Hauptprobleme der Rechtsbeugung: unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Tatbestandes [1 ed.] 9783428450275, 9783428050277

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Hauptprobleme der Rechtsbeugung: unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Tatbestandes [1 ed.]
 9783428450275, 9783428050277

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URSULA SCHMIDT·SPEICHER

Hauptprobleme der Rechtsbeugung

Schriften zum Strafrecht Band 43

Hauptprobleme der Rechtsbeugung unter besonderer Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Tatbestandes

Von

Dr. UrsuIa Schmidt-Speicher

DUNCKER & HUMBLOT

/

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, BerUn 41 Gedruckt 1982 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany

© 1982 Duncker

ISE N 3 428 05027 4

Vorwort Die hier veröffentlichte Arbeit hat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln im Sommersemester 1980 als Dissertation vorgelegen. Zu besonderem Dank bin ich Herrn Professor Dr. Hans Joachim Hirsch verpflichtet; er hat diese Untersuchung angeregt und den Fortgang der Arbeit durch zahlreiche Gespräche unterstützt und gefördert. Eine wertvolle Hilfe war für mich das Promotionsstipendium der Bischöflichen Studienförderung. Dem Cusanuswerk gilt daher mein herzlicher Dank. Der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln danke ich für den großzügigen Druckkostenzuschuß. Dank gebührt auch dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Ministerialrat a. D. Professor Dr. Johannes Broermann, für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Schriften zum Strafrecht". Darmstadt, im Mai 1981

Ursula Schmidt-Speicher

Inhaltsverzeichnis § 1 Einleitung ...................................................... § 2 Die historische Entwicklung der Strafbarkeit richterlichen Fehlver-

11

haltens . . .. . .. . . . .. . .. . . . .. . .. . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. . . .

14

1. Die ältesten Regelungen ....................................

14

1. Das römische Recht ......................................

15

2. Das germanische Recht..................................

16

11. Rechtsbeugung in mittelalterlichen Rechtsbüchern ...........

19

111. Die Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts ........................

20

1. Die Reichsgesetzgebung seit 1532 ......................... a) Die Constitutio Criminalis Carolina .................... b) Die Reichspolizeiordnungen ........................... c) Die Reichskammergerichtsordnungen ..................

20 20 22 23

2. Die gemeinrechtliche Lehre ..............................

25

3. Die Gesetzgebung der Länder ............................ a) Bayern ............................................... b) österreich ............................................ (1) Constitutio Criminalis Theresiana .................. (2) Allgemeines Gesetz über Verbrechen und derselben Bestrafung ......................................... c) Preußen .............................................. (1) Das Preußische Landrecht von 1620 ................ (2) Die Regierungszeit Friedrich Wilhelms I. ........... (3) Die Regierungszeit Friedrichs H. ................... (4) Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 .......................................

27 27 27 28

IV. Das 19. Jahrhundert. . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . .

33

1. Die Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) "Beugung des Rechts aus PartheilichkeU" bei Tittmann b) Das Rechtsbeugungsverbrechen bei Martin ............ c) Die Ansicht Feuerbachs ............................... d) Weitere Vorschläge zur Erfassung des "Verbrechens verletzter Richterpflicht" ................................. e) Zusammenfassende Betrachtung.......................

33 33 34 35

28 28 28 29 30 31

36 38

Inhal tsverzeichnis

8

2. Die Territorialgesetzgebung .............................. a) Strafgesetzbücher ohne Rechtsbeugungstatbestand ..... b) Strafgesetzbücher mit Rechtsbeugungstatbeständen für Kriminalrichter ....................................... c) Strafgesetzbücher mit Rechtsbeugungstatbeständen für Zivil- und Kriminalrichter ............................ (1) Württemberg 1839 ....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Braunschweig 1840 ............. . .. . ................ (3) Hannover 1840 ............................. ....... . (4) Hessen 1841 ........................................ (5) Baden 1845 ..... . .......... ...... ... . . . ....... .. ... (6) Nassau 1849 ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Bayern 1861 ...... . ................................ (8) Preußen 1851 ..... .... .............................

41 42 43 44 45 46 46 47 47

3. Das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund von 1870 und das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 ..................

51

§ 3 Der objektive Tatbestand des § 336 StGB .................. .. ....

54

I. Die Begehungsarten der Rechtsbeugung .....................

54

1. Die Unterteilung in drei wesensverschiedene Alternativen

54

2. Die Rückführung auf falsche Rechtsanwendung ........... a) Sachverhaltsfeststellung als Rechtsanwendung .. . ..... b) Ermessensausübung als Rechtsanwendung .............

54 54 57

3. Ergebnis ............................................... . .

59

II. Der Begriff der Rechtsbeugung ......... . ................... .

59

1. Vorstellung der vertretenen Ansichten ........ . . . . . . . . . . . .

60 60 61 62 63

2. Auseinandersetzung mit den verschiedenen Auffassungen. . a) Auslegung des § 336 StGB vom Wortsinn und Gesetzeswortlaut her .......................................... b) Das Rechtsgut des § 336 StGB ......................... c) Die von den verschiedenen Ansichten erzielten Ergebnisse

63 64 65

3. Ergebnis ................................... ... ..............

81

§ 4 Der Vorsatz der Rechtsbeugung .................................

82

a) b) c) d)

Die Die Die Die

subjektive Rechtsbeugungstheorie ............ ... .. objektive Rechtsbeugungstheorie .................. gemischte Rechtsbeugungstheorie .................. Pflichtverletzungstheorie ..........................

38 39 41

70

I. Die Strafbarkeit des bedingten Rechtsbeugungsvorsatzes .....

82

1. Die durch das EGStGB von 1974 geschaffene Lage ........

82

2. Die Behandlung der Vorsatzproblematik in den Strafgesetzentwürfen ...............................................

83

Inhaltsverzeichnis

9

3. Der Schutz richterlicher Unabhängigkeit als herkömmliche Begründung des Richterprivilegs .........................

86

4. Die Rechtsprechung zur Frage des bedingten Rechtsbeugungsvorsatzes ...........................................

91

5. Die Begründung des Richterprivilegs durch seine Vertreter in der strafrechtlichen Literatur ..........................

96

6. Der Umfang der Strafbarkeit bei Einbeziehung des bedingten Rechtsbeugungsvorsatzes .............................

99

7. Ergebnis ................................... . ... . .........

104

II. Der Vorsatzausschluß .......................................

105

1. Die überwiegende Ansicht .... . ...........................

105

2. Die Ansicht

....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

~aurachs

3. Die Ansicht SpendeIs ....................................

107

4. Die llnsicht Begemanns ..................................

107

5. Unterscheidung zwischen Irrtums- und Überzeugungstätern a) Der überzeugungstäter ............................... b) Der Irrtumstäter .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108 108 110

6. Ergebnis .................................................

112

§ 5 Vberblick über die Strafbarkeit des Rechtsbeugungsverbrecltens in

anderen Rechtsordnungen .......................................

113

I. Rechtsordnungen mit selbständigem Rechtsbeugungstatbestand

113

1. Norwegen

113

2. Dänemark

114

3. Jugoslawien

114

4. Frankreich

115

5. Spanien............ . .......................... . . . . . .... . .

116

II. Rechtsordnungen mit das Rechtsbeugungsverbrechen umfas-

sendem Tatbestand des Amtsmißbrauchs ....................

117

1. England und USll .......................................

117

2. österreich ............ . .. . ............ . ... . ........ . . . ...

117

3. Schweiz ........................ . ........................

118

4. Niederlande

119

5. Italien ...................................................

119

6. Schweden ................................................

120

III. Vergleich der unterschiedlichen Ansätze .....................

120

Inhal tsverzeichnis

10 § 6 Schlußbetrachtung

122

QueIlen- und Literaturverzeichnis ........................ . ..........

123

I. Quellen

123

1. Gesetze und Materialien vor Erlaß des RStGB von 1871 ...

123

2. Strafgesetzentwürfe ......................................

124

3. Strafgesetzbücher anderer Staaten ........................

125

11. Literatur ...................................................

126

Namenverzeichnis .................................. . ................

135

§ 1 Einleitung Wenn Verbrechen der Rechtsbeugung nach § 336 StGB auch selten die Gerichte beschäftigt haben!, so darf hieraus doch nicht geschlossen werden, der Strafbestimmung käme eine nur untergeordnete Rolle zu. Sie ist Ausdruck der dem Staat aus dem Rechtsprechungsmonopol erwachsenden Pflicht, die Bindung der von den anderen Staatsgewalten unabhängigen Richter an das Recht zu gewährleisten. Den Richtern ist eine Stellung anvertraut, die ihnen die Macht gibt, über wichtige Rechtsgüter des Bürgers - beispielsweise Freiheit oder Vermögen - zu entscheiden. Als ein Gegengewicht zu der großen Eingriffsmöglichkeit des Richters in die Sphäre einzelner ist die Strafbestimmung der Rechtsbeugung anzusehen, die den Richter mit Freiheitsstrafe von einem bis zu fünf Jahren bedroht, wenn er seinem hohen Auftrag, seine Tätigkeit ausschließlich in den Dienst des Rechtes zu stellen, untreu wird. Allein in der Existenz des Rechtsbeugungstatbestandes manifestiert sich das Interesse des Staates an einer gerechten Rechtsanwendung, die zu Recht zu den höchsten Gütern eines geordneten Staatswesens gezählt wird. Gerade in den letzten Jahren wird häufig von einer Politisierung der Rechtsprechung, einem modernen Richterbild1 gesprochen. Die Bindung des Richters an das Gesetz wird in Frage gestellt, und der Gedanke, die Rechtsprechung sei nicht allein auf die Anwendung des positiven Rechts beschränkt, sondern könne gegebenenfalls auch selbst Recht setzen, gewinnt zunehmend Anhänger. Der Richter erscheint als "Sozialingenieur" , als "Demokratiemissionar"3, dem die Aufgabe zukommt, als politischer Avantgardist die Reform von Staat und Gesellschaft voranzutreiben. Nur zu leicht finden auf diese Weise spezifische weltanschauliche Wertvorstellungen Eingang in die Judikatur4• Als warnendes Beispiel einer so verstandenen Rechtsprechung sei nur das Urteil des AG Stuttgart zur Frage des Teilzahlungsboykotts bei der Lieferung von 1 In der Amtlichen Sammlung finden sich nur vier Entscheidungen des Reichsgerichts: RGSt. 25, 276; 57, 31; 69,213; 71, 315. Auch der BGH hatte sich bisher nur selten mit Verbrechen nach § 336 StGB zu befassen: BGH MDR 1952, 693; BGH GA 1958, 241; BGHSt.l0, 294; 14, 147; BGH NJW 1960, 253; NJW 1968, 1339; NJW 1971, 571; MDR 1978,626. 2 Vgl. Wassermann, Recht und Politik 1969, S. 88; ders., DRiZ 1970, 79. 3 Die Begriffe finden sich bei Rupp, NJW 1973, 1769 (1770). 4 Hirsch, JR 1966, 334 (338).

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§ 1 Einleitung

Atomstrom genannt5 • Diese im Ergebnis unrichtige und in der Begründung grob fehlerhafte Entscheidung legt die Vermutung nahe, der Amtsrichter habe im konkreten Fall ein bestimmtes politisches Ergebnis erzielen wollen 8• Wenn nun zur Rechtfertigung eines von den Bindungen des Gesetzes losgelösten Richterrechts ausgeführt wird, der Richter müsse, um eine gerechte Einzelfallentscheidung fällen zu können, als Substitut des Gesetzgebers tätig werden, wo die Legislative ihren Obliegenheiten nicht rechtzeitig nachkomme, stellt sich demgegenüber die Frage, ob die Gerichte nicht besser daran täten, eine notwendige Reform in aller Deutlichkeit dem Parlament zur Bearbeitung zuzuweisen8 • Der Schaden einer unbilligen Einzelfallentscheidung ist hier dem Schaden gegenüberzustellen, der durch eine Verlagerung der verfassungsrechtlichen Gewalten entsteht. Zudem muß bedacht-werden, daß in einer pluralistischen Gesellschaft im Rahmen des Wertkonsenses des Grundgesetzes einem jedem Richter das Recht auf seine eigene Ideologie zugestanden werden muß. Hieraus ergibt sich die die Rechtssicherheit gefährdende Konsequenz, daß die Reformen der einzelnen Gerichtsbarkeiten und Richter sich gegenseitig durchkreuzen, wenn jeder Richter für sich das Recht auf Reform beanspruchen kanne. Daß dies dem Wesen der Reform als einem für alle verbindlichen, einheitlichen Konzept zuwiderläuft, liegt auf der Hand. Der unter ständigem Entscheidungszwang stehende Richter hat nicht an Stelle des Gesetzgebers allgemeinverbindliche Richtschnuren zu setzen oder das System des Rechts als solches in Bewegung zu bringen10• Ein weltanschauliches Sendungsbewußtsein der Richterschaft birgt große Gefahren für die Rechtssicherheit und selbst den Bestand des gewaltengeteilten freiheitlichen Rechtsstaat in sich 11 • Für die Frage nach der Strafbarkeit richterlichen Fehlverhaltens ist neben anderem auch entscheidend, inwieweit der Richter sich von den anerkannten Regeln der Rechtsanwendung lösen darf, um seiner überzeugung zu folgen, ohne in den Bannkreis des § 336 StGB zu geraten. 5 AG Stuttgart, Urteil vom 20. 7. 1979 7 C 4632/79 in: NJW 1979, 2047; das AG Stuttgart bejaht ein Zurückbehaltungsrecht des Kunden gegenüber dem Elektrizitätsversorgungsunternehmen. Zum entgegengesetzten Ergebnis kommt das AG Hamburg in seinem Urteil vom 18. 9. 1979 21 b C 920/78 in: NJW 1979, 2315. Vgl. dazu auch Dreher / Tröndle, § 336, Rdn. 6. e Vgl. Lüke, NJW 1979, 2049 (2050). 7 So Haverkate, ZRP 1978, 88 (91). 8 So Hattenhauer, ZRP 1978, 83 (84); Hirsch, JR 1966, 334 (341). 9 Vgl. Hattenhauer, ZRP 1978, 83 (86). 10 Vgl. Rupp, NJW 1973, 1769. 11 Vgl. Rupp, NJW 1973, 1769 (1772).

§ 1 Einleitung

13

Das EGStGB vom 2. März 1974 hat die Vorschrift des § 336 StGB neu gefaßt. Ohne die in Literatur und Rechtsprechung herrschende Auffassung, bedingter Vorsatz sei für die Tatbestandsverwirklichung nicht ausreichend, zu berücksichtigen und entsprechend dem Vorschlag der Regierungsvorlage die Worte "absichtlich oder wissentlich" in den Tatbestand einzufügen, wurde nur in Anpassung an § 15 StGB das Wort "vorsätzlich" aus dem Tatbestand des § 336 StGB gestrichen. Daraus, daß der Gesetzgeber in Kenntnis des Problems eine Änderung der Vorschrift nicht vorgenommen hat, schließen die nach 1974 erschienenen Kommentare, daß nunmehr jede Art von Vorsatz für die Verwirklichung des § 336 StGB ausreichen soll. Sie befürchten jedoch als Folge der Abschaffung des sogenannten Richterprivilegs eine unvertretbare Ausweitung der Strafbarkeit, die zu großer Unsicherheit innerhalb der Richterschaft führen könnte. Es wird zu untersuchen sein, ob für das Richterprivileg im Interesse einer unabhängigen Rechtsprechung eine Notwendigkeit besteht oder ob die Einbeziehung des bedingten Rechtsbeugungsvorsatzes in die Strafbarkeit ein unerwünschtes Plus an Pönalisierung nicht erkennen läßt. Schon früh ist die ungerechte Handhabung des Rechts unter Strafe gestellt worden. Auch wenn man nicht ohne weiteres von einer Verbindlichkeit der Absichten und Zwecke, die ein historischer Gesetzgeber mit dem Erlaß einer Strafvorschrift verfolgte, ausgehen kann, können dennoch neue Aspekte für die heutige Diskussion aus einer Betrachtung der historischen Entwicklung des Rechtsbeugungsverbrechens gewonnen werden. Das Recht als etwas im Laufe der Zeit Gewachsenes sollte nicht losgelöst von seinem historischen Hintergrund betrachtet werden, zumal Auswirkungen zumindest der Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts im heutigen Strafgesetzbuch noch spürbar sind.

§ 2 Die historische Entwicklung der Strafbarkeit richterlichen Fehlverhaltens Seit Menschen in rechtlich geordneten Verhältnissen miteinander leben und den Richter als Instanz anerkennen, die über ihnen Recht sprechen soll, wenden sie sich gegen ungerechte Richtersprüche. Solange Richter der Gerechtigkeit dienen, solange gibt es auch ungerechte Richter und damit für die Rechtsuchenden das Bedürfnis und die Notwendigkeit, diese für ihre Taten zur Rechenschaft zu ziehen. Die ungerechte Handhabung des Rechts wurde früh unter Strafe gestellt, in den verschiedenen Rechtsepochen jedoch unterschiedlich behandelt. Das Verbrechen der Rechtsbeugung, wie es heute in § 336 StGB pönalisiert ist, findet sich in dieser Form erst in der strafrechtlichen Doktrin des vergangenen Jahrhunderts. Dies ist verständlich, wenn man bedenkt, daß gerade die Amtsverbrechen in hohem Maße von dem nach Zeit und Ort in jeweils anderer Gestalt und Zusammensetzung erscheinenden Verwaltungsorganismus abhängig sind. Es ist Franz von Liszt1 daher darin zuzustimmen, daß "sowohl das römische wie auch das mittelalterlich deutsche Recht in dieser Materie für uns nur die Bedeutung geschichtlicher Erinnerungen ohne lebendigen Zusammenhang mit der Gegenwart besitzen"; dennoch ist es zum Verständnis der jetzigen Regelung nützlich, die schrittweise Entwicklung der Ahndung richterlicher Ungerechtigkeiten bis zum heutigen Rechtsbeugungsverbrechen zu verfolgen. I. Die ältesten Regelungen Schon Inder und Ägypter bedrohten das Verbrechen der Rechtsbeugung mit schwerer Strafe, auch wenn sie es nicht streng von der Bestechung trennten!. Und auch bereits das Alte Testament mahnte, gerecht zu handeln: "Du sollst das Recht des Armen ... nicht beugen, ... Bestechung sollst Du nicht annehmen, denn die Bestechung macht Sehende blind und verdreht die Sache derer, die im Recht sind. "3

Dieses Gebot wird im 5. Buch Mose noch einmal bekräftigt: "Verflucht ist, wer das Recht ... beugt. ,,' Im 1. Buch Samuel berichtet die Bibel, Lehrbuch, S. 607. Vgl. TeichmüHer, S.4. 3 2. Mose 23, 6---8; vgl. auch 3. Mose 19, 15; 5. Mose 1, 17; 16, 19. , 5. Mose 27, 19. 1

2

I. Die ältesten Regelungen

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wie die Söhne Samuels das Recht beugten und das Volk sie nicht mehr als Richter anerkennen wollteS, ohne etwas über verwirkte Strafen zu sagen. Schließlich wird die Rechtsbeugung auch noch in den Sprüchen erwähnt6 , wo sie wieder mit der Bestechung vermischt wird. Der Koran enthält das Gebot, gerecht zu richten, mehrfach: "Gott befiehlt Euch, ... wenn Ihr als Schiedsrichter tätig seid, zu entscheiden, wie es recht und billig ist. CC7 Im religiösen Bereich ist die Forderung nach einem gerechten Richter also bereits in den ältesten Niederschriften enthalten. 1. Das römische Recht

Dem ältesten römischen Recht waren Amtsverbrechen unbekannt. Es wurden nämlich nur erprobte Männer zu Magistraten gewählt, so daß Strafdrohungen nicht notwendig erschienen, um Pflichtverletzungen zu vermeiden8• Aus dieser Zeit ist auch nichts über amtliche Übergriffe betreffende Beschwerden überlieferte. Dieser Idealzustand hielt jedoch nicht lange an und schon in den frühen Jahren der römischen Republik finden sich Bestimmungen, die sich mit pflichtwidrig handelnden Amtsträgern beschäftigen. Allerdings treten Richterbestechung und Rechtsbeugung meist vermischt auf, wobei den Bestechungstatbeständen größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Bereits in den Zwölf Tafeln ist ausgesprochen: "Si judex aut arbiter iure datus ob rem iudicandam pecuniam acceperit, capite luito."lO Die lex Sempronia (123 oder 122 v. Chr.) und die lex Servilia repetundarum (105 oder 104 v. Chr.) drohen gewissenlosen Magistraten wegen des "crimen repetundarum" Strafe an11 • "Crimen repetundarum" bezeichnet dabei im weiteren Sinne jede schlechte Magistratsausübung überhaupt, während im engeren Sinne die Unterdrückung der Untertanen in bezug auf ihr Vermögen und hierbei insbesondere die Bestechung angesprochen isti!. Ein Richter oder Magistrat konnte jedoch wegen gewissenloser Rechtspflege bzw. Amtsausübung nur nach Niederlegung seines Amtes angeklagt werden. 1. Samuel 8, 3-5. Sprüche 17, 23: "Verstohlene Geschenke nimmt der Gottlose an, den Gang des Rechtes zu beugen." 7 Koran, Sure 4,58; ähnlich auch Sure 5,42. 8 Vgl. Kohthaas, S. 19. 9 Vgl. TeichmüUer, S. 5. 10 Gellius XX, I, angeführt in Trepper, S.4. 11 Vgl. Häupter, S. 3; Stahnke, S. 5. 12 Vgl. Alcatay, S.5. 5

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§ 2 Die historische Entwicklung des Rechtsbeugungsverbrechens

In der lex Cornelia de sicariis (81 v. Chr.) ist ein Einzeltatbestand vorhanden, der die richterliche Ungerechtigkeit auch ohne Geldempfang unter Strafe stellt: Den Tod hatte verwirkt, wer einen römischen Bürger ohne oder aufgrund falschen Urteils hinrichten ließ!a. Wer dagegen die Geißelung, Folterung oder Fesselung eines römischen Bürgers veranlaßte, konnte nur mit der Injurienklage angegriffen werden. Hieraus ergibt sich, daß die lex Cornelia den Richter nicht als Rechtsbeugenden, sondern als Mörder bestrafen wollte. Es handelt sich hier nicht um ein Amts- sondern um ein Privatverbrechen. Andernfalls wäre nicht zu erklären, wieso nur eine Form des Amtsrnißbrauches im Gesetz erwähnt wari'. Von einem eigentlichen Rechtsbeugungsdelikt kann hier also noch nicht die Rede sein. In der römischen Kaiserzeit wurde der Hauptfall der Rechtsbeugung, die falsche Urteilsfällung, als "falsum" betrachtetl6 • In der lex Cornelia de falsis 16 ist festgelegt: "Sed et si judex constitutiones principum neglexerit, punitur." Wenn es auch mit dem heutigen Verständnis des Rechtsbeugungsverbrechens nicht übereinstimmt, den Gesichtspunkt der Fälschung als ausschlaggebend zu betrachten, ist dennoch bemerkenswert, daß eine Bestechung oder Geldannahme in der Kaiserzeit zu einer richterlichen Ungerechtigkeit nicht mehr notwendig gehörte. Auch wurde jetzt die Anzeige richterlicher Pflichtwidrigkeiten während der Amtszeit möglich, was früher unzulässig war17 • Die römisch-rechtliche Auffassung der Rechtsbeugung als Fälschung hat sich in der gemeinrechtlichen Doktrin niedergeschlagen und dort bis an das Ende des 18. Jahrhunderts behauptetl8 • 2. Das germanische Recht

Das ältere deutsche Recht erwähnt die Rechtsbeugung in dem auf den Gesetzen des Westgotenkönigs Eurich aufbauenden ältesten Volksrecht, der lex Salica (um 508 n. Chr.). Die rechtsuchende Partei forderte nach altfränkischem Recht die Rachineburgen auf zu sagen, was rechtens sei. Weigerten diese sich nach einer in rechtsförmlicher Weise ausgesprochenen Aufforderung, der sogenannten Tangano l9 , überhaupt ein Urteil zu fällen, hatten sie eine Buße von je drei Solidi zu zahlen, die sich auf je fünfzehn Solidi erhöhte, wenn die Zahlung nicht bis Sonnenuntergang rechtsförmlich versprochen worden war und die Rechtsverweigerung 13 14 15 18 17 18 19

Vgl. Kohlhaas, S. 19; Mommsen, S. 632. Vgl. auch Stahnke, S. 19. Mommsen, S.674. Dig.48, 10, 1,3. Vgl. Alcalay, S. 9; Teichmüller, S. 8. Vgl. Henning, S.ll; Oppenheim, S.109. Zum Begriff vgl. ausführlich Cohn, S. 22 ff.

1. Die ältesten Regelungen

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fortdauerte 2o. In § 3 des 57. Art. der lex Salica ist der Fall des "non secundum legem iudicare", d. h. der Rechtsbeugung behandelt: "Si vero illi rachineburgii sunt et non secundum legern iudicaverint, is contra quem sententiam dederint, causa sua agat et si potuerit adprobare quod non secundum legern iudicassent, DC dinarios qui faciunt solidos XV quisque illorum culpabilis iudicetur."21 Die unzufriedene Partei konnte das von den Rachineburgen gefundene Urteil mit der Schelte angreifen. Damit erhob der Scheltende den ehrenrührigen Vorwurf der absichtlichen Rechtsbeugungft, d. h. er warf den Urteilsfindern vor, der Aufforderung, Recht zu sprechen, nicht nachgekommen zu sein. Hierbei wandte er sich nicht gegen die Ansichten der Urteilsfinder, sondern gegen ihre böse Absicht23 • Die Schelte beinhaltete nicht den Vorwurf, die Rachineburgen hätten das Recht nicht gekannt, sondern sie behauptete, die Urteiler hätten ihre Pflichten wissentlich verletzt und das Recht nicht sagen wollen. Deutlich ausgesprochen wird dies in Titel 55 der lex Ripuaria, dem Volksrecht der ripuarischen Franken aus dem 8. Jahrhundert: "Si quis causam suam prosequitur et rachimburgii inter eos secundum legern Ripuariam dicere noluerint, tune ille in quem sententiam contrariam dixerint, dicat: ego vos tangano ut mihi legern dicatis. Quod si dicere noluerint et postea convicti fuerint unusquisque eorum XV solidis mulctetur. Similiter et ille qui rachimburgiis recte dicentibus non· adquieverit. "!, Diesem Titel kann man entnehmen, daß Rechtsbeugung als eine Unterart der Rechtsverweigerung betrachtet wurde25 : Bevor eine Schelte möglich war, mußte die förmliche Tangano ausgesprochen worden sein!S, indem die Parteien, denen das Urteil auf formlosen Antrag hin mitgeteilt worden war, die Rachineburgen nochmals förmlich aufforderten, ein gerechtes Urteil zu fällen. Der Scheltende mußte außer seinem Widerspruch auch ein eigenes Urteil, das er für besser hielt, als Gegenurteil einbringen. Hierdurch wurde ein Rechtsstreit zwischen dem Scheltenden und dem gescholtenen Urteiler ausgelöst, dessen Verfahren für %0 So § 1 S. 1 und 2 des Art. 57 der lex Salica de rachineburgiis, der lautet: "Si qui rachineburgii legern dicere noluerint, debet eis dicere ab illo qui causa prosequitur: hic ego vos tancono ut legern dicatis secundum legern Salegam. Quod si ille dicere noluerint, septem de illos rachineburgios CXX dinarios qui faciunt solidos 111 ante solem collocatum culpabiles iudicentur." ~ 2 fährt fort: "Quod si nec legern dicere noluerint nec de ternos solidos fidem facerent, solem illis collocatum, DC dinarios, qui faciunt solidos XV, culpabiles iudicentur." Zitiert nach GejJcken, S. 57. 21 Zitiert nach GejJcken, S. 57. 22 Vgl. Mitteis / Lieberich, S. 35. 23 So Brunner, S. 356. 2' Zitiert nach Gengler, S. 318. 25 So auch Rabe, S. 19. 28 Vgl. Brunner, S.357; Wacker, S.2 und 3; auch Cohn, S.lO, weist auf das Rechtsbegehren als Voraussetzung der Rechtsverweigerung hin.

2 Schmldt-Spelcher

18

§2

Die historische Entwicklung des Rechtsbeugungsverbrechens

die fränkische Zeit nicht völlig klargestellt ist, während es in der nachfränkischen Zeit in einem gerichtlichen Zweikampf bestand. Sind die Urteiler überführt, ein ungerechtes Urteil gefunden zu haben, müssen sie dem Sieger eine Buße von 15 Solidi zahlen, die umgekehrt auch der Scheltende ihnen schuldet, wenn er mit seinem Gegenurteil nicht durchdringt. Schon aus dieser Regelung erhellt sich, daß die Rechtsbeugung der fränkischen Zeit ein gegen den einzelnen gerichtetes Delikt war. Entsprechend der das germanische Recht beherrschenden Erfolgshaftung ist die Einlassung, der Angeschuldigte habe nach bestem Wissen gehandelt, unerheblich. Aus dem Vorliegen des objektiven Tatbestandes wird auch hier unmittelbar auf die rechtswidrige Absicht geschlossen, ohne daß ein Gegenbeweis zulässig wäre!7. Gerade in der Behandlung der Verschuldensfrage unterschieden sich die fränkischen Volks rechte von denen der anderen deutschen Stämme. Die lex Baiuvarorum, die ebenfalls unter starker Verwendung der Westgotengesetze des Königs Eurich in den Jahren 744 bis 748 entstanden ist, bestimmt im Ir. Titel, § 18: "Si vero nec per gratiam nec per cupiditatem, si per errorem iniuste iudicavit, iudicium ipsius, in quo errasse cognoscitur, non habeat ftrmitatem; iudex non vacet ad culpam. "28 Es wird also unterschieden, ob das erfolgreich gescholtene Urteil in rechtswidriger Absicht oder irrtümlich gefunden wurde. Im Falle des Irrtums ist das Urteil zwar kraftlos, der Urheber bleibt jedoch meist frei von Strafe29. Oft, beispielsweise in den Rechten der Westgoten und Angelsachsen, muß er unter Eid erklären, daß er das Urteil nicht besser wußte 30 • Bei absichtlicher Rechtsbeugung sehen die einzelnen Volksrechte unterschiedliche Strafen vor. Besonders hart verfährt hier die lex Burgundiorum: Während für die fahrlässig falsche Urteilsfällung, etwa aus Nachlässigkeit, in § 10 eine Buße von 30 Solidi festgesetzt ist, wird, wenn der Richter bestochen wurde, der Vorsatz vermutet. § 5 ordnet für derartige Fälle die Todesstrafe selbst dann an, wenn der Richter ein gesetzmäßiges Urteil gefunden hat: "Quod si qui memoratorum corruptus contra leges nostras, aut etiam iuste iudicat, de cause vel iudicio praemium convictus fuerit accepisse, ad exem27 Vgl. Brunner, S. 360; Mitteis / Lieberich, S. 80. Zitiert nach Beyerle, S. 68. 29 Vgl. Brunner, S. 360 und die der zitierten Regelung der lex Baiuvarorum entsprechende Bestimmung der lex Visigothorum (7. Jahrhundert) im H. Buch, 1. Titel, § 19 "De iudicibus et iuidicatis"; auch die lex Alamannorum, die im Anfang des 8. Jahrhunderts entstanden ist, straft Rechtsbeugung in Titel 41, § 2 S. 1 nur, wenn sie aus Begehrlichkeit, Haß oder Furcht begangen wurde. 30 Vgl. Brunner, S. 360. 28

H. Rechtsbeugung in mittelalterlichen Rechtsbüchern

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plum omnium probato crimine capite puniatur: ita ut facultatem eius in quo venalitas vindicatur, filiis aut legitimis heredibus suis, quae in ipso punita est culpa non auferat."31

Meist aber muß der gescholtene Urteiler dem Geschädigten Schadensersatz leisten und zusätzlich eine Buße zahlen~. Die Interessen des unmittelbar Verletzten stehen im Vordergrund, woraus ersichtlich ist, daß Rechtsbeugung auch hier nicht als Vergehen gegen den Staat, sondern als Delikt gegen die Einzelperson angesehen wird. Diese Auffassung kann sich bis ins Mittelalter behaupten, wo dem durch Rechtsverweigerung oder Rechtsbeugung Geschädigten immer noch eine Buße zugesprochen wird33• Bereits in der fränkischen Zeit bildete sich für die Urteilsschelte das Verfahren heraus, ein anderes als das gescholtene Gericht über die Schelte entscheiden zu lassen; in der karolingischen Zeit wurde die Möglichkeit eröffnet, das Königsgericht anzurufen34•

11. Rechtsbeugung in mittelalterlichen Rechtsbüchem Auf das Rechtsleben des deutschen Mittelalters hatten die großen Rechtsbücher entscheidenden Einfluß. Das bedeutendste und älteste von ihnen ist der zwischen 1220 und 1235 von Eike von Repkow verfaßte Sachsenspiegel. Auch hier wird durch die Urteilsschelte ein Streit zwischen Scheltendem und Gescholtenem, also nicht zwischen den eigentlichen Prozeßparteien, herbeigeführt35 • Es besteht keine reine Erfolgshaftung mehr, da der Richter, der nach bestem Wissen und Gewissen urteilt, keinen Schaden erleidet36 • Ausdrücklich erwähnt wird die Rechtsverweigerung im III. Buch, Art. 13, § 3: "Swilch richter ungerichte nicht en richtet, der ist des selben gerichtes schuldie, daz uber jenen solde ergen. "37

Handelt es sich um eine Klage wegen eines schweren Verbrechens, wurde die Rechtsverweigerung häufig als Begünstigung mit der Strafe des nicht verfolgten Verbrechens geahndet38. 31 Zitiert nach Alcalay, S.14; § 5 der lex Burgundiorum pönalisiert also neben einem Fall des Zusammentreffens von Rechtsbeugung und Bestechung auch eine von einer Rechtsbeugung unabhängige Bestechung und unterscheidet sich von daher schon von den anderen Volksrechten. 32 Vgl. z. B. lex Baiuvarorum, Titel II, § 17, der als Strafe 40 Solidi Friedensgeld und Zahlung des doppelten durch das gescholtene Urteil abgesprochenen Betrages an den Verletzten bestimmt; lex Alamannorum, Tite141, § 1 S.2, demzufolge einfacher Ersatz nebst einer Buße von 12 Solidi zu leisten ist. 33 Vgl. His I, S. 120. 34 Vgl. Wacker, S. 4. 35 Sachsenspiegel H, 12, § 5, zitiert nach Weiske, S. 56 38 Sachsenspiegel H, 12, § 9, zitiert nach Weiske, S. 56. 37 Zitiert nach Weiske, S. 58. 2·

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§ 2 Die historische Entwicklung des Rechtsbeugungsverbrechens

Der um 1275 entstandene Schwabenspiegel beschäftigt sich mit dem ungerechten Richter im 86. Kapitel "wie man rihter weIn sol". Nach längeren Ausführungen darüber, welche Tugenden zum Richteramt notwendig seien, heißt es: "Unde swelh rihter uncreht urteil git, oder andren liuten gestattet, daz si uncreht urteil sprechent, dut er daz durch haz, oder durch gutes willen, der verluiset gates willen unde gates hulde ... Da vor suln sich die rihter hüten, daz sie nieman dehein unrehte tuegen, noch gestatten zu tuenne. "3D Hieran anschließend wird eine Pflicht des Richters genannt, dem durch ein ungerechtes Urteil Geschädigten Schadensersatz zu leisten.

111. Die Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts 1. Die Reichsgesetzgebung seit 1532

Die politische Entwicklung Deutschlands im späten Mittelalter brachte eine starke Zersplitterung des Rechts mit sich. Hierdurch entstand immer stärker das Bedürfnis nach einem einheitlichen Recht.

a) Die Constitutio CriminaZis CaroZina Im Jahre 1532 kam endlich auf der Grundlage der 1507 veröffentlichten Bamberger Halsgerichtsordnung (sogenannte Bambergensis) ein das Strafrecht und den Strafprozeß behandelndes Reichsgesetz zustande: Die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. oder Constitutio Criminalis Carolina. Wenn die Anwendbarkeit der Carolina durch die von den Reichsstädten und mächtigen Territorialstaaten erzwungene "salvatorische Klausel", die ihr neben Landes- und Ortsrechten nur subsidiäre Bedeutung verlieh, auch stark eingeschränkt war, so hat sie doch jahrhundertelang die deutsche Strafrechtspflege beeinflußt und verdient besondere Beachtung. Schon in Art. 1, § 1 ergeht eine Warnung an die Rechtsprechenden, sich vor Nachlässigkeit zu hüten: "Darumb dan in solcher uberfarung nyemands mit rechtmessigem, vurdreglichem grundt sein verlassung und hinlessigkeit entschuldigen mage, sondern pillich derhalb vermöge dieser unserer ordnung gestrafft: des also alle obrigkeitt, so peinlich gericht haben, hiemit ernstlich gewarnt sein sollen. "'0 Da der größte Teil der Carolina der Regelung des Verfahrensrechts gewidmet ist, enthalten auch die meisten der sich mit richterlicher Ungerechtigkeit befassenden Vorschriften Fälle der Mißachtung von Verfahrensrecht. So wird der Richter in Art. 6 ermahnt, sich genau zu er38 3D

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His II, S. 70.

Schwabenspiegel, 86. Kapitel, zitiert nach Fehr, Rechtsbücher, S. 52/53. Zitiert nach Kohler / Scheel, S. 77.

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kundigen und "vleissigs nachfragen", ob die dem Angeklagten zur Last gelegte Missetat auch wirklich von diesem begangen wurde. Art. 20 stellt ein Verbot auf, einen Angeschuldigten "ohne redliche Anzeigung" peinlich zu befragen oder wegen eines bei der Folterung abgelegten Geständnisses zu verurteilen. Die Vorschrift ordnet für den Fall des Zuwiderhandelns an, daß die Obrigkeit oder der Richter dem unzulässig Gemarterten "seiner Schmach, Schmerzen, Kosten und Schaden der Gebühr, Ergetzung zu thun schuldig seyen"41. Nach Art. 21 darf niemand aufgrund von "Anzeigung derer, die mit Zauberey wahr zu sagen sich unterstehen" ins Gefängnis geworfen oder peinlich befragt werden. Wenn der Richter ein derartiges Verfahren dennoch annimmt oder weiterführt, "soll er dem Gemarterten Kosten, Schmerzen, Injurien und Schaden ... abzulegen schuldig seyn"42. Art. 22 bestimmt, daß aufgrund eines in einer Anzeige geäußerten bloßen Argwohns oder Verdachts niemand zu peinlicher Strafe verurteilt werden darf, sondern daß höchstens peinliche Befragung zulässig ist, um den Wahrheitsgehalt der Anzeige zu erforschen. In Art. 61 wird zunächst ausgesprochen, daß ein Richter, der auf einen redlichen Verdacht hin den Beschuldigten peinlich befragt, keine Strafe verwirkt hat, wenn sich im nachhinein die Unschuld des Gemarterten herausstellt. Danach fährt Art. 61 fort: "Wer aber solch peinliche Frag dieser unser und des Heiligen Reichs rechtmässigen Ordnung widerwärtig gebraucht wird, so wären dieselbe Richter als Ursache solcher unbillicher peinlicher Frag sträflich. Und sollen darum nach. Gestalt und Gelegenheit der Uberfarung, wie recht ist, Straf und Abtrag leiden, und darum vor ihrem nächsten ordentlichen Ober-Gericht ger~c:ht'; fertigt werden. "43 Auffällig ist hier, daß ungerechte Richter dem Geschädigten nicht nur Schadensersatz zu leisten haben, sondern außerdem mit öffentlicher Strafe belegt werden. Es zeigt sich hier erstmals eine Abkehr von der Ansicht, das Delikt der Rechtsbeugung sei nur gegen den einzelnen gerichtet. In Art. 100 ist ein Mißstand der damaligen Strafrechtspfiege, nämlich das Stellen von "unnothdürftigen, unnützen gefährlichen Fragen vor Gericht" angeprangert. Mit den Worten "das Recht verziehen", "verhindern" oder "verlängern" sind hier einzelne Fälle der Rechtsbeugung beschrieben. Art. 150 schließlich beschäftigt sich mit einem Fall der Rechtsbeugung durch falsche Anwendung des sachlichen Rechts, während in den oben genannten Vorschriften prozessuale Fehler behandelt wurden: Zitiert nach v. Senckenberg, Theil H, S.369. 42 Zitiert nach v. Senckenberg, Theil H, S. 369. 43 Zitiert nach v. Senckenberg, Theil H, S. 376. 41

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§ 2 Die historische Entwicklung des Rechtsbeugungsverbrechens

"So geschieht auch viel, dass Richter und Urtheiler die Missthäter begünstigen und ihre Handlung darauf richten, wie sie ihnen das Recht zu gut verlängern und wissentliche übelthäter dadurch ledigmachen wollen: Sie sollen wissen, dass sie sich schwerlich damit verschulden, und sind den Anklägern derhalben vor Gott und der Welt Widerkehrung schuldig."'"

Obwohl die Carolina grundsätzlich Vorsatz für die Verhängung einer Strafe fordert und sich vom reinen Erfolgsstrafrecht ab gewandt hat", findet sich in den Schlußworten des Gesetzes, in Art. 219, doch eine Möglichkeit, auch den fahrlässig handelnden Richter zu bestrafen: "und in dem allem keinen muglichen vleiss underlassen, damit nyemande Unrecht geschehe; '" Darumb dan in solchen uberfarungen Unwissenheit, die jenen pillich kundig sein sollen, nit entschuldigen: des also Richter, Scheffen und derselbenn Obrikeit hiemit gewarnet sein sollen."" Aufgrund dieser Rechtsvermutung, daß diejenigen, die einen Eid geleistet haben, das Recht anzuwenden, das Recht auch kennen, kann auch der fahrlässig ein falsches Urteil fällende Richter bestraft werden. b) Die ReichspolizeioTdnungen Die drei 1530, 1548 und 1577 erlassenen Reichspolizeiordnungen, die als Vorbild für mehrere Landespolizeiordnungen dienten, verdienen nicht zuletzt deshalb Beachtung, weil sie zeigen, daß das Staatsverständnis sich in einem bedeutsamen Wandel befindet: Das Amt des Fürsten wird als ein Verpflichtetsein dem Recht und Gott gegenüber empfunden. Das Recht soll die Beziehungen zwischen Fürst und Untertanen gestalten, anders ausgedrückt: Staat, Souveränität und fürstliches Amt werden von der Idee des Rechtes durchflutet47 • In diesem Sinne erfährt auch das Strafrecht der Carolina vielfache Ergänzungen durch die drei Reichspolizeiordnungen. Das in ihnen enthaltene Strafrecht ist Verwaltungsstrafrecht im damaligen Sinne, d. h. der Verwaltungszweck, die Förderung des Gemeinwohls, ist überall der maßgebliche Gesichtspunk~.

Hervorzuheben ist die RPO von 1577. Auch in ihr existiert kein Abschnitt, der die Dienstverletzungen der Richter und der anderen Staatsdiener gesammelt enthält; vielmehr schließen sich die Tatbestände, die Dienstverletzungen beinhalten, häufig an die gegen die Allgemeinheit gerichtete Strafdrohung so an, daß Strafe derjenigen Amtsperson angedroht wird, die nicht das ihr Mögliche zur Durchsetzung der in Frage stehenden Norm tut49 • So tritt beispielsweise § 6 des I. Titels, der "Von 44 45 46

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Zitiert nach v. Senckenberg, Theil 11, S. 391. Vgl. Mitteis / Lieberich, S. 271. Zitiert nach Kahler / Scheel, S. 115. Vgl. Eb. Schmidt, Geschichte, § 126, S. 145. Vgl. Würtenberger, S.76.

II!. Die Zeit des 16. bis 18. Jahrhunderts

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den Gotteslästerungen" handelt, für eine rechtmäßige Anwendung dieser Vorschriften ein: "Amptleute ... oder andere, die Ober-Gericht haben" sollen "ernstlich gestrafft" werden, wenn sie wegen Gotteslästerung angeklagte oder verurteilte Personen "nicht strafen, sondern wissentlich unterdrucken und verbergen"5o. Titel 33 handelt dann ausdrücklich von "Richtern, Advocaten und Procuratoren". Ihnen wird nicht nur für den Fall ungerechten Urteilens sondern schon für jede Verzögerung ihrer Amtspflichten Strafe angedroht, da gerade das "gefährlicher und fürsetzlicher Weiß aufgehalten werden" der rechtsuchenden Parteien ein weit in der Rechtspflege verbreiteter Mißstand war: "So wollen wir allen Obrigkeiten hiermit aufferlegt und befohlen haben, in dem gebührlich Einsehens zu thun und den ihren Richtern zu verfügen, daß sie den Partheyen auf ihr Ansuchen, jederzeit zu schleunigen Rechten fürderlich und unverzüglich verhelffen und mittheilen, ... alles bei Verwendung ernstlicher und unnachsichtiger Peen und Straff, vermög der Rechten und sonsten nach Gelegenheit und Gestalt der Personen und Sachen."51 Die Strafvorschrift spiegelt das Interesse des Bürgertums an dem raschen Funktionieren der Justiz wider, da eine sich lange hinziehende Rechtspflege das aufstrebende Wirtschaftsleben hemmte5!. c) Die Reichskammergerichtsordnungen

Die Reichskammergerichtsordnungen wenden sich - im Gegensatz zur Peinlichen Gerichtsordnung und den Reichspolizeiordnungen - nur an solche Personen, die im Dienste des Kaisers oder des Reiches stehen53• Auch sie enthalten richterliche Ungerechtigkeiten betreffende Vorschriften. In § 58 der Reichskammergerichtsreformation zu Speyer von 1531 werden alle "Kammergerichtspersonen" eindringlich aufgefordert, die vorliegende und alle anderen Ordnungen einzuhalten, um "Pön und Straff ... und Kayserlicher Majestät Ungnad zu vermeiden"54. Besonders werden sie dazu angehalten, sich den ihnen auferlegten Pflichten gemäß zu verhalten. Auch im Reichsabschied zu Regensburg aus dem Jahre 1532 wird in Titel III, § 1 bekräftigt, daß die Verletzung der durch die Richter eidlich übernommenen Pflicht, gerecht und unparteiisch zu urteilen, "Pön und Straff" nach sich ziehtM. Vgl. Stock, S.58. Zitiert nach v. Senckenberg, Theil III, S. 380. 51 Zitiert nach v. Senckenberg, Theil III, S.395. 52 Vgl. Würtenberger, S. 88.

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Gerster, S. 4. Zitiert nach v. Senckenberg, Theil II, S.352. Vgl. v. Senckenberg, Theil I!, S. 356.

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§ 2 Die historische Entwicklung des Rechtsbeugungsverbrechens

Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 beschreibt in Titel 53, § 5 und § 6, einzelne Fälle der Rechtsbeugung näher und unterscheidet, wenn ein ungerechtes Urteil ergangen ist, hinsichtlich der Strafe zwischen "Betrug oder Arglist" einerseits und "übersehen, Unfleiß, Unwissenheit oder Irrsal" andererseits. Hat der Richter "von Geschenk, Miet, Gaab, Bitt, Freundschaft, Feindschaft oder anderer dergleichen Ursachen eine nichtige oder ungerechte Urtheil geben, ... soll den Partheyen nicht allein ihr erlegt Geld und Straff wiederum zugestellt werden, sondern auch ... um solch ihr betrügliche arglistige Handlung gebührliche Straf fürgenommen werden,,~a. § 32 des Reichsabschieds zu Augsburg aus dem Jahre 1555 appelliert besonders an die Unparteilichkeit der kaiserlichen Kammerrichter in Religionsfragen. Es wird befohlen, daß sie "den anruffenden Partheyen darauf ungeacht, welcher der ob gemeldeten Religion die seyen, gebührliche und nothdürftige Hilff des Rechten mittheilen'