure du Québec, Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française, C.S. 1977, 91 ff., bestätigt durch Cour d’appell du Québec, Procureur Général du Canada c. Armand Mekies et autres, C.A. 1977, 362 ff.; näher zu diesem Fall auch Beaupré, Advoc. Q. 9 (1988), 327 (334). 455  Cour supérieure du Québec, Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française, C.S. 1977, 91 (93): „Le texte anglais est ambigu. Il donne comme début de la période de deux mois le moment où le fugitive est ‚committed to prison‘. Doit-on entendre par cette expression l’arrestation et l’incarcération du fugitive faite en vertu du mandate délivré par le magistrate du pays requis immédiatement après reception de la demande de l’état étranger? Ou faut-il plutôt comprendre qu’il s’agit de l’envoi du fugitive en prison après la decision du magistrate que la prevue produite justifie l’extradition? […] Le text français est beau­ coup plus clair. Il parle de ‚l’arrestation du fugitif‘. Il ne peut s’agir ici que du mo­ ment où les forces policières du pays requis, agissant à la demande du pays requérant, privent le fugitif de sa liberté.“ 456  Cour supérieure du Québec, Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française, C.S. 1977, 91 (94 f.). 453  Treaty

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Kläger sehr gelegen, bedeutete dies immerhin eine letztendlich entscheidende zeitliche Vorverlegung des Beginns der Berechnung der in Art. X genannten zweimonatigen Frist. Besonders interessant ist die Begründung des Gerichts, dass bei betroffenen subjektiven Rechten – wie etwa dem Recht auf Frei­ heit – gerade nicht auf denjenigen Vertragstext rekurriert werden dürfe, wel­ cher aufgrund seiner Unklarheit unterschiedliche Auslegungen ermögliche.457 In der Sache geht hier der Rekurs auf den klareren Text nach modernem Verständnis bewusst mit einer menschenrechtsfreundlichen Auslegung ein­ her.458 Die Entscheidung für diese Auslegung war indes keine Selbstver­ ständlichkeit, der am Verfahren beteiligte Vertreter der französischen Regie­ rung forderte gar unter Verweis auf einen englischen Präzedenzfall459 zur Auslegung derselben Norm, den französischen Vertragstext zu ignorieren.460 Die Ausführungen im angeführten Präzedenzfall des britischen High Court of Justice stellen sich gegenüber den Entscheidungen der Gerichte aus Québec durchaus als pikant dar: „No doubt in the French version of the treaty the word ‚arrêté‘ is used as being the equivalent […] for ‚committed to prison‘ in art. 10, but the word ‚arrêté‘ is not the correct equivalent for ‚committed to prison‘ in art. 10. Moreover the Court can only look at the English version of the treaty. The two versions are both originals, one for use in this country and the oth[e]r for use in France. In an English Court the English version is the only document that can be looked at, unless indeed there is some ambiguity about the English version, when possibly the [F]rench version may be looked at to see if the ambiguity can be cleared up.“461

Diese Passage aus dem Urteil zeigt nichts weniger als eine bewusste Miss­ achtung der Gleichwertigkeitsregel durch den High Court of Justice auf.462 Dies schlägt auch auf das Verständnis der Klarheitsregel durch, welches sich nach dem Verständnis des Gerichts ausschließlich auf den englischen Ver­ Fattal, Multilinguisme (1994), S. 283. Cour d’appell du Québec, Procureur Général du Canada c. Armand Mekies et autres, C.A. 1977, 362 (365): „L’on ne peut s’autoriser d’une loi ou d’un traité dont les termes prêtent à équivoque pour priver une personne de sa liberté.“ Diese Erkenntnis wird im Teil zur Fragmentierung des Völkerrechts (siehe unten 4. Teil) im Rahmen der Auslegung (mehrsprachiger) menschenrechtlicher Verträge erneut Be­ rücksichtigung finden. 459  High Court of Justice – King’s Bench Division, R. v. Govenor of Brixton Prison, Ex parte Mehamed Ben Romdan, K.B. 3 (1912), 190 ff. 460  Beaupré, Advoc. Q. 9 (1988), 327 (335). 461  High Court of Justice – King’s Bench Division, R. v. Govenor of Brixton Prison, Ex parte Mehamed Ben Romdan, K.B. 3 (1912), 190 (193). 462  So auch die Tendenz in Cour supérieure du Québec, Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française, C.S. 1977, 91 (93). Auch die Erklärungen der Richter Darling, K.B. 3 (1912), 190 (194 ff.) und Channell, K.B. 3 (1912), 190 (196 f.) deuten hierauf hin. 457  Vgl. 458  Vgl.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen131

tragstext beziehen soll und gerade nicht auf das Verhältnis der verschie­ densprachigen authentischen Vertragstexte. Dies ist vor allem dem national geprägten Auslegungsverständnis des High Court geschuldet. Anders als in dem Fall Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française stellt die Entscheidung des High Court damit auch eine menschenrechtsunfreundliche Auslegung dar, indem sie dem Kläger die Bezugnahme auf den klareren – und für ihn günstigeren – Text bewusst ver­ wehrte. Diese beiden Urteile zeigen beispielhaft, dass gerade auf der Ebene der nationalen Rechtsprechung die Klarheitsregel unterschiedlich verstanden wurde. Dies bestätigt die Vermutung, dass eine völkerrechtliche Verankerung der Klarheitsregel nach Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut schwerlich in Betracht kommen kann. Auch für die Heranziehung als Rechtserkenntnis­ quelle i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut wird die gegenseitige Wi­ dersprüchlichkeit dieser Rechtsprechung zu berücksichtigen sein. cc) Nachweise im völkerrechtlichen Schrifttum Die Wurzeln der Klarheitsregel lassen sich bis zu den völkerrechtlichen Klassikern von Grotius, Pufendorf und Vattel zurückverfolgen. Diese Werke setzen sich zwar nicht spezifisch mit mehrsprachigen völkerrechtlichen Ver­ trägen auseinander, die Thematik der redaktionellen Verständlichkeit von völkerrechtlichen Normtexten spielte dort aber dennoch eine wichtige Rolle. Grotius diskutiert etwa den Umgang mit widersprüchlichen oder mehrdeuti­ gen Normtexten und schlägt verschiedene Lösungsansätze vor: So solle der Rechtsanwender etwa die gewollte Bedeutung zwischen den sich widerspre­ chenden Normtexten konjizieren oder die sich widersprechenden Teile einer Norm durch Auslegung miteinander in Einklang bringen.463 Der Vorschlag, dass klare und unklare Teile einer Norm in der Auslegung miteinander in Einklang gebracht werden müssen, stellt sich freilich nur als ein sehr vages, frühes Abbild der späteren Klarheitsregel dar. Bei Pufendorf sind – obwohl sein Werk De Jure Naturæ et Gentium noch stark von den Arbeiten von Gro­ tius geprägt ist – schon konkretere Ideen zur Auslegung von mehrdeutigen oder widersprüchlichen Normtexten erkennbar. Übernommen werden etwa die Ausführungen von Grotius zur Konjektur mehrdeutiger Wörter,464 wäh­ rend andererseits konkretere methodische Grundannahmen postuliert werden wie etwa eine restriktive Auslegung, wenn dadurch das Ad-absurdum-Führen 463  Grotius, De Iure Belli ac Pacis, Lib. II, Cap. XVI, IV. 1., übersetzt von Schätzel (1950), S. 290. 464  Pufendorf, De Jure Naturæ et Gentium, Lib. V, Cap. XII, § 5, zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1711, Bd. 2, S. 195.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

einer Rechtsnorm vermieden werden kann.465 Hinter dieser Überlegung zeigt sich im Ansatz die Charakterisierung der Klarheitsregel durch Mössner im Sinne eines Enger-weiter-Verständnisses,466 wenn der engere Text eine ein­ deutigere Auslegung im Sinne der Klarheitsregel ermöglicht und sich damit gegen den mehrdeutigen Text durchsetzt. Besonders eingehende und tiefgründige Ausführungen zur Auslegung völ­ kerrechtlicher Verträge finden sich in Vattels Droit des Gens. An mehreren Stellen setzt sich Vattel dezidiert mit der Verständlichkeit von Normtexten467 und den Implikationen für ihre Auslegung auseinander. Besonders erwäh­ nenswert ist folgende Ausführung von Vattel zu unklaren Ausdrücken: „Si celui qui s’est énoncé d’une manière obscure, ou équivoque, a parlé ailleurs plus clairement sur la même matière, il est le meilleur interpréte de soi-même.“468

Diese Textstelle liest sich beinahe wie ein Plädoyer für die Auslegung nach Maßgabe des klarsten Textes. Die Ausführung „[l]e meilleur interpréte de soi-même“ stellt klar, dass aus Sicht von Vattel ein guter Rechtsanwender sich stets zum klareren Text bekennen wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der unklarere Teil einer Norm vollkommen unberücksichtigt bleiben solle, vielmehr fordert Vattel eine harmonisierende Auslegung von klareren und unklaren Ausdrücken.469 In der Sache stellt diese Überlegung von Vattel eine Weiterentwicklung des Vorschlags von Grotius hinsichtlich der Konjektur klarer und unklarer Teile einer Norm dar. In der angloamerikanischen völkerrechtlichen Literatur des 19. Jahrhun­ derts setzt sich dieser Trend fort. So fordert Wildmann etwa je nach Situation eine extensive oder restriktive Auslegung, wenn hierdurch das Ad-absurdumFühren des Vertrages vermieden werden kann.470 Bei Phillimore finden sich sehr ähnliche Ausführungen wie bei Wildmann, wobei sich Phillimore wie­ derum auf Grotius bezieht.471 Woolsey geht wiederum noch einen Schritt weiter als Wildmann und Phillimore und formuliert diese Gedanken in Form von Thesen aus, so etwa: „An interpretation is to be rejected, which involves an absurdity […]. Obscure expressions are explained by others more clear in the same instrument.“472 465  Pufendorf, De Jure Naturæ et Gentium, Lib. V, Cap. XII, § 19, zitiert nach der deutschen Übersetzung von 1711, Bd. 2, S. 222. 466  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286). 467  Beachtung verdient in diesem Zusammenhang die Anmerkung, dass Unklarhei­ ten oder Mehrdeutigkeiten in Vertragstexten maßgeblich mit der Unvollkommenheit menschlicher Gedanken zusammenhängen, Vattel, Droit des Gens (1758), S. 476. 468  Vattel, Droit des Gens (1758), S. 478. 469  Vattel, Droit des Gens (1758), S. 478. 470  Wildmann, International Law (1850), S. 112. 471  Phillimore, Commentaries (1850), S. 82.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen133

Die Aussage von Woolsey lässt sich recht gut mit dem gegenwärtigen Verständnis der Klarheitsregel hinsichtlich der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge verbinden. Vergleicht man etwa die zitierte These von Woolsey mit dem Schiedsspruch von Schiedsrichter Beichmann im Fall Affaire des réparations allemandes selon l’article 260 du Traité de Versailles, so stellt man fest, dass gerade die Ausführung von Beichmann „[l]a solution qui s’impose est celle d’interpréter le texte moins clair à la lumière de l’autre texte et conformément au sens qui résulte des termes de ce dernier texte.“473

sich als die finale Übertragung dieser These auf mehrsprachige Verträge dar­ stellt. Damit zeigt sich die Klarheitsregel im völkerrechtlichen Schrifttum als eine in der historischen Entwicklung der letzten Jahrhunderte gewachsene Auslegungsregel. Ob dies allerdings als Nachweis für eine gewohnheitsrecht­ liche Geltung der Klarheitsregel nach Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut ausreicht, erscheint dennoch zweifelhaft. dd) Schlussfolgerungen für die Einordnung im Rechtsquellensystem Anders als der Arbeitssprachenregel kann der Klarheitsregel nach der hier vertretenen Auffassung keine völkergewohnheitsrechtliche Geltung zukom­ men. Ein wesentliches Problem wird durch die International Law Commission bereits im Ansatz benannt: Für Rückschlüsse auf eine verallgemeinerungs­ fähige Auslegungsregel müssen gerade eine hinreichend konsistente Staaten­ praxis bzw. Nachweise hierfür erkennbar sein, damit der Wille der Vertrags­ parteien nicht unterlaufen wird.474 Für eine Kodifikation als Auslegungsregel sah die International Law Commission diese Nachweise offensichtlich nicht als ausreichend an. Diese Einschätzung der International Law Commission wird auch nicht durch die oben angeführten Nachweise zur Klarheitsregel ent­ scheidend erschüttert. Zunächst ist zu bedenken, dass anders als bei der Ar­ beitssprachenregel es im Vertragstext selbst keine Anordnung oder Indizien für die Privilegierung eines der authentischen Vertragstexte gegenüber den anderen gibt. Obgleich die oben nachgewiesenen Beispiele aus der Rechts­ praxis und Literatur zwar als Hilfsmittel zur Feststellung von Völkergewohn­ heitsrecht herangezogen werden können, wird man konzedieren müssen, dass diese an Anzahl und im Lichte der vergangenen Zeit nicht ausreichen können. Gerade die Schiedsspruchpraxis zur Klarheitsregel, insbesondere hinsichtlich des Versailler Vertrags, verblasst insgesamt vor der Masse an Gerichtsent­ 472  Woolsey,

International Law (1874), S. 186. des réparations allemandes selon l’article 260 du Traité de Versailles (Allemagne c. Commission des Réparations), Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. I, 429 (439). 474  Vgl. Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 208. 473  Affaire

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

scheidungen zur Auslegung mehrsprachiger Verträge seit dem 20. Jahrhun­ dert, in denen gerade nicht auf diese Regel zurückgegriffen wurde. In der na­ tionalen Rechtsprechung ist demgegenüber kein einheitliches Verständnis der Klarheitsregel erkennbar gewesen, dies haben die gegensätzlichen, oben be­ sprochenen Entscheidungen des Cour supérieure du Québec und des britischen High Court of Justice beispielhaft gezeigt, die divergierende Rechtssätze zur Klarheitsregel aufgestellt haben. Des Weiteren wurde in der Rechtspraxis auf diese Regel in der Folgezeit kaum noch zurückgegriffen. Hier zeigt sich inso­ weit etwa ein Unterschied zur Arbeitssprachenregel, welche durch den Inter­ nationalen Gerichtshof auch noch im 21. Jahrhundert herangezogen wurde, womit in zeitlicher Hinsicht auch eine hinreichende Kontinuität in der Anwen­ dung dieser Regel in der Rechtspraxis nachgewiesen werden konnte. Insbe­ sondere hieran mangelt es bei der Klarheitsregel. Die dargestellte Entwicklung der Klarheitsregel im frühen völkerrechtli­ chen Schrifttum führt gleichsam nicht zu ausreichenden Nachweisen für eine gewohnheitsrechtliche Geltung dieser Auslegungsregel. Ausgehend von der Entwicklung des Problembewusstseins für mehrdeutige oder unklare Ausdrü­ cke in Vertragstexten ermöglichen die oben zitierten Schriften lediglich nach­ zuvollziehen, warum die Klarheitsregel in der Rechtspraxis des späten 19. und des 20. Jahrhunderts überhaupt herangezogen wurde. Die Klarheitsregel kann nach alledem nicht als völkerrechtlich verbindli­ che Auslegungsregel im Rechtsquellensystem des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut verankert werden. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass dies nicht nur in der Gesamtschau mit nicht ausreichenden Nachweisen für diese Regel, sondern auch mit den dogmatischen Schwächen dieser Regel korreliert. b) Die dogmatischen Schwächen der Klarheitsregel Die Klarheitsregel ist in der neueren völkerrechtlichen Literatur zur Ausle­ gung mehrsprachiger Verträge stark kritisiert worden. Die Kritik, dass gerade Unsicherheiten über die Ermittlung eines klareren Vertragsbegriffs bestehen, liegt auf der Hand,475 noch weitergehender ist die Kritik von Fattal, der im Zusammenhang mit der Klarheit eines Ausdrucks von einer Fiktion spricht.476 475  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286). In der allgemeinen Auslegungslehre scheint der Begriff der Klarheit generell abgelehnt zu werden, so scheint Betti, Aus­ legungslehre (1967), S. 251, die Möglichkeit einer vollkommen klaren Ausdrucks­ weise generell zu verneinen, die es nur in den exakten Wissenschaften geben könne. Diese Überlegung erinnert im Ansatz an die Ausführung von Vattel, Droit des Gens (1758), S. 476, zur Unvollkommenheit menschlicher Gedanken. 476  Fattal, Multilinguisme (1994), S. 275 ff. In eine ähnliche Richtung geht auch die Kritik von Hilf, Verträge (1973), S. 95, der den Begriff der Klarheit an sich als unbrauchbar erachtet.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen135

In der Sache zielt diese Annahme von Fattal auf eine projizierte Wunschvor­ stellung des Rechtsanwenders hin, der zur Auflösung der Textdivergenz be­ rufen ist: Es ist die Vorstellung, dass eine textliche Divergenz stets auf einem Gegenüberstehen von klaren und unklaren Vertragsbegriffen beruhe, die auf redaktionellen Ungenauigkeiten oder sprachlichem Unvermögen beruhe und so den Auslegungsprozess massiv vereinfacht.477 Diese – wenn auch mögli­ cherweise unbewusste – Vorstellung erscheint jedoch aus mehreren Gründen problematisch. Zunächst ist es in der Tat durchaus möglich, dass sich die Vertragsparteien ganz bewusst auf einen klaren und unklaren Vertragstext geeinigt haben, etwa weil in den Verhandlungen gerade kein Konsens über eine klarere Formulierung erzielt werden konnte.478 Den unklareren Text bei der Auslegung zu verwerfen liefe damit – auch im Lichte der Gleichwertig­ keitsregel – dem erklärten Willen der Vertragsparteien zuwider, welche sich gerade über den unklaren Begriff geeinigt haben. Das Verwerfen des unkla­ reren Textes deutet im Übrigen auch darauf hin, dass der Rechtsanwender sich mit dessen Sinngehalt nicht hinreichend auseinandergesetzt hat, wenn er dem aus seiner Sicht klareren Begriff den Vorzug gibt.479 In diesem Zusam­ menhang ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass durch den so ausblei­ benden Vergleich der Texte der Auslegungsprozess zur Auflösung von Text­ divergenzen stark verkürzt wird480 und die Gefahr einer zirkelschlussartigen Annahme des klaren Textes besteht.481 Das Begreifen eines der Vertragstexte als des klareren Textes birgt die Gefahr eines Zirkelschlusses deshalb in sich, da die Klarheit eines Vertragstextes erst am Ende des Auslegungsprozesses feststehen kann,482 also erst nach einer hinreichenden Auseinandersetzung mit den Vertragstexten, was nach dem Konzept der Klarheitsregel regelmäßig nicht der Fall sein wird. Selbst ein Vergleich der Sinngehalte der Texte kann dazu führen, dass weiterhin ungeklärt bleibt, welcher Text der klarere ist.483 Im Lichte dieser dogmatischen Schwächen verwundert es kaum, dass die International Law Commission im Rahmen der Ausarbeitung von Art. 33 477  Gerade hinsichtlich Letzterem liefert der oben besprochene Schiedsspruch im Fall Rafael Aguirre vs. United States, abgedruckt in Moore, Arbitration (1898), Bd. 2, S. 1308, den besten Nachweis, indem Schiedsrichter Thornton seine Vorstellung des korrekten Vertragsbegriffes an die Stelle des von den Vetragsparteien verhandelten Begriffs setzt. 478  Makarov, in: FS Guggenheim (1968), S. 415. 479  Denkbar ist auch ein Verstehensmangel seitens des Rechtsanwenders, siehe nur Köck, Vertragsinterpretation (1976), S. 59. 480  Vgl. Hilf, Verträge (1973), S. 95. 481  Vgl. Brötel, Jura 1988, 343 (344); Hilf, Verträge (1973), S. 95; Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht (1984), Rn. 242. 482  Vgl. Betti, Auslegungslehre (1967), S. 251. 483  Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 109.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

WVK Schwierigkeiten sah, die Klarheitsregel als allgemein verbindliche Auslegungsregel zu formulieren. Sie wäre auch abgesehen von den Fragen, die sich um die Klarheit oder Unklarheit eines Textes stellen, in sämtlichen Fällen unpraktikabel gewesen, in welchen die Divergenz zwischen zwei glei­ chermaßen verständlichen Texten besteht (z. B. kleiner gemeinsamer Schnitt­ bereich oder Enger-weiter-Verhältnis im Sinngehalt). Dies bekräftigt die Einschätzung von Rest, dass die Heranziehung der Klarheitsregel in Einzel­ fällen hilfreich sein kann484 und so auch die oben dargestellten Beispiele aus der Rechtspraxis erklärt, für Einzelfälle ist das Aufstellen einer allgemein verbindlichen Auslegungsregel – sowohl völkervertraglich als auch gewohn­ heitsrechtlich – jedoch ungeeignet. 4. Die Gemeinsamer-Nenner-Regel – Der Übergang vom Suprematsverständnis zur harmonisierenden Auslegung Bei den Ausführungen zur Klarheitsregel hatte sich bereits angedeutet, dass das Verhältnis klarer gegen unklaren Text unter Umständen auch in ei­ nem Enger-weiter-Verhältnis begriffen werden kann. Dies zeigt im Ansatz die dogmatische Nähe der Gemeinsamer-Nenner-Regel zur Klarheitsregel.485 Gleichwohl hat die Gemeinsamer-Nenner-Regel methodisch eine andere Stoßrichtung als die Klarheitsregel, wie sich noch zeigen wird. Vorab soll jedoch wie bei den bisher besprochenen Auslegungsregeln erst die Frage der Stellung der Gemeinsamer-Nenner-Regel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem geklärt werden. Die Gemeinsamer-Nenner-Regel ist völkervertraglich nicht kodifiziert, sodass es keine Anhaltspunkte für eine dogmatische Klärung dieser Regel anhand eines formulierten Vertragswort­ lauts gibt. Als völkerrechtlich verbindliche Auslegungsregel käme damit po­ tentiell nur die Einordnung als völkergewohnheitsrechtlicher Rechtssatz in Betracht. Aus der völkerrechtlichen Rechtspraxis sind in diesem Zusammen­ hang einige bedeutende Beispiele für die Gemeinsamer-Nenner-Regel be­ kannt, die zwingend in die Bewertung der Einordnung der GemeinsamerNenner-Regel im Rechtsquellensystem eingestellt werden müssen.

484  Rest,

Rechtsbegriffe (1971), S. 109, 112. sieht etwa Mössner, AVR 15 (1972), 273 (285), die Klarheitsregel der Ge­ meinsamer-Nenner-Regel als „benachbart“ an. 485  So



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen137

a) Die Gemeinsamer-Nenner-Regel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem Die Bekanntheit der Gemeinsamer-Nenner-Regel speist sich maßgeblich aus der internationalen Rechtsprechung. Ausführungen im Schrifttum zu die­ ser Auslegungsregel sind hingegen maßgeblich in Bezug auf diese Recht­ sprechung erfolgt. aa) Das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs Von zentraler Bedeutung für den Nachweis der Gemeinsamer-Nenner-Re­ gel ist das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten des Ständigen Internatio­ nalen Gerichtshofs. Zur Textdivergenz in den Vertragsbegriffen „public ow­ nership or control“ und „propriété ou au contrôle public“ in Art. 11 des streitgegenständlichen Mandatsvertrags bemerkte der Ständige Internationale Gerichtshof Folgendes: „The Court is of opinion that, where two versions possessing equal authority exist one of which appears to have a wider bearing than the other, it is bound to adopt the more limited interpretation which can be made to harmonise with both versions and which, as far as it goes, is doubtless in accordance with the common intention of the Parties.“486

Der Gerichtshof sieht als Grundbedingung für die Anwendung der Ge­ meinsamer-Nenner-Regel zunächst ein Enger-weiter-Verhältnis bei den di­ vergierenden Vertragsbegriffen an. Nur in diesen Fällen sei die Rückführung noch auf den übereinstimmenden Gehalt der Texte möglich. Wie dieses En­ ger-weiter-Verhältnis konkret aussehen soll, wird jedoch vom Ständigen In­ ternationalen Gerichtshof offengelassen. Zieht man zur Versinnbildlichung zum übereinstimmenden Sinngehalt der verschiedensprachigen Texte Zwei­ kreisfiguren heran, erkennt man schnell, dass sich die Schnittmenge bei konzentrischen Kreisen gänzlich anders darstellt als bei sich schneidenden Kreisen. Die Formulierung „wider bearing than the other“ suggeriert eher Ersteres. Dann käme man allerdings zu der Schlussfolgerung, dass in dieser Versinnbildlichung die gemeinsame Menge sich ausschließlich aus dem en­ geren Text zusammensetzen würde, was die Frage aufwerfen würde, inwie­ weit dann noch von einer harmonisierenden Auslegung gesprochen werden kann („harmonise with both versions“).487 Für die harmonisierende Ausle­ 486  StIGH, The Mavrommatis Palestine Concessions, Advisory Opinion, Series A, N° 2, S. 20. 487  Vgl. auch Papaux/Samson, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 33, Rn. 85.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

gung spricht stattdessen die Versinnbildlichung von sich schneidenden Krei­ sen, da in dieser Darstellung der gemeinsame Sinngehalt gerade aus beiden Texten ermittelt werden muss. Offen bleibt in dieser Darstellung die Einord­ nung des Passus zur restriktiven Auslegung („more limited interpretation“). Hierunter kann man sowohl das Abstellen auf den engeren Text im Sinne eines Supremats als auch eine Auslegung nach Maßgabe des Schnittbereichs beider Texte begreifen. Letztendlich wird man in einer Gesamtschau konsta­ tieren müssen, dass die Begriffe „wider bearing than the other“, „more limit­ed interpretation“ und „harmonise with both versions“ mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Dies gilt besonders vor dem Hintergrund, dass der Ge­ richtshof sich gerade so ausdrückt, als fühle er sich an eine Auslegungsregel gebunden („The Court is of opinion that, […] it is bound […]“). Woher der Gerichtshof diese Auslegungsregel ableiten will, bleibt jedoch unklar, insbe­ sondere erfolgt kein Verweis auf einschlägige Staatenpraxis. Es bleibt damit der Eindruck bestehen, dass der Gerichtshof mit der Gemeinsamer-NennerRegel rechtsschöpferisch tätig wurde, möglicherweise auch wegen des Feh­ lens völkervertraglich kodifizierter verbindlicher Auslegungsregeln im Zeit­ punkt der Entscheidung. bb) Die Draft-Articles zur Vertragsauslegung der 7. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten Die Einschätzung, dass der Ständige Internationale Gerichtshof im Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten zur Gemeinsamer-Nenner-Regel rechtsschöpferisch tätig wurde, lässt sich auch durch die zeitlich nachgela­ gerte Staatenpraxis zu dieser Auslegungsregel belegen. Einen häufig ver­ nachlässigten Aspekt um die Diskussion der Gemeinsamer-Nenner-Regel stellen die Kodifikationsbemühungen im Rahmen der Internationalen Konfe­ renzen der Amerikanischen Staaten dar.488 Nachdem bereits 1928 auf der 6. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten die Havanna Conven­ tion on Treaties489 angenommen wurde – die jedoch noch keine materiellen Vorschriften zur Vertragsauslegung enthielt490 –, wurde schließlich 1933 auf Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 167. on Treaties, adopted by the Sixth International Conference of American States at Havana, February 20, 1928, veröffentlicht in: AJIL Sup. 29 (1935), 1205 ff. 490  Lediglich in Art. 3 findet sich überhaupt etwas zu dieser Thematik: „The au­ thentic interpretation of treaties, when considered necessary by the contracting par­ ties, shall likewise be in writing.“ Obgleich der Passus „authentic interpretation“ im Hinblick auf das Stichwort des „authentischen Textes“ bekannt vorkommt, bleibt of­ fen, wie die „authentic interpretation“ ausfallen soll. Art. 3 unterscheidet sich insofern substantiell von Art. 31–33 WVK. 488  Vgl.

489  Convention



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen139

der 7. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten eine Kodifika­ tion der Gemeinsamer-Nenner-Regel für die Auslegung mehrsprachiger Ver­ träge vorgeschlagen. In Art. 11 des Entwurfs liest man: „In case of a discrepancy between equally binding official copies of a treaty and when it is impossible to establish the purpose of the contracting parties, the restric­ tive interpretation which best harmonizes the texts will be adopted.“491

Obgleich sich die Formulierung in Art. 11 von der Ausführung des Ständi­ gen Internationalen Gerichtshofs im zeitlich vorgelagerten MavrommatisKonzessionen-Gutachten unterscheidet, lässt sich schwerlich leugnen, dass sich der Entwurf in Art. 11 maßgeblich an dieses Gutachten anlehnt.492 An­ ders als im Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten setzt der Entwurf der 7. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten jedoch gerade kein Enger-weiter-Verhältnis voraus, sondern überhaupt nur eine Divergenz im Sinn der verschiedensprachigen Vertragsbegriffe. Für den Rechtsanwender ist dies angenehmer, da er nicht erst durch einen ausführlichen linguistischen Vergleich der Texte feststellen muss, ob sich die Divergenz im Sinne eines Enger-weiter-Verhältnisses gestaltet. Prima facie würde man damit hinsicht­ lich der unterschiedlichen Formulierungen „in case of a discrepancy“ und „wider bearing than the other“ von einem erweiterten Anwendungsbereich der Gemeinsamer-Nenner-Regel nach Maßgabe der Vorstellung der Konfe­ renzstaaten ausgehen. Dieser Umstand wird jedoch sogleich wieder durch die Formulierung „and when it is not possible to establish the purpose of the contracting parties“ relativiert. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass zunächst mit allen erdenklichen Anstrengungen der Wille der Vertragspar­ teien im Wege der Auslegung ermittelt werden muss, bevor auf eine restrik­ tiv-harmonisierende Auslegung zurückgegriffen werden darf. Dies provoziert die Überlegung, dass für die Gemeinsamer-Nenner-Regel an sich gar kein Raum bleiben dürfte, da es unbestritten Aufgabe des Rechtsanwenders ist, den Willen der Vertragsparteien im Wege der Auslegung des Vertragstextes zu ermitteln und hieran nicht zu scheitern. Zwar ist es möglich, dass die Auslegung der verschiedensprachigen Vertragstexte einen teilweise unter­ schiedlichen Bedeutungsgehalt ergibt, wonach die Annahme eines Dissenses zwischen den Vertragsparteien in Betracht kommt; dieser kann durch die Rückführung der Texte auf den gemeinsamen Sinngehalt jedoch vermieden werden.493 Im Hinblick auf Art. 11 stellt sich insofern jedoch die Frage, wie 491  Veröffentlicht 492  So

in AJIL Sup. 29 (1935), 1225 (1226). auch Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010),

S. 168. 493  Dies wird auch als der einzige Vorteil der Gemeinsamer-Nenner-Regel angese­ hen; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 113, spricht zutreffend von einer Aufrechterhal­ tung des Vertrags. Näher zu den Vor- und Nachteilen der Gemeinsamer-Nenner-Regel siehe B. 4. b).

140

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

der gemeinsame Nenner zwischen den divergierenden Vertragsbegriffen ge­ funden werden soll, wenn es dem Rechtsanwender nicht gelungen ist, den Willen der Vertragsparteien zu erforschen. Auf dieses dogmatische Problem gibt Art. 11 keine Antwort. Er stellt sich zwar als der Versuch einer Weiter­ entwicklung der Gemeinsamer-Nenner-Regel nach dem Verständnis des Ständigen Internationalen Gerichtshofs dar, wirft jedoch ebenfalls mehr neue Fragen auf, als er löst. cc) Die Harvard Draft Convention on the Law of Treaties Eine weitere Verwässerung hat die Gemeinsamer-Nenner-Regel in der Harvard Draft Convention on the Law of Treaties erfahren. Im bereits oben im Rahmen der Gleichwertigkeitsregel angesprochenen Art. 19 Buchst. b) zeigt sich, dass der Wortlaut an einer Stelle auch auf die GemeinsamerNenner-Regel abzielt: „When the text of a treaty is embodied in versions in different languages, and when it is not stipulated that the version in one of the languages shall prevail, the treaty is to be interpreted with a view to giving to corresponding provisions in the different versions a common meaning which will effect the general purpose which the treaty is intended to serve.“494

Während sich die Gleichwertigkeitsregel in der Ausführung „and when it is not stipulated that the version in one of the languages shall prevail“ nie­ dergeschlagen hatte, deutet sich die Gemeinsamer-Nenner-Regel im Passus „[g]iving […] the different versions a common meaning […]“ an. Obgleich die Kommentierung zu Art. 19 Buchst. b) das Mavrommatis-KonzessionenGutachten als Vorbild nennt,495 weicht diese Vorschrift sowohl vom Mavrom­ matis-Konzessionen-Gutachten als auch von Art. 11 des Entwurfs der 7. In­ ternationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten ab. Bemerkenswert in jeder Hinsicht ist zunächst, dass Art. 19 Buchst. b) ausweislich seines Wort­ lauts keine Divergenz im Sinngehalt der verschiedensprachigen Vertragsbe­ griffe fordert, sondern immer ein gemeinsamer Bedeutungsgehalt durch den Rechtsanwender gefunden werden soll. Die Vorschrift scheint damit – anders als etwa Art. 33 Abs. 3 WVK – gerade davon auszugehen, dass die verwen­ deten verschiedensprachigen Vertragsbegriffe regelmäßig nicht übereinstim­ men. Diese Überlegung ließe sich allenfalls mit dem Argument entkräften, dass Art. 19 Buchst. b) als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal doch eine Divergenz zwischen den Vertragsbegriffen voraussetzt, damit das Tatbe­ standsmerkmal „[g]iving […] the different versions a common meaning […]“ zur Anwendung kommt. 494  AJIL 495  AJIL

Sup. 29 (1935), 653 (661). Sup. 29 (1935), 653 (971).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen141

Unklarheiten ergeben sich zudem aus dem Tatbestandsmerkmal „common meaning“. Hier bleibt offen, ob eine Auslegung angestrebt werden soll, die gerade auf den Schnittbereich im Sinn der verschiedensprachigen Vertragsbe­ griffe abzielt oder eine ausschließliche Anwendung des engeren gegenüber dem weiteren Text. Die Beantwortung dieser Frage wird dadurch erschwert, dass Art. 19 Buchst. b) zur Voraussetzung einer Textdivergenz schweigt, ge­ schweige denn zu deren konkreter Ausgestaltung. dd) Der Schiedsspruch im Flegenheimer Fall Die Gemeinsamer-Nenner-Regel wurde zwei Jahrzehnte nach den oben dargestellten Entwicklungen in der Rechtspraxis erneut aufgegriffen. Im Flegenheimer-Fall bezog sich die zuständige Schiedskommission explizit auf den gemeinsamen Nenner, der zwischen den divergierenden Vertragsbegrif­ fen gefunden werden müsse: „When the texts of an international treaty prepared in different languages cannot be exactly reconciled with one another, the Commission, according to the teachings of international law, believes that adjustment should be made on the basis of a com­ mon denominator which answers the meaning of all the texts stated to be authenti­ cated originals by the Parties. It is universally admitted that treaties can confer rights and impose obligations on the contracting States only within the limits with­ in which the intent of these States became manifest in a concordant manner.“496

Der Begriff des „common denominator“ wurde in den früheren Beispielen in der Rechtspraxis nicht verwendet. Auffällig ist umgekehrt, dass nun nicht mehr von einer restriktiven Auslegung gesprochen wird und die Vorausset­ zungen der Anwendung dieser Regel vollständig von der Vorstellung eines Enger-weiter-Verhältnisses entkoppelt sind. Stattdessen wird nun als Voraus­ setzung verlangt, dass es dem Rechtsanwender nicht gelingt, die verschie­ densprachigen Texte miteinander in Einklang zu bringen („exactly recon­ ciled“). Diese Formulierung wirft jedoch ihrerseits weitere Fragen auf: So wird nicht klar, wann und unter welchen Umständen man diese Vorausset­ zung als gegeben ansehen kann. Des Weiteren lässt sich entgegnen, dass ge­ rade die Ermittlung des gemeinsamen Nenners auch unter dem Begriff „re­ conciliation“ verstanden werden könnte, wenn auch in einem restriktiven Sinn. Die von der Schiedskommission formulierte Regel wirkt damit wider­ sprüchlich: Es ist dogmatisch unverständlich, warum die Anwendbarkeit an das Nichtgelingen der „reconciliation“ geknüpft wird, während andererseits mit der Anwendung der Regel in der Sache eine „reconciliation“ erreicht werden kann. 496  Italian-United States Conciliation Commission, Flegenheimer Case, Decision No. 182 of 20 December 1958, Rep. Int’l Arb. Awards, Vol. XIV, 327 (382).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Sämtliche Beispiele zur Gemeinsamer-Nenner-Regel haben gezeigt, dass jeder dieser Versuche, sie im Stile einer Auslegungsregel zu formulieren, mehr Fragen als Antworten aufgeworfen hat. Die leicht unterschiedlichen Formulierungen in den Beispielen zeigen, dass dies den beteiligten Akteuren durchaus bewusst war. Dies deutet jedoch auch auf grundsätzliche dogmati­ sche Schwächen der Gemeinsamer-Nenner-Regel hin, da es mehrfach nicht gelungen war, eine in sich klare und widerspruchsfreie Auslegungsregel zur Vorstellung des gemeinsamen Nenners zu formulieren. ee) Rezeption der Gemeinsamer-Nenner-Regel im völkerrechtlichen Schrifttum und durch die International Law Commission Die Gemeinsamer-Nenner-Regel hat in der völkerrechtlichen Literatur viel Kritik erfahren. So bezeichnet Dölle diese Auslegungsregel zunächst als „nützlich, aber nicht ausreichend“,497 um sodann zu hinterfragen, warum gerade dem engeren Text der Vorzug zu geben sei und nicht dem weiteren – dies sei eine Frage, auf die es keine überzeugende dogmatische Antwort ge­ be.498 Dölle kritisiert in diesem Zusammenhang vor allem die der Gemeinsa­ mer-Nenner-Regel innewohnende quantifizierende Betrachtungsweise, wel­ che die Willenserklärungen, die dem Vertrag zugrundeliegen, eher im Sinne der mathematischen Mengenlehre darstellt als ihrem qualitativen Gehalt nach.499 Eine solche quantifizierende Betrachtung sei nach Rest letztendlich darauf angelegt, lediglich einen minimalistischen Kompromiss dergestalt zu finden, dass durch die Auslegung nach Maßgabe des gemeinsamen Nenners der Vertrag aufrechterhalten wird und nicht wegen Dissenses nichtig ist.500 Mössner richtet seine Kritik nicht nur gegen die Gemeinsamer-NennerRegel als solche, sondern insbesondere auch gegen das Mavrommatis-Kon­ zessionen-Gutachten, welches widersprüchlich und unklar sei.501 Seine Kritik 497  Dölle,

RabelsZ 26 (1961), 4 (22). RabelsZ 26 (1961), 4 (36); ebenso auch Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 113. Dass der Einwand berechtigt ist, zeigt etwa der IGH im Urteil Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permis­ sion to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575, § 47, in welchem er gerade auf den weiteren und nicht den engeren Text abstellt. 499  Vgl. Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (36); ihm folgend Hilf, Verträge (1973), S. 97. 500  Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 113. 501  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (285); siehe weiterführend auch Pitamic, ÖstZ­ öffR 21 (1971), 305 (311), der die Ausführungen des StIGH als linguistisch nicht überzeugend erachtet. Eine weitere, sehr ausführliche kritische Analyse des Gutach­ tens findet sich bei Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (76 ff.). Hardy behauptet, dass in dem Gutachten streng genommen gar keine Auslegung der Begriffe „public control“ und „contrôle public“ erfolgt sei (BYIL 37 [1961], 72 [80]). 498  Dölle,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen143

korreliert mit den oben aufgezeigten offenen Fragen zum Enger-weiter-Ver­ hältnis sowie der damit zusammenhängenden restriktiv-harmonisierenden Auslegung. Ergänzend führt er aus, dass diese Auslegungsregel ungeeignet sei, eine Lösung in den Fällen zu finden, in denen es nicht nur ein Engerweiter-Verhältnis zwischen den Vertragstexten gebe, sondern zusätzlich noch ein Vertragsbegriff des engeren Textes mehrdeutig sei oder es Mehrfachüber­ schneidungen in den Ausdrücken gebe.502 Hilf sieht mit der Anwendung der Gemeinsamer-Nenner-Regel Friktionen zu anderen bedeutenden Auslegungsprinzipien wie etwa dem Effektivitäts­ grundsatz. Er weist darauf hin, dass die Gemeinsamer-Nenner-Regel allen­ falls bei bilateralen Verträgen in Betracht kommen könne, da bei multilatera­ len – und hier insbesondere rechtssetzenden – Verträgen Ziel und Zweck des Vertrages durch diesen minimalistischen Auslegungsansatz beeinträchtigt werden können.503 Der in diesem Zusammenhang vorgetragene Beispielfall Wemhoff v. Germany des EGMR verdeutlicht, dass die Ziel- und Zweckset­ zung eines völkerrechtlichen Vertrages erheblichen Einfluss auf die Anwend­ barkeit der Auslegungsregeln haben kann; der EGMR wies hier die von der Bundesregierung vorgeschlagene restriktive Auslegung nach Maßgabe des englischen Textes unter Hinweis auf Ziel und Zweck der EMRK als Lawmaking Treaty zurück.504 Die vorgetragene Kritik an der GemeinsamerNenner-Regel in der Literatur bezieht sich in einer Gesamtschau damit nicht nur auf dogmatisch-methodische Fragen und Unklarheiten dieser Ausle­ gungsregel selbst, sondern auch auf Friktionen zu anderen Auslegungsprinzi­ 502  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (285); siehe auch Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (629): „The search for a common or even restrictive meaning does not always yield clear results.“ 503  Zum Ganzen siehe Hilf, Verträge (1973), S. 97. 504  EGMR, Wemhoff v. Germany, Appl. No. 2122/64, S. 19: „The Court cannot accept this restrictive interpretation. It is true that the English text of the Convention allows such an interpretation. […] But while the English text permits two interpreta­ tions the French version, which is of equal authority, allows only one. […] Thus confronted with two versions of a treaty which are equally authentic but not exactly the same, the Court must, following established international law precedents, interpret them in a way that will reconcile them as far as possible. Given that it is a law-mak­ ing treaty, it is also necessary to seek the interpretation that is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty, not that which would restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties.“; siehe näher zum Fall auch Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (416 f.); Hilf, Verträge (1973), S. 97. Gleichzeitig verdeutlicht dieser Fall die Unsicherheiten zum Enger-weiter-Verständnis, da der englische Text im Gegensatz zum französischen mehrdeutig war. Im Ansatz erinnert diese Entscheidung des EGMR auch an das Urteil des Cour supérieure du Québec, Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française, C.S. 1977, 91 ff., der mit einer vergleichbaren Argumentation die Klarheitsregel ablehnte.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

pien, die insbesondere im Lichte der Fragmentierung des Völkerrechts eine gewichtige Rolle einnehmen werden. Die Kritik aus der Literatur findet sich weitgehend auch in den Stellung­ nahmen der International Law Commission im Rahmen der Ausarbeitung der Wiener Vertragsrechtskonvention wieder. Bezweifelt wird hier vor allem die Verallgemeinerungsfähigkeit der Gemeinsamer-Nenner-Regel: „But the question whether in case of ambiguity a restrictive interpretation ought to be adopted is a more general one the answer to which hinges on the nature of the treaty and the particular context in which the ambiguous term occurs, as has been explained in the commentary to article 71. The mere fact that the ambiguity arises from a difference of expression in a plurilingual treaty does not alter the principles by which the presumption should or should not be made in favour of a restrictive interpretation. Accordingly, while the Mavrommatis case gives strong support to the principle of conciliating – i. e., harmonizing – the texts, it is not thought to call for a general rule laying down a presumption in favour of restrictive interpretation in the case of an ambiguity in plurilingual texts.“505

Diese Textpassage stützt einerseits die Annahme der Widersprüchlichkeit der aufgestellten Regel der Schiedskommission im Flegenheimer Fall, da es der ursprüngliche Gedanke der Gemeinsamer-Nenner-Regel ist, durch die Rückführung der sich widersprechenden Texte auf den gemeinsamen Nenner diese miteinander in Einklang zu bringen. Gleichzeitig bekräftigt sie die Un­ sicherheiten um das Verständnis des Enger-weiter-Verhältnisses zwischen den divergierenden Vertragstexten sowie den Implikationen für eine restrik­ tive Auslegung. ff) Schlussfolgerungen für die Einordnung im Rechtsquellensystem Gegen die Einordnung der Gemeinsamer-Nenner-Regel als völkerrechtlich verbindliche Auslegungsregel506 spricht vor allem die nicht einheitliche Rechtspraxis. Gerade für die Einordnung als völkergewohnheitsrechtlichen Rechtssatz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut wären ausreichend Nachweise für eine allgemeine Übung im Sinne dieser Vorschrift erforderlich gewesen. Die erbrachten Nachweise für die Gemeinsamer-Nenner-Regel sprechen lediglich dafür, dass diese in Einzelfällen je nach konkreter Gege­ benheit als Hilfsmittel zur Auslegung herangezogen werden kann.507 Der Mangel an diesen Nachweisen bzw. die uneinheitliche Rechtspraxis spricht zudem für die dogmatischen Schwächen der Gemeinsamer-Nenner-Regel. 505  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 208. auch Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (424); Grabau, Interpretation (1990), S. 175; Hilf, Verträge (1973), S. 99; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 114. 507  Hilf, Verträge (1973), S. 99; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 114. 506  So



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen145

Diese sind mitursächlich für das Unvermögen des Aufstellens einer wider­ spruchsfreien abstrakt-generellen Regel mit dem Ziel der Ermittlung des ge­ meinsamen Nenners. b) Die dogmatischen Schwächen der Gemeinsamer-Nenner-Regel Die im völkerrechtlichen Schrifttum vorgetragene Kritik gegen die Ge­ meinsamer-Nenner-Regel benennt bereits im Ansatz grundsätzliche dogmati­ sche Schwächen dieser Regel. In diesem Zusammenhang verdienen folgende Ansätze weitere Vertiefung: Die Anmerkung von Dölle und Rest, warum nicht gerade auf den weiteren Text abgestellt werden sollte,508 sowie der Hinweis von Hilf,509 dass hinsichtlich der Anwendbarkeit dieser Regel zwi­ schen multilateralen normbildenden Verträgen und bilateralen Austauschver­ trägen unterschieden werden müsse. Letzterer Aspekt kreist auch um die grundsätzliche Problematik der restriktiven Auslegung völkerrechtlicher Verträge.510 Die von Dölle und Rest aufgeworfene Frage lässt sich durch die Rückbin­ dung der Gemeinsamer-Nenner-Regel an allgemeine Auslegungsprinzipien näher einer Klärung zuführen. Die von Dölle monierte quantifizierende Be­ trachtungsweise trifft hierbei im Ansatz den Nagel auf den Kopf: Es ist der allzu stark verhaftete Fokus auf den grammatischen Wortsinn der Vertragsbe­ griffe, losgelöst von der Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrages im Sinne der teleologischen Auslegung.511 Indem man Ziel und Zweck als Aus­ fluss des durch Vergleich des grammatikalischen Wortsinnes ermittelten ge­ meinsamen Nenners ansieht, wird die teleologische Auslegung zur Ermittlung 508  Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (36); ebenso auch Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 113. 509  Hilf, Verträge (1973), S. 97. 510  Kritisch zur restriktiven Auslegung Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), 491 (504); ausführlich zum Verhältnis der restriktiven Auslegung und dem Effektivitätsgrundsatz Lauterpacht, BYIL 26 (1949), 48 ff. 511  Vgl. auch StIGH, Case relating to the territorial jurisdiction of the International Commission of the river Oder, Series A, N° 23, S. 26, zur restriktiven Auslegung: „Nor can the Court, on the other hand, accept the Polish Government’s contention that, the text being doubtful, the solution should be adopted which imposes the least restriction on the freedom of States. This argument, though sound in itself, must be employed only with the greatest caution. To rely upon it, it is not sufficient that the purely grammatical analysis of a text should not lead to definite results; there are many other methods of interpretation, in particular, reference is properly had to the principles underlying the matter to which the text refers […].“; aus der Rechtspre­ chung des IGH siehe Anglo-Iranian Oil Co. Case (Jurisdiction), I.C.J. Reports 1952, 93 (104).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

desselben stark verkürzt.512 Es erscheint jedoch höchst zweifelhaft, ob eine solche methodische Vorgehensweise mit den in Art. 31 Abs. 1 WVK kodifi­ zierten Auslegungsgrundsätzen in Einklang steht.513 Namentlich die Grund­ sätze des Good Faith sowie des Object and Purpose, die auf gleicher Ebene wie die grammatische Auslegung stehen, ziehen das methodische Grundge­ rüst der Gemeinsamer-Nenner-Regel in Zweifel.514 So ist es denkbar, dass ungeachtet einer Textdivergenz der Ziel und Zweck eines Vertrages weit ge­ fasst ist, dieser würde durch die Rückführung der Texte auf den gemeinsa­ men Nenner gerade verfehlt werden. Anhaltspunkte hierfür können sich auch aus der Präambel des Vertrages oder im Zusammenspiel mit anderen Vor­ schriften des Vertrages ergeben.515 All dies wird durch die von Dölle kriti­ sierte quantifizierende Betrachtungsweise der verschiedensprachigen Ver­ tragsbegriffe völlig außer Acht gelassen. Der zweifelhafte methodische Grundansatz der Gemeinsamer-Nenner-Re­ gel hat noch weitreichendere Implikationen im Hinblick auf die von Hilf angemerkte Thematik. Während bei einem reinen Austauschvertrag die Rückführung der unterschiedlichen verschiedensprachigen Vertragsbegriffe auf den gemeinsamen Nenner und der damit einhergehenden restriktiven Auslegung unter Umständen mit Ziel und Zweck des Vertrages in Einklang stehen kann,516 dürfte dies bei multilateralen normbildenden Verträgen regel­ mäßig nicht der Fall sein. Losgelöst von der Ermittlung von Ziel und Zweck bei solchen Verträgen stellt sich überhaupt die Frage, wie bei der häufig er­ 512  Vgl. Sinclair, Vienna Convention (1984), S. 130, der ausführt, dass in den sel­ tensten Fällen sich Ziel und Zweck des Vertrages direkt aus dem Wortlaut einer Vor­ schrift entnehmen lassen. 513  Für völkerrechtliche Verträge vor dem Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechts­ konvention kann zwar Art. 31 Abs. 1 WVK gem. Art. 4 WVK nicht angewendet wer­ den, nach ganz herrschender Meinung hat Art. 31 Abs. 1 WVK jedoch bereits beste­ hendes Völkergewohnheitsrecht kodifiziert, siehe statt vieler nur IGH, Arbitral Award of 31 July 1989 (Guinea Bissau v. Senegal), Judgment, I.C.J. Reports 1991, 53, § 48. 514  Siehe hierzu Klabbers, Object and Purpose, in: MPEPIL (December 2006), Rn. 17, der darauf hinweist, dass eine mit dem Wortlaut vereinbare Auslegung gleich­ wohl gegen Ziel und Zweck des Vertrages verstoßen kann und die teleologische Aus­ legung Letzterem besser gerecht werde. Generell ist zu beachten, dass sich Ziel und Zweck des Vertrages aus dessen Gesamtheit ergeben, vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalen­ bach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 56; Orakhelashvili, Interpretation (2008), S. 343. Dies legt im Umkehrschluss nahe, dass dies selten nur anhand der Auslegung des grammatischen Wortlauts einer einzelnen Vertragsvorschrift gelingen kann. 515  Vgl. Art. 31 Abs. 2 WVK. Siehe weiterführend auch Sinclair, Vienna Conven­ tion (1984), S. 130. 516  Gerade im Lichte der reziproken Einschränkung der staatlichen Souveränität lässt sich in solchen Fällen noch begründen, dass die Zielsetzung des Vertrages nach Maßgabe der Auslegung nach dem gemeinsamen Nenner nicht verfehlt wird.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen147

höhten Anzahl der Vertragssprachen die Ermittlung des gemeinsamen Nen­ ners gelingen soll.517 Selbst wenn dies – wie etwa im Falle der zweisprachi­ gen EMRK – nicht der Fall sein sollte, bleiben durchgreifende Zweifel, ob die rein textliche Interpretation zur Rückführung der Texte auf den gemein­ samen Minimalgehalt grundsätzlich auf die Auslegung solcher Vertragstypen passt. Hier kommen vielmehr der Effektivitätsgrundsatz bzw. der Grundsatz ut res magis valeat quam pereat in besonderer Weise zum Tragen: Die der Gemeinsamer-Nenner-Regel innewohnende Methodik mag zwar zu einer souveränitätsfreundlichen Auslegung führen, indem die vertraglichen Pflich­ ten der Vertragsstaaten auf den gemeinsamen Nenner der Texte – und damit auf ein Minimum – reduziert werden, dies dürfte jedoch regelmäßig den oben genannten Grundsätzen zuwiderlaufen.518 Gerade für den Internationa­ len Menschenrechtsschutz als Teilrechtsgebiet des Völkerrechts ist die Zu­ rückweisung der restriktiven Auslegung in der Entscheidung des EGMR im Fall Wemhoff v. Germany insofern selbsterklärend. Die Kritik von Hilf, dass die Gemeinsamer-Nenner-Regel nur bei bilateralen Verträgen Anwendung finden könne, vertieft damit exemplarisch die dogmatische Schwäche dieser Regel: die teilweise Entkopplung von den in Art. 31 WVK normierten Aus­ legungsgrundsätzen.519 5. Die Ausgewogenheitsregel – Der Versuch der Realisierung des Reziprozitätsgedankens bei mehrsprachigen Verträgen Einen ähnlichen Ansatz wie die Gemeinsamer-Nenner-Regel verfolgt die sog. Ausgewogenheitsregel. Hiernach sei im Falle einer Textdivergenz dieje­ nige Auslegung zu suchen, welche die Rechte und Pflichten der Vertragspar­ auch Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (628). man wie Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), 491 (504), die restriktive Auslegung grundsätzlich ablehnt, kann für die Frage der Anwendbarkeit auf multilaterale norm­ bildende Verträge offenbleiben, da jedenfalls in diesen Fällen eine Verfehlung des Effektivitätsgrundsatzes droht. Die Argumentation der reziproken Einschränkung der staatlichen Souveränität greift hier regelmäßig nicht, da das Erreichen und die Durch­ setzung der normierten Rechtssätze – die eben nicht nur rein zwischenstaatlicher Natur sind sondern auch subjektive Rechtspositionen Einzelner begründen können – maßgeblich im Vordergrund stehen. Hilf, Verträge (1973), S. 97, nennt diesbezüglich etwa Kollektivverträge mit institutionellen Verfestigungen sowie Gründungsverträge internationaler Organisationen; siehe im Einzelnen etwa N.N., Duke L. J. 1962, 85 (85) – zur Auslegung der UN-Charta –; zum Internationalen Menschenrechtsschutz Morrison, ICLQ 19 (1970), 361 (375). Näher zur Bedeutung des Object and Purpose für den Grundsatz ut res magis valeat quam pereat siehe Villiger, Commentary (2009), Art. 31, Rn. 12. 519  Art. 31 Abs. 1 WVK müsste nach der Konzeption der Gemeinsamer-NennerRegel stattdessen so lauten: A treaty shall be interpreted in accordance with the ordi­ nary meaning given to the terms of the treaty. 517  So

518  Ob

148

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

teien am besten ausbalanciert.520 Der Rekurs auf die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien orientiert sich in diesem Zusammenhang eng am Rezip­ rozitätsgedanken.521 Dies lässt jedoch bereits im Ansatz erahnen, dass diese Auslegungsregel maßgeblich auf bilaterale Austauschverträge zugeschnitten ist, da nur in diesen Fällen der Ausgleich der vertraglichen Rechte und Pflichten im Wege der Auslegung in Betracht kommen kann. Dies verengt schon dem ersten Anschein nach den Anwendungsbereich der Ausgewogen­ heitsregel.522 a) Der Ursprung der Ausgewogenheitsregel und seine Anwendung in der Rechtspraxis Soweit ersichtlich, hat Rousseau erstmals den der Ausgewogenheitsregel innewohnenden Rechtssatz speziell für mehrsprachige völkerrechtliche Ver­ träge aufgestellt. Da die von Rousseau zitierten Werke sich nur sinngemäß mit der Ausgewogenheitsregel befassen, ist es schwierig, die Ursprünge die­ ser Regel nachzuzeichnen. Die historische Wurzel dieser Auslegungsregel mag man in der Einteilung in gleiche und ungleiche Verträge, wie sie etwa von Vattel vorgenommen wurde, erblicken.523 Es versteht sich von selbst, dass bei einem ungleichen Vertrag eine Ausbalancierung der vertraglichen Rechte und Pflichten im Sinne der Ausgewogenheitsregel nicht in Betracht kommen kann. Vattel legt sich im Folgenden darauf fest, dass die Nationen die Gleichheit in den Verträgen nach Möglichkeit zu wahren haben und dass alles, was in den Verträgen auf die Gleichheit zwischen den Vertragsparteien abziele, günstig sei.524 Letzteres wird von Vattel im Kapitel zur Auslegung der Verträge postuliert, obgleich es nicht wie eine Auslegungsregel formuliert klingt.525 Hiermit lässt sich nur ein vages, frühes Abbild der Konzeption der Ausgewogenheitsregel nachzeichnen, man wird in der historischen Literatur 520  Maßgebend für die Formulierung dieser Regel Rousseau, Principes généraux (1944), S. 722. Rousseau bezieht sich zwar mit Bonfils, Droit International Public (1894), S. 460 und Ehrlich, RdC 24 (1928 IV), 5 (98), auf weitere Autoren für seine Auffassung, insbesondere die Ausführungen von Bonfils sind jedoch als allgemeine Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge vorgeschlagen. 521  So bezeichnet Engelen, Tax Treaties (2004), S. 408, diese Auslegungsregel explizit als „the principle of reciprocity“; sehr ausführlich dazu Simma, Reziprozität (1972), S.  114 ff., 130 f. 522  So auch die Tendenz bei Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286). 523  Siehe näher Vattel, Droit des Gens (1758), S. 382. 524  Vattel, Droit des Gens (1758), S. 380 f., 496. 525  Die Formulierung in Vattel, Droit des Gens (1758), S. 496, „Et d’abord, tout ce qui va à l’utilisé commune dans les Conventions, tout ce qui tend à mettre l’égalité entre les Contractans, est favorable“ liest sich eher wie allgemeine Anforderungen an einen Vertrag und nicht, wie dieser ausgelegt werden sollte.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen149

keinen explizit aufgestellten Rechtssatz finden, der unter die Konzeption der Ausgewogenheitsregel passt. Rousseau selbst nennt keine Belege aus der Rechtspraxis, die seine Auffas­ sung stützen würden.526 Hierdurch drängt sich der Eindruck auf, dass Rous­ seau die Ausgewogenheitsregel nicht als völkerrechtlich verbindliche Ausle­ gungsregel formulieren wollte, zumal er in seinem Werk Prinicipes Généraux du Droit International Public für den Nachweis weiterer Auslegungsregeln für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge dezidiert und ausführlich Nachweise aus der Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit anführt.527 Sachgedanklich liegt zur Rückbindung der Ausgewogenheitsregel an allgemeine Rechtsgrundsätze vor allem die souveräne Gleichheit der Staaten nahe.528 Dieser Rechtsgrundsatz beinhaltet auch die rechtliche Gleichheit („juridical equality“) der Staaten un­ tereinander, die nach traditionellem Verständnis des Völkervertragsrechts wie­ derum im Reziprozitätsgedanken münden soll.529 Die Ausgewogenheitsregel bezeichnet damit nichts Weiteres als eine Konkretisierung des Grundsatzes der rechtlichen Gleichheit der Staaten bei der Vertragsauslegung und damit eher ein Rechtsprinzip als eine Auslegungsregel. Die Ausgewogenheitsregel ist entgegen der Meinung von Mössner kaum in der Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Gerichtshofs herangezogen worden. Insbesondere das Urteil im Oderkommission-Fall beschäftigt sich nicht mit der Ausgewogenheitsre­ gel. Soweit Mössner sich auf die Ausführung des Gerichtshofs „Nor can the Court, on the other hand, accept the Polish Government’s contention that, the text being doubtful, the solution should be adopted which imposes the least restriction on the freedom of States. This argument, though sound in itself, must be employed only with the greatest caution. To rely upon it, it is not suffi­ cient that the purely grammatical analysis of a text should not lead to definite re­ sults; there are many other methods of interpretation, in particular, reference is properly had to the principles underlying the matter to which the text refers […].“530 526  Anders jedoch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286 f.), der die Anwendung der Ausgewogenheitsregel in diversen Entscheidungen des StIGH zu erkennen meint. 527  Siehe nur die umfangreichen Nachweise, Rousseau, Principes généraux (1944), S.  723 f. 528  Zur gleichen Auffassung kommen auch Bernhardt, Auslegung (1963), S. 146; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286). In letzter Konsequenz führen auch die Ausfüh­ rungen von Vattel in diese Richtung. 529  So Kokott, States, Sovereign Equality, in: MPEPIL (April 2011), Rn. 48. Kokott weist jedoch auch darauf hin, dass im Lichte der Fragmentierung des Völker­ rechts der Reziprozitätsgedanke eine zunehmende Einschränkung erfahren würde. 530  StIGH, Case relating to the territorial jurisdiction of the International Commission of the river Oder, Series A, N° 23, S. 26.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

bezieht, ist anzumerken, dass sich diese Urteilspassage gerade auf die restrik­ tive Auslegung und nicht auf die Ausgewogenheitsregel bezieht.531 Auch die weitere angeführte Rechtsprechung vermag keinen Nachweis für die Ausge­ wogenheitsregel zu erbringen. So bezieht sich die angeführte Fundstelle aus dem Wimbledon-Fall ebenfalls auf die restriktive Auslegung;532 im Gutach­ ten zur Zuständigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation wird lediglich der Rechtssatz aufgestellt, dass für die Vertragsauslegung der Vertrag als Ganzes berücksichtigt werden müsse.533 Insgesamt bleibt der Eindruck haf­ ten, dass Mössner den bei ihm zitierten Entscheidungen abstrakte Rechtssätze zur Ausgewogenheitsregel zu entnehmen versucht, die so vom Ständigen Internationalen Gerichtshof nicht aufgestellt wurden. Indem er auf Entschei­ dungen zur restriktiven Auslegung verweist, verdeutlicht dies jedoch erneut die konzeptionelle Nähe der Ausgewogenheitsregel zu dieser Auslegungs­ methode. Lediglich die von Simma534 angeführten Beispiele vermögen im Ansatz als Nachweis für die Ausgewogenheitsregel zu dienen. Die beiden dort genannten Entscheidungen des StIGH zum Bevölkerungsaustausch der griechischen und türkischen Bevölkerung und zum Fall Diversion of Water from the Meuse betreffen beide den Reziprozitätsgedanken in Zusammen­ hang mit Auslegungsfragen, jedoch wird auch hier eher dessen Charakter als allgemeines Rechtsprinzip und nicht der eines Auslegungsgrundsatzes deut­ lich.535 531  Dies verkennt Mössner, AVR 15 (1972), 273 (287), wenn er die Ausführung „This argument, though sound in itself, must be employed only with the greatest caution“ als Mahnung für eine zurückhaltende Anwendung der Ausgewogenheitsregel ansieht. Siehe auch Linderfalk, Interpretation (2010), S. 280, der das Oderkommis­ sion-Urteil als Nachweis für die restriktive Auslegung zitiert. 532  StIGH, Case of the S.S. „Wimbledon“, Series A, S. 24. 533  StIGH, Competence of the ILO in regard to International Regulation of the Conditions of Persons employed in Agriculture, Series B, N° 2, S. 23: „In considering the question before the Court upon the language of the Treaty, it is obvious that the treaty must be read as a whole, and that its meaning is not to be determined merely upon particular phrases which, detached from the context, may be interpreted in more than one sense.“ 534  Simma, Reziprozität (1972), S. 130, dort Fn. 42. 535  StIGH, Exchange of Greek and Turkish Populations, Advisory Opinion, Se­ ries B, N° 10, S. 20: „In the present case, moreover, the obligations of the contract­ ing States are absolutely equal and reciprocal. It is therefore impossible to admit that a convention which creates obligations of this kind, construed according to its natural meaning, infringes the sovereign rights of the High Contracting Parties“; StIGH, Diversion of Water from the Meuse, Judgment, Series A/B, N° 70, S. 20. Insbesondere der Passus „construed according to its natural meaning“ in der Ent­ scheidung zum Austausch der griechischen und türkischen Bevölkerung verdeutlicht, dass der Reziprozitätsgedanke keine selbstständige Auslegungsregel begründen sollte, sondern als argumentative Untermauerung für die grammatische Auslegung dienen sollte.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen151

Als völkerrechtlich verbindliche Auslegungsregel kann die Ausgewogen­ heitsregel nach alldem nicht in Betracht kommen. Selbst wenn man sie als Auslegungsregel und nicht lediglich im Lichte der rechtlichen Gleichheit der Staaten als allgemeines Rechtsprinzip betrachtet, mangelt es für die Ausle­ gung mehrsprachiger Verträge ersichtlich an einschlägiger Staatenpraxis bzw. ausreichend Nachweisen derselben. Der Nachweis bei Rousseau stellt sich nicht mehr als eine singulär gebliebene akademische Lehrmeinung dar. b) Die Fiktion des ausgeglichenen Vertragsverhältnisses Die Anwendung der Ausgewogenheitsregel setzt bereits begrifflich ein mehr oder weniger ausgeglichenes Vertragsverhältnis voraus bzw. die Mög­ lichkeit der Herbeiführung eines solchen Zustandes.536 Diese Voraussetzung geht jedoch mit diversen Fragen und Problemen einher. So weist Mössner zu Recht darauf hin, dass sich der Anwendungsbereich dieser Regel lediglich auf solche Verträge beziehen könne, in welchen die Pflichten der Vertrags­ parteien in einem reziproken Verhältnis stehen, da nur dann eine entspre­ chende Ausbalancierung derselben erfolgen könne.537 Diese Kritik ähnelt sehr stark derjenigen von Hilf zum Anwendungsbereich der GemeinsamerNenner-Regel.538 Sie ist auch durchgreifend, da im Lichte der zunehmenden Fragmentierung des Völkerrechts mit hochspezialisierten Teilrechtsmaterien die tradierte Vorstellung eines vertraglich vereinbarten zwischenstaatlichen Do ut des nicht (mehr) zwingend die Regel in der Rechtswirklichkeit dar­ stellt.539 Die Verweise von Hilf und Mössner auf den rechtssetzenden Cha­ rakter der Gründung von internationalen Organisationen stehen nur beispiel­ haft für die Folgen des Vordringens des Multilateralismus seit der Gründung der Vereinten Nationen. Obgleich es freilich entsprechende bilaterale rezip­ roke Staatsverträge gibt, steht die zunehmende Anzahl multilateraler norm­ bildender Verträge dem Aufstellen einer verallgemeinerungsfähigen Aus­ legungsregel für mehrsprachige Verträge nach Maßgabe des Reziprozitäts­ gedankens entgegen. Ein weiterer zentraler Kritikpunkt richtet sich gegen die Essenz der Ausge­ wogenheitsregel als solcher, nämlich der Herbeiführbarkeit eines ausgegli­ auch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (286). AVR 15 (1972), 273 (286). 538  Hilf, Verträge (1973), S. 97. 539  Vgl. auch von Arnauld, Völkerrecht (2016), § 2, Rn. 59, 67, zum teilweisen Aufweichen des klassisch verstandenen Grundsatzes des Völkerrechts als reines Zwi­ schenstaatenrecht. Siehe weiterführend McLachlan, in: Nolte (Hrsg.) Subsequent Practice (2013), S. 70 ff., der davon ausgeht, dass das moderne Völkervertragsrecht durch multilaterale Verträge dominiert wird; ähnlich auch Shelton, in: Evans (Hrsg.), International Law (2014), S. 140; von Ungern-Sternberg, Jura 2010, 841 (842). 536  So

537  Mössner,

152

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

chenen Zustands der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragsparteien im Wege der Auslegung. Simma zweifelt zu Recht an, ob ein solcher Zustand durch einen Richter oder Schiedsrichter überhaupt festgestellt werden kann.540 Ein solches Gleichgewicht setzt auf normativer Ebene zunächst symmetrische vertragliche Rechte und Pflichten der Vertragsparteien voraus, die nur dann angenommen werden können, wenn sich die vertragsschließen­ den Staaten zu identischen Verhaltensformen verpflichtet haben. Problema­ tisch wird dies jedoch, wenn die gegenseitige Verpflichtung zu identischen Verhaltensformen gerade nicht feststeht, sondern im Wege subjektiver Be­ wertung von dritter Seite aus geklärt werden muss. Das Merkmal der Rezi­ prozität in einem völkerrechtlichen Vertrag lässt sich nämlich nur noch dann bejahen, wenn die Äquivalenz der vertraglichen Rechte und Pflichten fest­ steht. Simma betont in diesem Zusammenhang, dass die Äquivalenz der vertraglichen Rechte und Pflichten reeller Natur ist, womit die Feststellung der Äquivalenz bei der Verpflichtung zu nichtidentischen Verhaltensweisen nicht ergründbar ist.541 Die Schlussfolgerung von Simma, dass dies auch für die Auslegung nach Maßgabe des Reziprozitätsgedankens gelten müsse,542 verdient Zustimmung. Die Frage der Feststellung der Gleichwertigkeit der vertraglichen Rechte und Pflichten in einem Vertrag ist keine primär rechtliche Frage, sondern hat eher politischen Charakter im Sinne einer Tatsachenfrage. Nur die Vertragspar­ teien selbst werden in aller Regel wissen, ob die ausgehandelten Rechte und Pflichten der jeweiligen Vertragsparteien im Vertrag sich ausgeglichen ge­ genüberstehen.543 Der Vertragstext selbst hat hierfür kaum extrinsische Aus­ sagekraft, sodass es nur in seltenen Fällen möglich sein wird, die Reziprozität im Wege methodisch vertretbarer Auslegung zu realisieren. Diese wesentli­ che dogmatische Schwäche der Ausgewogenheitsregel spricht gegen ihre Verallgemeinerungsfähigkeit im Sinne eines abstrakten Rechtssatzes und da­ mit auch gegen ihre Verbindlichkeit im Sinne des völkerrechtlichen Rechts­ quellensystems. 6. Die Einheitsregel als bedeutsame Vermutung Die bisher dargestellten Auslegungsregeln gingen vereinfacht gesprochen entweder von einer gleichwertigen Betrachtung der verschiedensprachigen Vertragstexte oder von einem Vertragstext als Supremat aus. Während die Gemeinsamer-Nenner-Regel und die Ausgewogenheitsregel nicht ohne die 540  Simma,

Reziprozität (1972), S. 130. Ganzen siehe eingehend Simma, Reziprozität (1972), S. 114 ff. 542  Vgl. Simma, Reziprozität (1972), S. 130. 543  So auch Simma, Reziprozität (1972), S. 115 f. 541  Zum



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen153

prinzipiell gleichwertige Betrachtung der Vertragstexte auskommen, gingen die Arbeitssprachenregel und die Klarheitsregel von der Suprematstellung des relevanten Vertragstextes im Sinne dieser Regeln aus. Die hier nun dar­ gestellte sog. Einheitsregel lässt sich – wie sich zeigen wird – zwar in eine dieser beiden Kategorien einordnen, gleichzeitig eröffnet sie aber auch eine neue, eigenständige Betrachtungsweise in der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge. Die Einheitsregel stellt inhaltlich die Vermutung auf, dass die verschie­ densprachigen Vertragstexte den gleichen Sinngehalt haben.544 Begründet wird diese Vermutung auf der Annahme, dass ungeachtet der Existenz der verschiedensprachigen Vertragstexte ein homogenes Abkommen vorliegt.545 Das Aufstellen dieser Auslegungsregel verursacht jedoch unweigerlich eine Dichotomie, wie Kuner hervorhebt: Soll die Vermutung widerlegt werden oder wird sie als widerlegt angesehen, setzt dies unweigerlich einen Ver­ gleich der verschiedensprachigen Vertragstexte voraus, während die Einheits­ regel nach ihrer Konzeption einen Vergleich der Texte entbehrlich macht.546 Hieraus ergibt sich weiterführend folgende Problematik: Die Einheitsregel kann und will nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Textdivergenzen zwi­ schen den authentischen Vertragstexten tatsächlich geben kann.547 Anderer­ seits muss bedacht werden, dass die aufgestellte Vermutung sich gegen die Annahme eines Dissenses der Vertragsparteien richtet, wonach der Vertrag 544  Dölle,

RabelsZ 26 (1961), 4 (27); Mössner, AVR 15 (1972), 273 (282). in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 30; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (282); Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 8. Die hiermit zusammenhängende Frage, ob als korrekte Formulierung von „verschie­ densprachigen Vertragstexten“ oder „verschiedenen Sprachfassungen“ gesprochen werden sollte, soll an dieser Stelle noch nicht erörtert werden; hierauf wird im Rah­ men der Vorarbeiten der International Law Commission zu Art. 33 WVK eingegan­ gen. 546  Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (954). 547  Siehe jedoch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 292. Die Ansicht von Arginelli, dass es fehlerhaft sei, von einer Divergenz zwischen den authentischen Vertragstexten zu sprechen und dass es stattdessen richtiger sei, im Lichte der Einheitsregel von ei­ ner prima facie Divergenz zu sprechen, erscheint jedoch übertrieben konstruiert. Sein Verweis auf die International Law Commission hilft hier auch nicht weiter, da dort lediglich betont wird, dass selbst bei fehlender Übereinstimmung der Texte von ei­ nem völkerrechtlichen Vertrag auszugehen ist. In der Sache kreist der Einwand von Arginelli lediglich um die Thematik der Formulierung von „verschiedensprachigen Vertragstexten“ oder „verschiedenen Sprachfassungen“. Die hier vertretene Auffas­ sung wird dagegen implizit bei Shelton, Hastings Int’l & Comp. L. Rev. 20 (1997), 611 (635) sowie Tabory, Multilingualism (1980), S. 198, bestätigt. Insbesondere Shelton meint, dass die Vermutung wegen Übersetzungsfehlern häufig widerlegt werden wird, was gerade dafür spricht, dass die verschiedensprachigen Vertragstexte in tat­ sächlicher Hinsicht nicht zwingend übereinstimmen müssen, auch wenn mit der Ein­ heitsregel in rechtlicher Hinsicht Gegenteiliges vermutet wird. 545  Dörr,

154

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

als nichtig betrachtet werden müsste.548 Dies fußt auf der Überlegung, dass selbst nach dem Auslegungsprozess noch bedacht werden muss, dass die Vertragsparteien bei Vertragsschluss beabsichtigten und sich einig waren, in den verschiedensprachigen Vertragstexten das Gleiche ausgedrückt zu haben, selbst wenn nach dem Auslegungsprozess feststehen sollte, dass dies nicht der Fall war.549 Dies lässt erahnen, dass die Hürden an die Widerlegung die­ ser Vermutung nicht zu niedrig angesetzt werden dürfen. Für den Ausle­ gungsprozess selbst hat diese Vermutung erhebliche Auswirkungen. Während sich einerseits die Überlegung aufdrängt, dass der Rechtsanwender kraft dieser Vermutung berechtigt ist, auf die Richtigkeit eines Vertragstextes zu vertrauen, stellt sich andererseits die Frage, wann und in welchem Umfang ein Vergleich der verschiedensprachigen Texte wünschenswert oder gar zwingend erforderlich ist. Für die Klärung dieser Frage ist zunächst ein Blick auf die historische Rechtspraxis lohnenswert. Die hiermit zu klärende Stellung im völkerrechtli­ chen Rechtsquellensystem wird auch eine nähere Konturierung des Inhalts dieser Auslegungsregel im Hinblick auf die Reichweite der Vermutung mög­ lich machen. a) Die Einheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem Die wichtigste Rechtsquelle zur Einheitsregel findet sich in Art. 33 Abs. 3 WVK. Hiernach wird vermutet, dass die Vertragsbegriffe in den authenti­ schen Vertragstexten die gleiche Bedeutung haben. Der Einheitsregel kommt damit für Staaten, welche die Wiener Vertragsrechtskonvention ratifiziert haben, unmittelbare völkerrechtliche Relevanz i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) IGH-Statut zu. Für völkerrechtliche Verträge, die vor dem Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention geschlossen wurden, ist jedoch Art. 33 Abs. 3 WVK gem. Art. 4 WVK nicht direkt anwendbar, sodass wie auch bei der Gleichwertigkeitsregel nachgezeichnet werden soll, ob, ab wann und in welchem Umfang sich die Einheitsregel als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut manifestiert hat. aa) Die historische Entwicklung der Einheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem Zieht man einen Zusammenhang zwischen der postulierten Einheit des Vertrages und der gleichen Wertigkeit der Vertragstexte, liegt auch hier die 548  Vgl.

Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). Tax Treaties (2004), S. 394.

549  Engelen,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen155

Überlegung nahe, zunächst einen Blick auf die Staatspraxis der Vereinigten Staaten von Amerika zu richten, da diese, wie oben festgestellt, wegbereitend waren für die Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel. (1) Das Urteil des Supreme Court im Fall United States v. Percheman Die ersten Ansätze zur Einheitsregel finden sich, soweit ersichtlich, im Urteil des US Supreme Court im Fall United States v. Percheman.550 Aus diesem Urteil, welche die Auslegung von Art. 8 des Adams-Onís-Vertrags vom 22.02.1819551 zum Gegenstand hatte, ist vor allem die Passage relevant, welche auch im Zusammenhang mit der Gleichwertigkeitsregel zitiert wurde: „The treaty was drawn up in the Spanish as well in the English languages. Both are original, and were unquestionably intended by the parties to be identical.“552

Anders als bei der Gleichwertigkeitsregel, welche sich in dem Passus „[B]oth are original“ andeutete, ist es hier nun die Ausführung „[w]ere un­ questionably intended by the parties to be identical“, die die Einheit des Adams-Onís-Vertrags ungeachtet seiner Verschiedensprachigkeit betont. Un­ klar bleibt in diesem Urteil, ob der Supreme Court die Einheit im Sinn der Vertragstexte gerade als Folge der Gleichwertigkeit des englischen und spa­ nischen Texts ansah oder umgekehrt. Erkennbar ist jedoch die Andeutung, dass keine der beiden Auslegungsregeln isoliert voneinander gedacht werden kann, sondern dass sie beide miteinander verknüpft sind. Die Vorstellung, dass der spanische und der englische Text gleichrangig nebeneinanderstün­ den, würde nämlich ad absurdum geführt werden, wenn man bereits im Vorhinein annehmen würde, dass diese eine unterschiedliche Sinnbedeutung hätten. (2) D  as Urteil des Supreme Court im Fall United States v. Arredondo and others In einem weiteren, den Adams-Onís-Vertrag betreffenden Fall setzte sich der US Supreme Court ausführlicher mit der Frage auseinander, welche Fol­ gen es hätte, wenn man nicht der vermuteten Einheit im Sinn der Vertrags­ texte folgen würde. Lehrreich ist folgende Ausführung aus dem Urteil im Fall United States v. Arredondo and others: 550  US

51 ff.

Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844),

551  Treaty of Amity, Settlements, and Limits, Between the United States of Ame­ rica and his Catholic Majesty, Stat. 8 (1778–1845), 252. 552  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 (88).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

„[t]he one version neither controls nor is to be preferred by the other: each ex­ presses the meaning of the contracting parties, respectively, in their own language, as in the opinion of each, expressing and declaring the intention of both. If they are mistaken, and the words used do not and are not afterwards by the parties to con­ vey the same meaning in both languages; then, both being originals and of equal authority, we must resort to some other mode than the inspection of the treaty to give it a proper construction […]“553

Anders als in der Entscheidung United States v. Percheman drückt sich der Supreme Court noch konkreter zum einheitlichen Sinn der Vertragstexte aus. Dies zeigt sich in der Ausführung, dass die jeweiligen Vertragstexte in ihren unterschiedlichen Sprachen den Willen beider Vertragsparteien ausdrücken würden, während der Gerichtshof im Fall United States v. Percheman nur von der beabsichtigten Identität der Vertragstexte spricht, was sich als gene­ rellere Ausführung liest. Anders als im Urteil United States v. Percheman setzt sich der Supreme Court in United States v. Arredondo and others aus­ führlich mit der Problematik der fehlenden Sinneinheit der Texte auseinan­ der. Deutlich wird in diesem Zusammenhang, dass aus Sicht des Gerichtshofs die gleiche Verbindlichkeit der Texte im Sinne der Gleichwertigkeitsregel unberührt bleibt, der Duktus der Entscheidung geht damit auch in die Rich­ tung der Bekräftigung der Gleichwertigkeitsregel. Die Interpretation dieser Passage im Urteil lässt damit auch die Einschätzung zu, dass die Einheit im Sinn der Vertragstexte deren Gleichwertigkeit nachfolgt und nicht umgekehrt. Die weiteren Ausführungen des Supreme Court scheinen die Einschätzung von Mössner zum Vorliegen eines Dissenses zu stützen: „[w]hich require us to decide on the validity of the grants referred to in the eighth article […]“554

Der Supreme Court scheint hiermit für den Fall der von Anfang an begrif­ fenen fehlenden Sinneinheit im spanischen und englischen Text die Wirksam­ keit des streitgegenständlichen Art. 8 anzuzweifeln. Hierfür spricht maßgeb­ lich, dass der Gerichtshof für diesen Fall auch auf nationale Rechtsvorschrif­ ten und Rechtsprinzipien wie etwa die des Equity zurückgreifen würde.555 Die Urteile des Supreme Court im Fall United States v. Percheman und United States v. Arredondo and others stellen wertvolle historische Belege für den Nachweis der Existenz der Einheitsregel dar. Dies gilt umso mehr, als dass zum Zeitpunkt der Entscheidungen keine geschriebenen Auslegungs­ 553  US Supreme Court, United States v. Arredondo and others, U.S. Reports 31 (1832), 691 (737 f.). 554  US Supreme Court, United States v. Arredondo and others, U.S. Reports 31 (1832), 691 (738). 555  US Supreme Court, United States v. Arredondo and others, U.S. Reports 31 (1832), 691 (738).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen157

regeln für mehrsprachige Verträge vorhanden waren und auch keine einschlä­ gigen Präzedenzfälle vorlagen. Die beiden Entscheidungen stellen sich damit wie bei der Gleichwertigkeitsregel selbst als maßgebliche Präzedenzfälle dar, denen bei der Frage der Einordnung der Einheitsregel als völkergewohnheits­ rechtliche Auslegungsregel große Bedeutung zukommt. (3) Das Urteil des Court of Appeals of Alaska im Fall Busby v. State In dem Urteil im Fall Busby v. State556 hatte sich der Oberste Gerichtshof für den Bundesstaat Alaska mit Art. 24 Abs. 5 der Konvention der Vereinten Nationen über den Straßenverkehr557 auseinanderzusetzen. Dieses Urteil ist von einiger Relevanz für die Klärung der Einheitsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem abseits von Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) IGH-Statut, da die Vereinigten Staaten die Wiener Vertragsrechtskonvention nicht unterzeichnet haben.558 Der Gerichtshof konnte daher, obwohl der Fall im Jahr 2002 ent­ schieden wurde und damit zeitlich nach dem Inkrafttreten der Wiener Ver­ tragsrechtskonvention liegt, nicht (direkt) auf Art. 33 WVK zurückgreifen. Die Auslegungsschwierigkeiten in Art. 24 Abs. 5 der Konvention betrafen die doppelte Verwendung des Tatbestandsmerkmals „withdraw“ im engli­ schen Text, welche aus Sicht des Gerichtshofs einige Unklarheiten aufwarf, während der französische Vertragstext eine eindeutigere Auslegung zuließ.559 Der Gerichtshof nahm deshalb an, dass zwischen dem englischen und fran­ zösischen Vertragstext keine „direct inconsistency“ vorliege, sondern die Unklarheit sich maßgeblich auf den englischen Text beziehe.560 In diesem Zusammenhang schlussfolgerte der Gerichtshof, dass aus dem unklaren eng­ lischen Text sich möglicherweise eine fehlende Übereinstimmung zum fran­ zösischen Text ergeben kann, jedoch vermutet werden müsse, dass beide Texte die gleiche Bedeutung haben.561 Um diese Vermutungsregelung an­ 556  Court of Appeals of Alaska, Thomas Busby, Appellant, v. STATE of Alaska, Appellee, 40 P.3d 807 (2002). 557  Convention on road traffic (with annexes). Signed at Geneva, on 19 September 1949, U.N.T.S. 125 (1952), 22 ff. (No. 1671). 558  So auch der Gerichtshof selbst, 40 P.3d 807 (813 f.). 559  Siehe näher zu den linguistischen Einzelheiten in diesem Fall Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 357 ff. 560  Court of Appeals of Alaska, Thomas Busby, Appellant, v. STATE of Alaska, Appellee, 40 P.3d 807 (815). 561  In der Entscheidung des Gerichtshofs liest man: „Rather, the problem in his case stems from an ambiguity in the English text (the double use of ‚withdraw‘), an ambiguity that might arguably make the English text inconsistent with the French text. In such instances, we are to presume that the two versions of the treaty have the same meaning.“

158

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

wenden zu können, hatte der Gerichtshof im Vorfeld sich mit der Anwend­ barkeit von Art. 33 WVK auseinandergesetzt und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass diese Vorschrift als Ganzes bestehendes Völkergewohnheits­ recht kodifiziert habe.562 Die Begründung zur völkergewohnheitsrechtlichen Geltung von Art. 33 Abs. 3 WVK durch den Gerichtshof mag man dürftig finden, da die zitierte Entscheidung des Supreme Court für den Bundesstaat Washington die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der allgemeinen Ausle­ gungsregel des Art. 31 WVK betraf. Die Ansicht des Supreme Court für den Bundesstaat Alaska knüpft in der Sache jedoch an die Entscheidungen des US Supreme Court in United States v. Percheman und United States v. Arredondo an, womit jedenfalls Nachweise in der Staatenpraxis betreffend der Einheitsregel über zwei Jahrhunderte erbracht werden können. Letztendlich manifestiert sich in den besprochenen Entscheidungen gerade die für die Etablierung von Völkergewohnheitsrecht vorausgesetzte rechtliche Überzeu­ gung (opinio juris), dass bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge die Einheit im Sinn der Vertragstexte vermutet werden müsse. Methodisch gese­ hen lässt das Urteil im Fall Busby v. State zwar noch Fragen offen, insbeson­ dere wenn sich der Gerichtshof schlussendlich auf den aus seiner Sicht klaren französischen Vertragstext stützt.563 Die Ausführungen im Urteil lesen sich vielmehr so, als ob die Klarheitsregel und die Einheitsregel miteinander ver­ mischt würden. Dies gibt noch Anlass zu klären, inwieweit die Einheitsregel einen Freibrief dafür geben kann, einen Vergleich der Texte zu umgehen und notfalls ergänzend eine derjenigen Auslegungsregeln heranzuziehen, welche die Suprematstellung eines einzelnen Vertragstextes vorsehen. bb) Schlussfolgerungen für die Einordnung als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel Die Einheitsregel besteht nach der hier vertretenen Auffassung neben ihrer völkervertraglichen Kodifizierung in Art. 33 Abs. 3 WVK auch als völkerge­ wohnheitsrechtliche Auslegungsregel. Zwar erscheint es hier – anders als bei der Gleichwertigkeitsregel – schwierig, die Geltung in zeitlicher Hinsicht nachzuzeichnen. Gerade für den Nachweis historischer Staatenpraxis für die Einheitsregel stellen sich die zitierten Entscheidungen des US Supreme 562  Court of Appeals of Alaska, Thomas Busby, Appellant, v. STATE of Alaska, Appellee, 40 P.3d 807 (814), mit weiterem Verweis auf Supreme Court of Washing­ ton, State v. Pang, 940 P.2d 1293 (1997), dort Fn. 84. 563  Court of Appeals of Alaska, Thomas Busby, Appellant, v. STATE of Alaska, Appellee, 40 P.3d 807 (815). Direkt im Anschluss an die Formulierung zur vermute­ ten Sinneinheit der Vertragstexte führt der Gerichtshof aus: „This principle directs us to resolve the ambiguity in the English text in favor of the clear meaning of the French text.“



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen159

Courts – soweit ersichtlich – singulär dar, dies schmälert jedoch sachlich nicht ihren Wert für ihre Einordnung nach Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) und Buchst. d) IGH-Statut. Berücksichtigt werden muss in diesem Zusammen­ hang, dass – soweit ersichtlich – das hinter der Einheitsregel stehende Ver­ ständnis in der weiteren zwischenstaatlichen Rechtspraxis auf keinen Wider­ stand gestoßen ist.564 Dies wird auch mit der konzeptionellen Nähe der Ein­ heitsregel zur Gleichwertigkeitsregel – die als gefestigte gewohnheitsrechtli­ che Auslegungsregel eine zentrale Bedeutung einnahm – und weiteren Verbindungen mit Rechtsgrundsätzen wie der souveränen Gleichheit der Staaten zusammenhängen. Anders als etwa bei der Nachweisbarkeit der Klarheitsregel ist es hier deshalb unschädlich, dass nur eine relativ geringe Zahl an positiven Nachweisen für die Einheitsregel besteht. Das Anknüpfen des Obersten Gerichtshofs für den Bundesstaat Alaska weit über 100 Jahre nach den zitierten Entscheidungen des US Supreme Court zeigt ein historisch gewachsenes rechtliches Verständnis mehrsprachiger völkerrechtlicher Ver­ träge als eine (vermutete) Sinneinheit auf. Dies gilt in gegenwärtiger Hinsicht umso mehr vor dem Hintergrund, als dass die Vereinigten Staaten die Wiener Vertragsrechtskonvention nicht unterzeichnet haben. b) Die konzeptionelle Nähe zur Gleichwertigkeitsregel Bereits die besprochenen Entscheidungen des US Supreme Court und auch die spätere völkervertragliche Kodifizierung der Einheitsregel zeigen enge Verbindungen zur Gleichwertigkeitsregel auf. Bei den zitierten Entscheidun­ gen des US Supreme Court zeigt sich dies rein sprachlich bereits in der Tat­ sache, dass beide Auslegungsregeln im gleichen Satz umschrieben werden. In der neueren Literatur zu mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen fin­ det man zudem die Forderung, dass Art. 33 Abs. 1 WVK und Art. 33 Abs. 3 WVK im Zusammenspiel ausgelegt werden müssen.565 Damit stellt sich zu­ mindest theoretisch die Frage nach der Interdependenz der beiden genannten Auslegungsregeln und inwieweit diese in praktischer Hinsicht – gerade wenn 564  Dies zeigte sich etwa beispielhaft in einem aktuellen Fall aus der Rechtspraxis. Im Urteil des IGH im Fall Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia), I.C.J. Re­ ports 1999, 1045, § 25, wurde Art. 33 Abs. 3 WVK auf einen Vertrag aus dem Jahr 1887 angewandt; naheliegend ist hier der Einwand, dass der IGH die Vorschrift des Art. 4 WVK übersehen hatte. Gleichwohl akzeptierten die Prozessparteien diese me­ thodische Herangehensweise, siehe hierzu näher Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 175. Das Urteil selbst stellt ein weiteres starkes Indiz für das Bestehen der Einheitsregel als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungs­ regel dar (Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut), vgl. auch Gazzini, Investment Trea­ ties (2016), S. 271, dort Fn. 21. 565  So ausdrücklich Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 291, der von einer „com­ bined interpretation of Article 33(1) and 33(3) VCLT“ spricht.

160

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

man im Hinblick auf die Einheitsregel annimmt, auf die Richtigkeit eines Vertragstextes bei der Rechtsanwendung vertrauen zu dürfen – besteht. Die Forderung von Arginelli nach einer zusammenhängenden Auslegung von Art. 33 Abs. 1 und Abs. 3 WVK findet ihre Berechtigung zunächst darin, als dass das Absprechen der Gleichwertigkeit einer der authentischen Vertrags­ texte sich schon denklogisch nicht mit der postulierten Einheit des Vertrages vertragen würde. Der vermuteten inhaltlichen Übereinstimmung der ver­ schiedensprachigen Vertragstexte würde anderenfalls die Grundlage entzogen werden, wenn man einen authentischen Vertragstext als weniger verbindlich für die Auslegung ansähe als einen anderssprachigen authentischen Vertrags­ text; es käme dann nur auf den „verbindlicheren“ Vertragstext an, die vermu­ tete inhaltliche Übereinstimmung wäre nicht mehr erforderlich. Insofern kann man die Gleichwertigkeit als unabdingbare Voraussetzung für die ver­ mutete Einheit im Sinn der verschiedensprachigen Vertragstexte sehen;566 die Vermutungsregelung in Art. 33 Abs. 3 WVK speist sich gerade hieraus. In umgekehrter Richtung erscheint es jedoch zweifelhaft, ob sich die Gleich­ wertigkeit gerade an die vermutete Übereinstimmung im Sinn der verschie­ densprachigen Vertragstexte rückbinden lässt.567 Hiermit hängt maßgeblich zusammen, ob man mit der Gleichwertigkeitsregel nicht nur von der gleichen Verbindlichkeit der Texte ausgeht, sondern auch von einer Verpflichtung zur paritätischen Würdigung dieser bei der Auslegung. Entscheidend für die Be­ antwortung dieser Frage ist, ob man mit der Einheitsregel stets die Berechti­ gung anerkennt, auf die Richtigkeit nur eines authentischen Vertragstextes vertrauen zu dürfen oder ob stets ein Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte notwendig ist. c) Auswirkungen der Einheitsregel auf den Auslegungsprozess Die der Einheitsregel innewohnende Vermutung, dass die verschiedenspra­ chigen Vertragstexte inhaltlich übereinstimmen, hat sowohl theoretisch, aber im Besonderen in der Praxis erhebliche Auswirkungen. Gerade für Letzteres wurde in der Literatur fast schon lapidar angemerkt, dass diese Regel den Auslegungsprozess in praktischer Hinsicht vereinfacht und unnötige Kompli­ kationen vermeiden würde.568 Insbesondere die Annahme von Germer könnte 566  Vgl. auch Tabory, Multilingualism (1980), S. 199: „In conclusion, it is submit­ ted that if all authentic language versions of treaties were truly equal, any one text would convey the intended meaning.“ Vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 11.02.1992 – 8 B 536/92 – juris, Rn. 28. 567  Siehe auch näher Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). 568  Siehe nur Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (412): „[…] a presumption of this kind has often allowed avoidance of needless complications of the interpreta­ tion process.“; ähnlich auch Tabory, Multilingualism (1980), S. 199.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen161

sich jedoch auch als Trugschluss erweisen: Man mag durchaus hinterfragen, inwiefern die rechtspraktisch empfundenen Vorteile der Vermutungsregelung die Nachteile und Unklarheiten überwiegen, wenn in tatsächlicher Hinsicht eine Textdivergenz zwischen den authentischen Vertragstexten besteht und diese vom Rechtsanwender erahnt oder sogar entdeckt wurde. Trennscharfe Grenzen, wann man die Vermutung als widerlegt ansehen kann und wann nicht, werden sich nicht leicht ziehen lassen. Es kann damit nicht weiter verwundern, dass es auch im Lichte der Einheitsregel umstritten war, inwie­ weit der Rechtsanwender auf die Richtigkeit nur eines authentischen Ver­ tragstextes vertrauen darf oder er bereits im Ausgangspunkt die verschie­ densprachigen Texte miteinander vergleichen muss.569 aa) Die Berechtigung des Verlassens auf einen authentischen Vertragstext In der völkerrechtlichen Literatur zu mehrsprachigen Verträgen wird über­ wiegend die Auffassung vertreten, dass es die Einheitsregel dem Rechtsan­ wender erlaubt, im Ausgangspunkt auf die Richtigkeit nur eines authenti­ schen Vertragstextes vertrauen zu dürfen,570 es wird also gerade nicht gefor­ dert, zu Beginn des Auslegungsprozesses die authentischen Vertragstexte im Hinblick auf (mögliche) Textdivergenzen zu vergleichen. Nicht verwechselt werden sollte diese Ansicht mit der sog. Landessprachenregel, wonach jede Vertragspartei stets nur an den verkehrssprachlichen Text gebunden sei.571 Diese unterscheidet sich von der Einheitsregel gerade dadurch, dass die Lan­ dessprache gerade nicht zwingend ein authentischer Vertragstext sein muss; die Einheitsregel bezieht sich jedoch nur auf die inhaltliche Übereinstim­ mung zwischen den authentischen Vertragstexten. Die aus der Einheitsregel abgeleitete Berechtigung, nur einen Vertragstext heranzuziehen, spiegelt sich maßgeblich in einem rechtspraktischen Verständnis dieser Regel wider. So weist Tabory etwa darauf hin, dass der Hintergrund von Art. 33 Abs. 3 WVK sich in der Tatsache widerspiegle, dass ein Rechtsanwender regelmäßig nicht mehrere Fremdsprachen beherrscht.572 Man wird jedoch konstatieren müs­ auch Hilf, Verträge (1973), S. 74. etwa Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 290 ff.; Condon, JIDS 1 (2010), 191 (196 f.); Engelen, Tax Treaties (2004), S. 391 ff.; Gardiner, Interpretation (2015), S. 421; Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (412); Hilf, Verträge (1973), S. 74; Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (954); Tabory, Multilingualism (1980), S. 198. 571  So wirken die Ausführungen bei Tabory, Multilingualism (1980), S. 197 und der Verweis auf Hardy, BYIL 37 (1962), 72 (117) zumindest missverständlich, da sich Hardy an der von Tabory zitierten Fundstelle ausdrücklich zur Landessprachen­ regel äußert, während Tabory zur Einheitsregel schrieb. Zur Landessprachenregel siehe unten unter B. II. 5. 572  Tabory, Multilingualism (1980), S. 199. 569  So 570  So

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

sen, dass dies keine rechtsdogmatische Argumentation ist, die gegen einen sprachlichen Vergleich der verschiedensprachigen Texte von Anfang an spricht. Den Vertretern dieser Argumentation wird man zwar dahingehend zustimmen müssen, dass der Wortlaut von Art. 33 WVK keine ausdrückliche Verpflichtung des Rechtsanwenders zum Vergleich der Vertragstexte ent­ hält.573 Nichtsdestotrotz wirft das Verständnis, bis zum Entdecken einer Textdivergenz auf die inhaltliche Richtigkeit eines authentischen Vertragstex­ tes vertrauen zu dürfen, gleich mehrere dogmatische Zweifel auf. Der offen­ sichtlichste Einwand ist, dass nur ein Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte überhaupt zur Entdeckung einer Textdivergenz führen kann, womit der Argumentation, die Vermutung in Art. 33 Abs. 3 WVK erlaube das Heranziehen nur eines authentischen Vertragstextes, bis eine Textdivergenz entdeckt sei, die Grundlage entzogen ist.574 Als Paradebeispiel aus der histo­ rischen Rechtspraxis hierzu dient die Rechtsprechung des US Supreme Court zum Adams-Onís-Vertrag: Der Gerichtshof gab im Fall United States v. Percheman ganz offen zu, dass er in einem früheren Fall (Foster v. Neilson575) die Textdivergenz in Art. 8 des Vertrages übersehen habe576 – dies lag nur am fehlenden Vergleich des englischen und spanischen Textes.577 Ein weiterer gewichtiger Einwand lässt sich zudem aus der grundsätzlichen Kritik von Bernhardt gegen die Einheitsregel anführen: Die empfundene Berechtigung, kraft der Einheitsregel auf die Richtigkeit eines authentischen Vertragstextes vertrauen zu dürfen, geht stets mit der Gefahr einher, dass der Rechtsanwen­ der diesen – wenn auch möglicherweise nicht bewusst – in eine Supre­ matstellung hebt, etwa weil er diesen Text als klarer und eindeutiger empfin­ det.578 Dies würde jedoch dem zentralen Grundsatz der Gleichwertigkeit der authentischen Texte widersprechen, da der empfundene klarere Text als ver­ bindlicher angesehen wird als der (vermeintlich) unklarere. Praktisch belegt wird die Einschätzung von Bernhardt durch das oben besprochene Urteil des Court of Appeals of Alaska im Fall Busby v. State, in welchem sich der Ge­ richtshof unter Berufung auf die Einheitsregel schlussendlich dem aus seiner 573  Etwa Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 291; Tabory, Multilingualism (1980), S. 198. 574  Vgl. Mössner, AVR 15 (1972), 273 (301). 575  US Supreme Court, James Foster and Pleasants Elam, Plaintiffs in Error v. David Neilson, Defendants in Error, U.S. Reports 27 (1829), 253 ff. 576  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844), 51 (52). 577  Siehe auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 308. 578  Vgl. Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), 491 (505): „First, it creates the presumption that the words in all versions have the same meaning. This […] effectively fixes the precedence of the version which uses unequivocal expressions, so far as its meaning is included in the unclear provisions of the other texts.“



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen163

Sicht klareren französischen Vertragstext zuwandte.579 Diese vorgetragenen Kritikpunkte führten zwangsläufig zu der Forderung, dass von Anfang an bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge die verschiedensprachigen Vertrags­ texte miteinander verglichen werden müssten. bb) Die Notwendigkeit des sprachlichen Vergleichs der Vertragstexte Die Forderung, dass bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge zunächst die verschiedensprachigen Vertragstexte verglichen werden sollten, kam besonders deutlich während der Ausarbeitung der Wiener Ver­ tragsrechtskonvention durch die International Law Commission auf.580 Diese Forderung war jedoch, wie sich noch zeigen wird, kein Novum. Der israeli­ sche Diplomat Rosenne bezog gegenüber der International Law Commission wie folgt Position: „A good practitioner would almost automatically compare the different language versions before commencing any process of interpretation. In view of that practice, which was familiar to all members of the Commission, it would be misleading to place the comparison of different language texts in a secondary position […].“581

Rosenne bekräftigte seine Ansicht des Weiteren darin, dass jeder Anreiz zu vermeiden sei, sich bei der Auslegung lediglich auf einen authentischen Vertragstext zu verlassen.582 Man mag darüber streiten, inwiefern man nach Rosenne entsprechende Fremdsprachenkenntnisse als Qualifikation ansehen kann, die einen guten Juristen auszeichnet. Nimmt man diese Ausführung von Rosenne in seiner Abstraktheit wörtlich, geht hier naturgemäß eine enorme Erwartung an den Rechtsanwender einher, die realistisch kaum er­ füllt werden kann.583 Naheliegender ist deshalb, die Äußerung von Rosenne so zu deuten, auf die grundsätzliche und unbedingte Bereitschaft des Rechtsanwenders abzustellen, auch anderssprachige Vertragstexte verglei­ chend heranzuziehen. Es geht damit darum, sich der Existenz der anderen, 579  Court of Appeals of Alaska, Thomas Busby, Appellant, v. STATE of Alaska, Appellee, 40 P.3d 807 (815). 580  Diese Forderung gibt es jedoch auch im völkerrechtlichen Schrifttum, etwa Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 133. 581  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part II, 209. 582  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part II, 209: „[t]o discourage any tendency to base the interpretation of a treaty on a single language version only […].“ 583  Eine besondere Dimension dürfte diese Erwartung insbesondere bei multilate­ ralen Verträgen mit fünf oder mehr Vertragssprachen bekommen. Niemand würde vermutlich von einem Rechtsanwender erwarten, dass er in solchen Fällen neben ihm geläufigen Sprachen (möglicherweise Englisch und Französisch) auch die weiteren Vertragssprachen (z. B. Arabisch oder Chinesisch) zum Vergleich heranzieht.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

verschiedensprachigen authentischen Vertragstexte nicht zu verschließen. Hierin spiegelt sich letztendlich die Sorge von Rosenne wider, dass die Einheitsregel Anreize für den Rechtsanwender schaffen könnte, die Gleich­ wertigkeit der Vertragstexte auszuhöhlen – diese Kritik erinnert auch an die von Bernhardt vorgetragenen Bedenken. Der von Rosenne bezeichnete vorgelagerte Vergleich der Vertragstexte muss auch seinerseits nicht zu ei­ ner Aufweichung der vermuteten inhaltlichen Übereinstimmungen führen. Es ist kein Misstrauen des Rechtsanwenders gegenüber den vertragschlie­ ßenden Parteien, wenn er vorsorglich die verschiedensprachigen Texte zum Vergleich heranzieht. Die Vertragsparteien werden sich vielmehr bestätigt fühlen, wenn auch „ihr“ – ggf. sogar verkehrssprachlicher – Text im Aus­ gangspunkt der Auslegung berücksichtigt wird. Die Konzeption der Aus­ legungsregel wird hiermit im Idealfall tatsächlich bestätigt, wenn der Rechtsanwender keine Bedeutungsunterschiede zwischen den Vertragstexten auffindet.584 Wenn Unstimmigkeiten zwischen den Texten entdeckt werden, kann sich der Rechtsanwender immer noch auf die Vermutungsregelung zurückziehen, dass eine inhaltliche Übereinstimmung vorliegt. Im Zweifel wird es dann auf die Schwere der Textdivergenz ankommen, ob die Vermu­ tungsregelung als widerlegt angesehen werden muss oder nicht. All dies kann jedoch nur durch einen der eigentlichen Auslegung vorgelagerten Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte, wie Rosenne ihn fordert, realisiert werden. Bezieht man die historische Rechtspraxis zur Einheitsregel mit in diese Diskussion ein, zeigt sich eine Tendenz zur dogmatischen Überlegenheit der Ansicht von Rosenne. Es ist erneut die Rechtsprechung des US Supreme Court zur Auslegung von Art. 8 des Adams-Onís-Vertrags, welche andeutet, dass auch die vermutete inhaltliche Übereinstimmung den Rechtsanwender nicht vom Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte entbindet. Der Gerichtshof geht in United States v. Percheman darauf ein, dass der engli­ sche und spanische Text des Adams-Onís-Vertrags unzweifelhaft nach Ab­ sicht der Vertragsparteien identisch waren,585 führte jedoch sinngemäß auch aus, dass die paritätische Berücksichtigung des englischen und spanischen Texts erforderlich sei.586 Noch deutlicher verhält sich das Urteil in United 584  Für einen Textvergleich im Lichte der Einheitsregel plädiert insbesondere auch Fattal, Multilinguisme (1994), S. 231 ff.; vgl. weiter auch Gächter-Alge, Mehrspra­ chigkeit (2011), S. 267; Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (963); Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 128. 585  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 (88): „[w]ere unquestionably intended by the parties to be identical.“ 586  So liest man auch im Urteil: „No violence is done to the treaty by a construc­ tion which conforms the English and Spanish to each other.“ (U.S. Reports 32 [1833], 51 [89]).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen165

States v. Arredondo, hier forderte der Gerichtshof ausdrücklich eine Würdi­ gung beider Texte, ungeachtet der Tatsache, dass diese den Willen beider Vertragsparteien abbildeten.587 Mit der Rechtsprechung des US Supreme Court liegt damit ein historischer Beleg vor, dass die Einheitsregel von ei­ nem Vergleich der Texte dogmatisch gesehen nicht entbindet und das reine Verlassen auf einen authentischen Vertragstext die Gleichwertigkeit der Ver­ tragstexte untergraben kann. cc) Die Möglichkeit des Auseinanderdriftens des Sinns der Vertragstexte Ein bisher weitgehend vernachlässigter Aspekt im Rahmen der Darstellung der Einheitsregel ist die nicht völlig unwahrscheinliche Tatsache, dass sich die Bedeutung von Vertragsbegriffen in den verschiedenen Sprachen ausein­ anderentwickeln kann. Dies erscheint schon deshalb möglich, als dass Sprachbedeutungen nicht etwas Statisches sind, sondern im Laufe der Zeit einem Wandel unterliegen können.588 Es ist damit durchaus verwunderlich, dass auf dieses Problem lediglich von Kuner589 hingewiesen wurde unter Heranziehung des vom Bundesbezirksgericht New York entschiedenen Falles Matter of Extradition of Rabelbauer590. Strittig war in diesem Fall die Aus­ legung von Art. II Nr. 14 des Auslieferungsvertrags zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Österreich vom 11.01.1930;591 in den United States Statutes at Large sind ein parallel laufender englischer und deutscher Text dokumentiert. Rabelbauer stützte seinen Habeas-Corpus-Antrag darauf, dass keine auslieferungsfähige Straftat nach Art. II Nr. 14 des Auslieferungsver­ trags vorliege, und bezog sich hier auf den deutschen Vertragstext:

587  US Supreme Court, United States v. Arredondo and others, U.S. Reports 31 (1832), 691 (737). 588  In diesem Zusammenhang sei erneut auf folgende, eingangs in der Arbeit zi­ tierte Ausführung von Hardy, L’Interprétation (1960), S. 23, hingewiesen: „Les mots n’ont pas de signification intrinsèque: leur sens est celui qu’on leur donne dans tel milieu à telle époque; de plus, chaque langue possède son genie propre, qui influe sur le choix des mots et sur l’ordonnance de la phrase.“ 589  Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (957). 590  U.S. District Court for the Southern District of New York, Matter of Extradition of Rabelbauer, 638 F.Supp.1085 (S.D.N.Y. 1986). 591  Treaty and exchange of notes between the United States of America and Aust­ ria concerning extradition and commutation of death penalty, Stat. 46 (1929–1931), 2779 ff.

166

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Persons shall be delivered up according to the provisions of the present treaty, who shall have been charged with or convicted of any by the followings offenses:

Nach den Bestimmungen des Vertrages sollen jene Personen ausgeliefert werden, die einer der nachstehenden strafbaren Handlungen beschuldigt werden oder überführt sind:

[…] Embezzlement or criminal malversation committed within the jurisdiction of one or the other party by public officers or depositaries, where the amount embezzled one hundred dollars or the Austrian equivalent.

[…] Veruntreuung oder verbrecherische Unterschlagung, die innerhalb der Gerichtsbarkeit des einen oder anderen Teiles von öffentlichen Beamten oder Verwahrern verübt werden, wenn der veruntreute Betrag 100 Dollar oder den österreichischen Gegenwert übersteigt;

Das Tatbestandsmerkmal der „Unterschlagung“ im deutschen Text habe eine deutlich engere Bedeutung als das englische „malversation“ und bezog sich hierbei auf die Entwicklungen im österreichischen Strafrecht; seine ihm zur Last gelegten Anschuldigungen seien damit nicht vom Auslieferungsver­ trag erfasst.592 Das Gericht wies die von Rabelbauer vorgebrachten Einwände zurück. Die Begründungsstränge des Gerichts vermögen jedoch kaum zu überzeugen. So ist es schwer nachvollziehbar, dass das Gericht die Einlas­ sung des Strafverteidigers von Rabelbauer zur Bedeutung der Unterschlagung im österreichischen Recht als nicht glaubhaft erachtet, an späterer Stelle je­ doch konzediert, es gebe wenig Zweifel an einem gewissen Wandel der Be­ griffsbedeutung.593 Dürftig wirkt zudem die pauschal gehaltene Behauptung, dass eine mögliche Bedeutungsänderung des Begriffes „Unterschlagung“ ir­ relevant sei, da im Zeitpunkt des Vertragsschlusses davon ausgegangen wer­ den könne, dass sich die Vertragsparteien über die Übereinstimmung der Begriffe „malversation“ und „Unterschlagung“ einig gewesen seien.594 Wäh­ rend einerseits hinterfragt werden muss, worin der argumentative Mehrwert besteht, pauschal die Irrelevanz dieses Vorbringens zu behaupten, hätte es gerade Anlass gegeben, eingehend zu erörtern, auf welchen Zeitpunkt aus welchen Gründen es bei der Auslegung des streitgegenständlichen Vertrags­ begriffes ankommt: das Verständnis von „Unterschlagung“ aus dem Jahr 1930 oder dem Jahr 1986 – also dem Zeitpunkt der Entscheidung durch das erkennende Gericht. Man mag die Entscheidung so deuten, dass das Gericht einige Anstrengungen unternahm, die Einheit des Vertrages durch die histori­ sche Auslegung des Begriffs „Unterschlagung“ um jeden Preis zu halten. Es erscheint allerdings in hohem Maße bedenkenswert, dass sich das Gericht auch Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (957). Court for the Southern District of New York, Matter of Extradition of Rabelbauer, 638 F.Supp.1085 (1088): „There is little doubt that the word has undergone some evolution in Austria […].“ 594  U.S. District Court for the Southern District of New York, Matter of Extradition of Rabelbauer, 638 F.Supp.1085 (1088). 592  Siehe

593  U.S. District



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen167

den Implikationen einer möglichen Bedeutungsänderung eines Vertragsbe­ griffes bewusst verschließt, gerade wenn – wie auch hier – subjektive Rechte wie das Recht auf Freiheit tangiert sind. Wenn das Gericht im Zeitpunkt der Entscheidung für möglich hielt, dass sich das Begriffsverständnis von „Un­ terschlagung“ gewandelt hatte, hätte es näherer Darlegungen bedurft, ob überhaupt eine auslieferungsfähige Straftat vorliegt – auch im Hinblick auf den im Auslieferungsrecht geltenden Grundsatz der beiderseitigen Strafbar­ keit595 – und wie dann der etwaige Bedeutungsunterschied zwischen engli­ schem und deutschem Vertragstext aufzulösen wäre. Da sich die Entschei­ dung zu dieser Thematik nicht verhält, vermag sie nicht zu überzeugen. Nach der hier vertretenen Auffassung sind ein Wandel in der Bedeutung eines Vertragsbegriffes samt seiner Implikationen für die Auslegung mehrsprachi­ ger Verträge vielmehr stets in Erwägung zu ziehen, auch im Lichte der Ein­ heitsregel.596 Gegebenenfalls wird dann die Vermutung in der Einheitsregel als widerlegt angesehen werden müssen. 7. Die Kontextregel – Der Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte als völkergewohnheitsrechtliche Pflicht des Rechtsanwenders? Im völkerrechtlichen Schrifttum zu mehrsprachigen Verträgen wird als weitere Auslegungsregel die sog. Kontextregel angeführt, welche im Vorfeld des Auslegungsprozesses jeweils die Sprachbedeutungen der verschiedenen Vertragstexte in den Fokus nehmen will.597 Im Ansatz erinnert diese Ausle­ gungsregel damit sehr stark an die ablehnende Haltung von Rosenne gegen­ über der Einheitsregel. Prima facie mutet die Kontextregel als Gegenkonzept zur Einheitsregel an, die gerade nicht die Einheit des Vertrages betont. Da die Einheitsregel völkervertraglich in Art. 33 Abs. 3 WVK kodifiziert ist und auch völkergewohnheitsrechtliche Geltung hat, stellt sich weiterführend die 595  Umfassend zu dem Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit im Völkerrecht als Zulässigkeitskriterium von Auslieferungen siehe Conrad, Rechtshilfe (2013), S.  88 ff. 596  Die pauschale gegenteilige Aussage von Berber, Völkerrecht (1975), S. 478, dass der Text der Verträge stets in dem Sinn auszulegen sei, den er im Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrages hatte, ist nicht überzeugend. Berber begründet seine Auf­ fassung nicht näher sondern bezieht sich lediglich auf IGH, Case Concerning the rights of nationals of the United States of America in Morocco (France v. United States of America), I.C.J. Reports 1952, 176; aus der von Berber Bezug genommenen Stelle im Urteil lässt sich ein solcher abstrakter Rechtssatz indes gerade nicht ablei­ ten, die vom IGH vorgenommene Auslegung würdigte vielmehr die Besonderheiten des konkreten Falles. 597  Der Begriff der „Kontextregel“ ist maßgeblich durch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283) geprägt. Dieser Begriff wird im Folgenden zunächst weiterverwendet.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Frage, inwieweit es eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht des Rechtsan­ wenders gibt, bereits als Ansatzpunkt in der Auslegung – und damit quasi prophylaktisch – die verschiedensprachigen Vertragstexte zu vergleichen. Die Bejahung einer solchen Pflicht würde über die oben dargestellte Forderung von Rosenne hinausgehen. Aufschluss zur Beantwortung dieser Frage kann auch hier nur die Nachweisbarkeit in der internationalen Rechtspraxis geben, da es eine völkervertragliche Pflicht i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) IGHStatut zum prophylaktischen Vergleich der verschiedensprachigen Vertrags­ texte nicht gibt. a) Die Kontextregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem aa) Der Begriff des Kontextes in der Wiener Vertragsrechtskonvention Auf völkervertraglicher Ebene findet sich der Begriff des Kontextes in der allgemeinen Auslegungsregel des Art. 31 WVK. Nach Art. 31 Abs. 1 WVK ist Vertragsbegriffen diejenige Bedeutung zugrundezulegen, welche diese in ihrem jeweiligen Kontext haben. Art. 31 Abs. 2 WVK konkretisiert den Be­ griff des Kontextes näher. Hiernach umfasst der Kontext u. a. auch die Prä­ ambel, Vertragsannexe sowie nach Buchst. a) und b) in Bezug auf den Ver­ tragsschluss geschlossene parteiliche Vereinbarungen. Die Formulierung „in addition to the text“ in Art. 31 Abs. 2 WVK lässt deshalb bereits erkennen, dass der Begriff des Kontextes unterschiedlich verstanden wird, obgleich Art. 31 WVK als allgemeine Auslegungsvorschrift („General Rule of Inter­ pretation“) verstanden wird.598 Art. 31 Abs. 3 WVK greift den Begriff des Kontextes erneut auf. Da Art. 31 Abs. 3 Buchst. a) – c) WVK auf vom ge­ schlossenen Vertrag losgelöste Ereignisse Bezug nimmt, wird in diesem Zu­ sammenhang – im Gegensatz zu Art. 31 Abs. 2 WVK – auch vom „externen Kontext“ gesprochen.599 Die engste Verbindung zum gerade für die Thematik der Mehrsprachigkeit relevanten sprachlichen Kontext zeigt sich unter den verschiedenen Kontextbegriffen in Art. 31 WVK in dessen Absatz 1, da es hier gerade um die gewöhnliche Bedeutung eines Vertragsbegriffes geht. Systematisch scheint der Kontext i. S. v. Art. 31 Abs. 1 WVK von der Thema­ tik der Mehrsprachigkeit völkerrechtlicher Verträge entkoppelt, da er gerade nicht in die besondere Auslegungsvorschrift des Art. 33 WVK aufgenommen wurde. Inwieweit der Kontext im System der Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention dennoch als eigene Auslegungsregel für 598  Siehe hierzu näher Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 31, Rn. 38. 599  Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art.  31, Rn. 42.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen169

mehrsprachige Verträge begriffen werden kann, hängt maßgeblich mit der Interdependenz von Art. 31 und 33 WVK zusammen.600 Zunächst sollen je­ doch die historische Rechtspraxis der Kontextregel in Bezug auf mehrspra­ chige völkerrechtliche Verträge und ihre Implikationen für die Einordnung dieser Auslegungsregel im völkerrechtlichen Rechtsquellensystem untersucht werden. bb) Die Kontextregel als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge Nach Mössner gibt es für den Nachweis der Kontextregel kaum Belege in der internationalen Rechtsprechung.601 Erweist sich diese Behauptung als zutreffend, würde dies erheblich gegen die Nachweisbarkeit als völkerge­ wohnheitsrechtliche Auslegungsregel sprechen. Hierbei muss jedoch bedacht werden, dass diese Annahme auf dem Stand der Rechtsprechung von 1972 beruht, sodass zumindest in zeitlicher Hinsicht eine Überprüfung dieser Be­ hauptung angezeigt ist. Da einschlägige Entscheidungen perspektivistisch von den jeweiligen Vertragssprachen ausgehen bei der Auslegung, gleichen diese häufig eher einer linguistischen Analyse im Sinne der allgemeinen Hermeneutik als einem juristischen Beitrag.602 Dies erleichtert die Nachweis­ barkeit der Kontextregel etwas, da solche Entscheidungen aufwendiger be­ gründet sind und so aus der Masse von Gerichtsurteilen herausstechen, die nicht durch derartige Anstrengungen charakterisiert sind, d. h. gerade nicht auf mögliche semantische Unterschiede in den verschiedensprachigen Ver­ tragstexten eingehen. (1) Ältere Rechtsprechung Mössner nennt als Nachweis für die Kontextregel das Gutachten des Stän­ digen Internationalen Gerichtshofs zur Zuständigkeit der Internationalen Ar­ beitsorganisation603 sowie zwei Beispiele aus der Schiedsgerichtsbarkeit.604 Das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs zur Zuständigkeit der Internationalen Arbeitsorganisation ist in mehrfacher Hinsicht lehrreich für die nähere methodische Konturierung und das Verständnis der Kontextre­ 600  Hierauf wird im Rahmen von Auslegungsfragen zu Art. 33 Abs. 4 WVK im 3. Teil dieser Arbeit näher eingegangen. 601  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). 602  Vgl. Mössner, AVR 15 (1972), 273 (284). 603  StIGH, Competence of the ILO in regard to International Regulation of the Conditions of the Labour of Persons Employed in Agriculture, Series B, N° 2. 604  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283), dort Fn. 53.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

gel. Die auf das Gutachten bezogene Fragestellung, inwieweit eine Zustän­ digkeit der Internationalen Arbeitsorganisation für Beschäftigte in der Land­ wirtschaft bestand, hing maßgeblich mit der Auslegung der Vertragsbegriffe „industrie“ und „industriel“ bzw. „industry“ und „industrial“ zusammen, die in mehreren der in Teil XIII des Versailler Friedensvertrags enthaltenen Vor­ schriften (so etwa Art. 396, 427) zur Internationalen Arbeitsorganisation vorkommen.605 Zur Ermittlung der Wortbedeutungen von „industrie“ und „industry“ griff der Gerichtshof sogar auf Wörterbücher zurück, um anschlie­ ßend zu dem Ergebnis zu kommen, dass sich die beiden Begriffe nicht we­ sentlich voneinander unterscheiden und die Landwirtschaft miteinschließen würden. Schlussendlich führte der Gerichtshof aus, dass die Verwendung dieser Begriffe in ihrem jeweiligen Kontext der „finale Test“ sei.606 Die Aus­ führungen des StIGH zum Kontext erscheinen zwar doppeldeutig – so scheint der Gerichtshof unter dem Kontext u. a. auch die systematische Stellung ei­ nes Vertragsbegriffes im Vertragstext zu verstehen –, es wird jedoch hinrei­ chend deutlich, dass die jeweilige Ermittlung des Sprachsinns eines Vertrags­ begriffes in den verschiedensprachigen Vertragstexten für die Auslegung mehrsprachiger Verträge essentiell ist.607 Eine eher allgemein gehaltene Aussage zur Berücksichtigung des Kontex­ tes bei der Vertragsauslegung findet sich im Gutachten des StIGH in Polish Postal Service in Danzig. Im Gutachten liest man u. a.: „It is a cardinal principle of interpretation that words must be interpreted in the sense which they would normally have in their context […].“608

Anders als im Gutachten zur Zuständigkeit der Internationalen Arbeitsor­ ganisation musste sich der Gerichtshof nicht mit den Bedeutungen verschie­ densprachiger Vertragsbegriffe auseinandersetzen. Vergleicht man die zitierte Passage mit dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 WVK, erkennt man deutliche Parallelen. Damit kommt aus historischer Perspektive die Überlegung in­ frage, dass die Berücksichtigung des Kontextes bei der Auslegung mehrspra­ chiger völkerrechtlicher Verträge lediglich eine Erweiterung einer allgemei­ nen, weithin akzeptierten Auslegungsregel wäre, die vom Ständigen Interna­ näher zum Fall Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (92 f.). Ganzen siehe StIGH, Competence of the ILO in regard to International Regulation of the Conditions of the Labour of Persons Employed in Agriculture, Se­ ries B, N° 2, S. 33 ff. Hinsichtlich des Kontextes führt der Gerichtshof aus: „But the context is the final test, and in the present instance the Court must consider the posi­ tion in which these words are found and the sense in which they are employed in Part XIII of the Treaty of Versailles.“ 607  Dies ergibt sich aus der Formulierung „[a]nd the sense in which they are em­ ployed“ (Hervorhebung durch Verf.). 608  StIGH, Polish Postal Service in Danzig, Advisory Opinion of May 15th, 1925, Series B, N° 11, S. 39. 605  Siehe 606  Zum



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen171

tionalen Gerichtshof als „[c]ardinal principle of interpretation“ bezeichnet wurde. Diese Überlegung würde auch die Ausführung von Mössner zu einem doppelten Kontext bei mehrsprachigen Verträgen erklären.609 (2) Die Kontextregel in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs Die Kontextregel wurde in der Rechtsprechung des Internationalen Ge­ richtshofs wiederholt herangezogen. Die nachfolgend dargestellten Entschei­ dungen unterscheiden sich teilweise hinsichtlich der methodischen Konturie­ rung der Kontextregel; wie sich zeigen wird, wandte der Gerichtshof die Kontextregel, so wie sie etwa von Mössner in Bezug auf mehrsprachige völkerrechtliche Verträge verstanden wird, (sinngemäß) an, an anderer Stelle bleibt jedoch trotz expliziter Nennung des Begriffes „Kontext“ im Rahmen der Vertragsauslegung dessen Bedeutung nicht klar. (a) Das Urteil im Fall Elettronica Sicula Aufschlussreiche Ausführungen zum Verhältnis der Kontextregel zur Ein­ heitsregel enthält das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall Elettronica Sicula.610 Der Fall betraf u. a. die Auslegung von Art. VII Nr. 1 des Vertrages und Nr. 1 des Zusatzprotokolls zum Amerikanisch-Italienischen Freundschaftsvertrag von 1948.611 Die italienische Regierung argumentierte, dass der Vertragsbegriff „diritti reali“ nach seinem Wortsinn enger auszule­ gen sei als das englische Pendant „interests“ und daher die fragliche Ver­ tragsbestimmung insgesamt restriktiv auszulegen sei.612 Der Gerichtshof führte dagegen zu der behaupteten fehlenden Übereinstimmung der beiden verschiedensprachigen Vertragsbegriffe Folgendes aus: „The argument turned to a considerable extent on difference in meaning between the English, ‚interests‘ and the Italian ‚diritti reali‘. ‚Interests‘ in English has no doubt several possible meanings. But since it is in English usage a term commonly 609  Vgl. Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). Die Rede vom doppelten Kontext ergibt freilich nur bei bilateralen Verträgen mit zwei Vertragssprachen Sinn; für mul­ tilaterale Verträge mit mehr Vertragssprachen bedürfte dieses gedankliche Konstrukt einer entsprechenden Erweiterung. 610  IGH, Elettronica Sicula S.p.A (ELSI) (United States of America v. Italy), Judg­ ment, I.C.J. Reports 1989, 15. 611  Treaty of Friendship, Commerce and Navigation between the United States of America and the Italian Republic (with protocol, additional protocol and exchange of notes), signed at Rome, on 2 February 1948, U.N.T.S. 79 (1951), 171 ff. (No. 1040). 612  Vgl. die konzise Darstellung des Falles bei Eden, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 174.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

used to denote different kinds of rights in land (for example such rights as charges, or easements, and many kinds of ‚future interests‘), it is possible to interpret the English and Italian versions of Article VII as meaning much the same thing […].“613

Die Bestimmung und Berücksichtigung des für die Auslegung maßgebli­ chen Kontextes erfolgt in dieser Ausführung des Gerichtshofs nur sinngemäß. Auf den Kontext wird jedoch insofern in der Sache Bezug genommen, als dass auf die verschiedenen möglichen Wortbedeutungen des englischen Be­ griffs „interests“ hingewiesen wird. Je nachdem welche Wortbedeutung an­ genommen wird, kann man zu einer Übereinstimmung des englischen und italienischen Vertragstextes kommen oder auch nicht. Die Lösung des Ge­ richtshofs ist in diesem Zusammenhang gleichermaßen naheliegend wie pragmatisch: die Ermittlung des fraglichen sprachlichen Kontextes des engli­ schen Begriffs „interests“ mithilfe des italienischen Vertragstextes. Nur so konnte der Gerichtshof die aus seiner Sicht bestehende Übereinstimmung des englischen und italienischen Vertragstextes feststellen. Diese methodische Vorgehensweise zeigt erneut auf, dass die Einheitsregel trotz der Vermutung der bestehenden Übereinstimmung schwer ohne einen sprachlichen Bedeu­ tungsvergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte auskommen kann. Gleichzeitig kann die Einheitsregel jedoch eine wertvolle Orientierung er­ möglichen: Ergibt zunächst die vorgelagerte, jeweils isolierte Ermittlung des Sprachsinnes im Sinne der Kontextregel verschiedene Bedeutungsmöglich­ keiten eines Vertragsbegriffes, in welchen je nach Deutung eine Übereinstim­ mung vorliegt oder nicht, so wird diejenige Deutung vorzuziehen sein, wel­ che zur Übereinstimmung der Vertragsbegriffe führt. (b) Das Urteil im Fall Island and Maritime Frontier Dispute Anders als im Fall Elettronica Sicula forderte der Internationale Gerichts­ hof im Fall Island and Maritime Frontier Dispute614 explizit die Berücksich­ tigung des Kontextes im Rahmen der Auslegung von Vertragsbegriffen. Die in diesem Fall relevanten Ausführungen des Gerichtshofs zur Vertragsausle­ gung betrafen die Auslegung des Special Agreement der beteiligten Prozess­ parteien und damit Fragen der Entscheidungskompetenz des Gerichtshofs (Art. 40 Nr. 1 IGH-Statut), in concreto, ob eine Kammerzuständigkeit nach Art. 26 Nr. 3 IGH-Statut i. V. m. Art. 2 Nr. 2 des Special Agreement615 bezüg­ 613  IGH, Elettronica Sicula S.p.A (ELSI) (United States of America v. Italy), Judg­ ment, I.C.J. Reports 1989, 15, § 132. 614  IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras: Nicaragua intervening), Judgment, I.C.J. Reports 1992, 351. 615  Der Text des Special Agreement kann unter http://www.icj-cij.org/files/caserelated/75/6541.pdf (23.03.2018) abgerufen werden. Art. 2 Abs. 2 hat folgenden



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen173

lich einer maritimen Grenzziehung bestand.616 Zur Auslegung von Art. 2 Nr. 2 des Special Agreement liest man u. a. im Urteil: „There is a fundamental disagreement between the Parties as to the interpretation of this text, namely whether or not it empowers or requires the Chamber to de­ limit a maritime boundary […]. On face of the text of the Special Agreement, no reference is made to any delimitation by the Chamber. […] It is therefore neces­ sary, in application of the normal rules of treaty interpretation, to ascertain wheth­ er the text is to be read as entailing such delimitation. If account be taken of the basic rule of Article 31 of the Vienna Convention on the Law of Treaties […], it is difficult to see how one can equate ‚delimitation‘ with ‚determination of a legal situation …‘ […]. No doubt the word ‚determine‘ in English (and, as the Chamber is informed, the verb ‚determinar‘ in Spanish) can be used to convey the idea of setting limits, so that, if applied directly to the ‚maritime spaces‘ its ‚ordinary meaning‘ might be taken to include delimitation of those spaces. But the word must be read in its context; the object of the verb ‚determine‘ is not the maritime spaces themselves but the legal situation of these spaces. No indication of a com­ mon intention to obtain a delimitation by the Chamber can therefore derived from this text as it stands.“617

Das Begriffsverständnis des Gerichtshofs hinsichtlich des Kontexts wird in Zusammenhang mit diesen Ausführungen nicht klar. Der Verweis auf Art. 31 WVK deutet zunächst an, dass die Kammer den Kontext als Teil dieser all­ gemeinen Auslegungsregel sieht. In der Sache beschränkt sich die Kammer weitgehend auf die grammatische Auslegung der streitgegenständlichen Vor­ schrift; dies verdeutlichen insbesondere die vielen Direktzitate. Im Wesentli­ chen gilt dies auch für den letzten Satz, in welchem die Kammer anhand des Vertragstextes den fehlenden vertraglichen Konsens hinsichtlich einer mariti­ men Grenzziehung annimmt. Dies wird durch die Formulierung „this text as it stands“ unterstrichen. Hierdurch schränkt die Kammer die von ihr verstan­ dene Begriffsbedeutung des Verbs „determine“ (bzw. die des spanischen Pendants „determinar“) ein; bei der zunächst weit verstandenen Bedeutung hätte die Kammer ihre Zuständigkeit bejahen können (siehe die Formulie­ rung „the idea of setting limits“). Wortlaut: „The Parties request the Chamber: […] To determine the legal situation of the islands and maritime spaces.“ 616  Siehe näher zur Prozessgeschichte IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras: Nicaragua intervening), Judgment, I.C.J. Reports 1992, 351, § 372. In den Schriftsätzen beantragte der beklagte Staat Honduras eine maritime Grenzziehung durch Kammerentscheidung, während El Salvador der Kam­ mer jede Entscheidungskompetenz absprach. Art. 2 Abs. 2 des Special Agreement traf hingegen keine explizite Aussage über eine maritime Grenzziehung durch die Kam­ mer, weshalb diese Vorschrift auslegungsbedürftig war. 617  IGH, Land, Island and Maritime Frontier Dispute (El Salvador v. Honduras: Nicaragua intervening), Judgment, I.C.J. Reports 1992, 351, § 372 f.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Die Entscheidung des IGH lässt insgesamt methodische Genauigkeit und Präzision vermissen. Trotz Nennung von Art. 31 WVK wird zwischen den dort kodifizierten Auslegungsmethoden nicht trennscharf unterschieden, wenn die Kammer trotz Bezug auf den Kontext als eigene Auslegungsme­ thode wieder stark in Richtung grammatischer Auslegung abdriftet, indem sie vor allem die Satzstruktur von Art. 2 Nr. 2 des Special Agreement unter­ sucht.618 Mit dem für die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Ver­ träge maßgeblich relevanten sprachlichen Kontext der Vertragsbegriffe hat dies jedoch wenig gemein. Die fehlende Erläuterung des Begriffs des Kon­ texts vertieft dazu die methodische Verwässerung der hier durch die Kammer in Bezug genommenen Auslegungsregeln und erschwert die methodische Konturierung der Kontextregel. (c) Das Urteil im Fall LaGrand Vergleichbare begriffliche Unschärfen zum Kontext wie im Urteil Island and Maritime Frontier Dispute enthält auch das bereits oben im Zusammen­ hang mit der Arbeitssprachenregel besprochene Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall LaGrand.619 Nachdem der Gerichtshof die aus seiner Sicht nicht völlig bestehende Übereinstimmung des englischen und französi­ schen Texts in Art. 41 IGH-Statut festgestellt hatte,620 führte er aus, dass zur Klärung der Verbindlichkeit seiner von ihm erlassenen einstweiligen Anord­ nungen auch der Kontext berücksichtigt werden müsste: „The Court will therefore now consider the object and purpose of the Statute to­ gether with the context of Article 41. The object and purpose of the Statute is to enable the Court to fulfill the functions provided for therein […]. The context in which Article 41 has to be seen within the Statute is to prevent the Court from be­ ing hampered in the exercise of its functions because the respective rights of the parties to the dispute before the Court are not preserved.“621

Ähnlich wie im Urteil Island and Maritime Frontier Dispute zeigen sich auch hier einige methodische Verwässerungen. Auffällig ist zunächst, dass der Gerichtshof den Kontext nicht in sprachlicher Hinsicht sieht, zumal er eine Divergenz in den verschiedensprachigen Vertragstexten zu Art. 41 IGH618  Ähnlich Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 31, Rn. 47. 619  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466 ff. 620  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101 („Finding itself faced with two texts which are not in total harmony […]“). 621  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101 f.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen175

Statut behauptet hat. Stattdessen ist die Bezugnahme auf den Kontext sehr stark mit den Ausführungen zu Sinn und Zweck von Art. 41 IGH-Statut ver­ woben. Der Gerichtshof bejaht anschließend die Verbindlichkeit seiner einst­ weiligen Anordnungen, ohne näher auf die Wortbedeutungen der entscheiden­ den Tatbestandsmerkmale in Art. 41 IGH-Statut einzugehen; die gegenteilige Annahme würde gegen Sinn und Zweck dieser Regelung verstoßen.622 In der Sache hatte die Bezugnahme auf den Kontext in diesem Urteil einen stark tatsächlich geprägten Einschlag – der Gerichtshof solle nicht in der Wahrneh­ mung seiner Aufgaben eingeschränkt werden –, der als solcher isoliert keine eigenständige Auslegungsmethodik erkennen lässt und vielmehr die folgende Argumentation zu Sinn und Zweck von Art. 41 IGH-Statut vorgeben sollte. Die eigentliche Analyse der fraglichen Tatbestandsmerkmale in Art. 41 IGH-Statut erfolgt erst im Rahmen der Bezugnahme auf die travaux prépara­ toires, die dem gefundenen Ergebnis nicht entgegenstehen würden.623 Eine Klärung der Wortbedeutung der Tatbestandsmerkmale „indicate“ bzw. „indi­ quer“ erfolgt jedoch auch in diesem Zusammenhang nicht, es werden ledig­ lich vergleichende Schlussfolgerungen in Bezug auf – aus Sicht des Ge­ richtshofs – abgeschwächte vorläufige Vertragsformulierungen vorgenom­ men, wie sie sich aus den travaux préparatoires ergeben.624 Abgesehen von der generellen fehlenden methodischen Stringenz im Rahmen der Auslegung von Art. 41 IGH-Statut625 hat die Bezugnahme auf den Kontext in diesem 622  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 102. 623  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, §§ 104 ff. Die langen Ausführungen zu den travaux préparatoires verwundern insgesamt jedoch, da der Gerichtshof die Bezugnahme auf diese als nicht notwendig ansah (“[d]oes not consider it necessary to resort to the preparatory work […]“). 624  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 106 f. So führt der Gerichtshof etwa aus, dass sich für den Ver­ tragstext die Tatbestandsmerkmale „indicate“ anstatt „suggest“ bzw. „indiquer“ anstatt „ordonner“ durchgesetzt haben. Gerade die Ausführungen des Gerichtshofs in § 107 erscheinen jedoch in hohem Maße zweifelhaft. Gerade die Formulierung „ordonner“ hat einen viel stärker befehlenden Charakter als die Formulierung „indiquer“, sodass die Schlussfolgerung des Gerichtshofs zur Verbindlichkeit seiner einstweiligen An­ ordnungen zumindest nach dem französischen Text in Zweifel gezogen wäre, da sich gerade das schwächere „indiquer“ durchgesetzt hat. Für den englischen Text gilt frei­ lich das Umgekehrte: Hier wird man konzedieren müssen, dass „suggest“ eine schwä­ chere Formulierung gegenüber „indicate“ darstellt. Letztendlich erscheinen die gezo­ genen Schlussfolgerungen des IGH aus den travaux préparatoires damit zweifelhaft, da sie sprachliche Aspekte der fraglichen Tatbestandsmerkmale in zu großem Maße ausklammern. 625  So auch die zutreffende Feststellung in der Dissenting Opinion von Richter Oda, I.C.J. Reports 2001, 525, § 33.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Urteil wenig mit der klassisch verstandenen Kontextregel in Bezug auf die Auslegung mehrsprachiger Verträge gemein, nämlich dass der sprachliche Kontext der verschiedensprachigen Vertragstexte jeweils gesondert berück­ sichtigt werden müsse.626 Dies verwundert jedoch, da der Gerichtshof den französisch- und englischsprachigen Text zu Art. 41 IGH-Statut gerade als nicht deckungsgleich ansah. Es hätte also gerade Anlass gegeben, den sprachlichen Kontext in Art. 41 IGH-Statut näher zu untersuchen. Von einer so eingehenden Analyse des sprachlichen Kontextes, wie sie etwa der Stän­ dige Internationale Gerichtshof im oben besprochenen Gutachten zur Kom­ petenz der ILO in Landwirtschaftssachen vorgenommen hatte, ist das Urteil des Internationalen Gerichtshofs im LaGrand Urteil jedoch weit entfernt. (d) Das Urteil im Fall Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan Als Nachweis für die Existenz der Kontextregel bietet sich noch die Be­ zugnahme auf das Urteil im Fall Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan627 an. Dieses Urteil, welches u. a. auf textliche Unterschiede in Art. 62 IGH-Statut eingeht – betroffen waren die Tatbestandsmerkmale „inte­ rest of a legal nature“ bzw. „un intérêt d’ordre juridique est pour lui en cause“ –, hat nicht nur Implikationen für die Nachweisbarkeit der Arbeits­ sprachenregel, sondern deutet im Gegensatz zu den vorherigen besprochenen Entscheidungen eine Rückkehr zum Verständnis des Kontextes in sprach­ licher Hinsicht an. Der Begriff des Kontextes fällt in diesem Zusammenhang jedoch nicht: „The English text of Article 62 refers in paragraph I to ‚an interest of a legal nature which may be affected by the decision in the case‘. The French text for its part refers to ‚un intérêt d’ordre juridique … en cause‘ for the state seeking to intervene. The word ‚decision‘ in the English version of this provision could be read in a narrower or a broader sense. However, the French Version has clearly a broader meaning.“628 626  Wie eine solche Berücksichtigung des sprachlichen Kontextes aussehen kann, verdeutlicht hingegen das Memorial der beteiligten Bundesrepublik Deutschland auf beeindruckende Weise. In den Gliederungsziffern 4.149 f. geht die Bundesrepublik ausführlich auf die sprachliche Bedeutung der entscheidenden Tatbestandsmerkmale in Art. 41 IGH-Statut ein und zieht hierbei alle authentischen Vertragstexte, d. h. auch den spanischen, chinesischen und russischen Vertragstext in die Betrachtung mit ein. Die so aus der Vergleichsmasse gewonnenen sprachlichen Erkenntnisse haben damit eine viel stärkere argumentative Überzeugungskraft als der methodische Gang des IGH. 627  IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575. 628  IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575, § 47.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen177

Anders als in den Entscheidungen Island and Maritime Frontier Dispute und LaGrand orientiert sich der Gerichtshof zunächst scheinbar an dem eige­ nen sprachlichen Kontext des englischen und französischen Vertragstextes, bevor er zur Auflösung der Textdivergenz näher ausführt. Die Schwäche des gesonderten Eingehens auf den englischen und französischen Vertragstext liegt jedoch hier, dass der Gerichtshof die Wortbedeutung der strittigen Tat­ bestandsmerkmale nur in quantitativer Hinsicht (hier in dem Eingehen auf ein Enger-weiter-Verhältnis) erfasst, jedoch nicht in qualitativer Hinsicht, d. h. gerade ein näheres Eingehen auf den tatsächlichen Wortsinn vermissen lässt. Insofern bleibt auch unklar, weshalb gerade der Gerichtshof den fran­ zösischen Vertragstext als weiter im Sinn ansieht als den englischen Ver­ tragstext, die Ausführungen lesen sich hierzu wie eine Behauptung ohne Begründung. Der Kern der Kontextregel, die zunächst gesonderte Betrach­ tung des jeweiligen sprachlichen Kontextes, wird auf diese Weise lediglich tangiert. Die Vorgehensweise des Internationalen Gerichtshofs in dieser Ent­ scheidung bleibt damit gleichfalls deutlich hinter der ausführlichen Vorge­ hensweise des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Gutachten zur Kompetenz der ILO in Landwirtschaftssachen zurück. cc) Einordnung als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel Die Einordnung der Kontextregel als eigenständige völkergewohnheits­ rechtliche Auslegungsregel für mehrsprachige Verträge i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut erscheint im Lichte der vorstehenden Ausführungen schwer möglich. Zunächst kann festgestellt werden, dass die Behauptung von Mössner, dass es in der internationalen Gerichtspraxis nicht viele Be­ lege für diese Auslegungsregel gebe,629 auch im Lichte der neueren Recht­ sprechung des Internationalen Gerichtshofs als zutreffend erachtet werden kann. Diese Behauptung kann jedoch noch weiter mit einigen präzisierenden Erläuterungen untermauert werden. Ein Hauptgrund, weshalb nur wenige – gut geeignete – Nachweise zur Heranziehung des sprachlichen Kontextes durch die neuere internationale Gerichtspraxis vorliegen, dürfte neben den terminologischen Unschärfen auch an Art. 31 Abs. 1 WVK liegen. Art. 31 WVK ist jedoch gerade als allgemeine Auslegungsregel für völkerrechtliche Verträge charakterisiert, womit für die Einordnung der Kontextregel als ei­ genständige Auslegungsregel für mehrsprachige Verträge im normativen System der Wiener Vertragsrechtskonvention kein Raum bleibt. Diejenigen oben besprochenen Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs, welche in den Geltungszeitraum der Wiener Vertragsrechtskonvention fallen, sind im Übrigen durch ein uneinheitliches Verständnis des Kontextes geprägt, 629  Mössner,

AVR 15 (1972), 273 (283).

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

obgleich auf Art. 31 Abs. 1 WVK zurückgegriffen wurde. Der Begriff des Kontextes in Art. 31 Abs. 1 WVK wird zudem durch den Internationalen Gerichtshof nicht in sprachlicher Hinsicht gesehen, wie die besprochenen Entscheidungen gezeigt haben, womit die Überlegung, dass sich die Kon­ textregel in Bezug auf mehrsprachige Verträge als erweiternde Betrachtung des Kontextes i. S. v. Art. 31 Abs. 1 WVK darstellen könnte, unergiebig ge­ blieben ist. Da Art. 33 WVK keine eigenständige Berücksichtigung des je­ weiligen sprachlichen Kontextes der verschiedensprachigen Vertragstexte fordert, verwundert es insofern kaum, dass wenig geeignete Belege zur Kontextregel in der neueren Rechtsprechung des Internationalen Gerichts­ hofs vorliegen. Das Gutachten des Ständigen Internationalen Gerichtshofs zur Zuständigkeit der ILO in Landwirtschaftssachen muss insofern weitge­ hend als methodisch singulär betrachtet werden630 und ist vor allem vor dem Hintergrund fehlender geschriebener Auslegungsregeln in Bezug auf mehr­ sprachige völkerrechtliche Verträge zu erklären. Nach alldem kann eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Kontextregel nicht angenommen werden. Wegen der fehlenden völkergewohnheitsrechtlichen Geltung der Kontextregel kann damit auch eine völkergewohnheitsrechtliche Pflicht des Rechtsanwenders, die verschiedensprachigen Vertragstexte prophylaktisch zu vergleichen, nicht bejaht werden,631 obgleich eine solche Vorgehensweise dogmatisch überlegen ist zur Einheitsregel und auch hohe argumentative Überzeugungskraft entwickeln kann, wie etwa die Ausführungen der Bun­ desrepublik Deutschland zur Auslegung von Art. 41 IGH-Statut im Memorial zum LaGrand Fall zeigen.

630  Letztendlich gleicht auch nur dieses Gutachten teilweise einem linguistischen Beitrag, so wie Mössner, AVR 15 (1972), 273 (284), in Bezug auf die Anwendung der Kontextregel einschlägige Gerichtsentscheidungen charakterisiert. Wie bereits dargelegt, bleiben nachfolgende Entscheidungen des Internationalen Gerichtshofs hierhinter deutlich zurück. Erwähnswert, aber letztendlich ohne Einfluss auf diese Gesamteinschätzung, ist die neuere Rechtsprechung deutscher Gerichte, etwa Niedersächsisches Finanzgericht, U. v. 18.10.2013 – 1 K 196/11 –, juris = EFG 2014, 1120 ff.; BGH, B. v. 13.05.1997 – 5 StR 596/96 –, juris, Rn. 67, 71. Die Entscheidungsgründe der beiden Entscheidun­ gen ähneln methodisch sehr stark denjenigen des StIGH (so nähern sich das Finanz­ gericht und der BGH der Bedeutung der verschiedensprachigen Vertragsbegriffe ebenfalls mit Wörterbüchern an); ähnlich die Joint Concurring Opinion der Richter Šikuta, Wojtyczek und Vehabović in EGMR, Marguš v. Croatia [GC], Appl. No. 4455/10, Rn. 10. 631  Hiervon getrennt zu sehen ist jedoch die völkervertragsrechtliche Frage, ob und wann die verschiedensprachigen Texte i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK verglichen werden müssen (vgl. das Tatbestandsmerkmal „comparison of the authentic texts“).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen179

b) Der irreführende Begriff der Kontextregel Gegen die Einordnung der Kontextregel als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge sprechen zu­ dem die erheblichen terminologischen Unsicherheiten um den Begriff des Kontextes, welche insgesamt den Begriff der Kontextregel in Zweifel ziehen. So wurde bereits von Mössner selbst angemerkt, dass unter dem Kontext die verschiedensten Bezüge verstanden werden.632 Die oben herangezogene neu­ ere Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs hat im Wesentlichen diese Einschätzung bestätigt, so ist etwa das LaGrand-Urteil ein starker Be­ leg für die Einschätzung von Hardy, dass unter dem Kontext die Bezugs­ punkte für die teleologische Auslegung zu verstehen seien,633 während zu­ gleich auch die Auffassung von McDougal/Lasswell/Miller bestätigt wird, dass der Begriff „contextuality“ sich im weitesten Sinne auf die tatsächlichen Umstände eines völkerrechtlichen Vertrages634 bezieht. Das Urteil im Fall Island and Maritime Frontier Dispute steht hingegen vor allem für den sys­ tematischen Aufbau einer Vertragsvorschrift, wie ihn Mössner ebenfalls im Zusammenhang mit dem Kontextverständnis erwähnt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nicht nur ein uneinheit­ liches Verständnis des Kontextes, wie von Mössner aufgezeigt, im älteren völkerrechtlichen Schrifttum besteht, sondern sich diese Wahrnehmung ins­ besondere auch anhand der neueren Rechtsprechung des Internationalen Ge­ richtshofs bestätigt. Der Begriff Kontextregel erscheint nach alledem – neben der nicht ausreichenden Nachweisbarkeit dieser Regel – irreführend, da es kaum möglich erscheint, einen einheitlich akzeptierten abstrakten Rechtssatz unter diesem Begriff aufzustellen.635

II. Völkerrechtswissenschaftlich geprägte Auslegungsregeln Neben den oben dargestellten Auslegungsregeln, welche im verstärkten Umfang Bezüge zur völkerrechtlichen Rechtspraxis aufwiesen und aufwei­ sen, wurden einige weitere Regeln zur Auslegung mehrsprachiger völker­ rechtlicher Verträge aufgestellt, deren Bedeutung sich allerdings weitgehend 632  Mössner,

AVR 15 (1972), 273 (283 m. w. N.). versteht Mössner, AVR 15 (1972), 273 (284), dort Fn. 54, jedenfalls seine Deutung des Gutachtens des StIGH zur Zuständigkeit der ILO in Landwirtschaftssa­ chen, vgl. Hardy, BYIL 37 (1962), 72 (91 ff.). 634  McDougal/Lasswell/Miller, Interpretation (1994), S. XV, ausführlich S. 119 ff. 635  Vgl. auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S.  248  ff. Gächter-Alge nennt als weiteres Argument für das nicht einheitliche Verständnis vom Kontext auch die Fragmentierung des Völkerrechts. 633  So

180

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

auf den akademischen Diskurs beschränkte. Lediglich ganz vereinzelt wur­ den einige dieser Auslegungsregeln auch in der Rechtspraxis herangezogen. Die Bedeutung dieser hier dargestellten Auslegungsregeln ist damit im Hin­ blick auf deren Rechtsverbindlichkeit im Sinne des völkerrechtlichen Rechts­ quellensystems des Art. 38 IGH-Statut prima facie sehr gering. 1. Die Einklangregel Der Begriff der Einklangregel ist maßgeblich durch Dölle und Mössner geprägt, sie zielt auf den Vorrang desjenigen Vertragstextes ab, der mit aner­ kannten Rechtsregeln in Einklang steht.636 Es handelt sich damit um eine Auslegungsregel, die im Falle von Textdivergenzen nicht eine harmonisie­ rende Auslegung anstrebt, sondern um die Bevorzugung eines bestimmten Vertragstextes als Supremat. Der Begriff Einklangregel erscheint damit irre­ führend, suggeriert dieser gerade doch, dass die verschiedensprachigen Ver­ tragstexte auf irgendeine Weise in Falle einer Textdivergenz miteinander in Einklang gebracht werden müssten. Gemeint mit „Einklang“ im Sinne dieser Auslegungsregel ist laut Dölle und Mössner jedoch der Einklang des Supre­ mattexts mit anerkannten Rechtsregeln.637 Während Dölle eine Antwort schuldig bleibt, was mit anerkannten Rechtsregeln gemeint ist, versucht Mössner diesen Begriff näher zu spezifizieren und führt eine Joint Separate Opinion von sieben Richtern im Corfu Channel Fall des Internationalen Ge­ richtshofs an, wonach eine Auslegung im Einklang mit dem Prinzip des Rule of Law zu suchen sei.638 Die Lektüre der Joint Separate Opinion lässt jedoch unklar, woraus Mössner einen solchen Rechtssatz ableiten möchte. Damit bleibt die sog. Einklangregel inhaltsleer und methodisch konturenlos. Am naheliegendsten wäre nach der hier vertretenen Auffassung noch die Überle­ gung, in terminologischer Hinsicht unter „Einklang mit anerkannten Rechts­ regeln“ den Bezug zu allgemeinen völkerrechtlichen Rechtsgrundsätzen i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGH-Statut zu sehen. Dies ist jedoch eine rein hypothetische Überlegung, da es um nationale Auslegungsmethoden gehen müsste, die die Voraussetzungen des Art. 38 Abs. 1 Buchst. c) IGHStatut – zudem in Bezug auf die Thematik der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge – erfüllen müssten. Solche sind hier jedoch nicht ersichtlich.

636  Siehe

näher Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (34); Mössner, AVR 15 (1972), 273

637  Dölle,

RabelsZ 26 (1961), 4 (34); Mössner, AVR 15 (1972), 273 (290). AVR 15 (1972), 273 (290), dort Fn. 81.

(290).

638  Mössner,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen181

2. Die Günstigkeitsregel Eine souveränitätsfreundliche Auslegung beinhaltet die sog. Günstigkeits­ regel: Hiernach soll derjenige Vertragstext eine Suprematstellung haben, der den Vertragsparteien ein geringeres Maß an Verpflichtungen auferlegt.639 Diese Auslegungsmethode erinnert damit in genereller Hinsicht stark an die restriktive Auslegung („restrictive interpretation“), die ebenfalls zu einer souveränitätsfreundlichen Auslegung führt.640 Das Urteil des EGMR im Fall Wemhoff v. Germany verdeutlicht diese Parallelen: „The Court cannot accept this restrictive interpretation. It is true that the English text of the Convention allows such an interpretation. […] But while the English text permits two interpretations the French version, which is of equal authority, allows only one. […] Thus confronted with two versions of a treaty which are equally authentic but not exactly the same, the Court must, following established international law precedents, interpret them in a way that will reconcile them as far as possible. Given that it is a law-making treaty, it is also necessary to seek the interpretation that is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty, not that which would restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties.“641

Der hinter der Günstigkeitsregel aufgestellte Rechtssatz spiegelt sich in dem Urteil in der Formulierung „[r]estrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties“ wider; in der Sache geht es damit bei der Günstigkeitsregel um nichts anderes als eine Restriktion vertraglicher Pflichten im Wege der Auslegung. Die Günstigkeitsregel stellt insofern keine wirkliche Neuerung dar, sie ist lediglich eine Neubenennung eines bereits bekannten allgemeinen Auslegungsgrundsatzes.642 Die völkerrechtliche Ver­ bindlichkeit dieser Auslegungsregel lässt sich hieraus dennoch nicht schluss­ folgern.643 Die gegen diese Auslegungsregel vorgetragene Kritik liegt unter mehreren Gesichtspunkten auf der Hand. Die Kritik des EGMR im Fall 639  Grundlegend Castberg, RdC 43 (1933 I), 313 (333); überblicksweise Darstel­ lung bei Mössner, AVR 15 (1972), 273 (287); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 126 ff. 640  Ähnlich auch Castberg, RdC 43 (1933 I), 313 (333), der die Günstigkeitsregel als Auslegungsregel für mehrsprachige Verträge aus dem allgemeinen Grundsatz der restriktiven Auslegung herleitet. 641  EGMR, Wemhoff v. Germany, Appl. No. 2122/64, S. 19. 642  Vgl. auch Engelen, Tax Treaties (2004), S. 408, der die Günstigkeitsregel und den Grundsatz der restriktiven Auslegung als Synonyme zu begreifen scheint. 643  A. A. insbesondere Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 127. Keine der von Rest angeführten Entscheidungen aus der gerichtlichen Praxis stützt jedoch seine An­ nahme; man sucht vergeblich nach deartigen aufgestellten Rechtssätzen in den von Rest zitierten Entscheidungen. Die Auffassung von Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (34) erscheint vorzugswürdig. Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (113 f.) legt ausführlich dar, dass diese Regel in der internationalen Rechtsprechung fast keine Berücksichtigung gefunden hat, selbst bei entsprechendem Parteivorbringen.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

Wemhoff v. Germany stützt beispielhaft den von Mössner vorgebrachten Ein­ wand, dass Ziel und Zweck des Vertrages durch die Günstigkeitsregel aus den Augen verloren werden könnten,644 ebenfalls ist es nachvollziehbar, zu hinterfragen, ob es überhaupt einen günstigen und ungünstigen Vertragstext gibt und anhand welcher Kriterien die Günstigkeit festgelegt werden soll­ te.645 Letztendlich wird man konstatieren müssen, dass die Günstigkeit pri­ mär ein Tatsachenkriterium und keine Rechtsfrage tangiert, die einer abstrak­ ten Klärung im Wege der Auslegung kaum zugänglich sein wird.646 Des Weiteren ist der zentrale Grundsatz der Gleichwertigkeit der verschiedenspra­ chigen Vertragstexte zu beachten;647 die bestehenden grundsätzlichen Kritik­ punkte gegen die Günstigkeitsregel vermögen eine Durchbrechung dieses Grundsatzes nicht zu rechtfertigen. 3. Die Belastetenregel als besondere Ausprägung des Auslegungsgrundsatzes verba ambigua accipiuntur contra proferentem für mehrsprachige Verträge Als benachbart zur Günstigkeitsregel lässt sich die Belastetenregel verste­ hen, jedoch in gegensätzlicher Hinsicht: Hiernach ist derjenige Vertragstext verbindlich, der die Sprache der belasteten Vertragspartei betrifft, dieser Ver­ tragstext wird zuungunsten der betroffenen Vertragspartei ausgelegt.648 Dieser Auslegungsregel haftet ein gewisser punitiver Charakter an, indem sie von dem belasteten Staat als völkerrechtlich Verantwortlichem im Falle der Re­ daktion eines unklaren oder fehlerhaft – d. h. von einem ebenfalls authenti­ schen Vertragstext divergierenden – formulierten Vertragstextes ausgeht. Die­ ser Gedanke der völkerrechtlichen Verantwortlichkeit greift jedoch nur dann, wenn die verschiedensprachigen Vertragstexte von einer Partei erstellt wurden; Hilf weist jedoch zu Recht darauf hin, dass dies praktisch kaum der Fall sein wird.649 Unklar bleibt jedoch, inwiefern Hilf dennoch die Belastetenregel als „zugeschnitten“ für die Auslegung mehrsprachiger Verträge begreift,650 unter 644  Mössner,

AVR 15 (1972), 273 (287). RabelsZ 26 (1961), 4 (33); ebenso Mössner, AVR 15 (1972), 273 (287). 646  Ähnliche Auffassung Dölle, RabelsZ 26 (1961), 4 (33); Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (114). 647  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (287). 648  Hilf, Verträge (1973), S. 99 f.; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (287 f.); SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 141. 649  Vgl. Hilf, Verträge (1973), S. 99  f.; Schübel-Pfister, Sprache und Gemein­ schaftsrecht (2004), S. 142; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 80, nennt etwa diktierte Friedensverträge als Beispiel. 650  Hilf, Verträge (1973), S. 99. 645  Dölle,



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen183

diesem Gesichtspunkt bleibt seine Argumentation widersprüchlich. Die Belas­ tetenregel stellt sich vielmehr als der ungelenk wirkende Versuch dar, den Auslegungsgrundsatz verba ambigua accipiuntur contra proferentem auf die Thematik der Mehrsprachigkeit im Völkerrecht zu übertragen. Da selbst Nachweise für den Grundsatz verba ambigua accipiuntur contra proferentem für die Auslegung völkerrechtlicher Verträge im Schrifttum spärlich geblieben sind,651 überrascht es insofern kaum, dass kaum Nachweise in der internatio­ nalen Gerichtspraxis vorliegen,652 erst recht für die Thematik der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge. Die Belastetenregel teilt zudem die Problematik der Unterscheidung in klare und unklare Normtexte, die sich bereits im Rahmen der Darstellung der Klarheitsregel gezeigt hat. Die dort vorgebrachte Kritik gegen das Verständnis klarer versus unklaren Normtext trifft auch hier uneingeschränkt zu. Nach alledem überrascht es daher nicht weiter, dass Bernhardt die Contra-proferentem-Regel als „outmoded“ bezeich­ net hat.653 4. Die Bezugsregel Eine enge konzeptionelle Verbindung zur Belastetenregel weist die sog. Bezugsregel auf, wonach derjenige Vertragstext eine Vorrangstellung haben solle, der die Übernahme einer Verpflichtung durch eine Vertragspartei be­ trifft.654 Als Begründung wird hierbei vorgebracht, dass der betreffende Ver­ tragsstaat die Übernahme einer bestimmten Verpflichtung besser verstehen würde und deshalb nur an seinen eigenen, verkehrssprachlichen Text gebun­ den sein solle.655 Mössner selbst führt eine Reihe naheliegender Kritikpunkte gegen diese Auslegungsregel an; so sei einerseits Vorsicht geboten zu be­ haupten, eine Vertragspartei würde die Sprache eines anderen Vertragsstaats nicht verstehen, auch die Ermittlung der tatsächlichen Betroffenheit einer Vertragspartei durch eine Vertragsvorschrift könne sich als schwierig gestal­ aber Rousseau, Principes Généraux (1944), S. 744 ff. weisen etwa Hilf, Verträge (1973), S. 99 und Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 80 f. zutreffend darauf hin, dass Verdross, Völkerrecht (1964), S. 174, mit dem bra­ silianischen Anleihe-Fall des StIGH keinen geeigneten Nachweis für die Anwendbar­ keit der Contra-proferentem Regel erbringt. 653  Bernhardt, ZaöRV 27 (1967), 491 (504). 654  Mössner, AVR AVR 15 (1972), 273 (283) unter Verweis auf Fiore, Nouveau Droit International Public (1885), Bd. 2, S. 399. In der von Mössner zitierten Primär­ quelle geht es jedoch nicht spezifisch um die Auslegung mehrsprachiger Verträge, sodass schon zweifelhaft bleibt, warum und unter welchen Voraussetzungen einem bestimmten Vertragstext eine Vorrangstellung eingeräumt werden soll. 655  Vgl. auch die Erläuterung dieser Auslegungsregel bei Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). 651  Siehe 652  So

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

ten.656 Dieser Kritik ist im Wesentlichen nichts hinzuzufügen. Lediglich er­ gänzend kann noch angemerkt werden, dass unklar erscheint, inwiefern die Gerichte in der Anwendung dieser Regel laut Mössner zurückhaltend geblie­ ben sind,657 da er selbst keinerlei Belege aus der Rechtspraxis nennt und solche – soweit ersichtlich – auch nicht vorliegen.658 Die Bezugsregel ist zudem in der neueren völkerrechtlichen Literatur zur Auslegung mehrspra­ chiger Verträge kaum weiter erwähnt worden.659 Dies wird u. a. auch an Ab­ grenzungsschwierigkeiten zur Belastetenregel liegen – letzterer Aspekt zeigt sich etwa darin, dass Mössner den Begriff „Belastete[r]“ in Zusammenhang mit der Bezugsregel verwendet.660 5. Die Landessprachenregel Stärkere Resonanz hat im völkerrechtlichen Schrifttum die sog. Landes­ sprachenregel erfahren, hiernach soll jede Vertragspartei nur an ihren eige­ nen, verkehrssprachlichen Vertragstext gebunden sein, während ihr zugleich das Berufen auf einen anderssprachigen Vertragstext verwehrt sei.661 Eine rechtliche Argumentation für den Vorrang der Landessprache sucht man je­ doch insbesondere bei Oppenheim vergeblich.662 Denkbar sind rechtsprakti­ sche Aspekte, die vor allem die Sprachkenntnisse des inländischen Rechtsan­ wenders betreffen werden;663 dieser wird mit dem muttersprachlichen Text naturgemäß besser zurechtkommen als mit einem fremdsprachigen Text. Hardy stellt als Hintergrund des Vorrangs der Landessprache die Vermutung auf, dass in der historischen Vertragspraxis die vertragschließenden Staaten nur ihre eigene – landessprachliche – Vertragsurkunde unterzeichnet haben, 656  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). Nicht von der Hand zu weisen ist auch der Einwand von Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 123, dass die Vertragsbestimmungen sich nahezu ausnahmslos auf alle Vertragsparteien beziehen werden. 657  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). 658  So auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (115  f.); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 123. 659  So sucht man etwa in der Darstellung der Auslegungsregeln zu mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen bei Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 139 ff. vergeblich nach dieser Auslegungsregel. 660  Siehe Mössner, AVR 15 (1972), 273 (283). 661  Als prägend für diese Auslegungsregel wird häufig Oppenheim, International Law (1955), S. 956 f. zitiert. Hierbei wird jedoch übersehen, dass die Formulierung dieser Regel weiter in die Vergangenheit zurückreicht. So hat bereits Hyde, Internati­ onal Law (1922), S. 38 ausgeführt: „It is customary for States at the present time to execute their written agreements in their own languages whereever those may differ. Such is the practice of the United States.“ 662  Dies kritisiert auch Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 122, dort Fn. 3. 663  Ähnliche Vermutung auch Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 122.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen185

dieser Ansatz ist jedoch letztendlich nicht durchgreifend.664 Nicht ganz fern­ liegend erscheint hingegen als Begründungsansatz der Verweis von Rest auf die Lehre vom innerstaatlichen Anwendungsbefehl, wobei er zutreffend er­ gänzt, dass diese Begründung nur dann greifen kann, wenn die Landesspra­ che zu den authentischen Vertragstexten gehört.665 Aus der Rechtspraxis sind – entgegen der Ansicht von Hilf666 – einige wenige Nachweise bzw. Indizien667 zur Anwendung der Landessprachenregel bekannt. Allein die oben zitierte Ansicht von Hyde, dass der Vorrang der Landessprache gewohnheitsrechtlich verankert sei, lässt Skepsis aufkommen, dass der Vorrang der Landessprache sich nicht doch in der Staatenpraxis niedergeschlagen haben könnte. Als Hintergrund für die Meinung von Hyde kommt ein Brief des Secretary of State Hay an den Außenminister von Spa­ nien in Betracht, wonach jede Vertragspartei das Recht habe, lediglich auf ihren eigenen verkehrssprachlichen Text zu vertrauen.668 Wenn Hyde sich tatsächlich an dem Brief von Secretary of State Hay orientiert haben sollte, hat dieser jedoch übersehen, dass selbst nach dessen Aussage auf diese Regel kaum zurückgegriffen wurde und eine solche Vorgehensweise von den ande­ ren Vertragsparteien als anstößig empfunden werden könnte669 – die Behaup­ 664  Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (117), dort Fn. 2. Die von Hardy zitierten Vertrags­ schlussklauseln haben sich jedoch in der Staatenpraxis nicht weiter durchgesetzt, wie Hilf, Verträge (1973), S. 58 darlegt. Die Einschätzung von Hilf deckt sich mit den untersuchten Vertragsschlussklauseln in dieser Arbeit im Rahmen der Ausführungen zur historischen Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel. Konstrastierend zu den von Hardy zitierten Vertragsschlussbestimmungen finden sich vielmehr eine Vielzahl von Bestimmungen, die gerade das Gegenteil andeuten. Die Durchsicht einer Vielzahl historischer, mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge in der Consolidated Treaty Series von Parry hatte vielmehr gezeigt, dass häufig Formulierungen wie „signed the same“ oder „done in duplicate“ verwendet wurden, die gerade nicht die Deutung zu­ lassen, dass jede Vertragspartei nur einen – ihren landessprachlichen Vertragstext – unterzeichnet hat. 665  Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 122. Diesen Grundsatz hat das OVG NordrheinWestfalen, U. v. 09.10.2007 – 15 A 1596/07 = DVBl. 2007, 1442 (1443) verkannt, selbst wenn man hierin einen Anwendungsfall der Landessprachenregel sehen wollte. 666  Hilf, Verträge (1973), S. 57. 667  Für Deutschland etwa die Beklagtenansicht in BSG, U. v. 29.01.1974 – 8/2 RU 226/72 – juris, Rn. 9. 668  Diese Ausführung ist jedoch lediglich in der Sekundärliteratur überliefert, ins­ besondere Crandall, Treaties (1916), S. 389, dort Fn. 40; siehe auch Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (116). Hyde bezieht sich jedoch nicht auf diesen Brief, sondern auf die Instructions to the diplomatic officers of the United States des Departement of State von 1897. Diese stützen jedoch – wie bereits oben im Rahmen der Ausführungen zur Gleichwertigkeitsregel in Fn. 226 dargelegt – nicht die Auffassung von Hyde. 669  Crandall, Treaties (1916), S. 389, dort Fn. 40: „[b]ut this expedient is rarely resorted to, and is, besides, in its nature offensive to the one or the other contractant.“

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

tung „such is the practice of the United States“ ist damit erwiesenermaßen unrichtig.670 Aus der Rechtsprechung kann zumindest das Urteil des britischen High Court of Justice im Fall R. v. Govenor of Brixton Prison als Beleg für die Landessprachenregel herangezogen werden. Den Vorrang der Landessprache drückt der High Court of Justice in folgender Ausführung aus: „No doubt in the French version of the treaty the word ‚arrêté‘ is used as being the equivalent […] for ‚committed to prison‘ in art. 10, but the word ‚arrêté‘ is not the correct equivalent for ‚committed to prison‘ in art. 10. Moreover the Court can only look at the English version of the treaty. The two versions are both originals, one for use in this country and the oth[e]r for use in France. In an English Court the English version is the only document that can be looked at, unless indeed there is some ambiguity about the English version, when possibly the [F]rench version may be looked at to see if the ambiguity can be cleared up.“671

Es lässt sich nicht ganz leugnen, dass hinter diesen Ausführungen ein ge­ wisses sprachennationalistisches Verständnis steht, indem sich der High Court of Justice der Berücksichtigung des ebenfalls verbindlichen französi­ schen Textes verweigert – obwohl sich der Kläger auf diesen Text berufen hatte. Diese Verweigerungshaltung ist jedoch zwangsläufig mit der fehlenden Vereinbarkeit der Landessprachenregel mit dem zentralen Grundsatz der Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte zu erklären. Die gegenteilige Ansicht von Mosler, dass mangels Bestehen einer völkerge­ wohnheitsrechtlichen Geltung der Gleichwertigkeitsregel auf den landes­ sprachlichen Vertragstext zurückgegriffen werden dürfe,672 vermag nicht zu überzeugen.673 An der völkergewohnheitsrechtlichen Geltung der Gleichwer­ tigkeitsregel bestehen nach der hier vertretenen Auffassung und insbesondere im Lichte ihrer historischen Entwicklung, auf die eingehend eingegangen wurde, keine Zweifel, Mosler selbst nennt keine Belege für seine Behaup­ tung. Die Weigerung des High Court of Justice, für die Auslegung auch den ebenfalls authentischen französischen Vertragstext heranzuziehen, ist noch unter einem weiteren, durchschlagenden Gesichtspunkt, der gegen die Lan­ dessprachenregel spricht, zu erklären. Hardy weist zu Recht darauf hin, dass bei strenger Anwendung des Vorrangs der Landessprache der Vertrag nur so 670  Auf die für die Nachweisbarkeit der Gleichwertigkeitsregel gegenteiligen Auf­ fassungen im angloamerikanischen Schrifttum, etwa von Moore, Digest (1906), S. 252, sowie die gegenläufige Rechtsprechung des US Supreme Court in United States v. Arredondo und United States v. Percheman sei erneut verwiesen. 671  High Court of Justice – King’s Bench Division, R. v. Govenor of Brixton Prison, Ex parte Mehamed Ben Romdan, K.B. 3 (1912), 190 (193). 672  Mosler, Völkerrechtspraxis (1957), S. 30. 673  Ebenso Mössner, AVR 15 (1972), 273 (288 f.).



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen187

lange bestehen könne, wie keine Textdivergenz vorliegt, denn dann müsste unweigerlich von einem Dissens ausgegangen werden, wenn jede Vertrags­ partei nur ihren eigenen – divergierenden – verkehrssprachlichen Text an­ wenden würde.674 Insofern liegt auf der Hand, dass der High Court of Justice nach seiner Auffassung sich nicht nur nicht weiter mit dem französischen Vertragstext befassen wollte, sondern auch nicht konnte, weil er bei konse­ quenter Fortführung seiner Auffassung gegebenenfalls um die Feststellung eines Dissenses nicht herumgekommen wäre und dieser ihn vor fast unlös­ bare Probleme gestellt hätte. Der Schlussfolgerung von Mössner, dass der Vorrang der Landessprache keine eigene Rechtsregel begründen würde,675 ist insofern nichts weiter hinzuzufügen. 6. Die Gerichtssprachenregel Ein teilweise ähnlicher Ansatz wie die Landessprachenregel kann in der sog. Gerichtssprachenregel erkannt werden, nach dieser Auslegungsregel soll derjenige Vertragstext eine Suprematstellung genießen, in dessen Sprache eine mündliche Verhandlung vor Gericht stattfinden würde.676 Der teilweise ähnliche Ansatz zur Landessprachenregel zeigt sich beispielhaft an dem oben zitierten Urteil des High Court of Justice im Fall R. v. Govenor of Brixton Prison, wonach in einem englischen Gericht nur der englische Vertragstext berücksichtigt werden könne; bei konsequenter Anwendung der Landes- und Gerichtssprachenregel würde man damit zum gleichen Ergebnis kommen, wenn Landes- und Gerichtssprache übereinstimmen. In methodischer Hin­ sicht kann dies jedoch zu Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen diesen bei­ den Auslegungsregeln führen.677 Unweigerlich an ihre Grenzen stößt die Gerichtssprachenregel bei interna­ tionalen Gerichtshöfen. Hier besteht die Gerichtssprache gerade nicht in einer 674  Hardy,

BYIL 37 (1961), 72 (117). AVR 15 (1972), 273 (288). 676  Siehe näher Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (112 f.); Mössner, AVR 15 (1972), 273 (289); Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 123. 677  Dies verdeutlicht auch ein von Hardy, BYIL 37 (1961), 72 (112), angeführtes Beispiel aus der Schiedsgerichtsbarkeit. Der am Verfahren beteiligte britische Verfah­ rensbevollmächtigte berief sich gegenüber dem Schiedstribunal auf den Vorrang des englischen Textes des Versailler Vertrags – der französische Text könne nur herange­ zogen werden, wenn die Auslegung des (als klar empfundenen) englischen Vertrags­ texts Zweifel aufwerfen würde –, es blieb jedoch unklar, ob dies auf die Verfahrens­ sprache des Schiedstribunals oder auf die Landessprache von Großbritannien als Vertragspartei am Versailler Vertrag zurückzuführen war. Gegen diese Einschätzung von Hardy lässt sich jedoch der Einwand einbringen, in dem Parteivorbringen des britischen Verfahrensbevollmächtigten auch die Bezugnahme auf die Klarheitsregel zu erblicken. 675  Mössner,

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

einzelnen Sprache, sondern es gibt mehrere Sprachen; beim Ständigen Inter­ nationalen Gerichtshof und Internationalen Gerichtshof sind dies gem. Art. 39 StIGH-Statut bzw. Art. 39 Nr. 1 IGH-Statut Englisch und Französisch. Beide Statutsvorschriften haben gemein, dass die Gerichtssprache nicht von Anfang an feststeht, sodass der Festlegung desjenigen Vertragstextes als Supremat, welcher mit der Gerichtssprache übereinstimmt, die Grundlage entzogen ist.678 Da die große Mehrzahl völkerrechtlicher Streitfälle vor internationalen Gerichten und in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit entschieden wird, kann der Gerichtssprachenregel damit kaum Bedeutung zukommen. Selbst eine vertragliche Streitbeilegungsklausel am Ende eines völkerrechtlichen Vertrages, welche die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs ermög­ lichen würde, kann entgegen der Ansicht von Mössner679 die Anwendung dieser Regel nicht ermöglichen, es sei denn, eine solche Klausel enthielte zusätzlich noch eine Einigung über die Verfahrenssprache i. S. v. Art. 39 S. 2 oder S. 3 IGH-Statut. Eine solche Vorgehensweise erscheint jedoch in Anbe­ tracht von Art. 36 Nr. 2, 40 Nr. 1 IGH-Statut unrealistisch und dürfte auch die vertragliche Konsensfindung in der Praxis strapazieren. 7. Die Mehrheitsregel Bei einer rein quantitativen Betrachtungsweise zur Auflösung von Textdi­ vergenzen in mehrsprachigen Verträgen bietet sich die Möglichkeit an, derje­ nigen Auslegung den Vorzug zu geben, die sich auf die Mehrzahl der authen­ tischen Vertragstexte stützen lässt, die anderen authentischen Vertragstexte bleiben unberücksichtigt.680 Während einer Auslegung, die sich auf eine Mehrheit der authentischen Vertragstexte stützen kann, zumindest eine ge­ wisse Vermutung für ihre Richtigkeit nicht prinzipiell abgesprochen werden kann, ist folgender Einwand gegen diese Auslegungsregel ebenso nahelie­ gend wie schwerwiegend: Sie kann nur dann funktionieren, wenn überhaupt eine mathematische Mehrheit denklogisch möglich ist, d. h. bilaterale Ver­ träge mit zwei Vertragssprachen können von Beginn an für das Mehrheits­ 678  Hiervon geht auch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (289) – wenn auch losgelöst von einem normativen Bezug – aus. 679  Vgl. Mössner, AVR 15 (1972), 273 (289). 680  Diese Auslegungsregel wird, soweit ersichtlich, erstmals von Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 140 m. w. N., in Bezug auf die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge erwähnt. Die Bezugnahme auf Dölle, Ra­ belsZ 26 (1961), 4 (11) sowie Sandrock, ZVglRWiss 78 (1979), 177 (210 f.), ist in diesem Zusammenhang nicht ganz korrekt, da Dölle in der zitierten Fundstelle zur Auslegung mehrsprachiger Gesetze durch das schweizerische Bundesgericht schreibt, der Beitrag von Sandrock betrifft thematisch das Internationale Zivilprozessrecht, zudem bezieht er sich seinerseits auf dieselbe, auch von Schübel-Pfister zitierte Fund­ stelle bei Dölle.



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen189

prinzip nicht in Betracht kommen. Selbst bei mehr als zwei Vertragssprachen erscheint eine Mehrheit eher bei einer ungeraden Anzahl an Vertragssprachen wahrscheinlich, da bei einer geraden Anzahl an Vertragssprachen – so wie dies auch bei bilateralen Verträgen mit zwei Vertragssprachen von Anfang an der Fall ist – auch die Möglichkeit eines zahlenmäßigen Gleichgewichts in Betracht kommen kann. Losgelöst von diesen Zweifeln muss auch nicht fest­ stehen, dass die Auslegung, welche sich auf die Mehrheit an Vertragsspra­ chen stützt, immer mit Ziel und Zweck des Vertrags in Einklang steht.681 Für die Verallgemeinerungsfähigkeit dieser Regel im Sinne eines abstrakten Rechtssatzes bleibt damit kein Raum. 8. Die kombinatorische Anwendung der Auslegungsregeln In der Darstellung der Auslegungsregeln zu mehrsprachigen völkerrechtli­ chen Verträgen hatten sich an diversen Stellen methodische Abgrenzungs­ schwierigkeiten einzelner Auslegungsregeln voneinander gezeigt. Diese Ab­ grenzungsschwierigkeiten lassen sich auch unter einem weiteren Gesichts­ punkt nur schwer leugnen: Teilweise wird im völkerrechtlichen Schrifttum auch eine kombinatorische Anwendung der oben dargestellten Auslegungsre­ geln als selbstständige Auslegungsregel erwähnt.682 Dies impliziert die paral­ lele Anwendung mehrerer der oben dargestellten Auslegungsregeln auf die­ selbe Vertragsnorm.683 Die oben besprochenen Fälle aus der Rechtspraxis haben jedoch gezeigt, dass die Anwendung der Auslegungsregeln nicht selten opportunistisch erfolgte, insbesondere um ein gefundenes Auslegungsergeb­ nis zu erhärten. Die methodisch stringente, parallele Anwendung von Ausle­ gungsregeln wird man so in der Rechtspraxis nicht erwarten können. Die Kritik von IGH-Richter Oda in seinem Sondervotum zum LaGrand-Urteil, der der Richtermehrheit eine „roundabout method of analysis“ zur Auslegung von Art. 41 IGH-Statut vorwirft,684 steht symptomatisch für die problemati­ sche Anwendung mehrerer Auslegungsmethoden auf dieselbe Norm. Eine kombinatorische Anwendung der oben dargestellten Auslegungsre­ geln sollte nach der hier vertretenen Auffassung nur dann herangezogen werden, wenn die methodische Stoßrichtung der angewendeten Auslegungs­ 681  Siehe zum Ganzen auch die weitgehend übereinstimmende Kritik von SchübelPfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht (2004), S. 140. 682  Siehe etwa Engelen, Tax Treaties (2004), S. 408 („combination of the above principles“); ähnlich Tabory, Multilingualism (1980), S. 206. 683  Das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten des StIGH wird von einigen Auto­ ren als ein solcher Beispielfall gesehen, siehe etwa Hilf, Verträge (1973), S. 102, dort Fn.  437 a. E. 684  Dissenting Opinion Judge Oda, I.C.J. Reports 2001, 525, § 33.

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2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

regeln dieselbe ist. Dies kann etwa der Fall sein, wenn beide herangezogenen Auslegungsregeln von der Suprematstellung eines bestimmten Vertragstextes ausgehen; als Beispiele kämen die Arbeitssprachen- und Klarheitsregel in Betracht. Wenig Sinn macht es dagegen, methodisch konträr zueinanderlau­ fende Auslegungsregeln zu kombinieren; dies betrifft insbesondere Ausle­ gungsregeln, die einerseits eine harmonisierende Auslegung der verschie­ densprachigen Vertragstexte anstreben und andererseits solche Auslegungsre­ geln, die von der Suprematstellung eines bestimmten Vertragstextes ausgehen. Eine solche dogmatisch kohärente Vorgehensweise lässt die Rechtspraxis je­ doch weitgehend vermissen.

III. Das Verhältnis der besonderen Auslegungsregeln von mehrsprachigen Verträgen zu allgemeinen Auslegungsgrundsätzen im Völkerrecht – Alte Regeln in neuem Gewande? Unabhängig vom Rechtscharakter und den dogmatischen Stärken und Schwächen der oben dargestellten Auslegungsregeln stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei diesen dargestellten Auslegungsregeln um eigenstän­ dige Rechtsregeln handelt. Hilf vertritt in diesem Zusammenhang eine sehr restriktive Position, er geht davon aus, dass es sich bei diesen Auslegungsre­ geln nur um Anpassungen der allgemeinen Auslegungsregeln speziell für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge handle.685 Diese Auffassung scheint jedoch nur zum Teil zustimmungsfähig. Die hier vertretene Auffassung geht davon aus, dass die Auslegung mehr­ sprachiger Verträge nicht isoliert von den allgemeinen Auslegungsprinzipien zu völkerrechtlichen Verträgen gedacht werden kann.686 Hilf ist insofern zu­ zustimmen, dass die Auslegungsregeln zu mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen ohne die bereits allgemein bekannten zentralen Auslegungsgrund­ sätze wie etwa Wortlautargumentation, Auslegung nach Sinn und Zweck und historisch-genetische Auslegung kaum eine Grundlage hätten. Auch in histo­ rischer Hinsicht erscheint diese Annahme unumgänglich, da völkerrechtliche Verträge und ihre Auslegung deutlich weiter in die Vergangenheit zurückrei­ chen als mehrsprachige völkerrechtliche Verträge und deren Auslegung. Verfehlt erscheint jedoch der Ansatz von Hilf, in diesem Zusammenhang von einer Anpassung allgemeiner Regeln oder von einem Streit um Worte zu sprechen. Letztendlich konzediert Hilf mit seiner Einordnung von „neuarti­ 685  Hilf,

Verträge (1973), S. 85. auch bereits oben zu den Ausführungen zu allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsregeln unter A. II. 686  Siehe



B. Auslegungsregeln bei mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen191

gen Auslegungselementen“,687 dass die Thematik der Mehrsprachigkeit auch neue methodische Auslegungsansätze hervorgebracht hat, die so in der klas­ sischen Auslegungslehre noch nicht bekannt waren. Schwerlich leugnen als selbstständige Auslegungsregeln für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge lassen sich jedenfalls die Gleichwertigkeits- und Einheitsregel. In diesem Zusammenhang ist weder von Hilf dargetan noch sonst ersichtlich, inwieweit es sich hier per se um eine Anpassung von allgemeinen Auslegungsregeln handeln sollte. Die gleiche Verbindlichkeit der authentischen Vertragstexte und ihre inhaltlich verstandene Einheit ist etwas, das sich nicht mit den Schlagworten Wortlautargumentation, Sinn und Zweck oder Entstehungsge­ schichte der Norm erklären lässt. Es handelt sich hier, wie oben dargelegt, um Auslegungsregeln, die sich in der historischen Staatenpraxis nach und nach speziell im Bereich der Mehrsprachigkeit herausgebildet haben und sich thematisch an allgemeine völkerrechtliche Rechtsgrundsätze, wie etwa den Grundsatz pacta sunt servanda und Treu und Glauben, rückbinden lassen.688 Auch das von Hilf genannte Beispiel zu Urtext und historisch-genetischer Auslegung689 greift so zu kurz: Auch die Lehre vom Vorrang des Urtexts lässt einen eigenen methodischen Ansatz dadurch erkennen, dass sie gerade als weitere Schlussfolgerung aus der Betrachtung der Entstehungsgeschichte die Suprematstellung eines bestimmten Vertragstextes postuliert. Dies ist eine Eigenheit, die der historisch-genetischen Auslegung methodisch so nicht bekannt ist. Von einem Streit um Worte kann in diesem Zusammenhang keine Rede sein. Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge kann insofern nicht isoliert von den allgemeinen Auslegungsregeln betrachtet werden, als dass die Gleichwertigkeits- und Einheitsregel keine Methodenanweisung an den Rechtsanwender geben, wie eine aufgefundene Textdivergenz aufgelöst werden kann. Diejenigen oben besprochenen Auslegungsregeln, die Vor­ schläge unterbreiten zur Auflösung einer solchen Divergenz, bedienen sich freilich – wenn man sachgedanklich eine Rückbindung anstrebt – Elementen der klassischen Auslegungsmethoden. Dies gilt unabhängig davon, ob zur Auflösung der Divergenz eine harmonisierende Auslegung aller verschie­ densprachigen Vertragstexte oder die Suprematstellung eines Vertragstextes angestrebt wird. Die besondere Schwierigkeit zeigt sich hierin, dass stets die Gleichwertigkeits- und Einheitsregel zu beachten sind, da sie verbindliche Rechtsqualität i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut aufweisen. Es ist daher ingesamt wenig überraschend, dass die klassischen Auslegungsregeln – 687  Hilf,

Verträge (1973), S. 85. in diesem Zusammenhang zur Gleichwertigkeitsregel oben unter B. I. c)

688  Siehe

aa).

689  Hilf,

Verträge (1973), S. 85.

192

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

mit Ausnahme der Arbeitssprachenregel – keine Lösung für dieses Problem bringen konnten: Die unter II. dargestellten völkerrechtswissenschaftlich ge­ prägten Auslegungsregeln hatten sämtlich den zu radikalen Ansatz, ohne tragfähige Argumente die Gleichwertigkeit der Vertragstexte zu durchbrechen bei bestehenden eigenen dogmatischen Inkonsistenzen. Lediglich die Ar­ beitssprachenregel kann mit der methodischen Rückbindung an den Grund­ satz der Entstehungsgeschichte der Norm als solche ein valides Argument für die Durchbrechung der Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Vertrags­ texte anführen, obgleich insbesondere methodische Unsicherheiten hinsicht­ lich der Ermittlung des Urtextes blieben. Mit den Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention wird der Zusammenhang zwischen allgemeinen Auslegungsregeln für völkerrecht­ liche Verträge und der besonderen Auslegungsregel für mehrsprachige Ver­ träge in Art. 33 WVK offensichlich. Aus Sicht der vertragschließenden Staaten konnte daher die Thematik der Mehrsprachigkeit nicht völlig isoliert von der Vertragsauslegung als solcher stehen. Inwieweit das Verhältnis der Vorschriften in Art. 31–33 WVK zu verstehen ist, wird sich im dritten Teil dieser Arbeit zeigen.

C. Zusammenfassung Die Darstellung der obigen Auslegungsregeln zu mehrsprachigen völker­ rechtlichen Fragen hat gezeigt, dass sich der Rechtscharakter dieser Ausle­ gungsregeln anhand des völkerrechtlichen Rechtsquellensystems des Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut beantworten lässt. Die Beantwortung der Frage des Recht­ scharakters dieser Auslegungsregeln ist deshalb von so hoher Relevanz, da die Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention in Art. 31–33 WVK gem. Art. 4 WVK nicht rückwirkend angewendet werden können. Es ist da­ her strenggenommen relativ müßig, über die dogmatischen Vorzüge und Nachteile von Auslegungsregeln zu diskutieren, wenn deren Verbindlichkeit im Sinne des völkerrechtlichen Rechtsquellensystems nicht geklärt ist. Um­ gekehrt hing die fehlende völkerrechtliche Verbindlichkeit vieler Auslegungs­ regeln jedoch auch mit deren dogmatischen Schwächen und Unschärfen – insbesondere im Lichte der Abgrenzung zu anderen Auslegungsregeln – zu­ sammen. Als zentraler Auslegungsgrundsatz bei mehrsprachigen Verträgen ist die Gleichwertigkeitsregel zu nennen. Diese Auslegungsregel hatte sich in der historischen Staatenpraxis der Vereinigten Staaten von Amerika herausgebil­ det und stellte sich zunächst mit Blick auf die interamerikanische Staaten­ praxis in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als regionales Völkerge­ wohnheitsrecht dar. Mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 etablierte



C. Zusammenfassung193

sich die Gleichwertigkeitsregel schließlich als universelles Völkergewohn­ heitsrecht. Die Bedeutung der Gleichwertigkeitsregel ist deshalb so groß, weil sie sich sachgedanklich an bedeutende allgemeine völkerrechtliche Rechtsgrundsätze wie pacta sunt servanda und Treu und Glauben (good faith) rückbinden lässt. Aus diesem Grund sind Auslegungsregeln zur Auflö­ sung von Textdivergenzen, die gegen dieses zentrale Prinzip verstoßen, abzu­ lehnen. Ein solcher Verstoß kann nur dann verneint werden, wenn methodisch tragfähige Argumente vorgebracht werden, die im Einzelfall eine Durchbre­ chung dieses Grundsatzes zu rechtfertigen vermögen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Vertragsschlussbestimmungen selbst die Vorrangstel­ lung einer Vertragssprache im Falle von Textdivergenzen anordnen oder eine solche sich im Wege methodisch vertretbarer Auslegung, insbesondere an­ hand des Wortlauts der Vertragssschlussbestimmung, ermitteln lässt. Große Bedeutung kommt zudem der Einheitsregel zu. Sie hat eine enge konzeptionelle Bindung zur Gleichwertigkeitsregel, so zeigen etwa bereits die Urteile des US Supreme Court in United States v. Arredondo690 und United States v. Percheman691 die Verflechtungen dieser Auslegungsregeln auf. In der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Fall Kasikili/Sedudu Island692 wurde schließlich der völkergewohnheitsrechtliche Charakter der Einheitsregel bestätigt. Umstritten war jedoch, ob die Einheitsregel einen Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte durch den Rechtsanwen­ der fordert, unabhängig von der Entdeckung einer Textdivergenz. Die (noch) überwiegende Ansicht im neueren völkerrechtlichen Schrifttum verneint eine entsprechende Pflicht des Rechtsanwenders;693 nach der hier vertretenen An­ 690  US Supreme Court, United States v. Arredondo and others, U.S. Reports 31 (1832), 691 ff. 691  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833), 51 ff. 692  IGH, Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia), I.C.J. Reports 1999, 1045. 693  A.  A. im neueren Schriffttum jedoch insbesondere Fattal, Multilinguisme (1994), S.  231 ff.; Fronza/Malarino, ZStW 118 (2006), 927 (935 f.); wohl auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 267; Kuner, ICLQ 40 (1991), 952 (958): „rule of enforced ignorance“; von Ungern-Sternberg, Jura 2010, 841 (845); kritisch auch Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 128; Resch, B.T.R. 2014, 307 ff. Im europäischen Unionsrecht ergibt sich im Vergleich zum Völkervertragsrecht im Übrigen ein anderes Bild. Folgende Passage des EuGH in der Rs. CILFIT lässt eine deutlich stärkere Tendenz zu einem verpflichtenden Vergleich der verschiedensprachi­ gen Texte erkennen: „Il faut d’abord tenir compte que les textes de droit communau­ taire sont rédigés en plusieurs langues et que les diverses versions linguistiques font également foi; une interprétation d’une disposition de droit communautaire implique ainsi une comparaison des versions linguistiques.“ (EuGH, U. v. 06.10.1982, Rs. 283/81, CILFIT, Rn. 18). Die nachfolgende Rechtsprechung des EuGH war jedoch nicht immer einheitlich, während auch einige neuere Urteile die hier zitierte Passage in der CILFIT-Entscheidung direkt wiedergaben, fordern andere Entscheidungen ei­ nen Vergleich der verschiedensprachigen Texte nur bei Zweifelsfällen. Siehe hierzu

194

2. Teil: Die Auslegung mehrsprachiger Verträge

sicht ist es jedoch bedauerlich, dass sich die Ansicht von Rosenne zum Text­ vergleich nicht durchgesetzt hat. Die Beispiele aus der neueren Rechtspraxis haben gezeigt, dass aus einem solchen Textvergleich eine enorme argumen­ tative Überzeugungskraft für die Auslegung mehrsprachiger völkerrechlicher Verträge entwickelt werden kann, als Musterbeispiel sind die Ausführungen der Bundesrepublik Deutschland zur Frage der Bindungswirkung einstweili­ ger Anordnungen nach Art. 41 IGH-Statut im LaGrand-Verfahren zu nennen. Der Arbeitssprachenregel kommt nach der neueren Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs ebenfalls völkergewohnheitsrechtlicher Charak­ ter zu. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass in den bezeichneten Fällen des Internationalen Gerichtshofs die Arbeitssprachenregel in Kombination mit anderen Auslegungsregeln zur Anwendung kam, ein pauschales Abstellen auf den Urtext (sofern es diesen gibt) verbietet sich damit. Da die Arbeitsspra­ chenregel als solche in Art. 33 WVK nicht kodifiziert wurde, stellt sich die Anwendung dieser Auslegungsregel nach wie vor kompliziert dar und wirft weitgehend Fragen nach der Hierachie von Auslegungsregeln im völkerrecht­ lichen Rechtsquellensystem i. S. v. Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut auf. Den übrigen besprochenen Auslegungsregeln kommt keine besondere Rechtsqualität i. S. v. Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut zu. Die große Mehrheit dieser Regeln begegnet durchgreifenden dogmatischen Schwächen,694 zudem gibt es nicht ausreichend Belege für eine Nachweisbarkeit dieser Regeln i. S. d. Rechtsquellensystems. Dies gilt im Besonderen für die völkerrechtswissen­ schaftlich geprägten Auslegungsregeln.

näher die ausführliche Darstellung bei Zedler, Methode (2015), S. 168 ff.; kritisch gegenüber dieser umfassenden Pflicht zum Vergleich der verschiedensprachigen Unions­rechtstexte vor der Auslegung Mertens, ZNR 2013, 157 (169 ff.). Dieser Un­ terschied zwischen Unionsrecht und Völkervertragsrecht kann indes mit der Eigen­ ständigkeit der EU-Rechtsordnung (vgl. EuGH, U. v. 05.02.1963, Rs. C-26/62, Van Gend en Loos, S. 23: „[l]a Communauté constitue un nouvel ordre juridique de droit international […]“) begründet werden, welche die Anwendung etwa von Art. 33 Abs. 3 WVK ausschließt (vgl. Zedler, Methode [2015], S. 453); eine völkergewohn­ heitsrechtliche Bindung der EU an die Einheitsregel (zur Bindung der Europäischen Union an Völkergewohnheitsrecht siehe EuGH, U. v. 16.06.1998, Rs. C-162/96, A. Racke GmbH & Co. v. Hauptzollamt Mainz, Rn. 45 f.) erscheint im Lichte der Recht­ sprechung des EuGH zweifelhaft. 694  Vgl. auch zur Ablehnung mehrerer der oben dargestellten Auslegungsregeln im Schiedsspruch des Arbitral Tribunal for the Agreement on German External Debts, The United Kingdom of Belgium, The French Republic, The Swiss Confederation, The United Kingdom and The United States of America v. The Federal Republic of Germany, Young Loan Arbitration, ILR 59 (1980), 494 (549).

3. Teil

Die Bedeutung von Art. 33 WVK für die Auslegung mehrsprachiger Verträge „It follows that the doctrinal discussion on the utility and even the existence of rules of international law governing the interpretation of treaties is now a thing of the past.“695

Mit der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969696 liegen erstmals in Art. 31–33 WVK geschriebene Auslegungsregeln für die Auslegung völker­ rechtlicher Verträge vor. Für den Rechtsanwender bedeutet dies auf den ers­ ten Blick einige Annehmlichkeiten, kann er sich anders als früher nun auf Auslegungsregeln stützen, die nun i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) IGH-Statut pro futuro als nachgewiesen gelten. Das Problem der Nachweisbarkeit von Auslegungsregeln stellt sich für den Rechtsanwender – abgesehen von Altfäl­ len im Rahmen des Art. 4 WVK – nicht mehr. In diesem Zusammenhang ist möglicherweise die enthuasiastisch wirkende Behauptung von Bernárdez zu erklären. Ob mit der Wiener Vertragsrechtskonvention jedoch die wissen­ schaftliche Diskussion um die Brauchbarkeit von Auslegungsregeln für völ­ kerrechtliche Verträge beendet ist, darf jedenfalls vorsichtig infrage gestellt werden. Gerade die besonderen Implikationen der Mehrsprachigkeit für die Auslegung erscheinen zu komplex, um die wissenschaftliche Diskussion in diesem Bereich für beendet zu erklären.

A. Die Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention von 1969 Unter den in der Wiener Vertragsrechtskonvention kodifizierten Ausle­ gungsregeln regelt Art. 33 WVK explizit die Auslegung mehrsprachiger völ­ kerrechtlicher Verträge (Interpretation of Treaties authenticated in two or more languages). Für die weitere Untersuchung wird, wenn auf Art. 33 WVK Bezug genommen wird, der authentische englische Vertragstext der Konven­ tion verwendet: 695  Bernárdez,

in: Liber Amicorum Seidl-Hohenveldern (1998), S. 721. Convention on the Law of Treaties (with annex). Concluded at Vienna on 23 May 1969, U.N.T.S. 1155 (1980), 331 ff. (No. 18232). 696  Vienna

196

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

1. When a treaty has been authenticated in two or more languages, the text is equally authoritative in each language, unless the treaty provides or the parties agree that, in case of divergence, a particular text shall prevail. 2. A version of the treaty in a language other than one of those in which the text was authenticated shall be considered an authentic text only if the treaty so provides or the parties so agree. 3. The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authen­ tic text. 4. Except where a particular text prevails in accordance with paragraph 1, when a comparison of the authentic texts discloses a difference of meaning which the application of articles 31 and 32 does not remove, the meaning which best rec­ onciles the texts, having regard to the object and purpose of the treaty, shall be adopted.

Die Meinungen hinsichtlich des Wertes dieser Vorschrift für die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge gehen im völkerrechtlichen Schrift­tum teilweise auseinander.697 Die nachfolgenden Ausführungen wer­ den sich hauptsächlich mit der Entstehungsgeschichte dieser Norm, aufge­ worfenen Auslegungsfragen und Bezügen zu den oben dargestellten histori­ schen Auslegungsregeln befassen; sie zielen damit im Gesamtfazit dieses Teils auf den Interpretationswert von Art. 33 WVK ab.

I. Die Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK Die Entstehungsgeschichte der Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskon­ vention zur Vertragsauslegung stellt sich als ein mehrjähriger Prozess mit einigen kontroversen Diskussionen dar, der mit mehreren redaktionellen Änderungen der entworfenen Vorschriften einherging. Es wurde während der Ausarbeitung der Vorschriften auch darauf hingewiesen, dass es nach teilwei­ ser Auffassung sogar zweifelhaft sei, ob es überhaupt völkerrechtlich ver­ bindliche Auslegungsvorschriften für die Auslegung völkerrechtlicher Ver­ träge geben könne.698 Die Frage der Notwendigkeit einer Kodifikation von Auslegungsvorschriften unter der Ägide der Vereinten Nationen – insbeson­ dere für den Bereich der Mehrsprachigkeit – ließ sich jedoch allein mit Blick

697  Siehe etwa einerseits Mössner, AVR 15 (1972), 273 (302), der die Auffassung vertritt, dass Art. 33 WVK für die Auslegung mehrsprachiger Verträge kaum weiter­ hilft; eine positivere Einstellung lässt jedoch etwa Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 161, erkennen, der meint, dass Art. 33 WVK ein gewisser Wert als Richtlinie für den In­ terpreten nicht abgesprochen werden kann. 698  Vgl. Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 218: „The utility and even the exis­ tence of rules of international law governing the interpretation of treaties are someti­ mes questioned.“



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969197

auf Art. 111 UNCh schwer leugnen,699 dies unterstreicht im Weiteren auch folgende Ausführung der International Law Commission: „[t]he phenomenon of treaties drawn up in two or more languages has become extremly common and, with the advent of the United Nations, general multilateral treaties drawn up, or finally expressed, in five different languages have become quite common“700

Das so verstandene Bedürfnis nach einer Kodifikation rechtlich verbindli­ cher Auslegungsregeln für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge wirft im Lichte der vorgebrachten Zweifel, ob es überhaupt völkerrechtlich verbindli­ che Auslegungsregeln geben könne, lediglich noch die Frage auf, inwieweit mit Art. 33 WVK bereits bestehende Auslegungsregeln kodifiziert werden (konnten) oder ob diese Vorschrift in rechtsschöpferischer Weise neue Ausle­ gungsregeln aufgestellt hat. Mit dem Inkrafttreten von Art. 31–33 WVK kann jenen Zweiflern nämlich entgegengehalten werden, dass es nun rechtlich verbindliche Auslegungsvorschriften für völkerrechtliche Verträge gibt. 1. Der dritte Bericht zum Völkervertragsrecht von Spezialberichterstatter Sir Humphrey Waldock Die Bestrebungen, das Völkervertragsrecht im Rahmen einer Kodifikation umfassend zu regeln, lassen sich bis in die Anfangszeit der Arbeit der Inter­ national Law Commission zurückführen.701 Aus den Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder zu diesem Bestreben geht vielfach der Respekt vor dieser schwierigen Aufgabe hervor, der die Kommission lang beschäftigen würde.702 Besonders interessant liest sich jedoch die Stellungnahme von Kommissionsmitglied François bereits im Jahr 1949: „The Commission could therefore devote itself first of all to the elimination of any divergencies in the wording of treaties, so as to avoid any contentious interpreta­ tions or at least unnecessary doubts.“703

Obgleich nicht völlig sicher erscheint, ob François mit „divergencies in the wording of treaties“ sich auf Divergenzen zwischen mehrsprachigen authen­ tischen Vertragstexten bezieht, wird dennoch klar, dass die besonderen Her­ 699  So

Rn. 9.

auch Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33,

700  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 224. nur den Abschnitt „The Law of Treaties“ in Y.B. Int’l L. Comm’n 1949, Vol.  I, 48 ff. 702  Vgl. die Stellungnahmen des damaligen Spezialberichterstatters Brierly und Kommissionsmitglied Scelle. 703  Y.B. Int’l L. Comm’n 1949, Vol. I, 48. 701  Siehe

198

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

ausforderungen und Probleme bei der Vertragsauslegung bereits früh in der International Law Commission erkannt wurden. Obgleich die im völkerrecht­ lichen Schrifttum anzutreffende Bemerkung, dass nicht vor der 16. Sitzung der International Law Commission im Jahr 1964 die Thematik der völker­ rechtlichen Vertragsauslegung im Rahmen der Vereinten Nationen explizit aufgegriffen wurde,704 zutreffend ist, wird hierdurch insbesondere die Stel­ lungnahme von Kommissionsmitglied François etwas außer Acht gelassen.705 So verweist etwa der Bericht der International Law Commission von 1962 – der im völkerrechtlichen Schrifttum häufig als Anfangspunkt der Kodifika­ tion zum Völkervertragsrecht gesehen wird706 – auch auf den Bericht von 1949 zurück.707 Damit wird deutlich, dass die International Law Commission mit der Intensivierung ihrer Arbeiten zur Kodifikation des Völkervertrags­ rechts in den 1960er-Jahren an eine Jahrzehnte zurückliegende Agenda anknüpft, die ganz im Ansatz bereits die Thematik der Kodifikation von ­ völkervertraglichen Auslegungsregeln erkennen lässt. Diese Intensivierung der Arbeiten zur Kodifikation völkervertraglicher Auslegungsregeln wurde maßgeblich durch einen Entwurf des zwischenzeitlich eingesetzten Spezial­ berichterstatters Sir Humphrey Waldock initiiert.708 In seinem dritten Bericht zum Völkervertragsrecht709 stellte Waldock auch Entwürfe für Auslegungsre­ gelungen auf. Die dort formulierten Art. 74 und 75 betrafen mehrsprachige völkerrechtliche Verträge. a) Art. 74 – Treaties drawn up in two or more languages Ein Vergleich der Inhalte von Art. 74 und 75 ergibt relativ schnell, dass Art. 74 keine eigenen Auslegungsregeln für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge aufstellt, sondern den Auslegungsgegenstand festlegt. Art. 74 hat folgenden Wortlaut:710 704  Etwa Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 233; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (291); Tabory, Multilingualism (1980), S. 168. 705  Rosenne, Law of Treaties (1970), S. 29 ff., spricht etwa von „sporadic disscus­ sions“. 706  Siehe nur Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 233; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (291); Rosenne, Law of Treaties (1970), S. 29. Die Thematik der Kodifikation von völkervertraglichen Auslegungsregeln sucht man in dem Bericht von 1962 jedoch vergeblich. 707  Siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1962, Vol. II, 159: „At its first session in 1949, the International Law Commission placed the ‚Law of treaties‘ amongst the topics in paragraph 15 and 16 of its report for that year as being suitable for codification and appointed Mr. J. L. Brierly as Special Rapporteur for the subject.“ 708  Sehr ausführlich dazu Rosenne, Law of Treaties (1970), S. 29 ff. 709  Third Report on the Law of Treaties, by Sir Humphrey Waldock, Special Rap­ porteur, Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 5 ff.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969199 I. When the text of a treaty has been authenticated in accordance with the provi­ sions of article 7 in two or more languages, the texts of the treaty are authorita­ tive in each language except in so far as a different rule may be layed down in the treaty. II. A version drawn up in a language other than one in which the text of the treaty was authenticated shall also be considered an authentic text and be authoritative if – (a) the treaty so provides or the parties so agree; or (b) an organ of an international organization so prescribes with respect to a treaty drawn up within the organization.

Art. 74 Abs. 1 nimmt mit der Formulierung „[t]he texts of the treaty are authoritative in each language […]“ Bezug auf die Gleichwertigkeitsregel. Die Kommentierung zu dieser Vorschrift meint hierbei, dass selbst in Erman­ gelung einer Vertragsschlussbestimmung, welche sich zum Verhältnis der verschiedensprachigen Vertragstexte äußert, es allgemein anerkannt sei, dass diese für die Auslegung gleichermaßen rechtlich verbindlich seien.711 Diese Auffassung deutet auf die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Gleich­ wertigkeitsregel hin und steht insbesondere mit der in dieser Arbeit beleuch­ teten Entwicklung der Gleichwertigkeitsregel in der historischen Staaten­ praxis in Einklang. Die Formulierung „except in so far as a different rule may be layed down in the treaty“ stellt klar, dass die Durchbrechung dieses zen­ tralen Grundsatzes nur durch den Vertrag selbst angeordnet werden kann. Hier zeigt sich zudem eine Parallele zu Art. 19 Buchst. b) der Havard Draft Convention on the Law of Treaties,712 die mit „[a]nd when it is not stipulated that the version in one oft he languages shall prevail“ eine sehr ähnliche For­ mulierung enthält.713 Die Kommentierung der International Law Commission nennt als Notwendigkeit für eine solche Ausnahmeregelung auch die Unter­ scheidung zwischen authentischen und offiziellen Texten und führt hierbei einzelne Beispiele aus der Staatenpraxis an;714 hiermit greift sie der Sache nach schon zum Teil auf den Inhalt der Vorschrift des Art. 74 Abs. 2 vor. Der Verweis auf Art. 7 bekräftigt die Einschätzung der Authentifizierung eines Vertragstextes als selbstständigen Teil des Vertragsschlusses durch die International Law Commission.715 Mit Art. 7 ist der Entwurf der International 710  Zitiert nach Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 62; Parallelfundstelle bei Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 257. 711  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 62. 712  AJIL Sup. 29 (1935), 653 (661). 713  Siehe jedoch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (292), der keinen Einfluss des Har­ vard Entwurfs zu erkennen vermag. 714  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63. 715  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 62 f.

200

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Law Commission von 1962 an die Generalversammlung der Vereinten Natio­ nen gemeint;716 der dort formulierte Art. 7 stellt sich wiederum als Weiterent­ wicklung eines Vorschlags von Waldock in seinem ersten Bericht zum Völ­ kervertragsrecht dar (dort noch Art. 6).717 Der Verweis auf Art. 7 stellt sich zudem als bewusste terminologische Angleichung des Begriffes „authentic“ an das in Art. 7 vorgesehene Verfahren dar;718 hiermit wird klargestellt, dass nur ein authentischer Text als Auslegungsmaßstab gelten könne, da sich der Rechtsanwender nur aufgrund der dokumentierten Authentizität darauf ver­ lassen kann, welches der endgültige und finale Inhalt eines Vertrages ist.719 Art. 74 Abs. 2 kann hinsichtlich der Festlegung des Auslegungsmaßstabs als ergänzende Regelung begriffen werden, da hiernach auch Vertragstexte, die nicht den Akt der Authentifizierung durchlaufen haben, unter bestimm­ ten – in Buchst. a) und b) konkretisierten – Umständen dennoch als authen­ tisch angesehen werden können. Die Ursachen für ein solches Abweichen von Abs. 1 können verschiedenster Natur sein, am naheliegendsten dürften aber vor allem sprachliche Unsicherheiten über den Inhalt der als authentisch erklärten Vertragstexte sein. Belegt wird dies etwa durch den in der Kom­ mentierung genannten britisch-äthiopischen Vertrag von 1897, wonach eine französische Übersetzung im Zweifel über die Auslegung Vorrang haben solle720 – diese war maßgeblich auf die Tatsache zurückzuführen, dass der äthiopische König Menelek II. den authentischen englischen Vertragstext nicht verstand.721 Die Verbindlichkeit der französischen Übersetzung wäre damit im Sinne des Entwurfs von Waldock unter Art. 74 Abs. 2 Buchst.  a) Alt. 2 zu subsumieren gewesen. Selbsterklärend ist der Fall des Art. 74 716  Report of the Commission to the General Assembly, siehe den Abschnitt Draft Articles on the Law of Treaties, Y.B. Int’l L. Comm’n 1962, Vol. II, 161 ff. 717  Siehe First Report on the law of treaties, by Sir Humphrey Waldock, Special Rappoteur, Y.B. Int’l L. Comm’n 1962, Vol. II, 27 ff. 718  Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 235. 719  Vgl. hierzu die Kommentierung zu Art. 7 des Entwurfs, Y.B. Int’l L. Comm’n 1962, Vol. II, 167: „Authentication of the text of a treaty is necessary in order that the negotiating States, before they are called upon to decide whether they will become parties to the treaty, may know finally and definitively what is the content of the treaty to which they will be subscribing.“ 720  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63. 721  Vgl. die oben in Fn. 265 zitierte Note an den britischen Gesandten: „With ref­ erence to the Treaty which we have written in the Amharic and English languages at Adis Abeba, as I have no interpreter with me who understands the English language well enough to compare the English and Amharic version, if by any possibility in the future there should be found any misunderstanding between the Amharic and English versions in any of the Articles of this Treaty, let this translation, which is written in the French language, and which I enclose in this letter, be the witness between us, and if you accept this proposal, send me word of your acceptance by letter.“



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969201

Abs. 2 Buchst. a) Alt. 1, in welchem der Vertrag selbst die Verbindlichkeit eines weiteren Textes anordnet. Art. 74 Abs. 2 Buchst. b) stellt im Vergleich zu Art. 74 Abs. 2 Buchst. a) einen Sonderfall dar, der ein Loslösen vom reinen reziproken Konsensgedan­ ken erkennen lässt. Sie gibt dem betreffenden Organ der internationalen Or­ ganisation weitreichende Befugnisse, Einfluss auf die Festlegung der für die Auslegung verbindlichen Texte zu nehmen.722 Art. 74 Abs. 2 Buchst. b) stellt sich damit als eine ganz auf mehrsprachige multilaterale Verträge mit mehr als zwei Vertragssprachen zugeschnittene Vorschrift dar,723 welche weitfüh­ rend den Eindruck erweckt, dass Waldock mit Art. 74 Abs. 2 Buchst. a) und Buchst. b) sachgedanklich zwischen Austauschverträgen (contractual treaties/ traités contrats) und normbildenden Verträgen (law-making treaties/traités lois) differenziert hat. Diese Einschätzung lässt sich freilich durch die Kom­ mentierung zu Art. 74 nicht erhärten. b) Art. 75 – Interpretation of treaties having two or more texts or versions Art. 75 des Entwurfs stellt mehrere Auslegungregeln für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge auf. Ausweislich der Bezeichnung dieser Vorschrift fällt auf, dass Waldock sich zunächst nicht auf den Begriff text oder version festlegen konnte oder wollte; wie sich zeigen wird, sollte es im Folgenden noch zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich dieser beiden Begriffe kom­ men.724 Auffällig ist jedoch vor allem der Umfang dieser Vorschrift mit ihren fünf Absätzen:725 1. The expression of the terms of a treaty is of equal authority in each authentic text, subject to the provisions of the present article. The terms are to be pre­ sumed to be intended to have the same meaning in each text and their interpreta­ tion is governed by articles 70–73. 722  Vgl. die Kommentierung zum Entwurf, Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63: „Paragraph 2 also provides for the possibility that, when a treaty is concluded within an organization, the organ concerned may, by resolution or otherwise, prescribe that texts shall be prepared in other official languages of the organization and be consi­ der­ed authentic. The phrase ‚organ of international organization so prescribes‘ is in­ tended to cover not only an express provision in the resolution adopting the text of the treaty, but also an implied authority to the depositary resulting from the practice of the organization.“ 723  Die Kommentierung nimmt explizit Bezug auf die Vertragssprachenpraxis der Vereinten Nationen und die Rolle des Generalsekretärs in diesem Zusammenhang, siehe näher Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63. 724  Vgl. Tabory, Multilingualism (1980), S. 170. 725  Zitiert nach Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 62; Parallelfundstelle bei Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 257 f.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

2. When a comparison between two or more authentic texts discloses a difference in the expression of a term and any resulting ambiguity or obscurity as to the meaning of the term is not removed by the application of articles 70–73, the rules contained in paragraphs 3–5 apply, unless the treaty itself provides that, in the event of divergence, a particular text or method of interpretation is to pre­ vail. 3. If in each of two or more authentic texts a term is capable of being given more than one meaning compatible with the objects and purposes of the treaty, a me­ aning which is common to both or all the texts is to be adopted. 4. If in one authentic text the natural and ordinary meaning of a term is clear and compatible with the objects and purposes of the treaty, whereas in another it is uncertain owing to the obscurity of the term, the meaning of the term in the former text is to be adopted. 5. If the application of the foregoing rules leaves the meaning of a term, as ex­ pressed in the authentic text or texts, ambiguous or obscure, reference may be made to a text or version which is not authentic in so far as it may throw light on the intentions of the parties with respect to the term in question.

Die Länge dieser Vorschrift ist auf die Koexistenz verschiedener Ausle­ gungsregeln zurückzuführen, welche sie zugleich sehr ungelenk wirken lässt. Bereits Abs. 1 lässt zwei verschiedene Auslegungsregeln erkennen: Die For­ mulierung in Satz 1 ist stark an die gleiche Verbindlichkeit der verschie­ densprachigen Vertragstexte in Art. 74 Abs. 1 angelehnt und versteht sich als deren Konkretisierung auf die Bedeutung einzelner Vertragsbegriffe.726 Die Implikationen dieser Konkretisierung scheinen jedoch schwer abschätzbar. Nicht ganz fernliegend scheint es, eine Pflicht zur paritätischen Würdigung der verschiedensprachigen Vertragstexte durch den Rechtsanwender anzu­ nehmen, welche zugleich mit einer Pflicht zum Sprachvergleich einher­ geht.727 Eine solche Pflicht erscheint jedoch im Hinblick auf Art. 75 Abs. 1 Satz 2 gleichermaßen fraglich: Diese Vermutensvorschrift greift in Hs. 1 die Einheitsregel auf, die nach überwiegender Auffassung – wie oben darge­ stellt – gerade nicht zum Textvergleich zwingt.728 Bei der Aufnahme der Einheitsregel in Art. 75 Abs. 1 Satz 2 dachte Waldock jedoch vermutlich nicht daran, mit der Vermutensregelung dem Rechtsanwender die Berechti­ gung zu geben, auf die Richtigkeit eines Vertragstextes zu vertrauen, sondern es ging ihm ausschließlich darum, die rechtliche Einheit des Vertrages zu 726  Zu weitgehend erscheint indes die Deutung von Colzani, Trattari internationali (2014), S. 111, dass Art. 74, 75 des Entwurfs damit insgesamt das Prinzip der glei­ chen Autorität der verschiedensprachigen Vertragstexte widerspiegeln würden. 727  Hierfür spricht auch folgende Ausführung in der Kommentierung des Entwurfs: „The existence of more than one authentic text clearly introduces a new element – comparison of the texts – into the interpretation of the treaty“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63). 728  Vgl. oben Teil 2, C.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969203

betonen.729 Die aus der Kommentierung möglichen Schlussfolgerungen – ei­ nerseits wird der Textvergleich als neues Element des Auslegungsprozesses genannt, andererseits die durch die Vermutensregelung betonte rechtliche Einheit des Vertrages – lassen damit Friktionen im Verhältnis von Art. 75 Abs. 1 Satz 1 und Art. 75 Abs. 1 Satz 2 zueinander erkennen. Mit Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 wird zudem auf die allgemeinen Auslegungsvor­ schriften in Art. 70–73 verwiesen. Art. 75 Abs. 2 stellt klar, dass Textdivergenzen zunächst über die allgemei­ nen Auslegungsregeln in Art. 70–73 aufgelöst werden sollen.730 Insofern müssen Art. 75 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 und Art. 75 Abs. 2 als zusammen­ hängend verstanden werden.731 Die Formulierung „and any resulting ambi­ guity or obscurity“ impliziert, dass die Textdivergenz von hinreichendem Gewicht sein muss, dies kann etwa der Fall sein, wenn alle verschiedenspra­ chigen Vertragstexte Unstimmigkeiten hinsichtlich eines Vertragsbegriffes aufweisen, oder es nicht sicher erscheint, dass die Vertragstexte inhaltlich übereinstimmen – dies kann auch der Fall sein, wenn diese Unsicherheit le­ diglich von einem einzelnen Vertragstext ausgeht.732 Erst wenn diese Unklar­ heiten mit den allgemeinen Auslegungsregeln in Art. 70–73 nicht beseitigt werden könnnen, sollen die in Abs. 3–5 enthaltenen Regeln zur Anwendung kommen – jedoch auch nur dann, wenn der Vertrag die Vorrangsstellung ei­ nes bestimmten Vertragstextes oder den Vorrang einer bestimmten Ausle­ gungsmethode nicht vorsieht. Das Nebeneinander der in Abs. 3–5 aufgestellten Auslegungsregeln ist von Mössner deutlich kritisiert worden.733 Unklar bleibt vor allem das Verhältnis der Abs. 3 und 4 zueinander. Da der methodische Ansatz in beiden Absätzen verschieden ist – Abs. 3 strebt eine harmonisierende Auslegung an,734 wäh­ 729  Vgl. hierzu folgende Ausführung in der Kommentierung des Entwurfs: „[i]t needs to be stressed that in law there is only one treaty – one set of terms accepted by the parties and one common intention with respect to those terms – even when two authentic texts appear to diverge“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63). 730  Die Kommentierung zum Entwurf bezeichnet den Rekurs auf die allgemeinen Auslegungsregeln im Falle des Entdeckens einer Textdivergenz als „first step“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63). Engelen, Tax Treaties (2004), S. 347, scheint in terminologischer Hinsicht zu Recht Bedenken gegen die in der Kommentierung zum Entwurf verwendete Formulierung „normal rules of interpretation“ zu haben – der Einwand, ob es auch „unnormal“ rules of interpretation gibt, liegt auf der Hand. 731  Vgl. Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 237. 732  Vgl. Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63. 733  So hinterfragt Mössner, AVR 15 (1972), 273 (293) insbesondere das Aufstellen dieser Regeln durch Waldock, obwohl dieser selbst deren Nützlichkeit und Brauch­ barkeit anzweifelte. 734  Die Kommentierung zum Entwurf betont hierbei die Abgrenzung dieser Regel zum Mavrommatis-Konzessionen Gutachten, Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II,

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

rend Abs. 4 die Suprematstellung eines Vertragstextes annimmt735 –, kann nur einer von beiden zur Anwendung kommen. Der Entwurf von Waldock lässt diese Problematik ungeklärt. Nicht nachvollziehbar bleibt zudem, wa­ rum Waldock sich mit Art. 75 Abs. 4 für eine Auslegungsregel entschied, die gerade dem auch von ihm als zentral empfundenen Prinzip der Gleichwertig­ keit der verschiedensprachigen Vertragstexte zuwiderläuft.736 Art. 75 Abs. 5 soll als subsidiäre Auslegungsregel angewendet werden, wenn die Anwendung der vorangestellten Auslegungsregeln die Unklarheiten bei der Auslegung eines Vertragsbegriffes nicht beseitigen kann.737 Kritik hat dieser Absatz in der neueren Literatur für seine fehlende Abgrenzbarkeit von Art. 71 Abs. 2 des Entwurfs738 sowie der fehlenden Differenzierung zwischen den nicht-authentischen Texten (z. B. zwischen offiziellen Texten und amtli­ chen Übersetzungen) erfahren.739 Obgleich der Entwurf von Waldock noch einige Fragen offen ließ und für viel Diskussionsstoff sowohl in Wissenschaft als auch Praxis sorgte, bleibt sein Verdienst, die überfällige Debatte um die Kodifikation von Auslegungs­ regeln für das Völkervertragsrecht angestoßen und maßgeblich vorangetrie­ ben zu haben; dies gilt gerade für den zum damaligen Zeitpunkt fraglichen Rechtscharakter der überlieferten Auslegungsregeln. c) Die Rezeption des vorgelegten Berichts von Waldock in der International Law Commission Der dritte Bericht von Waldock zum Völkervertragsrecht wurde am 14.07.1964 in der 765. Sitzung der International Law Commission erstmals 64 f.; die harmonisierende Auslegung soll gerade nicht in restriktiver Weise verstan­ den werden. 735  Die Formulierung „meaning of a term is clear“ deutet hierbei auf die Klarheits­ regel hin. Siehe auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 239 f. Bemerkenswert in der Kommentierung zum Entwurf ist folgende Ausführung: „Although a presumption in favour of a clear, as against an obscure, text is suggested as a matter of common sense, the Special Rapporteur had some hesitation in formulating it as a general rule. It is certainly not an absolute rule […].“ 736  Vgl. auch die Ausführung „[e]very effort should be made to find a common meaning for the texts before preferring one to another“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol.  II, 63 f.). 737  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 65. 738  Dies lässt bereits der erste Teil der Vorschrift erahnen: „Reference may be made to other evidence or indications of the intentions of the parties […]“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 52); diese Vorschrift ist von der Verweisung in Art. 75 Abs. 2 mitumfasst. 739  Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 240 f.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969205

diskutiert.740 Die Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder waren ebenso vielzählig wie aufschlussreich. aa) 765. Sitzung der International Law Commission Die ersten Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder fielen trotz ihrer Anzahl recht unterschiedlich aus. Während einige Kommissionsmitglieder Waldock hauptsächlich Respekt und Anerkennung für seinen Entwurf zoll­ ten741 und sich mit inhaltlichen Äußerungen eher zurückhielten, gingen an­ dere auch verstärkt auf inhaltliche Aspekte des Entwurfs ein.742 Losgelöst von der Thematik der Mehrsprachigkeit sind zunächst die generellen Ein­ schätzungen der Kommissionsmitglieder zum Rechtscharakter der im Ent­ wurf aufgestellten Auslegungsregeln von Interesse. Aufschlussreich zum Rechtscharakter der in Art. 70–75 aufgestellten Aus­ legungsregeln sind die Ausführungen von Kommissionsmitglied Ruda. Die­ ser schließt eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Auslegungsre­ geln – mit Ausnahme der Klarheitsregel – aus und geht stattdessen von einer progressiven Weiterentwicklung des Völkervertragsrechts („progressive de­ velopment of international law“) aus.743 Diese Auffassung stünde im Wider­ spruch zu der in dieser Arbeit vertretenen Ansicht, dass die Gleichwertig­ keits- und Einheitsregel – die in Art. 74 Abs. 1 und Art. 75 Abs. 1 Satz 2 aufgegriffen wurden – völkergewohnheitsrechtliche Geltung haben. Bartos begründet seine Auffassung nicht näher, geht jedoch konsequenterweise von einem höheren Wert solcher Auslegungsregeln mit Blick auf die Rechtssi­ cherheit in den zwischenstaatlichen Beziehungen aus.744 Dürftig wirkt dage­ gen die vorhandene Begründung zur Existenz der Klarheitsregel: Ruda beruft sich lediglich auf die Wendung in claris non fit interpretatio und bezieht sich hierbei auf Vattel. Selbst wenn man die gegen diese Wendung vorgebrachten dogmatischen Zweifel745 ausblendet, bleibt schwerlich nachvollziehbar, wie Ruda zu deren völkerrechtlicher Verbindlichkeit kommt, ohne irgendwelche Hinweise auf die völkerrechtliche Rechtspraxis zu geben – die bloße Bezug­ 740  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 275 ff. etwa die Äußerungen der Kommissionsmitglieder de Luna, Castrén und Tabihi, Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 276. 742  Eine zusammenfassende Darstellung der Äußerungen der Kommissionsmitglie­ der zum Entwurf gibt auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 241 ff. 743  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 277. 744  „With a view to progressive development, rules could thus be submitted to States for their guidance in the interpretation of treaties. Such rules would have the advantage, from the theoretical point of view, of being conducive to the certainty of international transactions.“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 277). 745  Vgl. die obigen Ausführungen zur Klarheitsregel bei Fn. 475 und 481. 741  So

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

nahme auf einen völkerrechtlichen Klassiker wie den von Vattel kann hierbei keinesfalls ausreichen, um den Grundsatz in claris non fit interpretatio fast schon als Selbstverständlichkeit zu formulieren, während alle anderen Ausle­ gungsregeln durchgreifenden Zweifeln begegnen sollen. Die gegensätzliche Ansicht zum Rechtscharakter der Auslegungsregeln deutet sich dagegen in den Ausführungen von Kommissionsmitglied Tunkin an. Obgleich dieser Ruda nicht direkt widerspricht, deutet der Hinweis auf die Existenz der Auslegungsregeln in der internationalen Gerichtspraxis und in der Staatenpraxis746 eher auf das Verständnis einer Kodifikation bestehen­ der völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln hin anstatt auf eine pro­ gressive Weiterentwicklung des Völkerrechts. Position zur Frage des Rechtscharakters der Auslegungsregeln scheint auch Verdross mit seiner Anmerkung zu beziehen, dass die Staaten nicht notwendigerweise an die Auslegungsregeln gebunden seien und auch auf andere Regeln zurückgreifen könnten.747 Dies erinnert stark an folgende Ausführung von Hyde: „It is important to observe that various standards of interpretation are available. The contracting States are free to adopt any one they choose“748

Im Einzelnen wirken die Anmerkungen von Verdross jedoch teilweise nicht schlüssig. Die aufgeworfene Frage nach der Bindungswirkung einer künftigen Kodifikation749 kann nur Staaten betreffen bzw. die für den Staat handelnden Organe; dies hängt freilich davon ab, ob die Staaten sich diesen Auslegungsregeln völkervertraglich unterwerfen. Auf die in diesem Zusam­ menhang einschlägige Vorschrift des Art. 38 Abs. 1 Buchst. a) IGH-Statut geht Verdross nicht ein. Die Ausführungen von Verdross erscheinen jedoch dann einleuchtend, wenn man sie präzisierend insoweit ergänzt, als dass Staaten sich einer Kodifikation von Auslegungsregeln nicht unterwerfen müssen und auch bilateral eigene Auslegungsstandards vereinbaren können. In diesen Zusammenhang passt dann auch die Einlassung des Sitzungsvorsit­ zenden Ago, dass mit der Kodifikation der Auslegungsregeln kein völker­ rechtliches jus cogens geschaffen werden solle;750 hiermit wird die Parteiau­ tonomie der Staaten klarstellend bekräftigt, da – unterstellt, die künftige 746  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 278. Tunkin scheint jedoch großen Wert auf die Reaktionen der Staatengemeinschaft auf den Entwurf zu legen. 747  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 279. 748  Hyde, International Law (1922), S. 61. 749  Vgl. folgende Ausführung: „Who would be bound by the rules? In the first place, it would be the judicial or arbitral body to which a matter was referred by the parties for decision; secondly, a State wishing to interpret a treaty which it had con­ cluded would take the rules as a guide.“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 279). 750  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 280.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969207

Kodifikation der Auslegungregeln wäre zugleich jus cogens – es den Staaten nicht möglich wäre, rechtswirksam von den Auslegungsregeln des künftigen Kodifikationsentwurfs abzuweichen.751 bb) 767. Sitzung der International Law Commission Die Thematik der Mehrsprachigkeit bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge wurde in der 767. Sitzung der International Law Commission am 16.07.1964 aufgegriffen. Auffällig ist hier die deutlich reduzierte Zahl der Anmerkungen gegenüber denen in der 765. Sitzung. Kommissionsmitglied Rosenne bezog sich insbesondere auf die Rolle in­ ternationaler Organisationen, wie sie in Art. 74 Abs. 2 Buchst. b) des Ent­ wurfs angelegt ist. Aufschlussreich ist vor allem seine Bemerkung, dass in der früheren Vertragspraxis hauptsächlich bilinguale Verträge dominierten, während sich mit dem zunehmenden Vordringen des Multilateralismus und der Rolle internationaler Organisationen Auslegungs- und Redaktionsfragen vor allem in diesem Zusammenhang stellen würden; weitere Informationen zur Redaktion mehrsprachiger multilateraler Verträge erhoffte sich Rosenne vom Sekretariat der Vereinten Nationen.752 Obgleich diese Differenzierung von Rosenne zwischen bilateralen und multilateralen Verträgen nicht überbe­ wertet werden sollte für Schlussfolgerungen auf unterschiedliche Ausle­ gungsmaßstäbe, – dass es in diesem Zusammenhang primär um Redaktions­ fragen geht, zeigt der Verweis auf das Sekretariat der Vereinten Nationen753 – ist sie dennoch Teil der Diskussion um die Klassifizierung völkerrechtlicher Verträge und deutet eine entsprechende Positionierung seitens Rosenne zu­ mindest an.754 Kommissionsmitglied Briggs betonte seine Wertschätzung gegenüber dem Entwurf und hob die Bedeutung von Art. 74, 75 für die Kodifikation von Auslegungsregeln für das Völkervertragsrecht hervor. In terminologischer Hinsicht kritisierte er jedoch, dass es im Hinblick auf die betonte Einheit des Vertrages genauer sei, von verschiedenen Sprachfassungen des Vertragstextes 751  Vergleiche hierzu Kadelbach, Zwingendes Völkerrecht (1992), S. 108. Mit dem Inkrafttreten der Wiener Vertragsrechtskonvention wurde dieser Grundsatz in Art. 53 WVK aufgegriffen, siehe hierzu näher Gaja, RdC 172 (1981 III), 271 (283 ff.). 752  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 298 f. Rosenne zeigt als potentielles Prob­ lem auch die erhöhte Anzahl der Vertragssprachen auf. 753  Die Aufbereitung dieser Fragen durch das Sekretariat erfolgte sodann im Me­ morandum „Preparation of multilingual treaties“, UN Doc. A/CN.4/187. 754  Näher zur Frage der Klassifizierung völkerrechtlicher Verträge im Rahmen der Arbeit der International Law Commission zum Völkervertragsrecht siehe Rosenne, Law of Treaties (1970), S. 88 ff.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

zu sprechen und nicht von verschiedensprachigen Vertragstexten.755 Dieser terminologische Aspekt sollte im weiteren Verlauf der Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK wiederholt aufgegriffen werden. Kommissionsmitglied Bartos signalisierte im Wesentlichen seine Zustim­ mung zum Entwurf von Waldock, führte jedoch ergänzend aus, dass es im Hinblick auf die Problematik der Fremdsprachenkompetenz in der Praxis auch üblich gewesen sei, bei bilateralen Verträgen einen dritten authentischen Vertragstext als Vermittlungssprache beizufügen; dies sei im Entwurf nicht berücksichtigt worden.756 Kommissionsmitglied Tunkin führte zum Abschluss der 767. Sitzung der International Law Commission lediglich noch aus, dass die Staatenpraxis betreffend der Sprachenfrage bei völkerrechtlichen Verträgen sehr vielseitig sei und er in Anschluss an die Ausführung von Bartos noch weitere Beispiele bringen könnte. Im Anschluss an diese Stellungnahme einigten sich schließ­ lich die Kommissionsmitglieder, den Entwurf von Waldock an das Drafting Committee zu übermitteln.757 cc) Änderungen an Art. 74, 75 durch das Drafting Committee Art. 74, 75 erfuhren durch das Drafting Committee einige Änderungen. Die neu gefassten Art. 74, 75758 lauteten wie folgt: Art. 74 – Treaties drawn up in two or more languages 1. When the text of a treaty has been authenticated in accordance with the provi­ sions of article 7 in two or more languages, the text is authoritative in each language, except in so far as a different rule may be agreed upon by the parties. 2. A version drawn up in a language other than one in which the text of the treaty was authenticated shall also be authoritative, and considered as an authentic text if – (a) the parties so agree; or (b) the established rules of an international organization so provide. Art. 75 – Interpretation of treaties having two or more texts or versions 1. The expression of the terms of a treaty is of equal authority in each authentic text, unless the treaty itself provides that, in the event of divergence, a particular text or method of interpretation shall prevail.

755  Zum Ganzen siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 299. Briggs führte zu­ dem weiter aus, dass deshalb Art. 111 UNCh ungenau formuliert sei. 756  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 299. 757  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 299. 758  Zitiert nach Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 318 f.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969209 2. The terms of a treaty are presumed to have the same meaning in each text. Except in the case referred to in paragraph 1, when a comparison between two or more authentic text disclose a difference in the expression of a term and any resulting ambiguity or obscurity is not removed by the application of ar­ ticles 70–74, a meaning which is common to both or all the texts shall be preferred.

Am auffälligsten ist zunächst die durchaus drastisch wirkende Kürzung des Umfangs von Art. 75. Die Verschlankung dieser ursprünglich sehr unge­ lenk wirkenden Norm im Entwurf von Waldock durch das Drafting Commit­ tee hat weitreichende Auswirkungen auf ihren materiellen Gehalt. Vergleicht man den redaktionell überarbeiteten Art. 75 Abs. 1 mit Art. 75 Abs. 1 des Entwurfs von Waldock, fällt auf, dass die gleiche Verbindlichkeit der Ver­ tragsbegriffe in jedem authentischen Vertragstext nicht mehr näher an Bedin­ gungen geknüpft wird.759 Die redaktionelle Überarbeitung stellt klar, dass von der gleichen Verbindlichkeit der verschiedensprachigen Vertragsbegriffe in den authentischen Vertragsbegriffen nur noch dann abgewichen werden darf, wenn der Vertrag dies selbst vorsieht.760 In inhaltlicher Hinsicht sticht zudem die Abkehr von der parallelen Kodifikation mehrerer Auslegungsre­ geln, wie dies noch in Art. 75 Abs. 3 bis 5 des Entwurfs von Waldock vorge­ sehen war, hervor. Diese inhaltlichen Änderungen am Entwurf wurden durch die Kommissionsmitglieder aufgegriffen und weiter diskutiert. Spezialberichterstatter Waldock betonte in erster Linie die signifikante Kürzung des Entwurfs in Art. 74, 75. Die Abkehr von der Klarheitsregel könne darin begründet werden, dass diese Regel nicht immer eine Lösung bereithalten würde. Die nun vorgesehene Nichtberücksichtigung nicht-au­ thentischer Vertragstexte – anders noch als in Art. 75 Abs. 5 des Entwurfs – sei auf eine klassische Dammbruchargumentation zurückzuführen.761 Gerade letzterer Aspekt stellt klar, dass die Bedeutung nicht-authentischer Vertrags­ texte bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge aus Sicht der International Law Commission stark eingeschränkt werden sollte. Der Sitzungsvorsitzende wies anschließend darauf hin, dass das Tatbe­ standsmerkmal „The expression of the terms of a treaty“ aus seiner Sicht unklar sei, woraufhin Kommissionsmitglied De Luna näher zu dem aus sei­ 759  Vergleiche die Formulierung „subject to the provisions of the present article“ in Art. 75 Abs. 1 des Entwurfs von Waldock. 760  Im Entwurf von Waldock noch Art. 75 Abs. 2 a. E. 761  So die Stellungnahme von Waldock (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 319): „The provision enshrined in paragraph 5 of the original version concerning the possi­ ble use of nonauthentic texts when all other methods of interpretation had failed to yield a meaning had been dropped on the grounds that it might open the door to too wide a reference to secondary versions of the treaty.“

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

ner Sicht unterschiedlichen Sinn und Zweck der Regelungen von Art. 74, 75 ausführte.762 Kommissionsmitglied Paredes wies auf einen aus seiner Sicht bestehenden Widerspruch im neu gefassten Art. 75 Abs. 2 hin: Es sei nicht erklärbar, wie eine gemeinsame Bedeutung zwischen den verschiedensprachigen Vertrags­ texten („meaning which is common to both or all the texts“) gefunden werden solle, wenn der sprachliche Vergleich gerade Unklarheiten erkennen ließe.763 Dieser Einwand von Paredes schien aus Sicht von Spezialberichterstatter Waldock berechtigt zu sein und er schlug in Anschluss an Paredes vor, an­ statt der Formulierung „meaning which is common to both or all the texts“ den Passus „so far as possible reconciles the different texts shall be adopted“ zu übernehmen. Dieser Vorschlag wurde anschließend einstimmig angenom­ men, der Sitzungsvorsitzende schloss die Sitzung und erklärte, dass die Mei­ nungen der Regierungen der Staaten zum neuen Entwurf abgewartet werden sollen, damit die Kommission ihre Arbeiten zu dieser Thematik abschließen könne.764 Der neu gefasste Entwurf wurde schließlich an die Regierungen der Staa­ ten übermittelt, hierbei wurden die Vorschriften zur Vertragsauslegung im Entwurf renummeriert und die Überschriften zu Art. 74, 75 leicht modifiziert, der Text blieb jedoch – bis auf die inhaltlichen Verweise auf die allgemeinen Auslegungsvorschriften, welche ebenfalls von der Renummerierung erfasst waren – gleich.765

762  In der Sache legte De Luna dar, dass Art. 74 die Festlegung des Auslegungs­ maßstabs betrifft und Art. 75 die eigentlichen Interpretationsregeln zur Auflösung textlicher Divergenzen in mehrsprachigen Verträgen enthält: „[t]he purpose of article 75, in contra-distinction to that of article 74, was to concord the terminology of trea­ ties having more than one version.“ 763  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 319. 764  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 319. Der neu gefasste Art. 75 Abs. 2 lautete nun wie folgt: „The terms of a treaty are presumed to have the same meaning in each text. Except in the case referred to in paragraph 1, when a comparison between two or more authentic text disclose a difference in the expression of a term and any re­ sulting ambiguity or obscurity is not removed by the application of articles 70–74, a meaning which so far as possible reconciles the different texts shall be adopted.“ 765  Die Überschriften der Vorschriften lauteten nun: „Art. 72: Treaties drawn up in two or more languages“; „Art. 73: Interpretation of treaties having two or more texts“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 206; Parallelfundstelle bei Wetzel/Rauschning, VCLT [1978], S. 258). Erkennbar ist nun anders als in der Überschrift zu Art. 75 das Fehlen des Passus „or versions“ im neu nummerierten Art. 73. Siehe weiterführend zur Renummerierung der Vorschriften auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 246 f.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969211

d) Reaktionen aus der Staatengemeinschaft auf den überarbeiteten Entwurf von 1964 Auf den übermittelten Entwurf reagierten insgesamt 27 Staaten mit An­ merkungen, jedoch betrafen nur fünf davon diejenigen zur Auslegung mehr­ sprachiger völkerrechtlicher Verträge.766 Die wenigen Stellungnahmen zu Art. 72, 73 variierten teilweise deutlich. So beschränkte sich etwa die Stel­ lungnahme der finnischen Regierung lediglich darauf, dass sie die Regelun­ gen als angemessen und nützlich erachte,767 während die israelische Regie­ rung die Notwendigkeit des sprachlichen Vergleichs der authentischen Ver­ tragstexte betonte und in diesem Zusammenhang dessen Berücksichtigung als allgemeine Auslegungsregel anregte; außerdem wurde vorgeschlagen, weitere Informationen vom Sekretariat der Vereinten Nationen betreffend der Redaktion mehrsprachiger Verträge einzuholen.768 Die Anmerkung von Portugal lässt im Wesentlichen Zustimmung zu Art. 72, 73 erkennen, jedoch wurde hinterfragt, warum nicht wie bei Art. 69 Abs. 3769 im Entwurf eine spezielle Vorschrift dergestalt für mehrsprachige Verträge aufgenommen wurde, dass bei Vorliegen einer entsprechenden nachgelagerten allgemeinen Übung auch nicht-authentische Vertragstexte berücksichtigt werden können.770 Die Stellungnahme der Vereinigten Staaten von Amerika zu Art. 72, 73 überrascht zunächst nicht weiter unter dem Gesichtspunkt, dass die in Art. 72 Abs. 1 aufgenommene Regel weithin akzeptiert sei,771 diese Aussage ergibt gerade im Lichte der hier vertretenen Auffassung Sinn, dass die Anfänge der Gleichwertigkeitsregel in der Staatspraxis der Vereinigten Staaten von Ame­ rika lagen. Hinsichtlich Art. 73 meinten die Vereinigten Staaten, dass es ge­ nauer sei, von verschiedenen Sprachfassungen zu sprechen und nicht von verschiedensprachigen Vertragstexten, damit der Einheit des Vertrages besser

766  Vgl. die Comments by Governments on parts I, II and III of the draft articles on the law of treaties drawn up by the Commission at its fourteenth, fifthteenth and sixteenth sessions, Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 279 ff.; siehe auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 248. Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 258, übersieht die Stellungnahme Portugals. 767  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 293. 768  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 301. 769  Dieser lautete wie folgt: „Art. 69. General Rule of Interpretation: […] Nr. 3 There shall be taken into account, together with the context: […] b) Any subsequent practice in the application of the treaty which clearly establishes the understanding of all the parties regarding its interpretation.“ 770  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 337. 771  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 359.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Rechnung getragen werde.772 Damit teilten die Vereinigten Staaten die Kritik von Kommissionsmitglied Briggs zum Entwurf von Spezialberichterstatter Waldock,773 ohne jedoch auf Briggs Bezug zu nehmen. Die Stellungnahme der früheren sozialistischen Republik Jugoslawien be­ zieht sich im Wesentlichen nur auf die allgemeinen Auslegungsvorschriften – insbesondere dem Verhältnis der travaux préparatoires zu den allgemeinen Auslegungsvorschriften –, zur Thematik der Mehrsprachigkeit wird lediglich im Ansatz durch den Verweis auf die unterschiedlichen Rechtssysteme der Staaten und die damit einhergehenden möglichen Unterschiede im Verständ­ nis von Rechtsbegriffen Bezug genommen.774 Obgleich die verhältnismäßig wenigen Stellungnahmen aus der Staatenge­ meinschaft zum Kodifikationsentwurf der Auslegungsregeln für völkerrecht­ liche Verträge scheinbar ein eher geringes Interesse der Staaten für diese Rechtsmaterie andeuten, war ihr Wert für die weiteren Arbeiten der Interna­ tional Law Commission nicht zu unterschätzen, da sie wichtige rechtsprakti­ sche Rückmeldungen darstellten.775 2. Der sechste Bericht zum Völkervertragsrecht von Waldock Spezialberichterstatter Waldock griff die Stellungnahmen der Staaten zum Kodifikationsentwurf in seinem sechsten Bericht zum Völkervertragsrecht776 auf und setzte sich insbesondere sehr ausführlich mit den Stellungnahmen von Israel und den Vereinigten Staaten von Amerika auseinander. Aus diesem Grund beschränkt sich hier die Darstellung der Reaktion von Waldock hin­ sichtlich der genannten Staaten.777 Der Anregung von Israel, den Vergleich der verschiedensprachigen Ver­ tragstexte in die allgemeine Auslegungsregel aufzunehmen, begegnete Wal­ dock mit großer Zurückhaltung. Dies überrascht, da Waldock in seiner eige­ nen Kommentierung zum Kodifikationsentwurf von 1964 noch ausgeführt hatte: 772  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 359. Kritik von Briggs zum Entwurf von Waldock siehe oben Fn. 755. 774  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 361. 775  Vgl. hierzu weiterführend Rosenne, Law of Treaties (1970), S. 50. 776  Sixth Report on the Law of Treaties, by Sir Humphrey Waldock, Special Rap­ poteur, Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 51 ff. 777  Hinsichtlich der zwischenzeitlichen Anregung von Kenia, dass der Absatz zu internationalen Organisationen in Art. 72 Abs. 2 Buchst. b) im Kodifikationsentwurf gestrichen werden solle, siehe die knappe Darstellung bei Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 252; zur Stellungnahme Waldocks siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 103. 773  Zur



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969213 „The existence of more than one authentic text clearly introduces a new element – comparison of the texts – into the interpretation of the treaty.“778

In seinem sechsten Bericht zum Völkervertragsrecht führte Waldock je­ doch nun aus, dass die Aufnahme des Textvergleichs als allgemeine Ausle­ gungsregel weitreichende Implikationen hätte. Da jede Sprache ihren eigenen Charakter habe, sei es nicht möglich, exakt dasselbe in den verschiedenspra­ chigen Vertragstexten betreffend Semantik und Syntax auszudrücken. Hier­ durch könne weiterführend die Versuchung des Rechtsanwenders einherge­ hen, ausgehend von der gewöhnlichen Bedeutung eines Vertragsbegriffs Be­ grifflichkeiten in eine andere Vertragssprache zu übertragen, welche diese nicht kennt und so ein verzerrtes Bild bei der Auslegung zu schaffen; des Weiteren sei zu beachten, dass viele bedeutende mehrsprachige völkerrecht­ liche Verträge fünf Vertragssprachen hätten oder einer Vertragssprache eine Vorrangstellung eingeräumt werde.779 Insbesondere der Verweis auf mehr­ sprachige multilaterale Verträge mit fünf Vertragssprachen deutet auf eine skeptische Haltung Waldocks dergestalt hin, dass hiermit eine enorme Erwar­ tung an die Fremdsprachenkompetenz des Rechtsanwenders einhergeht, die realistischerweise selten erfüllt werden kann. Obgleich diese Haltung Wal­ docks nachvollziehbar ist, vermag sie jedoch nicht den Widerspruch zu den gegensätzlichen Ausführungen in seiner Kommentierung zum Kodifikations­ entwurf von 1964 aufzulösen. Anschließend widmete sich Waldock der Stellungnahme der Vereinigten Staaten von Amerika, die darauf drängten, anstelle des Begriffes Text von Version zu sprechen. a) „Text“ oder „version“ Die Anmerkung der Vereinigten Staaten von Amerika hatte aus Sicht von Waldock insoweit hohe Relevanz, da aus seiner Sicht die Einheit des Ver­ trags einer der Kerngrundsätze bei der Auslegung mehrsprachiger völker­ rechtlicher Verträge sei. Diese würde jedoch durch den Begriff „text“ nicht beeinträchtigt, zudem würde die Verwendung dieses Begriffs gefestigter Praxis entsprechen. Des Weiteren würde der Begriff „version“, zumindest im Englischen, eher mit Unterschieden im Sinn assoziiert werden als der Begriff „text“. Soweit in Art. 72 Abs. 2 des überarbeiteten Kodifikationsentwurfs der 778  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63. Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 100: „But it is another thing to attri­ bute legal value to a comparison for the purpose of determining the ordinary meaning of the terms in the context of the treaty; for this may encourage attempts to transplant concepts of one language into the interpretation of a text in another language with a resultant distortion of the meaning.“ 779  Vgl.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Begriff „version“ verwendet werde, in Abs. 1 jedoch der Begriff „text“, stellt Waldock klar, dass dies maßgeblich der Differenzierung von authentischen und nicht-authentischen Texten diene. Dies hänge damit zusammen, dass der Begriff „version“ sehr abstrakt sei, damit sehr weit verstanden werden könne und damit alle Abfassungen des Vertrages in anderen Sprachen umfasse.780 Die Meinungsverschiedenheiten um die Wahl der Begriffe „text“ oder „version“ hat gezeigt, dass diese Wörter unterschiedliche Assoziationen in ihrem Begriffsverständnis auslösen können. Die Ansicht von Waldock be­ stärkt indes die hier vertretene Auffassung, von (den) verschiedensprachigen (authentischen) Vertragstexten zu sprechen. Obgleich die Verwendung des Plurals in diesem Zusammenhang den ersten – unzutreffenden – Eindruck von mehreren Verträgen hervorrufen mag, wird eine andersartige Formulie­ rung, die keinerlei Einwände hervorrufen soll, allein aufgrund der Pluralität der Sprachen bei einem völkerrechtlichen Vertrag kaum möglich sein. Die Verwendung des Begriffes „version“, nur um die Einheit des Vertrages noch­ mals besonders hervorzuheben, wirkt gezwungen und begegnet den von Waldock aufgezeigten zutreffenden Gegeneinwänden. b) Stellungnahmen der Kommissionsmitglieder zum sechsten Bericht zum Völkervertragsrecht Der sechste Bericht von Waldock zum Völkervertragsrecht wurde in der 874. Sitzung der International Law Commission vom 21.06.1966 diskutiert. Diskussionsgrundlage war ein neuer, aus den ursprünglichen Art. 72, 73 des Kodifikationsentwurfs nun verbundener Artikel:781 Article 72  Interpretation of treaties drawn up in two or more languages 1. When the text of a treaty has been authenticated in accordance with the provi­ sions of article 7 in two or more languages, the text is authoritative in each language, unless the treaty otherwise provides. 2. A version of the treaty drawn up in a language other than one of those in which the text was authenticated shall also be considered as an authentic text and au­ thoritative if the treaty so provides or the parties so agree. 3. Authentic texts are equally authoritative in each language unless the treaty pro­ vides that, in the event of divergence, a particular text shall prevail.

780  Zum

Ganzen siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 102. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 208. Beachtenswert ist, dass im ur­ sprüglichen Änderungsvorschlag von Waldock in Art. 72 Abs. 4 zunächst auf „para­ graph 1“ und nicht – wie hier – auf „paragraph 3“ verwiesen wurde, vgl. Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 103; auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 253, dort Fn. 767, weist auf diesen Unterschied hin. 781  Y.B.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969215 4. The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authen­ tic text. Except in the case mentioned in paragraph 3, when a comparison of the texts discloses a difference in the expression of the treaty and any resulting ambiguity or obscurity is not removed by the application of article 69, 70, a meaning which as far as possible reconciles the text shall be adopted.

Kommissionsmitglied Verdross drückte im Wesentlichen seine Zustimmung gegenüber dieser Neufassung aus. Es sei jedoch möglicherweise notwendig, an das Ende von Art. 72 Abs. 4 eine Vorschrift einzufügen, welche den Vor­ rang desjenigen Vertragstextes vorsehe, in dessen Sprache der Vertrag ausge­ arbeitet wurde, falls das Ineinklangbringen der verschiedensprachigen Ver­ tragstexte nicht gelinge.782 Die Anregung von Verdross zielt unmissverständ­ lich auf die Kodifikation der bereits oben im 2. Teil dieser Arbeit darstellten Arbeitssprachenregel ab. Mit dieser Anregung scheint Verdross die Arbeits­ sprachenregel als losgelöst von der Berücksichtigung der Thematik der tra­ vaux préparatoires nach Art. 70 des Kodifikationsentwurfs zu begreifen. Kommissionsmitglied Rosenne nahm Bezug zu den Ausführungen von Waldock betreffend des Vergleichs der verschiedensprachigen Vertragstexte. Rosenne bekräftigte mit Nachdruck die Position der israelischen Regierung und führte insbesondere aus, dass der sprachliche Vergleich wesentlich zur Realisierung des Prinzips der gleichen Verbindlichkeit der Vertragstexte und der Einheit des Vertrages beitragen würde. Er führte weiter aus, dass ein guter Rechtsanwender fast schon automatisch die verschiedensprachigen Vertragstexte vor der eigentlichen Auslegung vergleichen würde.783 Die Kommissionsmitglieder Castrén und Ago regten kleinere inhaltliche Änderungen an Art. 72 an. Castrén schlug vor, Art. 72 Abs. 1 und Abs. 2 dadurch aneinander anzugleichen, dass ebenso wie in Abs. 2 das Tatbestands­ merkmal „or the parties so agree“ eingefügt werde. Ago hob hervor, dass Art. 72 noch weiter verschlankt werden könne, um dessen Verständlichkeit zu erhöhen. Er regte daher an, Abs. 3 ersatzlos zu streichen, da dieser in Bezug auf Abs. 1 redundant sei. Ago nahm zudem Bezug auf den Vorschlag von Verdross zur Arbeitssprachenregel und merkte an, dass die Berücksichti­ gung der den Vertragsschluss begleitenden Umstände über Art. 70 vorgese­ hen sei.784 782  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 208. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 209, vgl. auch oben die in Fn. 581 zitierte Aussage im Rahmen der Ausführungen zur Kontextregel. 784  Zum Ganzen siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 210. Das Ver­ ständnis der Arbeitssprache als Supremat über die Berücksichtigung der travaux préparatoires lehnte er ab: „[t]he Commission should not go so far as to place a pre­ mium on the version drafted in a language which might have been used for purely fortuitous reasons.“ 783  Y.B.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Kommissionsmitglied Briggs stimmte der Argumentation von Ago hin­ sichtlich der Streichung von Abs. 3 zu. Des Weiteren stellte er Art. 72 Abs. 2 infrage, da zweifelhaft sei, ob nicht-authentischen Vertragstexten überhaupt derselbe Interpretationswert zugeschrieben werden könne wie den authenti­ schen Vertragstexten.785 Spezialberichterstatter Waldock griff anschließend die verschiedenen Bei­ träge der Kommissionsmitglieder auf und setzte sich mit diesen auseinander. Die Anmerkung von Verdross zur Arbeitssprachenregel sah er skeptisch, da kein Mehrwert für diese Regel erkennbar sei, wenn über die Verweisung in Art. 72 Abs. 4 die Heranziehung der travaux préparatoires keine weiteren Erkenntnisse ergeben habe. Die Anregung von Rosenne zum Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte sah er ebenfalls kritisch: Obgleich es zutreffend sei, dass ein Rechtsanwender die verschiedensprachigen Vertrags­ texte gewöhnlich miteinander vergleichen würde, würde durch die Aufnahme einer entsprechenden Vorschrift in den Kodifikationsentwurf die vermutete Einheit des Vertrages und der damit einhergehenden Berechtigung, auf die Richtigkeit eines authentischen Vertragstextes vertrauen zu dürfen, in Zwei­ fel gezogen werden. Des Weiteren sprächen rechtspraktische Erwägungen, insbesondere die Frage der Fremdsprachenkompetenz, gegen eine solche rechtliche Verpflichtung. Dem Vorschlag der Streichung von Abs. 3 stimmte Waldock zu, nicht folgen könne er jedoch der Argumentation von Briggs zur Bedeutung von Abs. 2, da andernfalls unter Umständen der Wille der Ver­ tragsparteien unterlaufen werden könnte.786 3. Der finale Entwurf an die Generalversammlung von 1966 Auf Vorschlag von Spezialberichterstatter Waldock war der Kodifikations­ entwurf erneut an das Drafting Committee überwiesen worden, um diesen im Lichte der Beiträge der Kommissionsmitglieder während der 874. Sitzung der International Law Commission zu prüfen. Das Drafting Committee be­ rücksichtigte die Änderungsvorschläge von Ago und führte den so nochmals neu gefassten Art. 72 in die 884. Sitzung der International Law am 05.07.1966 ein:787 785  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 210. Ganzen siehe Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 210 f. Verdross reagierte daraufhin mit der Anmerkung, dass für den Fall der Ablehnung seines Vor­ schlags sich jedem die Frage stellen müsse, was geschehen solle, wenn die „reconci­ liation“ i. S. v. Art. 72 Abs. 4 nicht gelinge. 787  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 270 f. Die nach dieser Fundstelle zitierte Fassung scheint in Abs. 2 einen Grammatikfehler aufzuweisen, anstatt „pro­ vide“ müsste „provides“ stehen (vgl. auch den Hinweis bei Arginelli, Tax Treaties [2015], S. 257). 786  Zum



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969217 Article 72  Interpretation of treaties expressed in two or more languages 1. When a treaty has been authenticated in two or more languages, the text is equally authoritative in each language, unless the treaty provides or the parties agree that, in case of divergence, a particular text shall prevail. 2. A version of the treaty expressed in a language other than one of those in which the text was authenticated shall be considered an authentic text only if the treaty so provide or the parties so agree. 3. The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authen­ tic text. Except in the case mentioned in paragraph 1, when a comparison of the texts discloses a difference of meaning which the application of articles 69 and 70 does not remove, a meaning which as far as possible reconciles the texts shall be adopted.

Die dergestalt gefassten Änderungen wurden vom Sitzungsvorsitzenden nochmals erläutert, insbesondere wurde bekräftigt, dass Abs. 3 im entspre­ chend geänderten Abs. 1 aufgegangen ist.788 Umgeschrieben wurde auch die Überschrift zu dieser Vorschrift, der Passus „drawn up“ wurde durch „ex­ pressed“ ersetzt, des Weiteren wurde die Vokabel „expressed“ in Abs. 2 auf­ genommen. Obgleich Kommissionsmitglied Verdross nochmals Art.  72 Abs. 4 dahingehend kritisierte, dass diese Vorschrift keine weiteren Metho­ denanweisungen beinhalte für den Fall des Nichtgelingens der „reconcilia­ tion“, wurde Art. 72 von den Kommissionsmitgliedern schließlich in einer Abstimmung einstimmig angenommen.789 Der Kodifikationsentwurf gelangte schließlich in die finale Phase, nach­ dem die International Law Commission die Generalversammlung der Verein­ ten Nationen ersucht hatte, eine internationale Konferenz zum Abschluss ei­ ner Konvention zum Völkervertragsrecht einzuberufen.790 In der 893. Sitzung der International Law Commission wurden letztmals kleine Änderungen am Entwurf vorgenommen, so wurde auf Vorschlag von Kommissionsmitglied Ago der Begriff „expressed“ in Abs. 2 wieder entfernt.791 Für den finalen Entwurf an die Generalversammlung der Vereinten Nationen wurden die Vorschriften im Kodifikationsentwurf nochmals renummeriert:792

788  Y.B.

Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 271. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 271. 790  Vgl. die Ausführungen der Kommissionsmitglieder während der 892. Sitzung am 18.07.1966, Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 321 f. 791  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 329. 792  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. II, 224; Parallelfundstellen bei Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 261; ungenau wiedergegeben jedoch bei Schwarzenberger, Va. J. Int’l L. 9 (1968–1969), 1 (3 f.), der die Vorschrift in vier Absätzen zitiert. 789  Y.B.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Art. 29.  Interpretation of treaties in two or more languages 1. When a treaty has been authenticated in two or more languages, the text is equally authoritative in each language, unless the treaty provides or the parties agree that, in case of divergence, a particular text shall prevail. 2. A version of the treaty in a language other than one of those in which the text was authenticated shall be considered an authentic text only if the treaty so provides or the parties so agree. 3. The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authen­ tic text. Except in the case mentioned in paragraph 1, when a comparison of the texts discloses a difference of meaning which the application of articles 27 and 28 does not remove, a meaning which as far as possible reconciles the texts shall be adopted.

4. Die Wiener Vertragsrechtskonferenz Auf das Ersuchen der International Law Commission reagierte die Gene­ ralversammlung der Vereinten Nationen mit zwei Resolutionen. In der Reso­ lution vom 05.12.1966 wurde die besondere Anerkennung für die Arbeiten der International Law Commission zum Völkervertragsrecht gewürdigt und die Einberufung einer internationalen Konferenz zum Abschluss einer Kon­ vention beschlossen.793 Mit Resolution vom 06.12.1967 wurde schließlich beschlossen, dass auf Einladung der österreichischen Regierung beide Ver­ handlungsrunden in Wien stattfinden sollten.794 a) Anmerkungen und Änderungsvorschläge der Staaten Während der 34. Sitzung des Committee of the Whole of the United Na­ tions Conference on the Law of Treaties795 wurde Art. 29 ausgiebig disku­ tiert, eine Vielzahl von Staaten hatten Anmerkungen und Änderungsvor­ schläge. Einige Anmerkungen ließen zunächst ein Beharren auf bereits geäu­ ßerter Kritik erkennen. So schlug etwa der Vertreter der Vereinigten Staaten Amerika zunächst vor, anstelle des Begriffs „text“ den Begriff „language 793  GA Res. 2166 (XXI), Rn. 1 f. Der genaue Ort für die Konferenz stand noch nicht fest, der Generalsekretär der Vereinten Nationen wurde beauftragt, einen geeig­ neten Ort, z. B. Genf, zu bestimmen; des Weiteren wurde festgelegt, dass die Konfe­ renz in zwei Verhandlungsrunden, die erste Anfang 1968 und die zweite Anfang 1969, stattfinden solle (Rn. 3). 794  GA Res. 2287 (XXII), Rn. 1. 795  Siehe United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vi­ enna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 185 ff.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969219

version“ zu verwenden.796 Der in der Sitzung anwesende Spezialberichter­ statter Waldock entgegnete gegenüber diesem Vorschlag fast schon trocken, dass dieser Vorschlag in der International Law Commission bereits umfas­ send diskutiert worden sei.797 Die außerdem geäußerte grundsätzliche Kritik zu Art. 29 Abs. 3 Satz 2 wurde von mehreren Staaten geteilt.798 In diesem Zusammenhang ist der weitere Vorschlag der Vereinigten Staaten von Ame­ rika zu erklären, dass die „reconciliation“ in Art. 29 Abs. 3 Satz 2 nach Ziel und Zweck des Vertrages ausgerichtet werden sollte und hierfür ein neuer Abs. 4 geschaffen werden solle.799 Dieser Vorschlag der Vereinigten Staaten stellte eine echte Neuerung dar, da mit dem Verweis auf Ziel und Zweck des Vertrages ein steuerndes Element in die Auslegungsvorschrift zur Auflösung von Textdivergenzen aufgenommen werden sollte.800 Der Verweis auf Ziel und Zweck des Vertrages stieß zum Teil auf Skepsis, da die teleologische Auslegung bereits Teil der allgemeinen Auslegungsregel sei, überwiegend signalisierten die anderen Staaten jedoch Zustimmung.801 Dies zeigt etwa auch ein ähnlicher Änderungsvorschlag seitens Vietnam, die Formulierung „a meaning which comes closest to the object and purpose of the treaty“ in Art. 29 Abs. 3 Satz 2 aufzunehmen.802 Im Wesentlichen konzentrierten sich 796  United Nations Conference on the Law of Treaties, First and second sessions, Vienna, 26 March–24 May 1968 and 9 April–22 May 1969, Official Records, Docu­ ments of the Conference, S. 151; siehe außerdem United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 188. 797  United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 190. Sehr kritisch gegenüber diesem Vor­ schlag zeigte sich insbesondere auch der französische Vertreter in der Sitzung. 798  Vgl. die Stellungnahme der Vertreter von Australien, Bulgarien und Großbri­ tannien. Bemängelt wurde insbesondere von Australien, dass die „reconciliation“ keine Bezugspunkte aufweise. 799  United Nations Conference on the Law of Treaties, First and second sessions, Vienna, 26 March–24 May 1968 and 9 April–22 May 1969, Official Records, Docu­ ments of the Conference, S. 151. Der neue Abs. 4 sollte wie folgt lauten: „Except in the case mentioned in paragraph 1, when a comparison of the several language ver­ sions discloses a difference in meaning which the application of article 27 does not remove, a meaning shall be adopted which is most consonant with the object and purpose of the treaty.“ 800  Ähnlich auch die Einschätzung bei Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 260 f. 801  Vgl. die Reaktionen der Vertreter der Sowjetunion, von Israel und von Trinidad und Tabago; Zustimmung jedoch etwa vonseiten des italienischen und spanischen Vertreters (United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 190). 802  United Nations Conference on the Law of Treaties, First and second sessions, Vienna, 26 March–24 May 1968 and 9 April–22 May 1969, Official Records, Docu­ ments of the Conference, S. 151.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

damit die Anmerkungen der Staaten bei einer Gesamtbetrachtung auf eine Verbesserung der Regelung in Art. 29 Abs. 3 Satz 2. Dies unterstreicht nicht zuletzt die Anmerkung der australischen Regierung, im Formulierungsvor­ schlag der Vereinigten Staaten „which is most consonant with the object and purpose of the treaty“ den passus „most“ zu streichen und stattdessen die Formulierung „and which best reconciles“ zu verwenden803 – hiermit wurde die Position der Vereinigten Staaten nochmals deutlich gestärkt und im Hin­ blick auf das Streichen des Passus „most“ redaktionell verbessert. Insofern ist es nicht weiter überraschend, dass auf die Anmerkung des bulgarischen Vertreters, dass auch die Arbeitssprachenregel kodifiziert werden sollte für den Fall des Nichtgelingens der „reconciliation“,804 nicht weiter gesondert eingegangen wurde. b) Letzte redaktionelle Überarbeitung durch das Drafting Committee und Renummerierung Nachdem am Ende der 34. Sitzung beschlossen worden war, dass Art. 29 im Lichte der Änderungsvorschläge der Staaten durch das Drafting Commit­ tee erneut geprüft werden sollte, teilte der Vorsitzende des Drafting Commit­ tees Yasseen in der 74. Sitzung am 16.06.1968 mit, dass der Vorschlag der Vereinigten Staaten von Amerika übernommen wurde, Art. 29 Abs. 3 Satz 2 in einen neuen Abs. 4 zu verschieben. Art. 29 lautete nun wie folgt:805 Article 29 1. When a treaty has been authenticated in two or more languages, the text is equally authoritative in each language, unless the treaty provides or the parties agree that, in case of divergence, a particular text shall prevail. 2. A version of the treaty in a language other than one of those in which the text was authenticated shall be considered an authentic text only if the treaty so provides or the parties so agree. 3. The terms of the treaty are presumed to have the same meaning in each authen­ tic text.

803  United Nations Conference on the Law of Treaties, First and second sessions, Vienna, 26 March–24 May 1968 and 9 April–22 May 1969, Official Records, Docu­ ments of the Conference, S. 151. 804  United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 189. 805  United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 442.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969221 4. Except in the case mentioned in paragraph 1, when a comparison of the authen­ tic texts discloses a difference of meaning which the application of articles 27 and 28 does not remove, a meaning which best reconciles the texts, having re­ gard to the object and purpose of the treaty, shall be adopted.

Der auf diese Weise neu gefasste Absatz 4 deutet erkennbar auf den Ein­ fluss des australischen Formulierungsvorschlags hin.806 Für die finale Ab­ stimmung in der Konferenz wurden schließlich nochmals kleine Änderungen an der Vorschrift vorgenommen: In die Überschrift zu Art. 29 wurde das Wort „authenticated“ eingefügt, womit diese nun „Interpretation of Treaties authenticated in two or more languages“ lautete, um klarzustellen, dass sich der Begriff „interpretation“ auf „treaties“ bezieht und nicht auf „languages“. Des Weiteren wurde die Formulierung „except in the case mentioned in pa­ ragraph 1“ durch „Except where a particular text prevails in accordance with paragraph 1“ ersetzt. Art. 29 wurde schlussendlich für die Artikelnummerie­ rung der Konvention zu Art. 33 renummeriert und mit 101 Stimmen ohne Gegenstimme von der Konferenz angenommen. Der Präsident kommentierte daraufhin die Annahme dieser Vorschrift wie folgt: „[t]he Conference had successfully disposed of the most controversial and difficult subject in the whole field of the law of treaties, the question of the interpretation of treaties.“807

II. Die Auslegung von Art. 33 WVK Obgleich mit Art. 33 WVK schriftlich fixierte Regeln für die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge vorliegen, wirft die Auslegung dieses Artikels selbst einige Fragen auf. Diese betreffen einerseits die Syste­ matik dieser Vorschrift, d. h. einerseits der Bezug von Art. 33 WVK zu den vorhergehenden Auslegungsvorschriften in Art. 31, 32 WVK und das Ver­ hältnis der einzelnen Absätze in Art. 33 zueinander, aber auch methodentech­ nische Fragen bei der Anwendung von Art. 33 WVK. Die folgenden Ausfüh­ rungen verstehen sich teilweise als Ergänzung zur Behandlung dieser The­ matik in der Literatur, wo jedoch hauptsächlich Art. 33 Abs. 4 WVK in den Fokus genommen wird.808

auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 263. Ganzen hierzu siehe United Nations Conference on the Law of Treaties, Second Session, Vienna, 29 April–22 May 1969, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 58 f. 808  Siehe statt vieler insbesondere Linderfalk, Interpretation (2010), S. 358 ff. 806  So

807  Zum

222

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

1. Die Normstruktur von Art. 33 WVK Art. 33 WVK lässt sich grob einteilen in einerseits die Festlegung des Auslegungsmaßstabs und die eigentlichen Auslegungsregeln. Lediglich Letz­ tere sind als Methodenanweisung bestimmt, wie eine Textdivergenz zwischen authentischen Vertragstexten vom Rechtsanwender aufzulösen ist. Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 sind hierbei der Festlegung des Auslegungsmaßstabs zuzu­ rechnen, während Art. 33 Abs. 3 und Abs. 4 die eigentlichen Auslegungsre­ geln aufstellen.809 a) Art. 33 Abs. 1 WVK Art. 33 Abs. 1 WVK hat nach einhelliger, nicht bestrittener Auffassung die bereits völkergewohnheitsrechtlich bestehende Gleichwertigkeitsregel kodifi­ ziert.810 Hierauf deuten sowohl die Entstehungsgeschichte dieser Norm im Hinblick auf die Arbeiten in der International Law Commission hin als auch die hier in dieser Arbeit untersuchte historische Staatspraxis. Eben diese spiegelte auch jenes Regel-Ausnahme-Verhältnis der Gleichwertigkeit wider, wie dieses nun auch explizit in Art. 33 Abs. 1 WVK bekräftigt wird: Es wird eine Vermutung zugunsten der gleichen Verbindlichkeit der Vertragstexte aufgestellt,811 deren Widerlegung nur durch eine entsprechende vertragliche Vereinbarung nachgewiesen werden kann. Des Weiteren gilt der vertraglich vereinbarte Vorrang eines bestimmten Vertragstextes auch nur im Falle der Abweichung der verschiedensprachigen authentischen Vertragstexte zueinan­ der („in case of divergence“). Das Tatbestandsmerkmal „authenticated“ stellt klar, dass zwei oder mehr Vertragstexte vorliegen müssen, welche das Verfahren der Authentifizierung in Art. 10 WVK durchlaufen haben. Hiermit wird implizit eine Aussage zur Hierachie der Vertragstexte getroffen: Es sind im Grundsatz nur die authen­ tischen Vertragstexte, welche für die Auslegung gleichermaßen verbindlich sind.812

809  Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (401); Mössner, AVR 15 (1972), 273 (297); Papaux/Samson, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commentary (2011), Art. 33, Rn. 45; Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 8. 810  Vgl. aus der Kommentarliteratur Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Com­ mentary (2012), Art. 33, Rn. 12; Papaux/Samson, in: Corten/Klein (Hrsg.), Commen­ tary (2011), Art. 33, Rn. 47; Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 5. 811  So die zutreffende zusammenfassende Charakterisierung von Art. 33 Abs. 1 WVK durch Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 5. 812  Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art.  33, Rn. 13.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969223

b) Art. 33 Abs. 2 WVK Art. 33 Abs. 2 WVK spricht anders als Art. 33 Abs. 1 WVK nicht von ei­ nem Vertragstext sondern einer Sprachfassung. Dieser kommt im Grundsatz nicht dieselbe Wertigkeit zu wie den authentischen Vertragstexten, womit sie für die Auslegung grundsätzlich nicht verbindlich ist.813 Art. 33 Abs. 2 WVK bezieht sich in der Sache auf die bereits oben dargestellten sog. offiziellen Texte und amtlichen Übersetzungen sowie deren grundsätzlich untergeordne­ tes hierachisches Verhältnis in Bezug zu den authentischen Texten. Art. 33 Abs. 2 WVK bekräftigt dieses hierachische Verhältnis dergestalt ausdrück­ lich, dass nur bei einer einschlägigen Vertragsbestimmung oder Parteiabrede auch eine nicht-authentische Sprachfassung berücksichtigt werden darf.814 Insbesondere die Heranziehung amtlicher Übersetzungen ohne zumindest gleichzeitige Berücksichtigung wenigstens eines authentischen Vertragstextes ist nicht mit Art. 33 Abs. 2 WVK zu vereinbaren.815 Dies lässt sich auch nicht mit dem Argument rechtfertigen, dass es bei bestehender Übereinstimmung zwischen authentischem Text und amtlicher Übersetzung legitim sei, aus­ schließlich auf die Übersetzung – etwa im Hinblick auf fehlende Fremdspra­ chenkompetenz – zurückzugreifen.816 Eine solche contra legem-Festlegung des Auslegungsmaßstabs ist dafür prädestiniert, Textdivergenzen zwischen den authentischen Vertragstexten zu übersehen. Die Folgen dieser dann fehler­ haften Auslegung können weitreichend sein: Denkbar ist in gravierenden Fäl­ len die völkerrechtliche Verantwortlichkeit des betreffenden Staates im Sinne der Vertragshaftung, in einem gerichtlichen Verfahren auf nationaler Ebene läge die Annahme eines Verstoßes gegen revisibles Recht nahe, welches je nach Entscheidungserheblichkeit des Rechtsverstoßes zu einer Aufhebung der Entscheidung durch das instanziell übergeordnete Gericht führen könnte.817 813  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 28; Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 7, fügt noch hinzu, dass es aus diesem Grund nicht notwendig sei, einen Ausgleich zwischen einem authentischen Vertrags­ text und einer nicht-authentischen Sprachfassung zu suchen. 814  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 29, scheint zutreffend von einem Regel-Ausnahme-Verhältnis bezüglich authentischer Vertragstexte und nicht-authentischer Sprachfassungen für die Festlegung des Ausle­ gungsmaßstabs auszugehen. 815  Vgl. etwa die deutliche Kritik von Paulus, in: Sloss (Hrsg.), Treaty Enforce­ ment (2009), S. 222, dort Fn. 64, an der Entscheidung des OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 09.10.2007 – 15 A 1596/07 = DVBl. 2007, 1442 (1443), in welcher das OVG in fehlerhafter und unreflektierter Weise die nicht-verbindliche deutsche Übersetzung für die Auslegung heranzog. 816  Vgl. auch oben Fn. 158. 817  Vgl. hierzu Hilf, Verträge (1973), S. 77 ff.; S. 176; Waibel, in: Aust/Nolte (Hrsg.), Domestic Courts (2016), S. 22. Waibel legt jedoch dar, dass im angloamerikanischen

224

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

c) Art. 33 Abs. 3 WVK Art. 33 Abs. 3 WVK hat die Einheitsregel kodifiziert, nach welcher der Vertrag ungeachtet der verschiedensprachigen Vertragstexte als eine Einheit zu betrachten ist,818 zudem war die völkergewohnheitsrechtliche Geltung der Einheitsregel vom Internationalen Gerichtshof bestätigt worden.819 Art. 33 Abs. 3 WVK geht damit sachlich nicht über die völkergewohnheitsrechtliche Einheitsregel hinaus und kann daher inhaltsgleich mit dieser verstanden wer­ den. Dies betrifft vor allem die nach überwiegender Auffassung bestehende Berechtigung, auf die inhaltliche Richtigkeit eines authentischen Vertragstex­ tes bei der Auslegung vertrauen zu dürfen und nicht im Ausgangspunkt die verschiedensprachigen Texte miteinander vergleichen zu müssen.820 Diese Schlussfolgerung für Art. 33 Abs. 3 WVK wird aus der Entstehungsge­ schichte von Art. 33 WVK gewonnen, aus der hervorgeht, dass sich Forde­ rungen – insbesondere von Israel und seinem UN-Botschafter Shabtai Ro­ senne – nach einem Textvergleich vor der Auslegung nicht haben durchsetzen können. Ob die Rechtspraxis in den nachfolgenden Jahrzehnten ein Abwei­ chen hiervon erkennen lässt und ungeachtet des Fehlens einer rechtlichen Verpflichtung in Art. 33 Abs. 3 WVK dennoch im Ausgangspunkt einen Textvergleich vornimmt, wird sich noch zeigen.821 d) Art. 33 Abs. 4 WVK Art. 33 Abs. 4 WVK statuiert die entscheidende Methodenanweisung für die Auflösung textlicher Divergenzen in mehrsprachigen Verträgen. Wie diese Methodenanweisung im Einzelnen verstanden werden kann, ist im Schrifttum umstritten.822 Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass Art. 33 Abs. 4 WVK anspruchsvolle methodische Fragestellungen aufwirft, die zunächst den Zusammenhang zur vermuteten inhaltlichen Übereinstim­ mung der Texte nach Art. 33 Abs. 3 WVK betreffen. Hieran knüpft die Pro­ Rechtskreis die Möglichkeiten, die Einlegung eines Rechtsmittels mit der unzutreffen­ den Anlegung des Interpretionsmaßstabs zu begründen, sehr gering sind. 818  Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art.  33, Rn. 30; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (300); Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 8. 819  IGH, Kasikili/Sedudu Island (Botswana v. Namibia), I.C.J. Reports 1999, 1045, § 25. 820  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 31; Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 8. 821  Vgl. in diesem Sinne Hilf, Verträge (1973), S. 75. 822  Siehe nur die Darstellung bei Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 364 ff.; auch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (300 f.) legt verschiedene Deutungsmöglichkeiten dar.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969225

blematik der Widerlegung der Vermutung der inhaltlichen Übereinstimmung der Texte an.823 Die fehlende Übereinstimmung kann indes nur durch einen Sprachvergleich der verschiedenen Texte aufgedeckt werden („when a com­ parison of the authentic texts discloses a difference of meaning“824) – dies wirft die Frage auf, wann die verschiedensprachigen Texte miteinander ver­ glichen werden müssen, insbesondere wenn man Art. 33 Abs. 3 WVK nach der überwiegenden Ansicht so versteht, als Rechtsanwender auf die inhaltli­ che Richtigkeit eines authentischen Vertragstextes vertrauen zu dürfen.825 Art. 33 Abs. 4 WVK verweist schließlich auf die allgemeinen Auslegungs­ vorschriften in Art. 31, 32 WVK. Hiermit wird bekräftigt, dass die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge nicht isoliert von den allgemeinen Auslegungsregeln gedacht werden kann. Die Ausführung der im letzten Teil von Art. 33 Abs. 4 genannten „reconciliation“ wird von einer erfolglosen Anwendung von Art. 31, 32 WVK abhängig gemacht („does not remove“). Hier lässt sich fragen, inwieweit die Formel des „object and purpose“ mit Leben gefüllt werden soll, wenn etwa die Anwendung von Art. 31 Abs. 1 WVK – die auch jenen Begriff erwähnt – keine Lösung gebracht hat.826 2. Das Verhältnis von Art. 33 WVK zu den allgemeinen Auslegungsvorschriften Das Tatbestandsmerkmal „which the application of articles 31 and 32 does not remove“ bekräftigt, dass eine entdeckte Textdivergenz zunächst durch die Anwendung dieser Vorschriften aufzulösen ist. Hilf charakterisiert in diesem Zusammenhang Art. 33 Abs. 4 WVK anschaulich als Auffangvorschrift.827 In methodischer Hinsicht ergeben sich hierbei einige Fragestellungen: So lässt sich fragen, warum der Rechtsanwender erneut auf die allgemeinen Ausle­ gungsvorschriften zugreifen soll, wenn er nach einem Vergleich der verschie­ densprachigen Vertragstexte zu der Überzeugung gekommen ist, dass die vermutete inhaltliche Übereinstimmung i. S. v. Art. 33 Abs. 3 WVK nicht mehr vorliegt – diese Überzeugungsgewissheit kann er sich nur verschafft haben, 823  Siehe hierzu Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 364 f.; Dörr, in: Dörr/Schmalen­ bach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 33; Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (414); Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 8. 824  Die unterschiedliche Verwendung der Begriffe „divergence“ in Abs. 1 und „dif­ ference of meaning“ in Abs. 4 hat keine besondere Bedeutung, da sich aus der Entste­ hungsgeschichte von Art. 33 WVK ergibt, dass keine Unterschiede beabsichtigt wa­ ren, siehe Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 271 f.; Mössner, AVR 15 (1972), 273 (300), dort Fn. 130; Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 10. 825  Vgl. auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 268. 826  Siehe nur Hilf, Verträge (1973), S. 101. 827  Hilf, Verträge (1973), S. 101.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

wenn er bereits in Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln die jewei­ lige Wortbedeutung in den verschiedenen Sprachen erschlossen hat. Außerdem stellt sich die Frage, ob eine erfolgreiche Auflösung der Textdivergenz in An­ wendung von Art. 31, 32 WVK sich von einer mittels „reconciliation“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK unterscheidet,828 und ob sich hierbei überhaupt metho­ disch trennscharfe Grenzen zwischen der Anwendung von Art. 31, 32 WVK und der „reconciliation“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK ziehen lassen.829 a) Die Bedeutung von Art. 31, 32 WVK bei der Auflösung von Textdivergenzen Art. 31, 32 WVK enthalten eine Kombination mehrerer Auslegungsgrund­ sätze. Dies verdeutlicht allein Art. 31 Abs. 1 WVK mit den Tatbestandsmerk­ malen „ordinary meaning“, „context“ und „object and purpose“. Hiermit wird methodisch Bezug genommen auf jene Auslegungsgrundsätze, die gemeinhin unter den Schlagwörtern Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck bekannt sind.830 Die Heranziehung der travaux préparatoires nach Art. 32 WVK zielt hingegen auf den Auslegungsgrundsatz der historisch-genetischen Auslegung ab – diese sollen jedoch nur subsidiär herangezogen werden, wie einerseits die Überschrift („Supplementary Means of Interpretation“) und die normier­ ten Voraussetzungen in Buchst. a) und b) erkennen lassen.831 Das Tatbestandsmerkmal des „ordinary meaning“ in Art. 31 Abs. 1 WVK hat bei der Auflösung von Textdivergenzen eine größere Rolle, als es auf dem ersten Blick erscheint. Die wiederholte Feststellung, dass Textdivergen­ zen nur über einen Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte ent­ deckt werden können, täuscht schnell darüber hinweg, dass dieser ausschließ­ lich von der jeweiligen Ermittlung des „ordinary meaning“ eines Vertragsbe­ griffs abhängt. In diesem Zusammenhang ist deshalb nicht ganz zu Unrecht suggeriert worden, dass der Vergleich der Texte Teil der allgemeinen Ausle­ gungsregeln sei832 – trotz der Stellung des Tatbestandsmerkmals „compari­ 828  Diese Frage wird auch von Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 272, aufgeworfen. 829  Siehe etwa folgenden Abschnitt bei Gardiner, Interpretation (2015), S. 446: „Using preparatory work in reconciling differences between languages“. Dies sugge­ riert, dass die Anwendung von Art. 32 WVK als Grundlage für die „reconciliation“ betrachtet wird. 830  Vgl. näher hierzu Herdegen, Interpretation (MPEPIL 03/2013), Rn. 11 ff.; ders., Völkerrecht (2017), § 15, Rn. 28. 831  Herdegen, Interpretation (MPEPIL 03/2013), Rn. 16 f. 832  So jedenfalls die Lesart bei Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 34: „[t]o establish, by applying Arts 31 and 32 VCLT, a diffe­ rence of meaning between different authentic languages of the treaty […].“



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969227

son“ in Art. 33 Abs. 4 WVK. Denkbar sind nun nach Gächter-Alge aufgrund des sprachlichen Vergleichs der Texte folgende Konstellationen: So ist es möglich, dass die Ermittlung des „ordinary meaning“ der verschiedenspra­ chigen Vertragstexte gelingt, jedoch festgestellt wird, dass dieser nicht oder möglicherweise teilweise nicht übereinstimmt. Eine weitere Möglichkeit ist, dass der „ordinary meaning“ in einer Vertragssprache sich ohne Schwierig­ keiten eindeutig ermitteln lässt, in einer anderen Vertragssprache jedoch nicht, etwa da mehrere Deutungsmöglichkeiten gleichermaßen in Betracht kommen.833 Hinsichtlich letzterer Konstellation wird man jedoch beachten müssen, inwieweit die Vermutungswirkung in Art. 33 Abs. 3 WVK als wider­ legt angesehen werden muss und warum gerade die Notwendigkeit besteht, über die Verweisung in Art. 33 Abs. 4 WVK auf Art. 31, 32 WVK zurückzu­ greifen.834 Wenn die Ermittlung des „ordinary meaning“ eines Vertragsbegriffes in den verschiedensprachigen Vertragstexten zu der Erkenntnis geführt hat, dass dieser nicht deckungsgleich ist, wird man konstatieren müssen, dass die Aus­ legung des betreffenden Vertragsbegriffes nach seinem Wortlaut nicht mehr weiterführen und die Inkongruenz im Wortsinn nicht beseitigen kann. Gelingt dies doch, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die rein grammatische Er­ mittlung des Wortsinns einer der verschiedensprachigen Vertragsbegriffe un­ zutreffend war. Wenn die Textdivergenz in Anwendung von Art. 31, 32 WVK aufgelöst werden soll, muss konsequenterweise auf die übrigen, in Art. 31, 32 WVK niedergelegten Auslegungsgrundsätze zurückgegriffen werden, d. h. die Anwendung von Art. 31, 32 WVK ist praktisch gesehen unter Ausklamme­ rung der grammatischen Auslegung auf die systematische, teleologische und historisch-genetische Auslegung beschränkt. Die Anwendung dieser Ausle­ gungsgrundsätze kann dann ggf. zu einem Ergebnis führen, welches die text­ liche Divergenz überwindet,835 ohne auf das Verfahren der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK zurückgreifen zu müssen. Aus der Rechtspraxis sind ei­ nige Fälle bekannt, in welchen die fehlende Übereinstimmung im Sinn zwi­ schen den Texten ohne „reconciliation“ überwunden werden konnte.836 Der Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 271. nur etwa IGH, Elettronica Sicula S.p.A (ELSI) (United States of America v. Italy), Judgment, I.C.J. Reports 1989, 15, § 132; außerdem Court of Appeals of Alaska, Thomas Busby, Appellant, v. STATE of Alaska, Appellee, 40 P.3d 807 (815). Generell erscheint fragwürdig, ob letztere beschriebene Konstellation das Tatbe­ standsmerkmal „difference of meaning“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK erfüllt. 835  So ist es freilich denkbar, dass die Ermittlung der Bedeutung eines Vertragsbe­ griffs im Lichte der systematischen, teleologischen oder historisch-genetischen Ausle­ gung anders ausfallen kann als bei einer reinen Wortlautanalyse. 836  Siehe etwa EGMR, Niemietz v. Germany, Appl. No. 13710/88, Rn. 30 f. (Argu­ mentation nach Sinn und Zweck in Rn. 31); EGMR, Van der Mussele v. Belgium, Appl. No. 8919/80, Rn. 33 ff., in Rn. 38 stellt der EGMR maßgeblich auf die Struktur 833  Vgl. 834  Vgl.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Unterschied einer erfolgreich aufgelösten Textdivergenz in Anwendung von Art. 31, 32 WVK zu einer mittels „reconciliation“ liegt hierbei darin, dass das Auslegungsergebnis maßgeblich noch auf einen authentischen Text gestützt werden kann (der oder die anderen Texte dürfen wegen der normierten Gleichwertigkeit in Art. 33 Abs. 1 WVK freilich nicht unberücksichtigt blei­ ben und das gefundene Auslegungsergebnis darf diesen auch nicht widerspre­ chen), während bei einer „reconciliation“ das Auslegungsergebnis aufgrund der Verwendung des Plurals in Art. 33 Abs. 4 WVK („the texts“) zwingend von einer Gesamtbetrachtung der divergierenden Texte ausgehen muss.837 Die Kritik von Gächter-Alge, dass in der Rechtspraxis reflexhaft auf den Begriff „reconciliation“ Bezug genommen wird, obgleich eine Lösung über die allgemeinen Auslegungsregeln möglich ist oder sogar in der Sache vorge­ nommen wurde, ist in diesem Zusammenhang nachvollziehbar.838 Das von ihr als Beleg herangezogene Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall LaGrand ist sicherlich das Paradebeispiel schlechthin,839 da im Urteil einer­ seits ausdrücklich auf die „reconciliation“ Bezug genommen wird,840 an an­ derer Stelle aber seitenlang die travaux préparatoires analysiert werden841 und damit in der Sache eine Lösung der Textdivergenz in Art. 41 IGH-Statut über Art. 32 WVK vorgenommen wurde. Die unsaubere Methodik im La­ Grand-Urteil hat auch Überlegungen von Gardiner wie „using preparatory work in reconciling differences between languages“ maßgeblich befeuert.842 Die Frage, ob sich methodisch trennscharfe Grenzen zwischen einer erfolg­ reich aufgelösten Textdivergenz über Art. 31, 32 WVK oder einer mittels „reconciliation“ ziehen lassen, sollte daher ungeachtet des LaGrand-Urteils positiv beantwortet werden. der streitgegenständlichen Vorschrift ab; IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judg­ ment, I.C.J. Reports 2001, 575, § 47; WTO Appellate Body, Measures affecting the cross border supply of gambling and betting services, WT/DS285/AB/R (07.04.2005), Rn. 242 ff. (Bezugnahme auf travaux préparatoires in Rn. 248). 837  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 272; ebenso Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 159. 838  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 275. 839  Siehe jedoch beispielhaft auch die unsaubere Methodik bei EGMR, Stoll v. Switzerland, Appl. No. 69698/01, Rn. 59 ff. So ist es nicht nachvollziehbar, weshalb der EGMR in Rn. 59 der Entscheidung auf Art. 33 Abs. 4 WVK Bezug nimmt und damit implizit die Vermutung nach Art. 33 Abs. 3 WVK als widerlegt ansieht, in Rn. 61 sein Auslegungsergebnis jedoch maßgeblich auf Art. 33 Abs. 3 WVK stützt. 840  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101. 841  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, §§ 104 ff. 842  Gardiner, Interpretation (2015), S. 446.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969229

b) Die Frage der Redundanz der Verweisung Die Verweisung auf die allgemeinen Auslegungsvorschriften in Art. 33 Abs. 4 WVK wirft die Überlegung auf, ob diese als redundant angesehen werden kann,843 da der Rechtsanwender schließlich bei der Auslegung einer Vertragsvorschrift zunächst auf die allgemeine Auslegungsregel in Art. 31 WVK zurückgegriffen haben wird, dann wegen festgestellter oder erahnter Textdivergenzen Art. 33 WVK heranzieht, dessen Absatz 4 ihn schließlich erneut auf die allgemeinen Auslegungsvorschriften verweist. Diese schein­ bare zweifache Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln erscheint je­ doch nur auf den ersten Blick redundant. Stellt man die Anwendung der Regeln in Art. 31 WVK an den Beginn eines jeden Auslegungsprozesses, so ist es denklogisch, dass der Rechtsanwender nach einer weiteren Methoden­ anweisung sucht, wenn er bei Ermittlung des „ordinary meaning“ i. S. v. Art. 31 Abs. 1 WVK auf Unstimmigkeiten zwischen den verschiedensprachi­ gen Vertragstexten stößt. Die in Art. 33 Abs. 4 WVK kodifizierte Methoden­ anweisung bekräftigt ihn hierbei lediglich zunächst, die Unstimmigkeiten mithilfe der allgemeinen Auslegungsregeln auszuräumen. Hierdurch wird auch der oben genannte Auffangcharakter der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK unterstrichen. Die Vorstellung, dass der Verweis auf die allge­ meinen Auslegungsregeln in Art. 33 Abs. 4 WVK redundant sei, rührt daher maßgeblich von einem unzutreffenden Bild der ersten Bezugnahme auf die allgemeinen Auslegungsregeln zu Beginn der Auslegung her: Die Konsulta­ tion der Vorschrift des Art. 33 Abs. 4 WVK als solche, weil der Rechtsan­ wender nach einer Methodenanweisung zur Auflösung textlicher Divergenzen sucht, ist – anders als das Verfahren der „reconciliation“ als letzte Möglich­ keit – nicht von einer erfolglosen Anwendung von Art. 31, 32 WVK bedingt. Die Konsultation von Art. 33 Abs. 4 WVK gibt damit dem Rechtsanwender nochmal die Gelegenheit, sich selbst zu hinterfragen, inwieweit er das Poten­ tial der allgemeinen Auslegungsregeln zur Auflösung der Textdivergenz voll ausgeschöpft hat. Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Charakterisie­ rung der relevanten Rechtsprechung durch Gächter-Alge, wonach die allge­ meinen Auslegungsregeln zur Untermauerung des gefundenen Auslegungser­ gebnisses ausgereicht hätten und ein Bezug auf das Verfahren der „reconcili­ ation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK gar nicht notwendig war.844 843  Vgl. Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 275, jedoch ohne Angabe wei­ terer Nachweise. 844  Vgl. Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 275. Als Beispiel kann hier erneut der IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Reports 2001, 466, § 101 ff. genannt werden: Den ermittelten Sinn und Zweck von Art. 41 IGH-Statut hätte der Gerichtshof bereits methodisch anhand Art. 31 Abs. 1 WVK verankern können.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

3. Auslegungsfragen bei Art. 33 Abs. 4 WVK Die Anwendung und Auslegung von Art. 33 Abs. 4 WVK wirft im System der Auslegungsvorschriften der Art. 31–33 WVK die meisten Fragen auf. Ein zentrales Problem, welches den Kern der Thematik der Mehrsprachigkeit betrifft, ist das Verständnis des Tatbestandsmerkmals „comparison of the authentic texts“. Obgleich im Hinblick auf die postulierte Einheit des Ver­ trags ein prophylaktischer Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte sich bei der Redaktion von Art. 33 WVK nicht durchgesetzt hatte, bestand dennoch Einigkeit, dass der Vergleich als neues Element bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge hinzukäme.845 Von Art. 33 WVK wird damit der Zeitpunkt des Textvergleichs offen gelassen, auch die Kommentierung der International Law Commission zu ihren Entwürfen sowie Literatur und Rechtsprechung geben hierüber keine eindeutige Auskunft.846 Auslegungsbedürftig ist zudem der Begriff der „reconciliation“. Hier stellt sich bereits die Frage, wie dieses Verfahren methodisch ablaufen soll. Wei­ terführend stellt sich zudem die Frage, weshalb die „reconciliation“ an Ziel und Zweck des Vertrages ausgerichtet werden soll, wenn die Ermittlung desselben über Art. 31, 32 WVK gescheitert ist.847 a) Der Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte im normativen System von Art. 33 Abs. 3 und Abs. 4 WVK Die Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention bestim­ men keinen Zeitpunkt, wann die verschiedensprachigen Vertragstexte mitein­ ander verglichen werden müssten. Teilweise wird die Annahme vertreten, dass nach der Wiener Vertragsrechtskonvention sogar überhaupt keine Pflicht zum Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte bestünde.848 Diese Annahme erscheint indes sowohl mit dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 4 WVK als auch dessen Entstehungsgeschichte nicht vereinbar.849 Wie bereits darge­ stellt, schützt Art. 33 Abs. 3 WVK nach der (noch) überwiegenden Auffas­ sung das berechtigte Vertrauen des Rechtsanwenders auf die Richtigkeit nur eines authentischen Vertragstextes; die hieraus gewonnene Schlussfolgerung, 845  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 63: „The existence of more than one au­ thentic text clearly introduces a new element – comparison of the texts – into the interpretation of the treaty.“ 846  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 268; vgl. auch Hilf, Verträge (1973), S. 80; Resch, B.T.R. 2014, 307 (320). 847  Hilf, Verträge (1973), S. 101. 848  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 267. 849  Vgl. die zitierte Fundstelle in Fn. 845.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969231

dass kein prophylaktischer Vergleich notwendig sei, unterscheidet sich subs­ tantiell von der Aussage, dass die Wiener Vertragsrechtskonvention überhaupt nicht zu einem Textvergleich zwinge. Entscheidend für die Bestimmung des Zeitpunkts des Textvergleichs sind vor allem das Verständnis und das Bild, das man von den für die Auslegung des Vertrages berufenen Akteuren hat.850 Die völkerrechtliche Rechtspraxis dient hierbei als bedeutender Anhaltspunkt, um weitere Anhaltspunkte für die Bestimmung des von Art. 33 WVK offen gelassenen Zeitpunkts des Vergleichs der verschiedensprachigen Texte zu gewinnen. Dann wird sich auch zeigen, welches im Schrifttum gezeichnete Bild bzw. Verständnis vom völkerrechtlichen Rechtsanwender zutreffend ist. aa) Stellungnahmen im Schrifttum Die nähere Bestimmung des Zeitpunkts des Textvergleichs ist, soweit er­ sichtlich, im völkerrechtlichen Schrifttum kaum näher gewürdigt worden.851 Lediglich bei Hilf finden sich einige Hinweise. Dieser verweist etwa auf die Auffassungen von Berber und Hardy, wonach einerseits schon im Zweifels­ fall bei jeder Unklarheit eines Textes die anderen Vertragstexte vergleichend herangezogen werden müssen oder erst ein Streit zwischen den Vertragspar­ teien abgewartet werden müsse.852 Bei den von Hilf in Bezug genommenen Autoren sucht man jedoch vergeblich nach einer solchen Aussage.853 Zumin­ dest das Abstellen auf den Zweifelsfall erscheint für die Ermittlung des Zeitpunkts des Textvergleichs aus einem wesentlichen Grund nicht geeignet: Zweifel über die bestehende Übereinstimmung mit den anderen authenti­ schen Texten können sich gerade nur aus dem Sprachvergleich selbst ergeben und damit kein Ereignis sein, welches dazu Anlass gibt, die Texte zu verglei­ chen. Kaum geleugnet werden kann ein solcher Anlass aber bei einem Streit der Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrages und wenn hierbei auf die verschiedensprachigen Texte Bezug genommen wird. In die gleiche Rich­ 850  So andererseits wieder auch die zutreffende Tendenz bei Gächter-Alge, Mehr­ sprachigkeit (2011), S. 266. Hilf, Verträge (1973), S. 83, weist in diesem Zusammen­ hang auch auf ein Spannungsverhältnis zwischen der paritätischen Würdigung der verschiedensprachigen Vertragstexte und dem tatsächlich Leistbaren der zur Ausle­ gung berufenen Akteure hin. Die Bestimmung des Zeitpunkts des Textvergleichs korreliert eng mit diesem Spannungsverhältnis; hierbei wird die Rolle der zur Ausle­ gung betrauten Akteure und die an sie gestellten Erwartungen – auch im Lichte der jüngeren Rechtspraxis – ggf. überdacht werden müssen. 851  Ähnlich auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 268. 852  Hilf, Verträge (1973), S. 80 f. 853  So bezieht sich der „Zweifelsfall“ bei Berber, Völkerrecht (1960), S. 444, auf das Mavrommatis-Konzessionen-Gutachten; bei der in Bezug genommenen Fund­ stelle bei Hardy, BYIL 37 (1962), 72 (117) geht es um die Landessprachenregel.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

tung geht auch die Meinung von Germer, dass ein Vergleich der Texte durch den Rechtsanwender dann nicht mehr vermieden werden kann, wenn eine Divergenz zwischen diesen vorgetragen wird.854 Aus dem älteren völker­ rechtlichen Schrifttum lässt sich damit in einer Gesamtschau konstatieren, dass der Zeitpunkt des Textvergleichs eng mit der postulierten Einheit des Vertrags nach Art. 33 Abs. 3 WVK zusammenhängt, womit der Vergleich der Texte erst bei Widerlegung der Vermutung nach Art. 33 Abs. 3 WVK – die etwa durch entsprechendes Parteivorbringen vorliegen kann – in Betracht kommen soll.855 Diese Annahme steht auch in Einklang mit der Entstehungs­ geschichte von Art. 33 WVK.856 Eine gegenteilige Sichtweise wird insbesondere im neueren völkerrechtli­ chen Schrifttum vertreten. Insbesondere Gächter-Alge,857 Messer858 und Resch859 fordern gar kein besonderes auslösendes Ereignis; nach ihrer Mei­ nung sei der Textvergleich ungeachtet entsprechenden Parteivorbringens vorzunehmen. Dies lässt ein gänzlich anderes Bild der Rollenverteilung bei der Auslegung erkennen; nach dieser Sichtweise wird und soll der Richter in linguistischer Hinsicht gefordert werden. Welches Verständnis der Rollenverteilung bei der Auslegung eines mehr­ sprachigen völkerrechtlichen Vertrages der Rechtspraxis entspricht, wird sich zeigen. bb) Der Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte in der Rechtspraxis Bevor auf die neuere Rechtspraxis für die Ermittlung des Zeitpunkts zum Textvergleich in Art. 33 WVK eingegangen wird, bietet es sich an, nochmals kurz auf die ältere Rechtspraxis Bezug zu nehmen, auch um ggf. verglei­ chende Schlussfolgerungen ziehen zu können. Erste Hinweise zur Ermittlung des Zeitpunkts des Textvergleichs finden sich bereits bei der Rechtsprechung des US Supreme Court zur Auslegung von Art. 8 des Adams-Onís-Vertrags. Aussagekräftig ist folgende Ausführung aus dem Urteil United States v. Percheman: 854  Germer,

Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (412). jedoch aber Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 267; ebenso Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 128. 856  Vgl. die Ausführungen von Spezialberichterstatter Waldock auf die Anregung von Rosenne zum Textvergleich, Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 211: „[u]ntil a difficulty arose“. 857  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 267. 858  Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 128. 859  Resch, B.T.R. 2014, 307 (319 ff.). 855  Kritisch



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969233 „The Spanish part of the treaty was not then brought into view, and it was then supposed there was no variance between them.“860

Aus dieser Urteilspassage ergibt sich relativ deutlich, dass das Entdecken einer Textdivergenz den Prozessparteien oblag und der Richter ohne substan­ tiiertes Vorbringen die verschiedensprachigen Vertragstexte nicht vergleicht. Im Fall United States v. Percheman wurden die Richter jedoch auf Unter­ schiede zwischen dem englischen und spanischen Text in Art. 8 hingewiesen, woraufhin sich die Richter dem Bedeutungsgehalt der relevanten Tatbe­ standsmerkmale sowohl anhand des spanischen als des englischen Textes widmeten.861 Das Urteil bekräftigt, dass der Richter jedenfalls dann einen für ihn fremdsprachigen Text – welchen er zunächst möglicherweise mangels einschlägiger Fremdsprachenkenntnisse nicht auf Anhieb versteht – untersu­ chen und dessen Bedeutung erschließen muss, wenn von den Prozessparteien hierauf Bezug genommen wird. Obgleich das Urteil im Hinblick auf die frühere Entscheidung Foster v. Neilson862 und die dort übersehene Textdiver­ genz in Art. 8 durchaus selbstkritisch wirkt, lässt sich im Urteil noch keine Tendenz dergestalt erkennen, dass deshalb der Richter von sich aus – unab­ hängig vom Parteivorbringen – die verschiedensprachigen Vertragstexte auf Textdivergenzen zu überprüfen hat. Der Nachteil an diesem Verständnis der Rolle des Richters ist jedoch, dass auf diese Weise Textdivergenzen leicht übersehen werden können; dies scheint der US Supreme Court im Urteil United States v. Percheman auch implizit zu konzedieren, indem er darauf verweist, dass wenn er von der Textdivergenz gewusst hätte, er zu eben je­ nem Auslegungsergebnis in United States v. Percheman und nicht wie in Foster v. Neilson gekommen wäre.863 Auch der von Hilf864 angeführte Fall Archdukes of the Habsburg-Lorraine House v. Polish State Treasury865 deutet in dieselbe Richtung. Zwar lässt sich die von Hilf in Bezug genommene Passage in der Entscheidung „[a]ll texts should be conceived as expressing the will of the contracting parties and that it should be investigated whether the contents of the texts are materially the 860  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844), 51 (52). 861  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844), 51 (68 f.). 862  US Supreme Court, James Foster and Pleasants Elam, Plaintiffs in Error v. David Neilson, Defendants in Error, U.S. Reports 27 (1829), 253 ff. 863  US Supreme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 (1833–1844), 51 (52). 864  Hilf, Verträge (1973), S. 81. 865  Oberster Gerichtshof (Polen), Archdukes of the Habsburg-Lorraine House v. The Polish State Treasury, Annual Digest Of Public International Law Cases 5 (1929–1930), 365 ff.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

same or differ […]“866 so deuten, als würde sich das Gericht verpflichtet sehen, die verschiedensprachigen Vertragstexte prophylaktisch auf ihre Über­ einstimmung zu überprüfen. Allerdings darf hier nicht unterschlagen werden, dass dem Gericht die (behauptete) Textdivergenz schon bekannt war;867 diese Kenntnis hing jedoch maßgeblich mit ausführlichem Parteivorbringen der beteiligten Prozessparteien zusammen.868 Die ältere Rechtspraxis bestätigt damit die im älteren völkerrechtlichen Schrifttum vorherrschende Ansicht, dass der Richter ohne entsprechendes Parteivorbringen nicht von sich aus einen Vergleich der verschiedensprachi­ gen Vertragstexte vornehmen muss. Bei einem solchen Verständnis wäre die Realisierung des Tatbestandsmerkmals „comparison of the authentic texts“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK stets von einem entsprechenden Parteivorbringen abhängig. Die neuere Rechtspraxis gibt nicht viele, aber doch einige Beispiele, wel­ che ein gegensätzliches Bild zur älteren Rechtspraxis zeichnen lassen. In der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs lässt sich zwar keine Ten­ denz zur näheren Bestimmung des Zeitpunkts des Textvergleichs feststel­ len.869 Jedoch gibt es auf internationaler Ebene sowohl vonseiten des Interna­ tionalen Seegerichtshofs als auch des Europäischen Gerichtshofs für Men­ schenrechte Tendenzen, auch ohne Behauptung einer Textdivergenz die ver­ schiedensprachigen Vertragstexte zu vergleichen.870 In einer Separate Opinion vom 18.12.2000 führte etwa der Vizepräsident des Internationalen Seege­ richtshofs Nelson aus, dass im Einklang mit der Staatenpraxis und dem Prin­ zip des Good Faith bei der Auslegung eines mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrages alle verschiedensprachigen Vertragstexte heranzuziehen seien.871 866  Oberster Gerichtshof (Polen), Archdukes of the Habsburg-Lorraine House v. The Polish State Treasury, Annual Digest Of Public International Law Cases 5 (1929–1930), 365 (368). 867  Hilf, Verträge (1973), S. 81. 868  Siehe nur etwa die Darstellung des Vorbringens anhand der Prozesshistorie, Annual Digest Of Public International Law Cases 5 (1929–1930), 365 (366 ff.). 869  Die Meinung von Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 267, dass der IGH nur aufgrund besonderer Umstände einen Textvergleich für erforderlich hält, ist nicht haltbar. Aus der von ihr in Bezug genommenen Fundstelle lässt sich kein abs­ trakter Rechtssatz ableiten, der diese Auffassung stützen würde. Eine Suche nach einschlägigen Entscheidungen mithilfe der Suchfunktion auf der Homepage des IGH hat zudem keine Ergebnisse gebracht, welche die Aussage von Gächter-Alge stützen würden. 870  Genannt werden muss auch die Rechtspraxis des WTO Appellate Body, diese wird jedoch im vierten Teil dieser Arbeit im Rahmen der Fragmentierung des Völker­ rechts gesondert gewürdigt. 871  ITLOS, The „Monte Confurco“ Case (Seychelles v. France), Separate Opinion of Vice-President Nelson.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969235

Diese Auffassung hängt stark mit der von Resch geäußerten Kritik an Art. 33 Abs. 3 WVK zusammen.872 Ein weiteres Indiz, dass sich in der Rechtspraxis eine Tendenz zugunsten eines Textvergleichs vor der eigentlichen Auslegung abzeichnet, zeigt sich in einer Joint Concurring Opinion der EGMR-Richter Šikuta, Wojtyczek und Vehabović im Fall Marguš v. Croatia.873 Auffällig ist hierbei, dass sich einerseits im Parteivorbringen keine Hinweise auf eine be­ hauptete Textdivergenz finden874 und in der Entscheidung selbst Art. 33 WVK als relevante Rechtsquelle genannt wird875 – nach einer Anwendung dieser Vorschrift sucht man jedoch vergeblich. Auch auf der nationalen Ebene finden sich Anhaltspunkte dafür, dass es für einen Vergleich der verschiedensprachigen Vertragstexte durch den Rich­ ter nicht auf entsprechendes Parteivorbringen ankommt. Aus der deutschen Rechtsprechung stechen zwei aktuelle Entscheidungen des Niedersächsischen Finanzgerichts876 und des Sozialgerichts Frankfurt877 hervor. In der erstge­ nannten Entscheidung betont das Finanzgericht, dass nach Art. 33 Abs. 2 WVK nicht die deutsche Übersetzung herangezogen werden dürfe, da diese kein authentischer Text sei, sondern dass sich die Auslegung vielmehr an dem authentischen englischen und französischen Vertragstext zu orientieren habe. Das Finanzgericht stellte sodann den Wortlaut der verschiedensprachi­ gen Vertragstexte gegenüber und zog – vermutlich im Hinblick auf die lingu­ istischen Herausforderungen durch die Konfrontation mit einer Fremdspra­ che – Wörterbücher heran, um die Wortbedeutungen der relevanten (fremd­ sprachigen) Tatbestandsmerkmale zu ermitteln.878 Die Vorgehensweise des Finanzgerichts ist insofern bemerkenswert, als dass erstmals ein unterin­ stanzliches Gericht nicht – contra legem – die für die Auslegung nicht maß­ gebliche amtliche deutsche Übersetzung heranzieht und zudem – ungeachtet der Regelung in Art. 33 Abs. 3 WVK – beide Vertragstexte miteinander ver­ gleicht. In der genannten Entscheidung des Sozialgerichts Frankfurt orien­ tierte sich die zuständige Kammer zunächst am authentischen deutschen Text 872  Vgl. nur den Titel des Aufsatzes von Resch, B.T.R. 2014, 307 ff. („Not in good faith – a critique of the Vienna Convention rule of interpretation concerning its ap­ plication to pluringual (tax) treaties“). 873  EGMR, Marguš v. Croatia [GC], Appl. No. 4455/10, Joint Concurring Opinion of Judges Šikuta, Wojtyczek und Vehabović, Rn. 10. 874  EGMR, Marguš v. Croatia [GC], Appl. No. 4455/10, Rn. 73 ff. 875  EGMR, Marguš v. Croatia [GC], Appl. No. 4455/10, Rn. 35. 876  Niedersächsisches Finanzgericht, U. v. 18.10.2013 – 1 K 196/11 –, juris = EFG 2014, 1120 ff.; siehe jedoch bereits auch BGH, B. v. 13.05.1997 – 5 StR 596/96 –, juris, Rn. 67 f., 71. 877  SG Frankfurt, U. v. 01.03.2017 – S 29 R 530/16 –, juris. 878  Niedersächsisches Finanzgericht, U. v. 18.10.2013 – 1 K 196/11 –, juris, Rn.  32 ff.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

des streitentscheidenden deutsch-polnischen Sozialversicherungsabkommens, überprüfte dann das gefundene Auslegungsergebnis anhand des ebenfalls authentischen polnischen Textes und kam zum Ergebnis, dass dieser zu kei­ nem anderen Ergebnis führe.879 Bemerkenswert an diesen dargestellten neueren Entscheidungen ist, dass die Ausführungen einen selbstbewussteren Umgang mit fremdsprachigen Vertragstexten erkennen lassen als Entscheidungen in der älteren Rechts­ praxis. Damit lässt sich sowohl anhand der neueren unterinstanzlichen Spruchpraxis als auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine Tendenz zu einem anderen Rollenverständnis in der Aufdeckung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen entdecken, als es noch in der älteren Rechts­ praxis der Fall war. Im Hinblick auf diese neuere dargestellte Rechtspraxis lässt es sich daher kaum leugnen, dass die kritischen Meinungen von Gäch­ ter-Alge, Messer und Resch berechtigt erscheinen. cc) Folgen für die Bestimmung des Zeitpunkts des Textvergleichs Die dargestellte neuere Rechtspraxis gibt nach der hier vertretenen Auffas­ sung ausreichend Anhaltspunkte, den Zeitpunkt des Vergleichs der verschie­ densprachigen Vertragstexte nach vorne zu verlagern und ihn nicht strikt von Parteivorbringen abhängig zu machen. Diese Auffassung steht auch nicht zwingend im Widerspruch zu der Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK, insbesondere im Hinblick auf die Tatsache, dass die Forderung von Rosenne zum Textvergleich bei Spezialberichterstatter Waldock auf Skepsis stieß. Aus der Darstellung der Entstehungsgeschichte geht vielmehr hervor, dass sich teilweise die Kommentierung zum Kodifikationsentwurf880 widersprüchlich zur skeptischen Haltung Waldocks gegenüber der Forderung Rosennes ver­ hält. Diese Widersprüchlichkeit in der Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK muss eine grundsätzliche Offenheit für eine konkretisierende Bestim­ mung des Zeitpunkts des Textvergleichs – insbesondere durch nachträgliche vertragliche Übung – implizieren.881 Diese Offenheit spiegelt sich auch in den dargestellten Beispielen aus der Rechtspraxis wider, die in historischvergleichender Hinsicht gerade kontrastierende Ansätze bei der zeitlichen Bestimmung des Textvergleichs erkennen lassen. Anders als noch als bei der Einschätzung von Hilf882 liegt aber nicht mehr die Situation vor, dass hier 879  SG

Frankfurt, U. v. 01.03.2017 – S 29 R 530/16 –, juris, Rn. 51. erneut die in Bezug genommene Fundstelle aus der Kommentierung in

880  Siehe

Fn. 845. 881  In diesem Zusammenhang kann für die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „comparison of the authentic texts“ dem Rechtsgedanken nach Art. 31 Abs. 3 Buchst. b) WVK herangezogen werden. 882  Vgl. Hilf, Verträge (1973), S. 152.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969237

zum Vergleich der verschiedensprachigen Texte lediglich eine einzelne Ent­ scheidung aus dem Rahmen fällt, sondern eine zunehmende Strömung in der Rechtspraxis zugunsten des Vergleichs der Texte, welche die hier vertretene Auffassung stützt. b) Der Begriff der reconciliation Einige Unklarheiten wirft die Auslegung des Tatbestandsmerkmals „which best reconciles the texts“ auf. Bereits in der oben dargestellten Entstehungs­ geschichte von Art. 33 WVK lassen sich Schwierigkeiten hinsichtlich des Verständnisses und der Handhabung dieses Begriffes erkennen. Verstärkt werden diese noch durch Ziel und Zweck des Vertrags als Bezugspunkt (vgl. das Tatbestandsmerkmal „having regard“ in Art. 33 Abs. 4 WVK) dieses Tatbestandsmerkmals, was im völkerrechtlichen Schrifttum teilweise zu einer vermischenden Betrachtungsweise der Tatbestandsmerkmale „which best re­ conciles the texts“ und „having regard to the object and purpose of the tre­ aty“ geführt hat.883 Es erscheint jedoch gerade im Hinblick auf die Entste­ hungsgeschichte von Art. 33 WVK bedenklich, die Auslegung des Tatbe­ standsmerkmals „which best reconciles“ mit der Ermittlung von Ziel und Zweck zu vermischen oder gar Ersteres durch Letzeres zu ersetzen884: Die Nichtdurchsetzung des Formulierungsvorschlags „a meaning shall be adop­ ted which is most consonant with the object and purpose of the treaty“885 auf der Wiener Vertragsrechtskonferenz – der eine Abkehr vom Prinzip der re­ conciliation impliziert – zeigt gerade auf, dass die Würdigung des Tatbe­ standsmerkmals „which best reconciles“ nicht in der Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrages untergehen sollte. Aus diesem Grund ist der Ansatz von Arginelli, sich zunächst der Wortbedeutung des Tatbestandsmerkmals „which best reconciles the texts“ anzunähern, zu begrüßen.886 Vergleicht man den englischen und französischen authentischen Text von Art. 33 WVK, so fällt zunächst auf, dass im französischen Text nicht etwa das erwartbare Verb „réconcilier“ verwendet wird, sondern das Verb „concilier“.887 Gardiner, Interpretation (2015), S. 445. Negativbeispiel kann der Ansatz des IGH im LaGrand-Urteil, I.C.J. Re­ ports 2001, 466 ff, § 101, gesehen werden, wo in der Sache lediglich das Tatbestands­ merkmal „object and purpose of the treaty“ in Art. 33 Abs. 4 WVK berücksichtigt wurde – auf das Tatbestandsmerkmal „which best reconciles“ ging der IGH überhaupt nicht ein; siehe hierzu auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 276 f. 885  United Nations Conference on the Law of Treaties, First and second sessions, Vienna, 26 March–24 May 1968 and 9 April–22 May 1969, Official Records, Docu­ ments of the Conference, S. 151. 886  Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 367. 887  Gleiches gilt für den spanischen Text, hier wird anstatt des Verbs „reconciliar“ das Verb „conciliar“ verwendet (U.N.T.S. 1155 [1980], 452). Während Ersteres laut 883  Etwa 884  Als

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

Das Verb „concilier“ kann in dem hier fraglichen Kontext mit den deutschen Verben „ausgleichen“, „angleichen“, „in Übereinstimmung bringen“ verstan­ den werden.888 Diesem Unterschied im Wortstamm dürfte jedoch kein beson­ deres Gewicht zukommen, da es im Englischen kein dem Französischen und Spanischen entsprechendes Verb ohne die Silbe „re“ gibt, auch in inhaltlicher Hinsicht unterscheiden sich die Verben nicht substantiell.889 Die Überlegung von Arginelli und Tabory, ob die Auslegung des Verbs „reconcile“ mit „[s]tretch the meaning of one text towards the other text’s meaning(s)“890 bzw. „[s]tretching the meaning in one text as far as possible towards the other […]“891 verstanden werden könne, erscheint daher jedenfalls im Lichte des französischen Textes vertretbar. Gleichwohl schwingt hinter den Formulierun­ gen von Arginelli und Tabory der schwer vorstellbare Gedanke einer Dehnung oder eines Biegens von Wortbedeutungen; einem ähnlichen Einwand sähe sich freilich auch die Formulierung ausgesetzt, einen aufgedeckten Bedeutungsun­ terschied in verschiedensprachigen Vertragsbegriffen durch Angleichen oder Ausgleichen der Wortbedeutungen auflösen zu wollen. Es ist in diesem Zu­ sammenhang hilfreich, sich nochmals auf die eingangs zitierte Ausführung von Hardy zu besinnen, dass Wörter keine intrinsische Signifikanz haben und lediglich einen Zustand beschreiben sollen, welcher der Mannigfaltigkeit ge­ danklicher Assoziationen unterliegt. Setzt man mit dieser Überlegung beim Verständnis des Verbs „reconcile“ an, muss es das Ziel sein, mit den fraglichen verschiedensprachigen Tatbestandsmerkmalen zu einer einheitlichen gedank­ lichen Zustandsbeschreibung zu kommen.892 Bedenkt man die häufig vorkom­ mende Pluralität möglicher Wortbedeutungen, liegt hiermit auch keine unrea­ listische Aufgabe vor; ausgeschlossen wäre eine solche Zielerreichung nur bei evident inkongruenten Vertragsbegriffen.893 Wie das Erreichen einer einheitli­ der Übersetzung bei www.pons.eu lediglich mit „aussöhnen“ oder „versöhnen“ über­ setzt wird, wird bei Letzerem als Übersetzung auch „in Einklang bringen“ angegeben. 888  Siehe Doucet/Fleck, Wörterbuch Recht & Wirtschaft (2014), Bd. 1, S. 188. Die amtliche deutsche Übersetzung (BGBl. 1985 II, 926 [940]) nennt das Verb „in Ein­ klang bringen“. 889  Die Wortbedeutung von „reconcile“ unterscheidet sich kaum vom französi­ schen „concilier“ und dem spanischen „conciliar“: Das Oxford Advanced Learner’s Dictionary gibt als Beschreibung für „reconcile“ „to find an acceptable way of dealing with two or more ideas, needs, etc. that seem to be opposed to each other“ an, das Merriam-Webster Online-Wörterbuch gibt als Beschreibung u. a. „to make consis­ tent or congruous“ an; siehe weiterführend auch Linderfalk, Interpretation (2010), S. 361 ff., der die Vokabel „to make compatible“ verwendet. 890  Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 367. 891  Tabory, Multilingualism (1980), S. 213. 892  Einen vergleichbaren Ansatz vertritt auch Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 367. 893  Dies wäre beispielhaft der Fall, wenn ein Vertrag in Vertragssprache A den Vertragsbegriff Apfel, in Vertragssprache B den Vertragsbegriff Birne hätte; in einem solchen Fall müsste man konsequenterweise von einem Dissens ausgehen.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969239

chen gedanklichen Zustandsbeschreibung gelingen kann, wird hingegen von Art. 33 WVK offen gelassen.894 Erschwerend kommt hinzu, dass die große Mehrzahl gerichtlicher Entscheidungen – gerade auch auf internationaler Ebene – keine einheitliche Methodik zur „reconciliation“ erkennen lässt.895 Aus der Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK lässt sich lediglich ableiten, dass das Verfahren der „reconciliation“ nicht im Sinne der GemeinsamerNenner-Regel auf einen Minimalkompromiss abzielen soll.896 Einen bedeutenden Orientierungspunkt gibt der Verweis auf Ziel und Zweck des Vertrags („having regard to the object and purpose“).897 Nichts­ destotrotz hat auch dieser Verweis zu einigen Unklarheiten geführt. So wird etwa vertreten, dass wegen dieses Verweises sich die Auslegung von den all­ gemeinen Auslegungsprinzipien in Art. 31 WVK – insbesondere Wortlaut und Systematik – entfernen könne, da der Fokus nun auf einer rein teleologischen Ebene liegen würde, womit auch vom Grundsatz der Gleichrangigkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte abgewichen wird.898 Letztere Annahme ist mit dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 4 WVK schwer zu vereinbaren, da für das Verfahren der „reconciliation“ gerade alle fraglichen Texte in den Ausle­ gungsprozess mit einbezogen werden müssen.899 Von einer „reconciliation“ 894  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 36; Germer, Harv. Int’l L. J. 11 (1970), 400 (403); Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 130. 895  Siehe Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 278 ff., mit ausgewählten Bei­ spielfällen. 896  Siehe Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 263. Gächter-Alge, Mehrsprachig­ keit (2011), S. 277, geht gleichwohl davon aus, dass das Verfahren der „reconcilia­ tion“ seinen Ursprung im Gedanken der Gemeinsamer-Nenner-Regel hat; dieses habe sich dann jedoch von dieser gelöst. Methodisch ungewöhnlich und singulär erscheint insofern die abweichende Meinung des Richters Kaul in der Entscheidung des Inter­ nationalen Strafgerichtshof zur Situation in Kenia 2010 (Decision Pursuant to Article 15 of the Rome Statute on the Authorization of an Investigation into the Situation in the Republic of Kenya, ICC-01/09-19, Dissenting Opinion Judge Kaul, Rn. 38), in welcher er trotz der expliziten Bezugnahme auf Art. 33 WVK die GemeinsamerNenner-Regel anwendet. 897  Siehe jedoch Arbitral Tribunal for the Agreement on German External Debts, The United Kingdom of Belgium, The French Republic, The Swiss Confederation, The United Kingdom and The United States of America v. The Federal Republic of Germany, Young Loan Arbitration, ILR 59 (1980), 494 (594), in welchem die Rich­ termehrheit dieses Tatbestandsmerkmal als „decisive yardstick“ charakterisierte; auch Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 278, nennt in diesem Zusammenhang das Wort orientieren. 898  So insbesondere Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 33, Rn. 35; siehe auch Mössner, AVR 15 (1972), 273 (301); Villiger, Commen­ tary (2009), Art. 33, Rn. 12. 899  Siehe etwa Arginelli, Tax Treaties (2015), S. 367 f.; Gardiner, Interpretation (2015), S.  442 f.; Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 159; Tabory, Multilingualism (1980),

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

wird man daher kaum noch sprechen können, wenn der Rechtsanwender mit dem pauschalen Verweis auf Sinn und Zweck sich selektiv für eine bestimmte Vertragssprache entscheidet und die anderen authentischen Vertragstexte un­ berücksichtigt lässt. Bekräftigt wird diese Annahme zuletzt durch das Tatbe­ standsmerkmal „except where a particular text prevails“: Hiernach unterliegt es der Freiheit der Vertragsparteien, für den Fall einer Textdivergenz einem bestimmten Vertragstext eine Vorrangstellung einzuräumen, nicht jedoch der des Rechtsanwenders im Verfahren der „reconciliation“. c) Die wiederholte Bezugnahme auf „object and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK Einige Diskussionen hat auch die doppelte Bezugnahme auf Ziel und Zweck des Vertrags – sowohl in Art. 31 Abs. 1 WVK als auch Art. 33 Abs. 4 WVK – hervorgerufen. Kritik hat diese Regelungstechnik insbesondere von Hilf erfahren: So sei es nicht nachvollziehbar, wieso die Ausrichtung nach Ziel und Zweck des Vertrages in Art. 33 Abs. 4 WVK erfolgreich eine Text­ divergenz auflösen sollen könne, während jene Vorschrift zugleich eine er­ folglose Anwendung u. a. von Art. 31 Abs. 1 WVK – die ebenfalls auf Ziel und Zweck Bezug nimmt – voraussetzt.900 In historischer Hinsicht wird die Kritik von Hilf durch folgende Tatsache untermauert: So wurde während der Wiener Vertragsrechtskonferenz von verschiedener Seite darauf hingewiesen, dass auf Ziel und Zweck des Vertrages bereits in den allgemeinen Ausle­ gungsvorschriften Bezug genommen werde.901 Obgleich daher die Kritik von Hilf auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, würdigt sie die Besonder­ heiten, welche sich gerade aus der Thematik der Mehrsprachigkeit ergeben, bei der Betrachtung des Tatbestandsmerkmals „object and purpose“ in Art. 31 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 4 WVK nicht angemessen.902 Entscheidend ist – wo­ rauf Engelen treffend hinweist – das relative normative Gewicht von Ziel und Zweck als Auslegungskriterium.903 So ist der Einwand, dass die Ermitt­ S. 202. Auch mit der Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK dürfte diese Annahme nicht zu vereinbaren sein, da durch das Verfahren der „reconciliation“ gerade die Gleichrangigkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte gestärkt werden sollte; siehe hierzu Wetzel/Rauschning, VCLT (1978), S. 263. 900  Hilf, Verträge (1973), S. 101. 901  Siehe etwa die Anmerkungen von Israel und Trinidad und Tobago während der 34. Sitzung des Committee of the Whole of the United Nations Conference on the Law of Treaties, United Nations Conference on the Law of Treaties, First Session, Vienna, 26 March–24 May 1968, Official Records, Summary records of the plenary meetings and of the Committee of the Whole, S. 190. 902  Vgl. auch die schneidende Erwiderung von Linderfalk, Interpretation (2010), S. 365, der sich eingehend mit der Position von Hilf auseinandersetzt. 903  Vgl. Engelen, Tax Treaties (2004), S. 403.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969241

lung von Ziel und Zweck des Vertrages als teleologische Auslegungsmethode in Art. 31 Abs. 1 WVK – anders als in Art. 33 Abs. 4 WVK – neben weiteren Auslegungsgesichtspunkten wie Wortlaut und Systematik steht,904 nicht von der Hand zu weisen. Der Gesichtspunkt der grammatischen Auslegung trifft im Kern die vorgebrachten Einwände von Linderfalk gegenüber der Position von Hilf: Bei der Ermittlung der Wortbedeutung eines Vertragsbegriffes kon­ zentriert sich der Rechtsanwender nur auf den Vertragstext in der betreffen­ den Vertragssprache, d. h. die Bedeutung(en) in den anderen Vertragssprachen werden für ihn in diesem Zeitpunkt (noch) nicht relevant sein. Dies bedeutet, dass die Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrages sich zu diesem Zeit­ punkt nach der gewöhnlichen Wortbedeutung der Vertragsbegriffe ausschließ­ lich in jener Vertragssprache richtet. Hat der Rechtsanwender auch die ge­ wöhnliche Bedeutung eines Vertragsbegriffes in einer Vertragssprache ermit­ telt und das Ergebnis gefunden, dass ein Bedeutungsunterschied vorliegt, so stellt sich die Ermittlung von Ziel und Zweck nun aus einer neuen Perspek­ tive dar: Auf der Ebene der Mehrsprachigkeit kann dieser nur durch eine Gesamtbetrachtung der Texte erfolgen, was auch zur Folge haben kann, dass der ursprünglich ermittelte Zweck eines Vertrags basierend auf dem Wortlaut eines Vertragsbegriffes in einer Vertragssprache überdacht werden muss.905 Angedeutet wird diese unterschiedliche normative Gewichtung von Ziel und Zweck im Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 WVK und Art. 33 Abs. 4 WVK nur im Ansatz.906

904  Engelen,

Tax Treaties (2004), S. 403 f. Ganzen siehe Linderfalk, Interpretation (2010), S. 366. Kritisch gesehen werden muss dagegen die Deutung im Young Loan Arbitration, ILR 59 (1980), 494 (548): „The repeated reference by Article 33 (4) of the VCT to the ‚object and pur­ pose‘ of the treaty means in effect nothing else that any person having to interpret a plurilingual international treaty has the opportunity of resolving any divergence in the texts which persists, after the principles of Articles 31 and 32 of the VCT have been applied, by opting, for a final interpretation, for the one or the other text which in his opinion most closely approaches the ‚object and purpose‘ of the treaty.“ Ob­ gleich man den Ansatz mit der „final interpretation“ noch stützen kann, ist die An­ nahme, der Verweis auf Ziel und Zweck des Vertrages in Art. 33 Abs. 4 WVK berech­ tigte zur selektiven Heranziehung eines bestimmten Vertragstextes, ein fla­ granter Verstoß gegen die Gleichwertigkeit der verschiedensprachigen Vertragstexte (siehe Engelen, Tax Treaties [2004], S. 405, jedoch dort aufweichende Fortführung dieser Argumentationsstruktur); zudem wird man auch kaum noch von einer „recon­ ciliation“ sprechen können (s. o.). 906  Vgl. die unterschiedlichen Formulierungen „in the light of“ in Art. 31 Abs. 1 WVK und „having regard“ in Art. 33 Abs. 4 WVK. 905  Zum

242

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

III. Das Verhältnis völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln zu Art. 33 WVK Die Frage nach der Vollständigkeit der Auslegungsregeln in Art. 31–33 WVK lässt sich nicht getrennt von der Frage des Verhältnisses völkerge­ wohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln zu völkervertraglich vereinbarten Auslegungsregeln beantworten. Im Gegensatz zu völkervertraglichen Ausle­ gungsregeln haftet völkergewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln aller­ dings stets das Manko ihrer Nachweisbarkeit an. Das Verhältnis völkerge­ wohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln zu Art. 33 WVK ist daher auf die Rolle der Arbeitssprachenregel beschränkt, da nach der Untersuchung im zweiten Teil dieser Arbeit nur dieser Regel Rechtsqualität i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) IGH-Statut zukommt. Ein Versuch, auf die Anwendbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln neben Art. 33 WVK zu drängen, lässt sich insbesondere in der Dissenting-Opinion im Young-Anlei­ hen-Fall erkennen: „In cases where it is obvious that the terms used in the different authentic lan­ guages have different meanings that can be ‚reconciled‘ only by adopting one or the other, it becomes necessary to apply rules of interpretation not specifically codified by the Convention.“907

Besondere Schwierigkeiten wirft die Anwendung völkergewohnheitsrecht­ licher Auslegungsregeln jedoch ungeachtet ihrer empfundenen Notwendig­ keit auf, wenn sie sich in Widerspruch zu völkervertraglich vereinbarten Auslegungsregeln setzt. Dies unterstreicht etwa folgende Passage im YoungAnleihen-Schiedsspruch: „The Tribunal takes the view that the habit occasionally found in earlier interna­ tional practice of referring to the basic or original text as an aid to interpretation is now, as a general rule, incompatible with the principle, incorporated in Article 33 (1) of the VCT, of the equal status of all authentic texts in plurilingual treaties.“908

Dieses besonders strenge Verständnis der Gleichwertigkeitsregel durch die Richtermehrheit schließt die Anwendbarkeit völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln, die auf eine Suprematstellung eines bestimmten Vertrags­ textes abzielen – in concreto die Arbeitssprachenregel –, neben Art. 33 WVK rigoros aus. Die Richtermehrheit geht hier implizit von einer höheren Bedeu­ tung von Art. 33 Abs. 1 WVK gegenüber der Arbeitssprachenregel aus. Auf abstrakterer Ebene berührt damit die Frage der Anwendbarkeit völkerge­ Opinion of Arbitrator Arndt, ILR 59 (1980), 550 (578). Tribunal for the Agreement on German External Debts, The United Kingdom of Belgium, The French Republic, The Swiss Confederation, The United Kingdom and The United States of America v. The Federal Republic of Germany, Young Loan Arbitration, ILR 59 (1980), 494 (529). 907  Dissenting 908  Arbitral



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969243

wohnheitsrechtlicher Auslegungsregeln wie der Arbeitssprachenregel neben Art. 33 WVK die Frage um eine Hierachie der aufgezählten Rechtsquellen in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut. Da die Richtermehrheit betreffend der Nachweis­ barkeit der Arbeitssprachenregel lediglich auf die ältere Rechtspraxis abstel­ len konnte, stellt sich insbesondere im Lichte der jüngeren Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes die Frage, ob das vom Schiedstribunal ge­ zogene Verständnis der untergeordneten Bedeutung der Arbeitssprachenregel zu Art. 33 WVK neu justiert werden muss. 1. Art. 33 WVK zwischen Kodifizierung bestehenden Völkergewohnheitsrechts und progressiver Fortentwicklung des Völkervertragsrechts Die Klärung des Verhältnisses völkergewohnheitsrechtlicher Auslegungs­ regeln sollte zunächst vor dem Hintergrund erfolgen, inwieweit Art. 33 WVK als Ganzes zum Zeitpunkt seiner Kodifikation geltendes Völkergewohnheits­ recht aufgegriffen hat. Dem völkerrechtlichen Schrifttum lässt sich hierzu kein klares Bild entnehmen: So meint etwa Mössner, dass Art. 33 WVK weder konkrete noch über die bisher bekannten Interpretationsgrundsätze hinausgehende Auslegungsregeln aufgestellt habe,909 während Villiger eine differenzierte Betrachtung der völkergewohnheitsrechtlichen Prägung von Art. 33 WVK fordert.910 Die Frage der grundsätzlichen Offenheit des Rechts­ zustands der Wiener Vertragsrechtskonvention gegenüber weiteren unge­ schriebenen Auslegungsregeln hängt dann mit dem jeweiligen Verständnis der völkergewohnheitsrechlichen Prägung von Art. 33 WVK zusammen: Führt man etwa die Gedanken von Mössner weiter, käme man relativ zügig zu der Einschätzung, dass auch mit der Wiener Vertragsrechtskonvention weitgehend der frühere Rechtszustand mit den völkergewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln vorliege, womit etwa die Koexistenz der Arbeitssprachen­ regel neben Art. 33 WVK bejaht werden kann.911 Vorzugswürdig erscheint indes bei der Frage der völkergewohnheitsrecht­ lichen Prägung von Art. 33 WVK die von Villiger angemahnte differenzie­ rende Betrachtungsweise. Art. 33 WVK nimmt nach der hier vertretenen Auffassung eine gespaltene Rolle ein. Während die Untersuchung im zweiten Teil dieser Arbeit ergab, dass Art. 33 Abs. 1 und Abs. 3 WVK eine völkerge­ wohnheitsrechtliche Prägung haben, ist dieser Aspekt bei Art. 33 Abs. 4 WVK weit weniger klar. Art. 33 Abs. 4 WVK soll nach der Rechtsprechung 909  Mössner,

AVR 15 (1972), 273 (302). Commentary (2009), Art. 33, Rn. 16. 911  Vgl. auch die Ausführungen von Mössner, AVR 15 (1972), 273 (300) zur Be­ deutung der Arbeitssprachenregel im Lichte von Art. 33 Abs. 4 WVK. 910  Villiger,

244

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

des Internationalen Gerichtshofs zwar ebenfalls völkergewohnheitsrechtliche Geltung haben.912 Der Internationale Gerichtshof führt für diese Auffassung jedoch keinerlei Belege oder eine Begründung an. Es erscheint vielmehr unklar, welcher der dargestellten Auslegungsregeln im 2. Teil dieser Arbeit man Art. 33 Abs. 4 WVK konkret zuordnen wollte. Die Untersuchung der historischen Staatspraxis hat zudem kaum Hinweise auf das Verfahren der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK ergeben; dies wird umso deutlicher, wenn man gerade die aus der Entstehungsgeschichte hervorgehende Abgren­ zung von Art. 33 Abs. 4 WVK zur Gemeinsamer-Nenner-Regel berücksich­ tigt – diese Regel strebt wie Art. 33 Abs. 4 WVK eine harmonisierende Auslegung der verschiedensprachigen Vertragstexte an. Dies bestärkt die Einschätzung, dass Art. 33 Abs. 4 WVK – anders als Art. 33 Abs. 1 und Abs. 3 WVK – eine progressive Weiterentwicklung des Völkervertragsrechts im Sinne einer Progressivkodifikation darstellt.913 Akzeptiert man die Cha­ rakterisierung von Art. 33 Abs. 4 WVK als Progressivkodifikation, schmälert dies jedoch die Möglichkeit der Heranziehung der Arbeitssprachenregel ne­ ben Art. 33 Abs. 4 WVK, da dann der Vermutung für den abschließenden Regelungscharakter von Art. 33 Abs. 4 WVK – jedenfalls auf absehbare Zeit – besonderes Gewicht zukommt.914 2. Die Frage der Fortgeltung der Arbeitssprachenregel Obgleich sich Verdross mit seiner Forderung nach der Aufnahme der Ar­ beitssprachenregel in Art. 33 WVK nicht durchsetzen konnte, wurde hiermit keine endgültige Aussage über die (Nicht)-Anwendbarkeit der Arbeitsspra­ chenregel getroffen. Aus der Entgegnung von Spezialberichterstatter Waldock geht im Kern lediglich hervor, dass es nicht zweckmäßig sei, über die Be­ rücksichtigung der travaux préparatoires hinaus den Vorrang des Urtextes in den Kodifikationsentwurf aufzunehmen.915 Dies lässt jedenfalls im Umkehr­ 912  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 101. 913  Vgl. etwa die abstrakte Aussage zu völkervertraglichen Kodifikationen in Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 112: „It must be recognized, however, that codification conventions contained a mixture of rules of customary international law and elements of progressive development intended to settle controversial points“; siehe auch spezi­ ell zur Entstehungsgeschichte von Art. 33 WVK Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. I, 277 (Stellungnahme von Kommissionsmitglied Ruda auf den Kodifikationsentwurf von Waldock). 914  Vgl. etwa Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 75: „Die Tatsache, daß die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention einstimmig angenommen wurden, verleiht ihnen ein so erhebliches Gewicht, daß es zumindest unrealistisch wäre, andere Konstruktionen an ihre Stelle setzen zu wollen.“ 915  Y.B. Int’l L. Comm’n 1966, Vol. I, Part 2, 210 f.



A. Auslegung mehrsprachiger Verträge nach Inkrafttreten der WVK 1969245

schluss auf die Argumentation von Waldock die grundsätzliche Möglichkeit offen, die Arbeitssprachenregel anzuwenden, wenn dies zweckmäßig er­ scheint. In den Urteilen im Fall LaGrand916 und Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan917 nahm der Internationale Gerichtshof schließlich Bezug auf die Arbeitssprachenregel. a) Die Auflösung einer Kollision der Völkerrechtsquellen in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut Selbst wenn man wie der Internationale Gerichtshof im Fall Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan die grundsätzliche Möglichkeit sieht, die Arbeitssprachenregel für die Auflösung einer Textdivergenz heranzuzie­ hen, stellt sich zunächst dennoch die Überlegung, ob im Hinblick auf die Frage der Hierachie der Rechtsquellen in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut dem Verfahren der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK eine Vorrangstellung vor der Arbeitssprachenregel zukommt. Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut trifft zwar selbst keine explizite Aussage über eine Hierachie der Rechtsquellen in Buchst. a) bis c).918 Nichtsdestotrotz wird teilweise die Auffassung vertreten, dass aufgrund der Nennung von Völkervertragsrecht vor Völkergewohnheits­ recht in Art. 38 Abs. 1 IGH-Statut sich die größere faktische Bedeutsamkeit völkerrechtlicher Verträge widerspiegle und zugleich der Grundsatz lex specialis derogat legi generali angelegt sei.919 Diese Auffassung erscheint jedoch gerade im Hinblick auf die Annahme der größeren faktischen Bedeutsamkeit völkerrechtlicher Verträge spekulativ. Da es im Völkerrecht – anders als auf nationaler Ebene – keine zentrale Rechtsetzungsinstanz gibt, kommt dem Völkergewohnheitsrecht vielmehr eine bedeutende Rolle neben dem Völker­ vertragsrecht zu.920 Aus diesem Grund erscheint die Annahme vorzugswürdig, dass das Völkergewohnheitsrecht und das Völkervertragsrecht gleichrangig nebeneinanderstehen;921 damit scheidet die pauschale Annahme aus, dass 916  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 100. 917  IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575, § 47. 918  Shelton, AJIL 100 (2006), 291 (295); Villiger, Customary International Law (1997), S. 58. 919  Vgl. Villiger, Customary International Law (1997), S. 58, der dort angegebene weiterführende Verweis auf Verdross/Simma, Völkerrecht (1981), S. 335, erscheint jedoch teilweise ungenau, da sich die in Bezug genommenen Ausführungen bei Verdross/Simma nicht zur faktischen Bedeutung völkerrechtlicher Verträge als Rechts­ quelle verhalten. 920  Verdross/Simma, Völkerrecht (1981), S. 276. 921  Siehe Villiger, Customary International Law (1997), S. 58.

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3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

dem in Art. 33 Abs. 4 WVK niedergelegten Verfahren der „reconciliation“ prinzipiell eine Vorrangstellung vor der Arbeitssprachenregel zukomme. Die Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen zwei gleichrangigen verschie­ denartigen Völkerrechtsquellen im Einzelfall auszutarieren, besteht damit aber weiterhin. Vorgeschlagen werden zur Bestimmung dieses Verhältnisses die Grundsätze lex posterior derogat legi priori und lex specialis derogat legi generali.922 Gegen die Anwendung des erstgenannten Grundsatzes spricht im konkreten Fall jedoch die kaum mögliche Bestimmbarkeit des zeitlichen Be­ ginns der völkergewohnheitsrechtlichen Geltung der Arbeitssprachenregel, da diese lediglich über die neuere Rechtsprechung des Internationalen Gerichts­ hofs nachgewiesen werden konnte (Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut). In Frage kommt jedoch das Verständnis der Arbeitssprachenregel als lex specialis zu Art. 33 Abs. 4 WVK. Die konkrete Anwendung der Arbeitssprachenre­ gel muss jedoch an die formulierten engen Voraussetzungen (d. h. gerade kein pauschales Abstellen auf den Vorrang eines vermuteten Urtextes) geknüpft werden, da sie sich nach der hier vertretenen Auffassung lediglich in Bezug auf Art. 33 Abs. 4 WVK als derogierendes Völkergewohnheitsrecht versteht und Art. 33 Abs. 1 WVK nicht durchbrechen darf. b) Die eingeschränkte Bedeutung der Arbeitssprachenregel als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel neben Art. 33 WVK Das Abweichen vom Verfahren der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK ist nur dann sachlich gerechtfertigt, wenn stichhaltige Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dieses Verfahren zur Auflösung einer Textdivergenz nicht erforderlich scheint. Solche Anhaltspunkte sind vom Rechtsanwender im Wortlaut des Vertragstextes, insbesondere seinen einschlägigen Schlussbe­ stimmungen, zu ermitteln. Die Vertragssprachenpraxis gibt wenige Beispiele, in welchen sich entsprechende Anhaltspunkte ergeben. Beispielhaft genannt seien der Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen den Vereinigten Staa­ ten und Frankreich vom 06.02.1778 und das Chicagoer Abkommen über die Internationale Zivilluftfahrt vom 07.12.1944: „In faith whereof the respective plenipotentiaries have signed the above articles, both in the French and English languages, declaring nevertheless, that the present treaty was originally composed and concluded in the French language, and they have thereto affixed their seals. Done at Paris, this sixth of February, one thousand seven hundred and seventy eight.“923 922  Villiger,

Customary International Law (1997), S. 59. of Amity and Commerce between the United States of America and His Most Christian Majesty, Stat. 8 (1778–1845), 12 (30). 923  Treaty



B. Der Wert von Art. 33 WVK als Auslegungsvorschrift247 „Done at Chicago the seventh day of December 1944, in the English language. A text drawn up in the English, French and Spanish languages, each of which shall be of equal authenticity, shall be open for signature at Washington, D.C.“924

Diese zitierten Vertragsschlussbestimmungen lassen erkennen, dass einem bestimmten Vertragstext ein höherer Interpretationswert zukommen soll. Ob­ gleich diese Schlussbestimmungen nicht selbst die Vorrangstellung des je­ weils bezeichneten Vertragstextes i. S. v. Art. 33 Abs. 1 WVK anordnen („the treaty provides […] that a particular text shall prevail“), gestatten es solche Bestimmungen dem Rechtsanwender, eine Textdivergenz zugunsten des be­ zeichneten Vertragstextes aufzulösen. Greift der Rechtsanwender stattdessen in einem solchen Fall auf das Verfahren der „reconciliation“ in Art. 33 Abs. 4 WVK zurück, setzt er sich sogar ggf. in Widerspruch zu dem erklärten Wil­ len der Vertragsparteien. Aus diesem Grund wird man in solchen Fällen die Arbeitssprachenregel für die Auflösung der Textdivergenz als die speziellere Regel gegenüber Art. 33 Abs. 4 WVK ansehen können. Die praktische Bedeutung der Arbeitssprachenregel erscheint aufgrund dieser Voraussetzungen sehr eingeschränkt, da solche Vertragsschlussklau­ seln, welche die Ermittlung des Urtextes zweifelsfrei ermöglichen, sehr sel­ ten geblieben sind. Lässt sich die Existenz eines Urtextes zweifelsfrei be­ stimmen, verstößt die Anwendung der Arbeitssprachenregel entgegen dem Schiedstribunal im Young-Anleihen-Fall nicht gegen Art. 33 Abs. 1 WVK, da dann eine vergleichbare Situation vorliegt, wie wenn etwa die Vertragspar­ teien die Vorrangstellung eines Vertragstextes vereinbart hätten. Nicht zu vereinbaren mit Art. 33 Abs. 1 WVK ist die bloße Präsumtion eines Urtextes aufgrund bestimmter stilistischer Indizien und die darauf gründende An­ nahme einer fehlerhaften Übersetzung eines authentischen Vertragstextes. In der Sache gründet damit die beschränkte praktische Bedeutung der Arbeits­ sprachenregel neben Art. 33 WVK auf die dogmatischen Schwächen dieser Regeln betreffend der Ermittelbarkeit des Urtextes.925

B. Der Wert von Art. 33 WVK als Auslegungsvorschrift für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge Der Wert von Art. 33 WVK als Auslegungsvorschrift für mehrsprachige Verträge wird im völkerrechtlichen Schrifttum unterschiedlich gesehen. So vertritt Mössner etwa die Ansicht, dass Art. 33 WVK für die Auslegung 924  Convention on International Civil Aviation, U.N.T.S. 15 (1948), 295 (362) (No. 102). 925  Vgl. im Ergebnis auch Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 130, der eben­ falls durchgreifende Probleme bei der Ermittlung des Urtextes sieht.

248

3. Teil: Die Bedeutung von Art. 33 WVK

mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge keinen zusätzlichen Nutzen brin­ gen, aber auch nicht stören würde,926 während etwa Rest927 und Villiger928 den Wert dieser Vorschrift höher einschätzen. Vorzugswürdig erscheint bei der Bewertung einer solchen Vorschrift grundsätzlich eine differenzierte Be­ trachtungsweise, welche die Vor- und Nachteile dieser Regelung angemessen würdigt. Nicht zu unterschätzen ist das neu gewonnene Maß an Rechtssicherheit, welche die Kodifikation von Art. 33 WVK im Vergleich zum ursprünglichen Rechtszustand schafft. Die Tatsache geschriebener Rechtsregeln stellt hier eine deutlich verbesserte Lage für den Rechtsanwender dar, da er anders als bei bei völkergewohnheitsrechtlichen Auslegungsregeln nicht mehr mit dem Problem der Nachweisbarkeit konfrontiert ist. In inhaltlicher Hinsicht kann man Art. 33 WVK nach wie vor kritisieren, da diese Vorschrift auf bestimmte Probleme – beispielsweise die oben dargestellte Problematik, wie die „recon­ ciliation“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK ablaufen soll – keine eindeutige Ant­ wort gibt.929 In diesem Zusammenhang ist jedoch stets zu hinterfragen, was eine Kodifikation von völkervertraglichen Auslegungsregeln leisten kann und soll. Es versteht sich naturgemäß von selbst, dass die abstrakt gefasste Vor­ schrift des Art. 33 WVK den Rechtsanwender stärker in die Pflicht nimmt,930 umgekehrt ließe sich hinterfragen, wie eine in jeder Hinsicht lückenlose Kodifikation von Auslegungsregeln gelingen soll. Strebte man dieses Ziel an, würde sich der Umfang einer solchen Vorschrift unweigerlich aufblähen und diese insgesamt weniger verständlich und ggf. sogar widersprüchlich ma­ chen. Wie der Versuch einer möglichst umfangreichen und lückenlosen Ko­ difikation aussehen kann, zeigt sich noch in den sehr ungelenk wirkenden Vorschriften Art. 74, 75 im Kodifikationsentwurf von Waldock.931 Durch die Abkehr von Art. 74, 75 des Kodifikationsentwurfs hat die International Law Commission deshalb zu Recht signalisiert, dass allein die Kodifikation einer völkervertraglichen Auslegungsvorschrift für mehrsprachige Verträge nicht jedes Einzelproblem in diesem Bereich benennen und lösen kann. Die inhalt­ liche Bewertung von Art. 33 WVK sollte insoweit nicht euphorisch wie von Bernárdez begriffen werden, dass mit der Kodifikation alle dogmatischen Probleme gelöst seien,932 da das Erreichen eines solchen Zieles fast schon als 926  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (302); generell kritisch gegenüber dem Nutzen der Auslegungsregeln in Art. 31–33 WVK auch Sur, L’Interprétation (1974), S. 269. 927  Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 161. 928  Villiger, Commentary (2009), Art. 33, Rn. 17. 929  Ähnlich Rest, Rechtsbegriffe (1971), S. 160. 930  Mössner, AVR 15 (1972), 273 (302). 931  Y.B. Int’l L. Comm’n 1964, Vol. II, 62. 932  Bernárdez, in: Liber Amicorum Seidl-Hohenveldern (1998), S. 721.



B. Der Wert von Art. 33 WVK als Auslegungsvorschrift249

Wunschdenken bezeichnet werden kann. Es erscheint jedoch berechtigt, in verhalten-optimistischer Weise zu konstatieren, dass mit Art. 33 WVK eine praktikable Kompromisslösung gefunden worden ist, welche den Rechtsan­ wender nach wie vor als zentralen Akteur bei der völkerrechtlichen Vertrags­ auslegung933 begreift.

933  Mössner,

AVR 15 (1972), 273 (302).

4. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger Verträge im Lichte der Fragmentierung des Völkerrechts „[T]he problem is the fragmentation into interpretive communities!“934

Anders als teilweise auf der nationalen Ebene gibt es im Völkerrecht keine zentrale Rechtsetzungs- und insbesondere keine zentrale Rechtsprechungsin­ stanz, welche zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beitragen kann.935 Die zitierte Ausführung von Bianchi benennt ein in den letzten Jahrzehnten zunehmend in den Vordergrund tretendes Phänomen, welches einer einheitlichen internationalen Rechtsprechung und insbesondere auch Auslegungsmethodik noch weiter entgegenwirken könnte: Mit der Etablie­ rung weiterer internationaler Gerichte im Rahmen der Gründung von interna­ tionalen Organisationen hat sich die Tendenz zu einer zersplitterten Recht­ sprechung weiter vergrößert.936 Im völkerrechtlichen Schrifttum wird daher sogar teilweise suggeriert, dass die Auslegungsregeln der Wiener Vertrags­ rechtskonvention diesem Phänomen nicht gewachsen seien und keine ein­ heitlichen Auslegungsstandards garantieren könnten.937 Die nachfolgenden Ausführungen greifen diese Thematik auf und stellen diese Behauptung, dass die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention – insbesondere in Bezug auf mehrsprachige völkerrechtliche Verträge – im Lichte der Frag­ mentierung keine einheitlichen Auslegungsstandards mehr gewähren können, auf den Prüfstand.

934  Bianchi,

in: Armstrong, David (Hrsg.), Routledge Handbook (2009), S. 404. hierbei bereits den Bericht der ILC Study Group, Fragmentation of Inter­ national Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of internati­ onal law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S. 10. 936  Vgl. auch folgende Ausführung aus der Rede vom 27.10.2000 des ehemaligen Präsidenten des IGH Guillaume an das 6. Komitee der Generalversammlung der Ver­ einten Nationen: „[I] consider that the judges must take cognizance of the dangers of legal framentation, and of inconsistency in the case-law, as a result of the quasi-anar­ chic proliferation of international courts.“ 937  Vgl. etwa Letsas, EJIL 21 (2010), 509 (534); Waibel, in: Bianchi [et al.] (Hrsg.), Interpretation (2015), S. 147. 935  Vgl.



A. Die Fragmentierung des Völkerrechts251

A. Die Fragmentierung des Völkerrechts und die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtliche Verträge Speziell in Bezug auf die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge liegen bisher kaum Untersuchungen in Bezug auf die Auswirkungen der Fragmentierung des Völkerrechts vor. Lediglich die Ausführungen von Rest, ob je nach Vertragsart bei der Auslegung von Rechtsbegriffen differen­ ziert werden müsse938, die spezielle Abhandlung von Arginelli zur Auslegung mehrsprachiger steuerrechtlicher Verträge939 sowie der Aufsatz von Fronza/ Malarino zur Auslegung multilingualer strafrechtlicher Texte940 lassen erah­ nen, dass das Phänomen der Fragmentierung des Völkerrechts auch auf die Thematik der Auslegung mehrsprachiger Verträge ausstrahlt. Die von Argi­ nelli dargestellten Besonderheiten im internationalen Steuerrecht – zusätzlich zur Thematik der Mehrsprachigkeit auf die Auslegung – lassen beispielhaft erahnen, welche zusätzlichen Herausforderungen die Fragmentierung des Völkerrechts für den Rechtsanwender bereithält.

I. Der Begriff der Fragmentierung des Völkerrechts Unter der Fragmentierung des Völkerrechts wird die Koexistenz verschie­ dener Teilrechtsordnungen verstanden, die teilweise einen sehr hohen Spezi­ alisierungsgrad aufweisen.941 Die ILC Study Group spezifiziert in ihrem Bericht „Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law“ die Eigenständigkeit von Teilrechtsordnungen und greift insbesondere die nach verbreiteter Einschät­ zung zunehmende Bedeutung normbildender Verträge (lawmaking treaties/ traités contrats) auf.942 Als relevante Teilrechtsgebiete werden in dem Bericht etwa der internationale Menschenrechtsschutz und das internationale Investi­ tionsschutzrecht aufgeführt.943 Die International Law Commission sieht in der Eigenständigkeit der Rechtsgebiete folgende Problematik: 938  Rest,

Rechtsbegriffe (1971), S. 81 ff. Tax Treaties (2015), S. 445 ff. 940  Fronza/Malarino, ZStW 118 (2006), 927 ff. 941  Herdegen, Völkerrecht (2018), § 5, Rn. 21; Thiele, AVR 46 (2008), 1 (3). 942  ILC Study Group, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S.  10 ff. 943  ILC Study Group, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S. 11. 939  Arginelli,

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

„The problem, as lawyers have seen it, is that such specialized law-making and institution-building tends to take place with relative ignorance of legislative and institutional activities in the adjoining fields and of the general principles and prac­ tices of international law. The result is conflicts between rules or rule-systems, deviating institutional practices and, possibly, the loss of an overall perspective on the law.“944

Nicht näher konkretisiert wird durch diese Ausführungen die Reichweite der Auswirkungen der Fragmentierung des Völkerrechts, insbesondere die bezeichnete relative Ignoranz zu allgemeinen Prinzipien des Völkerrechts und der Verlust einer umfassenden Perspektive auf das Recht lesen sich zunächst nur als abstrakte Behauptung. Betrachtet man zunächst nur die materiellrecht­ liche Ebene,945 wird man konstatieren müssen, dass „specialized law-making“ zwar mit dogmatischen Besonderheiten einhergehen kann; in bestimmten Teilrechtsgebieten kann dies sogar ein Aufweichen des klassisch verstandenen Völkerrechts als rein zwischenstaatliches Recht sein. Die volle Tragweite der behaupteten Auswirkungen im Bericht der International Law Commission er­ geben sich indes erst durch die Anwendung dieses Rechts durch die dazu be­ rufenen internationalen Gerichte.946 Für den Bereich der Vertragsauslegung im Völkerrecht wird mithin zu klären sein, ob sich in der Rechtsprechung inter­ nationaler Gerichte zu ausgewählten Teilrechtsgebieten des Völkerrechts dogmatische Besonderheiten ausmachen lassen. Sodann wird auch feststehen, ob man im Sinne des Berichts der International Law Commission vom Verlust einer umfassenden Perspektive auf die Auslegungsregeln der Wiener Vertrags­ rechtskonvention ausgehen kann.

II. Die Auswirkung der Fragmentierung des Völkerrechts auf die Auslegung völkerrechtlicher Verträge Die Auswirkungen der Fragmentierung des Völkerrechts auf die völker­ rechtliche Vertragsauslegung wurden im Bericht der International Law Com­ mission hauptsächlich im Hinblick auf die mögliche erforderliche Auflösung 944  ILC Study Group, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S. 11. 945  Vgl. auch ILC Study Group, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/ CN.4/L. 682, S. 247: „Concern over the fragmentation of international law has an institutional and a substantive aspect.“ 946  Vgl. etwa Rao, Mich. J. Int’l L. 25 (2004), 929 (930); Simma, Mich. J. Int’l L. 25 (2004), 845 (846). Insbesondere Simma argumentiert, dass die Thematik der Frag­ mentierung des Völkerrechts durch die zunehmende Zahl internationaler Gerichte determiniert sei. In diesem Zusammenhang ist auch die Ausführung von Waibel „[T]he problem is the fragmentation into interpretive communities!“ zu erklären.



A. Die Fragmentierung des Völkerrechts253

der Kollision vertraglicher Pflichten über die Anwendung von Art. 31 Abs. 3 Buchst. c) WVK dargestellt.947 Lediglich an einer Stelle wird hingegen auf die hier relevante Thematik Bezug genommen, nämlich ob mit der Fragmen­ tierung des Völkerrechts auch neue, besondere Auslegungsmaßstäbe (im Bericht wird von „particular approaches“ gesprochen) anzunehmen seien; diese werden von der International Law Commission unter Verweis auf das Teilrechtsgebiet des Internationalen Menschenrechtsschutzes bejaht.948 Die Formulierung „particular approach“ impliziert hierbei einen Methodenansatz, welcher als andersartig bzw. sogar losgelöst vom System der Auslegungsvor­ schriften der Wiener Vertragsrechtskonvention verstanden werden kann. 1. Die Daseinsberechtigung und Erklärung für unterschiedliche Auslegungsmaßstäbe in Teilrechtsgebieten des Völkerrechts Das Heranziehen besonderer ungeschriebener Auslegungsmaßstäbe wie etwa der Auslegung nach dem Effektivitätsgrundsatz führt zunächst zu der Frage der Berechtigung des Rechtsanwenders, so zu verfahren, da mit Art. 31–33 WVK gerade geschriebene Auslegungsregeln vorliegen, mit de­ nen ein völkerrechtlicher Vertrag ausgelegt werden soll.949 Naheliegend ist zunächst der Ansatz, auf materiellrechtlicher Ebene mit der speziellen Rechtsnatur eines völkerrechtlichen Vertrages zu argumentieren. Dieser Er­ klärungsansatz zeigt sich etwa im Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zum Nuklearwaffeneinsatz in bewaffneten Konflikten: „But the constituent instruments of international organizations are also treaties of a particular type; their object is to create new subjects of law endowed with a certain autonomy, to which the parties entrust the task of realizing common goals. Such treaties can raise specific problems of interpretation owing, inter alia, to their character which is conventional and at the same time institutional […].“950

Die Berechtigung, besondere Auslegungsmaßstäbe heranzuziehen, läge nach den Ausführungen des Internationalen Gerichtshofs darin, dass be­ 947  ILC Study Group, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S.  206 ff. 948  Siehe die knappe Feststellung der ILC Study Group, Fragmentation of Interna­ tional Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S. 216: „In State practice, and the practice of interna­ tional tribunals, particular approaches to interpretation have of course developed.“ 949  Skeptisch jedoch bereits Letsas, EJIL 21 (2010), 509 (512): „The first miscon­ ception is to think that Articles 31–33 VCLT set out single rules of interpretation for all treaties […].“ 950  IGH, Legality of the use by a State of nuclear weapons in armed conflict, Ad­ visory Opinion of 8 July 1996, I.C.J. Reports 1996, 66, § 19.

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

stimmte Vertragstypen besondere Auslegungsfragen („specific problems of interpretation“) aufwerfen können. Dahinter steht scheinbar der Ansatz, dass speziellen völkerrechtlichen Verträgen („treaties of a particular type“) mit besonderen Auslegungsmaßstäben („particular approach to interpretation“) begegnet werden müsse.951 Der Gerichtshof lässt jedoch offen, welche be­ sonderen Auslegungsmaßstäbe – abweichend von denen der Wiener Vertrags­ rechtskonvention – anzuwenden seien.952 Sowohl an diesem als insbesondere auch dem Ansatz von Letsas erscheint jedoch problematisch, dass Ausle­ gungsregeln nicht mehr als abstrakt-generelle Rechtssätze, sondern im Sinne von Einzelfallmethodik begriffen werden könnten, welche zwangsläufig zu einem hohen Maß an Rechtsunsicherheit führen würde. Dem Erklärungsan­ satz des Internationalen Gerichtshofs muss zudem entgegengehalten werden, dass nach Art. 5 WVK die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskon­ vention auch für internationale Organisationen gelten. Damit spricht einiges dafür, dass auch im Falle des Bestehens spezieller Auslegungsfragen grund­ sätzlich die Methodenansätze in Art. 31–33 WVK heranzuziehen sind.953 Das Tatbestandsmerkmal „without prejudice to any relevant rules of the organiza­ tion“ soll jedoch eine gewisse Flexibilität in den Auslegungsregeln der Wie­ ner Vertragsrechtskonvention ermöglichen, sobald sich spezielle Auslegungs­ fragen bei Gründungsverträgen Internationaler Organisationen stellen;954 nach diesem Verständnis müssten besondere Auslegungsansätze wie etwa die dynamische Auslegung955 oder die Auslegung nach dem Effektivitätsgrund­ satz956 aber als Voraussetzung für ihre Anwendung methodisch an Art. 31–33 WVK rückgebunden werden können. Eine tragende Rolle kommt hierbei möglicherweise dem Tatbestandsmerkmal des „object and purpose“ in Art. 31 Abs. 1 WVK zu.957 Nach diesem Verständnis wäre es vertretbar, begrifflich von besonderen oder speziellen Auslegungsregeln auszugehen,958 in der Sa­ che geht es aber eher um eine Anpassung der allgemeinen Auslegungsregeln in Bezug auf die Rechtsnatur spezieller völkerrechtlicher Verträge. 951  Ausführlich hierzu Bjorge, Evolutionary Interpretation (2014), S. 23 ff.; vgl. auch Letsas, EJIL 21 (2010), 509 (512): „Different kinds of projects will call for different kinds of methods of interpretation.“ 952  Qualye, LJIL 29 (2016), 853 (854). 953  Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 31. 954  Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 30. 955  Knappe Darstellung bei Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 25. 956  Knappe Darstellung bei Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 35. 957  Vgl. Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 29. 958  So sind etwa die Begriffe der „dynamischen Auslegung“ oder der „restriktiven Auslegung“ sowohl im Schrifttum als auch in der Praxis geläufig – die Wiener Ver­ tragsrechtskonvention kennt diese Begriffe gleichwohl nicht.



A. Die Fragmentierung des Völkerrechts255

Einen weiteren Erklärungsansatz für die verstandene Eigenständigkeit be­ sonderer Auslegungsregeln zeigt sich in dem Verweis auf die Rechtsfigur des „self-contained regime“.959 Einige Aufmerksamkeit hat in der Diskussion der Fragmentierung des Völkerrechts insbesondere folgende Ausführung des Tribunals für das ehemalige Jugoslawien im Schrifttum erfahren: „International law, because it lacks a centralized structure, does not provide for an integrated judicial system operating an orderly division of labour among a number of tribunals, where certain aspects or components of jurisdiction as a power could be centralized or vested in one of them but not the others. In international law, every tribunal is a self-contained system (unless otherwise provided).“960

Diese Ausführung wurde von Bjorge als „[t]he most extreme expression of the fragmented approach“ charakterisiert.961 Die Verwendung des Begriffs „self-contained system“ lehnt sich hierbei deutlich an den Begriff des „selfcontained regime“ an. Diese Annahme des Tribunals geht über eine bloße materiellrechtliche Kategorisierung des Völkerstrafrechts als völkerrechtliche Teilrechtsordnung hinaus, da die Begriffe der Teilrechtsordnung und des „self-contained-regime“ nicht synonym verwendet werden können.962 Durch die Einordnung als „self-contained system“ wird damit die (freilich nicht ex­ plizit ausgesprochene) Annahme signalisiert, dass das Tribunal in einem auto­ nomen rechtlichen Rahmen – losgelöst von allgemeinen völkerrechtlichen Bestimmungen – handeln kann. In letzter Konsequenz würde diese Annahme bedeuten, dass das ICTY von den Auslegungsregeln der Wiener Vertrags­ rechtskonvention quasi abgeschirmt („contained“) wäre und eigene autonome Auslegungsmaßstäbe anlegen könnte.963 Dieser radikale Ansatz des ICTY erscheint jedoch zu weitgehend. Er wird insbesondere nicht dem Maß an Darlegungen gerecht, welche an die Annahme eines solchen abgeschlossenen rechtlichen Systems zu stellen sind.964 Da die Annahme eines solchen abge­ schlossenen Systems etwa auch beim Internationalen Menschenrechtsschutz als bedeutende Teilrechtsordnung umstritten ist,965 erscheint es vorzugswür­ dig, die empfundene Notwendigkeit der Anwendung besonderer Auslegungs­ 959  Rao, Mich. J. Int’l L. 25 (2004), 929 (933); grundlegend zur Rechtsfigur des self-contained Regime Simma, NYIL 16 (1985), 111 ff. 960  ICTY, Appeals Chamber, Prosecutor v. Tadic, Jurisdiction, ILR 105 (1995), 419 (458). 961  Bjorge, Evolutionary Interpretation (2014), S. 28. 962  Vgl. Simma, NYIL 16 (1985), 111 (118). 963  Eines der wenigen Beispiele für die autonome Auslegung scheint aber lediglich die Auslegung des Unionsrechts durch den EuGH zu sein (vgl. Dörr, in: Dörr/Schma­ lenbach [Hrsg.], Commentary [2012], Art. 31, Rn. 31); die Eigenständigkeit der Uni­ onsrechtsordnung gegenüber dem Völkerrecht hat der EuGH in Van Gend en Loos aber auch entsprechend begründet. 964  Vgl. Simma, NYIL 16 (1985), 111 (135). 965  Vgl. Simma, NYIL 16 (1985), 111 (135).

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

regeln in Bezug auf internationale Organisationen über die dogmatische Rückbindung an die völkervertraglichen Auslegungsregeln zu suchen. 2. Potentielle Auswirkungen auf die Auslegung mehrsprachiger Verträge Die Auswirkungen der Fragmentierung des Völkerrechts konzentrierten sich bei Auslegungsfragen im Wesentlichen auf die allgemeinen Auslegungs­ regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention. So wurden besondere Ausle­ gungsansätze wie etwa die dynamische Auslegung oder die Auslegung nach dem Effektivitätsgrundsatz bisher hauptsächlich in Zusammenhang mit Art. 31 WVK diskutiert.966 Gleichwohl gibt es aber auch Beispiele in der Rechtspraxis, die erkennen lassen, dass die Thematik der Fragmentierung des Völkerrechts auch auf die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Ver­ träge ausstrahlt. Ein anschauliches Beispiel stellen zwei Entscheidungen des UN-Tribunals für Ruanda (ICTR) dar, in welchen sich das Tribunal mit Text­ divergenzen in seinem Statut zu befassen hatte. Kennzeichend bei beiden Entscheidungen ist, dass das Tribunal auf die Suprematstellung eines be­ stimmten Textes hinargumentierte: „The Chamber notes that article 3(a) of the English version of the Statute refers to ‚Murder‘, whilst the French version of the Statute refers to ‚Assassinat‘. Custom­ ary International Law dictates that it is the act of ‚Murder‘ that constitutes a crime against humanity and not ‚Assassinat‘. There are therefore sufficient reasons to assume that the French version of the Statute suffers from an error in translation.“967 „Article 2(2)(a) of the Statute, like the corresponding provisions of the Genocide Convention, refers to ‚meutre‘ in the French version and to ‚killing‘ in the English version. The Chamber believes that the term killing includes both intentional and unintentional homicides, whereas the word ‚meutre‘ covers homicide committed with the intent to cause death. The Chamber holds that, given the presumption of the innocence of the Accused, and pursuant to the general principles of criminal law, the version more favourable to the Accused should be adopted.“968

Bei beiden Entscheidungen ist auffällig, dass das Tribunal nicht nur keine harmonisierende Auslegung der verschiedensprachigen Texte seines Statuts im Sinne einer „reconciliation“ anstrebte,969 sondern insbesondere auch das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf jene Absätze in Art. 33 WVK, die eine 966  Dies zeigt etwa beispielhaft deren Kommentierung in der allgemeinen Ausle­ gungsregel des Art. 31 WVK bei Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 25, 35. 967  ICTR, The Prosecutor v. Jean-Paul Akayesu, Judgment of 02 September 1998, Case No. ICTR-96-4-T, Rn. 588. 968  ICTR, The Prosecutor v. Alfred Musema, Judgment of 27 January 2000, Case No. ICTR-96-13-A, Rn. 155. 969  Gächter-Alge, Mehrsprachigkeit (2011), S. 283.



A. Die Fragmentierung des Völkerrechts257

völkergewohnheitsrechtliche Prägung haben.970 Die Ausführungen des Tribu­ nals in Prosecutor v. Musema lassen in besonderem Maße deutlich werden, dass für die Auslegung der Textdivergenz in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a) des Statuts nicht die Auslegungsregeln in Art. 33 WVK maßgebend seien, mit dem Berufen auf allgemeine strafrechtliche Grundsätze wie der Unschulds­ vermutung wird vielmehr ein vollständig von Art. 33 WVK losgelöster Aus­ legungsmaßstab angelegt.971 Über die Gründe kann nur spekuliert werden: Es ist möglich, aber doch eher unwahrscheinlich, dass dem Tribunal im konkre­ ten Fall die Vorschrift des Art. 33 WVK nicht bekannt war bzw. diese überse­ hen wurde, oder es sah Art. 33 WVK für die Auflösung von Textdivergenzen im Teilrechtsgebiet des Völkerstrafrechts als nicht geeignet an.972 Letzterer Fall würde jedoch bedeuten, dass das Tribunal Art. 33 WVK bewusst igno­ riert hatte und sich im Stile des vom ICTY proklamierten „self-contained system“ befugt sah, unter Verweis auf allgemeine strafrechtliche Grundsätze einen eigenen Auslegungsmaßstab zur Auflösung von Textdivergenzen aufzu­ stellen. Der Verweis auf allgemeine strafrechtliche Grundsätze und die Un­ schuldsvermutung des Angeklagten zielt aber noch auf eine weitere Thematik ab, welche bei der Auflösung textlicher Divergenzen eine zunehmende Rolle spielen könnte: Es ist der Einfluss subjektiv-rechtlicher Rechtspositionen, welche sich aus einem völkerrechtlichen Vertrag – je nach Rechtsnatur – er­ geben können und welche das tradierte Bild eines rein zwischenstaatlichen do et des aufweichen. Die Frage des Einflusses subjektiv-rechtlicher Rechtsposi­ tionen bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge hat hier­ bei nicht nur gegenwärtige Bedeutung, wie etwa der vom Cour supérieure du Québec entschiedene Fall Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française973 gezeigt hat.974 Verfestigt hat sich die 970  Nach der Rechtsprechung des ICTR können diejenigen Auslegungsregeln der WVK, die auch völkergewohnheitsrechtlich gelten, angewendet werden, siehe ICTR, The Prosecutor v. Pauline Nyiramasuhuko et al., Judgment of 14 December 2015, Case No. ICTR-98-42-A, Rn. 2137. 971  Kritisch ggü. dem Ansatz der Auslegung in favorem des ICTR wohl Fronza/ Malarino, ZStW 118 (2006), 927 (946), dort Fn. 39. 972  Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die in Fn. 896 zitierte abwei­ chende Meinung des Richters Kaul (Authorization of an Investigation into the Situation in the Republic of Kenya), der zwar Art. 33 WVK zitiert hat, jedoch anstatt Abs. 4 die Gemeinsamer-Nenner-Regel angewendet hat. Dies lässt erahnen, dass er Art. 33 Abs. 4 WVK für das Völkerstrafrecht generell ungeeignet ansah und stattdes­ sen – möglicherweise im Hinblick auf Beschuldigtenrechte – eine restriktive Ausle­ gung vorgezogen hat. 973  Cour supérieure du Québec, Armand Mekies c. Directeur du Centre de detention Parthenais et Republique Française, C.S. 1977, 91 ff. 974  In diesem Fall ging es um die Frage der Auslegung des Rechts auf Habeas Corpus in einem Auslieferungsvertrag aus dem Jahr 1876, siehe näher oben zu Fn. 456, 457.

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

Tendenz zur Stärkung subjektiv-rechtlicher Rechtspositionen insbesondere im Teilrechtsgebiet des internationalen Menschenrechtsschutzes. Ob subjektivrechtliche Rechtspositionen eine besondere Rolle bei der Auslegung mehr­ sprachiger völkerrechtlicher Verträge einnehmen, lässt sich an dieser Stelle abstrakt nicht beantworten. Dies erscheint aber nicht ausgeschlossen, da ins­ besondere das Verfahren nach Art. 33 Abs. 4 WVK dem Rechtsanwender – wie oben dargestellt – nur einen groben Rahmen zur Auflösung von Textdi­ vergenzen gibt. Nähere Klärung zu der Frage, inwieweit die Berücksichtigung subjektiv-rechtlicher Rechtspositionen die Auflösung von Textdivergenzen beeinflussen kann, kann etwa die Rechtspraxis bei der Auslegung menschen­ rechtlicher Verträge geben.

B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge Menschenrechtlichen Verträgen wird häufig eine spezielle Rechtsnatur zu­ geschrieben, da diese sich dogmatisch von sonstigem Völkervertragsrecht unterscheiden würden.975 Betont wird hier vor allem der fehlende reziproke Charakter menschenrechtlicher Verträge, dessen Auswirkungen sich auf pro­ zessualer Ebene soweit auswirken, dass natürliche Personen die Auslegung menschenrechtlicher Vorschriften zum Gegenstand eines Rechtstreits machen können;976 dies stellt einen substantiellen Unterschied zum klassischen zwi­ schenstaatlichen Streit über die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrages (Art. 36 Abs. 2 Buchst. a) IGH-Statut) dar. Bekräftigt wird diese Einschät­ zung auch auf materieller Ebene, dass menschenrechtliche Verträge von dem klassischen Bild eines reziproken zwischenstaatlichen Vertrages abweichen.977 Auffällig ist, dass immer wieder auf diese Besonderheit verwiesen wird, wenn es um die Frage der Auslegung menschenrechtlicher Verträge geht. Zu klären sein wird an dieser Stelle, inwieweit insbesondere die dynamische Auslegung menschenrechtlicher Verträge bei der Auflösung von Textdiver­ genzen in mehrsprachigen völkerrechtlichen Verträgen eine Rolle spielt. 975  So etwa Arato, in: Bianchi [et al.] (Hrsg.), Interpretation (2015), S. 205; Bernhardt, in: FS Wiarda (1990), S. 65 f.; Gardiner, Interpretation (2015), S. 474; Killander, SUR – Int’l. J. on Hum Rts. 13 (2010), 145 (146). 976  Bernhardt, in: FS Wiarda (1990), S. 66; Casals, Auslegungsmethoden (2010), S. 40 f.; näher zu den prozessualen Implikationen Plakokefalos, in: Tams [et al.] (Hrsg.), Research Handbook (2014), S. 641. 977  Siehe beispielhaft EGMR, Case of Ireland v. The United Kingdom, Appl. No. 5310/71, § 239: „Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between contracting States. It creates, over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obliga­ tions which, in the words of the Preamble, benefit from a ‚collective enforcement‘.“



B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge259

I. Die dynamische Auslegung menschenrechtlicher Verträge Menschenrechtliche Verträge werden häufig als sog. „living instrument“ charakterisiert.978 Dieser Ansatz greift das Problem auf, dass sich die einem völkerrechtlichen Vertrag zugrundeliegenden Umstände ändern können, wel­ che sogar Einfluss auf die Ermittlung von Ziel und Zweck einer Vertragsbe­ stimmung haben können.979 Der Ansatz des „living instrument“ impliziert hierbei ein hohes Maß an Offenheit bezüglich der Berücksichtigung einer Veränderung von Umständen bei der Auslegung eines völkerrechtlichen Ver­ trages, wie etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte oder des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschen­ rechte zeigt: „The Court must also recall that the Convention is a living instrument which, as the Commission rightly stressed, must be interpreted in the light of present-day conditions.“980 „The Court has pointed out, as the European Court of Human Rights has too, that human rights treaties are live instruments, whose interpretation must go hand in hand with evolving times and current living conditions.“981

Die Ausführung „interpretation must go hand in hand with evolving times“ des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs geht noch über den Ansatz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hinaus, der mit den „present-day conditions“ ausschließlich auf tatsächliche Umstände ab­ stellt; die Formulierung „interpretation must go hand in hand with evolving times“ ist so allgemein, dass hierunter auch eine Änderung möglicher Wort­ bedeutungen erfasst sein könnte. Überträgt man etwa den Ansatz des Inter­ amerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs auf die Konstellation im Fall Matter of Extradition of Rabelbauer,982 – in diesem Fall ging es um die zwischenzeitlich veränderte Bedeutung des Vertragsbegriffes „Unterschla­ 978  Siehe etwa HRC, Roger Judge v. Canada, Communication No. 829/1998, UN Doc. CCPR/C/78/D/829/1998, Rn. 10.3; auf europäischer Ebene EGMR, Tyrer v. United Kingdom, Appl. No. 5856/72, Rn. 55. 979  Vgl. Arato, in: Bianchi [et al.] (Hrsg.), Interpretation (2015), S. 206; siehe au­ ßerdem folgende Ausführung von Nolte an die ILC: „Treaties are not just dry parch­ ments. They are instruments for providing stability to their parties and for fulfilling the purposes which they embody. They can therefore change over time, and must adapt to new situations, evolve according to the social needs of the international com­ munity and can, sometimes, fall into obsolescence“ (Y.B. Int’l L. Comm’n 2008, Vol. II, Part 2, 152). 980  EGMR, Tyrer v. United Kingdom, Appl. No. 5856/72, Rn. 55. 981  IAGMR, Case of the „Mapiripán Massacre“ v. Colombia (Merits, Reparations, and Costs), Rn. 106. 982  U.S. District Court for the Southern District of New York, Matter of Extradition of Rabelbauer, 638 F.Supp.1085 (S.D.N.Y. 1986).

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

gung“ gegenüber dem englischen Pendant „malversation“ im streitgegen­ ständlichen Auslieferungsvertrag – hätte die veränderte Bedeutung des Be­ griffes „Unterschlagung“ zugunsten von Rabelbauer Berücksichtigung finden müssen. Der Ansatz des EGMR ermöglicht indes nicht ohne Weiteres diese Schlussfolgerung, da nicht klar erscheint, ob man mit „present-day condi­ tions“ auch eine zwischenzeitlich anders oder neu verstandene sprachliche Bedeutung eines Vertragsbegriffes berücksichtigen kann, es erscheint aber auch nicht ausgeschlossen.983 Die leicht unterschiedlichen Formulierungen des Europäischen Gerichts­ hofs für Menschenrechte und des Interamerikanischen Gerichtshofs für Men­ schenrechte stehen beispielhaft für die verschiedenen Anwendungsfelder der dynamischen Auslegung;984 diese verschiedenen Anwendungsfelder erschwe­ ren jedoch eine trennscharfe methodische Konturierung dieser Auslegungs­ methode. So wird etwa vertreten, dass die dynamische Auslegung eines Vertragsbegriffes grundsätzlich nur dann möglich sei, wenn feststeht, dass sich die Vertragsparteien für einen bestimmten Vertragsbegriff entschieden haben, der dynamisch im Sprachsinn verstanden werden kann.985 Der Ansatz des „living instruments“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte stellt jedoch einen Sonderfall dar, da nicht primär auf die angelegte dynami­ sche sprachliche Bedeutung eines Vertragsbegriffes abgestellt wird, sondern auf den quasi-konstitutionellen Charakter der EMRK und die effektive Durchsetzung der Menschenrechte.986 Problematisch erscheint an dem Hin­ 983  Inwieweit eine zwischenzeitliche Veränderung der Wortbedeutung zwischen den verschiedensprachigen Vertragsbegriffen durch den „living instrument“-Ansatz des EGMR berücksichtigt werden kann, wird anhand dessen Rechtsprechung zur Auf­ lösung von Textdivergenzen in der EMRK zu klären sein. 984  Gardiner, Interpretation (2015), S. 468, nennt drei verschiedene Anwendungs­ felder: Die Änderung der Bedeutung von Vertragsbegriffen, die einem bestimmten Rechtsregime immanente Offenheit für eine Reaktion auf tatsächliche Veränderungen sowie eine einem Vertragsschluss nachgelagerte (vertragliche) Übung. 985  Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 26. Der IGH sieht diese Voraussetzung bereits als gegeben an, wenn Vertragsbegriffe mit einer allgemeinen Bedeutung gewählt werden: „[w]here the parties have used generic terms in a treaty, the parties necessarily having been aware that the meaning of the terms was likely to evolve over time, and where the treaty has been entered into for a very long period or is ‚of continuing duration‘, the parties must be presumed, as a general rule, to have intended those terms to have an evolving meaning“ (IGH, Dispute regarding navigational and related rights [Costa Rica v. Nicaragua], I.C.J. Re­ ports 2009, 213, § 66). Legt man diesen Maßstab des IGH dem Fall Matter of Extradition of Rabelbauer zugrunde, käme man gleichfalls zu dem Ergebnis, dass die ver­ änderte Bedeutung des Vertragsbegriffs „Unterschlagung“ zugunsten von Rabelbauer hätte gewürdigt werden müssen. 986  Siehe instruktiv EGMR, Case of Janowiec and others v. Russia [GC], Appl. No. 55508/07 and 29520/09, Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of



B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge261

weis auf die effektive Durchsetzung der Menschenrechte die Abgrenzung des „living instrument“-Ansatzes vom Effektivitätsgrundsatz bzw. der Formel ut res magis valeat quam pereat.987 Diese Unschärfen um den Begriff der dyna­ mischen Auslegung – einerseits wird die temporale Dimension bei der Ent­ wicklung von Wortbedeutungen angeführt, andererseits die effektive Durch­ setzung des Vertrages im Wege der Auslegung – müssen bei der Frage der Übertragbarkeit dieser Auslegungsmethode auf die Auslegung mehrsprachi­ ger Verträge berücksichtigt werden. Im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Thematik der Mehrsprachigkeit lässt sich die Frage des Verhältnisses des „living instrument“-Ansatzes zu den Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention nicht ver­ meiden; am naheliegendsten erscheint die Einordnung als besondere Ausprä­ gung der „object and purpose“-Formel.988 Da dem Tatbestandsmerkmal „ob­ ject and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK eine bedeutende Rolle zukommt, erscheint es nicht ausgeschlossen, dass der „living instrument“-Ansatz auch bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge zur Anwendung kommen könnte;989 ob dies tatsächlich der Fall ist, kann zunächst anhand der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geklärt werden.

Judge Wojtyczek, Rn. 3: „The Convention is undeniably a living instrument, since its application must give constant material effect […]“; aus der Literatur Dörr, in: Dörr/ Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 27; anders wohl aber Gardiner, Interpretation (2015), S. 472. Zieht man die von Gardiner genannten Anwen­ dungsfelder heran, wäre der „living-instrument“-Ansatz unter den zweiten der in Fn. 984 genannten Fälle einzuordnen. 987  Eine trennschärfere Differenzierung zwischen dem Effektivitätsgrundsatz und dem „living instrument“-Ansatz nimmt dagegen Rietiker, Nord. J. Int’l L. 79 (2010), 245 (260 ff.) vor. Nach seiner Auffassung tangiert der „living instrument“-Ansatz die temporale Dimension des Effektivitätsgrundsatzes. 988  Vgl. Çali, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 539; Fritzmaurice, in: Orakhelashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 55; Theil, EPL 23 (2017), 587 (603). 989  Eine gewisse Ähnlichkeit der eingangs zitierten Ausführung von Hardy zu mehrsprachigen Verträgen („Les mots n’ont pas de signification intrinsèque: leur sens est celui qu’on leur donne dans tel milieu à telle époque; de plus, chaque langue possède son genie propre, qui influe sur le choix des mots et sur l’ordonnance de la phrase.“) mit dem „living instrument“-Ansatz lässt sich jedenfalls nicht leugnen.

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

1. Rechtsprechung des EGMR mit Bezug zur Thematik der Mehrsprachigkeit Da Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofs in Bezug auf die Thematik der Mehrsprachigkeit, soweit ersichtlich, nicht vorhanden ist,990 muss auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen­ rechte zurückgegriffen werden, um der Frage nachzugehen, ob der „living instrument“-Ansatz auch zur Auflösung von Textdivergenzen bei mehrspra­ chigen menschenrechtlichen Verträgen herangezogen werden kann. Die Aus­ wirkungen der Fragmentierung des Völkerrechts auf die Auslegung mehr­ sprachiger Verträge lassen sich besonders gut in folgenden Ausführungen in der Entscheidung im Fall Wemhoff v. Germany nachzeichnen: „The Court cannot accept this restrictive interpretation. It is true that the English text of the Convention allows such an interpretation. […] But while the English text permits two interpretations the French version, which is of equal authority, allows only one. […] Thus confronted with two versions of a treaty which are equally authentic but not exactly the same, the Court must, following established international law precedents, interpret them in a way that will reconcile them as far as possible. Given that it is a law-making treaty, it is also necessary to seek the interpretation that is most appropriate in order to realise the aim and achieve the object of the treaty, not that which would restrict to the greatest possible degree the obligations undertaken by the Parties.“991

Mit der Formulierung „given that it is a law-making treaty“ deutet der Gerichtshof den besonderen Charakter der EMRK als Menschenrechtsvertrag an. Diese Ausführung passt streng genommen nicht zu der impliziten Bezug­ nahme auf Art. 33 Abs. 4 WVK, da diese Vorschrift gerade nicht zwischen normbildenden Verträgen und Austauschverträgen differenziert. Indem der Gerichtshof vielmehr den besonderen Charakter der EMRK mit Ziel und Zweck verknüpft, betont er implizit die Bedeutung der dort gewährleisteten subjektiven Rechte. Diese zugrunde gelegten Erwägungen führten schließlich zu der Schlussfolgerung, dass die Auslegung nicht lediglich auf den engli­ schen Text gestützt werden durfte, da eine solche restriktive – wenn auch souveränitätsfreundliche – Auslegung nicht mit der Zielsetzung der EMRK zu vereinbaren gewesen wäre. Die Entscheidung in Wemhoff v. Germany kann mithin als Beleg dafür gesehen werden, dass subjektive Rechte in ei­ 990  Vgl. etwa die ausführliche Darstellung bei Casals, Auslegungsmethoden (2010), S. 79 ff., die keine Beispielsfälle für die Anwendung von Art. 33 WVK durch den IAGMR bringt. Dies ist zwar insofern überraschend, da diese Konvention au­ thentische Texte in Spanisch, Englisch, Portugiesisch und Französisch hat (U.N.T.S. 1144 [1987], 123 [No. 17955]), jedoch gibt es in der AMRK keine Art. 59 EMRK entsprechende Bestimmung, welche alle Texte für gleichermaßen verbindlich für die Auslegung erklärt. 991  EGMR, Wemhoff v. Germany, Appl. No. 2122/64, S. 19.



B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge263

nem völkerrechtlichen Vertrag einen starken Einfluss auf das Verfahren der „reconciliation“ i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK haben können, zumal sich diese Argumentationslinie auch im Fall The Sunday Times v. The United Kingdom992 sowie im Fall Stoll v. Switzerland993 andeutet. Je nachdem, ob die Auslegung nach einem bestimmten Vertragstext zu einer Aushöhlung der ef­ fektiven Durchsetzung subjektiver Rechte führen könnte, wird man mithin davon ausgehen können, dass die Anwendung von Art. 33 Abs. 4 WVK zu­ gunsten der Realisierung subjektiver Rechte erfolgen wird müssen. Obgleich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Ent­ scheidung Wemhoff v. Germany auf den normbildenden Charakter der EMRK abstellt, ist jedoch auffällig, dass er keine besonderen Auslegungsregeln postuliert, die diesem Rechtscharakter in besonderer Weise Rechnung tragen würden, sondern vielmehr auf die Auslegungsregeln der Wiener Vertrags­ rechtskonvention für mehrsprachige Verträge Bezug nimmt. Da der „living instrument“-Ansatz sich erst zeitlich nach den Urteilen in Wemhoff v. Germany und The Sunday Times v. The United Kingdom in der Rechtsprechung des Gerichtshofs herausgebildet hatte, überrascht es nicht, dass dieser in den genannten Entscheidungen nicht herangezogen wurde, andererseits sah der Gerichtshof mit dem Tatbestandsmerkmal „object and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK offenbar auch eine ausreichende Möglichkeit, den besonderen völkerrechtlichen Rechtscharakter der EMRK zu würdigen.994 Da der „living instrument“-Ansatz auch in der späteren Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Thematik der Mehrsprachigkeit nicht herangezogen wurde, bleibt die Frage der Anwendbarkeit dieses Ansatzes bei der Auslegung mehr­ sprachiger Verträge (vorerst) theoretischer Natur. 2. Übertragbarkeit der dynamischen Auslegung auf mehrsprachige völkerrechtliche Verträge Obgleich der „living instrument“-Ansatz bisher nicht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die Thema­ tik der Mehrsprachigkeit zur Anwendung kam, lässt sich hieraus nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass dieser nicht bei der Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge zur Anwendung kommen könnte. Ein wesentli­ cher Grund ist, dass die dynamische Auslegung keine Auslegungsart sui gene992  EGMR, The Sunday Times v. The United Kingdom [GC], Appl. No. 6538/74, Rn. 48. 993  EGMR, Case of Stoll v. Switzerland [GC], Appl. No. 69698/01, Rn. 59 ff. An­ ders als in den vorherigen Fällen sützte sich der EGMR hier jedoch auf Art. 33 Abs. 3 WVK und nicht Art. 33 Abs. 4 WVK. 994  Vgl. auch Casals, Auslegungsmethoden (2010), S. 79.

264

4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

ris ist, sondern sich an die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskon­ vention rückbinden lässt.995 Hinter dem Ansatz, menschenrechtlichen Bestim­ mungen im Wege der Auslegung größtmögliche Wirksamkeit zu verschaffen, zeigt sich in allgemeiner Hinsicht die Auslegung nach Sinn und Zweck;996 bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge findet sich ebenje­ ner Ansatzpunkt in Art. 33 Abs. 4 WVK. Hieran ändert sich auch nichts We­ sentliches, wenn man den Effektivitätsgedanken um die temporale Dimension ergänzt: Einer veränderten Bedeutung von Vertragsbegriffen bei völkerrecht­ lichen Verträgen mit subjektiven Rechten Rechnung zu tragen, bedeutet in der Sache auch nichts anderes als eine effektive Realisierung dieser Rechte im Sinne der teleologischen Auslegung – auch wenn eine solche Auslegung in dem Sinne als dynamisch empfunden werden kann, dass die Vorschrift anders ausgelegt wird als im Zeitpunkt ihrer Entstehung.997 Diese Maßstäbe lassen sich auf die Fallkonstellation in Matter of Extradition of Rabelbauer998 über­ tragen, wonach die veränderte Bedeutung von „Unterschlagung“ im österrei­ chischen Text zugunsten des geltend gemachten subjektiven Rechts von Ra­ belbauer zu berücksichtigen gewesen wäre. Das zuständige Bundesbezirksge­ richt legte den Vertrag jedoch gerade nicht dynamisch aus, indem es aus­ schließlich auf das frühere Verständnis von „Unterschlagung“ abstellte. Eine Rolle mag hierbei auch gespielt haben, dass das Bundesbezirksgericht Sinn und Zweck des Auslieferungsvertrags in der Sicherstellung einer reibungslo­ sen Auslieferung sah, in der die Rolle subjektiver Rechte zur Verhinderung der Auslieferung naturgemäß geringer gewichtet wurden. Jedenfalls im Teil­ rechtsgebiet des Internationalen Menschenrechtsschutzes kann eine restriktive Würdigung der garantierten subjektiven Rechte, wie im Fall Wemhoff v. Germany dargelegt, aber nicht in Betracht kommen. Obgleich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch nicht mit einer Fallkonstellation wie in Matter of Extradition of Rabelbauer, in welcher die Auslegung eines mehr­ sprachigen Vertrages von der temporalen Dimension des Effektivitätsgedan­ kens bestimmt ist, konfrontiert war, könnte im Fall der Fälle unter Heranzie­ hung der postulierten Auslegungsmaßstäbe in Wemhoff v. Germany und Tyrer v. United Kingdom eine Textdivergenz zugunsten des subjektiven Rechts dy­ namisch aufgelöst werden. Der so verstandenen dynamischen Auflösung einer 995  Vgl. EGMR, Case of Janowiec and others v. Russia [GC], Appl. No. 55508/07 and 29520/09, Partly Concurring and Partly Dissenting Opinion of Judge Wojtyczek, Rn. 3: „The interpretation of the Convention as a living instrument is subject to the limits set by the rules governing the interpretation of treaties.“ 996  Çali, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 539; Fitzmaurice, in: Orakhe­ lashvili/Williams (Hrsg.), 40 Years VCLT (2010), S. 55; Theil, EPL 23 (2017), 587 (603). 997  Vgl. Çali, in: Hollis (Hrsg.), Treaty Guide (2012), S. 539. 998  U.S. District Court for the Southern District of New York, Matter of Extradition of Rabelbauer, 638 F.Supp.1085 (S.D.N.Y. 1986).



B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge265

Textdivergenz zugunsten des subjektiven Rechts steht Art. 33 Abs. 4 WVK, der lediglich einen groben Rahmen für den Rechtsanwender vorgibt, nicht entgegen. Anders als in Matter of Extradition of Rabelbauer muss lediglich dem geltend gemachten subjektiven Recht bei der Auslegung des Tatbestands­ merkmals „having regard to the object and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK – auch vor dem Hintergrund einer Bedeutungsänderung eines Tatbestandsmerk­ mals des Vertrags – hinreichend Rechnung getragen werden.

II. Das Prinzip der progressiven Realisierung Eine weitere dogmatische Besonderheit menschenrechtlicher Verträge zeigt sich in dem Prinzip der progressiven Realisierung, wenn es um die Durchsetzung positiver Pflichten der Vertragsstaaten geht. Bekannt ist das Prinzip der progressiven Realisierung insbesondere bei den im Internationa­ len Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte niedergelegten Leistungsrechten; abgeleitet wird dieses Prinzip aus Art. 2 Abs. 1 IPwskR.999 Nicht ausdrücklich erwähnt wird von Art. 2 Abs. 1 IPwskR die Rolle der Auslegung der nachfolgenden Paktvorschriften, um deren Realisierung si­ cherzustellen. Gleichwohl ist es denkbar, dass Art. 2 Abs. 1 IPwskR eine Rolle für die Auslegung spielt, da diese Vorschrift einen bedeutenden An­ haltspunkt zu Sinn und Zweck des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte geben kann. 1. Auflösung von Textdivergenzen bei kulturellen Menschenrechten am Beispiel des Rechts auf Bildung nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR Ein bedeutendes Beispiel des Zusammenwirkens zwischen Art. 2 Abs. 1 IPwskR und der Auslegung der nachfolgenden Paktbestimmung zeigte sich bei der kontrovers beurteilten Frage, ob Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR auch eine staatliche Verpflichtung beeinhaltet, einen unentgeltlichen Hoch­ schulunterricht zu gewährleisten.1000 Eine besondere Dimension erhielt diese 999  CESCR, General Comment No. 3 (1991), Rn. 9. Art. 2 Abs. 1 IPwskR hat fol­ genden Wortlaut: „Each State Party to the present Covenant undertakes to take steps, individually and through international assistance and co-operation, especially econo­ mic and technical, to the maximum of its available resources, with a view to achiev­ ing progressively the full realization of the rights recognized in the present Covenant by all appropriate means, including particulary the adoption of legislative measures“ (U.N.T.S. 933 [1976], 5 [No. 14531]). 1000  Einen Verstoß gegen Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR durch die Einführung von Studienbeiträgen bejahend Lorenzmeier, NVwZ 2006, 759 ff.; a. A. Riedel/Söllner, JZ 2006, 270 (273).

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

Frage dadurch, ob mit der Wiedereinführung von Studienbeiträgen in Nord­ rhein-Westfalen ein unzulässiger Rückschritt von einem bereits erreichten Gewährleistungsniveau vorlag.1001 Die Frage, ob Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR im Sinne einer staatlichen Verpflichtung zur Gewährleistung eines unentgeltlichen Hochschulunterrichts ausgelegt werden muss, hing indes eng mit der Mehrsprachenthematik zusammen. a) Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 29.04.2009 Das Bundesverwaltungsgericht entschied mit Urteil vom 29.04.2009, dass die (Wieder-)Einführung allgemeiner Studienbeiträge in Nordrhein-Westfalen nicht gegen Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR verstieß.1002 Ein tragender Ar­ gumentationssatz des Bundesverwaltungsgerichts bestand darin, auf das Tat­ bestandsmerkmal „insbesondere“ in der deutschen Übersetzung zu Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR abzustellen, welches keinen eindeutigen Schluss über den Charakter der Unentgeltlichkeit ermöglichen würde. Dieses Tatbe­ standsmerkmal ließe vielmehr den Schluss zu, dass die Unentgeltlichkeit nur eine von mehreren Möglichkeiten zur Gewährleistung des Zugangs zum Hochschulunterricht sei. Das Bundesverwaltungsgericht führte sodann jedoch aus, dass die deutsche Übersetzung nicht zu den authentischen Vertragstexten i. S. v. Art. 33 WVK zähle und dass der englische, spanische und russische Text eher auf einen obligatorischen Charakter der Unentgeltlichkeit hindeute, während der französische Text ähnlich wie die deutsche Übersetzung ver­ standen werden könne.1003 Auf etwaige Folgen dieser erkannten Bedeutungs­ unterschiede zwischen den authentischen Vertragstexten geht das Bundesver­ waltungsgericht nicht weiter ein. b) Kritik am methodischen Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts Der methodische Ansatz des Bundesverwaltungsgerichts zur Mehrspra­ chenthematik bei der Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR ver­ mag nicht zu überzeugen. Im Ausgangspunkt ist es zutreffend, anhand des Wortlauts von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR zu ermitteln, ob diese Norm im Sinne einer obligatorischen Gewährleistung eines unentgeltlichen Hoch­ schulunterrichts ausgelegt werden kann. Dieses methodische Vorgehen steht mit Art. 31 Abs. 1 WVK im Einklang. Irritierend sind aber die weiteren Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 33 WVK und dessen Anwendung. Es drängt sich hier der Eindruck auf, dass sich das Gericht 1001  Lorenzmeier,

NVwZ 2006, 759 (760). 134, 1. 1003  Zum Ganzen siehe BVerwGE 134, 1 (23). 1002  BVerwGE



B. Die Auslegung mehrsprachiger menschenrechtlicher Verträge267

maßgeblich von dem Tatbestandsmerkmal „insbesondere“ der deutschen Übersetzung zu der Aussage hat verleiten lassen, ein eindeutiger Schluss über den Charakter der Unentgeltlichkeit sei nicht möglich.1004 Dieser Schluss ist nicht nachvollziehbar, obwohl das Bundesverwaltungsgericht er­ kannt hat, dass der authentische englische, spanische und russische Text – wenn auch im Gegensatz zum französischen Text – stärker auf einen obliga­ torischen Charakter der Unentgeltlichkeit hindeutet. Damit liegt einerseits die Feststellung nahe, dass das Gericht, indem es sich maßgeblich an der deutschen Übersetzung für die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IP­ wskR orientiert zu haben scheint, entgegen Art. 33 Abs. 1 WVK einen ver­ fehlten Auslegungsmaßstab angelegt hat. Darüber hinaus hätte es im Hinblick auf den aufgedeckten Bedeutungsunterschied zwischen dem französischen Text und den anderen drei in Bezug genommenen authentischen Texten An­ lass gegeben zu hinterfragen, ob die Vermutung i. S. v. Art. 33 Abs. 3 WVK widerlegt ist und deshalb Art. 33 Abs. 4 WVK zur Anwendung kommen muss. Die Ausführung des Gerichts, dass nach dem französischen Text die Unentgeltlichkeit auch als eine von mehreren Möglichkeiten zur Gewährleis­ tung eines gleichen Zugangs zur Hochschulbildung verstanden werden kann, während die englischen, spanischen und russischen Texte eher auf einen ob­ ligatorischen Charakter der Unentgeltlichkeit hindeuten, verweist indes auf einen substantiellen Unterschied, welcher die Vermutung des Art. 33 Abs. 3 WVK erschüttert. Das Bundesverwaltungsgericht hätte deshalb diesen aufge­ deckten Bedeutungsunterschied über die Anwendung von Art. 33 Abs. 4 WVK auflösen müssen. Obgleich der französische Text im Gegensatz zu den anderen authentischen Texten keine eindeutige Auslegung ermöglicht, lässt sich bei einer Gesamtbetrachtung aller Texte vertreten, dass die Gewährleis­ tung eines unentgeltlichen Hochschulunterrichts obligatorischen Charakter hat.1005 Diese Annahme ist auch maßgeblich auf Sinn und Zweck der Rege­ lung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR zurückzuführen, welcher gem. Art. 33 Abs. 4 WVK besonders berücksichtigt werden muss. Ein bedeutender 1004  Hierfür spricht, dass sich das BVerwG im Urteil maßgeblich am Aufsatz von Riedel/Söllner, JZ 2006, 270 ff. orientiert hat. Diese betonen, dass dem Tatbestands­ merkmal „insbesondere“ in der deutschen Übersetzung nur eine Nebenrolle zukomme, zugleich aber sei es für deutsche Gerichte maßgeblich. Diese Auffassung ist nicht nachvollziehbar: Zum einen lässt sich bereits hinterfragen, wie ein Tatbestandsmerk­ mal für die Auslegung eine Nebenrolle spielen und zugleich maßgeblich sein soll. Die Maßgeblichkeit des deutschen „insbesondere“ wird außerdem gerade durch die an­ ders aufgezeigten Bedeutungsmöglichkeiten des englischen, spanischen und russi­ schen Texts infrage gestellt; des Weiteren erscheint die Behauptung der Bedeutsam­ keit des Tatbestandsmerkmals „insbesondere“ für deutsche Gerichte schwer vereinbar mit Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 WVK, da die deutsche Übersetzung gerade nicht zu den authentischen Texten des IPwskR zählt. 1005  Vgl. Riedel/Söllner, JZ 2006, 270 (272 f.).

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

Ankerpunkt für die Ermittlung von Sinn und Zweck i. S. v. Art. 33 Abs. 4 WVK gibt hier das in Art. 2 Abs. 1 IPwskR niedergelegte Prinzip der pro­ gressiven Realisierung. 2. Folgen der progressiven Realisierung für die Auslegung von Art. 33 WVK Das Prinzip der progressiven Realisierung in Art. 2 Abs. 1 IPwskR spiegelt nach der hier vertretenen Auffassung Sinn und Zweck der gewährleisteten Paktrechte wider: Es sind gerade keine unverbindlichen Programmsätze, son­ dern sie statuieren positiv-rechtliche Pflichten der Vertragsstaaten.1006 Legt man diesen so verstandenen Sinn und Zweck der Paktrechte der Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. c) IPwskR nach deren authentischen Vertragstex­ ten zugrunde, bekommt die Einschätzung der Unzulässigkeit regressiver Schritte bei der Gewährleistung eines unentgeltlichen Hochschulunterrichts zusätzliches Gewicht: Nach dem angenommenen obligatorischen Charakter der Unentgeltlichkeit erscheint die angenommene Möglichkeit einer Recht­ fertigung1007 regressiver Schritte deutlich schwieriger, als wenn man die Unentgeltlichkeit nur als eine von mehreren Möglichkeiten zur Gewährleis­ tung eines gleichen Zugangs zur Hochschulbildung sieht. Da die Wiederein­ führung von Studienbeiträgen eine regressive staatliche Maßnahme darstellt, müsste der Vertragsstaat sich pointiert rechtfertigen, warum er nach Erreichen der obligatorischen Zielerreichung der Unentgeltlichkeit wieder von diesem Zustand abweicht; die Darlegungslast wäre nach einem Verständnis der Un­ entgeltlichkeit als eine von mehreren Möglichkeiten zur Gewährleistung des gleichen Zugangs zur Hochschulbildung dagegen herabgesetzt. Der besprochene Fall des Bundesverwaltungsgerichts verdeutlicht die Aus­ wirkungen der Mehrsprachenthematik im Zusammenhang mit der Auslegung der Rechte des UN-Sozialpakts. Da auch im UN-Sozialpakt wegen der be­ sonderen Eigenheiten der Sprachen Textdivergenzen denkbar sind, wird bei deren Auflösung das Prinzip der progressiven Realisierung nach Art. 2 Abs. 1 IPwskR als besondere Ausprägung von Sinn und Zweck des Sozialpakts in die Auslegungsvorschrift des Art. 33 Abs. 4 WVK hineinwirken. Je nach Vertragssprache kann es – dies hat der besprochene Fall des Bundesverwal­ tungsgerichts gezeigt – der Fall sein, dass ein oder mehrere Vertragstexte eine Auslegung ermöglichen, welche stärker als ein anderer Vertragstext auf die Realisierung des betreffenden Paktrechts abzielen. Die Auflösung einer etwaigen Textdivergenz nach Art. 33 Abs. 4 WVK käme dann im Sinne des 1006  Vgl.

auch Riedel/Söllner, JZ 2006, 270 (271). Riedel/Söllner, JZ 2006, 270 (272).

1007  Dafür



C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge269

Prinzips der progressiven Realisierung einer progressiv-harmonisierenden Auslegung der verschiedensprachigen Texte des Sozialpakts gleich.

C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge Neben dem Teilrechtsgebiet des Internationalen Menschenrechtsschutzes ist auch das Wirtschaftsvölkerrecht von der Diskussion um die Fragmentie­ rung des Völkerrechts mitumfasst,1008 welche auch Auslegungsfragen nicht ausklammert.1009 Damit stellt sich auch grundsätzlich die Frage, ob die Aus­ legung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge mit besonderen Methodenansätzen einhergeht.1010

I. Die Vertragsauslegung durch den WTO Appellate Body Als oberste quasi-gerichtliche Instanz ist der WTO Appellate Body für die Auslegung des WTO-Übereinkommens, des GATT, des GATS, des TRIPS und des DSU als Rechtsgrundlage des Streitschlichtungsverfahrens zustän­ dig.1011 Eine bedeutsame Regelung zur Auslegung enthält Art. 3 Abs. 2 DSU, welche jedoch zunächst scheinbar keine eindeutigen Schlussfolgerungen ermöglicht:1012 Hiernach habe im Rahmen der Streitschlichtung die Auslegung „in accordance with customary rules of interpretation of public international law“ zu erfolgen.1013 Insbesondere die Vokabel „customary rules of interpreta­ tion“ suggeriert, dass gerade nicht auf die einschlägigen völkervertraglichen Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention in Art. 31–33 WVK 1008  So etwa der Bericht der ILC Study Group, Fragmentation of International Law: Difficulties arising from the diversification and expansion of international law, UN Doc. A/CN.4/L. 682, S. 68; aus dem völkerrechtlichen Schrifttum siehe beispiel­ haft Marceau, FYBIL 17 (2006), 5 ff. 1009  Dies illustriert folgender Teil des Titels des Aufsatzes von Van Damme, FYBIL 17 (2006), 21 ff.: „WTO Treaty Interpretation against the Background of Other Interna­ tional Law“. 1010  So etwa die Tendenz bei Condon, JIDS 1 (2010), 191 (191). 1011  Näher Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht (2017), § 2, Rn. 239 ff. 1012  Anders jedoch Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht (2017), § 2, Rn. 285, wo­ nach das Tatbestandsmerkmal „customary rules of interpretation“ auf die Auslegungs­ regeln der Wiener Vertragsrechtskonvention hindeute; Qureshi, WTO Agreements (2006), S. 47, entnimmt aus diesem Tatbestandsmerkmal – jedoch ohne nähere Erläu­ terung – die besondere Rolle der teleologischen Auslegung. 1013  Marrakesh Agreement establishing the World Trade Organization (with final act, annexes and protocol), Annex 2, Understanding on rules and procedures govern­ ing the settlement of disputes, U.N.T.S. 1869 (1995), 401 (No. 31874).

270

4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

zurückgegriffen werden solle, sondern auf völkergewohnheitsrechtliche Aus­ legungsregeln. Die Bedeutung des Tabestandsmerkmals „customary rules of interpretation“ und die Klärung der Frage, ob vom Appellate Body auch be­ sondere Auslegungsregeln herangezogen werden, lässt sich indes an dessen bisherigen Entscheidungen beantworten. 1. Die Frage der Existenz besonderer Auslegungsmaßstäbe im WTO-Recht Eine zentrale Entscheidung zur Auslegung des Tatbestandsmerkmals „cus­ tomary rules of interpretation“ in Art. 3 Abs. 2 DSU erging in der Entschei­ dung US – Gasoline des Appellate Body.1014 Folgende Ausführung zur Stel­ lung des WTO-Übereinkommens im Verhältnis zum allgemeinen Völkerrecht lässt grundsätzliche Tendenzen erkennen: „The ‚general rule of interpretation‘ set out above has been relied upon by all of the participants and third participants, although not always in relation to the same issue. That general rule of interpretation has attained the status of a rule of custom­ ary or general international law. As such, it forms part of the ‚customary rules of interpretation of public international law‘ which the Appellate Body has been di­ rected, by Article 3(2) of the DSU, to apply in seeking to clarify the provisions of the General Agreement and the other ‚covered agreements‘ of the Marrakesh Agreement Establishing the World Trade Organization. (the ‚WTO Agreement‘). That direction reflects a measure of recognition that the General Agreement is not to be read in clinical isolation from public international law.“1015

Die Formulierung „is not to be read in clinical isolation from public in­ ternational law“ deutet an, dass der Appellate Body das WTO-Recht nicht als hermetisch abgeriegeltes Teilrechtsgebiet im Sinne eines self-contained Regime sieht. Diese Einschätzung spiegelt sich in dem Verweis auf die „ge­ neral rule of interpretation“ (gemeint ist Art. 31 WVK) wider, welche als grundlegender Ansatz für die Auslegung aller völkerrechtlichen Verträge angesehen wird, indem auch auf ihre völkergewohnheitsrechtliche Geltung abgestellt wird („has attained the status of a rule of customary or general international law“). Die Entscheidung des Appellate Body in US – Gasoline kann daher auf den ersten Blick so interpretiert werden, dass nach Art. 3 Abs. 2 DSU primär die Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonven­ tion heranzuziehen seien und für besondere Auslegungsmethoden kein Raum bleibt. 1014  WTO Appellate Body, United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline, WT/DS2/AB/R (29.04.1996). 1015  WTO Appellate Body, United States – Standards for Reformulated and Conventional Gasoline, WT/DS2/AB/R (29.04.1996), S. 17.



C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge271

Es gibt gleichwohl auch Entscheidungen des Appellate Body, die auf die Existenz besonderer Auslegungsregeln im WTO-Recht hindeuten.1016 Häufig zitiert1017 wird in diesem Zusammenhang die Entscheidung des Appellate Body in der Rechtssache US – Shrimps.1018 Der Appellate Body hatte in dieser Entscheidung das Tatbestandsmerkmal „natural resources“ in Art. XX Buchst. g) GATT 1994 auszulegen. Diesen Begriff legte der Appellate Body dynamisch aus: „The words of Article XX(g), ‚exhaustible natural resources‘, were actually crafted more than 50 years ago. They must be read by a treaty interpreter in the light of contemporary concerns of the community of nations about the protection and con­ servation of the environment. […] From the perspective embodied in the preamble of the WTO Agreement, we note that the generic term ‚natural resources‘ in Article XX(g) is not ‚static‘ in its content or reference but is rather ‚by definition, evolutionary‘.“1019

Obgleich die Ausführungen des Appellate Body nachvollziehbar sind, las­ sen sie keine eindeutige Auslegungsmethodik erkennen. So verweist der Appellate Body auch auf andere völkerrechtliche Verträge, welche auch jenes Tatbestandsmerkmal enthalten1020 – methodisch lehnt sich diese Vorgehens­ weise an der Regelung des Art. 31 Abs. 3 Buchst. c) WVK an, obwohl auf die Vorschrift nicht Bezug genommen wird – und verweist an anderer Stelle wiederum auf den Effektivitätsgrundsatz.1021 Kennzeichnend ist hier vor al­ lem, dass entgegen den zitierten Ausführungen in der Entscheidung US – Gasoline bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „natural resources“ in US – Shrimps die Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonven­ tion nicht herangezogen wurden.1022 Für die Thematik der Mehrsprachigkeit im Wirtschaftsvölkerrecht ergeben sich damit folgende Möglichkeiten: Denkbar ist die stets strikte Bezugnahme 1016  So auch die Einschätzung von Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht (2017), § 2, Rn. 286. 1017  Etwa Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Commentary (2012), Art. 31, Rn. 25; Krajewski, Wirtschaftsvölkerrecht (2017), § 2, Rn. 286; Van Damme, FYBIL 17 (2006), 21 (37). 1018  WTO Appellate Body, United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R (12.10.1998). 1019  WTO Appellate Body, United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R (12.10.1998), Rn. 129 f. 1020  WTO Appellate Body, United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R (12.10.1998), Rn. 130. 1021  WTO Appellate Body, United States – Import Prohibition of Certain Shrimp and Shrimp Products, WT/DS58/AB/R (12.10.1998), Rn. 131. 1022  Dies gilt gerade auch für die Rückbindung des Effektivitätsgrundsatzes an die teleologische Auslegung; näher zur Rolle der teleologischen Auslegung im Fall US – Shrimps aber Van Damme, FYBIL 17 (2006), 21 (36 f.).

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4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

auf Art. 33 WVK im Stile der Entscheidung US – Gasoline oder aber auch die Bezugnahme auf Auslegungsgrundsätze wie die dynamische Auslegung oder den Effektivitätsgrundsatz. 2. Die Rolle des Textvergleichs bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge in der Rechtsprechung des Appellate Body Die Ausführung von Condon, dass die Rechtspraxis des WTO Appellate Body bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge signifi­ kant von Art. 33 WVK abweichen würde,1023 suggeriert zunächst, dass für die Auflösung von Textdivergenzen besondere Auslegungsregeln zum Tragen kommen könnten. Seine nähere Analyse der relevanten Entscheidungen des Appellate Body mit Bezügen zur Thematik der Mehrsprachigkeit zeigt indes, dass es weniger um das Aufstellen neuer Auslegungsregeln geht, sondern vielmehr das Verständnis von Art. 33 Abs. 3 und Abs. 4 WVK durch den Appellate Body. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Rolle des Vergleichs der verschiedensprachigen Vertragstexte bei der Auslegung mehrsprachiger Ver­ träge durch den Appellate Body, die, wenn man an dem klassischen Ver­ ständnis von Art. 33 Abs. 3 WVK im Sinne der Entbehrlichkeit eines prophy­ laktischen Textvergleichs festhält, durchaus als andersartig oder von Art. 33 WVK abweichend verstehen kann. Ein bedeutendes Beispiel zum Textver­ gleich in der Spruchpraxis des Appellate Body stellt die Entscheidung im Fall Softwood Lumber IV dar.1024 Bei der Auslegung von Art. 1.1 (a)(1)(iii) des WTO-Abkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen1025 orientierte sich der Appellate Body zunächst an den Definitionen des Black’s Law Dictionary und des Shorter Oxford English Dictionary, um die Bedeu­ tung des Tatbestandsmerkmals „goods“ zu ermitteln, um sodann mithilfe des Petit Robert und des Diccionario de la Lengua Espan͂ ola die Übereinstim­ mung des französischen und spanischen Textes zum englischen Text zu klä­ ren. Erst im Anschluss hieran verwies der Appellate Body auf die Vermu­ tungsregelung in Art. 33 Abs. 3 WVK, wonach im konkreten Fall diejenige Definition des Tatbestandsmerkmals „goods“ heranzuziehen sei, die mit de­ nen des französischen und spanischen Pendants am besten übereinstimmen 1023  Condon,

JIDS 1 (2010), 191 (191). Appellate Body, United States – Final countervailing duty determination with respect to certain softwood lumber from Canada, WT/DS257/AB/R (19.01.2004). 1025  Agreement on Subsidies and Countervailing Measures, U.N.T.S. 1869 (1995), 14. 1024  WTO



C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge273

würde.1026 Auffällig ist hier im besonderen Maße der wörterbuchbezogene grammatische Auslegungsansatz, der sich aber auch in einer Vielzahl weite­ rer Entscheidungen des Appellate Body zeigt.1027 Die Vorgehensweise, für jede Vertragssprache zunächst ein Wörterbuch heranzuziehen und dies in den Entscheidungsgründen auch deutlich zu machen, bekräftigt in besonderer Weise die Einstellung des zuständigen Spruchkörpers zur Rolle des Textver­ gleichs bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge, da anders als bei einem lediglich informellen Vergleich offensichtlich wird, dass alle Vertragsspra­ chen berücksichtigt wurden. Zugleich geht es auch über die methodische Vorgehensweise hinaus, zunächst lediglich nach einem bestimmten authenti­ schen Vertragstext auszulegen und sodann knapp festzustellen, dass die ande­ ren authentischen Vertragstexte dem gefundenen Auslegungsergebnis nicht entgegenstehen.1028 In der Entscheidung im Fall United States – Cotton hat der Appellate Body schließlich die Ansicht vertreten, dass nach Art. 33 Abs. 3 WVK alle drei authentischen Vertragstexte (englisch, französisch und spa­ nisch) des WTO-Abkommens über Subventionen und Ausgleichsmaßnahmen berücksichtigt werden müssen.1029 Dieser offensive Ansatz sucht für die Etablierung des Textvergleichs bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge nicht mehr lediglich die Vereinbarkeit des Textvergleichs mit Art. 33 Abs. 3 WVK, sondern versteht diesen vielmehr als in Art. 33 Abs. 3 WVK enthal­ tene Methodenanweisung. Die Erklärung, weshalb der Appellate Body zu dieser Einschätzung gekommen ist, wird maßgeblich in der von Zhang her­ ausgearbeiten „relay on authoritative dictionary“ liegen. Wenn es eine gene­ relle methodische Vorgehensweise des Appellate Body ist, bei der Auslegung von teilweise sehr technischen Vertragsbegriffen Wörterbücher heranzuzie­ hen, verwundert es kaum, dass er bei der Thematik der Mehrsprachigkeit und dadurch aufgeworfenen Aspekten der Fremdsprachenkompetenz zunächst auf Wörterbücher zurückgreift, um die Bedeutung eines Tatbestandsmerkmals in den verschiedenen Sprachen zu klären.1030 Ein bahnbrechendes Novum ist diese methodische Vorgehensweise des Appellate Body im Hinblick auf die 1026  Zum Ganzen siehe WTO Appellate Body, United States – Final countervailing duty determination with respect to certain softwood lumber from Canada, WT/ DS257/AB/R (19.01.2004), Rn. 58 f. 1027  Siehe weiterführend auch Zhang, US-China Law Review 4 (2007), 22 (30), der in dem „relay on authoritative dictionary“ durch den Appellate Body auch einen grundsätzlichen methodischen Unterschied zur Rechtsprechung des IGH erkennen will. 1028  So etwa die Vorgehensweise des SG Frankfurt, U. v. 01.03.2017 – S 29 R 530/16 –, juris, Rn. 51. 1029  Vgl. WTO Appellate Body, United States – Subsidies on upland cotton, WT/ DS267/AB/R (03.03.2005), Rn. 424. 1030  Für weitere Beispielfälle dieser Vorgehensweise des Appellate Body bei mehr­ sprachigen Verträgen siehe Condon, JIDS 1 (2010), 191 (201).

274

4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

Thematik der Mehrsprachigkeit nicht, da die Frage der Rolle des Textver­ gleichs bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge wie oben aufgezeigt1031 umstritten ist; der von Zhang beschriebene „relay on authoritative dictio­ nary“, der sich wie ein roter Faden durch die Rechtspraxis des Appellate Body zieht, erscheint als solcher aber ungewöhnlich und lässt generell sprachliche Unsicherheiten des Appellate Body im Umgang mit den relevan­ ten Vertragstexten vermuten. Die Einschätzung von Condon, dass der Appel­ late Body signifikant von den Auslegungsregeln in Art. 33 WVK abweichen würde, kann insofern missverständlich dahingehend aufgefasst werden, dass dieser bei der Auslegung mehrsprachiger Verträge auf neuartige – von Art. 33 WVK losgelöste – Auslegungsmethoden zurückgreifen würde, was aber nicht der Fall ist.1032 Präziser formuliert wäre es auch aus Sicht von Condon gewe­ sen, von einer fehlerhaften Anwendung von Art. 33 WVK zu sprechen – in diesem Zusammenhang hängt die Einschätzung der Fehlerhaftigkeit aber er­ neut von dem jeweils eingenommenen Rechtsstandpunkt hinsichtlich der Rolle des Textvergleichs ab.1033

II. Die Auslegung bilateraler Investitionsschutzverträge Besonderheiten für die Vertragsauslegung können sich auch bei bilateralen Investitionsschutzverträgen (BITs) ergeben, sodass kurz der Überlegung nachgegangen werden kann, ob sich hier Auswirkungen auf die Auflösung von Textdivergenzen nach Art. 33 Abs. 4 WVK ergeben. Ähnlich wie bei menschenrechtlichen Verträgen sind auch BITs dadurch charakterisiert, dass einem Individuum auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages subjek­ tive Rechte eingeräumt werden. Gedanklicher Anknüpfungspunkt für etwaige besondere Auslegungsregeln können bei einem BIT Vorschriften, die eine 1031  Vgl.

oben bei Fn. 778. der Analyse von Condon, JIDS 1 (2010), 191 (201 ff.) ergibt sich vielmehr, dass der Appellate Body, wenn er mit der Thematik der Mehrsprachigkeit konfrontiert war, fast durchgehend auf Art. 33 WVK zurückgegriffen hatte. Eine Auslegungsmetho­ dik wie bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „natural resources“ im Fall US – Shrimps sucht man bei der Thematik der Mehrsprachigkeit hingegen vergeblich. 1033  Nach der in dieser Arbeit vertretenen Annahme, dass ein Textvergleich auch im Lichte von Art. 33 Abs. 3 WVK ohne entsprechendes Parteivorbringen zulässig ist, da das Tatbestandsmerkmal „comparison of the authentic texts“ in Art. 33 Abs. 4 WVK keinen konkreten Zeitpunkt bestimmt (vgl. die Ausführungen unter Teil 3, A. II. 1. a)), wären die dargestellten Entscheidungen des Appellate Body stattdessen kei­ neswegs fehlerhaft, sondern vielmehr ein weiterer, wichtiger Beleg für diese An­ nahme. Hierbei muss der Vollständigkeit halber jedoch darauf hingewiesen werden, dass in anderen Fällen der Appellate Body einen Textvergleich auch ohne jegliche Bezugnahme auf Art. 33 WVK vornahm sowie vereinzelt trotz entsprechenden Partei­ vorbringens den Textvergleich sogar unterließ, ausführlich hierzu Condon, JIDS 1 (2010), 191 (202 ff.). 1032  Aus



C. Die Auslegung mehrsprachiger wirtschaftsvölkerrechtlicher Verträge275

gerechte und billige Behandlung (Fair and Equitable Treatment; sog. FETKlausel) des Investors vorsehen, sein, womit etwa eine investorfreundliche Auslegung des BITs postuliert werden könnte.1034 Diese Überlegung ergibt jedenfalls unter dem Gesichtspunkt Sinn, dass FET-Klauseln aufgrund ihrer Unbestimmtheit besonders weitreichende Rechtswirkungen entfalten, welche den Gaststaat gegenüber dem Investor zu einem Mindestmaß an transparen­ tem und vorhersehbarem Verhalten im Sinne der Rechtssicherheit verpflich­ ten.1035 Eine investorfreundliche Auslegung des BITs könnte mithin so ver­ standen werden, dass der BIT nach Art. 31 Abs. 1 WVK im Lichte der be­ rechtigten Erwartungen des Investors ausgelegt werden muss.1036 Unklar erscheint jedoch, ob die beschriebenen berechtigten Erwartungen des Investors im Rahmen von Art. 33 Abs. 4 WVK besonders berücksichtigt werden können. Obgleich FET-Klauseln in einem BIT einen weitreichenden Schutzstandard des Investors garantieren, erscheint es im Hinblick auf den bilateralen Charakter von BITs schwierig, abstrakt eine besondere Berück­ sichtigung dieses Schutzes im Rahmen einer Anwendung von Art. 33 Abs. 4 WVK zu fordern.1037 In der Spruchpraxis der ICSID-Schiedstribunale findet sich, soweit ersichtlich, jedenfalls keine eindeutige Stütze für diese Überle­ gung, sodass die Frage der besonderen Berücksichtigung des Schutzniveaus des Investors eher akademischen Charakter hat. Ein Anhaltspunkt, dass die Rechtsstellung des Investors bei der Auslegung mehrsprachiger Investitions­ verträge eine Rolle spielen könnte, zeigt sich etwa bei der Beurteilung der Frage des Erfordernisses des Beschreitens des innerstaatlichen Rechtswegs bei einem Investor-Staat-Verfahren. Umstritten war diese Frage im Fall Rumeli v. Kazakhstan.1038 Bei der Auslegung von Art. VII Abs. 2 des BIT Tür­ kei-Kasachstan vom 01.05.19921039 war strittig, ob sich die Kläger direkt an ein ICSID-Schiedsgericht wenden konnten oder erst den innerstaatlichen Rechtsweg erschöpfen mussten; nach dem authentischen türkischen Text hätten sich die Kläger zunächst an die staatlichen Gerichte von Kasachstan wenden müssen, während nach den ebenfalls authentischen englischen und etwa die Überlegung von Peters, Individualrechtsstellung (2014), S. 287. näher Herdegen, Völkerrecht (2018), § 54, Rn. 7. 1036  Peters, Individualrechtsstellung (2014), S. 287. 1037  Vgl. Peters, Individualrechtsstellung (2014), S. 287, die von einer Auslegung „BIT-by-BIT“ spricht. 1038  ICSID, Rumeli Telekom A.S. and Telsim Mobil Telekomikasyon Hizmetleri A.S., Claimants v. Republic of Kazakhstan, Respondent, Award 29 July 2008, ICSID Case No. ARB/05/16. 1039  Agreement between The Republic of Turkey and The Republic of Kazakhstan concerning the reciprocal promotion and protection of investments, der Vertragstext ist abrufbar unter http://investmentpolicyhub.unctad.org/Download/TreatyFile/1789 (23.03.2018). 1034  So

1035  Siehe

276

4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

russischen Texten diese Voraussetzung nicht erforderlich war. Die für die Kläger günstigeren Texte waren insoweit der englische und russische Text, da sie nach diesen gerade nicht ein möglicherweise jahrelanges Verfahren vor den Gerichten Kasachstans hätten durchlaufen müssen. Das Schiedstribu­ nal verneinte schließlich ohne Angabe weiterer Gründe das Erfordernis der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung und bezog sich hierbei auf die au­ thentischen englischen und russischen Texte.1040 Da jedoch nicht konkret nachvollziehbar war, wie das Schiedstribunal zu seiner Auffassung gekom­ men war, lag die Kritik auf der Hand, dass sich das Tribunal für seine Auf­ fassung lediglich auf die Mehrheitsregel gestützt habe.1041 Eine methodisch eingehendere Analyse zu derselben Problematik wie im Fall Rumeli v. Kazakhstan lässt dagegen die Entscheidung des Schiedstribu­ nals im Fall Sehil v. Turkmenistan erkennen.1042 Das Tribunal setzte sich ausführlich mit den linguistischen Aspekten der verschiedenen authentischen Vertragstexte von Art. VII Abs. 2 des BIT Türkei-Turkmenistan vom 02.05. 19921043 auseinander1044 und kam schließlich zu dem Ergebnis, dass der eng­ lische Text der Orginaltext sei – dem jedoch deswegen keine automatische Vorrangstellung zukomme.1045 Aufschlussreich sind die folgenden Ausfüh­ rungen, um die Unklarheiten zwischen dem englischen und russischen Ver­ tragstext aufzulösen: Das Schiedstribunal betonte den lediglich optionalen Charakter der Befassung der staatlichen Gerichte als Sinn und Zweck von Art. VII Abs. 2 und hob in diesem Zusammenhang entscheidend die Wahl­ möglichkeit des Investors zwischen staatlichen Gerichten und einem ICSIDSchiedsgericht hervor.1046 1040  ICSID, Rumeli Telekom A.S. and Telsim Mobil Telekomikasyon Hizmetleri A.S., Claimants v. Republic of Kazakhstan, Respondent, Award 29 July 2008, ICSID Case No. ARB/05/16, Rn. 317: „By contrast with the Turkish version, the English and Russian versions of the Treaty do not require a prior submission of the dispute to local courts before initiation of arbitration proceedings before ICSID. The Arbitral Tribunal considers therefore that no such requirement had to be fulfilled by Claimants before starting this arbitration.“ 1041  So die Kritik von Gazzini, Investment Treaties (2016), S. 276. 1042  ICSID, Muhammet Çap Sehil Inşaat Endustri Ve Ticaret Ltd.Sti., Claimants v. Turkmenistan, Respondent, ICSID Case No. ARB/12/6. 1043  Agreement between the Republic of Turkey and Turkmenistan concerning the reciprocal promotion and protection of investments (Quelle: http://investmentpolicy­ hub.unctad.org/Download/TreatyFile/4785) (23.03.2018). 1044  ICSID, Muhammet Çap Sehil Inşaat Endustri Ve Ticaret Ltd.Sti., Claimants v. Turkmenistan, Respondent, ICSID Case No. ARB/12/6, Rn. 206 ff. 1045  ICSID, Muhammet Çap Sehil Inşaat Endustri Ve Ticaret Ltd.Sti., Claimants v. Turkmenistan, Respondent, ICSID Case No. ARB/12/6, Rn. 221, 227. 1046  ICSID, Muhammet Çap Sehil Inşaat Endustri Ve Ticaret Ltd.Sti., Claimants v. Turkmenistan, Respondent, ICSID Case No. ARB/12/6, Rn. 235, 240.



D. Schlussfolgerungen277

Beide ICSID Fälle zeigen, dass das Schutzniveau des Investors bei der Auslegung mehrsprachiger Investionsschutzverträge potentiell eine Rolle spielen kann. Gedanklicher Anknüpfungspunkt für die Berücksichtigung von Investorenrechten ist, wie die Entscheidung Sehil v. Turkmenistan verdeut­ licht, in Ziel und Zweck des BIT zu suchen. Bei der Auflösung von Textdi­ vergenzen in mehrsprachigen Investitionsschutzverträgen erscheint es somit denkbar, dass das Schutzniveau des Investors bei der Anwendung von Art. 33 Abs. 4 WVK im Rahmen des Tatbestandsmerkmals „having regard to the object and purpose“ besonders berücksichtigt werden kann und gerade keine souveränitätsfreundliche Auslegung, welche die vertraglichen Pflichten des Gaststaats gegenüber dem Investor auf ein Minimum reduziert, angestrebt werden sollte.1047

D. Schlussfolgerungen aus der Fragmentierung des Völkerrechts für die Auslegung mehrsprachiger ­völkerrechtlicher Verträge Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass es auf materiellrechtlicher Ebene in bestimmten Teilrechtsgebieten des Völkerrechts dogmatische Be­ sonderheiten gibt, die sich auch in der Rechtsanwendung durch die unter­ schiedlichen internationalen Spruchkörper entsprechend zeigen. Bestätigt hat sich die Einschätzung, dass subjektive Rechtspositionen in einem völker­ rechtlichen Vertrag bei der Auflösung von Textdivergenzen in völkerrechtli­ chen Verträgen besonders gewürdigt werden müssen. Dies gibt dem Rechts­ anwender jedoch keine Berechtigung, pauschal auf den für den Rechtsinhaber günstigeren Text abzustellen und hierbei das Verfahren in Art. 33 Abs. 4 WVK zu umgehen. Es ist auch nicht erforderlich, für mehrsprachige völker­ rechtliche Verträge mit subjektiven Rechten eine solche Auslegungsregel ei­ gener Art aufzustellen. Art. 33 Abs. 4 WVK ist durch eine hinreichende Of­ fenheit charakterisiert, die es ermöglicht, auch jenen Besonderheiten im in­ ternationalen Menschenrechtsschutz oder im internationalen Investitions­ schutzrecht hinreichend Rechnung zu tragen. Der auf Art. 33 Abs. 4 WVK zugeschnittene teleologische Auslegungsansatz ermöglicht es deshalb auch, ungeschriebene Auslegungsregeln wie die dynamische Auslegung oder die Auslegung nach dem Effektivitätsgrundsatz bei der Interpretation bestimmter mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge wie etwa der EMRK heranzuzie­ 1047  Vgl. insofern auch die oben (Fn. 641) zitierten Ausführungen des EGMR, Wemhoff v. Germany, Appl. No. 2122/64, S. 19, die auf die Interessenlage bei einem BIT unter diesem Gesichtspunkt übertragbar sind; siehe auch Weeramantry, Invest­ ment Arbitration (2012), Rn. 6.111.

278

4. Teil: Auslegung mehrsprachiger Verträge im Völkerrecht

hen. Erforderlich werden kann die dynamische Auslegung eines mehrspra­ chigen völkerrechtlichen Vertrages dann, wenn sich die Wortbedeutungen der verschiedenensprachigen Vertragstexte im Laufe der Zeit auseinanderentwi­ ckelt haben und damit die Vermutung nach Art. 33 Abs. 3 WVK erschüttert ist. Aus der prozessualen Seite der Fragmentierung des Völkerrechts lassen sich trotz bestehender Uneinheitlichkeiten in der Anwendung keine durch­ greifenden Zweifel an der vorherrschenden Rolle von Art. 33 WVK bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge erkennen. Orthodoxe Methodenansätze wie des ICTR in Prosecutor v. Musema1048 vermögen diese Einschätzung insgesamt nicht zu erschüttern, da trotz der „fragmentation into interpretive communities“1049 überwiegend von internationalen Spruchkör­ pern auf Art. 33 WVK zurückgegriffen wird, wenn es um die Auflösung von Textdivergenzen in mehrsprachigen Verträgen geht. Obgleich sich mit der Fragmentierung des Völkerrechts zusätzliche dogmatische Herausforderun­ gen für die Auslegung mehrsprachiger Verträge ergeben, kann damit dennoch konstatiert werden, dass in der Rechtsanwendung – trotz der „fragmentation into interpretive communities“ – diesen Herausforderungen anhand Art. 33 WVK wirksam begegnet werden konnte.

1048  ICTR, The Prosecutor v. Alfred Musema, Judgment of 27 January 2000, Case No. ICTR-96-13-A, Rn. 155. 1049  Bianchi, in: Armstrong, David (Hrsg.), Routledge Handbook (2009), S. 404.

5. Teil

Die Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland Auf der innerstaatlichen Ebene können sich bei der Auslegung mehrspra­ chiger völkerrechtlicher Verträge einige Besonderheiten ergeben, wie bereits Hilf1050 und Rudolf1051 herausgearbeitet haben. Anders als auf der zwischen­ staatlichen Ebene stellen sich auf der nationalen Ebene diverse dogmatische und auch praktische Fragen; diese betreffen im Kern das Verhältnis des nati­ onalen Rechts zum Völkervertragsrecht (d. h. einschließlich der völkerver­ traglichen Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention) sowie im Hinblick auf die Mehrsprachenthematik die Sprachkompetenz des nationalen Rechtsanwenders. Die folgenden Ausführungen sollen zeigen, dass im Lichte der jüngeren Rechtspraxis und auch der neueren nationalen Gesetzgebung die Ausführungen von Hilf zur Frage des innerstaatlich verbindlichen Ver­ tragstextes1052 zumindest teilweise überdacht werden müssen und eine recht­ liche Lösung zur Bewältigung linugistischer Herausforderungen1053 in der Rechtsanwendung möglich ist.

A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes Die Ermittlung des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes für die Aus­ legung hängt maßgeblich mit der rechtlichen Stellung eines völkerrechtlichen Vertragstextes in der nationalen Rechtsordnung zusammen. Die Bestimmung der authentischen Vertragstexte in den Schlussklauseln eines völkerrechtli­ chen Vertrages hilft zunächst noch nicht weiter, da es wiederum entscheidend darauf ankäme, welche rechtliche Stellung eine solche Vertragsschlussbe­ 1050  Hilf,

Verträge (1973), S. 116 ff. Diplomatiesprache (1972), S. 76 ff. 1052  Etwa einerseits Hilf, Verträge (1973), S. 206 und andererseits S. 214. 1053  Verneinend etwa Hilf, Verträge (1973), S. 149; a. A. – wenn auch sehr vage – Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 86 f. 1051  Rudolf,

280 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

stimmung im innerstaatlichen Recht hätte. In bisherigen Untersuchungen zu dieser Frage wurde deshalb ein Hauptaugenmerk auf das innerstaatliche Vertragsgesetz und seine rechtlichen Wirkungen gelegt;1054 aufgrund des in­ nerstaatlichen Vertragsgesetzes wurde sogar teilweise vertreten, dass der Text der Landessprache heranzuziehen sei.1055 Die Annahme der Landessprache als den stets innerstaatlich verbindlichen Vertragstext erscheint jedoch im Hinblick auf Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK bedenklich, wenn die Landesspra­ che nicht zu den authentischen Vertragstexten gehören sollte. Dieser Einwand gegenüber der Landessprache mit Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK greift jedoch nur dann, wenn die Wiener Vertragsrechtskonvention auf innerstaatlicher Ebene Anwendung findet. Da insbesondere die Arbeit von Hilf die inner­ staatliche Anwendung der Wiener Vertragsrechtskonvention nicht berück­ sichtigt hat und auch nicht berücksichtigen konnte,1056 erscheint es für die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes umso mehr angezeigt, auch die Stellung der Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskon­ vention im deutschen Recht zu berücksichtigen.

I. Die innerstaatliche Geltung und Anwendbarkeit der Wiener Vertragsrechtskonvention Von der innerstaatlichen Geltung der Wiener Vertragsrechtskonvention ist die Frage ihrer unmittelbaren Anwendbarkeit zu unterscheiden.1057 Daher wird zunächst auf die innerstaatliche Geltung der Wiener Vertragsrechtskon­ vention eingegangen. 1. Die Einbeziehung von Völkervertragsrecht in das innerstaatliche Recht Die wichtigste verfassungsrechtliche Vorschrift zur Einbeziehung völker­ rechtlicher Verträge stellt Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG dar, der als solche jedoch keine ausdrückliche Aussage über die Stellung und den Rang eines völker­ Hilf, Verträge (1973), S. 143 ff. Mosler, Völkerrechtspraxis (1957), S. 30; a. A. dagegen Geiger, Grund­ gesetz und Völkerrecht (2013), S. 170 – Heranziehen des landessprachlichen Textes nur in Einklang mit Art. 33 Abs. 1 WVK. 1056  Da die Untersuchung von Hilf 1973 erschienen ist, konnte sie die erst über ein Jahrzehnt später erfolgende Ratifikation der Wiener Vertragsrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland nicht berücksichtigen. 1057  Vgl. Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus (2003), S. 305; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 151 f., 165 ff.; Pigorsch, Völkerrechtsnormen (1959), S.  67 ff. 1054  Eingehend 1055  Etwa



A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes281

rechtlichen Vertrags im innerstaatlichen Recht trifft,1058 sondern das Erfor­ dernis der parlamentarischen Zustimmung normiert.1059 Sowohl in der Rechts­ praxis als auch in der Wissenschaft haben sich daher unterschiedliche Ver­ ständnisweisen zum Verhältnis des Völkerrechts zum nationalen Recht her­ ausgebildet, die in ihrem schärfsten Kontrast einerseits eine monistische und andererseits eine streng dualistische Konzeption beinhalten.1060 Auf Basis dieser unterschiedlichen Konzeptionen werden verschiedene Grundansätze zur Einbeziehung des Völkervertragsrechts vertreten;1061 zum Zwecke dieser Arbeit sind vor allem die Transformationslehre und die Vollzugslehre rele­ vant. Der grundlegende Unterschied zwischen der Transformationslehre und der Vollzugslehre besteht darin, dass trotz der Gemeinsamkeit des Erforder­ nisses eines staatlichen Rechtsaktes für die innerstaatliche Verbindlichkeit nach der Transformationslehre der völkerrechtliche Vertrag vollständig in innerstaatliches Recht umgewandelt wird, während nach der Vollzugslehre der Völkerrechtscharakter erhalten bleibt, also gerade kein innerstaatliches Recht entsteht.1062 In Bezug auf die Auslegungsregeln der Wiener Vertrags­ rechtskonvention würde dies konkret bedeuten, dass Art. 31–33 WVK nach ihrer Transformation wie innerstaatliches Gesetzesrecht zu behandeln wären, während nach der Vollzugslehre weiterhin nur ihr Charakter als zwischen­ staatliches Recht im Raum stünde. Für letztere Ansicht spricht, dass im Zu­ stimmungsgesetz zur Wiener Vertragsrechtskonvention1063 die Vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention nur als Anlage wiedergegeben wurden und gerade nicht als eigene Vorschriften.1064 Nach diesem Verständnis wären Art. 31–33 WVK aufgrund des Zustimmungsgesetzes innerstaatlich als völ­ kerrechtliche Auslegungsregeln vollziehbar. Die überwiegende Gerichts­praxis geht hingegen von der Transformation völkervertraglicher Bestimmungen in innerstaatliches Recht aus,1065 insbesondere das Bundesverfassungsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung, dass nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG völkerrechtliche Verträge im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stün­ 1058  Nettesheim, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 84. EL 2018, Art. 59, Rn. 166. 1059  Herdegen, Völkerrecht (2018), § 22, Rn. 20. 1060  Siehe näher Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus (2003), S. 298 f.; Herdegen, Völkerrecht (2018), § 22, Rn. 1 ff. 1061  Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus (2003), S. 299; Geiger, Grund­ gesetz und Völkerrecht (2013), S. 150, nennen die Transformationslehre, die Voll­ zugslehre und die Adoptionslehre. 1062  Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus (2003), S.  300  ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 150. 1063  BGBl. 1985 II, 926 ff. 1064  Vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 164. 1065  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 165.

282 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

den.1066 Nach dem Verständnis des Bundesverfassungsgerichts wären damit Art. 31–33 WVK als bundesgesetzliche Auslegungsregeln zu betrachten. Mit dem Wortlaut von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG sind beide Verständnisweisen vereinbar.1067 Zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Frage der Vertrags­ auslegung kommen Transformationslehre und Vollzugslehre nur dann, wenn man durch die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages annehmen würde, dass der transformierte Vertrag nach nationalen Auslegungsmethoden ausgelegt werden müsste.1068 Diese Annahme ergibt jedoch nur dann Sinn, wenn man gleichzeitig die Transformation der Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention ausblendet, was jedoch spätestens mit dem Zustim­ mungsgesetz vom 03.08.1985 nicht mehr möglich ist. Hiermit deutet sich bereits an, dass es mit dem Zustimmungsgesetz zur Wiener Vertragsrechts­ konvention keine Rolle (mehr) spielt, ob man die Auslegung völkerrechtli­ cher Verträge nach völkerrechtlichen Auslegungsregeln über den innerstaatli­ chen Vollzug oder durch die Transformation der Wiener Vertragsrechtskon­ vention in innerstaatliches Gesetzesrecht begründet,1069 sodass es bezüglich der innerstaatlichen Geltung der Wiener Vertragsrechtskonvention auch kei­ ner generellen Entscheidung für oder gegen die Transformations- bzw. Voll­ zugslehre bedarf.1070 2. Unmittelbare Anwendbarkeit der Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention und ihre Auswirkungen auf die Ermittlung des innerstaatlich verbindlichen Textes Die Ermittlung des innerstaatlich verbindlichen Textes für die Vertragsaus­ legung hängt maßgeblich mit der unmittelbaren Anwendbarkeit von Art. 31– 33 WVK zusammen. Losgelöst von der innerstaatlichen Geltung wird die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vertragsbestimmung davon abhängig ge­ macht, ob diese nach ihrem Inhalt dazu geeignet ist, Staatsorgane oder 1066  Grundlegend zur Transformationslehre BVerfGE 6, 290 (294); zuletzt zur Stellung eines völkerrechtlichen Vertrags im Rang eines einfachen Bundesgesetzes nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG siehe die Entscheidung zum Treaty-Override, BVerfG, B. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Rn. 45. 1067  Vgl. Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 164. 1068  So Schreuer, BerDGesVölkR 23 (1982), 61 (65). 1069  Vgl. Hilf, Verträge (1973), S. 143 f.; Ress, BerDGesVölkR 23 (1982), 7 (38). 1070  Vgl. auch Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 15; Herdegen, Völ­ kerrecht (2018), § 22, Rn. 7, die diesem Theorienstreit generell eine eher bescheidene praktische Bedeutung zumessen. Vertreten wird mittlerweile ohnehin ein Mittelweg, der als „gemäßigter Dualismus“ bezeichnet wird, siehe hierzu im Zusammenhang mit der innerstaatlichen Geltung völkerrechtlicher Auslegungsregeln Hilf, Verträge (1973), S. 144.



A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes283

Rechtsunterworfene zu berechtigen oder zu verpflichten.1071 Diese Vorausset­ zung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann nicht vor, wenn es für die unmittelbare Anwendbarkeit einer völkerrechtli­ chen Vertragsnorm weiterer Ausführungsgesetzgebung bedarf.1072 Das Erfor­ dernis weiterer Ausführungsakte ist hierbei einzelfallabhängig und durch Auslegung der betreffenden Norm zu bestimmen.1073 Bei den Auslegungs­ vorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention ist nicht ersichtlich, inwie­ weit es weiterer staatlicher Ausführungsakte für deren unmittelbare Anwend­ barkeit bedarf. Art. 31–33 WVK sind hinreichend bestimmt gefasste Vor­ schriften, welche die Staatsorgane dergestalt verpflichten, als dass diese Normen innerstaatlich verbindliche Rechtssätze für die Auslegung anderer völkerrechtlicher Verträge sind und insofern die rechtsprechende und vollzie­ hende Gewalt i.  S.  v. Art. 20 Abs. 3 GG binden. Des Weiteren würden Art. 31–33 WVK sinnentleert, wenn man das Erfordernis weiterer Ausfüh­ rungsgesetzgebung auf Basis dieser Auslegungsregeln bejahen würde, da es denkbar wäre, dass ein staatlicher Ausführungsakt zu einem Abweichen von den in Art. 31–33 WVK niedergelegten Auslegungsregeln führen könnte. Für die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 31–33 WVK spricht schließlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung völ­ kerrechtlicher Verträge. So hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung zu den Ostverträgen auf die Rolle von Art. 31 WVK bei der Vertragsauslegung abge­ stellt1074 und in einer späteren Entscheidung auch ausdrücklich vertreten, dass die Auslegung völkerrechtlicher Verträge anhand der Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention den verfassungsrechtlichen Maßstäben ent­ spreche.1075 Obgleich die Auslegung von Völkervertragsrecht primär den Fachgerichten vorbehalten ist, achtet das Bundesverfassungsgericht darauf, dass völkerrechtliche Verträge nicht fehlerhaft ausgelegt werden, was im Ein­ 1071  In der neueren Rechtsprechung sowie im neueren Schrifttum wird in diesem Zusammenhang oft vom „self-executing“-Charakter einer völkerrechtlichen Vertrags­ norm gesprochen, siehe etwa BVerfG, B. v. 19.09.2006 – 2 BvR 2115/01, Rn. 53; Amrhein-Hofmann, Monismus und Dualismus (2003), S. 304. 1072  St. Rspr., siehe etwa BVerfG, B. v. 19.09.2006 – 2 BvR 2115/01, Rn. 53; BVerfG, B. v. 08.07.2010 – 2 BvR 2485/07, Rn. 28. 1073  Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 166. Umstritten war die un­ mittelbare Anwendbarkeit etwa bei den Paktrechten des IPwskR, verneinend etwa OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 09.10.2007 – 15 A 1596/07 = DVBl. 2007, 1442 (1443). 1074  BVerfGE 40, 141 (167). Der Verweis auf Art. 31 WVK ist insofern bemer­ kenswert, als dass zum Zeitpunkt dieser Entscheidung die Wiener Vertragsrechtskon­ vention von der Bundesrepublik Deutschland noch nicht ratifiziert war. 1075  BVerfG, B. v. 08.11.2005 – 2 BvR 194/05, Rn. 20.

284 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

zelfall eine umfassende Nachprüfung nach sich ziehen kann.1076 Dies impli­ ziert, dass eine fachgerichtliche Entscheidung, in welcher ein völkerrechtli­ cher Vertrag unter Verstoß gegen die Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention ausgelegt wurde, durch das Bundesverfassungsge­ richt aufgehoben werden könnte. Dies dürfte im Sinne der vorbezeichneten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dann gelten, wenn der fehler­ haft ausgelegte Vertrag aufgrund des Verstoßes gegen die Auslegungsvor­ schriften der Wiener Vertragsrechtskonvention eine völkerrechtliche Verant­ wortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland auslösen würde. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes richtet sich nach den vorstehenden Maßstäben nach Art. 33 WVK. Innerstaatlich verbindliche Vertragstexte sind nach Art. 33 Abs. 1 WVK damit diejenigen Vertragstexte, welche durch den transformierten bzw. vollziehbar erklärten völkerrechtli­ chen Vertrag als authentisch ausgewiesen sind.1077 Dies bedeutet, dass der pauschale Verweis auf den landessprachlichen Text mit Art. 33 WVK nicht zu vereinbaren ist; der landessprachliche Text kann nur dann für die Ausle­ gung herangezogen werden, wenn dieser durch den Vertrag als authentisch gekennzeichnet ist. Als weitere Konsequenz ergibt sich, dass nach Art. 33 Abs. 2 WVK die Auslegung nicht auf die amtliche deutsche Übersetzung eines Vertragstextes gestützt werden darf.1078 Diese Auffassung wird auch durch die aktuelle Gerichtspraxis gestützt: So haben etwa der Bundesge­ richtshof und das Niedersächsische Finanzgericht in Entscheidungen aus dem Jahr 2016 bzw. 2013 vertreten, dass nach Art. 33 Abs. 2 WVK nicht auf die deutsche Übersetzung abgestellt werden dürfe, sondern dass sich die Ausle­ gung gem. Art. 33 Abs. 1 WVK nach den authentischen Vertragstexten zu richten habe.1079 Die Auffassungen des Bundesgerichtshofs und des Nieder­ 1076  St. Rspr., BVerfGE 58, 1 (33); BVerfGE 59, 63 (89); zuletzt BVerfG, B. v. 08.12.2014 – 2 BvR 450/11, Rn. 24. 1077  So im Ergebnis auch Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht (2013), S. 170. 1078  Eine informelle Konsultation der amtlichen Übersetzung wird jedoch durch Art. 33 Abs. 2 WVK nicht ausgeschlossen, vgl. auch Geiger, Grundgesetz und Völ­ kerrecht (2013), S. 171. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 184 GVG, da diese Vorschrift nur die Verfahrensbeteiligten und das Verfahren selbst betrifft, siehe hierzu näher Hilf, Verträge (1973), S. 163 f. 1079  BGH, U. v. 21.04.2016 – I ZR 43/14, Rn. 78; Niedersächsisches Finanzge­ richt, U. v. 18.10.2013 – 1 K 196/11 –, juris, Rn. 32 = EFG 2014, 1120 ff. Die ältere Gerichtspraxis weicht indes von diesen Entscheidungen leicht ab. So begründet etwa eine Entscheidung des LG Hamburg die Ablehnung der deutschen Übersetzung nicht direkt anhand Art. 33 Abs. 2 WVK, sondern mit Ungenauigkeiten und Übersetzungs­ fehlern der amtlichen Übersetzung im Verhältnis zu den authentischen Texten (U. v. 14.03.2008 – 315 O 339/07 – juris, Rn. 54). Das OVG Nordrhein-Westfalen, U. v. 11.02.1992 – 8 B 536/92 –, juris, Rn. 28, vertritt hingegen dieselbe Grundaussage wie das Niedersächsische Finanzgericht, will jedoch ausnahmsweise den Text der deut­



A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes285

sächsischen Finanzgerichts sind im Lichte der Rechtsprechung des Bundes­ verfassungsgerichts folgerichtig. Wenn das Bundesverfassungsgericht es sich vorbehält, im Falle einer fehlerhaften Vertragsauslegung korrigierend einzu­ greifen, um eine etwaige Vertragshaftung der Bundesrepublik zu vermeiden, dann ist es nur konsequent, bereits auf der Ebene des Auslegungsmaßstabs einen zutreffenden Ansatz einzufordern.1080 Da das ausschließliche Verlassen des Rechtsanwenders auf die deutsche Übersetzung zu einer fehlerhaften Auslegung im Verhältnis zu den authentischen Texten führen und eine Ver­ tragshaftung der Bundesrepublik Deutschland auslösen kann,1081 ist es denk­ bar, dass eine Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags unter Verstoß ge­ gen Art. 33 Abs. 2 WVK spätestens vom Bundesverfassungsgericht korrigiert werden würde. Indem dem innerstaatlichen Rechtsanwender für die Auslegung die amtli­ che Übersetzung als Auslegungsmaßstab nach Art. 33 Abs. 2 WVK verwehrt ist, ergeben sich jedoch weitreichend praktische Implikationen. Die Realisie­ rung der Auslegung nach Maßgabe eines fremdsprachigen authentischen Textes hängt maßgeblich von der Sprachkompetenz des Rechtsanwenders ab und besonders bei weniger geläufigen Fremdsprachen wird dieser schnell an seine Grenzen stoßen. Dieses Argument ist indes nicht geeignet, als solches die Einforderung der authentischen Vertragstexte als verbindlichen Ausle­ gungsmaßstab in Zweifel zu ziehen. Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK steht auch für die Gewährleistung eines einheitlichen Auslegungsmaßstabs, der gerade verfehlt würde, wenn der innerstaatliche Rechtsanwender unter Verweis auf seine Fremdsprachenkompetenz immer die amtliche Übersetzung heranzie­ hen würde; im Extremfall wäre hierdurch eine disparate Auslegung derselben Vertragsnorm durch die Gerichte der Vertragsparteien denkbar.1082 Da der schen Übersetzung für die Auslegung zulassen, da es sich vergewissert habe, dass keine Unterschiede zu den authentischen Texten bestünden. Den von Hilf, Verträge (1973), S. 200 f., angeführten Fällen aus der Gerichtspraxis zur ausschließlichen An­ wendung der deutschen Übersetzung kommt hingegen keine besondere Signifikanz mehr zu, da alle von ihm angeführten Entscheidungen zeitlich vor der Ratifikation der Wiener Vertragsrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland lagen; das Heranziehen der amtlichen deutschen Übersetzung war hier also gerade nicht durch Art. 33 Abs. 2 WVK blockiert. Ganz vereinzelt wurde in der älteren Gerichts­ praxis auch ausschließlich auf die fremdsprachigen authentischen Vertragstexte zu­ rückgegriffen, siehe hierzu näher Hilf, Verträge (1973), S. 206 ff. 1080  Vgl. auch Messer, Multilinguale Normen (2012), S. 128. 1081  Hierzu näher Hilf, Verträge (1973), S. 217 ff. 1082  Vgl. auch Hilf, Verträge (1973), S. 218, der einerseits darauf hinweist, dass amtliche Übersetzungen häufig nicht bei den Vertragspartnern notifiziert sind und an­ dererseits eine häufige Fehlerquelle darstellen. Hilf geht insofern zu Recht von einer Belastungsprobe für die Gerichte aus, da diese sich nicht uneingeschränkt auf ihre Mutter- bzw. Verfahrenssprache verlassen können. Unvereinbar mit Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK wäre es hingegen, die Heranziehung eines fremdsprachigen authentischen

286 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

Aspekt der Fremdsprachenkompetenz nicht geeignet ist, die verfassungs­ rechtliche Bindung der staatlichen Organe an den Auslegungsmaßstab nach Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK zu erschüttern, wird stattdessen eine verfahrens­ rechtliche Lösung notwendig sein, um den linguistischen Herausforderungen eines fremdsprachigen Vertragstextes gerecht werden zu können.

II. Die Anwendbarkeit der Arbeitssprachenregel auf innerstaatlicher Ebene Neben den innerstaatlich anwendbaren Auslegungsregeln der Wiener Ver­ tragsrechtskonvention stellt sich auch die Frage der Stellung der Arbeitsspra­ chenregel im innerstaatlichen Recht. Dem völkergewohnheitsrechtlichen Charakter dieser Auslegungsregel ist es geschuldet, dass sich auf innerstaat­ licher Ebene sowohl im Geltungsrang als auch in der praktischen Anwendung Besonderheiten ergeben. 1. Geltung nach Art. 25 S. 1 GG Als völkergewohnheitsrechtliche Auslegungsregel kann die Arbeitsspra­ chenregel in das innerstaatliche Recht – anders als die völkervertraglichen Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention – nicht über Art. 59 Abs. 2 GG, sondern über Art. 25 S. 1 GG einbezogen werden. Diese Einord­ nung folgt der Unterscheidung des Grundgesetzes zwischen dem Völkerver­ tragsrecht und den allgemeinen Regeln des Völkerrechts.1083 Der Begriff „allgemeine Regeln des Völkerrechts“ bezieht sich insoweit auf das Völker­ gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts i. S. v. Art. 38 Abs. 1 Buchst. b) und c) IGH-Statut.1084 Die Einordnung der Arbeitssprachenregel als allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 S. 1 GG bringt es mit sich, dass diese eine übergeordnete Stellung gegenüber den nach Art. 59 Abs. 2 GG einbezogenen Auslegungsregeln der Wiener Vertragsrechtskonvention einnehmen würde. Dies folgt aus dem Wortlaut von Art. 25 S. 2 GG, der eine allgemeine Regel des Völkerrechts im Rang oberhalb eines einfachen Bundesgesetzes, aber unterhalb des Grundgesetzes vorsieht (sog. Zwischenrang).1085 Hiermit darf aber nicht angenommen wer­ den, dass deshalb stets auf innerstaatlicher Ebene die Arbeitssprachenregel Textes von einem Zumutbarkeitskriterium abhängig zu machen, vgl. in diesem Sinne bei der Auslegung mehrsprachiger Unionsrechtstexte Mertens, ZNR 2013, 157 (169). 1083  Vgl. BVerfG, B. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Rn. 76. 1084  St. Rspr., siehe BVerfG, B. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Rn. 42, mit Verweisen auf frühere Rechtsprechung. 1085  BVerfG, B. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Rn. 41.



A. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes287

Art. 33 WVK vorgehen würde. Die Einordnung der Arbeitssprachenregel unter Art.  25 S.  1 GG betrifft nur ihre grundsätzliche innerstaatliche Wirksamkeit,1086 nicht jedoch ihre konkrete Anwendbarkeit im Einzelfall. Für die Anwendbarkeit der Arbeitssprachenregel auf innerstaatlicher Ebene gilt vielmehr dasselbe wie auf internationaler Ebene, d. h. als Anwendungs­ voraussetzung der Arbeitssprachenregel müssen sich unmittelbar aus dem Vertragstext selbst Anhaltspunkte ergeben, dass die Vertragsparteien im Fall einer Textdivergenz zwischen den authentischen Vertragstexten den Vorrang des Urtextes beabsichtigt haben.1087 Sofern die materiellen Voraussetzungen der Arbeitssprachenregel vorliegen, zeigt sich das oben angenommene lex specialis-Verhältnis der Arbeitssprachenregel1088 korrespondierend auf inner­ staatlicher Ebene in Art. 25 S. 2 GG; die dann verfassungsrechtlich vorgese­ hene vorrangige Anwendung der Arbeitssprachenregel nach Art. 25 S. 2 GG erscheint dann im Hinblick auf das angenommene lex specialis-Verhältnis zu Art. 33 Abs. 4 WVK konsequent. Wie bereits oben dargelegt, sollte die Be­ deutung der Arbeitssprachenregel jedoch nicht überbewertet werden, da ihre materiellen Anwendungsvoraussetzungen zu einer geringen praktischen Be­ deutung führen dürften. Verstärkt werden könnte die geringe praktische Be­ deutung zudem durch die dem Bundesverfassungsgericht zugewiesene Rolle in der Feststellung des Bestehens allgemeiner Regeln des Völkerrechts. 2. Nachweisbarkeit gem. Art. 100 Abs. 2 GG Dem Bundesverfassungsgericht kommt nach Art. 100 Abs. 2 GG eine her­ ausragende Rolle bei der Feststellung einer allgemeinen Regel des Völker­ rechts nach Art. 25 S. 1 GG zu. Der Verfassungsgeber ist zwar mit der Rege­ lung in Art. 100 Abs. 2 GG nicht so weit gegangen, dass er dem Bundesver­ fassungsgericht eine Monopolstellung in der Feststellung einer allgemeinen Regel gegeben hat,1089 gleichwohl darf die praktische Rolle des Bundesver­ fassungsgerichts in der Feststellung der Geltung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts nicht unterschätzt werden. Da das Normenverifikationsverfah­ ren – anders als im Verfahren der parlamentarischen Zustimmung nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG – dem parlamentarischen Gesetzgeber nur ein ein­ geschränktes Handeln in der Einbeziehung von Völkerrecht in die innerstaat­ liche Rechtsordnung ermöglicht,1090 agiert das Bundesverfassungsgericht in 1086  Vgl.

BVerfG, B. v. 15.12.2015 – 2 BvL 1/12, Rn. 39. hierzu die Ausführungen oben bei Fn. 923 und 924. 1088  Vgl. oben 3. Teil, A. III. 2. 1089  Dederer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 84. EL 2018, Art. 100, Rn. 280. 1090  Der Bundestag hat nach § 83 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG lediglich die Möglich­ keit zur Stellungnahme im Normenverifikationsverfahren. 1087  Vgl.

288 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

der Feststellung der Geltung einer allgemeinen Regel des Völkerrechts qua­ sigesetzgeberisch.1091 Die Fachgerichte können hingegen über die Existenz und Tragweite einer allgemeinen Regel des Völkerrechts nur in Evidenzfällen entscheiden, da Art. 100 Abs. 2 GG auch einer uneinheitlichen fachgerichtli­ chen Rechtsprechung entgegenwirken will.1092 Im Fall der Arbeitssprachen­ regel wird man jedoch nicht evident von einer allgemeinen Regel des Völ­ kerrechts ausgehen können,1093 sodass die Frage der Geltung der Arbeitsspra­ chenregel nach Art. 25 S. 1 GG nur vom Bundesverfassungsgericht beant­ wortet werden kann. Einem fachgerichtlichen Vorlagebeschluss zur Frage der Geltung der Ar­ beitssprachenregel stehen jedoch hohe Zulässigkeitshürden entgegen. Die erforderliche Zweifelhaftigkeit an der Existenz einer allgemeinen völker­ rechtlichen Regel kann zwar dadurch dargelegt werden, dass das Vorlagege­ richt von der Entscheidung eines internationalen Gerichtes abweichen würde;1094 im Fall der Arbeitssprachenregel könnte das vorlegende Fachge­ richt damit so argumentieren, dass es in der Nichtbeachtung dieser Regel von den aufgestellten Rechtssätzen in den Entscheidungen LaGrand1095 und Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan1096 des Internationalen Ge­ richtshofs abweichen würde. Aus der Begründung der Vorlagefrage muss aber gem. § 84 i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG auch die Entscheidungs­ erheblichkeit für das Ausgangsverfahren hervorgehen, d. h. es muss vom Vorlagegericht dargelegt werden, inwiefern die Entscheidung des Gerichts von der Existenz der allgemeinen Regel des Völkerrechts abhängig ist.1097 Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage liegt nicht vor, wenn so­ wohl bei unterstellter Gültigkeit wie Ungültigkeit der festzustellenden allge­ meinen Regel des Völkerrechts das Vorlagegericht zur derselben Endent­ scheidung kommen würde, da das Verfahren nach Art. 100 Abs. 2 GG gerade 1091  Die Entscheidung des BVerfG hat nach § 31 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 13 Nr. 6 BVerfGG Gesetzeskraft, weiterführend Dederer, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundge­ setz-Kommentar, 84. EL 2018, Art. 100, Rn. 278. 1092  BVerfGE 23, 288 (317); 15, 25 (33). 1093  Die Entscheidungen des IGH in den Rechtssachen LaGrand und Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan dienen zwar als Hilfsmittel in der Feststellung dieser Regel (Art. 38 Abs. 1 Buchst. d) IGH-Statut), evident nachgewiesen ist diese Regel mit diesen Entscheidungen gleichwohl nicht. 1094  BVerfGE 23, 288 (319). 1095  IGH, LaGrand (Germany v. United States of America), Judgment, I.C.J. Re­ ports 2001, 466, § 100. 1096  IGH, Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan (Indonesia/Malaysia), Application for Permission to Intervene, Judgment, I.C.J. Reports 2001, 575, § 47. 1097  Näher auch BVerfGE 15, 25 (30).



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 289

nicht dazu dient, abstrakte völkerrechtliche Rechtsfragen zu klären.1098 Da mit Art. 33 WVK eine völkervertragliche Vorschrift zur Auslegung mehrspra­ chiger Verträge vorliegt, müsste das vorlegende Gericht im Fall der Arbeits­ sprachenregel eingehend darlegen, inwieweit der Rechtsstreit bei unterstellter Gültigkeit der Arbeitssprachenregel im Ergebnis anders entschieden werden würde als bei der Anwendung von Art. 33 WVK. Hierbei wird man auch berücksichtigen müssen, dass Art. 33 Abs. 4 WVK – von dem die Arbeits­ sprachenregel abweichen würde, indem auf den Urtext Rekurs genommen wird – dem Rechtsanwender nur einen groben Rahmen für die Auflösung einer Textdivergenz vorgibt; das vorlegende Gericht würde also auch ausfüh­ ren müssen, ob durch die Anwendung von Art. 33 Abs. 4 WVK eine Ausle­ gung möglich ist, die zu demselben Ergebnis führen würde wie bei Anwen­ dung der Arbeitssprachenregel. Gelingt es dem Vorlagegericht, dies nicht offensichtlich unhaltbar zu verneinen,1099 wird man von der Entscheidungs­ erheblichkeit der Vorlagefrage ausgehen können. Letztendlich bleibt jedoch die Einschätzung bestehen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen praktisch kaum erfüllt werden können, insbesondere die Voraussetzung der Entschei­ dungserheblichkeit der Vorlage sollte – auch im Hinblick der eingeschränkten Bedeutung der Arbeitssprachenregel im Lichte ihrer materiellen Voraus­ setzungen – nicht unterschätzt werden.

B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte als Herausforderung für den innerstaatlichen Richter Wie bereits aufgezeigt, hat die Anwendung von Art. 33 Abs. 2 WVK auf innerstaatlicher Ebene weitreichende praktische Konsequenzen, da der inner­ staatliche Rechtsanwender normativ gehindert ist, die Auslegung auf eine nicht-authentische Übersetzung in seiner Muttersprache zu stützen. Nach Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK besteht stattdessen die hohe Wahrscheinlichkeit, dass er normativ genötigt ist, einen fremdsprachigen Vertragstext für die Auslegung heranzuziehen, den er möglicherweise nicht oder sogar gar nicht versteht. Der denkbare Extremfall ist die Konfrontation des Rechtsanwenders mit einer Vertragssprache, in welcher andere Schriftzeichen verwendet wer­ den wie beispielsweise in der chinesischen Sprache; in einer solchen Situa­ tion wird der Rechtsanwender, selbst wenn er informell die amtliche deutsche Übersetzung vergleichend beiziehen würde, am Ende des tatsächlich Mach­ 1098  BVerfGE

58, 300 (317 f.); BVerfG, B. v. 02.02.1999 – 2 BvM 1/98, Rn. 10. ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist für die Beurteilung der Ent­ scheidungserheblichkeit die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgeblich, sofern diese sich nicht als offensichtlich unhaltbar erweist, siehe BVerfGE 15, 25 (31); BVerfG, B. v. 02.02.1999 – 2 BvM 1/98, Rn. 11. 1099  Nach

290 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

baren sein.1100 Die folgenden Ausführungen werden jedoch zeigen, dass eine solche Situation vom innerstaatlichen Rechtsanwender nur schwer vermieden werden kann. Eine wichtige Rolle kann zunächst der – im Rahmen der bis­ herigen Diskussion vernachlässigte – Grundsatz des rechtlichen Gehörs spie­ len, welcher verfassungsrechtlich in Art. 103 Abs. 1 GG verankert ist und bundesgesetzlich in diversen Prozessordnungen konkretisiert ist. Ist schließ­ lich die Situation eingetreten, in welcher der innerstaatliche Rechtsanwender mit einem fremdsprachigen Vertragstext konfrontiert ist und diesen nicht oder nur eingeschränkt versteht, wird gezeigt werden, dass es prozessuale Lösungsmöglichkeiten gibt1101 und kein Anlass besteht, angesichts dieser linguistischen Herausforderung zu resignieren.

I. Die unvermeidbare Konfrontation des innerstaatlichen ­Richters mit fremdsprachigen Vertragstexten Die Wahrscheinlichkeit, bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtli­ cher Verträge mit einem fremdsprachigen authentischen Vertragstext kon­ frontiert zu werden, besteht allein vor dem Hintergrund, dass eine große Anzahl bedeutender multilateraler Verträge mit mehreren Fremdsprachen im innerstaatlichen Recht wirksam ist. Ein bedeutendes Beispiel in der deut­ schen Gerichtspraxis ist etwa die Konvention zum Schutze der Grundfreihei­ ten und der Menschenrechte,1102 deren authentische Vertragstexte in der englischen und französischen Sprache abgefasst sind. Bei multilateralen Verträgen, welche unter der Ägide der Vereinten Nationen entstanden sind, kommen als authentische Vertragssprachen noch Spanisch, Russisch und Chinesisch hinzu. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie der innerstaatliche Richter mit der Situation umgehen muss, wenn in einem ge­ richtlichen Verfahren sich ein Verfahrensbeteiligter explizit auf einen fremd­ sprachigen authentischen Text beruft und Textdivergenzen im Verhältnis zu den anderen authentischen Texten vorträgt. Die Folgen in Bezug auf die 1100  Siehe auch Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 86  f., der bekräftigt, dass auch authentische Vertragstexte in wenig geläufigen Sprachen für die Auslegung ver­ bindlich sind und herangezogen werden müssen; nach seiner Wortwahl werden Ver­ waltungsbeamte und Juristen in solchen Fällen jedoch mit „ihrem Latein am Ende“ sein. 1101  Die prozessualen Lösungsmöglichkeiten orientieren sich hierbei im Ausgangs­ punkt an der Forderung von Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 87, dass der Rechtsanwender die Hilfe eines sachkundigen Philologen in Anspruch nehmen muss. 1102  Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben die Fachge­ richte die Konvention im Rahmen vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwen­ den und hierbei auch die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen, siehe BVerfG, B. v. 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04, Rn. 32, 47.



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 291

hierdurch tangierte Fremdsprachenkompetenz des innerstaatlichen Richters können sich hierbei unterschiedlich auswirken: Während bei einer vorgetra­ genen Textdivergenz bei den authentischen Vertragstexten der EMRK grund­ sätzlich noch denkbar sein könnte, dass die Fremdsprachenkompetenz des Richters ausreicht, um diesem Vortrag nachgehen zu können, wird beispiels­ weise bei einer Parteibezugnahme auf den authentischen chinesischen Text des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte es dem Richter tatsächlich kaum möglich sein, dieses Vorbringen überhaupt zu prü­ fen. Damit stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit Verfahrensbeteiligte in einem gerichtlichen Verfahren es in der Hand haben, den innerstaatlichen Richter zu einer Prüfung fremdsprachiger authentischer Vertragstexte zu ver­ anlassen. 1. Auswirkungen des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs Die folgenden Ausführungen gehen von der Prämisse aus, dass in einem gerichtlichen Verfahren, in welchem die Auslegung eines mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrages im Raum steht, mit plausiblem und substantiier­ tem Vorbringen auf einen für den Richter fremdsprachigen authentischen Vertragstext Bezug genommen wird und dies ein Kernbestandteil des Partei­ vorbringens ist. a) Verfassungsrechtliche Grundlage des Art. 103 Abs. 1 GG Als prozessuales Grundrecht sichert das rechtliche Gehör Verfahrensbetei­ ligten die Möglichkeit, sich überhaupt in einem gerichtlichen Verfahren äu­ ßern zu können; dieses Recht kann äußerstenfalls auch im Wege der Verfas­ sungsbeschwerde durchgesetzt werden. Dieses Äußerungsrecht bezieht sich nicht nur auf Tatsachenfragen eines Verfahrens, sondern es soll gerade auch ermöglichen, sich zu Rechtsfragen äußern zu können.1103 Die Bezugnahme auf einen fremdsprachigen authentischen Vertragstext und dessen Auslegung fällt damit unter das Äußerungsrecht. Relevant zum Zwecke der vorange­ stellten Überlegung, inwieweit ein Verfahrensbeteiligter mit der Bezugnahme auf einen fremdsprachigen authentischen Text die Fremdsprachenkompetenz des innerstaatlichen Richters herausfordern kann, sind jedoch die aus dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs folgenden Verhaltenspflichten des Ge­ richts. Das rechtliche Gehör verpflichtet das Gericht, Parteivortrag einerseits zur Kenntnis zu nehmen und ihn andererseits in Erwägung zu ziehen.1104 1103  Grundlegend 1104  BVerfGE

zum Äußerungsrecht BVerfGE 60, 175 (210). 86, 133 (145).

292 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

Relevant für die Berücksichtigung der Parteibezugnahme auf einen fremd­ sprachigen authentischen Vertragstext dürfte die letztgenannte Voraussetzung sein. Grundsätzlich geht nämlich das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Fachgerichte Parteivorbringen zur Kenntnis genommen haben.1105 Das Parteivorbringen in Erwägung ziehen bedeutet jedoch, dass das Gericht den Vortrag in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüfen muss.1106 Zwar wird man aus einem fehlenden Eingehen auf das Parteivorbringen in den Entscheidungsgründen nicht per se schlussfolgern können, dass sich das Ge­ richt nicht mit diesem befasst habe,1107 geht jedoch das Gericht mit keinem Wort auf zentrale Äußerungen ein, die für das Verfahren rechtlich erheblich sein können, wird man nicht von einem In-Erwägung-Ziehen ausgehen können;1108 aus den Entscheidungsgründen muss also hervorgehen, dass sich das Gericht inhaltlich mit den zentralen rechtlichen Argumenten der Parteien auseinandergesetzt hat.1109 Nach diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben wird der Vortrag auf eine Textdivergenz zwischen den authentischen Ver­ tragstexten oder die Bezugnahme auf einen bestimmten authentischen Ver­ tragstext vom Gericht in aller Regel erwogen werden müssen, da es sich hier um einen zentralen Aspekt des Verfahrens handeln wird, der insbesondere über dessen Ausgang mitentscheidend sein kann. Der vortragende Verfah­ rensbeteiligte kann hierdurch jedoch nicht erwarten, dass das Gericht im Er­ gebnis seine Rechtsauffassung teilt; dies umfasst der Schutz des Art. 103 Abs. 1 GG gerade nicht.1110 Entscheidend ist jedoch, dass aus den Entschei­ dungsgründen hervorgeht, dass sich das Gericht mit der Parteibezugnahme auf einen bestimmten authentischen Text oder der Behauptung des Bestehens einer Textdivergenz auseinandergesetzt hat; denkbar wäre es etwa, dass das Gericht dem Vorbringen einer behaupteten Textdivergenz mit konzisen Aus­ führungen zu Art. 33 Abs. 3 WVK begegnet. Verweigert sich das Gericht je­ doch grundsätzlich einer solchen Auseinandersetzung in der Sache – unab­ hängig davon, ob es dem Parteivorbringen zu den authentischen Vertragstex­ ten folgt – läge die Gefahr einer Gehörsverletzung samt ihrer denkbaren weiteren rechtlichen Folgen im Raum.

1105  Zum

Ganzen siehe BVerfGE 86, 133 (146). in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 84. EL 2018, Art. 103, Rn. 94. 1107  BVerfGE 86, 133 (146). 1108  Vgl. BVerfGE 89, 381 (392); siehe auch Rixen, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung (2018), § 108, Rn. 211. 1109  Vgl. BVerfG, B. v. 27.02.2018 – 2 BvR 2821/14, Rn. 19. 1110  BVerfGE 64, 1 (12). 1106  Remmert,



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 293

b) Einfachrechtliche Ausprägung am Beispiel des § 108 Abs. 2 VwGO und prozessrechtliche Konsequenzen der Gehörsverletzung Unabhängig von der Möglichkeit, eine Gehörsverletzung nach Erschöp­ fung des Rechsweges1111 im Wege der Verfassungsbeschwerde zu rügen, hat eine solche Rechtsverletzung bereits auf fachgerichtlicher Ebene prozess­ rechtliche Implikationen. Dies hängt damit zusammen, dass der Grundsatz des rechtlichen Gehörs in den Prozessordnungen konkretisiert ist und inso­ weit auch eine einfachrechtliche Ausprägung erfahren hat. Geht aus den Entscheidungsgründen hervor, dass sich das Gericht in keiner Weise mit den Kernargumenten des Sachvortrags eines Verfahrensbeteiligten auseinanderge­ setzt hat, liegt etwa in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren eine Verlet­ zung der Vorschrift des § 108 Abs. 2 VwGO nahe.1112 Diese Vorschrift hat eine gegenüber Art. 103 Abs. 1 GG selbstständige Bedeutung, da sie im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Gewährleistung des rechtlichen Ge­ hörs näher spezifiziert.1113 Verdeutlicht wird die eigenständige Bedeutung des § 108 Abs. 2 VwGO im Rechtsmittelrecht der Verwaltungsgerichtsord­ nung: So stellt das Versagen des rechtlichen Gehörs einen absoluten Revisi­ onsgrund nach § 138 Nr. 3 VwGO dar, der zugleich i. S. v. § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO einen beachtlichen Verfahrensmangel begründen würde.1114 Damit zeichnet sich ab, dass es für den innerstaatlichen Richter bei substantiiertem Parteivorbringen in Bezug auf das Vorliegen einer Textdivergenz oder der Bezugnahme auf einen bestimmten authentischen Vertragstext fast unaus­ weichlich ist, diesem Vorbringen nachzugehen. Verweigert sich dem der in­ nerstaatliche Richter – etwa aus dem Grund, weil er wegen fehlender Fremd­ sprachenkompetenz einen fremdsprachigen Vertragstext nicht versteht –, muss er damit rechnen, dass seine Entscheidung vom instanziell übergeord­ neten Gericht aufgehoben und ggf. an ihn zurückverwiesen wird.1115 Dieses so wahrgenommene Bild der Berücksichtigungspflicht des innerstaatlichen 1111  Hierzu gehört auch die Erhebung einer Anhörungsrüge (z. B. für das Verwal­ tungsprozessrecht § 152a VwGO), soweit diese statthaft ist, BVerfG, B. v. 25.04. 2005 – 1 BvR 644/05, Rn. 11. 1112  Entsprechende Vorschriften aus anderen Prozessordnungen sind etwa § 96 Abs. 2 FGO, § 128 Abs. 2 SGG. 1113  Vgl. Rixen, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung (2018), § 108, Rn. 176. 1114  Czybulka/Hösch, in: Sodan/Ziekow (Hrsg.), Verwaltungsgerichtsordnung (2018), § 132, Rn. 55. Ebenso erfüllt dürfte der Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO sein, der mit § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO deckungsgleich ist (vgl. Seibert, in: Sodan/Ziekow [Hrsg.], Verwaltungsgerichtsordnung [2018], § 124, Rn. 195). 1115  Zur Zurückverweisung an das OVG durch das BVerwG im Falle des Versa­ gens des rechtlichen Gehörs (vgl. § 133 Abs. 6 VwGO) siehe beispielhaft BVerwG, B. v. 11.07.2017 – 8 B 46/16, Rn. 6 ff.

294 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

Richters aufgrund des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs erscheint auch unter folgendem Gesichtspunkt folgerichtig: Wenn man mit der überwiegend älteren Gerichtspraxis davon ausgeht, dass es für die Bestimmung des Zeit­ punkts des Textvergleichs auf entsprechenden Parteivortrag der Verfahrens­ beteiligten ankommt,1116 wird man im Umkehrschluss davon ausgehen müs­ sen, dass das Gericht entsprechenden Parteivortrag zu den authentischen Vertragstexten auch prüfen und in den Entscheidungsgründen Farbe bekennen muss. 2. Der Wandel in der Zugriffsmöglichkeit auf fremdsprachige Vertragstexte Die Heranziehung fremdsprachiger authentischer Vertragstexte hängt, wie Hilf bereits dargestellt hat, auch von der tatsächlichen Zugriffsmöglichkeit auf diese Texte ab. Hilf legt hier das tatsächliche Bild zugrunde, dass in der Praxis lediglich auf Gesetzessammlungen zurückgegriffen werden könne, die deutschsprachige Übersetzungen von Vertragstexten enthalten; dasselbe würde auch für Lehrbücher und Kommentare gelten.1117 Dieses tatsächliche Bild von der Zugriffsmöglichkeit auf völkerrechtliche Vertragstexte dürfte jedoch mittlerweile als überholt gelten. Nach Art. 102 Abs. 1 UNCh werden alle völkerrechtlichen Verträge, die von einem Mitgliedsstaat der Vereinten Nationen geschlossen werden, beim Sekretariat registriert und von diesem veröffentlicht. Die Veröffentlichungen sind mittlerweile im Internet auf der Seite der Vereinten Nationen frei zugänglich, zudem kann mit der Suchfunk­ tion gezielt nach einem bestimmten völkerrechtlichen Vertrag gesucht wer­ den.1118 Dem Argument, dass auf einen bestimmten fremdsprachigen authen­ tischen Vertragstext nicht oder nur schwer zugegriffen werden kann, dürfte mit diesen technischen Resourcen die Grundlage entzogen sein. Der andere von Hilf genannte Aspekt, die Verfügbarkeit von völkerrechtli­ cher Kommentarliteratur und völkerrechtlichen Lehrbüchern wird man heute unter einem differenzierten Blickwinkel betrachten müssen. Anders als noch 1116  Vgl. insofern die Ausführungen oben zur Frage des Zeitpunkts des Textver­ gleichs bei Teil 3, A. II. 3. a) bb) – verdeutlichend sei auf folgende Ausführung des US Supreme Court hingewiesen: „The Spanish part of the treaty was not then brought into view, and it was then supposed there was no variance between them.“ (US Su­ preme Court, United States v. Percheman, U.S. Reports 32 [1833–1844], 51 [52]). 1117  Hilf, Verträge (1973), S. 150 f. 1118  Zum Webauftritt siehe https://treaties.un.org/Pages/AdvanceSearch.aspx?tab= UNTS&clang=_en (23.03.2018). Die United Nations Treaty Series sowie die League of Nations Treaty Series können zudem gezielt mit der Datenbank „International Treaties Collection“ des World Legal Information Institute durchsucht werden: http:// www.worldlii.org/int/special/treaties/ (23.03.2018).



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 295

im Zeitpunkt des Entstehens der Habilitationsschrift von Hilf wird man heut­ zutage zu der Einschätzung kommen können, dass es eine große Bandbreite an englischsprachiger Kommentarliteratur zu einer Vielzahl völkerrechtlicher Verträge gibt. So deckt etwa die Reihe „Oxford Commentaries on Internatio­ nal Law“1119 des Verlags Oxford University Press einen großen Teil bedeu­ tender völkerrechtlicher Verträge ab, welche dem Rechtsanwender bei der Auslegung dieser Verträge als wertvolles Hilfsmittel zur Seite stehen. Ein Problem, welches jedoch nach wie vor bestehen dürfte, ist die von Hilf ge­ nannte mangelhafte Ausstattung der Gerichtsbibliotheken mit solcher Litera­ tur.1120 Insbesondere bei den unterinstanzlichen Gerichten erscheint es kaum wahrscheinlich, dass diese umfangreich mit solch spezieller Literatur ausge­ stattet sind, sodass wichtige Hilfsmittel für die Auslegung fremdsprachiger Vertragstexte – in unnötiger Weise – nicht zur Verfügung stehen.1121 Eine Ausnahme bilden hier lediglich die umfangreich ausgestatteten Gerichtsbib­ liotheken des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts, die etwa auch einige Titel der Reihe „Oxford Commentaries on International Law“ in ihrem Bestand aufweisen.1122 Die Frage der Ausstattung der Gerichtsbibliotheken mit englischsprachiger Kommentarliteratur zu völkerrechtlichen Verträgen ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der Zugriff auf fremdsprachige authentische Vertragstexte heutzutage ohne größere Anstrengungen möglich ist. Demnach kann der in­ nerstaatliche Richter das Heranziehen eines fremdsprachigen authentischen Vertragstextes nicht mehr deshalb ablehnen, weil dieser nicht verfügbar sei und er lediglich auf die amtliche Übersetzung im Bundesgesetzblatt zurück­ greifen könne. 1119  Aus dem Webauftritt unter https://global.oup.com/academic/content/series/o/ oxford-commentaries-on-international-law-ocils/?cc=de&lang=en& (23.03.2018) er­ gibt sich, dass selbst für spezielle Teilrechtsgebiete aus dem Völkervertragsrecht Kommentierungen vorliegen. 1120  Hilf, Verträge (1973), S. 151. 1121  In der Regel wird man auch nicht mit einer Online-Recherche bei Google Books entscheidend weiterkommen, da hier häufig nur eine Vorschau (Leseprobe) der Werke vorhanden ist. Dies exemplifiziert etwa die Kommentierung von Corten/Klein zur Wiener Vertragsrechtskonvention, bei welcher nur ein geringer Teil der Kommen­ tierung eingesehen werden kann. Von der Kommentierung zur UN-Charta von Simma/ Khan/Nolte/Paulus gibt es sogar gar keine Vorschau. 1122  Der Online-Katalog der Bibliothek des BGH weist etwa die Kommentierung zur Wiener Vertragsrechtskonvention von Dörr/Schmalenbach und die Kommentie­ rung zur Charta der Vereinten Nationen von Simma/Khan/Nolte/Paulus auf. Die Bib­ liothek des Bundesverfassungsgerichts weist ausweislich des Webauftritts mit ca. 640000 nachgewiesenen Titeln den größten Online-Katalog im deutschsprachigen Raum auf (http://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Das-Gericht/Bibliothek/bib­ liothek_node.html) (23.03.2018).

296 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

II. Mögliche Lösungsansätze zur Bewältigung linguistischer Herausforderungen bei der Auslegung ­fremdsprachiger authentischer Vertragstexte Indem der parlamentarische Gesetzgeber den Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention durch das Zustimmungsgesetz vom 03.08.1985 zugestimmt hat, stellt er den innerstaatlichen Rechtsanwender vor schwierige praktische Herausforderungen. Da der innerstaatliche Richter nach Art. 20 Abs. 3 GG an Recht und Gesetz gebunden ist, muss er sich an die Vorschrift des Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK halten und darf die Heranzie­ hung eines fremsprachigen authentischen Vertragstextes nicht deshalb ableh­ nen, weil er diesen wegen fehlender Fremdsprachenkenntnisse nicht versteht. Es muss jedoch realistischerweise anerkannt werden, dass die Auslegung ei­ nes fremdsprachigen authentischen Vertragstextes nur dann gelingen kann, wenn der innerstaatliche Richter entsprechende Fremdsprachenkenntnisse hat. Damit kann nicht geleugnet werden, dass es Situationen geben kann, in denen Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK dem innerstaatlichen Richter mehr abver­ langt als dieser leisten kann. Demnach ist es erforderlich, Lösungswege für die innerstaatliche Rechtspraxis zu entwickeln bzw. zuzulassen, um den mit der Anwendung von Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK einhergehenden linguisti­ schen Herausforderungen gerecht werden zu können. 1. Die Bedeutung der Verwendung von Wörterbüchern Als naheliegender möglicher Lösungsansatz zur Überwindung linguisti­ scher Herausforderungen bei der Auslegung fremdsprachiger authentischer Vertragstexte kommt zunächst die Verwendung eines Wörterbuches in Be­ tracht.1123 Das methodische Fundament für diese Vorgehensweise ist die in Art. 31 Abs. 1 WVK vorgesehene grammatische Auslegung. Für die Ermitt­ lung des „ordinary meaning“ eines Vertragsbegriffes wird in aller Regel schon ein gewöhnliches – d. h. nicht ein fachspezifisches – Wörterbuch wichtige Anhaltspunkte liefern. Hierbei kann bereits vielfach auf frei verfügbare Ange­ bote im Internet zurückgegriffen werden: So bietet allein das Online-Wörter­ buch von Pons1124 die Möglichkeit, Übersetzungen aus dem Deutschen in 20 verschiedene Sprachen zu recherchieren und umgekehrt. Mit dem OnlineWörterbuch von Pons wäre es mithin denkbar, fremdsprachige Vertragsbe­ 1123  Dieser Lösungsansatz ist indes kein Novum, er wird im neueren völkerrecht­ lichen Schrifttum zu dieser Frage – wenn auch nur kursorisch – vorgeschlagen, vgl. Colzani, Trattari internationali (2014), S. 176; befürwortende Tendenz auch bei Mattila, Comparative legal linguistics (2013), S. 23. 1124  Zum Webauftritt siehe https://de.pons.com/ (23.03.2018). Eine weitere nen­ nenswerte Möglichkeit ist die Seite www.dict.cc (23.03.2018).



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 297

griffe in Englisch, Französisch, Spanisch oder Russisch in die deutsche Sprache übersetzen zu lassen und diese dann informell anhand der für die Auslegung unverbindlichen amtlichen Übersetzung zu vergleichen. Mit dieser Vorgehensweise kann der gedankliche Verstehensprozess beim Rechtsanwen­ der maßgeblich vorangetrieben werden, selbst wenn anfangs aufgrund nicht ausreichender Fremdsprachenkenntnisse keine konkrete Vorstellung von der sprachlichen Bedeutung eines fremdsprachigen Vertragsbegriffes vorlag. Die Klärung der Bedeutung eines fremdsprachigen Vertragsbegriffes er­ schöpft sich indes nicht nur in der Verwendung eines gewöhnlichen Wörter­ buches. Für die Ermittlung des Wortsinns englischsprachiger Vertragsbegriffe können und sollten Fachwörterbücher wie etwa das Black’s Law Dictio­ nary1125 oder das Merriam-Webster Law Dictionary1126 weiterführend ver­ wendet werden. Letzeres enthält Definitionen von über 10.000 englischspra­ chigen juristischen Fachbegriffen, welche die Vorstellung des Rechtsanwen­ ders von der gewöhnlichen Bedeutung eines englischsprachigen Vertragsbe­ griffes weiter schärfen können. Das Gleiche gilt für andere Fremdsprachen wie etwa die französische und die spanische Sprache, bei französischsprachi­ gen Vertragsbegriffen käme etwa das Wörterbuch Recht & Wirtschaft von Doucet/Fleck1127 und bei spanischen Vertragsbegriffen das Rechtswörterbuch Deutsch-Spanisch/Spanisch-Deutsch von Köbler1128 in Betracht, um nur ei­ nige weitere Beispiele zu nennen. Dieser Lösungsansatz, mithilfe von Wörterbüchern die linguistischen Her­ ausforderungen bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge in den Griff zu bekommen, erscheint nur auf den ersten Blick ungewöhnlich und ist der neueren Gerichtspraxis nicht fremd. So zeigt die Entscheidung des Finanzgerichts Niedersachsen vom 18.10.2013 eindrucksvoll, wie sich das Gericht die Bedeutung der Vertragsbegriffe im authentischen englischen und französischen Vertragstext mithilfe von Fachwörterbüchern erschloss und sich gerade nicht auf die deutsche Übersetzung des Vertragstextes stütz­ te.1129 Die Entscheidung des Finanzgerichts verdeutlicht auch, dass dies nicht nur eine Vorgehensweise ist, die aufgrund ihrer Aufwendigkeit nur bei Ober­ gerichten oder gar nur internationalen Gerichten in Betracht käme,1130 son­ 1125  Zum

Webauftritt siehe https://thelawdictionary.org/ (23.03.2018). Webauftritt siehe https://www.merriam-webster.com/legal (23.03.2018). 1127  Doucet/Fleck, Wörterbuch Recht & Wirtschaft (2014). 1128  Köbler, Rechtsspanisch (2012). 1129  Niedersächsisches Finanzgericht, U. v. 18.10.2013 – 1 K 196/11 –, juris, Rn. 35 ff. = EFG 2014, 1120 ff.; dieselbe Methodik auch bei BGH, B. v. 13.05.1997 – 5 StR 596/96 –, juris, Rn. 67. 1130  Vgl. etwa EGMR, Marguš v. Croatia [GC], Appl. No. 4455/10, Joint Concur­ ring Opinion of Judges Šikuta, Wojtyczek und Vehabović, Rn. 10; außerdem die oben dargestellte Spruchpraxis des WTO Appellate Body (4. Teil, C. I. 2.). 1126  Zum

298 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

dern auch von den teilweise nicht kollegial besetzten Untergerichten1131 ge­ gangen werden kann und sollte.1132 Der hier vertretene Lösungsansatz verkennt nicht, dass dieser auch an seine Grenzen stoßen kann. So ist es denkbar, dass eventuell bestehende Unschärfen zwischen Sprachbegriffen auch durch den Gebrauch eines Wör­ terbuches nicht vollends erschlossen werden können. Dieser Herausforderung kann indes mit dem richtigen Umgang dieser Wörterbücher begegnet werden;1133 so wäre es etwa verfehlt, sich bei mehreren angegebenen Über­ setzungen unkritisch auf eine bestimmte Bedeutung vorschnell festzulegen. Die Beispiele aus der oben dargestellten neueren Rechtspraxis belegen je­ doch, dass auch ein Nichtmuttersprachler solche begrifflichen Unschärfen – etwa bei speziellem Fachvokabular – mit entsprechenden Fachwörterbüchern durchaus erschließen und lösen kann. Bei wenig geläufigen Fremdsprachen, insbesondere solchen außerhalb des europäischen Raumes, wird man jedoch anerkennen müssen, dass auch ein Wörterbuch für die Ermittlung des „ordi­ nary meaning“ eines fremdsprachigen Vertragsbegriffes kaum noch weiter­ helfen kann. Für solche Fälle wird der innerstaatliche Richter auf die Hilfe eines sachkundigen Dritten angewiesen sein, um den normativen Auftrag von Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK erfüllen zu können. 2. Die Frage der analogen Anwendung von § 293 ZPO Wenn der innerstaatliche Richter selbst mit Hilfsmitteln zur Ermittlung der gewöhnlichen Bedeutung eines fremdsprachigen Vertragsbegriffes nicht mehr weiterkommt, wird man, um den normativen Auftrag von Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK erfüllen zu können, dem Richter prozessuale Reaktionsmög­ lichkeiten geben müssen. Rudolf geht hier ohne eine nähere prozessrechtliche Konturierung davon aus, dass der Richter externe Hilfe in Anspruch nehmen müsse.1134 Das Problem, welches sich in diesem Zusammenhang stellt, ist das Fehlen direkt anwendbarer Vorschriften in den Prozessordnungen, um linguistische Herausforderungen bei der Auslegung fremdsprachiger authen­ tischer Vertragstexte meistern zu können. Als einzig überhaupt denkbare Vorschrift, welche dem innerstaatlichen Richter ermöglichen könnte, externe diesem Aspekt vgl. auch Hilf, Verträge (1973), S. 150. auch Hilf, Verträge (1973), S. 165, der die Gerichte in der Anwendung fremdsprachiger Vertragstexte nicht vor einer vom Gesetzgeber aufgetragenen außer­ gewöhnlichen Aufgabe sieht. 1133  Zu einer generellen positiven Grundeinschätzung im Zusammenhang mit der Verwendung von Wörterbüchern zur Begriffserschließung fremdsprachiger juristi­ scher Fachbegriffe siehe auch Pike, Legal Lexis (2018), S. 237 f. 1134  Rudolf, Diplomatiesprache (1972), S. 87. 1131  Zu

1132  Vgl.



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 299

Hilfe bei der Auslegung fremdsprachiger Vertragstexte in Anspruch zu neh­ men, käme die Regelung zum Beweis fremden Rechts nach § 293 ZPO in Betracht. § 293 S. 1 ZPO bezieht sich ausweislich seines Wortlautes nur auf das in anderen Staaten geltende Recht, das Gewohnheitsrecht und die Statu­ ten, sodass eine direkte Anwendung dieser Vorschrift ausscheidet.1135 Nichts­ destotrotz ist eine analoge Anwendung dieser Vorschrift von Hilf auf die Problematik der Fremdsprachenkompetenz bei der Auslegung mehrsprachi­ ger völkerrechtlicher Verträge diskutiert worden. Letztendlich verneinte Hilf jedoch die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung von § 293 ZPO mit zwei Argumentionssträngen: Einerseits sei davon auszugehen, dass der An­ wendungsbereich von § 293 ZPO, der durch das Prinzip der Parteiverfügung charakterisiert sei, auf das Zivilrecht beschränkt sei und daher in den anderen Gerichtszweigen von Amts wegen alle anwendbaren Vorschriften zu erfor­ schen seien, des Weiteren sprächen gegen eine Analogie die fehlende Plan­ widrigkeit der Regelungslücke, da sich der Gesetzgeber bewusst und ab­ schließend für die in § 293 S. 1 ZPO normierten Fälle entschieden habe.1136 Obgleich diese Auffassung von validen Argumenten getragen wird, sollte diese im Lichte des Zustimmungsgesetzes vom 03.08.1985 zur Wiener Ver­ tragsrechtskonvention überdacht werden, da ansonsten Fälle denkbar sind, in welchen der innerstaatliche Richter den normativen Auftrag von Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK nicht mehr erfüllen kann. Schwächer erscheint zunächst das Argument von Hilf, dass § 293 ZPO in seinem Anwendungsbereich von vornherein auf das Zivilrecht beschränkt ist. Da es in den anderen Prozessordnungen Verweisungsnormen auf die Zivil­ prozessordnung gibt, ist der Anwendungsbereich von § 293 ZPO nicht per se auf das Zivilrecht limitiert, sofern nicht ein grundsätzlicher Unterschied in den Verfahrensarten die entsprechende Anwendung ausschließt.1137 Da sich auch in der öffentlichrechtlichen Gerichtspraxis die Frage der Anwendbarkeit fremden Rechts in diversen Fällen gestellt hat, ist es nicht ersichtlich, wes­ halb es etwa einem Verwaltungsgericht bei einer öffentlichrechtlichen Streit­ sache verwehrt sein soll, über die Verweisungsnorm in der entsprechenden Prozessordnung auf die Vorschrift des § 293 ZPO zurückzugreifen;1138 der 1135  Nach herrschender Auffassung wird das Völkervertragsrecht von § 293 ZPO nicht erfasst, siehe etwa BVerfG, B. v. 08.11.2006 – 2 BvR 194/05, Rn. 23; BeckOKZPO/Bacher (Stand 15.09.2018), § 293, Rn. 9; MünchKommZPO/Prütting, § 293, Rn. 10. 1136  Hilf, Verträge (1973), S. 149, 157 ff. 1137  Vgl. etwa § 173 S. 1 VwGO, § 202 S. 1 SGG, § 155 S. 1 FGO. 1138  In der Gerichtspraxis wird die entsprechende Anwendbarkeit von § 293 ZPO über die Verweisungsnormen einhellig bejaht, etwa BVerwG, B. v. 20.03.1989 – 1 B 43/89, Rn. 6; BSG, U. v. 24.05.2007 – B 1 KR 18/06 R, Rn. 39; BFH, U. v. 19.12.2007 – I R 46/07, Rn. 15; alle nach juris.

300 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

Amtsermittlungsgrundsatz steht der Anwendung von § 293 ZPO also gerade nicht entgegen.1139 Eine gewichtige Argumentation ist indes der Einwand der fehlenden Plan­ widrigkeit der Regelungslücke in § 293 ZPO. Das tragende Argument ist hier, dass die in § 293 S. 1 ZPO genannten Fallgruppen eine Ausnahme vom Grundsatz iura novit curia vorsehen,1140 woraus geschlussfolgert wird, dass das innerstaatliche Recht in Abgrenzung zu den genannten Fallgruppen in § 293 S. 1 ZPO vollumfänglich der richterlichen Rechtskenntnis unterfällt und deshalb einen Beweis über die innerstaatliche Rechtslage ausschließt.1141 Folgt man der Transformationslehre, sind ratifizierte völkerrechtliche Ver­ träge in ihrer Geltung wie innerstaatliches Gesetzesrecht zu behandeln, von dessen Kenntnis der Gesetzgeber nicht entbinden wollte.1142 Nach diesem Verständnis ist die Verneinung der Planwidrigkeit der Regelungslücke in § 293 ZPO in Bezug auf das Völkervertragsrecht konsequent. Dieser Auffas­ sung kann und sollte jedoch mit einer Reihe möglicher Argumentations­ stränge begegnet werden, welche vor allem mit den praktischen Besonder­ heiten bei der Auslegung fremdsprachiger authentischer Vertragstexte zusam­ menhängen. Gegen das Argument der Planwidrigkeit der Regelungslücke kann einer­ seits eingewandt werden, dass sich der historische Gesetzgeber keine Gedan­ ken über die dogmatischen Fragen der Einbeziehung von Völkervertragsrecht in das innerstaatliche Recht gemacht haben dürfte.1143 Die Betrachtung der innerstaatlichen Geltung von Völkervertragsrecht als innerstaatliches Geset­ zesrecht ist die Folge einer wissenschaftlichen Lehre, welche sich erst Jahr­ 1139  Vgl.

auch MünchKommZPO/Prütting, § 293, Rn. 12. § 293, Rn. 3. 1141  MünchKommZPO/Prütting, § 293, Rn. 5, 10. 1142  Dies bekräftigt auch nochmals Hilf, Verträge (1973), S. 158. 1143  Aus der Begründung des Entwurfs zur Civilprozeßordnung von 1877 findet man beim Entwurf zu § 255 (in der Fassung der Bekanntmachung § 265) lediglich die Anmerkung, dass der Richter die im eigenen Staat geltenden „mehreren Rechte“ zu kennen habe, ausgenommen seien Gewohnheitsrecht und die statutarischen Rechte (vgl. Hahn, Materialien [1880], S. 279 f.). Aus zeitgenössischer Kommentarliteratur geht indes präzisierend hervor, dass es sich bei dem zu kennenden Recht um inner­ staatlich geltendes Gesetzesrecht handelt (vgl. Seuffert, Kommentar zur Civilprozeß­ ordnung [1893], § 265, Rn. 1, der von der territorialen Geltung von Gesetzesrecht schreibt). Die Gesetzesbegründung enthält jedoch keine Ausführungen zur innerstaat­ lichen Geltung völkervertraglicher Rechtssätze. Aus diesem Schweigen kann deshalb nicht geschlossen werden, dass der historische Gesetzgeber das Völkervertragsrecht bewusst aus dem Anwendungsbereich des § 265 ausnehmen wollte; die gegenteilige Annahme ergibt nur Sinn, wenn man dem historischen Gesetzgeber unterstellt, dass ihm bei der Redaktion der Entwurfsvorschrift des § 255 die Transformationslehre präsent war. 1140  MünchKommZPO/Prütting,



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 301

zehnte nach dem Inkrafttreten der Regelungen der Zivilprozessordnung ent­ wickelte und welche im Lichte der gegensätzlichen Vollzugslehre keineswegs als absolut betrachtet werden kann. Zweifelhaft würde es ebenso anmuten, mit Art. 59 Abs. 2 GG begründen zu wollen, dass § 293 ZPO die Kenntnis des Völkerrechts voraussetze, da man so unterstellen würde, dass der histori­ sche Gesetzgeber der Zivilprozessordnung die verfassungsrechtliche Rechts­ lage hinsichtlich der Einbeziehung völkerrechtlicher Verträge der Bundesre­ publik Deutschland vorausgesehen habe. Noch unwahrscheinlicher erscheint es, dass sich der historische Gesetzgeber Gedanken über die besonderen rechtspraktischen Implikationen der Mehrsprachigkeit im Lichte der Vor­ schriften des Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK gemacht hat. Bei der Thematik der Mehrsprachigkeit wird man im Übrigen das Ver­ ständnis des Grundsatzes iura novit curia in Bezug auf das Völkervertrags­ recht generell neu denken müssen: Da die Kenntnis der betreffenden Fremdsprache(n) ein konditionales Kriterium für die rechtliche Kenntnis im Sinne des Grundsatzes iura novit curia ist,1144 kann eine pauschale positive Sachkunde des Gerichts hinsichtlich des Inhalts völkervertraglicher Rechts­ normen nicht ohne Weiteres unterstellt werden.1145 Die analoge Anwendung von § 293 ZPO auf die Auslegung mehrsprachiger Verträge an der Vorausset­ zung der Planwidrigkeit der Regelungslücke scheitern zu lassen vermag nach der hier vertretenen Auffassung deshalb im Ergebnis nicht durchzugreifen. Für die Analogie spricht schließlich auch die vergleichbare Lage des inner­ staatlichen Richters, wenn er mit einem der genannten Fälle in § 293 S. 1 ZPO konfrontiert ist: So wie die Heranziehung eines fremdsprachigen aus­ ländischen Gesetzes – etwa aufgrund Vorschriften des internationalen Privat­ rechts – den Richter vor erhebliche linguistische Herausforderungen stellt, gilt nichts anderes für die Auslegung fremdsprachiger authentischer Vertrags­ Mattila, Comparative legal linguistics (2013), S. 21 f. zur Rechtskenntnis des Richters auch BVerwG, B. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98 –, juris, Rn. 4: In diesem Fall hat das BVerwG entschieden, dass es nicht ver­ fahrensfehlerhaft sei und gegen § 293 ZPO verstoßen würde, wenn sich das VG bzw. OVG bei der Frage der Rechtmäßigkeit der Bewertungen von Prüfungsleistungen im Zweiten Juristischen Staatsexamen ein Sachverständigengutachten mit der Begrün­ dung einholt, dass das Gericht mit einzelnen Rechtsgebieten, in denen Prüfungsleis­ tung erbracht worden sind, nicht hinreichend vertraut sei. Für ein nicht hinreichendes Vertrautsein des Gerichts in einem bestimmten Rechtsgebiet müssen jedoch im Ein­ zelfall Besonderheiten vorliegen, die ausnahmsweise die Hinzuziehung von Sachver­ ständigen durch das allein zur Rechtskontrolle berufene Gericht gebieten können (Rn. 7). Die Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung erscheint insofern möglich, als dass der in Bezug genomme Rechtssatz in Rn. 7 der Entscheidung der Sache nach auch bei der Thematik der Mehrsprachigkeit bei der Auslegung völkerrechtlicher Ver­ träge zutrifft; die linguistischen Herausforderungen bei der Auslegung eines fremd­ sprachigen Vertragstextes dürften eine solche Besonderheit darstellen, die die Heran­ ziehung eines Sachverständigen rechtfertigen können. 1144  Vgl. 1145  Vgl.

302 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

texte eines mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrages, welcher aus der Perspektive des innerstaatlichen Richters seinen Ursprung ebenfalls außer­ halb der nationalen Rechtsordnung hat. Die analoge Anwendung von § 293 ZPO auf mehrsprachige völkerrechtli­ che Verträge kommt im Hinblick auf die praktischen Besonderheiten bei de­ ren Auslegung auch keiner Beweisaufnahme über die materielle innerstaatli­ che Rechtslage in dem Sinne gleich, als dass die Auslegung des Inhalts eines fremdsprachigen Vertragstextes an einen Sachverständigen ausgelagert wä­ re.1146 Sieht man die analoge Anwendung von § 293 ZPO – im Gegensatz zu Hilf1147  – als zulässige Verfahrenserleichterung an, kann es allenfalls darum gehen, dass bei einem authentischen Vertragstext in einer wenig geläufigen Fremdsprache der innerstaatliche Richter äußerstenfalls die Hilfe einer sach­ verständigen Person bei der Ermittlung des „ordinary meaning“ i. S. v. Art. 31 Abs. 1 WVK in Anspruch nimmt.1148 Dies kann erforderlich sein, wenn sich der Sachvortrag eines Verfahrensbeteiligten auf einen fremdsprachigen Ver­ tragstext bezieht, dessen Sprache der Richter nicht mächtig ist; mit der Hilfe eines Sachverständigen wird der Richter dann in die Lage versetzt, diesen Sachvortrag ausgehend von der sprachlichen Bedeutung des Vertragstextes zu prüfen und im Sinne des rechtlichen Gehörs in Erwägung zu ziehen. Die übrigen in den Auslegungsvorschriften der Wiener Vertragsrechtskonvention enthaltenen Auslegungsmethoden würden hiervon unberührt bleiben, da es in einem solchen Fall zwingend dem Richter vorbehalten sein muss, die Ver­ tragsvorschrift nach Sinn und Zweck sowie deren Systematik auszulegen, sobald er deren sprachliche Bedeutung verstanden hat. Letztendlich würde also eine analoge Anwendung von § 293 ZPO auf die Auslegung mehrspra­ chiger völkerrechtlicher Verträge nicht auf eine unzulässige Beweisaufnahme über die materielle Rechtslage hinauslaufen, weil es um die Beweisaufnahme 1146  Zum Verbot einer Beweisaufnahme über die Rechtslage MünchKommZPO/ Prütting, § 293, Rn. 5. Die in BVerwG, B. v. 21.07.1998 – 6 B 44/98 –, juris, Rn. 7, bekräftigte Rechtsfindung durch das Gericht wird durch die Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Klärung der sprachlichen Bedeutung eines fremdsprachigen Vertragsbegriffes nicht angetastet. 1147  Hilf, Verträge (1973), S. 149. 1148  Gleichwohl ist es denkbar, dass der Richter die „ordinary meaning“ eines fremdsprachigen Vertragsbegriffes i. S. d. iura novit curia kennt, etwa weil er sich intern mit Kammerkollegen oder wissenschaftlichen Mitarbeitern ausgetauscht hat. Dass dies eine grundsätzliche Möglichkeit ist, zeigt der Fall des SG Frankfurt, U. v. 01.03.2017 – S 29 R 530/16 –, juris, Rn. 38, in welchem der Kammervorsitzende Kenntnisse in der polnischen Rechtssprache vorweisen konnte. Besteht eine solche Möglichkeit, wird die Notwendigkeit der Beauftragung eines Sachverständigen zur Klärung der sprachlichen Bedeutung eines Vertragsbegriffes nicht erforderlich sein. Allgemein zum Grundsatz iura novit curia als gerichtsinternem Vorgang der Kennt­ niserlangung MünchKommZPO/Prütting, § 293, Rn. 4.



B. Die Heranziehung fremdsprachiger Vertragstexte 303

der sprachlichen Bedeutung eines Vertragsbegriffes im Sinne der allgemeinen Hermeneutik ginge und gerade nicht um eine abschließende Auslagerung der Vertragsauslegung durch das Gericht. Schlussendlich liegt mit dieser Verfah­ renserleichterung also ein prozessrechtliches Fundament vor, in welchem der innerstaatliche Richter, um die Worte von Rudolf zu wählen, „die Hilfe eines sachkundigen Philologen in Anspruch nehmen [kann]“.1149

III. Zusammenfassung der Erkenntnisse zur Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass das Zustimmungsge­ setz zur Wiener Vertragsrechtskonvention weitreichende rechtliche und rechts­ praktische Auswirkungen hatte. Da mit dem Zustimmungsgesetz die Vor­ schrift des Art. 33 WVK innerstaatlich verbindlich ist – unabhängig davon, ob man der Transformations- oder Vollzugslehre folgt –, muss der innerstaat­ liche Richter einen mehrsprachigen völkerrechtlichen Vertrag gem. Art. 33 Abs. 1 WVK nach seinen authentischen Vertragstexten auslegen. Auf die amtliche Übersetzung darf er die Auslegung gem. Art. 33 Abs. 2 WVK grundsätzlich nicht stützen, lediglich eine informelle Konsultation, etwa um sich bei nicht ausreichenden Fremdsprachenkenntnissen die Bedeutung eines Vertragsbegriffes in den authentischen Texten zu erschließen, ist ihm nach Art. 33 Abs. 2 WVK nicht verwehrt. Bestätigt wird diese Einschätzung auch anhand des historischen Vergleichs der Gerichtspraxis: Während in der Zeit vor dem Zustimmungsgesetz zur Wiener Vertragsrechtskonvention völker­ rechtliche Verträge überwiegend nach deren amtlicher deutscher Übersetzung ausgelegt wurden,1150 wird in der neueren Gerichtspraxis zunehmend auf die authentischen fremdsprachigen Vertragstexte abgestellt. Da der innerstaatlich verbindliche Vertragstext anhand Art. 33 Abs. 1 WVK zu ermitteln ist, können sich jedoch weitreichende rechtspraktische Implikationen ergeben, die mit der Frage der Fremdsprachenkompetenz des innerstaatlichen Richters zusammenhängen. Mit dem Zustimmungsgesetz zur Wiener Vertragsrechtskonvention entsteht jedoch der Eindruck, dass der par­ lamentarische Gesetzgeber es in Kauf genommen hat, dem innerstaatlichen Richter bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge erhebli­ che linguistische Lasten aufzubürden. Diesen kann und soll der Richter zu­ nächst anhand der Konsultation eines (Fach)-Wörterbuchs begegnen, äußers­ tenfalls kann er analog § 293 ZPO – entgegen der Auffassung von Hilf – auf 1149  Rudolf, 1150  Hilf,

Diplomatiesprache (1972), S. 87. Verträge (1973), S. 200.

304 5. Teil: Auslegung völkerrechtlicher Verträge auf innerstaatlicher Ebene

sachverständige Hilfe zurückgreifen. Unabhängig von den rechtlichen Fragen um die Voraussetzungen der analogen Anwendung dieser Vorschrift auf mehrsprachige völkerrechtliche Verträge – die nach der hier vertretenen Auf­ fassung vorliegen – sollte hierbei die Erwägung mitbedacht werden, dass es wegen der tatsächlichen Realisierung des Auslegungsmaßstabs des Art. 33 Abs. 1 WVK angezeigt ist, das tatsächlich Leistbare seitens des innerstaatli­ chen Richters zu würdigen.1151

1151  Anders jedoch offenbar Hilf, Verträge (1973), S. 165, der annimmt, dass der Gesetzgeber die Gerichte durch die Anwendung fremdsprachiger Vertragstexte nicht vor eine außergewöhnliche Aufgabe stellt.

6. Teil

Schlussteil und Ausblick: Das Spannungsfeld von Jurisprudenz und Fremdsprachenkompetenz Die Thematik der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge führt bildhaft vor Augen, wie die Auslegung von Rechtstexten und linguisti­ sche Kompetenzen des Rechtsanwenders ineinandergreifen. Letzterer Aspekt kann durch noch so ausgefeilte Auslegungsregeln, die Methodenanweisungen zur Auslegung der mehrsprachigen Vertragstexte geben, nicht ersetzt werden. Da die große Mehrzahl völkerrechtlicher Verträge in mehreren Sprachen ab­ gefasst ist, ist es wahrscheinlich, dass der innerstaatliche Rechtsanwender früher oder später mit linguistischen Herausforderungen konfrontiert wird. Damit stellt sich die Überlegung, dass das tradierte Bild eines Juristen, der lediglich innerstaatliche Rechtstexte in seiner Muttersprache auszulegen hat und deshalb keine Fremdsprachenkompetenz benötige, grundlegend über­ dacht werden muss. Die bereits öfter vorgebrachten internationalen Verflech­ tungen des Rechts gaben bereits Anlass, die Rolle der Fremdsprachenkompe­ tenz des Juristen neu zu denken,1152 jedenfalls aber im Hinblick auf die Thematik der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Verträge ist die Rolle der Fremdsprachenkompetenz als unabdingbare juristische Qualifika­ tion nicht mehr wegzudenken.

A. Neubewertung der Fremdsprachenkompetenz als unabdingbare Qualifikation des Richters Der Aspekt der Fremdsprachenkompetenz als juristische Qualifikation zur Überwindung linguistischer Herausforderungen bei der Rechtsanwendung erfährt von Hilf ein pessimistisches Bild: Die Fremdsprachenkompetenz so­ wie das Verständnis fremder Rechtsordnungen würden in der juristischen Ausbildung kaum vermittelt, obwohl dies von großer Bedeutung sei.1153 Mittlerweile stellt sich die Situation jedoch anders dar, da der parlamentari­ sche Gesetzgeber mit dem Reformgesetz zur Juristenausbildung 2003 die 1152  Etwa 1153  Hilf,

Voßkuhle, RW 3 (2010), 326 (338). Verträge (1973), S. 150.

306

6. Teil: Schlussteil und Ausblick

Fremdsprachenkompetenz als verpflichtenden Teil der universitären Ausbil­ dung geregelt hat. So ist nach § 5a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 DRiG nunmehr explizit vorgeschrieben, dass die Fremdsprachenkompetenz durch den Be­ such einer fremdsprachigen rechtswissenschaftlichen Veranstaltung oder ei­ nes rechtswissenschaftlich ausgerichteten Sprachkurses nachgewiesen werden muss. Auf diese Vorschrift wird außerdem in § 5d Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 DRiG Bezug genommen; hiernach wird klargestellt, dass staatliche und uni­ versitäre Prüfungen auch Fremdsprachenkompetenz berücksichtigen können. Diese Vorschriften haben zur Folge, dass die Fremdsprachenkompetenz nicht nur den Zugang zur ersten juristischen Staatsprüfung bedingt, sondern dass sogar in dieser selbst Fremdsprachenkompetenz abgeprüft werden kann.1154 Diese Vorschriften können im Einzelfall weitreichende Auswirkungen haben: So wird man sich als Student der Rechtswissenschaft selbst mit guten Noten in den Klausuren der Übungen für Fortgeschrittene (vgl. etwa § 24 Abs. 1 BayJAPO) noch ernsthafte Sorgen machen müssen, das Ausbildungsziel zu erreichen, wenn man keine Fremdsprache beherrscht. Die Vorschrift des § 5a Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 DRiG verfolgt damit als subjektive Berufszulas­ sungsschranke das Ziel, dass examinierte Juristen den Bedingungen einer globalisierten juristischen Arbeitswelt gewachsen sind.1155 Die Vorschriften der §§ 5a Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1, 5d Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 DRiG reihen sich in eine im Ansatz sogar weltweite Tendenz ein, Fremdsprachenkompe­ tenz in der Juristenausbildung zu stärken. Vorreiter sind hier vor allem Staa­ ten der Europäischen Union,1156 selbst in den Vereinigten Staaten von Ame­ rika scheint mittlerweile ein Umdenken stattzufinden, Juristen ausschließlich in der englischen Sprache auszubilden.1157 Dieses Umdenken in der Juristenausbildung dürfte dazu beitragen, dass gegenwärtige und künftige Generationen von Juristen den linguistischen He­ rausforderungen bei der Auslegung mehrsprachiger völkerrechtlicher Ver­ träge besser gewachsen sind, als dies noch vor mehreren Jahrzehnten der Fall war. Letztendlich ist die Stärkung der Fremdsprachenkompetenz in der Juris­ tenausbildung auch die logische Konsequenz aus den materiellrechtlichen Anforderungen von Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 WVK: Das konsequente Einhalten dieses Auslegungsmaßstabs in der Rechtspraxis kann nur durchgehalten wer­ den, wenn der Rechtsanwender während seiner juristischen Ausbildung zu­ gleich einschlägige linguistische Kompetenzen vermittelt bekommen hat. Aus diesem Grund sollte der Rechtsanwender als zentraler Akteur der völ­ 1154  Staats,

DRiG (2012), § 5a, Rn. 6. hierzu Läßle, Juristenausbildung (2017), S. 66. 1156  Siehe näher Mattila, Comparative legal linguistics (2013), S. 23 f. 1157  Siehe näher Curran, Penn St. Int’l L. Rev. 23 (2005), 779 (779 f.); Lacey/ Reyes, J. Legal Educ. 31 (1981–1982), 657 ff. 1155  Vgl.



B. Zusammenfassende Thesen307

kerrechtlichen Vertragsauslegung nicht nur als Jurist, sondern auch als Rechtslinguist verstanden werden.1158 Dies mag eine Denkweise sein, welche möglicherweise nicht dem juristischen Weltbild anderer entspricht und die das Bild eines monolingualen Juristen, der sich etwa im allgemeinen Zivil­ recht oder Strafrecht hervorragend auskennt und die ihm vorgelegten Fälle fehlerfrei lösen kann, eher als die Realität ansehen. Die völkerrechtliche Vertragsauslegung ist indes nur ein Aspekt der Internationalisierung des Rechts, die perspektivistisch auch vom innerstaatlichen Richter bei seiner juristischen Arbeit mitbedacht werden sollte,1159 da auch der unterinstanzli­ che Richter jederzeit damit rechnen muss, mit der Auslegung eines mehr­ sprachigen völkerrechtlichen Vertrages befasst zu werden.1160 Die Meisterung linguistischer Herausforderungen bei der Auslegung mehrsprachiger völker­ rechtlicher Verträge ist damit in gewisser Weise auch vom jeweils eingenom­ menen Bild eines qualifizierten Juristen abhängig: Der von Voßkuhle be­ schriebene „juristische Kosmopolit“, der sich offen gegenüber den internati­ onalen Dimensionen des Rechts zeigt und sich diesen nicht verschließt, der Fremdsprachenkompetenz als eine seiner wesentlichen Stärken ansieht,1161 wird auch einem monolingualen Prädikatsjuristen, welcher das Recht aus­ schließlich in nationalen Bahnen denkt, bei der völkerrechtlichen Vertrags­ auslegung stets überlegen sein.

B. Zusammenfassende Thesen 1. In rechtshistorischer Hinsicht können keine völkerrechtlich verbindli­ chen Auslegungsregeln für mehrsprachige völkerrechtliche Verträge festge­ stellt werden, die eine Methodenanweisung zur Auflösung möglicher Textdi­ vergenzen zwischen den Vertragstexten geben. Ausgehend von der histori­ schen Rechtspraxis lassen sich aber grundlegende, völkergewohnheitsrecht­ lich verbindliche Auslegungsmaßstäbe (vgl. Art.  38 Abs.  1 Buchst. b) IGH-Statut) feststellen, welche auf die gleiche Verbindlichkeit der authenti­ schen Vertragstexte und deren vermutete Sinneinheit abzielen. 2.  Mit dem Grundsatz der gleichen Verbindlichkeit der Vertragstexte und deren vermuteten Sinneinheit ist die Bevorzugung eines bestimmten Ver­ tragstextes grundsätzlich nicht zu vereinbaren. Die Annahme der Supre­ matstellung des Urtextes im Sinne der Arbeitssprachenregel ist nur dann zu­ 1158  Vgl. auch folgende Ausführung von Mattila, Comparative legal linguistics (2013), S. 23: „Students will often consist of both linguists as well as lawyers.“ 1159  Vgl. Voßkuhle, RW 3 (2010), 326 (336). 1160  Zur primären Zuständigkeit der Fachgerichte bei der Auslegung völkerrechtli­ cher Verträge BVerfGE 58, 1 (33). 1161  Voßkuhle, RW 3 (2010), 326 (336 ff.).

308

6. Teil: Schlussteil und Ausblick

lässig, wenn der Vertragstext – ggf. im Wege der Auslegung – erkennen lässt, dass die Vertragsparteien bei Zweifeln über die Auslegung der verschie­ densprachigen Vertragstexte den Vorrang der Arbeitssprache beabsichtigt haben. 3. Die Vorschrift des Art. 33 der Wiener Vertragsrechtskonvention stellt sich zum Teil als Abbild der historisch feststellbaren völkergewohnheits­ rechtlichen Rechtssätze dar. Die Auslegungsregel in Art. 33 Abs. 4 WVK ist jedoch weitgehend als progressive Weiterentwicklung des Völkerrechts zu verstehen, die nur im Ansatz Berührungspunkte zur historischen Rechts­praxis erkennen lässt. 4. Der Zeitpunkt des Vergleichs der verschiedensprachigen Vertragstexte wird von Art. 33 WVK offengelassen. Entgegen der noch überwiegenden Auffassung darf die vermutete Sinneinheit nach Art. 33 Abs. 3 WVK nicht als Freibrief für die Nichterforderlichkeit eines Textvergleichs verstanden werden. Der Thematik der Mehrsprachigkeit ist es immanent, dass die Ver­ tragstexte bei der Rechtsanwendung nach Möglichkeit vergleichend herange­ zogen werden sollten, da anderenfalls die Gefahr besteht, dass Textdivergen­ zen übersehen werden. 5.  Art. 33 WVK kann als praktikable Kompromisslösung verstanden wer­ den, welche den Rechtsanwender nach wie vor als zentralen Akteur der Vertragsauslegung begreift. Eine Kodifikation, die alle dogmatischen Prob­ leme bei mehrsprachigen Verträgen erfasst und löst, ist nicht möglich und auch nicht wünschenswert. 6. Die Auswirkungen der Fragmentierung des Völkerrechts stellen die Brauchbarkeit von Art. 33 WVK als Auslegungsregel für mehrsprachige Ver­ träge in speziellen Teilrechtsgebieten des Völkerrechts nicht in Frage. Das Tatbestandsmerkmal „having regard to the object and purpose“ in Art. 33 Abs. 4 WVK ermöglicht es, auch völkerrechtliche Besonderheiten wie die völkervertragliche Gewährleistung subjektiver Rechtspositionen und deren effektive Durchsetzung zu berücksichtigen. 7. Die Frage des innerstaatlich verbindlichen Vertragstextes ist im Ein­ klang mit geltendem Völkervertragsrecht, d. h. Art. 33 WVK, zu beantworten. Dies hat zur Folge, dass gem. Art. 33 Abs. 1 WVK ein in der Bundesrepublik Deutschland innerstaatlich geltender völkerrechtlicher Vertrag nach seinen authentischen Vertragstexten ausgelegt werden muss, auch wenn diese in ei­ ner fremden Sprache abgefasst sind. 8.  Bei der Auslegung eines fremdsprachigen authentischen Vertragstextes kann im Hinblick auf die Fremdsprachenkompetenz der innerstaatliche Rich­ ter vor schwierige linguistische Herausforderungen oder gar unlösbare Prob­ leme gestellt werden. Abhilfe kann hier zunächst die Konsultation eines



C. Summarizing Theses309

Wörterbuches schaffen, hilfsweise ist dem Richter eine Verfahrenserleichte­ rung analog § 293 ZPO zuzubilligen. 9. Die rechtspraktischen Implikationen der Auslegung mehrsprachiger Ver­ träge erfordern eine Neubewertung der Erforderlichkeit der Fremdsprachen­ kompetenz des innerstaatlichen Richters als juristische Qualifikation. Die Erforderlichkeit einer solchen Neubewertung zeigt sich auch anhand jüngerer gesetzgeberischer Reaktionen in der Juristenausbildung i. S. v. § 5a Abs. 2 Satz 2 und § 5d Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 DRiG.

C. Summarizing Theses 1.  From a historico-legal point of view, no legally binding rules of inter­ national law concerning the interpretation of plurilingual treaties are ascer­ tainable, which would provide the legal practitioner with a methodological instruction to solve textual divergences between the authentic language texts. However, fundamental customary standards of interpretation based upon historical legal practice can be ascertained, which aim at the equality of the different authentic language texts and the presumption of their unity of meaning. 2. The fundamental principle of equality of the different authentic lan­ guage texts and their presumed unity of meaning principally excludes the supremacy of a certain language text. The reliance on the supremacy of the original text – as appropriate by means of interpretation of the treaty text – is only permissible when it is established that in case of doubt, the contracting parties intended the original text to prevail. 3.  Art. 33 of the Vienna Convention of the Law of Treaties is partly a re­ flection of the ascertainable historical customary rules. However, Art. 33 (4) VCLT should be regarded predominantly as a progressive development of international law, which reveals only a rare link to the historico-legal practice. 4.  The specific moment of comparison of the authentic language texts is not disclosed by Art. 33 VCLT. Contrary to the still existing prevailing opin­ ion amongst legal scholars, Art. 33 (3) VCLT should not be considered as a carte blanche not to compare the authentic language texts at all. It is imma­ nent to the subject matter of multilingualism that the authentic language texts should – as far as possible – be compared in order to exclude the likeliness of missing textual divergences. 5. Art. 33 VCLT qualifies as a feasible practical solution, which still rec­ ognizes the legal practitioner as the central protagonist of treaty interpreta­ tion. A codification aiming at the solution of all dogmatic problems concern­ ing the interpretation of plurilingual treaties is neither possible nor desirable.

310

6. Teil: Schlussteil und Ausblick

6.  The implications of fragmentation of international law do not question the feasibility of Art. 33 VCLT with regard to specific subregimes of interna­ tional law. The element „having regard to the object and purpose“ in Art. 33 (4) VCLT enables the consideration of international law specifics such as the stipulation of individual rights and their effective realization. 7.  The issue of the authoritative internal treaty text is to be treated in ac­ cordance with applicable treaty law, in particular Art. 33 VCLT. As a conse­ quence, a treaty ratified by the Federal Republic of Germany has to be inter­ preted subject to the authentic texts pursuant to Art. 33 (1) VCLT, even if they are drafted in a foreign language. 8. Depending on foreign language competence, the domestic judge may face serious linguistic challenges or insoluble problems when interpreting a treaty drafted in a foreign language. These problems can be remedied by first consulting a dictionary and, in the alternative, by procedural simplifications, in particular an analogous application of Sec. 293 of the Civil Procedure Code (Zivilprozessordnung). 9.  The practical implications concerning the interpretation of plurilingual treaties require a reassessment of the domestic judge’s foreign language com­ petence as a basic legal qualification. The necessity of such a reassessment is underlined by recent legislative reactions concerning legal education such as Sec. 5a Para. 2 and Sec. 5d Para. 1 of the German Judges’ law (Deutsches Richtergesetz).

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Stichwortverzeichnis ad absurdum-Argument  47, 131 f., 155 ad referendum, Unterzeichnung  35 f., 42 Adams-Onís-Vertrag  31, 69 ff., 155, 162, 164, 232 Allgemeine Rechtsgrundsätze  119 ff., 149 Allgemeine Regeln des Völkerrechts  286 Arbeitssprachenregel  97 ff., 133 f., 153, 174 ff., 192 ff., 215 f., 220, 242 ff., 286 ff. Assoziation, gedankliche  214, 238 Ausarbeitung  siehe Vertrag, völker­ rechtlicher Ausbildung, juristische  305 ff. Ausführungsgesetzgebung  283 Ausgewogenheitsregel  147 ff. Auslegung –– contra proferentem  182 f. –– dynamische  26 ff., 254, 256, 258  ff. –– grammatische  47, 145 f., 173 f., 227, 241, 273, 296 –– harmonisierende  29, 101 f., 132, 136 ff., 190, 203 f., 244, 256 –– historisch-genetische  99, 120, 190 f., 226 f. –– in favorem  257 –– Kontext  167 ff. –– Maßstab  200, 210, 222, 285, 306 –– progressiv-harmonisierende  269 –– restriktive  101 ff., 131 f., 138, 141 ff., 181, 204, 254, 257 –– teleologische  109, 145 f., 179, 219, 227, 239, 241, 264, 269, 277 Auslieferung  86, 129, 165 ff., 257, 260, 264

Authentifizierung  35 f., 45, 51, 87, 199 f., 222 Authentizität, Vertragstexte  51 ff., 75 f., 84, 200 Bedeutungsänderung  166 f., 265 Bedeutungsunterschied  siehe Diver­ genz Begriffsableitung  47 Bereitschaft, Anwendung fremdsprachi­ ger Vertragstexte  24 f., 56 ff., 62, 163 Besiegelung  43, 66, 87 ff. Bezugsregel  183 ff. BIT  274 ff. Black’s Law Dictionary  297 Chicagoer Luftfahrtübereinkommen  122, 246 f. Common-Law-System  49 f., 73, 116 ff. Contractual Treaty  39 Diplomatiesprachen  31 ff. Diplomatische Verhandlungen  32, 40 ff., 62, 68, 79 Dissens  139, 142, 153, 156, 187, 238 Divergenz, Einordnung bei Vertragstex­ ten  30 ff., 40 ff., 50 ff. Effektivitätsgrundsatz  47, 143, 147, 253 ff., 261 ff., 271 f., 277 Einheitsregel  152 ff., 178, 191 ff., 202 ff., 211 ff., 224 Einklangregel  180 Einzelfallmethodik  254 Einzelrichter  siehe Untergerichte Enger-weiter-Verhältnis  127, 132, 136 ff., 143, 177 siehe auch Gemeinsamer-NennerRegel

Stichwortverzeichnis325 Englische Sprache  34 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)  54, 143, 147, 260 ff., 291 Europäische Union –– Amtssprachen  44, 194 –– Sekundärrechtstexte, Gleichwertigkeit  194 Fachbegriffe  39, 297 f. Fachgerichtsbarkeit  283, 288 ff., 307 Fachliteratur, fremdsprachige  siehe Oxford Commentaries on Internatio­ nal Law Fair and equitable Treatment  275 Flegenheimer-Fall  53, 141, 144 Fragmentierung, Völkerrecht des  251 ff. Französische Sprache  32, 80 ff., 89 Fremdsprachenkompetenz  54, 208, 213, 216, 223, 273, 285 f., 291 ff., 299, 305 ff. Gegenseitigkeit  siehe Reziprozität Gehör, rechtliches  232 f., 274, 290 ff. Gemeinsamer-Nenner-Regel  101, 136 ff., 239, 244, 257 Gerichtsbibliothek  295 Gerichtssprache  187 f. Gesetzesauslegung, mehrsprachige  120 Gleichheit, souveräne der Staaten  149 Gleichwertigkeit, authentische Vertrags­ texte  61 ff. Good Faith  47 f., 95, 146, 193, 234 f. Guastani-Fall  114 f., 118 Günstigkeitsregel  181 f. Haager Konferenzen  32 Habeas Corpus  129, 165, 257 Harvard Draft Convention on the Law of Treaties  90 f., 99, 117, 140 Hermeneutik  47, 123, 128, 169, 303 High Court of Justice (UK)  130, 134, 186 f. House of Lords  55 ff., 116 f.

in claris non fit interpretatio  205 f. siehe auch Klarheitsregel Inkorporierung, völkerrechtlicher Vertrag  55 ff. International Law Commission  36, 44, 51 f., 91, 125, 133 ff., 142 ff., 163, 196 ff., 230, 248 Internationale Konferenzen der amerika­ nischen Staaten  93, 138 Internationale Organisation  28, 39, 43 f., 147, 207, 254 ff. Internationaler Gerichtshof –– Kasikili / Sedudu Island  159, 193, 224 –– LaGrand  106 ff., 118, 174 ff., 189, 194, 228 f., 237, 244 f., 288 –– Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua  110 f. –– Right of Passage over Indian Territory  75 f., 84, 92 –– Sovereignty over Pulau Ligitan and Pulau Sipadan  112, 118, 142, 176, 228, 245, 288 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte  265 ff. Interpretationswert  105, 124 ff., 196, 216, 247 iura novit curia  300 ff. Judikate, Stellung im Rechtsquellen­ system  49, 118 Judiz  109 Jus Cogens  206 f. Koexistenz von Auslegungsregeln  118, 126, 202, 243 Kolonialismus  77 Konjektur, mehrdeutige Wörter  131 f. Konsens  41, 122 ff., 126, 135, 173, 188, 201 Klarheitsregel  124 ff., 143, 153, 158 f., 183, 187, 190, 204 f., 209 Landessprachenregel  161, 184 ff., 231 Lateinische Sprache  31, 34, 87

326 Stichwortverzeichnis Lawmaking Treaty  143, 251 Lehrmeinungen, völkerrechtliche  91, 125 lex posterior derogat legi priori  246 lex specialis derogat legi generali  245 f. Lingua franca  32 ff. Living Instrument  259 ff. siehe auch Auslegung, dynamische Mehrheitsregel  188 Methodenanweisung  27, 191, 217, 222 ff., 229, 273 Merriam-Webster-Law Dictionary  297 Muttersprache  30 f., 40, 55, 57, 71, 289, 305 Nachweisbarkeit von Auslegungsregeln  46 ff. Normenverifikationsverfahren  287 f. Oberprisengericht Berlin  68 f. Object and Purpose  29, 146 f., 174, 196, 219 ff., 225 f., 237 ff., 254, 261 ff., 277 siehe auch Auslegung, teleologische opinio juris  siehe Völkergewohnheits­ recht, Voraussetzungen Ordinary Meaning  48, 147, 173, 202, 213, 226 ff., 296, 302 siehe auch Auslegung, grammatische Oxford Commentaries on International Law  295 pacta sunt servanda  95, 191, 193 Parität  siehe Gleichwertigkeitsregel Parteivorbringen, Berücksichtigung von  siehe Gehör, rechtliches Parteiwille  96, 133, 139, 216 Philologe  290, 303 Präsumtion des Urtextes  123 f., 247 Präzedenzfall  siehe stare decisis Progressive Realisierung  265 ff. Progressive Weiterentwicklung des Völkerrechts  206, 244

Qualifikation, juristische  305, 309 Rechtserkenntnisquelle  91, 131 Rechtssicherheit  205, 248, 275 Rechtsstellung des Individuums  130, 147, 152, 167, 262 ff., 274, 277 Reconciliation  112, 141, 216 ff., 225 ff., 230, 237 ff., 244 ff., 256, 263 Regelungsgegenstand  36 Reziprozität  37 f., 146 ff., 201, 258 Richter, innerstaatlicher  289 ff., 296, 301 ff. Ruandatribunal  256 f., 278 Rückwirkende Anwendung (Art. 4 WVK)  36, 63, 108, 111 f., 146, 154, 159, 192, 195 Rules of Procedure of the General Assembly  34, 44 Schnittmenge  59, 136 ff. Self-Executing-Erfordernis  283 Sinngehalt  30, 45, 50 f., 59, 102, 135 ff., 153 Sinnübereinstimmung  41 siehe auch Einheitsregel Souveränität, staatliche  146 f. Sprachfassung  153, 207, 211, 223 Sprachenklausel  52 f., 59, 62, 66 f., 87, 96 Sprachennationalismus  35, 186 Sprachverständnis  23 f., 84 Ständiger Internationaler Gerichtshof –– Gutachten zum Vertrag von Lausanne  102 f. –– Gutachten zur Konvention zur Nachtarbeit von Frauen  100, 103 –– Mavrommatis-Konzessionen-Gutach­ ten  76, 100 ff., 137 ff., 142, 189, 203, 231 stare decisis  118 Subsequent practice (Art. 31 Abs. 3 Buchst. b) WVK)  211, 236

Stichwortverzeichnis327

Übersetzung –– Konsultation  284 –– Stellenwert  30 f., 40 ff., 45, 51, 54 f., 60, 85, 204, 223, 235, 266, 284 f. Übung, allgemeine  siehe Völkerge­ wohnheitsrecht, Voraussetzungen Übung, nachträgliche  siehe subsequent practice Umsetzungsgesetz –– Völkerrechtlicher Vertrag  55 ff., 116 f. –– zur Wiener Vertragsrechtskonvention  238, 281, 283 United Nations Treaty Series  88, 122, 294 United States Statutes At Large  67, 165 Untergerichte  298 Unterzeichnung  35, 42 f., 51, 67 f., 126 Urtext  65 ff., 70 f., 76, 97 ff., 191 f., 244, 287 siehe auch Arbeitssprachenregel

Verbindlichkeit, Vertragstexte  53, 156, 160, 191, 209, 222, 284 ff. Vereinte Nationen –– Charta  30, 39, 197 –– Generalversammlung  44 f. –– Sekretariat  44, 211, 294 –– Sprachenpraxis  34 Vergleich der Vertragstexte –– Notwendigkeit  55, 76, 123, 135, 153 f., 163 ff., 211, 230 –– Zeitpunkt  55, 231 ff. Verhandlungsposition  40, 45 Verkehrssprache  30, 40, 42 Vermittlungssprache  42, 208 Vermutung  siehe Einheitsregel Versailler Vertrag  31 ff., 82f., 87 ff., 93, 113 ff., 125 ff., 133, 187 Verstehensmangel  135 siehe auch Klarheitsregel Verstehensprozess  47, 297 Verträge, völkerrechtliche –– Ausarbeitung  35 ff. –– Bilaterale  40 ff. –– Muster  42 Vertragshaftung  223, 285 Vertragsschlussbestimmung  siehe Sprachenklausel Vertragssprachenpraxis –– europäisch-afrikanische  80 ff. –– europäisch-südasiatische  74 ff. –– interamerikanische  78 ff. Völkergewohnheitsrecht –– Auslegungsregeln, Anwendung von  242 ff. –– regionales  92, 192 –– universelles  92 –– Verhältnis zum Völkervertragsrecht  245 –– Voraussetzungen  63, 158 Vollzugslehre  281

Verantwortlichkeit, völkerrechtliche  223, 284

Wiener Schlussakte  32 Wiener Vertragsrechtskonferenz  218

Suprematstellung  124, 128, 136, 152 f., 158, 162, 180 f., 187 f., 190 f., 204, 215, 242, 256, 307 Supreme Court of the United States of America –– United States v. Arredondo  70 f., 155 ff., 165, 186, 193 –– United States v. Percheman  47, 55, 69 ff., 93 ff., 155 ff., 162 ff., 186, 193, 232 f., 294 Teilrechtsgebiet  siehe Fragmentierung, Völkerrecht des Transformationslehre  281 f. 300, 303 Travaux Préparatoires –– Abgrenzung Urtext  98 –– Heranziehung  56, 64, 96 ff., 104 f., 107, 109, 111, 116 f., 123 f., 175, 212, 215 f., 226, 244 Tribunaux Arbitraux Mixtes  113, 123, 127 f.

328 Stichwortverzeichnis Wiener Vertragsrechtskonvention –– Art. 33 Abs. 1  222 –– Art. 33 Abs. 2  223 –– Art. 33 Abs. 3  224 –– Art. 33 Abs. 4  224 ff. –– Ausarbeitung  196 ff. –– Wert für völkerrechtliche Vertragsaus­ legung  247 ff. Wissenschaftliche Mitarbeiter  302 Wörterbücher, Verwendung von  296 ff.

WTO Appellate Body, Spruchpraxis des  269 ff. Young-Anleihen-Fall  64, 71, 94, 96, 100 ff., 113, 194, 239 ff., 247 Zirkelschluss  56, 135 Zustandsbeschreibung, gedankliche  238 f. Zweikreisfigur  59, 137