Die Audienz: Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit 9783412212087, 9783412210847

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Die Audienz: Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit
 9783412212087, 9783412210847

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Peter Burschel . Christine Vogel (Hg.)

Die Audienz Ritualisierter Kulturkontakt in der Frühen Neuzeit

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abruf bar. Umschlagabbildung: Europäer bringen Shah Jahan Geschenke. Seite aus dem Windsor Padshahnama, Indien, c. 1650 (The Royal Collection, Windsor, RCIN 1005025) © 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Einbandgestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-21084-7

Inhalt Peter Burschel Einleitung ................................................................................................ 7 Dank ........................................................................................................ 16 Antje Flüchter Den Herrscher grüßen? Grußpraktiken bei Audienzen am Mogulhof im europäischen Diskurs der Frühen Neuzeit .......................................... 17 Claudia Garnier „Welcher massen die Potschafften emphangen und gehalten werden“ Diplomatisches Zeremoniell und Ritualpraxis am Moskauer Hof aus der Perspektive westlicher Gesandter im 16. und frühen 17. Jahrhundert ........................................................................................ 57 Tetiana Grygorieva Zur Selbstdarstellung polnisch-litauischer Botschafter im frühneuzeitlichen Istanbul ....................................................................... 81 Michał Wasiucionek Die Simulation von Souveränität in der frühneuzeitlichen Diplomatie: Die moldauische Gesandtschaft am polnischen Königshof im Jahr 1644 ................................................................................................. 101 Florian Kühnel Ein Königreich für einen Botschafter. Die Audienzen Thomas Bendishs in Konstantinopel während des Commonwealth...................................... 125 Stefan Hanß Udienza und Divan-ı Hümayun. Venezianisch-osmanische Audienzen des 16. und 17. Jahrhunderts..................................................................... 161 Christine Vogel Der Marquis, das Sofa und der Großwesir. Zu Funktion und Medialität interkultureller diplomatischer Zeremonien in der Frühen Neuzeit ......... 221

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Ruth Schilling Wandel durch Annäherung? Französisch-siamesische Audienzen 1684–1686 ............................................................................................... 247 Christina Brauner Beim „König“ von Anomabo. Audienzen an der westafrikanischen Goldküste als Schauplatz afrikanischer Politik und europäischer Konkurrenz (1751/52) ............................................................................. 265 Felix Konrad Der dīvān des Vizekönigs von Ägypten als transkultureller Begegnungsraum: Audienzen und Empfänge bei Meh.med ʿAlī Paşa und ʿAbbās Pas¸a (1820–1850) .................................................................. 307 Autorinnen und Autoren.......................................................................... 337

Einleitung Peter Burschel Der vorliegende Sammelband geht auf die Zusammenarbeit von Herausgeberin und Herausgeber in der DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ zurück.1 Eine Zusammenarbeit, die es ihnen ermöglichte, westeuropäische Gesandtschaftsberichte aus dem Osmanischen Reich als diplomatische „Selbst-Positionierungen“ zu verstehen.2 Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, inwieweit die ritualisierte Praxis diplomatischer Kommunikation in der frühen Neuzeit unter den Bedingungen wechselseitiger kultureller Distanzerfahrung dazu beigetragen hat, Prozesse der Selbstbeobachtung – und Selbstthematisierung – zu intensivieren und zu dynamisieren.3 Das aber hieß: Herausgeberin und Herausgeber hatten es mit interkulturellen politischen Zeremoniellen zu tun,4 die ihnen Diplomatie als ritualisierte Form von 1 Zu dieser Gruppe, die von 2004 bis 2010 bestand: Claudia Ulbrich, Die DFGForschergruppe 530 „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“. Ein Projektbericht, in: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, hg. von Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser, Köln u.a. 2012, S. 21–26. – Die Zusammenarbeit von Herausgeberin und Herausgeber fand in Teilprojekt 2 „Die diplomatische persona im politischen Ritual“ von Teilbereich I „Ritualisierte Lebenswelten“ statt. 2 Zusammenarbeit hieß dabei auch Arbeitsteilung: Während der Herausgeber habsburgische Gesandtschaftsberichte aus dem Osmanischen Reich in den Blick nahm, untersuchte die Herausgeberin in erster Linie deren französische Pendants. – Der Begriff „Selbst-Positionierungen“ hier in vorsichtiger Anlehnung an Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Selbstzeugnis und Person (wie Anm. 1), S. 1–19, hier S. 14–19. 3 Vgl. dazu exemplarisch Peter Burschel, Topkapı Sarayı oder Salomon Schweiggers Reise ans Ende der Zeit, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke, Köln u.a. 2007, S. 29–40. 4 Zum „Zeremoniell“ (bzw. zur „Zeremonie“) als hochgradig stereotypisierter symbolischer Handlungssequenz, die eine Ordnung repräsentiert und zugleich konstituiert, im Unterschied zum „Ritual“ aber keinen „Statuswechsel“ bewirkt: Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527, hier S. 504. Vgl. auch dies., Rituale, Frankfurt a.M. u.a. 2013, insbesondere S. 7–17; zu interkulturellen Ritualen S. 145f.

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Kulturkontakt vor Augen führten.5 Wie in der europäischen Fürstengesellschaft dienten diese Zeremonielle als „theatrale Präsenzmedien“6 dazu, Rang-, Macht- und Deutungsansprüche in raum-zeitliche Begegnungsarrangements zu übersetzen und auf diese Weise performativ sichtbar, sinnlich wahrnehmbar und damit immer auch potentiell verhandelbar zu machen.7 Das Zeremoniell, das dabei besondere Aufmerksamkeit auf sich zog, war die Audienz – und zwar vor allem deshalb, weil es die Audienz wie kein anderes Zeremoniell erlaubt, die wechselseitige kulturelle Reichweite (und Durchdringung) symbolischer Codes zu bestimmen, geht es in ihr symbolisch doch immer ums Ganze.8 Genauer: Wer versucht, die Audienz aus interkultureller Perspektive in den Blick zu nehmen, kann beobachten, was passiert, wenn kulturelle Grenzen in der symbolischen Kommunikation überschritten werden. Denn hier – in diesen Begegnungsarrangements von „liminaler“ symbolischer Dichte und Spannung – lassen sich nicht nur wechselseitige Übersetzungsleistungen und deren Grenzen geradezu idealtypisch rekonstruieren;9 hier lässt sich 5 In dieser Perspektive auch: Diplomatiegeschichte, hg. von Peter Burschel/Birthe Kundrus (Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag. Themenheft 21/2), Köln u.a. 2013 (hier vor allem die Beiträge von Christina Brauner und Christine Vogel). 6 Volker Bauer, Höfische Gesellschaft und höfische Öffentlichkeit im Alten Reich. Überlegungen zur Mediengeschichte des Fürstenhofs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 5 (2003), S. 29–68. 7 William Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial: A Systems Approach, in: The Journal of Modern History 52 (1980), S. 452–476; Barbara StollbergRilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 7 (1997) (Neue Folge), S. 145–176; Jan Hennings, The Semiotics of Diplomatic Dialogue: Pomp and Circumstance in Tsar Peter I’s Visit to Vienna in 1698, in: International History Review 30 (2008), S. 514–544; André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz/ Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 1–32. 8 Eine Beobachtung, die nicht zuletzt der narrativen Dramaturgie der untersuchten Gesandtschaftsberichte aus dem Osmanischen Reich geschuldet ist. Burschel, Topkapı Sarayı (wie Anm. 3), S. 29–32. 9 Beispiele: Palmira Brummett, A Kiss is Just a Kiss: Rituals of Submission Along the East-West Divide, in: Cultural Encounters Between East and West, 1493– 1699, hg. von Matthew Birchwood/Matthew Dimmock, Newcastle-upon-Tyne 2005, S. 107–131; Peter Burschel, Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthro-

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auch untersuchen, wie aus interkulturellen Begegnungen, Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungen entsteht, was man mit einiger Vorsicht „Transkulturalität“ im Sinne einer historisch bestimmbaren Konstellation „kultureller Interferenzen und Ambivalenzen“ nennen könnte.10 In anderen Worten: Hier zeigt sich, unter welchen symbolischen Bedingungen frühneuzeitliche politische Kommunikation in interkulturellen Begegnungssituationen funktionierte bzw. nicht funktionierte.11 Da die Zusammenarbeit in der Forschergruppe auch vor Augen geführt hatte, dass der Siegeszug der „neuen“ Kulturgeschichte des Politischen weitgehend an der Audienz vorbeigegangen war, vor allem an der Audienz als ritualisiertem Kulturkontakt,12 gab es kein Zurück mehr.13 Herausgeberin und

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pologie 15 (2007), S. 408–421; Thomas Weller, Andere Länder, andere Riten? Die Wahrnehmung Spaniens und des spanischen Hofzeremoniells in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum, in: Räume des Selbst (wie Anm. 3), S. 41–55; Christine Vogel, Osmanische Pracht und wahre Macht. Zur sozialen Funktion von Differenzmarkierungen in diplomatischen Selbstzeugnissen des späten 17. Jahrhunderts, in: Selbstzeugnis und Person (wie Anm. 1), S. 315–333; dies., A Sublime Illusion? French Accounts of Ottoman Ceremonies in the Late Seventeenth Century, in: Europe and the ,Ottoman World‘. Exchanges and Conflicts (sixteenth to seventeenth centuries), hg. von Gábor Kárman/Radu G. Păun, Istanbul 2013, S. 239–256; dies., Gut ankommen. Der Amtsantritt eines französischen Botschafters im Osmanischen Reich im späten 17. Jahrhundert, in: Diplomatiegeschichte (wie Anm. 5), S. 158–178. Zu diesem Verständnis von „Transkulturalität“ hier nur Andreas Reckwitz, Multikulturalismustheorien und der Kulturbegriff. Vom Homogenitätsmodell zum Modell interkultureller Interferenzen, in: ders., Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie, Bielefeld 2010 (1. Auflage 2008), S. 69–93 – sowie: Gesa Mackenthun/Sebastian Jobs, Introduction, in: Agents of Transculturation. Border-Crossers, Mediators, Go-Betweens, hg. von Sebastian Jobs/Gesa Mackenthun, Münster u.a. 2013, S. 7–22. Vgl. dazu inzwischen auch Christian Windler, Symbolische Kommunikation und diplomatische Praxis in der Frühen Neuzeit. Erträge neuer Forschungen, in: Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger/Tim Neu/Christina Brauner, Köln u.a. 2013, S. 161–185, hier vor allem S. 170–173. Als Ausnahme sei genannt: Die Ankunft des Anderen. Repräsentationen sozialer und politischer Ordnungen in Empfangszeremonien, hg. von Susann Baller/Michael Pesek/Ruth Schilling/Ines Stolpe, Frankfurt a.M. u.a. 2008. Zur „neuen“ Kulturgeschichte des Politischen als Kulturgeschichte von Diplomatie in Auswahl: Peter Burschel, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, hg. von Alexander Koller, Tübingen 1998, S. 260–271; Christian Windler, Tribut und Gabe. Mediterrane Diplomatie als in-

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Herausgeber beschlossen, ihre „west-östlichen“ Beobachtungen zur Diskussion zu stellen und zugleich ihren Untersuchungshorizont räumlich und zeitlich zu erweitern. Sie organisierten mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft einen Workshop, der unter dem Titel „Audienzen transkulturell. Ritualisierte Kommunikation und inszenierte Begegnung in der Frühen Neuzeit“ am 4. und 5. März 2011 an der Universität Vechta stattfand.14 Der vorliegende Sammelband ist aus diesem Workshop hervorgegangen.15 Obwohl die räumliche und zeitliche Erweiterung des Untersuchungshorizonts nicht ohne zentrifugale Folgen blieb, lassen die Beiträge doch einen terkulturelle Kommunikation, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 50 (1999), S. 207–250; ders., Diplomatie als Erfahrung fremder politischer Kulturen. Gesandte von Monarchen in den eidgenössischen Orten (16. und 17. Jahrhundert), in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 5–44; Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hg. von Hillard von Thiessen/Christian Windler, Köln u.a. 2010; Eva Kathrin Dade, Madame de Pompadour. Die Mätresse und die Diplomatie, Köln u.a. 2010; Matthias Köhler, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen, Köln u.a. 2011; Corina Bastian, Verhandeln in Briefen. Frauen in der höfischen Diplomatie des frühen 18. Jahrhunderts, Köln u.a. 2013; Frieden und Konfliktmanagement in interkulturellen Räumen. Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, hg. von Arno Strohmeyer/Norbert Spannenberger, Stuttgart 2013; Colin Heywood, The Ottoman World, the Mediterranean and North Africa, 1660–1760, Farnham 2013; John-Paul A. Ghobrial, The Whispers of Cities: Information Flows in Istanbul, London, and Paris in the Age of William Trumbull, Oxford 2013; Politische Kommunikation zwischen Imperien. Der diplomatische Aktionsraum Südost- und Osteuropa, hg. von Gunda Barth-Scalmani/ Harriet Rudolph/Christian Steppan, Innsbruck 2013; Das Geschlecht der Diplomatie. Geschlechterrollen in den Außenbeziehungen vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert, hg. von Corina Bastian/Eva Kathrin Dade/Hillard von Thiessen/ Christian Windler, Köln u.a. 2014; Verständigung und Diplomatie auf dem Westfälischen Friedenskongress. Historische und sprachwissenschaftliche Zugänge, hg. von Annette Gerstenberg, Köln u.a. 2014. 14 Florian Kühnel, Tagungsbericht „Audienzen transkulturell“: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3635 (Zugriff am 26. März 2014). 15 Die Überlegungen, die Dorothee Linnemann in Vechta vortrug, sind in erweiterter Form an anderer Stelle erschienen: Visualising ,State-Building‘ in European-Ottoman Diplomatic Relations. Visual Ceremonial Descriptions and Conflicting Concepts of Early Modern Governance in the Late 17th and Early 18th Centuries, in: Structures on the Move. Technologies of Governance in Transcultural Encounter, hg. von Antje Flüchter/Susan Richter, Heidelberg u.a. 2011, S. 251–269; die Überlegungen von Christina Schröer erscheinen demnächst im Rahmen ihrer Doktorarbeit: Republik im Experiment. Symbolische Politik im revolutionären Frankreich (1792–1799), Köln u.a. 2014.

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begrifflichen und konzeptionellen Konsens erkennen, der mit den skizzierten „Vorgaben“ von Herausgeberin und Herausgeber korrespondiert und der es erlaubt, gemeinsame Beobachtungen zu identifizieren, bei aller „emischen“ Ausdifferenzierung im Einzelnen. Die folgenden Beobachtungen scheinen für künftige Forschungen zur Audienz als ritualisiertem Kulturkontakt von besonderer Bedeutung zu sein – und damit auch für künftige Forschungen zur Diplomatie als transkultureller Praxis: 1. Wer Gesandtschaftsberichte, aber auch andere Selbstzeugnisse wie Tagebücher oder Erinnerungen in den Blick nimmt, um die Audienz als „Ankunft des Anderen“ zu untersuchen,16 kann sicher sein, auf Akteure von hoher semiotischer Sensibilität zu stoßen, die keinen Zweifel lassen: Hier ist nichts ohne Bedeutung und alles oder doch fast alles auch Zeichen. Hier gilt es, jede Bewegung, jede Geste, jedes Geräusch, jeden Gegenstand, jedes Wort symbolisch zu gewichten. Hier gilt es, alle Handlungen immer wieder neu aufeinander zu beziehen und dabei nicht zuletzt auch in räumliche Ordnungsmuster zu überführen.17 Ja, hier gilt es, selbst die spontanen, die flüchtigen Eindrücke des Moments ernst zu nehmen und als „sinn-voll“ zu verstehen.18 Wie auch immer die Zuschreibungen aussehen, die wir dabei rekonstruieren können, wie auch immer die Zeichen und die wechselseitigen Deutungen dieser Zeichen: Hier regiert das „semiotische Abenteuer“ (Christina Brauner).19 2. Obwohl die semiotischen Herausforderungen von Audienz zu Audienz durchaus variieren und zum Teil sogar erheblich, lässt sich eine zweite Beobachtung identifizieren, die den Beiträgen mehr oder weniger gemeinsam ist und die in engem Zusammenhang mit der ersten steht: Wer die Audienz aus interkultureller Perspektive untersucht, hat es in aller Regel mit einem Sample sozialer 16 Um den Titel des bereits in Anm. 12 genannten Sammelbandes zu zitieren, in dessen Einleitung auf die strukturelle Nähe von „Ankunft“ und „Audienz“ als „Momenten“ der Begegnung kultureller Differenzen in einem gemeinsamen Repräsentationsmedium hingewiesen wird: Susann Baller/Michael Pesek/Ruth Schilling/ Ines Stolpe, Einleitung, in: Die Ankunft des Anderen (wie Anm. 12), S. 11–32, hier u.a. S. 17. 17 Für einen erweiterten Kontext: Peter Burschel, „j’avais le plaisir de me voir comparée à tous les astres“. Gelebte Räume in den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Selbstzeugnis und Person (wie Anm. 2), S. 335–347. 18 Zum Vergleich: Dorothea Nolde, Vom Umgang mit Fremdheit. Begegnungen zwischen Reisenden und Gastgebern im 17. Jahrhundert, in: Grand Tour. Adeliges Reisen und europäische Kultur vom 14. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Rainer Babel/Werner Paravicini, Ostfildern 2005, S. 579–590. 19 In diesem Sinne auch Burschel, Topkapı Sarayı (wie Anm. 3), S. 29f.

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Handlungen und Handlungssequenzen zu tun, die nicht auf je abgeschlossene kulturelle bzw. diplomatische Sinnsysteme zurückgeführt werden können, sondern ihre Bestandteile aus unterschiedlichen Wissensordnungen beziehen und miteinander kombinieren – bis hin zu wechselseitigen Überlagerungen. Wie auch immer diese Überlagerungen im Einzelnen zu taxieren sind, dürfen sie doch mit einigem Recht als ambivalente (und oft genug prekäre) Produkte von Hybridisierungsprozessen verstanden werden.20 Produkte, die es erlauben, vielen der untersuchten Audienzen transkulturelle Qualitäten im Sinne von Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmustern zuzuschreiben, die weder in der „eigenen“ noch in der „anderen“ Kultur aufgehen. Man kann es auch so sagen: Wo das semiotische Abenteuer regiert, bleibt „Transkulturalität“ nicht aus.21 3. Das aber heißt: Die Audienz ist weit davon entfernt, „cultural misunderstanding“ zu konservieren und zu kultivieren;22 sie erscheint vielmehr als dynamischer und angesichts seiner zeremoniellen Strukturierung erstaunlich offener Begegnungsraum, der immer wieder vor Augen führt, was der Kulturanthropologe Johannes Fabian einmal programmatisch „you meet and you talk“ genannt

20 Zu diesem Verständnis von „Hybridisierung“ demnächst Barbara Schlieben, Disparate Präsenz. Hybridität und transkulturelle Verflechtung in Wort und Bild: Der „Liber ad honorem Augusti“, in: Europa in der Welt des Mittelalters. Ein Colloquium für und mit Michael Borgolte, hg. von Tillmann Lohse/Benjamin Scheller, Berlin 2014. 21 Vgl. dazu neben den Angaben in Anm. 10 auch Melanie Hühn/Dörte Lerp/Knut Petzold/Miriam Stock, In neuen Dimensionen denken? Einführende Überlegungen zu Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit und Translokalität, in: Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit und Translokalität. Theoretische und empirische Begriffsbestimmungen, hg. von Melanie Hühn/Dörte Lerp/ Knut Petzold/Miriam Stock, Münster u.a. 2010, S. 11–46; vor allem aber: Christina Brauner, Ein Schlüssel für zwei Truhen. Diplomatie als interkulturelle Praxis am Beispiel einer westafrikanischen Gesandtschaft nach Frankreich (1670/71), in: Diplomatiegeschichte (wie Anm. 5), S. 199–226, hier vor allem S. 202–206 – und demnächst die einschlägigen Kapitel in Antje Flüchter, Die Vielfalt der Bilder und die eine Wahrheit. Die Staatlichkeit Indiens in der deutschsprachigen Wahrnehmung (1500–1700) (Habilitationsschrift Heidelberg 2012). 22 Hedda Reindl-Kiel, East is East and West is West, and Sometimes the Twain Did Meet. Diplomatic Gift Exchange in the Ottoman Empire, in: Frontiers of Ottoman Studies: State, Province, and the West, hg. von Colin Imber/Keiko Kiyotaki/ Rhoads Murphey, Bd. 2, London u.a. 2005, S. 113–123, hier S. 121. – Vgl. vor diesem Hintergrund auch Sheila L. Ager, Roman Perspectives on Greek Diplomacy, in: Diplomats and Diplomacy in the Roman World, hg. von Claude Eilers, Leiden u.a. 2009, S. 15–43.

Einleitung  |

hat.23 Denn nicht nur, dass die Akteure, die wir in diesem Raum beobachten können, dazu in der Lage sind, Kultur wechselseitig als „Know-how eigennützigen Handelns“ zu verstehen,24 indem sie „Alterität“ – zum Beispiel als fremde rituelle Praxis – im je eigenen Sinne zu deuten und zu nutzen wissen.25 Sie lassen zudem Aneignungen erkennen, die geradezu subversiven Charakter haben – und die selbst vor Praktiken der Repräsentation, ja, der Souveränität nicht Halt machen: von Status-Imitationen und Status-Simulationen über die Adaption technischer Hilfsmittel zur Vermeidung von Körperkontakt zwischen Botschafter und Monarch bis hin zur Karnevalisierung von Hoheitszeichen.26 4. Eine weitere gemeinsame Beobachtung ergänzt diesen Befund: So offensichtlich die Entstehung eines transkulturellen „Mehrwerts“ in der „Ankunft des Anderen“ auch sein mag, mehr oder weniger direkte „Rückkopplungseffekte“ zwischen den transkulturellen zeremoniellen Praktiken in der Audienz und den je eigenen Wissensordnungen lassen sich zumindest für die frühe Neuzeit kaum

23 Johannes Fabian, You Meet and You Talk. Anthropological Reflections on Encounters and Discourses, in: The Fuzzy Logic of Encounter. New Perspectives on Cultural Contact, hg. von Sünne Juterczenka/Gesa Mackenthun, Münster u.a. 2009, S. 23–34. 24 Valentin Groebner, Historische Anthropologie diesseits und jenseits der Wissenschaftsrhetorik: Ein Ort, irgendwo?, in: Historische Anthropologie 10 (2002), S. 303f., hier S. 304; Peter Burschel, Wie Menschen möglich sind. 20 Jahrgänge „Historische Anthropologie“, in: ebd. 20 (2012), S. 152–161, hier S. 159f. 25 Eine Beobachtung, die auch für interkulturelle diplomatische Arrangements jenseits der Beispiele des vorliegenden Sammelbandes gemacht werden konnte. Um hier nur auf besonders einschlägige Begegnungen im nordostamerikanischen „middle ground“ hinzuweisen: Mark Häberlein, Kulturelle Vermittler und interkulturelle Kommunikation im kolonialen Nordamerika, in: Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit, hg. von Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter, München 2005, S. 335–355; Marin Trenk, Kulturelle Aneignung und kulturelle Überläufer. Transkulturalisation als Aneignungsstrategie am Beispiel der „weißen Indianer“, in: Zwischen Aneignung und Verfremdung. Ethnologische Gratwanderungen, hg. von Volker Gottowik/Holger Jebens/Editha Platte, Frankfurt a.M. u.a. 2009, S. 99–115; Ulrike Kirchberger, „Our white English brother would become a true Indian in the course of a year“. Die Missionsreise des Samuel Kirkland zu den Seneca-Indianern (1764–1766), in: Migrationserfahrungen – Migrationsstrukturen, hg. von Alexander Schunka/Eckart Olshausen, Stuttgart 2010, S. 87– 101. 26 Für eine „inversive“ Perspektivierung von Deutungskonflikten um Hoheitssymbole allgemeiner: Verkehrte Welten? Forschungen zum Motiv der rituellen Inversion, hg. von Dominik Fugger, München 2013.

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nachweisen.27 Fragt man nach dem Grund für diese Beobachtung, so scheint vor allem eine Antwort nahe zu liegen: das Fehlen einer „transkulturellen Öffentlichkeit“ (Christine Vogel), die eine „adäquate“ – also medial bzw. diskursiv nur schwer hintergehbare – Deutung der einschlägigen symbolischen Interaktionen im Sinne geteilter politisch-sozialer Sinnbildung hätte einfordern, sicherstellen und möglicherweise sogar sanktionieren können.28 5. Das aber hat Folgen. Denn das Fehlen eines gemeinsamen transkulturellen Kommunikationsraums lässt symbolische Interaktionen, die außerhalb der eigenen politisch-sozialen Sphäre stattfinden, weitgehend ins Leere laufen. Kein europäischer Diplomat, der den Rocksaum des Sultans küsst, erkennt damit den imperialen Herrschaftsanspruch der Osmanen an; dazu hätte es eines gemeinsamen (höfischen) Bezugsrahmens und einer gemeinsamen (höfischen) Öffentlichkeit bedurft.29 Hinzu kommt, dass das Fehlen eines solchen Raums „Übersetzungen“ für den je eigenen Adressatenkreis – also zum Beispiel für die europäische Fürstengesellschaft – notwendig bzw. überhaupt erst möglich macht.30 Übersetzungen, die in aller Regel darauf abzielen, symbolische Interaktionen in einen je spezifischen kulturellen Sinnhorizont zu überführen und damit Deutungshoheit über das zeremonielle Geschehen zu gewinnen. In anderen Worten: Wer die Audienz aus interkultureller Perspektive untersucht, 27 Vgl. dazu auch Kim Siebenhüner, Approaching Diplomatic and Courtly Gift-giving in Europe and Mughal India: Shared Practices and Cultural Diversity, in: The Medieval History Journal 16/2 (2013) (Special Issue: Handling Diversity: Comparative Perspectives on Medieval and Early Modern India and Europa, hg. von Thomas Ertl), S. 525–546. 28 Die entstehenden transkulturellen diplomatischen Milieus „vor Ort“ waren allem Anschein nach noch nicht dazu in der Lage, diese Funktion zu übernehmen. Vgl. am Beispiel Istanbuls hier nur Suraiya Faroqhi, The Ottoman Empire and the World Around It, London u.a. 2013 (1. Auflage 2004) (insbesondere Kapitel 8); Vogel, Gut ankommen (wie Anm. 9). 29 Wie sie zum Beispiel im Laufe der frühen Neuzeit in Westeuropa entstand, wo es der Hofpublizistik mehr oder weniger erfolgreich gelang, den „Bruch zwischen Präsenz- und Distanzmedialität“ zu kaschieren: Volker Bauer, Strukturwandel der höfischen Öffentlichkeit. Zur Medialisierung des Hoflebens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), S. 585–620. Vgl. in diesem Kontext auch grundlegend Rudolf Schlögl, Kommunikation unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformationen in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224. 30 „Übersetzung“ hier im Sinne von Doris Bachmann-Medick, Translation – A Concept and Model for the Study of Culture, in: Travelling Concepts for the Study of Culture, hg. von Birgit Neumann/Ansgar Nünning, Berlin u.a. 2012, S. 23–43.

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kann beobachten, wie transkulturelle Praktiken, die in einem Begegnungsraum semiotischer Uneindeutigkeit entstehen, so übersetzt werden, dass sie in einem Begegnungsraum semiotischer Eindeutigkeit keine (oder doch fast keine) Wünsche offen lassen.31 Gibt es einen gemeinsamen – perspektivischen – Nenner, auf den sich diese (und weitere) Beobachtungen der folgenden Beiträge bringen lassen? Soviel zumindest darf festgehalten werden: Obwohl es die Beobachtungen keineswegs nahe legen, diplomatischen Kulturen Eigenlogik abzusprechen, lassen sie doch in aller Deutlichkeit erkennen, dass eine strikte Trennung diplomatischer Sinnsysteme historisch unangemessen ist. Die interkulturelle Audienz zeigt Akteure, die alles andere als Gefangene ihres kulturellen „Eigen-Sinns“ sind – und die deshalb auch nur selten politisch sprachlos erscheinen. Sie zeigt Akteure, die ihre semiotischen Abenteuer ebenso selbstbewusst wie selbstreflektiert erleben und kommentieren. Akteure, die mehr oder weniger durchgängig vor Augen führen, dass wir gut daran tun, uns von der Meistererzählung zu verabschieden, die „moderne“ Diplomatie sei eine „westliche“ Erfindung, die im Laufe der frühen Neuzeit von Europa aus in die ganze Welt exportiert worden sei. Sie zeigt Akteure, die keinen Zweifel lassen: Frühneuzeitliche Diplomatie ist transkulturelle Praxis.32

31 Zum (westeuropäischen) diplomatischen Zeremoniell als „Medium mit eindeutigen Signalen“: Krischer, Souveränität (wie Anm. 7), S. 8; vgl. auch Bauer, Höfische Gesellschaft (wie Anm. 6). 32 Prägnant für die (durchaus gegenläufige) Entwicklung seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert: Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 708–723 („Diplomatie: Politisches Instrument und interkulturelle Kunst“).

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Dank Wir danken allen, die dabei halfen, den vorliegenden Band auf den Weg zu bringen. Vor allem aber: Mariann Bagdohn, Rita Becker, Johannes Dickel, Nina Fleischer, Karin Heilmann und Michael Leemann. Ohne die Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universitäten Rostock und Vechta hätte der Band nicht entstehen können. Susanne Kummer und Elena Mohr vom Böhlau Verlag haben den Druck umsichtig, verständnisvoll – und mit erwartungsfroher Gelassenheit begleitet. Berlin und Vechta, im Mai 2014

Christine Vogel Peter Burschel

Den Herrscher grüßen? Grußpraktiken bei Audienzen am Mogulhof im europäischen Diskurs der Frühen Neuzeit Antje Flüchter Als der britische Diplomat George Macartney im Jahre 1793 bei einer Audienz vor dem chinesischen Kaiser Qianlong stand, verweigerte er die traditionelle Grußform, also den Kotau, und verlangte stattdessen, seiner Landessitte entsprechend zu grüßen.1 Er soll der erste Europäer gewesen sein, der dies tat, und ging damit in die Geschichtsbücher ein. In der Verweigerung des Kotaus kulminiert die westliche Vorstellung, dass Europäer sich nicht vor Chinesen demütigen oder unterwerfen müssen, was dem neuen europäischen Selbstbewusstsein am Übergang zum 19. Jahrhundert entsprach. So übersetzte Jürgen Osterhammel die Botschaft dieses symbolischen Handelns für die moderne europäische Wahrnehmung: „Ein freier Engländer demütigt sich nicht vor einem orientalischen Despoten.“2 Das eigentliche Ziel der Mission, die Errichtung eines ganzjährigen Handelsstützpunktes und dadurch die Steigerung des Imports britischer Waren, verfehlte Macartney völlig. Doch dieses Scheitern wurde im westlichen kulturellen Gedächtnis vergessen und stattdessen der beschriebene symbolische Erfolg gefeiert und erinnert. Grußpraktiken an asiatischen Höfen und ihre Verweigerung haben einen festen Platz im narrativen Haushalt Europas.3 Dieser Artikel untersucht die europäische Beschreibung von Grußpraktiken im Rahmen diplomatischer Interaktion an indischen Höfen und ihre Weiterverarbeitung in den europäischen 1 Paul Gilingham, The Macartney Embassy to China. 1792–1794, in: History Today 43/11 (1993), S. 28–34. 2 Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 712. 3 Dieses Bild wird bis auf die Antike zurückgeführt und so als eines der Elemente west-östlichen Gegensatzes stilisiert. Beispielsweise wird die Proskynese vor dem persischen König von Xenophon sowohl in seiner Cyropaedia als auch in der Hellenica erwähnt, vgl. dazu Muhammad A. Dandamayev, Courts and Courtiers: i) In the Median and Achaemenid Periods, in: Encyclopaedia Iranica, Bd. VI/4, hg. von Ehsan Yarshater, New York 2002, S. 356–359; auch Bezüge auf das Alte Testament sind möglich, da das Drama der Geschichte um Esther damit beginnt, dass Mordechai sich weigert, vor dem Artaxerxes niederzuknien, vgl. Esther 3, 2.

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Diskursen der Frühen Neuzeit. Dadurch trägt er dazu bei, die europäische Diplomatiegeschichte für eine globale Perspektive zu öffnen. Damit soll die europäische Diplomatiegeschichte sowohl verflochten als auch provincialised werden, um auf diese Weise die Produktionsmechanismen westlicher Meistererzählungen aufzudecken. Wurden Grußpraktiken wie überhaupt europäisch-asiatische diplomatische Interaktionen in der Moderne unter dem Vorzeichen der kulturellen Differenz und der westlichen Überlegenheit betrachtet, interessierten in der performativ ausgerichteten Frühen Neuzeit vor allem die Formen des diplomatischen Zeremoniells und der höfischen Inszenierungen.4 Dieses Interesse richtete sich nicht nur auf den Glamour höfischer Inszenierung, denn das diplomatische Zeremoniell war ein wichtiger Spiegel der internationalen Machtverhältnisse. Ja, es war mehr als das, denn im Medium des Zeremoniells konnten durch die Inszenierung der Machtverhältnisse Rangstreitigkeiten entschieden und damit letztlich Macht produziert werden.5 Die gesamte diplomatische Praxis der Vormoderne wurde von zeremoniellen Regeln bestimmt und strukturiert. Innerhalb des diplomatischen Geschehens kann die Audienz wiederum als ein Ort besonderer symbolischer Verdichtung verstanden werden: In der direkten Interaktion zwischen dem Gesandtem und dem besuchten Herrscher waren die Machtverhältnisse im Zeremoniell, aber auch im Austausch der Geschenke von jedem ablesbar, der mit zeremoniellen

4 Betrachtet man den Buchmarkt, ist dieses Interesse sowohl innerhalb der höfischen Gesellschaft als auch weit darüber hinaus festzustellen, vgl. die vielen Veröffentlichungen, oft einschließlich Illustrationen, zu zeremoniellen Festlichkeiten, Helen Watanabe-OʼKelly/Anne Simon, Festivals and Ceremonies. A Bibliography of Works Relating to Court, Civic and Religious Festivals in Europe 1500–1800, London u.a. 2000. 5 Hier bezieht sich dieser Aufsatz auf die vielfältigen Forschungen zu Zeremoniell und symbolischer Kommunikation, wie sie in Münster verfolgt wurden, vgl. z.B. Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389–405; Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Darmstadt 2008; Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; Christoph Dartmann, Adventus ohne Stadtherr. „Herrschereinzüge“ in den italienischen Stadtkommunen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 86 (2006), S. 64–94; Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003.

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Ausdrucksweisen vertraut war.6 Die Festlegung der Machtverhältnisse im Zeremoniell war mehr als Beiwerk der eigentlichen Politik, denn es schuf die Grundlage für die instrumentellen Zielsetzungen einer Gesandtschaft: Das Zeremoniell stellte die Spielräume für die folgenden Verhandlungen dar und strukturierte zugleich die Machtverhältnisse zwischen den Verhandlungspartnern vor. Das Zeremoniell einer Audienz ist daher eine besonders prekäre Form der Kontaktzone. Die Diplomatie und ihr Zeremoniell sind deshalb ein wichtiges Untersuchungsfeld für interkulturelle Interaktion und die mögliche Ausbildung transkultureller Praktiken und Konzepte. Betrachtet man die nationale oder auch kontinentale Geschichte nicht als hermetisch abgeschieden, sondern als Teil einer verflochtenen oder geteilten Geschichte,7 muss dieses Untersuchungsfeld einbezogen werden – gerade wenn man europäische Besonderheiten herausarbeiten will. Das diplomatische Zeremoniell und die Praxis der Machtinszenierung haben sich als wichtiges Untersuchungsobjekt der neuen Kulturgeschichte des Politischen für den europäischen Raum etabliert.8 Auch das Ausgreifen nach 6 Zur Rolle von Geschenken in der europäischen Kultur: Natalie Zemon Davis, Die schenkende Gesellschaft. Zur Kultur der französischen Renaissance, München 2002; Barbara Stollberg-Rilinger, Zur moralischen Ökonomie des Schenkens bei Hof (17.–18. Jahrhundert), in: Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Werner Paravicini, München 2010, S. 187–204; in einer globaleren Perspektive: Peter Burschel, Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 408–421. 7 Der Ansatz der entangled history ist mittlerweile fest in der Geschichtswissenschaft etabliert, vgl. Joachim Eibach/Claudia Opitz-Belakhal/Monica Juneja, Kultur, Kulturtransfer und Grenzüberschreitungen. Joachim Eibach und Claudia Opitz im Gespräch mit Monica Juneja, in: zeitenblicke 11, Nr. 1, [07.11.2012], URL: http://www.zeitenblicke.de/2012/1/Interview/index_html, URN: urn:nbn: de:0009-9-34709 (2012); Monica Juneja, Braided Histories? Visuelle Praktiken des indischen Mogulreichs zwischen Mimesis und Alterität, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 187–204; Sanjay Subrahmanyam, Connected Histories. Notes towards a Reconfiguration of Early Modern Eurasia, in: Modern Asian Studies 31 (1997), S. 735–762; Sebastian Conrad/Shalini Randeria, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in einer postkolonialen Welt, in: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in der Geschichts- und Kulturwissenschaft, hg. von Sebastian Conrad/Shalini Randeria, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 9–49. 8 Vgl. beispielsweise: Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 7 (1997), S. 145–176; Matthias Köhler, „No Punctilios of Ceremony“?

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Osten, vor allem ins moskowitische Reich, und die dabei auftretenden Übersetzungsschwierigkeiten wie ihre Lösung wurden beleuchtet.9 Doch die Untersuchung diplomatischer Kontakte, die über den christlichen Kulturraum hinausgehen, wurde abgesehen vom Osmanischen Reich noch kaum systematisch in diese Überlegungen einbezogen.10 Die diplomatischen Missionen außerhalb des Völkerrechtliche Anerkennung, diplomatisches Zeremoniell und symbolische Kommunikation im Amerikanischen Unabhängigkeitskonflikt, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hg. von Hillard von Thiessen/Christian Windler, Köln 2010, S. 427–444; Peter Burschel, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, hg. von Alexander Koller, Tübingen 1998, S. 260–271; Miloš Vec, „Technische“ gegen „symbolische“ Verfahrensformen? Die Normierung und Ausdifferenzierung der Gesandtenränge nach der juristischen und politischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Vormoderne politische Verfahren, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin 2001, S. 559–588; Thomas Weller, Andere Länder, andere Riten? Die Wahrnehmung Spaniens und des spanischen Hofzeremoniells in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke, Köln u.a. 2007, S. 41–56. 9 Vgl. Claudia Garnier, „Wer meine Herrn ehrt, den ehre ich billig auch“. Symbolische Kommunikationsformen bei Gesandtenempfängen am Moskauer Hof im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7 (2005), S.  27–51; Christine Roll, Politisches Kalkül und diplomatische Praxis. Zu den Verträgen und Vertragsverhandlungen zwischen Zar und Kaiser im 16. und 17.  Jahrhundert, in: Kalkül – Transfer – Symbol. Europäische Friedensverträge der Vormoderne, hg. von Heinz Duchhardt/Martin Peters, Mainz 2006, S. 53–62; Kolja Lichy, How to do Politics with Words: Oratory, Ceremonial and Procedure in the Sejm and the Reichstag (c. 1500–1570), in: Parliaments, Estates and Representations 29/1 (2009), S. 67–84. 10 Osmanisches Reich: Stephan Theilig, Die erste osmanische Gesandtschaft in Berlin 1763/64: Interkulturalität und Medienereignis, in: Europäische Wahrnehmungen 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, hg. von Joachim Eibach/Horst Carl, Hannover 2008, S. 131–160; Peter Burschel, Topkapi Sarayi oder Salomon Schweiggers Reise ans Ende der Zeit, in: Räume des Selbst (wie Anm. 8), S. 29–40. Es ist dagegen bezeichnend, dass das Handbuch der Geschichte der internationalen Beziehungen das Osmanische Reich als Akteur behandelt, wenn auch bei Duchhardt im 4. Band nur noch als „Schwellenland“, während es die anderen Weltreiche ausblendet oder zumindest nicht als Akteure in den Blick nimmt. Alfred Kohler, Expansion und Hegemonie. Internationale Beziehungen 1450–1559, Paderborn u.a. 2008; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559–1660, Paderborn u.a. 2007; Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700–1785, Paderborn u.a. 1997.

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westlich-christlichen Kommunikationsraums standen denen innerhalb zahlenmäßig zweifelsfrei nach, waren aber doch viel häufiger und auch stärker professionalisiert, als die deutsche und europäische Geschichtsforschung zumeist unterstellt. Kontakte mit den verschiedenen asiatischen Territorien und Weltreichen gehörten durchaus zum Alltagsgeschäft der europäischen Territorien. Elisabeth I. von England kommunizierte beispielsweise ausführlich mit dem König von Marokko, aber auch mit Mulay Ahmad al-Mansu.11 Italienische und französische Diplomaten waren ebenfalls keine Unbekannten im vormodernen Asien. Die niederländische Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) schickte Gesandte an alle für ihre Handelsinteressen wichtigen asiatischen Höfe und bildete in ihrem eigenen Hauptsitz in Batavia sogar ein transkulturelles Zeremoniell aus, um mit den asiatischen Herrschern auch symbolisch kommunizieren zu können.12 Ein Grund für die Vernachlässigung dieses Themenbereichs ist sicherlich, dass die Untersuchung interkultureller Diplomatie die Geschichtswissenschaft vor besondere Herausforderungen stellt. Dies beginnt mit der notwendigen Sprachkompetenz und der disziplinären Organisation. Geradezu als Blockade für Forschungen zur interkulturellen Diplomatie erwies sich aber auch das Konzept eines exklusiv europäisch-christlichen Systems der diplomatischen Verfahren, das sogenannte Westfälische System. Danach hat sich im Anschluss an den Westfälischen Frieden von 1648 europaweit ein exklusives System diplomatischer Theorie und Praxis ausgebildet. Dieses habe erst durch Kolonialismus und Imperialismus seit dem 19. Jahrhundert zumeist in Form der sogenannten ungleichen Verträge weltweit Geltung erlangt.13 Kontakte mit 11 Gerald M. MacLean/Nabil I. Matar, Britain and the Islamic World, 1558–1713, Oxford 2011. 12 Leonhard Blussé, Queen among Kings. Diplomatic Ritual at Batavia, in: Jacarta-Batavia. Socio-Cultural Essays, hg. von Kees Grijns/Peter J.M. Nas, Leiden 2000, S. 25–41, v.a. S. 27. 13 Von Historikern der Frühneuzeit wird die Zäsur von 1648 durchaus problematisiert, vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Völkerrechtlicher Status und zeremonielle Praxis auf dem Westfälischen Friedenskongress, in: Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Michael Jucker/Martin Kintzinger, Berlin 2011, S. 147–164, v.a. S. 151 mit weiteren Belegen. Zeitgenössisch wurde die Zäsur unter anderem von Abraham de Wicquefort festgeschrieben, Abraham van Wicquefort, Lʼambassadeur et ses fonctions, Cologne 1689–1690. Deutlich stärker wird diese Zäsur in der Wahrnehmung der Geschichte der Moderne, z.B. Georg Dahm/Jost Delbrück, Völkerrecht: Die Grundlagen. Die Völkerrechtssubjekte, Bd. I/1, Berlin 1989, S. 5. Vgl. zu diesem Problem auch Osterhammel, Verwandlung (wie Anm. 2), S. 710f.

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nicht-christlichen oder nicht-europäischen Herrschaftsbereichen wurden deshalb in den Forschungen zur symbolischen Kommunikation oft ausgeblendet. Den nicht-europäischen Interaktionspartnern wurde etwas Exotisches, Randständiges zugeschrieben oder ihnen wurde gar die Relevanz ernsthafter Politik verweigert.14 So wurde die moderne Dichotomie The West and the Rest in der Geschichtsschreibung zur Frühen Neuzeit historiographisch immer weiter fortgeschrieben. Im Folgenden soll die interkulturelle Diplomatie an indischen Höfen betrachtet und nach der Aushandlung transkultureller Verfahren gefragt werden. 15 14 Und dies trifft nicht nur auf die alte Politikgeschichte zu, sondern lässt sich auch in den neueren, kulturalistischen Ansätzen erkennen. Die geteilte Rationalität dagegen grundsätzlich ernstnehmend: Christina Brauner in diesem Band; Dorothee Linnemann, Visualising „State-Building“ in European-Ottoman Diplomatic Relations. Visual Ceremonial Descriptions and Conflicting Concepts of Early Modern Governance in the Late Seventeenth and Early Eighteenth Centuries, in: Structures on the Move: Technologies of Governance in Transcultural Encounter, hg. von Antje Flüchter/Susan Richter, Berlin u.a. 2012, S. 251–269. Ebenfalls hinderlich war sicherlich die europäische Meistererzählung einer schnellen Übernahme der Herrschaft in Asien und der Brechung jeglichen asiatischen oder islamischen Widerstandes. Dieses Bild wird gerade in deutschsprachigen Überblicksdarstellungen vertreten, vgl. z.B. Kohler, Expansion (wie Anm. 10), S. 276–285, v.a. S. 283f. Kohler bezieht sich dabei bezeichnenderweise auch auf andere deutschsprachige Literatur und nicht auf Darstellungen aus asiatischer Perspektive, wie z.B. Sanjay Subrahmanyam, Explorations in Connected History. Mughals and Franks, New Delhi u.a., 2005; ders., The Portugiese Empire in Asia, 1500–1700: A Political and Economic History, London u.a. 1993; Ashin Das Gupta, The World of the Indian Ocean Merchant. 1500–1800. Collected Essays of Ashin Das Gupta, compiled by Uma Das Gupta. With an introduction by Sanjay Subrahmanyam, Oxford 2001, aber auch globalgeschichtliche Überblicksdarstellungen neueren Datums, z.B. John Darwin, Der imperiale Traum. Die Globalgeschichte großer Reiche 1400–2000, Frankfurt a.M. u.a. 2010. 15 Die Begriffe interkulturell und transkulturell werden oft als sich ausschließend verstanden oder gar benutzt, um grundlegende Unterschiede zwischen Ansätzen zu betonen, z.B. Wolfgang Welsch, Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), S. 327–351, v.a. S. 333–335. Im Folgenden wird die etymologische Unterscheidung zwischen inter und trans fruchtbar gemacht: Die interkulturelle Perspektive richtet den Fokus auf das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen, während die transkulturelle Perspektive die Entstehung von etwas Neuem, Vermischtem, das über die zusammentreffenden Kulturen hinausgeht, betrachtet. Damit wird der Transifizierungsfalle entgangen, vgl. zu diesem Problem: Melanie Hühn/ Dörte Lerp/Knut Petzoold/Miriam Stock, In neuen Dimensionen denken? Ein-

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Der Schwerpunkt wird auf den Mogulhof, das wichtigste indische Machtzentrum seit Ende des 16. Jahrhunderts, und auf die frühe englische Gesandtschaft von Sir Thomas Roe dorthin gelegt. Die Analyse fokussiert die Grußpraktiken, das heißt die Art, auf die nach europäischen Quellen der indische Herrscher gegrüßt werden sollte und gegrüßt wurde. Grußpraktiken verfügen als körperliche Praktiken über eine besondere Kraft der Inszenierung, mit ihnen wurden die Machtverhältnisse geradezu in die Körper eingeschrieben. 16 Die europäische Sicht auf die am Mogulhof stattfindenden Aushandlungsprozesse wird mit zwei Berichten über kleinere Höfe verglichen: erstens mit Vasco da Gamas Bericht über seine Ankunft in Calicut im Jahr 1498 und zweitens mit der Beschreibung Pietro della Valles vom Besuch eines portugiesischen Botschafters im südindischen Königreich Ikkeri am Ende des 16. Jahrhunderts. Das deutschsprachige wie das europäische17 Indienbild hat viele Ebenen: Reisende nahmen Indien wahr, verglichen es mit dem ihnen Bekannten und übersetzten ihre Beobachtungen in ihren Berichten in Kategorien, die ihrem europäischem Publikum vertraut waren.18 Betrachtet man solche Übersetzungen aus einer transkulturellen Perspektive, geht es nicht um die Frage, ob eine führende Überlegungen zu Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit und Translokalität, in: Transkulturalität, Transnationalität, Transstaatlichkeit, Translokalität: theoretische und empirische Begriffsbestimmungen, hg. von Melanie Hühn, Berlin u.a. 2010, S. 11–46. Gleichzeitig liegt dieser Vorstellung selbstverständlich ein prozessualer Kulturbegriff zugrunde. 16 Vgl. für den europäischen Kontext: Gerd Althoff, Das Grundvokabular der Rituale. Knien, Küssen, Thronen, Schwören, in: Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800–1800, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger, Darmstadt 2008, S. 149–154; Barbara Stollberg-Rilinger, Knien vor Gott – Knien vor dem Kaiser. Zum Ritualwandel im Konfessionskonflikt, in: Zeichen – Rituale – Werte, hg. von Gerd Althoff, Münster 2004, S. 501–533. 17 Der europäische Diskurs wird im Folgenden als ein verflochtener verstanden, d.h. es gibt sowohl einen europaweiten als auch sprachlich distinkte Rezipientenkreise. Veröffentlichungsstrategien und Übersetzungen für ein distinktes sprachliches Publikum und dadurch die Konstruktion spezifischer Diskurse müssen ebenso ernstgenommen werden wie deren Verflechtung mit anderen spezifischen Diskursen oder übergreifenden Veröffentlichungen (oft auf Latein). 18 Vgl. dazu Susanna Burghartz, „Translating Seen into Scene?“ Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, in: Berichten – Erzählen – Beherrschen. Wahrnehmen und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, hg. von Susanna Burghartz/Maike Christadler/Dorothea Nolde, Frankfurt a.M. 2003, S. 161–175; The Translatability of Cultures. Figurations of the Space between, hg. von Sanford Budick/Wolfgang Iser, Stanford, Calif. 1996.

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Übersetzung ‚richtig‘ ist, sondern darum, wie sich durch Verstehen und Interaktion etwas Neues und Drittes bildet. Die Inhalte der Reiseberichte wurden vielfach in den europäischen Diskursen in andere Genres übertragen und die Informationen dabei zu gesellschaftlich anerkanntem Wissen transformiert. Als analytisches Leitbild, mit dem die Quellen gelesen werden, wird das Konzept des Diskurses als Kontaktzone benutzt. Damit wird ein dritter Weg gewählt, wie mit Wahrnehmungsquellen aus Kontaktzonen umgegangen werden kann. Denn Texte über Indien können selbstverständlich einerseits nicht schlicht genutzt werden, um die Geschichte des bereisten Landes zu schreiben, aber auch die Reduzierung von Texten über Nicht-Europa auf reine Spiegel europäischer Verhältnisse befriedigt wenig.19 Der in diesem Artikel eingeschlagene Weg wird vielmehr untersuchen, wie das jeweilige Indienbild und das Wissen über Indien ausgehandelt und produziert wurden. Somit fasse ich die Konstruktion des europäischen Wissens über Indien als einen wissensgeschichtlichen Prozess, der in Europa, in den europäischen Diskursen stattfand, aber doch nicht ohne Indien und Indienerfahrung denkbar ist. Das Wissen, das konstruiert wurde, ist daher als transkulturell zu verstehen.

Sir Thomas Roe am Mogulhof Im Jahre 1615 erreichte mit Sir Thomas Roe der erste offiziell vom englischen König geschickte Gesandte das Mogulreich. Dieses Reich war zu dieser Zeit der wohlhabendste und dynamischste Teil der islamischen Welt.20 Mit ge19 Die Betonung, dass Reiseberichte vor allem als Quelle für europäische Mentalitäten brauchbar sind, erschloss diese Quellengattung geradezu neu für die Geschichtsforschung, vgl. dazu Michael Harbsmeier, Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen. Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen, in: Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, hg. von Antoni Maczak/Hans J. Teuteberg, Wolfenbüttel 1982, S. 1–31. Dennoch ist es Zeit, darüber hinauszugehen, vgl. Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 27–29; Susanna Burghartz, Transformation und Polysemie. Zur Dynamik zwischen Bild, Text und Kontext in den Americae der de Bry, in: Text und Bild in Reiseberichten des 16. Jahrhunderts. Westliche Zeugnisse über Amerika und das Osmanische Reich, hg. von Ulrike Ilg, Venedig 2008, S. 233–268; Joan-Pau Rubiés, Travel and Ethnology in the Renaissance. South India Through European Eyes, 1250–1625, Cambridge 2000. 20 Darwin, Traum (wie Anm. 14), S. 90f.

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wissen Rückschlägen begann es seinen Aufstieg 1526 mit dem Sieg Baburs in der Schlacht von Panipat und expandierte seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhundert, bis es im 17. Jahrhundert den Großteil des indischen Subkontinents beherrschte. Es verfügte über hohe Steuereinnahmen, eine schlagkräftige Militärorganisation und seit der Reform des Mogulherrschers Akbar auch über eine wohl organisierte Verwaltung.21 Seitdem Akbar 1573 das Sultanat Gujerat erobert hatte, gehörte die wichtige Hafenstadt Surat zu seinem Territorium. Von nun an verstärkte sich der Kontakt zwischen dem Mogulreich und den verschiedenen europäischen Gruppen. Dies wurde erleichtert durch den Umstand, dass die indischen Reiche sich anders als die ostasiatischen nicht vor äußeren Einflüssen abschlossen, sondern relativ offen für fremde Kaufleute und andere Reisende waren. Diese Offenheit darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Mogulreich nur das Osmanische und das Safawidische Reich als gleichrangig ansah. Gesandten aus allen anderen Weltregionen wurde dagegen ein inferiorer Status zugeschrieben. Dieser Machtverhältnisse waren sich die verschiedenen Europäer, die an den Mogulhof kamen, bewusst. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurden entsprechend auch die zeremoniellen Spielregeln von den indischen Herrschern vorgegeben. Zwischen den drei großen islamischen Reichen hatte sich für die Diplomatie eine gemeinsame, zeremonielle Sprache entwickelt.22 Wollten die jeweiligen europäischen Diplomaten ihr Ziel erreichen – meist die Sicherung des Zugangs zu den Märkten –, mussten sie sich darauf einlassen und in das System dieser Höfe einordnen. Dies machte sie nicht handlungsunfähig, doch mussten sie sich ihre Handlungsspielräume in engen Grenzen erkämpfen. Dieser Kampf um das Zeremoniell begann bei Sir Thomas Roe bereits bei seiner Ankunft in Surat im September 1615, und er beschrieb ihn immer wieder in seinem Tagebuch: Zunächst verlangten die Zollbehörden, sein Gepäck zu durchsuchen. Diesem Ansinnen verweigerte er sich aufs Deutlichste: „I answered I would never agree to any condition contrary to the priviledge I 21 Vgl. Stephen F. Dale, The Muslim Empires of the Ottomans, Safavids, and Mughals, Cambridge u.a. 2010, v.a. S. 96–104; Muzaffar Alam/Sanjay Subrahmanyam (Hg.), The Mughal State, 1526–1750, Delhi 1998. 22 Auch die usbekischen Schainbaniden können zu dieser Gruppe gezählt werden, vgl. Muzaffar Alam/Sanjay Subrahmanyam, Indo-Persian Travels in the Age of Discoveries, 1400–1800, Cambridge u.a. 2007, S. 129. Solch eine gemeinsame zeremonielle Sprache gab es aber nicht nur für die Diplomatie zwischen diesen drei islamischen Großreichen. Leonard Blussé beschreibt, wie die VOC im Malaiischen Archipel mit einem „ancien régime diplomacy“ konfrontiert wurde, Blussé, Queen (wie Anm. 12), S. 32.

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claymed as my right“.23 Einige Sätze weiter erläutert er, was er unter seinem ‚Recht‘ versteht. Er begründet die geforderte Vorzugsbehandlung mit seinem Status als „an ambassador to a mightie King in league“ mit dem Mogulherrscher.24 In einem Brief an die East India Company vom 24. November 1615 erklärt er sein spezifisches zeremonielles Problem damit, dass seine Vorgänger sich zwar als „ambassadors“ bezeichnet hätten, doch von den Amtsträgern des Mogulreichs lediglich als „impostures“ anerkannt worden seien. Nun müsse er darum kämpfen, als echter Gesandter anerkannt zu werden.25 Dieses Wechselspiel könnte als interkulturelles Missverständnis gedeutet werden.26 Danach könnte man hier herauslesen, dass der Unterschied zwischen einem schlichten Gesandten und einem Ambassador europaspezifisch und daher nur schwer auf den interkulturellen Kontakt zu übertragen gewesen sei. Allerdings war Roe nicht der Einzige, dessen Status als Ambassador bezweifelt wurde. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts traf einen Gesandten, der aus Zentralasien kam und behauptete, ein Gesandter des osmanischen Sultans zu sein, das gleiche Schicksal. Der zu dieser Zeit regierende Mogulkaiser Jahangir (1569–1627) beschreibt diese Episode in seinen Memoiren: „A man of Māwarā’a-n-nahr, of the name of Aqam Haji, who for a long time had been in Turkey and was not without reasonableness and religious knowledge, and who called himself the ambassador of the Turkish Emperor, waited upon me at Agra.“ Vor allem sein Akkreditierungsschreiben konnte den Mogulherrscher und seine Ratgeber nicht beeindrucken: „Looking to his circumstances and his proceedings none of the ser23 Vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte des Tagebuchs im Folgenden. 24 William Foster (Hg.), The Embassy of Sir Thomas Roe to the Court of the Great Mogul 1615–1619 as Narrated in his Journal and Correspondence, London 1926, S. 38. 25 Das Verhalten seiner Vorgänger sei so falsch gewesen, so fügte er hinzu, „that they have almost made yt ridicolous to come vnder that qualetye“, d.h. als Ambassadeur, ebd., S. 78. In seinem Tagebuch hatte er am 27. September explizit den Unterschied zwischen sich und den früheren Engländern erläutert: Er sei ein „full ambassador“ und „sent by the King“. Bei seinen Vorgänger habe es sich dagegen um nicht mehr als „agents“ gehandelt, mit dem Ziel, „to prepare my way and to negotiate in the behalfe oft he Honourable Company“, ebd., S. 38. 26 Studien zur indischen Geschichte interpretieren Roes Agieren oft als Ausdruck seiner Unfähigkeit, die indischen Verhältnisse und vor allem die dort übliche symbolische Kommunikation zu verstehen, vgl. Alam/Subrahmanyam, Indo-Persian Travels (wie Anm. 22), S. 129; Jyotsna G. Singh, Colonial Narratives/Cultural Dialogues. ‚Discoveries‘ of India in the Language of Colonialism, London, New York 1996, S. 38. Diese Urteile können geradezu als Spiegelbild zu Urteilen und zur Unkenntnis über Asien in der europäischen Geschichte gelten.

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vants of the Court believed in his being an ambassador.“27 Dieser Aqam Haji konnte seinen Anspruch nicht beweisen und musste im Unterschied zu Thomas Roe unverrichteter Dinge abreisen. Der Gouverneur von Surat akzeptierte, folgt man Thomas Roes Darstellung, schließlich dessen Rang. Er verzichtete auf die gründliche Durchsuchung seiner Sachen, schickte ihm aber eine Einladung, ihn zu besuchen. Dies könnte als freundliche Geste verstanden werden, doch Roe interpretierte es anders. In dieser Kommunikationssituation trafen verschiedene Konzepte der Repräsentation, der Gesandtschaft und der Stellung herrscherlicher Amtsträger aufeinander. Roe weigerte sich, der Einladung zu folgen, weil er seinen König im Mogulreich vertrat. Eingedenk dessen Stellung und Würde, so erläutert er, könne er nicht irgendjemanden besuchen, der ihm bzw. dem englischen König an Rang unterlegen sei, sondern eben nur einen anderen König. Dies sei die europäische Sitte („custome of Europe“).28 Der Gouverneur dagegen sei kein Repräsentant seines Herrschers, sondern dessen Untertan. Der Gouverneur widersprach der Position Roes. Er erklärte, nach der Sitte des Mogulreichs („custome of this country“) müssten alle Botschafter zunächst den Gouverneur besuchen. Roe sei ein „servant to a great king himself“, also von gleichem Rang wie er, der Gouverneur.29 Im Fortgang des Disputs beschränkten sich beide Interaktionspartner argumentativ nicht auf den Bezug auf die Sitten in Europa oder im Mogulreich, sondern führten weitere Kriterien an. Der Gouverneur argumentierte mit dem Handeln früherer Botschafter („all other that pretended to be embassadors“), also mit Präzedenzfällen. Thomas Roe dagegen führt das Zeremoniell in Persien an. Man sucht nach Referenzpunkten, die jeweils für die andere Seite wichtig und verständlich waren. Die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur von Surat war nur der Anfang der zeremoniellen Aushandlungsprozesse, weitere sollten Thomas Roe begleiten. Auf dem Weg an den Mogulhof in Ajmer besuchte er zunächst Parviz, einen der Söhne des regierenden Moguls Jahangir. Diese Stippvisite verstand er zum einen als einen Akt der Höflichkeit. Zum anderen plante Roe, „to see the 27 The Tuzuk-I-Jahangiri. Or: Memoirs of Jahangir, hg. von Henry Beveridge u. übers. von Alexander Rogers, 2 Bde., London 1909 (ND Delhi 1994), S. 144, vgl. dazu auch Alam/Subrahmanyam, Indo-Persian Travels (wie Anm. 22), S. 120f. 28 Roe führte aus: „That it was the custome of Europe to visit those of my quality first, and that I durst not breake yt in penaltye of my head, haveinge expresse command from my master to mayntayne the honor of a free king and visit non but such“. Foster, Embassy (wie Anm. 24), S. 37. 29 Ebd., S. 37.

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fashiones of the court“, sich also mit dem Zeremoniell an den Höfen des Mogulreichs vertraut zu machen.30 Thomas Roe wurde vom Cuttwall, einem Amtsträger des Mogulhofes, an vielen Höflingen vorbei zum Prinzen geführt. Als er sich dem Prinzen näherte, kam ein „officer“ auf ihn zu und erklärt ihm, welches die angemessene Weise zu grüßen sei. Man ging also von der indischen Seite nicht davon aus, dass Roe das als angemessen empfundene Zeremoniell kannte. Er gibt die Forderung der Offiziere in seinem Bericht wieder: „I must touch the ground with my head, and my hatt off“. Doch dies zu tun, sei er nicht bereit gewesen: „I answered: I came in honnor to see the prince and was free from the custome of servants“.31 Wie bereits gegenüber dem Gouverneur von Surat erklärte er, dass er der Ambassador des englischen Königs sei und deshalb nicht zu solch einem Gruß verpflichtet werden könne. Der Prinz sei nur der Sohn des Moguls und nicht der Herrscher selbst. Auch in diesem Fall beharrte Roe nicht allein auf den Gebräuchen des englischen Hofes oder den diplomatischen Sitten des christlichen Europa. Vielmehr argumentierte er, dass er kein Privileg verlange, das über diejenigen hinausgehe, die den Botschaftern des Königs von Persien und aus dem Osmanischen Reich gewährt werden.32 Der englische Botschafter konnte sich mit seinen zeremoniellen Forderungen durchsetzen und der Ton seines Journals spiegelt an diesen Stellen den Stolz auf seinen diplomatischen Erfolg wider. Als Thomas Roe kurze Zeit später in Ajmer vor Jahangir selbst stand, hatte er dazugelernt und ging am Hofe Jahangirs souveräner mit zeremoniellen Fragen um. So hatte er, bevor er den Audienzsaal betrat, Folgendes ausgehandelt: „I had required before my going leave to use the customes of my country; which was freely granted, soe that I would preforme them punctually“. Die „customs of my country“ bestanden aus einer dreimaligen Verbeugung. Dies entsprach der in Europa üblichen Form, wie sie auch in diplomatischen Zeremonialbüchern beschrieben wird – zum Beispiel bei Rohr.33 Daraufhin grüßte Jahangir ihn ebenfalls freundlich. Roe überreichte den übersetzten Brief des englischen Königs sowie seine Geschenke. In seinem Tagebuch erklärte er nicht nur, „all was well received“, sondern fuhr fort: „He dismissed me with more favour and outward grace (if by the Christians I were not flattered) then 30 Ebd., S. 70. 31 Ebd., S. 70f. 32 Ebd., S. 71. 33 Beispielsweise Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren, Berlin 1733, Neudruck Leipzig 1990, hg. u. kommentiert von Monika Schlechte, S. 402.

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ever was showed to any Ambassador, eyther of the Turke or Persian, or other whatsoever.“34 Thomas Roe war mit seinem Vorgehen offensichtlich zufrieden. Denn zum einen hatte er sich zeremoniell mit seinen aus Europa bzw. England stammenden Vorstellungen durchgesetzt, zum anderen hat er damit aber auch seiner Einschätzung nach im System des Mogulreichs punkten können. Denn er hatte sich in die obersten Ränge des internationalen Gesandtschaftsnetzwerks einordnen können. Die bis hierher gebotene Schilderung der Ereignisse beruht auf der Beschreibung in Thomas Roes Tagebuch. Er erfasste das Erlebte in seiner Sprache und mit seinen Begriffen. Insofern kann aus diesem Text eine europäische Interpretation der symbolischen Kommunikation am Mogulhof extrapoliert werden. Thomas Roe übersetzte das Erlebte für ein europäisches bzw. englisches Publikum. Die Übersetzung und auch die Anpassung der Informationen an ein spezifisches Publikum werden noch deutlicher, wenn man sich nicht nur auf das Tagebuch Thomas Roes bezieht. Roe schrieb zusätzlich verschiedene Briefe nach England, die in die moderne Ausgabe seines Tagebuchs aufgenommen wurden. Bezüglich des Zeremoniells der Audienzen fällt auf, dass er in seinem Brief an die East India Company, den er kurz nach seinem Besuch bei Prinz Parviz verfasste, das Zeremoniell nicht erwähnt, sich aber explizit über die mangelnde Qualität der Geschenke, mit denen man ihn ausgestattet hatte, beklagt.35 Nach seinem Antrittsbesuch bei Jahangir schrieb er an George Lord Carew, mit dem er eine relativ regelmäßige Kommunikation unterhielt. Hier erwähnt er Surat und seinen Besuch bei Prinz Parviz nur kurz, beides sei wenig bemerkenswert gewesen.36 Anders verhielt es sich aber mit seinem Empfang bei Jahangir: „The King never used any ambassadour with so much respect; without any dispute giving mee leave to use mine owne customes, not requiring that of me, which he

34 Foster, Embassy (wie Anm. 24), S. 87. Die Frage des richtigen Geschenks beschäftigte Thomas Roe während seines gesamten Aufenthalts immer wieder, vor allem aber das Problem, dass die EIC ihm keine angemessenen Geschenke zur Verfügung stellte, vgl. dazu: Antje Flüchter, Sir Thomas Roe vor dem indischen Mogul. Transkulturelle Kommunikationsprobleme zwischen Repräsentation und Administration, in: Im Schatten der Macht. Kommunikationskulturen in Politik und Verwaltung 1600–1950, hg. von Stefan Haas/Marc Hengerer, Frankfurt a.M. 2008, S. 119–143. 35 Foster, Embassy (wie Anm. 24), S. 94. 36 Ebd., S. 88.

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useth of the Persian.“37 Zeremonielle Aspekte schilderte er einem anderen Angehörigen der englischen Hofgesellschaft und nicht den Kaufleuten der East India Company. Carew gegenüber zeigte Roe deutlich seinen Stolz auf seinen zeremoniellen Erfolg und betonte explizit, dass er auf die englische Art habe grüßen dürfen. Damit verband Roe erneut, seine Besserstellung gegenüber dem persischen Gesandten herauszustreichen. Solche Briefe können als eine Zuspitzung und erneute Verarbeitung der Erfahrungen gelten, wie Roe sie in seinem Tagebuch für sich selbst niedergeschrieben hat. Betrachtet man den Transfer der Texte in den weiteren europäischen Diskurs, zeigt sich, dass diese Verarbeitung und damit auch Veränderung der Informationen weiter ging. Erste und gekürzte Teile der Roe-Texte wurden bereits 1625 von Samuel Purchas in seiner Reisebericht-Kompilation Purchas his Pilgrimes herausgegeben. Die hier analysierte Interaktion mit Parviz und Jahangir findet sich ungekürzt,38 es fehlt aber die Auseinandersetzung mit dem Gouverneur von Surat. Fragen des Zeremoniells und vor allem Beschreibungen der Interaktion mit den Großen und Mächtigen der Welt interessierten den frühneuzeitlichen Leser. Interessant ist auch die Auswahl des Frankfurter Verlegerhauses de Bry: Die Verleger nahmen den Bericht Thomas Roes in den 12. Band ihrer berühmten Reihe India Orientalis auf. Damit erschien eine deutsche Übersetzung bereits 1628, also nur drei Jahre nach der Ausgabe von Purchas. Doch für die India

37 Ebd., S. 90. In einem Brief an den Erzbischof von Canterbury ging Roe wiederum sehr viel expliziter auf die religiösen Verhältnisse im Mogulreich ein als in den anderen Briefen, vgl. ebd., S. 275. 38 Vgl. Samuel Purchas, Purchas his Pilgrimes: In Fiue Bookes. The first, contayning the voyages and peregrinations made by ancient kings, patriarkes, apostles, philosophers, and others, to and thorow the remoter parts of the knowne world [...]. The second, a description of all the circum-nauigations of the globe. The third, nauigations and voyages of English-men, alongst the coasts of Africa [...] The fourth, English voyages beyond the East Indies, to the ilands of Iapan, China, Cauchinchina, the Philippinæ with others [...] The fifth, nauigations, voyages, traffiques, discoueries, of the English nation in the easterne parts of the world [...], London 1625. Diese erste Veröffentlichung umfasste etwa 60 Seiten. Dies ist deutlich weniger Material, als die moderne Edition zusammengetragen hat. Der Bericht findet sich auf S. 535–599; die Audienz mit Parviz: S. 540f.; die erste Audienz bei Jahangir: S. 542. Teilweise wurden auch die analysierten Briefe schon von Purchas veröffentlicht, z.B. der an Lord Carew, vgl. ebd., S. 581 – allerdings ohne Carews Namen zu nennen.

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Orientalis wurde der Text Roes sehr gekürzt39 und durch die Kürzungen wie auch durch die Übersetzung in seiner Aussage verändert: Wie die Fassung bei Purchas setzt der Text mit Roes Aufenthalt in Brahmpur bei Prinz Parviz ein und mit der Frage, wie Roe diesen grüßen solle. Dabei fügt die De Bry-Version kleine Teile hinzu, wohl um die Darstellung für den Leser noch verständlicher zu machen: Aus dem Catual, Cuteval oder Cotwal, der Roe in die Halle führt und erklärt, wie er zu grüßen habe, wird hier ein „Hoffmeister“.40 Auch der 39 Hier füllt der Text Roes nur vier, allerdings sehr eng bedruckte Seiten: Der zwölffte Theil der Orientalischen Indien. Darinnen etliche newe/gedenckwürdige Schifffarthen und Reysen/ so von underschiedlichen Völckern/sonderlich den Portugesen/Englischen/und Holländern/ In OstIndien/[...]/vom Jahr 1610. biß uff 1627. verrichtet worden; Sonderlich aber In das Königreich Indostan/oder deß grossen Mogols/das Königreich China/ Persien/die Bandamischen Insuln/[...], hg. von Johann Theodor de Bry, Franckfurt am Mayn 1628, S. 8–11. Zum Verständnis der India Orientalis und der India Occidentalis vgl. Michiel van Groesen, The Representations of the Overseas World in the De Bry Collection of Voyages (1590–1634), Leiden u.a. 2008, sowie: Inszenierte Welten. Die west- und ostindischen Reisen der Verleger de Bry, 1590–1630, hg. von Susanna Burghartz, Basel 2004. 40 Damit schließt sich De Bry vielleicht an die Erklärungen dieses Amtes in der deutschen Übersetzung des historiographischen Werk Castanhedas an, vgl. Fernão L. de Castanheda, Warhafftige und volkomene Historia von Erfindung Calecut und anderer Königreich, Landen und Inseln in Indien und dem Indianischen Meer gelegen: So vormals von niemands mehr erkand, Daher biß auff den heutigen Tag allerley Gewürtz, Specerey vnd andere köstliche Wahr, Fast in die gantze Christenheit gebracht werden; Wie dieselbigen durch des Königes auß Portugal Vnterthanen zu Meer ersucht, gefunden vnd bekriegt worden, etc.; Auß Frantzösischer Sprach jetzt newlich ins Teutsch gebracht, o.O. 1565, S. 138. Das Amt des Cottwal durchläuft im deutschsprachigen und europäischen Diskurs zu Indien eine interessante Funktionsverschiebung vom zeremoniell versierten Hofmeister zum Polizeiminister: Seit dem 17. Jahrhundert werden dem Amt zunehmend jurisdiktionelle und polizeiliche Funktionen zugewiesen, z.B. Jean de Thévenot, Deß Herrn Thevenot Reysen in Ost-Indien/in sich haltend Eine genaue Beschreibung des Königreichs Indostan, der neuen Mogols und anderer Völcker und Länder in Ost-Indien; nebenst ihren Sitten, Gesetzen, Religionen, Festen, Tempeln, Pagoden, Kirchhöfen, Commercien, u.a. merckwürdigen Sachen. […], Franckfurt am Mayn 1693, S. 37–39; im 18. Jahrhundert wie im modernen Diskurs hat sich diese Amtserklärung durchgesetzt, vgl. Johann J. Schwabe, Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und Lande oder Sammlung aller Reisebeschreibungen, welche bis itzo in verschiedenen Sprachen von allen Völkern herausgegeben worden, Bd. 11, Leipzig 1753, S. 255; für den modernen Diskurs vgl. die Erläuterungen im Anmerkungsapparat von Babur, Memoirs of Zehir-edDin Muhammed Baber, Emperor of Hindustan, hg. und übers. von John Leyden/ William Erskine, London 1826, S. 215, Anm. 3; Farhat Hasan, State and Locality

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weitere Text weist Ergänzungen auf. So wird der geforderte Gruß detaillierter erklärt. Es wird hinzugefügt, dass Roe nicht nur den Kopf dreimal beugen sollte, sondern auch „jedes mahl die Knie mit den Händen anrühren“. Zudem wird der Zweck dieses Grußes expliziert, nämlich als die Art, dem Prinzen die „Ihm gebührende Reverentz“ zu erweisen.41 Hinsichtlich der Interaktion mit Jahangir kürzte man in der deutschen Übersetzung Roes Text und fasste fast lapidar zusammen, Roe sei „mit gleichförmigen Ceremonien“ vom Mogulkaiser empfangen worden.42 Die Beschreibung der Aushandlung des diplomatischen Zeremoniells wurde herausgekürzt und somit als unwichtig oder uninteressant für die deutschsprachigen Leser deklariert.43 Entsprechende Aushandlungen vor dem eigentlichen Besuch waren ein übliches Verfahren der europäischen Diplomatie.44 Die untersuchte Darstellung Thomas Roes zeigt, dass dies nicht nur für den innereuropäischen Raum zutraf. Er erwartete für seine Interaktion im Mogulreich die Notwendigkeit, symbolisch zu kommunizieren. Dabei ging er davon aus, dass die Kommunikation in einer anderen symbolischen Sprache verfasst war als der am englischen Kö-

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in Mughal India. Power Relations in Western India, c. 1572–1730, Cambridge 2004, S. 39; Michael Mann, Geschichte Indiens. Vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2005, S. 315. Die Verschiebung der Funktionszuweisungen von Hofämtern kann ein Beleg dafür sein, welche Funktionen und damit letztlich auch welche Politikfelder die Europäer als zentral für eine Herrschaft ansahen und wie sich das im Laufe der Zeit wandelte. De Bry, India Orientalis 12 (wie Anm. 39), S. 8. Roe, in: ebd., S. 8. Andere kleine und doch bezeichnende Veränderungen finden sich in einer deutschen Übersetzung aus dem 18. Jahrhundert. Zum Beispiel werden hier aus den beiden „noble slaves“, die Roe vor den Mogul geleiten, zwei Offiziere! Schwabe, Allgemeine Historie 11 (wie Anm. 40), S. 6. In dem ebenfalls für de Bry deutlich gekürzten Bericht des Captains William Hawkins, eines der Vorgänger von Thomas Roe, heißt es ebenso kurz, er sei vom Herrscher „mit grosser Solennitet“ empfangen worden, Hawkins, in: de Bry, India Orientalis 12 (wie Anm. 39), S. 6. Die Verhandlungen wurden herausgekürzt, nicht aber das Zeremoniell selber. Das wurde vielmehr wie etwas besonders Wissenswertes behandelt und bis in moderne Enzyklopädien hinein rezipiert. Julius Bernhard von Rohr erklärte beispielsweise in seinem Standardwerk Ceremonielwissenschafft der Großen Herren (1733), wegen der großen Bedeutung der Ceremonien für die Gesandten müssten sie sich im Vorfeld ihres Aufenthalts an einem fremden Hof genau über die dortigen Gepflogenheiten informieren, „damit sie nicht mehr verlangen, als ihnen zukommt, und von andern auf eine ungebührliche und lächerliche Weise prätendieren“, von Rohr, Einleitung (wie Anm. 33), S. 387. Bezeichnenderweise ist das Beispiel, das er hierzu anführt, der Besuch einer russischen Gesandtschaft in Dänemark.

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nigshof üblichen; deshalb war eine Aushandlung des Zeremoniells ebenso naheliegend wie notwendig. Darauf hatte sich Roe auch vor seiner Reise nach Indien vorbereitet.45 Er ging also von der Notwendigkeit einer kulturellen Übersetzung aus, ebenso rechnete er aber damit, dass es möglich sei, diese Sprache zu lernen und zu übersetzen. Er machte keinen grundsätzlichen, sondern nur einen graduellen Unterschied zwischen Indien und Europa und der in beiden Regionen üblichen symbolischen Sprache. Die höfische Welt des Mogulreichs wurde von ihm nicht als etwas völlig Fremdes, sondern als etwas Übersetzbares und damit Vergleichbares konzeptualisiert. Auch am Mogulhof galt ihm das Zeremoniell als der Ort, an dem Macht- wie Rangverhältnisse repräsentiert und produziert wurden. Die Machtasymmetrien am Mogulhof waren zwar eindeutig, doch ließen sie den englischen Botschafter nicht ganz ohne Handlungsspielräume. Auch in diesem Kontext erwies sich das diplomatische Zeremoniell als ein ebenso komplexes wie flexibles Zeichensystem. Zumindest in seiner eigenen Darstellung steht am Ende ein Grußzeremoniell, das den Mogulherrscher und Roe gleichermaßen zufriedenstellte und der Würde des englischen Königs gerecht wurde. Die ausgehandelte Praxis ist also mehr als eine Addition von verschiedenen Elementen und kann daher als transkulturell bezeichnet werden. Und dieses transkulturelle Zeremoniell repräsentierte nach der Darstellung Roes die Gleichrangigkeit des Mogulherrschers mit dem englischen König und damit auch mit dessen Verkörperung in der Person Roes. Dies entsprach sicherlich nicht der Sicht des Mogulhofes, war aber die Interpretation, die der englische Leser und erst recht der englische König lesen wollte. Symbolische Gleichrangigkeit konnte in der Praxis des frühneuzeitlichen Kulturkontakts kaum durchgesetzt werden, wie Jürgen Osterhammel herausstrich.46 Im europäischen Diskurs über diese Praxis musste sie aber immer wieder eingefordert und erzählt werden. Auch hier konnte die Geschichte des Machbaren und des Sagbaren auseinandertreten – das ist allerdings eine Möglichkeit, die von Historikerinnen und Historikern nur bedingt ausgelotet werden kann, steht ihnen doch vor allem das Sagbare als Quelle zur Verfügung.

45 Unter anderem hatte er die Berichte seiner Vorgänger gründlich studiert, vgl. Michael Strachan, Sir Thomas Roe: 1581–1644. A Life, Salisbury 1989, S. 57. 46 Osterhammel, Verwandlung (wie Anm. 2), S. 712.

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Aushandeln des diplomatischen Zeremoniells jenseits des Mogulhofes Es kann davon ausgegangen werden, dass Aushandlungsprozesse wie die von Thomas Roe beschriebenen zum diplomatischen Alltag in Indien gehörten. Jenseits der internen Rechtfertigungsberichte wurde jedoch selten darüber geschrieben. Es gibt aber durchaus einige vergleichbare Texte über solche Aushandlungen im europäischen Diskurs sowie darüber hinaus.47 Das Mogulreich war ein bedeutender Machtfaktor in Indien, daher erstaunt nicht, dass sich europäische Botschafter hier beugten und anpassten. Doch vergleichbare Aushandlungen können auch für die Begegnung mit kleineren Herrschern gefunden werden – zum Beispiel in den vielen Stadt- und Königreichen an der westindischen Malabarküste. Entsprechende Aushandlungsprozesse sind bereits Teil der Interaktionen von Vasco da Gama mit indischen Herrschaftsträgern auf seiner ersten Reise. In den europäischen Diskurs gelangten die Informationen zu diesem Erstkontakt vor allem durch das historiographische Werk Fernâo L. de Castanhedas. Dessen Geschichte der Portugiesen in Indien erschien 1551 auf Portugiesisch, also sowohl mehr als 50 Jahre nach der Ankunft Vasco da Gamas in Indien als auch zu einem Zeitpunkt, als die portugiesische Herrschaft im westindischen Goa und an verschiedenen anderen Stützpunkten der indischen Küste bereits etabliert war.48 Castanhedas Darstellung war grundlegend für die Formierung des portugiesischen Selbstbildes als Kolonialmacht und für die Wahrnehmung Portugals in den anderen Teilen Europas.49 Der erste indische Herrscher, auf den Vasco da Gama traf, war der Samudrin von Calicut. Vasco da Gama geht in der Darstellung Castanhedas ähnlich wie Thomas Roe von der generellen Möglichkeit symbolischer Kommunikation im

47 Muzaffar Alam und Sanjay Subrahmanyam stellen dar, wie ein osmanischer Admiral seinen Aufenthalt am Mogulhof zu Hause als diplomatischen Erfolg ‚verkaufte‘, vgl. Alam/Subrahmanyam, Indo-Persian Travels (wie Anm. 22), S. 112. 48 Der Text wurde mit einer gewissen Zeitverzögerung in andere Sprachen übersetzt, schon 1553 ins Französische, 1565 ins Deutsche, 1577 ins Italienische, erst 1582 aber ins Englische. Im Folgenden beziehe ich mich auf die deutsche Übersetzung von 1565. 49 João de Barros Werk Primeira Década da Ásia erschien im Jahr 1552 auf Portugiesisch, wurde in weniger europäische Sprachen übersetzt als Castanheda, vor allem aber kaum in den deutschen Sprachraum. Der heute als so wichtig angesehene Reisebericht Fernão Mendes Pintos wurde erstmals 1614 veröffentlicht.

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diplomatischen Verkehr aus.50 Die erste Kontaktaufnahme Vasco da Gamas mit dem Samudrin folgte allen zeremoniellen Schritten, die aus dem europäischen Kontext sowie der neueren Zeremonialforschung bekannt sind und die wir zudem gerade bei Thomas Roe kennengelernt haben: Da Gama wird feierlich eingeholt, und zwar auf eine Art, die ihn zufrieden feststellen lässt: „in solcher herrligkeit/vnd so statlich mit einander/als wenn der König persönlich da gewesen were“.51 Mit dem Lob des eigenen zeremoniellen Erfolges stand also Thomas Roe nicht allein dar, vielmehr wurde es geradezu zu einem Topos im europäischen Diskurs. Zudem ist diese Versicherung aber auch für das heimische Publikum und nicht zuletzt den portugiesischen König wichtig, liest man sie vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Repräsentationstheorie. Die Schilderung des Hofstaates und der Begrüßung des Königs durch da Gama betont die zeremoniell inszenierte Gleichheit. Dies unterstreicht die Ehre da Gamas wie des portugiesischen Königs umso mehr, als der Text zuvor die besondere, kaisergleiche Stellung des Samudrins betont hat.52 Vasco da Gama grüßt nicht nur den König, wie es an der Malabarküste gebräuchlich war, er beschreibt diese Grußpraxis auch genauer: „Das man sich dreymal bucket/mit zusammen gelegten henden/als wie man betet/vnd dieselbigen strecket man von sich“.53 Die Übernahme dieser Landessitte wird in der Darstellung Castanhedas nicht bewertet, sie erscheint aber auch für das portugiesische Statusempfinden als nicht problematisch. Im Anschluss, so fährt der Bericht fort, sei Vasco da Gama zum Herrscher gewunken worden und habe sich sogar setzen dürfen. Der nächste zeremonielle Schritt sei die feierliche Übergabe des Akkreditierungsschreibens gewesen. Während sich da Gama beim Grüßen dem Gebrauch der Malabarküste gebeugt habe, habe er nun darauf bestanden, dem Herrscher den Brief privatissime zu überreichen, wie es in seiner Heimat übliche Praxis war. Auch hier erfolgte ein Aushandeln des Zeremoniells als Ganzes unter Vermischung einzelner zeremonieller Elemente zu einem transkulturellen Verfahren.

50 Er wusste aber auch, dass er auf kulturelle Vermittler und Informanten angewiesen ist, und wählte dafür den islamischen Kaufmann Botaibo, de Castanheda, Historia (wie Anm. 40), S. 135. 51 Ebd., S. 153f. 52 Dieser Herrscher eines wichtigen Stadtstaates an der Malabarküste wird in Castanhedas Bericht dem Leser als „in der warheit Keyser/gegen allen andern Königen in Malabar“ vorgestellt, ebd., S. 117. 53 Ebd., S. 159.

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Als zweiter Vergleichsfall soll eine portugiesische Gesandtschaft zum König von Ikkeri dienen, wie sie der italienische Reisende Pietro della Valle beschrieb. Ikkeri war einer der Nachfolgestaaten des Großreichs Vijayanagara in der heutigen indischen Provinz Karnataka. Von 1500 bis 1763 herrschte hier die Nayaka Dynastie. Ikkeri gehörte im 17. Jahrhundert nicht zu den wichtigsten Akteuren auf dem indischen Subkontinent, hatte aber doch der portugiesischen Expansionsbestrebung Einhalt gebieten können.54 Della Valle begleitete im frühen 17. Jahrhundert eine portugiesische Gesandtschaft in dieses südindische Königreich und berichtete ausführlich darüber.55 Um es vorwegzunehmen: Della Valle war mit dem Verhalten des portugiesischen Botschafters in Ikkeri nicht zufrieden. Deshalb eignet sich diese Textpassage gut, um zu ermessen, was der europäische Erwartungshorizont für einen Botschafter in Indien war. Was war geschehen? Der König hatte angeboten, den portugiesischen Botschafter abholen und zu sich bringen zu lassen. Das war vom Botschafter zunächst abgelehnt worden. Della Valle erklärt, „unser Abgesandter [habe] außdrücklich geschrieben, daß er nicht begehrte/eingeholt zu werden/sondern zufrieden seyn wollte/wann er die Ehre hätte/vor dem König zu erschien/und Audienz zu haben“.56 Della Valle sieht diesen Verzicht im Kontext des höfischen Zeremoniells und der langfristigen Anerkennung des Gesandten und damit auch der Portugiesen überhaupt durchaus kritisch. Diese Unzufriedenheit mit einer gewissen Unprofessionalität des portugiesischen Gesandten zieht sich durch die weitere Beschreibung: Es sei allgemein bekannt, dass man zu einer Audienz pünktlich zu erscheinen habe: „die Zeit der Audientz [hänge] nicht an dem Belieben dessen/der sie suchet/sondern deß jenigen der sie ertheilet“. Doch als die Diener des Nayaks kamen, um den Botschafter einzuholen, saß dieser noch beim Essen, und sie mussten lange auf ihn warten. Die Situation wurde in zeremonieller Hinsicht noch schlimmer: Durch die Ver54 Vgl. dazu Asia in the Making of Europe, hg. von Donald F. Lach/Edwin J. VanKley, Chicago, Ill. u.a. 1965–1993, Bd. 3/2, S. 863–874. 55 Vgl. zu della Valle: Jürgen Jensen, Ethnographische Datenerfassung, Dokumentation und Beschreibung bei Pietro Delia Valle (1586–1652), in: Anthropos 102/2 (2007), S. 421–439. 56 Pietro Della Valle, Reiß-Beschreibung in unterschiedliche Theile der Welt: Nemblich Jn Türckey, Egypten, Palestina, Persien, Ostindien, und andere weit entlegene Landschafften; Samt einer außführlichen Erzehlung [...]; Erstlich [...] in Jtalianischer Sprach beschrieben, und in 54 Send-Schreiben [...] verf. [...]; Bd. 4: In sich haltend eine Beschreibung der anmercklichsten Städte, und Oerter in Indien, und denen Höfen jhrer Fürsten, Genf 1674, S. 83.

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spätung begann Eile und Hektik, sprich ein unangemessenes Durcheinander!57 Wenig würdig erreichte schließlich die portugiesische Gesandtschaft den Königspalast. Hier erwartete sie der König auf einer erhöhten Matratze sitzend oder, wie della Valle schreibt, „nach der Orientalischen Völcker-Gebrauch“. Die portugiesischen Gesandten nahmen, sobald sie den König sahen, ihre Hüte ab, grüßten „ihn Ehrerbietig nach unserer Weise“. Auch in dieser Darstellung wird also zunächst explizit darauf verwiesen, dass der portugiesische Botschafter nicht der landesüblichen, sondern der eigenen Grußpraxis folgt. Doch im Folgenden benimmt sich der Gesandte nicht so, wie es della Valle angemessen erschien. Er blieb nämlich stets „mit unbedecktem Haupt vor dem König/(weil die Portugiesen es also im Gebrauch haben/daß nehmlich die Edelleuthe in Gegenwart ihres Vice-Re sitzen/jedoch das Haupt nicht bedecken)“.58 Der portugiesische Botschafter scheint den König von Ikkeri also wie den portugiesischen Vizekönig behandelt zu haben. In seiner Klage darüber buchstabiert della Valle das europäische Repräsentationsverständnis geradezu aus: Der Gesandte sei eben nicht ein schlichter portugiesischer Adliger, sondern in seiner Funktion als Botschafter „im Namen des Staats/und also des Königs in Spanien“59 in Ikkeri, weshalb er seine Kopfbedeckung hätte aufbehalten sollen, was della Valle für umso notwendiger hält, „weil er der erste Gesandte gewest/der vor dem Venkrapa Najeka/alß einem so geringen König erschienen/ dergestalt/daß er denen/so mit der Zeit nach ihm kommen möchten/keinen so bösen Brauch hätte einführen/sondern die Augen besser auffthun sollen“.60 Gerade der erste Gesandte eines Herrschers muss also Maßstäbe setzen, um keinen Präzedenzfall zu schaffen, der es späteren Gesandten erschwert, die symbolischen Standards einer Audienz wieder zu verändern.61 Das Aushandeln des wechselseitigen Ver-

57 Ebd., S. 85. 58 Ebd., S. 86. 59 Diese Gesandtschaft fand in der Zeitphase statt, als Portugal von den spanischen Habsburgern nach dem Aussterben des Hauses Avis beherrscht wurde. 60 Della Valle, Reiß-Beschreibung 4 (wie Anm. 56), S. 87f. Einige Seiten zuvor hatte della Valle beklagt, dass die Portugiesen, „umb ihre Sachen in Indien groß zu machen […], alle diese kleine Fürsten in Indien Könige“ nennen, auch wenn diese oft über nicht mehr Land herrschten als bei uns ein Marktgraf, S. 83. 61 Della Valle wird danach noch drastischer in seiner Ausdrucksweise: „zumahlen auch der Gesandte sich nicht entblödete zu sagen/daß er sich vor diesem in seinen eigenen Geschäfften an seinem Hofe auffgehalten/und die Ehre gehabt/seiner Hoheit die Füsse zu küssen/und was dergleichen/einem Gesandten unanständigen Worten merte mehr gewest“. Aus all dem schließt der italienische Adlige,

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hältnisses und das Bestehen auf gewissen symbolisch-zeremoniellen Grundsätzen waren, folgen wir della Valle, in Indien also ebenso wichtig wie in Europa. Der Bericht della Valles war im englischen Sprachraum nicht nur bekannt, sondern laut Wolfgang Reinhard sogar eine der wichtigen Quellen für die frühen Unternehmungen der East India Company.62 Daher ist es durchaus möglich, dass Anekdoten wie diese die spätere Lektüre der eingangs analysierten Verhandlungen durch das englische Publikum beeinflussten.

Die Formen des Grüßens am Mogulhof 1: Usbeken und Perser Um die eigene Darstellung der Aushandlung des Audienzgeschehens und damit des zeremoniellen Erfolges bei Thomas Roe besser einschätzen zu können, muss sie mit der allgemein üblichen Grußpraxis bei Audienzen am Mogulhof abgeglichen werden. Kehren wir zurück zu Roes Darstellung seines Besuchs bei Prinz Parviz. Er war aufgefordert worden: „I must touch the ground with my head, and my hatt off.“ 63 Diese Form des Grüßens wird in den meisten europäischen Darstellungen des Zeremoniells am Mogulhof so beschrieben, während in der Historiographie zum Mogulhof zwei zu unterscheidende Grußpraktiken erwähnt werden: kurnish oder taslim und die sijda. Diese Praktiken wurden unter den Mogulherrschern unterschiedlich gehandhabt. Die Kenntnis der Norm ist ein wichtiger Referenzpunkt, um die verschiedenen europäischen Darstellungen, Deutungen und Bewertungen des Hoflebens einschätzen zu können. Als besonders wichtige Quelle für diese Etikettefragen dient der Forschung die Ain-i Akbari, eine Mischung zwischen einer Chronik und einer Programmschrift für die Politik Akbars, verfasst von Abu ʼl-Fazl (1551–1602), dem zentralen Berater und Vordenker dieses Mogulherrschers.64 dass die Portugiesen in Indien letztlich schlechte Hof- und Staatsleute seien, ebd., S. 88. 62 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Europäischen Expansion, Stuttgart 1985, S. 131. 63 Foster, Embassy (wie Anm. 24), S. 70f. 64 Muhammad Athar Ali, The Perception of India in Akbar and Abuʼl Fazl, in: Akbar and His India, hg. von Irfan Habib, Delhi u.a. 1997, S. 215–224; Burton Stein, A History of India, Oxford 1998, v.a. S. 173–175.

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Abuʼl-Fazl beschreibt den taslim, wie Akbar ihn forderte, folgendermaßen: „His Majesty has commanded the palm of the right hand to be placed upon the forehead, and the head to be bent downwards.“65 Das entspricht den Beschreibungen in den meisten Reiseberichten. Die sijda geht darüber hinaus, sie beinhaltet ein eigentliches Niederwerfen auf den Boden. Es ist unklar, wie gebräuchlich die sijda am Mogulhof war. Sie wurde von Moslems kritisiert, da sie der islamischen Gebetspraxis ähnele und damit eine gottgleiche Anbetung des Herrschers impliziere. 66 Wegen dieses möglichen Verständnisses soll der Mogulherrscher Akbar die sijda auch aus der öffentlichen Audienz verbannt haben, während sie unter seinem Sohn Jahangir wieder völlig üblich gewesen sei.67 Ein einfacher taslim war die übliche Grußformel gegenüber dem Mogulherrscher bei jeder Gelegenheit. Bei einem besonderen Gunsterweis, dem Überreichen eines Ehrenkleids oder eines jagir, das heißt eines Territoriums, das im Gegenzug für militärische Gefolgschaft übertragen wurde, wurde der taslim dreimal ausgeführt. Dasselbe galt im Kontext des Zeremoniells, wenn ein Großer des Reichs an den Mogulhof zurückkehrte.68 Folgt man der Historiographiegeschichte zum Mogulhof, wurde diese Form des Grüßens auch von auswärtigen Botschaftern verlangt.69 Nandini Das betont, dass von auswärtigen Botschaftern die Grußformeln, der taslim, ebenso verlangt wurden wie von den Höflingen. Im Gegenzug seien sie auch in die Ranghierarchie der Mogul-Elite aufgenommen worden.70 Dieser Befund passt nicht zu der Selbstdarstellung Roes, doch die Beschreibung des taslim entspricht Beschreibungen in der Mehrzahl der europäischen Quellen. Besonders dicht sind die Quellen für die Regierungszeit Aurangzebs 65 Abu lʼFazl, The Ain i Akbari, übers. von H.S. Jarrett, Calcutta 1891, Bd. 1, S. 158. 66 Diesen Zusammenhang erwähnte auch Abu l’Fazl selbst. Er diskreditiert gleichzeitig die Kritiker als „perverse and dark-minded men“, ebd., Bd.1, S. 159. Sehr kritisch zur sijda äußerte sich ʼAbd al-Qādir Badā’ūnī, vgl. Abraham Eraly, The Mughal World: Life in India’s Last Golden Age, London 2007, S. 48. 67 Vgl. Eraly, Mughal World (wie Anm. 66), S. 47f. 68 Ebd., S. 48. 69 Annemarie Schimmel/Burzine K. Waghmar, The Empire of the Great Mughals: History, Art and Culture, London 2004, S. 68f.; vgl. auch die Darstellung dieser Praxis als Teil des diplomatischen Zeremoniells z.B. bei Milo C. Beach/Ebba Koch, The King of the World: The Padshahnama. An Imperial Manuscript for the Royal Library Windsor Castle, London 1997. 70 Nandini Das, „Apes of Imitation“: Imitation and Identity in Sir Thomas Roeʼs Embassy to India, in: A Companion to the Global Renaissance: English Literature and Culture in the Era of Expansion, hg. von Jyotsna G. Singh, Chichester, U.K. u.a. 2009, S. 114–128, v.a. S. 121.

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(1618–1707). Seinen Hof besuchten die drei schreibfreudigen Franzosen Jean de Thévenot (1633–1667), Jean-Baptiste Tavernier (1605–1689) und vor allem François Bernier (1625–1688).71 Darüber hinaus widmete auch Niccolò Manucci (1638–1717) längere Passagen seines Reiseberichts dem Mogul-Zeremoniell. Besonders wichtig sind die Texte des französischen Reisenden, Arztes und Philosophen François Bernier, der zwölf Jahre am Hof Aurangzebs lebte. Seine Werke wurden vielfach übersetzt und beeinflussten den europäischen Diskurs tiefgreifend.72 Er erklärt die Grußpraxis des taslim zur normalen Grußform am Mogulhof, zum „Indianischen Gruß“, auf den gerade Aurangzeb bestanden habe.73 Am Mogulhof gab es immer eine Vielzahl von Gesandten, was europäische Reiseberichte unter anderem damit erklären, dass die Moguln dies als einen Ausdruck ihrer Macht und ihres Ansehens betrachteten.74 Darunter fanden 71 Ein Vergleich der drei Autoren, ihrer Schreibstile und ihrer sozialen Verortung bei E.F. Oaten, European Travellers in India. During the Fifteenth, Sixteenth and Seventeenth Centuries, the Evidence Afforded by Them with Respect to Indian Social Institutions, & the Nature & Influence of Indian Governments, London 1909, S. 225. Im Folgenden werden von diesen drei Autoren die zeitgenössischen deutschen Ausgaben zitiert. Hintergrund hierfür ist, dass meine zugrundeliegende Forschung die Transformation des Indienbildes im deutschsprachigen Diskurs untersuchte. 72 Langfristig wirkmächtig wurde Bernier bezüglich der Konstruktion der orientalischen Despotie und der asiatischen Produktionsweise. Dafür wurden seine Texte von Montesquieu und Karl Marx, aber auch von vielen anderen rezipiert, vgl. dazu Joan-Pau Rubiés, Oriental Despotism and European Orientalism. Botero to Montesquieu, in: Journal of Early Modern History 9 (2005), S. 109–180; Nicholas Dew, Orientalism in Louis XIVʼs France, Oxford 2009, v.a. S. 133f. 73 François Bernier, Auffgezeichnete Beobachtungen was sich in dem Reich des Grossen Mogols Begeben und zugetragen hat/In Frantzösischer Sprach beschrieben von Dem Herrn Bernier Auß Derselbigen dem Geschichtliebenden Leser zu Nutzen in die Hochteutsche übersetzet und in offenen Truck befördert Durch Wilhelm Serlin/Buchführer in Franckfurt am Mayn, 1673, u.a. S. 3. 74 Z.B. Jean Baptiste Tavernier, Vierzig-Jährige Reise-Beschreibung. [...] Anderer Theil/Worinnen dessen in Indien/und andern benachbarten Inseln/insonderheit aber am Hof des grossen Mogols höchstlöblich bollbrachter Berichterstattung ausführlichst verzeichnet/[...] Alles Teutscher Nation zu Liebe [...] in das Teutsche treulichst übergetragen [...] durch J. Menudier, Nürnberg 1681, S. 97; Niccolò Manucci, Mogul India, or Storia do Mogor, übers. v. William Irvine, 4 Bde., London 1907–1908 (ND Delhi 1990), Bd. 2, S. 63. Die Formulierungen bei Manucci und Tavernier ähneln sich in dieser Feststellung, außerdem stehen beide im Kontext der gleichen niederländischen Gesandtschaft an den Hof Aurangzebs. Der Manucci-Text wurde allerdings erst im 20. Jahrhundert vollständig veröffent-

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sich Abgesandte aus sehr unterschiedlich mächtigen Herrschaften, die alle den taslim ausführen mussten. Beispielhaft soll die Darstellung einer persischen und einer usbekischen Gesandtschaft zum Hof Aurangzebs hinsichtlich der beschriebenen Grußpraxis untersucht werden. Kurz nach dem Regierungsbeginn Aurangzebs kamen verschiedene Gesandtschaften an seinen Hof, um zu gratulieren, unter anderem eine usbekische. Diese Gesandtschaft wird relativ ausführlich von Bernier beschrieben; seine Darstellung fand Eingang in allgemeinere Indienbeschreibungen, zum Beispiel fast wörtlich in das wichtige und viel gelesene Asienbuch Olfert Dappers.75 Bei Bernier lesen wir: „Sie machten von weiten das Salam oder den Indianischen Gruß/in dem sie die Hand 3 mal auff das Haupt legten und so viel mal wieder biß auf die Erde sincken liessen“. Sie vollführten also den taslim und nicht die sijda. Anschließend überreichten sie ihren Brief und dann ihre Geschenke, womit die Abfolge dem von Roe und anderen europäischen Diplomaten geschilderten Zeremoniell ähnelte. Ähnlich wie bei Vasco da Gama dargestellt, spielte die Art, wie das Akkreditierungsschreiben überreicht wird, sowohl in Berniers Bericht eine große Rolle als auch in jenem des italienischen Reisenden Niccolò Manucci. Manuccis Reisebericht gilt heute als eine zentrale Quelle für die Europäer am Mogulhof. Der Text wurde allerdings erst im 20. Jahrhundert vollständig veröffentlicht und hatte daher wenig Auswirkungen auf den frühneuzeitlichen Diskurs.76 licht, daher müsste nach anderen gemeinsamen Quellen gesucht werden, statt von einem schlichten Abschreiben auszugehen. 75 Bernier, Beobachtungen (wie Anm. 73), S. 1–5; Olfert Dapper, Asia, oder: Ausführliche Beschreibung Des Reichs des Grossen Mogols Und eines grossen Theils Von Indien: In sich haltend die Landschafften Kandahar, Kabul, Multan, Haikan, Bukkar, Send oder Diu, Jesselmeer, Attak, Peniab, Kaximir, Jangapore, Dely, Mando, Malva, Chitor, Utrad, Zuratte oder Kambaye, Chandisch, Narvar, Gwaliar, Indostan, Sanbat, Bakar, Nagrakat, Dekan und Visiapour. Nebenst einer vollkommenen Vorstellung Des Königreichs Persien, Wie auch Georgien, Mengrelien, Cirkassien und anderer benachbarten Länder, Nürnberg 1681, S. 190f. 76 In der frühen Neuzeit wurde Manuccis Text einmal auf Französisch veröffentlicht, Niccoló Manucci/François Catrou, Histoire Générale de l’empire du Mogol depuis sa fondation. Sur les mémoires portugais de M. Manouchi, Venetien. Par le père François Catrou de la Compagnie de Jésu, Paris 1705. Diese Fassung gilt aber als deutlich den ursprünglichen Text entstellend, da der Herausgeber Catrou den Text im Sinne seiner eigenen Agenda verändert habe, vgl. Pompa Banerjee, Postcards from the Harem. The Cultural Translation of Niccolao Manucciʼs Book of Travels, in: The ‚Book‘ of Travels. Genre, Ethnology, and Pilgrimage, 1250– 1700, hg. von Palmira Johnson Brummett, Leiden 2009, S. 241–282, hier S. 243.

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Im Zeremoniell am Hof Aurangzebs war dabei entscheidend, ob der Brief dem Mogul direkt oder nur über einen Mittelsmann übergeben werden durfte. Bernier schätzte die Bedeutung dieser Gesandtschaft gerade wegen ihrer Bereitwilligkeit, sich auf die indische Grußpraxis einzulassen, als nicht sehr hoch ein: „Sie giengen sehr fröhlich und vergnüget von dieser Verhör hinweg/und haben sich wenig deßwegen gekommert/daß sie das Salam auf Indianische Weise thun müssen/wiewol es ziemlich sclavisch ist/ […] ja ich glaube wann man ihnen hätte befohlen die Erde oder noch etwas geringers zu küssen/& daß sie es gethan hätten“.77 Während Bernier den taslim also einerseits als üblichen Gruß am Mogulhof darstellt, klingt in seinem Bericht andererseits eine gewisse Verachtung dafür durch, dass sich die Usbeken gar nicht dagegen wehrten. Hier sind Parallelen zur beschriebenen Interpretation von Thomas Roe zu sehen. Manucci beschreibt die Audienz der usbekischen Gesandtschaft sehr ähnlich. Er enthält sich des Spottes, den wir bei Bernier gesehen haben, doch dafür lässt er sich im Anschluss seitenweise über die Unzivilisiertheit der Usbeken aus.78 Bei Bernier wie bei Manucci wird deutlich, dass sie die Usbeken am unteren Ende der Hierarchie der Gesandten am Mogulhof einordneten. In der Historiographie zum islamisch-asiatischen Raum werden die Usbeken dagegen wie die Moguln zur turko-mongolischen Kultur gerechnet. Deshalb habe ein intensiver diplomatischer Kontakt zwischen ihnen bestanden. Während die Moguln den Usbeken an Reichtum weit überlegen waren, sahen sie Usbekistan oder Zentralasien als Zentren des religiösen Lernens an und bewunderten es dafür.79 Die77 Bernier, Beobachtungen (wie Anm. 73), S. 4f. 78 Manucci, Mogul, Bd. 2 (wie Anm. 74), S. 36ff. zur Audienz. Manucci schrieb auch sehr viel ausführlicher als Bernier über die Geschenke. Folgt man den europäischen Reiseberichten, gab es viele solche exotische Gesandtschaften am Mogulhof. Bernier und Tavernier beschrieben solche aus Mekka, dem glücklichen Arabien oder Äthiopien, wobei der Bericht Taverniers sehr viel kürzer ist und kaum auf das Zeremoniell eingeht, Bernier, Beobachtungen (wie Anm. 73), S. 24, Tavernier, Reise-Beschreibung anderer Teil (wie Anm. 74), S. 97. Von Manucci stammt eine fast spöttische Darstellung einer Gesandtschaft aus Pegu zu Aurangzeb. Diese musste von einem General Aurangzebs erst einmal mit angemessenen Geschenken ausgestattet werden, damit sie überhaupt hoffähig wurde, vgl. Manucci, Mogul, Bd. 4 (wie Anm. 74), S. 258 u. S. 265. 79 Deshalb hätten die Usbeken auch oft religiöse Gelehrte als Botschafter an den Mogulhof geschickt, vgl. Richard C. Foltz, Mughal India and Central Asia, Karachi u.a. 1998, S. 30ff. sowie S. 55. Muzarraf Alam und Sanjay Subrahmanyam beschreiben den sehr freundschaftlichen Umgang von Jahangir mit dem Zentralasiaten Mutribi, vgl. Alam/Subrahmanyam, Indo-Persian Travels (wie Anm. 22), S. 120–127.

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ser Aspekt scheint den europäischen Reisenden nicht bewusst gewesen zu sein oder sie sahen es nicht als interessant für ihre Leser an. Hinsichtlich der Positionierung zentralasiatischer Gesandtschaften können Unterschiede in der europäischen und der indischen Perspektive festgestellt werden.80 Unangefochten an der Spitze der Hierarchie standen jedoch die persischen Gesandtschaften. Das Verhältnis zwischen dem persischen König und dem Großmogul war immer eines der Konkurrenz. Im Unterschied zum Verhältnis zu den verschiedenen europäischen oder kleineren asiatischen Königreichen war diese Konkurrenz aber von der Anerkennung einer gewissen Gleichwertigkeit geprägt. Wegen dieser Position stellten die Perser den entscheidenden Referenzpunkt für viele europäische Gesandte dar. So hatte Thomas Roe herausgestrichen, dass ihn Jahangir besser als den persischen Botschafter behandelt hätte.81 Zur Regierungszeit Aurangzebs schrieben verschiedene Europäer über das zeremonielle Spektakel einer persischen Gesandtschaft. Dabei lassen sich allerdings signifikante Unterschiede feststellen, vor allem zwischen Bernier und Manucci: Bernier beschreibt, wie es dem persischen Botschafter gelang, nur auf persische Art zu grüßen, obwohl „es eine alte und allgemeine Gewohnheit aller Abgesandten wäre/dass Salam oder den Ehren-Gruß auff indianische Weise zu verrichten“.82 Bernier erklärte diesen vermeintlichen zeremoniellen Erfolg des Persers damit, dass Aurangzeb über solchen zeremoniellen Unwichtigkeiten stehe. Daher habe er diesen Verstoß des persischen Gesandten freundlich übersehen.83 Der Aurangzeb in Manuccis Erzählung desselben Ereignisses handelte ganz anders: Er schickte dem Botschafter einen General entgegen, der sicherstellen sollte, dass dieser sich an das Zeremoniell des Mogulhofes hält. Darauf sei von Seiten der Mogulgesandten immer wieder gedrungen worden. Nach Manucci hätten manche Leute sogar behauptet, der Botschafter solle ohne Audienz zurückgeschickt werden, wenn er sich den Gepflogenheiten des Mogulhofes ver80 Vgl. Anm 79. 81 Vgl. dazu im Folgenden mit ausführlichen Belegen. 82 Neben der anderen Grußform übergab der persische Botschafter zudem das Akkreditierungsschreiben direkt und setzte sich auch damit über den Brauch des Mogulhofes hinweg, Bernier, Beobachtungen (wie Anm. 73), S. 45. 83 François Bernier, Sonderbare Begebnuß oder Erzehlung dessen was sich nach funffjährigen Krieg in denen Landen des Grossen Mogols begeben und zugetragen hat. [Mit eigener Paginierung angeheftet an Bernier, Auffgezeichnete Beobachtungen, enthält: Schreiben an den Herrn Colbert], Franckfurt am Mayn 1673, S. 45f.

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weigere.84 Ja, in Manuccis Darstellung geht Aurangzeb sogar noch weiter: Aus Angst, der Botschafter könne sich nicht an seine Vorgaben halten, positionierte Aurangzeb bei der Audienz zwei große, starke Männer neben sich: „should he [der persische Botschafter – AF] decline to follow the custom, they should by force make him bend his neck“.85 Eine Maßnahme, die sich als notwendig erwies: Der Botschafter verweigerte den indianischen Gruß und grüßte persisch – „by placing both hands on his breast“. Der Unterschied zum beschriebenen taslim scheint heutigen und zeremoniell wenig geschulten Augen vielleicht gering, doch reichte er in der Darstellung Manuccis dafür aus, dass Aurangzeb die geplanten Gegenmaßnahmen in die Tat umsetzte. Die großen Männer traten zum persischen Botschafter, „two took him by the hands, and two by the neck, and without force or violence, as if they were teaching him, they lowered his hands and bent his head. They told him that thus it was the fashion to make obeisance in the Mogul country. Upon this the ambassador acted prudently, and allowed his whole body to bend without resisting, and performed his bow in the Indian manner.“86 Viel deutlicher lässt sich nicht ausdrücken, wie wichtig Aurangzeb die korrekte Einhaltung des Zeremoniells gewesen sein muss – und wie sehr dies europäische Reisende faszinierte. Die Darstellung desselben Ereignisses durch Bernier und Manucci unterscheidet sich in verschiedener Hinsicht: Der Aurangzeb in Berniers Darstellung erinnert fast an aufgeklärte europäische Herrscher wie Friedrich II. oder Joseph II., die meinten, auf das Zeremoniell verzichten zu können.87 Zeremoniell und Zeremonialkritik stehen in keinem chronologischen oder modernisierungsgeschichtlichen Zusammenhang. Dies passt dazu, dass Bernier Aurangzeb in weiten Passagen und in vieler Hinsicht als einen vorbildlichen Herrscher zeichnet und sich dadurch deutlich vom modernen Aurangzeb-Bild unterscheidet.88 Anders war die Wahrnehmung und Darstellung bei Manucci: Dieser scheint zwar kein Problem mit dem taslim an sich zu haben, das Bernier ja als ‚sklavischen‘ Gruß bezeichnet 84 85 86 87

Manucci, Mogul, Bd. 2 (wie Anm. 74), S. 47f. Ebd., Bd. 2, S. 48. Ebd. Vgl. zur Verweigerung des Zeremoniells bei Friedrich II. von Preußen: Barbara Stollberg-Rilinger, Offensive Formlosigkeit? Friedrich der Große und der Stilwandel des diplomatischen Zeremoniells in Europa, in: Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Bd. 1, hg. von Bernd Sösemann/Gregor Vogt-Spira, Stuttgart 2012, S. 354–371. 88 Dies betrifft vor allem sein historiographisches Werk. In dem im europäischen Diskurs vor allem rezipierten Brief an Colbert stellt er es dagegen deutlich anders dar!

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hatte.89 Die Frage aber, welches Zeremoniell ausgeübt wird, hat für ihn eine viel höhere Bedeutung. Das Zeremoniell erscheint hier wichtiger als andere Aspekte der diplomatischen Aktion und damit als der entscheidende Ort, Machtverhältnisse auszuhandeln! Die Aushandlungsbemühungen gehen hier vom Gastgeber aus, zunächst verbal durch seinen General, dann mit sanfter Gewalt. Manucci zeichnet Aurangzeb generell viel negativer als Bernier, doch die Frage des Grüßens ist nicht nur für den Mogulherrscher wichtig. Der italienische Autor berichtete auch von Gerüchten, dass der persische Botschafter zurück in Persien wohl von seinem König hingerichtet werde, weil er indisch gegrüßt habe.90 Die Unterschiedlichkeit der beiden Darstellungen kann auf verschiedenen Ebenen interpretiert werden. Manuccis Darstellung steht einerseits der zeitgenössischen europäischen Deutung symbolischer Kommunikation näher als die aus der Feder Berniers stammende. Er räumt dem Zeremoniell eine große Bedeutung ein und übernimmt in seiner Darstellung die aufmerksame Beachtung zeremonieller Details als Selbstverständlichkeit. Kein Wunder, dass er stolz darauf war, diese höfische Praxis selbst formvollendet ausführen zu können.91 Überhaupt finden sich verschiedene eher beiläufige Bemerkungen zu diesem Gruß bei den Europäern, die nicht als Gesandte an den Mogulhof kamen.92 Manuccis Sicht auf Aurangzeb war kritisch. In der ausgewählten Episode wurde der Mogulherrscher denn auch wenig überlegen dargestellt, musste er die 89 An einer anderen Stelle berichtet er fast stolz, wie gut er ihn selber beherrsche, vgl. Michael H. Fisher, Niccolao Manucci. West and North India, 1655–56, in: Visions of Mughal India. An Anthology of European Travel Writing, hg. von Michael H. Fisher, London u.a. 2007, S. 116–133, hier S. 127. 90 Manucci, Mogul, Bd. 2 (wie Anm. 74), S. 51f. 91 In einem anderen Kontext wollte Manucci sich am Mogulhof über die Engländer in Südindien beschweren. Ein Sekretär fragte ihn, ob er auch wisse, wie man sich am Mogulhof verhalte: Manucci bejaht dies und zeigt auch, dass er den taslim beherrscht: „I arose, stood quite erect, and bending my body very low until my head was quite close to the ground, I placed my right hand with its back to the ground, then raising it, put it on my head, and stood up straight. This ceremonial I repeated three times, and this is done to the king only. The secretary was delighted to see a foreigner, young in years and newly arrived in the city, make his obeisances so confidently“, zitiert nach: Fisher, Manucci (vgl. Anm. 89), hier S. 127. 92 Auch William Hawkins, der vor Thomas Roe den Mogulhof besuchte, beschrieb das Problem des Grüßens kaum als solches. In der Fassung, die bei Purchas veröffentlicht wurde, wurde das Grüßen nicht expliziert. Als Hawkins vor dem Mogul stand, sei er freundlich empfangen worden, „after salutation done“; nach seinem Willkommen macht er erneut „my obeysance amd dutie“, Hawkins, in: Purchas, Purchas His Pilgrimes (wie Anm. 38), S. 209.

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Ausführung des Zeremoniells doch diskursiv vorbereiten und schließlich sogar körperlich erzwingen. Dies als Schwäche zu deuten, liegt allerdings erst wirklich nah, wenn man den Manucci-Text mit dem Bernier-Text vergleicht. Manuccis Text wurde allerdings erst in der Moderne im Ganzen veröffentlicht und übersetzt, seine Auswirkungen auf den zeitgenössischen europäischen Diskurs reichen daher bei weitem nicht an jene des Textes von Bernier heran. Persische Gesandtschaften dienten aber auch über diese Episode hinaus im europäischen Diskurs dazu, die Grußpraxis am Mogulhof zu verhandeln. Die Zuschreibung der besonderen und den europäischen Gruppen überlegenen Position der Perser musste scheinbar öfter in den detaillierteren Beschreibungen durch einen gewissen Spott ausgeglichen werden. Bernier betont seine besondere Wertschätzung Aurangzebs im Weiteren dadurch, dass er dessen zeremoniell großzügiges Verhalten gegenüber dem persischen Botschafter mit dem Handeln von Aurangzebs Vaters Shah Jahan vergleicht: Auch unter dessen Regierung habe sich ein persischer Gesandter geweigert, „auf indianische Weise“ zu grüßen. Darauf habe Shah Jahan die große Tür in den Audienzsaal zugesperrt, so dass nur ein deutlich niedrigerer Eingang verblieben sei, „wodurch ein Mensch nicht anders als mit fast zur Erd gebogenen Haubt/wie man auf Indianisch grüsset/gehen kann“.93 Allerdings führte dieser Kunstgriff nur bedingt zu dem von Shah Jahan gewünschten Ergebnis. Der Abgesandte bemerkte die List und ging daraufhin mit dem Rücken zuerst durch die Tür.94 Auch Thomas Roe nutzte den persischen Botschafter am Mogulhof, um seine Position zu stärken. Nachdem er bereits etwa ein Jahr an Jahangirs Hof verbracht hatte, erschien dort der persische Botschafter Mohammed Riza Beg. Roe schickte seinen Diener, um die zeremoniellen Einzelheiten von Begs Audienz zu erfahren: „Yet I caused diligence observance to be made of his recep-

93 Bernier, Beobachtungen (wie Anm. 73), S. 52. 94 Bernier benutzte Shah Jahan mehrfach in seinem Bericht als dunkles Gegenbild zu Aurangzeb. Besonders deutlich wird das auch bei dem Thema, dass im Mogulreich alles Erbe immer an den Mogul falle. Dieses Narrativ ist eine Grundlage der modernen Konstruktion der orientalischen Despotie. In seinem Brief an Colbert erläuterte Bernier diesen Erbfall ähnlich, wie es bereits Thomas Roe und andere Autoren vor ihm getan hatten, wie es die europäische Leserschaft also erwartete, vgl. Bernier, Sonderbare Begebnuß, angehefteter Brief an Colbert (wie Anm. 83), S. 132. In seinem historiographischen Werk war es dagegen Shah Jahan, der seinem Sohn Aurangzeb solch eine Sitte vorschlug. Der Sohn lehnte sie aber ab und begründete dies damit, solch eine Sitte sei zum einen ungerecht und widerspräche zum anderen der „Weltklugheit“, ebd., S. 68–76.

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tion, and compared it with myne owne“.95 Roe konstatiert, dass er in jeder Hinsicht besser behandelt worden sei, und begründet dies explizit mit dem Grußzeremoniell: Mohammed Riza Beg hätte sich nämlich nicht nur dem Zeremoniell des Mogulhofes unterworfen, sondern neben den drei vorgeschriebenen taslims auch noch eine sijda vollzogen.96 Im Anschluss daran sei Riza Beg ein schlechter Platz innerhalb des Hofstaates zugewiesen worden: „hee was placed in the seaventh rannck angainst the rayle by the doore, below so many of the Kings servants on both sides“. Roe kommentiert: „which in my judgement was a most inferiour place for his masters embassador“. Doch dies sei verdientermaßen geschehen: „for dooing that reverence which his predecessors refused, to the dishonor of his prince and the murmer of many of his nation.“97 In der Interpretation Roes hat Riza Beg sich und vor allem seinen Herrn, den persischen Schah, durch die Grußpraxis entehrt. Hier wandte Roe also erneut die europäische Repräsentationstheorie auf die indischen Verhältnisse an. Er rechtfertigte so aber auch seine eigenen Handlungen noch einmal und belegte, dass sein zeremonielles Handeln richtig verstanden worden ist.98

95 Foster, Embassy (wie Anm. 24), S. 260. 96 „When hee approached, he made at the first rayle three teslims and on sizeda (which is prostrating himselfe and knocking his head against the ground); at the intrance in, the like“, ebd., S. 258. Diese Formulierung aus Roes Tagebuch zeigt zudem, dass Roe die Feinheiten der verschiedenen Grußpraktiken durchaus kannte und mit den richtigen Termini benennen konnte. 97 Ebd., S. 258. 98 Am Rande sei vermerkt, dass aus Roes Berichten im zeitgenössischen Diskurs fast immer diese Passage ausgewählt wurde und dadurch einen festen Platz im Wissen über das Mogulreich erhielt. Bei der von De Bry ausgewählten Passage heißt es: „vnd dem Gesandten seine Session under dem Siebenden Standt der Edlen assigniret/welches zwar vor eines solchen mächtigen Königs Gesandten viel zu gering/ der auch ihme eine solche Reverenz vnd Ehre erwiesen/dergleichen von vielen seiner Vorfahren nicht geschehen“, de Bry, India Orientalis 12 (wie Anm. 39), S. 10. Im 18. Jahrhundert und in der Fassung bei Schwabe in der Allgemeinen Historie wird der Roe-Text ebenfalls fast wörtlich übersetzt. Die sijda wird nicht nur beschrieben, sondern auch explizit gesagt, sie sei eine „sehr demüthige Ceremonie“. Auch die Beurteilung der schlechten Platzierung wird hier noch ausgeschmückt: „Hernach wurde er in die siebente Reihe gleich gegen der Thüre über, gesetzet, saget, diese Stelle, habe sich zwar für den Bothschafter eines so großen Monarchen als der König von Persien ist, im allergeringsten geschicket, wohl aber für die eigene Person des Herrn Bothschafters, weil er sich ohne Bedenken zum Sizeda machen, dazu sich alle seine Vorfahren in diesem Amte für viel zu gut hielten, verstanden habe“, Schwabe, Allgemeine Historie 11 (wie Anm. 40), S. 30.

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Die Formen des Grüßens am Mogulhof 2: Europäer Usbeken und Perser waren asiatische Botschafter; bei ihnen konnten die europäischen Reisenden relativ frei beobachten und über ihre Beobachtungen und Bewertungen schreiben. Wie aber sah es mit europäischen Gesandtschaften aus? Auch Europäer kamen an den Hof Aurangzebs, als Bernier, Tavernier und Manucci das Hofgeschehen beschrieben. Alle drei berichten über die niederländische Gesandtschaft unter der Leitung von Dirk von Adrichem, dem Direktor der niederländischen Faktorei in Surat. Europäische Gesandtschaften mussten sich in das hierarchisch gestaffelte diplomatische Netzwerk am Mogulhof einordnen und wurden zugleich von anderen, Europäern wie Asiaten, eingeordnet. Jean-Baptiste Tavernier reihte die Niederländer im unteren Feld ein, das neben ihnen aus den bereits angeführten Usbeken sowie Gesandten des Sherifs von Mekka, des Glücklichen Arabien und Äthiopiens bestand.99 Bernier und Manucci führten die Niederländer immerhin getrennt von diesen anderen auf.100 Jean-Baptiste Tavernier interessierte sich generell wenig für diplomatisches Zeremoniell beziehungsweise sah weniger auf machtpolitisch performative Konsequenzen als andere Europäer. Das mochte nicht zuletzt daran liegen, dass er als Edelsteinhändler und eben nicht als Diplomat an den Mogulhof kam und daher ähnlich wie Manucci für seine eigene Person die ‚indianische Grußpraxis‘ dem Mogul gegenüber als unproblematisch ansah.101 Hinsichtlich der niederländischen Mission berichtet er relativ kurz, sie sei „überaus wohl empfangen und ohne Verzug abgefertigt“ worden. Tavernier begründete dies damit, dass Aurangzeb den „Europäischen Nationen“ gefallen wolle.102 Bernier verstand Aurangzebs Motivation anders und zeichnete ihn wieder als vorbildlichen Staatsmann: Zwar verachte Aurangzeb als eifriger Moslem die „Franguis oder Christen“, habe aber die Niederländer „mit grosser Ehr und Höffligkeit“ empfangen. Wie die anderen Botschafter hätten sie auf die indianische Art gegrüßt. Bernier und Manucci stimmen darin überein, dass Aurangzeb anschließend die Niederländer aus Neugier aufgefordert habe, 99 Tavernier, Reise-Beschreibung anderer Teil (wie Anm. 74), S. 97. 100 Manucci, Mogul, Bd. 2 (wie Anm. 74), S. 62ff.; Bernier, Sonderbare Begebnuß (wie Anm. 83), S. 16f. 101 Er traf Aurangzeb, als er dessen schönste Edelsteine besichtigte. In seinem Bericht heißt es: „Und als ich ihn/der Gewohnheit nach/gegrüsset/führten sie mich in ein kleines Gemach“, Tavernier, Reise-Beschreibung anderer Teil (wie Anm. 74), S. 102. 102 Ebd., S. 97.

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auch die europäische oder christliche Art zu grüßen auszuführen.103 Manucci verliert auch über die Niederländer mehr Worte als die anderen Berichte, indem er vor allem erläutert, dass Dirk von Adrichem die Gepflogenheiten des Mogulhofes genau gekannt und genügend Geschenke mitgebracht habe. 104 Manuccis Darstellung impliziert zudem, dass auch bei den Niederländern im Vorfeld Verhandlungen über das Grüßen stattgefunden haben. So heißt es bei ihm, Adrichem habe bei seiner Ankunft im Audienzsaal gegrüßt, wie er es zuvor versprochen habe.105 Auch der Handlungsspielraum Aurangzebs hinsichtlich der niederländischen Gesandtschaft unterschied sich, je nachdem ob wir Bernier oder Manucci folgen. Bei Manucci kann die Grußpraxis der Niederländer als Ergebnis einer Aushandlung verstanden werden. Bei Bernier dagegen stand überhaupt nicht zur Diskussion, dass die Niederländer anders hätten grüßen können. Er fügte hinzu, dass diese Praxis nicht ehrenrührig sei, da die Usbeken auch so empfangen worden wären. Mit diesem Urteil bezog er sich vor allem auf die Übergabe des Akkreditierungsschreibens über einen Dritten.106 Trotzdem erscheint diese Einschätzung etwas seltsam, jedenfalls wenn man seine Kritik daran bedenkt, dass die Usbeken sich so völlig der Norm des Mogulhofes unterworfen hätten. An den beschriebenen Episoden ist interessant, dass sie zwar alle von europäischen Reisenden stammen, diese aber die Grußpraxis meist über je andere europäische Gruppen beschrieben: Bernier beispielsweise riet in einem Brief an den französischen Minister Colbert, dass französische Gesandtschaften dem beschriebenen Brauch des Grüßens folgen sollten, wollten sie etwas am Mogulhof erreichen. Doch in seinem veröffentlichten Text schreibt er über die Nieder103 Die zeitgenössische deutsche Übersetzung des Bernier-Textes benutzt das Adjektiv christlich, die moderne englische Übersetzung Manuccis dagegen europäisch, Bernier, Sonderbare Begebnuß (wie Anm. 83), S. 16; Manucci, Mogul, Bd. 2 (wie Anm. 74), S. 63. 104 Gerade hinsichtlich der Geschenke erzählen uns andere Quellen allerdings eine andere Geschichte. Der englische Faktor in Surat schrieb, dass Adrichem zwar 100 000 Rupien in Geschenke investiert hätte, also „a considerable sum“, das Ergebnis jedoch wenig befriedigend gewesen sei: „it was not regarded or scarce lookt upon, nor hath he got any grant considerable“, The English Factories in India. 1661–1664, hg. von William Foster, Oxford 1923, S. 120f., zitiert nach Murari K. Jha, The Mughals, Merchants and the European Companies in the 17th Century Surat, in: Asia Europe Journal 3 (2005), S. 269–283, hier S. 277. Die Grußpraxis spielte allerdings in dieser eher kaufmännischen Korrespondenz keine Rolle. 105 Manucci, Mogul, Bd. 2 (wie Anm. 74), S. 63. 106 Bernier, Sonderbare Begebnuß (wie Anm. 83), S. 16.

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länder, die Perser und die Usbeken, nicht aber über irgendwelche Franzosen. Manucci hingegen erwähnt durchaus eine französische Gesandtschaft bei Aurangzeb. Die Franzosen de la Boullaye le Gouz und Beber waren vom französischen Finanzminister Colbert nach Delhi geschickt worden, um die Erlaubnis zu erlangen, dass die neue französische Handelskompanie eine Faktorei in Surat eröffnen dürfe.107 Bei Manucci lesen wir nun, dass es ein gewisses Problem mit der Briefübergabe gab, da die Franzosen den Brief dem Herrscher direkt überreichen wollten, dies aber am Mogulhof nicht üblich gewesen sei. Über die Frage aber, wie diese Gesandtschaft gegrüßt hat, schweigt Manucci, der doch sonst immer gern und ausführlich darüber schrieb. Angesichts des erwähnten Briefes von Bernier, aber noch mehr, weil de la Boullaye sich ausgesprochen gut in Indien auskannte und gerade deshalb für diese Gesandtschaft ausgesucht worden war, steht zu bezweifeln, dass sie nicht auf die gewünschte Art gegrüßt haben.108 Hier scheint eine Grenze der Sagbarkeit im europäischen Diskurs verlaufen zu sein. Innereuropäische Machtverhältnisse mussten berücksichtigt werden. Anscheinend war es durchaus möglich, über einen taslim der Niederländer zu schreiben, nicht aber über einen der Franzosen. Es gab Dinge, über die man nicht schreiben konnte, es gab aber auch Informationen, die sich im europäischen Diskurs nicht etablieren konnten und die entsprechend vergessen wurden. Von all den Ereignissen, die ich bisher in diesem Text dargestellt und interpretiert habe, ist Thomas Roe und seine Verweigerung, indisch zu grüßen, im modernen Diskurs am stärksten präsent. Die Besonderheit dieser Stellung im europäischen Diskurs wird umso deutlicher, wenn man sie mit einer anderen Episode mit Engländern am Mogulhof ver107 François de la Boullaye le Gouz ist ein weiterer Franzose, der Indien lange bereiste. Durch seinen Reisebericht erweckte er das Interesse Colberts, der ihn 1666 als Gesandten an den Mogulhof schickte. Boullaye starb allerdings, bevor er nach Paris zurückkehren konnte. Daher ist von ihm kein Bericht über die Audienz beim Mogul vorhanden. – Es gehört zu den Besonderheiten der europäischen Wissensproduktion, dass sein Bericht nicht im gleichen Maße wie Berniers oder Taverniers im europäischen Diskurs wirkmächtig wurde. In letzter Zeit ist er durch die Arbeiten von Sanjay Subrahmanyam geradezu neu entdeckt worden, vgl. Sanjay Subrahmanyam, Courtly Encounters. Translating Courtliness and Violence in Early Modern Eurasia, Cambridge, Mass.; London 2012, S.  198f., ders., Monsieur Picart and the Gentiles of India, in: Bernard Picart and the First Global Vision of Religion, hg. von Lynn Avery Hunt/Margaret C. Jacob/W.W. Mijnhardt, 2010, S. 197–214, v.a. S. 206. 108 Eine andere Interpretation wäre, dass es ihnen gelang, sich dieser Grußpraxis zu entziehen. Das wäre aber ein so außergewöhnlicher symbolischer Erfolg gewesen, dass sich die Frage stellen würde, weshalb Manucci nicht davon berichtete.

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gleicht, die beinahe vergessen wurde. Daher soll als letztes Beispiel ein Knien vor dem Mogul angesprochen werden, das als Gegenbeispiel zu Thomas Roes Verweigerung gelten kann: Etwa 70 Jahre nach der Reise Thomas Roes zu Jahangir hatte sich die englische East India Company in Indien etabliert. In den 1680er Jahren aber versuchte Josiah Child, ein Gouverneur der EIC, deren Interessen in Indien mit Waffengewalt voranzutreiben. 1688 kam es zu einem kriegerischen Konflikt mit dem Mogulreich und mit Aurangzeb.109 Die Situation entwickelte sich für die britische Seite so schlecht, dass sie eine Delegation an den Mogulhof schickte, die um Verzeihung bitten sollte. Dieses Ereignis ist in der modernen Forschung schwer zu finden. Ende des 18. Jahrhunderts wurde es aber von Guillaume Raynal in seine Geschichte beider Indien aufgenommen. In der französischen Ausgabe von 1780 diente eine Illustration dieser Bitt-Audienz sogar als Titelkupfer des zweiten Bandes. Child habe, so liest man dort, als es militärisch zu desperat aussah, eine Gesandtschaft an den Mogulhof geschickt: „Après bien de supplications, bien des bassesses, ces Anglois sont admis devant l’empereur, les mains liées & la face prosternée contre terre. Aurengzeb, qui vouloit conserver une liaison qu’il coryoit utile à ses états, ne fut pas inflexible.“110 Mit dieser Mission waren die Briten schließlich erfolgreich, und die East India Company konnte in Indien bleiben. Bei Raynal, das ist herauszustreichen, wurde kein schlichter taslim vor Aurangzeb beschrieben, wie ihn die Niederländer, Usbeken oder Perser ausgeführt hatten. Raynals Formulierungen stellen im besten Fall eine sijda dar, eine Demütigung. Im modernen Diskurs ist diese Anekdote vergessen, entsprach sie doch nicht mehr der Erinnerungspolitik des britischen Kolonialreiches in Indien. Im frühen 19. Jahrhunderte erreichte diese Geschichte aber noch einmal eine größere Öffentlichkeit: August von Schlegel wiederholte sie in seiner populärwissenschaftlichen Überblicksdarstellung zur indischen Geschichte im Berliner Kalender. Schlegel formulierte: „Durch viele Bitten und Geschenke erlangten sie [die Briten] endlich eine Audienz: die Hände waren ihnen auf dem Rücken zusammen gebunden, knieend und mit der Stirn den Boden berührend, erschie-

109 Vgl. Bruce Lenman, der 1987 schrieb: „This extraordinary episode deserves more attention that it has hitherto been given“, Bruce P. Lenman, The East India Company and the Emperor Aurangzeb, in: History Today 37 (1987), S. 23–29, hier S. 24. 110 Guillaume T. F. Raynal, Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des européens dans les deux Indes, Genéve 1780, Bd. 2, S. 28.

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nen sie vor dem Thron des Sultans.“111 Schlegel stellte dieses Ereignis und diese zeremonielle Praxis nicht als einen Ausnahmefall, als eine Art deditio dar, um die Gnade des Moguls zurückzuerlangen, sondern als normale „Asiatische Sitte“, wenn auch in diesem konkreten Fall „die gefesselten Hände […] eine unerfreuliche Zuthat“ gewesen seien. Interessant ist darüber hinaus, dass Schlegel mit dieser Episode eine deutliche Differenz zur Antike markiert: In der Antike habe sich Themistokles geweigert, sich wie ein Hund vor den persischen König zu werfen, während „neuere Europäer [….] sich oft über solche Bedenklichkeiten weggesetzt“ haben.112 Die andere europäische Erzählung wäre die Kontinuitätslinie von Themistokles zu Thomas Roe oder George Macartney, und diese sollte als Meistererzählung der westlichen Überlegenheit hegemonial werden.

Den Mogul grüßen – einige abschließende Bemerkungen Europäische Gesandte am Mogulhof schrieben sich in ein hierarchisch strukturiertes Netzwerk der verschiedenen europäischen, asiatischen oder auch afrikanischen Gesandtschaften ein oder wurden in dieses Netzwerk eingeschrieben. Eine mögliche dichotomische Ordnung zwischen europäischen und asiatischen Gesandtschaften entsprach dagegen nicht der Erfahrung der europäischen Gesandten am Mogulhof. Als entscheidender Referenzpunkt zur Selbstverortung innerhalb dieses Netzwerks wählte Thomas Roes die persischen Gesandtschaften, da diese allgemein anerkannt an der Spitze der Hie-

111 August Wilhelm von Schlegel, Über die Zunahme und den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse von Indien, 2. Abtlg.: Von Vasco da Gama bis auf die neueste Zeit, in: Berliner Kalender auf das Gemein Jahr 1831 (1831), S. 1–161, hier S. 113. Nicht viel anders klingt es in der deutschen Ausgabe von Raynal: Child habe nach seinen militärischen Niederlagen Abgeordnete an den Hof geschickt, um „daselbst um Gnade zu bitten. Nach vielem demüthigen Flehen, vielen Niederträchtigkeiten werden endlich diese Engländer mit gebundnen Händen und mit dem Gesicht auf der Erde liegend vor den Kaiser gelassen.“, Guillaume T.F. Raynal, Philosophische und politische Geschichte der Besitzungen und Handlung der Europäer in beyden Indien. Nach der neuesten Ausgabe übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Kempten 1784, S. 36f. Die Abbildung findet sich als Frontispiz in der französischen Ausgabe von 1780, Raynal, Histoire philosophique (wie Anm. 110). 112 Von Schlegel, Zunahme (wie Anm. 111), S. 113f.

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rarchie standen. Die niederländische Gesandtschaft konnte man dagegen mit Usbeken und anderen Gruppen vergleichen. Das diplomatische Zeremoniell am Mogulhof war dadurch bestimmt, dass die europäischen Gesandten sich in das Zeremoniell einzuordnen hatten. Mit steigender Präsenz europäischer Gesandtschaft am Mogulhof ist anzunehmen, dass diese interkulturellen Interaktionen ihre transkulturellen Spuren hinterließen. Die zukünftige Diplomatiegeschichte sollte daher die zeremoniellen Haushalte, die einerseits von europäischen Territorien wie andererseits den islamischen Großreichen geteilt wurden, nicht nur als abgeschlossene Einheiten ansehen, sondern stärker nach Verflechtungen und der Ausbildung transkultureller Verfahren fragen. Audienzen waren der Ort, an dem das diplomatische Geschehen und seine symbolische Inszenierung sich verdichteten. Daher wurde diese Kontaktzone besonders beobachtet. Diplomaten mussten bei all ihren zeremoniellen Handlungen die Würde des sie entsendenden Herrschers berücksichtigen. Die Bedeutung der europäischen Repräsentationstheorie zeigte sich in einer Vielzahl der Texte, wurde teils auch explizit ausbuchstabiert, wie von Thomas Roe oder Pietro della Valle. Darüber hinaus ergaben sich klare Grenzen der diplomatischen Handlungsspielräume, die vor allem die Anpassung an fremde Gebräuche limitierten.113 Dies ist auch für den interkulturellen Kontakt zu berücksichtigen. Thomas Roe und George Macartney verbindet das ausdrückliche Verlangen, den besuchten Herrscher nach ihrer Landessitte zu grüßen. Dabei differenzierte sich das Problem des richtigen Handelns für die Gesandten in Indien aus. Einerseits mussten sie sich oft deutlich stärker anpassen oder von der in ihrem Heimatland gewohnten Praxis abrücken als im innereuropäischen Kontext, wollten sie ihr Ziel erreichen. Andererseits konnten sie die Informationen über ihr Handeln in Indien leichter kontrollieren als in Europa. Eine Folge dieser Ausdifferenzierung ist die Möglichkeit, dass das Machbare sich deutlich von dem Sagbaren unterschied. Die Grenzen der Sagbarkeit zeigten sich schon bei der Einordnung der untersuchten Gesandtschaften in das Netzwerk des Mogulhofes. Die Zuschreibung war selbstverständlich relational. So erwies es sich als zentral für die Beschreibung des Grußzeremoniells bei Audienzen am Mogulhof, wer über wen 113 Vgl. hierzu eindrücklich Christian Wieland, The Consequences of Early Modern Diplomacy: Entanglement, Discrimination, Mutual Ignorance – and State Building, in: Structures on the Move (wie Anm. 14), S. 271–285.

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schrieb. So schrieben Franzosen lieber über sich anpassende Niederländer als über ihre Landsleute. Hier zeigen sich innereuropäische Differenzen wie die Konstruktion innereuropäischer Hierarchien am Mogulhof. Privatleute wie der Edelsteinhändler Tavernier oder der Weltreisende Manucci konnten sich ohne Probleme vor dem Mogul verbeugen und darüber schreiben – Gesandten waren da engere Grenzen gesetzt. Auch der intendierte Leser spielte eine Rolle: Thomas Roe thematisierte das Zeremoniell an adlige Briefpartner stärker als in seiner Korrespondenz mit der East India Company. Gleichzeitig wurden die Beschreibungen Thomas Roes über das Zeremoniell fast immer für allgemeinere Texte ausgewählt. Aus seinen eher individuellen Informationen wurde so kollektives Wissen produziert. Betrachtet man die weitere Verarbeitung der Indienerfahrung in den europäischen Diskursen, lässt sich eine zunehmende Verengung feststellen, wie an einzelnen Stellen bereits aufgezeigt werden konnte. Hinsichtlich der Ablehnung indischer Grußpraktiken im deutschsprachigen Diskurs wird dies besonders deutlich. Ein global vergleichender Text des Polyhistors Erasmus Francisci äußert sich Mitte des 17. Jahrhunderts besonders negativ, aber auch spöttisch über die Grußpraktiken am Mogulhof: „Wer kann unter uns das Lachen schier verbeissen/welcher lieset/ wie viel der grosse Mogol in Indien den fremden Gesandten spendiret/damit sie nur lang/vor ihm/mögen auf der Erde liegen/ihn einen Hern der Welt tituliren/ und andere erkaufte Ehrerbietungen mehr beweisen?“114 Statt des in den Reiseberichten beschriebenen taslims wählte Francisci also die demütigere sijda und verstärkte dadurch den Eindruck der Unterwerfung und der Fremdheit. Francisci nahm darüber hinaus die besonders im deutschsprachigen Diskurs verbreitete religiöse Deutung der Grußpraxis auf und bezeichnete sie als „Abgötterey“.115 Im Alten Reich wird diese Deutung den Leser an die Diskussion erinnert haben, ob das Knien vor dem Kaiser als Idolatrie zu verstehen sei.116 Damit trifft 114 Erasmus Francisci, Ost- und West-Indischer wie auch Sinesischer Lust- und Statsgarten […]; in drey Haupt-Theile unterschieden. Der Erste Theil Begreifft in sich die edelsten Blumen/Kräuter/Bäume/[…] in Ost-Indien/Sina/America: Der Ander Theil Das Temperament der Lufft und Landschafften daselbst; […] Der Dritte Theil Das Stats-Wesen/Policey-Ordnungen/Hofstäte/Paläste/[…] Aus den fürnembsten/alten und neuen/Indianischen Geschicht/Land- und Reisebeschreibungen/mit Fleiß zusammengezogen/und auf annehmliche Unterredungs-Art eingerichtet, Nürnberg 1668, Sp. 1435. 115 Ebd., Sp. 1437. Hier zitiert Francisci Reiseberichte aus Indien, die von Adam Olearius herausgegeben worden sind, nämlich der von Johann Albrecht von Mandelslo wie auch der von Jürgen Andersen. 116 Vgl. Stollberg-Rilinger, Knien (wie Anm. 16).

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sich – sicherlich unbewusst und ungewollt – die protestantische Kritik mit einer innerislamischen, die vor allem die sijda wegen ihrer Ähnlichkeit mit der orthodoxen islamischen Gebetsform abgelehnt hatte.117 Betrachtet man die Grenzen der Sagbarkeit und noch mehr die weitere Verarbeitung der Indienerfahrung im europäischen Diskurs, so scheint es, dass eine nicht-europäische Überlegenheit keineswegs erst im Kolonialismus, sondern schon im 17. Jahrhundert in Europa kaum vermittelbar gewesen ist. Die Geschichte der europäischen Überlegenheit, wenn wohl auch noch vor allem religiös begründet, wurde in Europa schon vor der europäischen Dominanz in Asien erzählt. Durch den europäischen Prozess, der aus Informationen Wissen machte, verengte sich auf diese Weise schon im 17. Jahrhundert die Vielfalt des diplomatischen Netzwerkes am indischen Hof fast zu einer als Dichotomie wahrgenommenen Gegenüberstellung von Europäern und Asiaten. Nach all dem soll schließlich doch die Frage gestellt werden, wie Thomas Roe den Mogulherrscher Jahangir tatsächlich gegrüßt hat. Wir haben letztlich nur die Selbstbeschreibung Roes für seine Weigerung. Ob George Macartney den Kotau wirklich verweigert hat, wird mittlerweile in der Forschung bezweifelt.118 Es ist gut aufgearbeitet, dass die meisten Gesandten sich bis zu den Hochzeiten des modernen Kolonialismus an asiatischen Höfen auf Praktiken einlassen mussten, die im europäischen Kontext demütigend erschienen.119 Thomas Roes Geschichte wäre dann die Ausnahme, denn sie widerspricht den 117 Vgl. Anm. 66. 118 Die Zweifel nähren sich vor allem daraus, dass die chinesischen Quellen zu diesem Ereignis schweigen, und das Tagebuch eines der Begleiter der Mission scheint nachträglich geändert worden zu sein, vgl. Walter Demel, Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reiseberichte, München 1992, v.a. S. 135f.; Ŭn-jŏng Yi, „Anti-Europa“. Die Geschichte der Rezeption des Konfuzianismus und der konfuzianischen Gesellschaft seit der frühen Aufklärung. Eine ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, Münster u.a. 2003, S. 151; Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901, hg. von Mechthild Leutner, Berlin 2007, S. 206. Andere beschreiben, wie der chinesische Kaiser gelassen reagierte und letztlich so tat, als ob der Abgesandte die vorgeschriebenen Riten korrekt vollzogen hätte, Osterhammel, Verwandlung (wie Anm. 2), S. 712 mit Bezug auf Hamish M. Scott, The Birth of a Great Power System. 1740–1815, Harlow u.a. 2011, S. 275. 119 Vgl. z.B. Christian Windler zum obligatorischen Handkuss beim Bei in Tunis bis ins frühe 19. Jahrhundert, Christian Windler, Diplomatic History as a Field for Cultural Analysis. Muslim-Christian Relations in Tunis, 1700–1840, in: His-

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allgemeinen Gepflogenheiten am Mogulhof zu Zeiten Jahangirs. Nandini Das betont, alle Gesandtschaften hätten mit dem taslim grüßen müssen, sogar weniger wichtige. Als Beispiel für letztere nennt sie explizit diejenige von Thomas Roe.120 Leider gibt sie für diesen impliziten Zweifel an Roes Darstellung keine Quellen an. Das Verweigern des taslims machte aus Thomas Roes eher gescheiterten Gesandtschaft zumindest einen symbolischen Erfolg, und das wäre ein guter Grund gewesen, die Weigerung zu erfinden. Wahrscheinlicher als eine Verdrehung der Tatsachen in seinem Tagebuch ist wohl, dass Jahangir den letztlich geringen Unterschied zwischen einem taslim und der englischen Art zu grüßen nicht so wichtig nahm wie sein Enkel Aurangzeb. Diese Großzügigkeit kann zudem ein Ausweis dafür sein, dass die Engländer in den Augen der Moguln des frühen 17. Jahrhunderts noch kein Machtfaktor waren, mit dem es den Rangstreit auf der Bühne des diplomatischen Zeremoniells auszufechten lohnte. Dafür spricht, dass es Jahangir in seinen ausführlichen Memoiren nicht für nötig hält, Sir Thomas Roe, den ersten Ambassador des englischen Königs am Mogulhof, auch nur zu erwähnen.

torical Journal 44 (2001), S. 79–106. Für den osmanischen Kontext: Burschel, Topkapi Sarayi (wie Anm. 10), v.a. S. 36ff. 120 Nandini Das, „Apes of Imitation“ (wie Anm. 70), S. 121. Anders Abraham Eraly, Mughal World (wie Anm 66), S. 50. Dieser meint, fremde Botschafter, v.a. aus Europa, hätten meist auf ihre eigene Art grüßen dürfen. Dies ist vor dem Hintergrund der hier analysierten Texte neben Thomas Roe nicht haltbar.

„Welcher massen die Potschafften emphangen und gehalten werden“ Diplomatisches Zeremoniell und Ritualpraxis am Moskauer Hof aus der Perspektive westlicher Gesandter im 16. und frühen 17. Jahrhundert Claudia Garnier Audienzen vor dem gastgebenden Herrscher stellten im vormodernen Gesandtschaftswesen den Höhepunkt einer diplomatischen Mission dar. Hier hatten die Emissäre nicht nur dem Gastgeber den gebührenden Respekt zu erweisen, sondern ebenso den entsendenden Dynasten in adäquater Form zu präsentieren.1 Daher war die Frage von zentraler Bedeutung, welche Wertschätzung sie ihrem Gegenüber entgegenbrachten und wie diese erwidert wurde. In der direkten Begegnung wurde die Beziehung durch sprachliche Formulierungen, aber auch durch Zeichen und Gesten zum Ausdruck gebracht. Nicht nur die Anrede und die Konversation, sondern auch nonverbale Zeichen, wie etwa das Abnehmen der Kopfbedeckung, die Verbeugung, das Aufstehen, Platznehmen oder das Überreichen eines Geschenks sandten unmissverständliche Signale aus. Sie dokumentierten gleichsam ohne Worte das Verhältnis der Akteure und waren daher alles andere als Akte inhaltsleerer Repräsentation: Ähnlich wie das gesprochene oder geschriebene Wort übermittelten diese symbolischen Handlungen Aussagen, unterstrichen Positionen und Standpunkte oder brachten abweichende Ansichten zum Ausdruck. Ihre Bedeutung für die politische und soziale Ordnung der Vormoderne, aber auch

1 Zum vormodernen Gesandtschaftswesen vgl. allgemein Klaus Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden, Bonn 1976; Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, hg. von Heinz-Dieter Heimann/Ivan Hlaváček, Paderborn u.a. 1998; Gesandtschafts- und Botenwesen im spätmittelalterlichen Europa, hg. von Rainer C. Schwinges/Klaus Wriedt, Ostfildern 2003; Spezialisierung und Professionalisierung. Träger und Foren städtischer Außenpolitik während des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. von Christian Jörg, Wiesbaden 2010; Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität in historischem Wandel, hg. von Hillard von Thiessen/Christian Windler, Köln u.a. 2010.

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der Gesellschaften der Neuzeit, stellte in den vergangenen Jahren ein viel beachtetes Forschungsfeld der Geschichtswissenschaft dar.2 Beim Aufenthalt der Diplomaten an fremden Höfen bot allerdings nicht nur die Audienz selbst ein wichtiges Forum. Vielmehr wurden die gesamte Reise der Gesandten im Land des Gastgebers und der Besuch in seiner Residenz von Zeichen bestimmt, die die Beziehungen symbolisch zum Ausdruck brachten. Um die Bedeutung ritueller Interaktion im diplomatischen Zeremoniell zu erfassen, wird sich die Bestandsaufnahme in diesem Beitrag daher nicht nur auf die Begegnung mit dem Herrscher selbst beschränken, sondern den gesamten Aufenthalt der Emissäre im russischen Reich in den Blick nehmen. Denn nicht nur am Hof des Großfürsten, sondern bereits beim Grenzübertritt und auf der Fahrt nach Moskau spielten Fragen symbolischen Handelns eine zentrale Rolle. Sie verdichteten sich in Moskau zu einer komplexen Handlungskette, in der immer wieder die Gesten wechselseitiger Reverenz auf den Prüfstand gestellt und bisweilen neu ausgehandelt wurden.3

2 Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation in der Vormoderne vgl. Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter, hg. von Gerd Althoff, Stuttgart 2001; Gerd Althoff, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003; Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Tagung des SFB in Münster. 22.–25. Mai 2002), hg. von Gerd Althoff, Münster 2004; Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe, Thesen, Forschungsperspektiven, in: ZHF 31 (2004), S. 489–527. Epochenübergreifend vgl. Geschichtswissenschaft und „Performative Turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. von Jürgen Martschukat/Steffen Patzold, Köln u.a. 2003; Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, hg. von Dietrich Harth/Gerrit Jasper Schenk, Heidelberg 2004; Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, hg. von Claus Ambos u.a., Darmstadt 2005; Das Ursprüngliche und das Neue. Zur Dynamik ritueller Prozesse in Geschichte und Gegenwart, hg. von Burkhard Dücker, Münster 2008. 3 Zur diplomatischen Praxis im Moskauer Reich vgl. Leonid A. Juzefovič, „Kak v posol’skich obycajach vedetsja ...“, Moskau 1988; ders., Put’ posla. Russkij posol’skij obyčaj. Obichod, etiket, ceremonial. Konec XV – pervaja polovina XVII v., Sankt-Peterburg 2007; Igor N. Semenov, Rossiskij diplomatičeskij protocol. Istorija i sovremennost’, Moskau 2011. Zum Empfang von Botschaftern durch die Zaren im 17. Jahrhundert vgl. Robert O. Crummey, Court Spectacles in Seventeenth-Century Russia: Illusion and Reality, in: Essays in Honor of Aleksandr Aleksandrovic Zimin, hg. von Daniel Clarke Waugh, Columbus 1985, S. 131– 158, S. 136f.

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Die folgenden Ausführungen werden dies am Beispiel einschlägiger westlicher Berichte über Russland im 16. und frühen 17. Jahrhundert skizzieren. Von zentralem Interesse ist zunächst die Darstellung des habsburgischen Gesandten Sigismund von Herberstein. Er weilte in den Jahren 1517/18 und 1526/27 am Hof Vassilijs III. Aus Herbersteins Feder stammt zwar nicht der erste, jedoch der am breitesten rezipierte Bericht eines Ausländers über das vormoderne Russland – die Rerum Moscoviticarum commentarii.4 Die commentarii entstanden kurz nach Herbersteins zweiter Russlandmission 1527 und erschienen später im Druck: in Wien 1549 zunächst in lateinischer Sprache, im Jahr 1557 auch in deutscher Übersetzung, die der Verfasser selbst anfertigte.5 In seinen Rerum Moscoviticarum commentarii bietet Herberstein ein breites Panorama der russischen Topographie, Geschichte und Politik, der religiösen, ökonomischen und sozialen Besonderheiten. Seinen Beobachtungen verdankten die europäischen Höfe wichtige Erkenntnisse über die bedeutender werdende Macht an der östlichen Peripherie des Kontinents.6 Dabei widmet Herberstein vor allem den Elementen besondere Aufmerksamkeit, die er nicht kannte und die er mit seiner eigenen Lebenswelt verglich. Mit besonderer Akribie schreibt Herberstein vor allem über das Empfangszeremoniell, das auswärtige Gesandte am Moskauer Hof erwartete. Der Frage „Welcher massen die Pot-

4 Vgl. zu Herberstein und seinen Rerum Moscoviticarum Commentarii die Beiträge in den folgenden Sammelbänden: Siegmund von Herberstein. Kaiserlicher Gesandter und Begründer der Rußlandkunde und die europäische Diplomatie, hg. von Gerhard Pferschy, Graz 1989; Frank Kämpfer, Das Rußlandbuch Sigismunds von Herberstein. Rerum Moscoviticarum commentarii. 1549–1999, Hamburg 1999; 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii. 1549–1999, hg. von Frank Kämpfer/Reinhard Frötschner, Wiesbaden 2002; sowie Wolfgang Geier, Russische Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten aus vier Jahrhunderten: Sigmund von Herberstein, Adam Olearius, Friedrich Christian Weber, August von Haxthausen, Wiesbaden 2004, S. 27–62. 5 Zu Herbersteins deutschsprachiger Übersetzung vgl. Xenja von Ertzdorff, Sigmund von Herberstein als Geschichtsschreiber und Erzähler in seiner deutschen Ausgabe der „Moscovia“ (Wien 1557), in: 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii, hg. von Kämpfer/Frötschner (wie Anm. 4), S. 27–48. 6 Marshall Poe, Herberstein and the Origin of the European Image of Muscovite Government in: 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii, hg. von Kämpfer/Frötschner (wie Anm. 4), S. 131–171; Giovanni Maniscalco Basile, The Image of Muscovite Political Power in Sigmund von Herberstein’s „Rerum Moscoviticarum Commentarii”, in: ebd., S. 173–201.

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schafften emphangen und gehalten werden“ widmet Herberstein ein ausführliches Kapitel.7 Neben Herberstein kommt der zweite wichtige Bericht über das Moskauer Reich zur Sprache: die Moscovitische und Persische Reise des holsteinischen Gesandten Adam Olearius.8 Im Dienst der Herzöge von Gottdorf war er mehrfach am russischen Hof zu Gast. Zweimal reiste er in den 1630er Jahren als Sekretär der Gesandtschaft nach Russland, im Jahr 1643 leitete er die Mission. Seine Reisebeschreibung erschien bereits im Jahr 1647 in Schleswig im Druck. Aufgrund des großen Interesses, das dem Werk entgegengebracht wurde, erstellte Olearius eine deutlich erweiterte Fassung, die nicht zuletzt dank zahlreicher Übersetzungen ins Holländische, Französische, Englische und Italienische zu einem „Bestseller des 17. Jahrhunderts“ avancierte.9 Die außerordentliche Resonanz war nicht nur der enzyklopädischen Aufbereitung des Stoffes geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass Olearius die Moscovitische und Persische Reise umfangreich illustrieren ließ und auf diese Weise dem Publikum in Mittel- und Westeuropa einen lebendigen Eindruck der unbekannten Welt vermittelte. Im vorliegenden Beitrag findet schließlich auch der Bericht einer hansischen Gesandtschaft Berücksichtigung, die im Jahr 1603 nach Moskau aufbrach. Sie bestand aus Beauftragten der Städte Lübeck und Stralsund, die am russischen Hof um Handelsprivilegien warben.10 Der Wert dieser Gesandtschaft kann für die Frage nach der Bedeutung symbolischen Handelns in der vormodernen diplomatischen Praxis nicht hoch genug eingeschätzt werden, da sie außerordentlich gut dokumentiert ist. Dies ist vor allem dem Engagement des Lübecker Stadtschreibers Johannes Brambach zu verdanken, der sowohl 7 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synoptische Edition der lateinischen und der deutschen Fassung letzter Hand. Basel 1556 und Wien 1557, hg. von Hermann Beyer-Thoma, München 2007, S. 385–438. 8 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, Schleswig 1656, ND hg. von Dieter Lohmeier, Tübingen 1971. 9 Uwe Liszkowski, Adam Oleariusʼ Beschreibung des Moskauer Reichs, in: Russen und Russland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert, hg. von Mechthild Keller, München 1985, S. 223–247, Zitat S. 231; Hans Georg Kemper, „Denkt, daß in der Barbarei / Alles nicht barbarisch sei!“ Zur ,Muscowitischen vnd Persischen Reise‘ von Adam Olearius und Paul Flemming, in: Beschreibung der Welt. Zur Poetik der Reise und Länderberichte. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 8. bis 13. Juni 1998 an der Justus-Liebig-Universität Gießen, hg. von Xenja von Ertzdorff-Kupffer, Amsterdam 2000, S. 315–344; Geier, Russische Kulturgeschichte (wie Anm. 4), S. 63–86. 10 Helmut Neubauer, Das Moskauer Privileg für Lübeck 1603, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas NF 16 (1968), S. 70–84.

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einen offiziellen Bericht über seine Mission anfertigte als auch in einem Reisetagebuch seine individuellen Eindrücke wiedergab.11 Zudem nehmen Fragen der Repräsentation und der symbolischen Kommunikation in den Schilderungen einen zentralen Stellenwert ein.12 Die Berichte der westlichen Gesandten über Russland haben seit jeher das Interesse der Forschung auf sich gezogen. Zunächst standen vor allem die Fremderfahrung und Differenzwahrnehmung der Emissäre im Fokus, da sie ihren Lesern das Panorama einer im Westen weitgehend fremden Welt boten.13 Dass sich daraus stereotype und bisweilen überaus negative Vorstellungen über den „wilden Moskowiten“ entwickelten, wurde immer wieder betont.14 In den 11 Detailliert dokumentiert sind diese Aufzeichnungen bei Wilhelm Brehmer, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603, in: Hansische Geschichtsblätter 6 (1889), S. 29–51; vgl. auch Berichte und Akten der Hansischen Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603, hg. von Otto Blümcke, Halle 1894. Hier findet sich S. 44–67 der offizielle Bericht Brambachs. 12 Iwan A. Iwanow, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau von 1603. Ein Zusammen- oder Nebeneinanderspiel der Repräsentationen?, in: Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz, Okzident, Rußland, hg. von Otto Gerhard Oexle/ Michail A. Bojcov, Göttingen 2007, S. 475–506; Ruth Schilling, Kommunikation und Herrschaft im Moment der Ankunft: ein Empfang in Moskau (1603) und eine Audienz in Versailles (1686), in: Die Ankunft des Anderen. Repräsentationen sozialer und politischer Ordnungen in Empfangszeremonien, hg. von Susann Baler/ Michael Pesek/Ruth Schilling/Ines Stolpe, Frankfurt a.M. u.a., S. 135–151. 13 Russen und Russland, hg. von Keller (wie Anm. 9); Gabriele Scheidegger, Perverses Abendland – barbarisches Rußland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Mißverständnisse, Zürich 1993; Ekkhard Witthoff, Grenzen der Kultur. Irland, Lappland und Russland im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reisebeschreibungen, in: 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii, hg. von Kämpfer/Frötschner (wie Anm. 4), S. 285–291. Einen aktuellen allgemeinen Überblick über die Differenzwahrnehmung vormoderner Gesandter bieten Michael Rohrschneider/Arno Strohmeyer, Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert. Forschungsstand – Erträge – Perspektiven, in: Wahrnehmung des Fremden. Differenzerfahrung von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von Michael Rohrschneider/Arno Strohmeyer, Münster 2007, S. 1–50; vgl. auch die Beiträge in: Grenzen und Grenzüberschreitungen. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, hg. von Christine Roll/Frank Pohle/Matthias Myrczek, Köln u.a. 2010; Grenzen überschreiten – transitorische Identitäten. Beiträge zum Phänomen räumlicher, kultureller und ästhetischer Grenzüberschreitung in Texten vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Monika Unzeitig, Bremen 2011. 14 Monika Hueck, „Der wilde Moskowit“. Zum Bild Russlands und der Russen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Überblick, in: Russen und Russ-

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letzten Jahren hat sich der Fokus hingegen verlagert, so dass ebenso die diplomatische Zeremonialpraxis zum Gegenstand der Analyse wurde.15 Auch die Erfahrungen, die umgekehrt die russischen Gesandten mit den rituellen Gepflogenheiten in West- und Mitteleuropa machten, stoßen seit einiger Zeit auf zunehmendes Forschungsinteresse.16 Die folgenden Ausführungen fokussieren nicht nur die Audienzen vor dem Moskauer Herrscher selbst, sondern sie begleiten die Gesandtschaften vom Grenzübertritt, ihrem Reiseweg nach Moskau über den Empfang in der Metropole Russlands, der Unterbringung und Beherbergung bis hin zur offiziellen Audienz. Auf dieser empirischen Basis werden nicht nur die rituellen Kommunikationsmuster rekonstruiert, sondern es soll auch der Bedeutung der einzelnen Empfangssequenzen für den gesamten Aufenthalt im Moskauer Reich nachgegangen werden.

Gesandte auf dem Weg zum Großfürsten Bei der Ankunft auswärtiger Gesandtschaften schickten die Moskauer Herrscher Beauftragte an die Grenze, die die Fremden einholen und bis nach Moskau begleiten sollten. Im Russischen wurden sie als Pristave bezeichnet.17 Diese land, hg. von Keller (wie Anm. 9), S. 289–340; vgl. auch Oleg Kudrjavcev, Das ambivalente Bild Rußlands. Sigismund von Herberstein und seine Vorgänger, in: 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii, hg. von Kämpfer/Frötschner (wie Anm. 4), S. 101–114. 15 Christine Roll, Europäische Gesandtschaften am Zarenhof. Zeremoniell und Politik, in: Zarensilber. Augsburger Silber aus dem Kreml. Katalog der Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg, hg. von Christoph Emmendörffer/Christof Trepesch, München 2008, S. 30–55; Iskra Schwarcz, Die kaiserlichen Gesandten und das diplomatische Zeremoniell am Moskauer Hof in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz u.a., Wien 2009, S. 265–286; sowie die Angaben in Anm. 3. 16 Jan Hennings, The Semiotics of Diplomatic Dialogue. Pomp and Circumstance in Tsar Peter I’s Visit to Vienna in 1698, in: International History Review 30 (2008), S. 515–544; Michail A. Bojcov, Maximilian und sein Hof 1518. Von den russischen Gesandten her (nicht?) gesehen, in: Innsbrucker historische Studien 27 (2011), S. 45–69. 17 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 11: „Dann es in Rußlandt (…) der Gebrauch / daß wenn frembde Gesandten an die Grenze gelangen / sich anmelden und warten muessen / biß ihre Ankunfft dem Herrn des Landes durch schleunige Post angedeutet / und an die Stadthalter und Be-

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Maßnahme stellte weniger einen Akt der Höflichkeit oder Fürsorge dar, sondern die Begleitung durch die Pristave hatte handfeste machtpolitische Funktionen. Zunächst wurde auf diese Weise die Kontrolle über den Reiseweg der Gesandten gewahrt. So betont Herberstein, dass die Pristave stets hinter den Gesandtschaften reiten würden, jedoch „nit dem Potten zu Ehrn / sonder als beschlüß er den weg / das niemandt hernach oder wider hinder sich khumen müge (…).“18 Hier spielte also der Sicherheitsaspekt eine entscheidende Rolle. Zudem durften die Gesandten nur die Orte und Regionen besuchen, die dem Großfürsten passend erschienen. Die ausgewählten Städte boten eine probate Bühne für die Selbstdarstellung des Gastgebers, um durch Größe oder Wohlstand einen möglichst positiven Eindruck zu erwecken.19 Um dies sicherzustellen, wurden die örtlichen Funktionsträger vorab von der Ankunft der Gesandten in Kenntnis gesetzt, um einen entsprechenden Empfang vorbereiten zu können. Darauf wird an späterer Stelle noch einzugehen sein. Bereits die erste Zusammenkunft zwischen den auswärtigen Gesandten und den russischen Adligen an der Grenze war von Zeichen und Gesten bestimmt, die das Verhältnis der Akteure sinnfällig zum Ausdruck brachten. Hier war es zunächst von Belang, dass beide Parteien vom Pferd absaßen und ihre Worte ihm Stehen wechselten. Auf diesen Brauch wurde Sigsmund von Herberstein sofort an der Grenze hingewiesen, und kurz bevor er Moskau erreichte, ritt ihm „eilig und voller schwaiß“ ein Bote entgegen und betonte, „es gepür sich steend des Herrn wort zuhören (…).“20 Finessen und Tricks, den anderen zuerst zum Absteigen zu bringen, waren dabei an der Tagesordnung. Ebenso hatten die Emissäre ihre Kopfbedeckung abzunehmen. Herberstein berichtet, dass der ihn empfangende Gesandte bei seiner Begrüßung an der Landesgrenze während fehlichshaber der Provintzien Order geschicket wird / wie am sie empfangen und tractiren soll. Dann der Muscowiter (…) alle Gesandten und Posten / die von grossen Herren geschicket werden / so lange sie an ihren Grenzen seynd / Zehrung und Fuhr mit sicherm Geleit fry halten. Dahero dann den Gesandten ein Schaffner (welchen die Russen Pristaff … nennen) neben etlichen / Soldaten / sie durchs Lande zu fuehren zugeordnet werden.“ 18 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 388. 19 Vgl. dazu bereits Boris Landau, Die Moskauer Diplomatie an der Wende des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Kultur und Geschichte der Slaven 10 (1934), S. 100–144, S. 106f. 20 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 397. Vgl. auch ebd., S. 387: „(…) es gbürt sich nit / des Herrn wort anderst dan steend außzusprechen / noch zuhörn.“

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der gesamten Rede seinen Hut in der Hand hielt. Danach allerdings „emplöst er sein khopf nimer zuvor / es hab dan die Potschafft sich zuvor emplöst (…).“21 Das Hutziehen an der Grenze kann daher gewissermaßen als Initialgeste verstanden werden, mit der die russischen Beauftragten ihren eigenen wie den fremden Herrscher gleichermaßen würdigten. Danach hingegen wurde von den auswärtigen Gesandten immer dann diese Geste eingefordert, wenn der Name des Großfürsten fiel oder wenn in seinem Auftrag Reden oder Ansprachen formuliert wurden. So berichtet Herberstein auf seinem weiteren Reiseweg, dass die Pristave bei ihrer Begrüßung zunächst abwarteten, ob die habsburgische Delegation ihre Kopfbedeckung abnehmen würde. Doch erst als in der Ansprache der Name des Großfürsten genannt wurde, zog Herberstein seinen Hut.22 Auf diese Weise sandte er in ein und derselben Situation zwei unterschiedliche Signale aus: Dem Großfürsten legte er die gebührende Reverenz an den Tag, während er den Pristaven gegenüber auf Gleichrangigkeit bedacht war. Beides brachte er mit ein und derselben Geste zum Ausdruck. Nach der offiziellen Begrüßung an der Grenze geleiteten die Pristave die fremden Gesandtschaften nach Moskau. Auf jeder Etappe der Reise sandten sie den örtlichen Funktionsträgern Informationen zu, damit diese entsprechende Vorkehrungen treffen konnten.23 Mit ihrer Einreise in die Städte mussten die Gesandten so lange warten, bis die Statthalter Order aus Moskau erhalten hatten. Dabei wurde nichts dem Zufall überlassen, und die Feierlichkeiten richteten sich in der Regel nach dem Status des entsendenden Herrschers und danach, wie die russischen Gesandten an dessen Hof empfangen worden waren. So musste Sigismund von Herberstein vor Smolensk mehrere Nächte unter freiem Himmel verbringen, weil die Anweisungen aus Moskau noch auf sich warten ließen. Da seine Mission in die Wintermonate fiel, beklagte er sich in seinen Rerum Mosco21 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 388. Zu dieser Geste vgl. Gabriele Scheidegger, Von altrussischen Hüten und internationalen Staatsaffären, in: 450 Jahre Sigismund von Herbersteins Rerum Moscoviticarum Commentarii, hg. von Kämpfer/Frötschner (wie Anm. 4), S. 263–291. 22 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 392: „(…) darnach khumen jr zwen von der Mosqua gesandt (…) / dieselben zwen waren uns für Pristawen / wie sy die nennen / als zuegeordente nach der Mosqua zuversehen / geschickht / als die in unsere herberg zu uns khamen / wol geclaidt / die warteten / wan wir unsere heubter emplösten / so sy dan jre werbung thetten / und jren Fürsten nentn / haben wir billichen unsere heubter entdeckht (…).“ Vgl. auch ebd., S. 398. 23 Ebd., S. 385f.

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viticarum Commentarii wortreich und voller Unmut über den mangelnden Komfort.24 Als ihm dann endlich Einlass in die Stadt gewährt wurde, konstatierte er versöhnlich, dass der dortige Statthalter ihn immerhin mit zwei Sorten Wein, drei Sorten Met und ausreichenden Speisen versorgen ließ.25 Da sich die Statthalter in den einzelnen Regionen vor den Gesandten möglichst eindrucksvoll in Szene zu setzen versuchten, aktivierten sie alle Ressourcen ihrer Stadt, vor allem die personellen. Weil in einem dünn besiedelten Land, das regelmäßig unter Populationsverlusten litt, eine bevölkerungsreiche Stadt als Zeichen des Wohlstandes galt, boten sie bisweilen alle Einwohner des Ortes bei der Durchreise der Gesandten auf. Sie standen an den Straßen und Wegen und suggerierten mit ihrem Gedränge prosperierendes städtisches Leben. Ähnliche Regeln galten auch in Moskau selbst: Adam Olearius sah bei seiner Ankunft in Moskau „auff allen Gassen und Haeusern eine unzehliche menge Volkes / die da stunden unsern Einzug anzuschawen.“26 Wurden die Gesandten auf dem Weg zu ihrer offiziellen Audienz durch die Stadt geführt – dieser Vorgriff sei an dieser Stelle erlaubt –, so mobilisierte der Großfürst nicht nur die Moskowiter, sondern auch alle verfügbaren Adligen und Dienstleute, die in der Nähe der Stadt wohnten, um die Straßen zu säumen und sich auf dem Platz vor dem Kreml zu postieren. Auch Geschäfte auf den Märkten mussten in dieser Zeit ruhen, Läden hatten geschlossen zu bleiben, damit Kaufleute und alle Bewohner der Stadt zur Verfügung standen.27 Um den Zug der Gesandten durch Moskau möglichst imposant erscheinen zu lassen, wurden die Gäste in einigen Fällen nicht auf direktem Weg, sondern in einem weiten Bogen zum Kreml 24 Ebd., S. 390f. Herberstein vermutet treffsicher den Grund für die verzögerte Einreise in die Stadt (ebd., S. 390): „Ich möchte wol abnemen / warumb sy uns so lang an dem weg hielten / Nämblichen / das wir spat fürgeschickt hetten / herhalben sy der Antwort von der Mosqua warteten / wie man uns halten / und sy uns in die Stat Smolensco oder hervor halten sollen (…).“ 25 Ebd., S. 392 26 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 29. Gleiches galt für den Weg, den die Gesandten zur offiziellen Audienz zurücklegten (ebd., S. 32): „(…) auff allen Gassen / Haeusern und Daechern stund das Volck sehr haeuffig unsern Auffzug zuzusehen.“ 27 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 402f.: „(…) da stuende des volckhs sovil / das wir khaum platz gehaben möchten durch zukhomen / Ain solcher prauch wirdt gehalten / wann frembde Potschafften für den Fürsten gefüert werden / beruefft man den Adl und Dienstleut / so in der nahent umb die Stat wonen / und alle handtierung am Marckht und Plätzen wirde beschlossen / unnd gepotten / das alles gmain Volckh auf denselben Platz vor dem Schloß khume / werden auch dahin getriben (…).“

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geleitet. So entstand der Eindruck, dass das „Schauspiel“ künstlich prolongiert werden sollte. Die hansischen Emissäre, die im Jahr 1603 am Moskauer Hof weilten, hatten sich sogar trotz starken Regens auf den unkomfortablen Umweg zu begeben.28 Diese Maßnahmen erklärte Herberstein seinen Lesern damit, dass der Großfürst auf diese Weise Macht und Einfluss zum einen nach außen vor den Gesandten präsentierte. Zum anderen wurde auch nach innen der eigenen Bevölkerung durch die prunkvollen Gesandtschaften einflussreicher Potentaten die Größe ihres Herrschers demonstriert: „Und nach dem sovil Volckhs zu solchem tag verordnet auch ervordert (…) werden / geschiecht aus zwayen ursachen / Nemblichen das die frembden sehen die menige des Volckhs / und Mechtigkhait des Herrns / das auch die underthonen sehen jres Herrn Achtperkhait / das so große Herrn den durch jre ansechliche Potschafftn besuechen.“29 Während der Großfürst selbst keinerlei Probleme hatte, die personellen Ressourcen in seiner Metropole aufzubieten, waren die Bedingungen an der Peripherie weitaus schwieriger. Bisweilen griffen die Verantwortlichen dabei zu – wenn auch überaus durchschaubaren – Tricks. So wurde die hansischen Gesandtschaft aus dem Jahr 1603 in Pskow Zeuge gravierender Nahrungsknappheit, die durch Kriege, Krankheiten und den anbrechenden Winter ausgelöst worden war. Die Bewohner litten so sehr Hunger, dass sie sich in den Wäldern von Baumrinde ernährten, und aufgrund der schlechten Versorgung reduzierte sich die Einwohnerzahl der Stadt dramatisch. Die in Pskow einreisenden hansischen Gesandten wurden dennoch adäquat bewirtet und bei ihrem Auszug aus der Stadt ersannen die Verantwortlichen folgende List, um den Bevölkerungsverlust zu kaschieren: „Als sie [die Gesandten] bei ihrer Abreise durch die fast entvölkerte Stadt fuhren, hatten sich (…) deren Bewohner, um den Deutschen die Augen zu verblenden, beim Eingange in so großer Zahl angesammelt, daß die Wagen nur mit Mühe hindurchfahren konnten; sowie aber diese passirt, wurden jedesmal die Hintersten, wie die Hunde, durch Nebenstraßen nach vorne getrieben, um hier wiederum die Straßen zu füllen. Solches ward so oft wiederholt, daß die Gesandten, wenn sie die List nicht gemerkt, hätten glauben müssen, die Stadt sei von einer unzähligen Menge

28 Brehmer, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603 (wie Anm. 11), S. 41. 29 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 405.

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bewohnt.“30 An der Peripherie handelte man also ähnlich wie in Moskau, indem durch beeindruckend wirkende Menschenmengen der vermeintliche Wohlstand Russlands präsentiert werden sollte.

Fische und Betten – Bewirtung und Herbergen Grundsätzlich war es im russischen Reich die Aufgabe des Großfürsten und seiner Statthalter, die Gäste adäquat zu versorgen. Daher fassten es die russischen Pristave als Kränkung auf, als Herberstein auf seinem Weg nach Moskau auf eigene Faust bei einer Bäuerin Lebensmittel erwerben wollte. Als seine russischen Begleiter davon erfuhren, unterbanden sie sofort den Handel, denn sie fühlten sich und ihren Herrn in der Rolle als Gastgeber brüskiert. Herbersteins Aktivitäten führten beinahe zum Eklat, denn er warf den Pristaven vor, ihn nicht ausreichend versorgt zu haben. Er wisse sehr wohl, dass sie zu angemessener Versorgung verpflichtet seien und drohte sogar damit, ihre Nachlässigkeit in Moskau zu melden. Schließlich hätten sich die Pristave seinen Forderungen gebeugt.31 Trotz dieser Erfahrungen wurde Herberstein später auch in Moskau aktiv, als seine Delegation zwar mit Fleisch und Getränken, nicht aber mit Fisch bewirtet wurde. Nachdem er auf eigene Rechnung auf dem Markt Fisch kaufen ließ, waren seine Gastgeber wiederum gekränkt: „(…) wie sy das erindert / haben sich des vasst beschwärdt / mit den wortten / Ich thäte jrem Herrn darmit aind schand (…).“32 In dieser Formulierung kommt deutlich die Signalwirkung der Speisen und Getränke zum Ausdruck: Die Angebotsvielfalt ehrte nicht nur die Gäste, sondern sie dokumentierte gleichzeitig, dass sich der Gastgeber eine möglichst aufwändige Bewirtung leisten konnte. Immerhin hatte Herberstein sein Ziel erreicht, denn seit dieser Auseinandersetzung erhielt seine Delegation fast täglich Fischspeisen. Nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch die Beherbergung der Gesandten trug entscheidend zur Visualisierung der Beziehungen bei. So vermerkte Sigismund von Herberstein, dass er in Moskau in stabilen Holzhäusern untergebracht war, die jedoch nicht ausreichend möbliert waren. Zwar verfüg30 Brehmer, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603 (wie Anm. 11), S. 50. 31 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 395f. 32 Ebd., S. 400.

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ten sie über Tische und Bänke, jedoch gab es keine Betten.33 Als Herberstein um entsprechende Schlafplätze bat, erhielt er zur Antwort, dass es in Moskau nicht üblich sei, die Häuser der Gesandten mit Betten auszustatten. Erst als er anbot, das Mobiliar auf eigene Kosten zu besorgen, wurden seine Gastgeber aktiv. Die Angelegenheit war von so großer Relevanz, dass sie zunächst den Räten des Großfürsten vorgetragen wurde. Die weitere Vorgehensweise ist bezeichnend für die politische Dimension dieser auf den ersten Blick nebensächlichen Angelegenheit. Nachdem die großfürstlichen Räte bei den eigenen Botschaftern in Erfahrung gebracht hatten, dass diese am Wiener Hof ebenfalls in Betten geschlafen hatten, ließen sie die Häuser der habsburgischen Gesandtschaft entsprechend möblieren.34 Dieser Entscheidungsweg zeigt deutlich, dass es auch in diesem Fall weniger um die Ausstattung ging als um Rang, Ehre und politische Wertschätzung, die damit verbunden waren. Da die Zeichen im diplomatischen Zeremoniell in diesem Fall Gleichrangigkeit zum Ausdruck bringen sollten, war es für die Moskauer Räte unabdingbar, in dieser Angelegenheit zunächst Informationen bei den eigenen Leuten über die Wiener Gepflogenheiten einzuholen. Auf diese Weise wurde nahezu jede Situation, jedes Mahl, jedes Getränk, jede Frage der Ausstattung, jedes Mobiliar zum Signal, das sowohl die dem Gegenüber entgegengebrachte Wertschätzung taxierte als auch den eigenen Status präsentierte.

Sprechen vor dem Großfürsten Nachdem durch die Begrüßung an der Landesgrenze, durch das Geleit nach Moskau sowie die Unterbringung und Bewirtung wichtige Koordinaten abgesteckt waren, bildete die Audienz vor dem Großfürsten den Höhepunkt der diplomatischen Reise. Es muss nicht betont werden, dass diese Situation 33 Ebd., S. 399, berichtet, dass ihm seine Gastgeber „zway guete hültzene heuser derselben Land art nach gegen ainander uber unser yeglichem ains verordent / die waren öde / also das khain mensch darinnen was / allain Tisch / Penngkh (…).“ 34 Ebd., S. 400f.: „So sprach ich sy an / weil ich etliche meine freund und ander Edelleut by mir hette / denen wolt ich gern pethe zum ligen haben / pald spricht der ain / bey uns ist der brauch nit / yemandt mit pethen zuversehen / Sagt ich begerte das auch nit / sondern das sy nit aber zu unfriden sein wolten so ichs khauffte / Des andern tags khamen die wider / sagten hetten mit den Rätten derhalben geredt / die haben bevolhen dir zusagen / das du dein gelt nit außgebest / weil durch unsere gesandtn angezaigt worden / wie sy und jre leut in Euren Landen mit pethen versehen seind gewest / so wil man deine leut auch versehen (…).“

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bis ins Detail geregelt wurde. Zumeist wurden die Gäste aus ihrer Herberge von höfischen Funktionsträgern abgeholt, die ihnen die entsprechenden Verhaltensregeln noch einmal einschärften oder besondere Anweisungen für den Ablauf der Begegnung gaben. Auf diese Weise war der zeremonielle Rahmen längst abgesteckt, bevor es zur eigentlichen Audienz kam. 35 Im Empfang durch den Moskauer Herrscher spiegelte sich zwar das Verhältnis wider, es wurde durch Gesten beider Seiten sinnfällig zum Ausdruck gebracht. Doch der eigentliche Prozess der Aushandlung war zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen. Bevor sich die Gesandten auf den Weg zum russischen Herrscher begaben, hatten sie ihre Waffen abzulegen. So notiert Adam Olearius, dass seine Delegation „mit Maenteln ohne Degen zu Pferde gesessen hätte, weil es also der Gebrauch / und niemand mit dem Degen vor Ihre Zaare. Mayest. erscheinen darff.“36 Dass die Emissäre auf ihre Degen zu verzichten hatten, war zum einen der persönlichen Sicherheit des Gastgebers geschuldet. Zum anderen war jedoch das Ablegen der Waffen als demonstratives Signal zu verstehen, mit dem eine neue Sequenz des Empfangszeremoniells eingeläutet wurde. Dass die Begrüßungsaudienz den Höhepunkt der Mission darstellte, dokumentierten auch die Pristave, die die Gesandten zur Residenz geleiteten. Denn sie kamen zwar in ihrer Alltagskleidung zur Herberge der holsteinischen Botschaft, ließen jedoch demonstrativ ihre neuen Repräsentationsgewänder und -mützen hinter sich hertragen. In Anwesenheit der Gesandten legten sie den Festornat an, so dass der ostentative Kleidungswechsel den Beginn der offiziellen Audienz markierte.37 Wie oben bereits beschrieben, wurden die auswärtigen Gesandten in einer festgelegten Prozessionsordnung auf einem möglichst langen Weg zum Kreml geführt, der von den Bewohnern der Stadt und aus dem Umland gesäumt war.38 35 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 30f. So berichtet auch Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 401ff., von einer hochrangigen Delegation, die ihn aus seiner Herberge in Moskau abholte und zur Audienz beim Großfürsten geleitete. Immer wieder wurden den Gästen aus Wien in diesem Zusammenhang die Verhaltensregeln eingeschärft. 36 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 31. 37 Ebd., S. 31: „Umb 9. Uhr kamen die Pristaffen (…) in ihren gewoehnlichen Kleidern / und liessen ihre newe Roecke und hohe Muetzen / so sie aus der GroßFuerstlichen KleiderKammer genommen / hinter sich hertragen / legten dieselbe in der Gesandten Vorgemach an / und putzten sich in gegenwart unser auffs beste.“ 38 Vgl. oben S. 65f.

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Vor der Residenz angelangt, hatten die Emissäre von den Pferden abzusteigen und zu Fuß zur Kremltreppe zu gehen, da es allein das Privileg des Großfürsten war, bis zu den Stufen zu reiten.39 Der Empfang der Gesandten vor dem russischen Herrscher unterschied sich kaum von entsprechenden Feierlichkeiten an den westlichen Höfen: Der Großfürst thronte erhöht auf dem Audienzstuhl, vor ihm war eine mit einem Teppich bedeckte Bank postiert, auf der die Botschafter Platz nahmen.40 Adam Olearius berichtet zudem, dass größter Wert darauf gelegt wurde, dass der russische Herrscher gleichzeitig mit dem Eintreffen der Gesandten Platz nahm. Daher wurden den Botschaftern auf ihrem Weg zum Kreml Boten entgegengeschickt, die „sagten (…) daß wir bald geschwinde / bald langsamb reiten / bald gar stille halten solten / darmit Ihre Zaare Mayest. nicht ehe oder langsamer sich auff den Audientz Stuel setzte / biß die Gesandten vorhanden.“41 Nach der Begrüßung erhielten die Botschafter das Wort. Sigismund von Herberstein ließ seine Leser wissen, dass die Botschafter nur das, „was offendlich zusagen ist“, vor dem Großfürsten stehend vorzutragen und alle anderen Angelegenheiten zu einem anderen Zeitpunkt vorzubringen hätten.42 Die hansische Gesandtschaft, die im Jahr 1603 nach Moskau reiste, wurde ermahnt, sich bei der Audienz auf das Nötigste zu beschränken, da der Großfürst allzu langes Sitzen nicht vertrage. Als die Emissäre bei der Grußadresse dennoch zu ausladend und ausführlich wurden, entzog ihnen der russische Kanzler kurzerhand das Wort und ließ den Großfürsten die ihm zugedachten Geschenke begutachten.43 Während des Empfangs thronte der Großfürst, allerdings erhob er 39 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S.  403: „(…) wan man bey Sant Michaels Khirchen khumbt / geet die Stigen neben auf in des Großfürsten wonung / last man khain mit willen zu der stigen reitten / sagen es gebür alain dem Fürsten (…).“ Zur Residenz der Moskauer Großfürsten Manfred Hellmann, Der Hof der Großfürsten von Moskau, in: Osteuropa in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Günther Stökl, hg. von Hans Lemberg u.a., Köln u.a. 1977, S. 3–17. 40 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 406f.; Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 34. 41 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 32. Zum Audienzstuhl vgl. ebd., S. 33 sowie Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 406. 42 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 407. 43 Brehmer, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603 (wie Anm. 11), S. 37–41.

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sich kurz, wenn der Name des römisch-deutschen Kaisers fiel.44 Diese Geste bringt deutlich zum Ausdruck, dass die Gesandten während der Audienz in doppelter Funktion agierten: Zum einen repräsentierten sie ihren Auftraggeber, so dass ihnen in einigen Situationen dieselbe Achtung wie ihrem Herrn selbst zukam. Sie galten für einen kurzen Moment als „Ebenbilder Ihrer Fuersten / und hoher Fuerstlicher Ehre wuerdig“, so dass der Eindruck evoziert wurde, der Auftraggeber sei persönlich anwesend.45 Zum anderen jedoch handelten die Botschafter in eigener Person, so dass sie in der Begegnung mit dem gastgebenden Herrscher in der Hierarchie des Zeremoniells eine inferiore Stellung bezogen. Die öffentliche Begegnung mit dem russischen Herrscher beschränkte sich zumeist auf den Empfang der Gäste und die Übergabe der Geschenke. Herberstein und seine Gefährten hingegen durften als kaiserliche Gesandte sogar mit Vassilij III. persönlich speisen und wurden an der Tafel gegenüber dem Großfürsten und seinen Brüdern platziert.46 Zu Beginn der Mahlzeit ließ der Gastgeber den Gesandten Brot und Salz reichen. Herberstein klärt seine Leser über den Symbolwert dieser Gaben entsprechend auf: „Der prauch daselbstn ist das der Fürst durch schickhung des Prots von seinem Tisch / die gnad bedeut / schickht er aber ain Saltz / bedeut die lieb / und sol ain grössere ehr sein / Saltz zuschicken.“47 Wenn der Herrscher anschließend einem Gast Speisen vorlegen 44 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 407; vgl. auch Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 34. 45 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 190. Vgl. auch André Krischer, Das Gesandtschaftswesen und das vormoderne Völkerrecht, in: Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert, hg. von Michael Jucker/Martin Kintzinger/Rainer C. Schwinges, Berlin 2011, S. 197–239. 46 Zur zeremoniellen Bedeutung des Festmahls vgl. Uta Löwenstein, Voraussetzungen und Grundlagen von Tafelzeremoniell und Zeremonientafel, in: Zeremoniell als höfische Ästhetik in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Jörg Jochen Berns/Thomas Rahn, Tübingen 1995, S. 266–279; Barbara Stollberg-Rilinger, Ordnungsleistung und Konfliktträchtigkeit der höfischen Tafel, in: Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit, bearb. von Peter-Michael Hahn/Ulrich Schütte, Berlin 2006, S.  103–122; sowie die Beiträge in: Die öffentliche Tafel. Tafelzeremoniell in Europa 1300–1900, hg. von Hans Ottomeyer/Michaela Völkel, Wolfratshausen 2002; zu den Verhaltensregeln an der herrscherlichen Tafel in Russland vgl. Juzefovic, „Kak (...) vedetsja ...“ (wie Anm. 24), S. 129–141. 47 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 412.

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und Getränke einschenken ließ, hatte dieser zum Dank aufzustehen.48 Mit Ausnahme des Großfürsten hatten sich alle anderen Anwesenden zur Ehrung des Bewirteten ebenfalls zu erheben. Dass dies bisweilen für die Tischgesellschaft überaus anstrengend sein konnte, konstatiert Herberstein: „(…) mit solchen verehrungen die hin und wider geschickht / und so offt aufgestanden mueß werden / das fürwar ainer mued wirdt (…).“49 Es muss nicht betont werden, dass das Mahl an der großfürstlichen Tafel weniger der Nahrungsaufnahme diente als „eine ununterbrochene Aneinanderreihung von Ritualen und zeremoniellen Akten, die aus realen Strukturen und konkreten Beziehungen erwuchsen“, darstellte.50 Wie alle übrigen Gäste hatte auch Herberstein zum Dank aufzustehen, wenn ihm der Großfürst Speisen und Getränke zukommen ließ. Alle anderen Personen erhoben sich gemeinsam mit ihm, allein die Brüder des Großfürsten enthielten ihm diese Reverenz vor. Daher blieb er ebenfalls sitzen, als diese bewirtet wurden. Als er ermahnt wurde, sich zu erheben, ließ er die Anwesenden wissen, er sehe sich als Vertreter seines Herrn. Daher würde er nur diejenigen, die auch dem Kaiser die gebührende Reverenz entgegenbrachten, ehren, sie jedoch geringschätzen, wenn sie seinen Herrn missachteten: „(…) wer mein Herrn ehrt / den ehere ich auch / pillich / wer aber mein Herrn nit ehrt den sol ich auch nit ehren (…).“51 Auch diese Episode dokumentiert deutlich die doppelte Funktion der Emissäre: Herberstein als österreichischer Adliger konnte keine Wertschätzung einfordern, als Gesandter in Stellvertretung des Kaisers hatte er jedoch ein Recht auf eine entsprechende Würdigung.

48 Sigismund von Herberstein berichtet ebd., S. 414, über die Speisen, die der Großfürst den Gästen an seiner Tafel zukommen ließ: „(…) welchem dan ain solches zuegeschickht wirdet / der stehet auf / und die andern al stehen dem selben zu ehrn auf / der danckht dem Fürsten / und den andern / mit naigung des khopffs / so geschicht doch das schickhen mit merer zierligkhait (…).“ 49 Ebd., S. 414. 50 Hartmut Rüß, Herren und Diener. Die soziale und politische Mentalität des russischen Adels. 9.–17. Jahrhundert, Köln u.a. 1994, S. 453. 51 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 415; dazu Claudia Garnier, Wer meinen Herrn ehrt, den ehre ich billig auch. Symbolische Kommunikationsformen bei Gesandtenempfängen am Moskauer Hof im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7 (2005), S. 27–51.

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Geschenke an den Großfürsten – Geschenke an den Hof Das gemeinsame Mahl mit dem russischen Herrscher war nicht allen Gästen vergönnt. Geschenke bildeten hingegen eine Konstante im russischen Gesandtschaftszeremoniell.52 Dies galt jedoch nicht nur für die Gepflogenheiten in Moskau, sondern auch für die diplomatische Praxis an anderen Höfen.53 Als Geschenke dienten in der Regel Gold- oder Silberarbeiten, Gegenstände, die einen technischen oder künstlerischen Wert besaßen, wie etwa Uhren, oder luxuriöse Gebrauchsgegenstände wie wertvolle Stoffe.54 Noch heute quellen die Bestände der staatlichen Museen im Moskauer Kreml schier über von prächtigem Gold und Silber, das den Großfürsten und Zaren im Laufe der Jahrhunderte überreicht wurde.55 Die Gaben waren bisweilen so filigran und kostbar, dass die Gesandtschaften eigene Goldschmiede mit nach Moskau brachten, die vor Ort die Gegenstände zusammensetzten oder die auf der Reise entstandenen Schäden ausbesserten.56 Wurden die Geschenke vor den russischen

52 Clemens Sidorko, Der Elefant Peters des Großen. Gesandtschaftsgeschenke als Instrument diplomatischer Kommunikation, in: Wege der Kommunikation in der Geschichte Osteuropas, hg. von Nada Boškovska/Peter Collmer/Seraina Gilly, Köln u.a. 2002, S. 31–55; Ursula Timann, Goldschmiedearbeiten als diplomatische Geschenke, in: Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg 1400– 1800, Nürnberg 2002, S. 217–239; Zarensilber, hg. von Emmendörffer/Trepesch (wie Anm. 15). 53 Negotiating the Gift. Pre-modern Figurations of Exchange, hg. von Gadi Algazi u. a., Göttingen 2001; Jan Hirschbiegel, Étrennes. Untersuchungen zum höfischen Geschenkverkehr im spätmittelalterlichen Frankreich zur Zeit König Karls  VI. (1380–1422), München 2003; Jeanette Falcke, Studien zum diplomatischen Geschenkwesen am brandenburgisch-preußischen Hof im 17. und 18.  Jahrhundert, Berlin 2006; Peter Burschel, Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 408–421; Geschenke erhalten die Freundschaft. Gabentausch und Netzwerkpflege im europäischen Mittelalter. Akten des internationalen Kolloquiums Münster 19.–20. November 2009, hg. von Michael Grünbart, Berlin 2011. 54 Vgl. die Auflistung der Gaben bei Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 31f. 55 Der Kreml. Gottesruhm und Zarenpracht. Katalog anlässlich der Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, hg. von N. L. Abramova/Jutta Frings, München 2004. 56 Brehmer, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603 (wie Anm. 11), S. 36.

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Herrscher getragen, wurden sie zusätzlich mit kostbaren seidenen Tüchern umhüllt.57 Die Gaben wurden in Moskau im Anschluss an die Grußadresse überreicht. Entweder notierte ein Sekretär bei der Übergabe ihren Wert und den Namen des Gebers.58 Es war aber auch möglich, dass die Gesandten noch vor der öffentlichen Audienz dem Kanzler eine Liste mit den Geschenken zukommen lassen mussten, wie es etwa beim Besuch der holsteinischen Gesandtschaft des Adam Olearius der Fall war.59 Wie wichtig die öffentliche Präsentation und Darbietung der mitgeführten Gaben waren, betont auch Sigsmund von Herberstein. Ihre Funktion im diplomatischen Zeremoniell wird schon allein daran ersichtlich, dass sie als „Verehrungen“ bezeichnet werden.60 Sie waren nicht nur aufgrund ihres Sachwerts wichtige Elemente diplomatischer Begegnungen, sondern sie transportierten eine ganze Fülle an Informationen. Dies ist vor allem darin begründet, dass über Gaben, ihren Umfang und Wert sowie über die Formen ihrer Übergabe bestimmte Aussagen vermittelt werden können. Mithilfe des Gabentauschs kann kommuniziert werden, so dass er gerade im diplomatischen Zeremoniell als eine Form der nonverbalen und symbolischen Interaktion zu begreifen ist.61 Der Umfang des übertragenen Gegenstands sagt viel über die Wertschätzung aus, die der Gebende dem Adressaten entgegenbringt. Von zentralem Interesse ist allerdings nicht nur die Taxonomie der Gaben, sondern auch die Situation, in der sie übermittelt werden. Diese Rahmenbedingungen erlauben wichtige Rückschlüsse auf die Beziehungen der Akteure. So zeigen sie etwa an, ob ein hierarchisches Abhängigkeitsverhältnis oder eine gleichberechtigte Partnerschaft existiert.62 Nicht nur das Geschick der Botschafter, sondern auch der Wert der mitgeführten und empfangenen Gaben bestimmte demnach das Ergebnis diplomatischer Bemühungen. 57 Ebd., S. 37. 58 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 408. 59 Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 31. 60 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 408: „Es ist gleichwol der prauch wan andere Potschafften (…) khumen / die bringen dem Großfürsten vereherungen / die uberantworttn sy nach erster jrer werbung offendlich (…).“ 61 Elke Milkautz, Schenken als symbolisches Handeln. Ansätze zur Interpretation eines kulturellen Phänomens, in: Symbolische Anthropologie der Moderne. Kulturanalysen nach Clifford Geertz, hg. von Gerhard Fröhlich/Ingo Mörth, Frankfurt a.M. u.a. 1998, S. 149–160. 62 Vgl. dazu die bibliographischen Angaben in Anm. 69.

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Dies präsentiert etwa die hansische Gesandtschaft aus dem frühen 17. Jahrhundert. Im Anschluss an die erste Audienz und die Übergabe der Geschenke trugen die Gesandten den Moskauer Funktionsträgern ihre inhaltlichen Anliegen vor.63 Nachdem die für die Hansestädte wichtigen Handelsfragen geregelt und schriftlich fixiert worden waren, erfolgte die zweite öffentliche Begegnung mit dem Zaren. Er überreichte den Gästen feierlich das mit seinem Goldsiegel beglaubigte Handelsprivileg und ließ ihnen seine Abschiedspräsente zukommen. So wie die Gäste bei der Ankunft ihre Geschenke entrichtet hatten, erhielten sie bei der Abreise die entsprechenden Gegengaben. In diesem Falle wurde jeder Gesandte mit einem goldenen Pokal und 120 Zobelfellen bedacht, und zwar nicht ohne den Hinweis, diese Gegenstände dem Großfürsten „zu Ehren (…) zu nutzen und seiner dabei zu gedenken.“64 Diese Formulierung drückt eine weitere Funktion der Gaben aus, und nicht ohne Grund wurden sie am Moskauer Hof als Pominki bezeichnet. Die Etymologie dieses Wortes steht in engem Zusammenhang mit Begriffen wie Gedächtnis, Gedenken oder Erinnerung (Pominanie). Bis in die heutige Zeit bezeichnen Pominki im russischen Sprachgebrauch ebenso das Totenmahl, mit dem nach dem Begräbnis die Gemeinschaft zwischen den Lebenden und den Toten bekräftigt wird.65 Zwischen diesem Hinweis und dem Gabentausch im diplomatischen Verkehr scheinen auf den ersten Blick keine rechten Verbindungen zu existieren, auf den zweiten Blick offenbaren sich jedoch wichtige funktionale Analogien. Gaben – so der Bedeutungstransfer des Begriffs – stiften eine Bindung, sei sie sozialer oder politischer Natur. Sie sind materieller Ausdruck der wechselseitigen Anerkennung, ihre Übergabe und Annahme symbolisieren Zusammenhalt. Bei einem Gebrauchsgegenstand als Gabe ruft sich der Schenkende dem Empfänger in Erinnerung, und zwar über die räumliche oder zeitliche Distanz hinweg. Die Gabe und ihr Gebrauch stiften Gemeinschaft. Dass der Moskauer Großfürst den auswärtigen Gesandtschaften die diplomatischen Geschenke mit den Worten zukommen ließ, sie mögen in Zukunft seiner gedenken, ist deutlicher Ausdruck dieser Vorstellung. Gaben in diplomatischen Begegnungen erfüllten mitunter jedoch auch Funktionen, die auf den ersten Blick als Bestechung oder Korruption erschei63 Eine solche Geheimaudienz beschreibt auch Adam Olearius, Vermehrte Newe Beschreibung (wie Anm. 8), S. 38ff. 64 Brehmer, Die hansische Gesandtschaft nach Moskau im Jahre 1603 (wie Anm. 11), S. 47. 65 Galina A. Nosova, Tradicionnye obrjady russkich. Krestiny, pochorony, pominki, Moskau 1999.

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nen.66 Vor allem die Verhandlungen mit den Funktionsträgern am Moskauer Hof wurden nicht selten durch ‚Geschenke‘ beeinflusst. So warb die eben erwähnte hansische Gesandtschaft um Handelsprivilegien, die ihr erst nach mehrfachen Treffen und zähem Ringen mit dem russischen Kanzler gewährt wurden. Dieser hatte sich am Ende maßgeblich für die Interessen der Hansestädte eingesetzt – und dies nicht ohne Grund, erhielt er doch für seine Dienste zum Wohle des Hansehandels ein ‚Geschenk‘ von tausend Reichstalern aus der lübischen Stadtkasse. Den Hinweis, den Kanzler durch Geldzahlungen für ihre Interessen gewinnen zu können, hatten die hansischen Emissäre von einem Leibarzt des Großfürsten erhalten, der aus Lübeck stammte und ein ehemaliger Mitschüler eines der Gesandten war.67 Wichtig für den Erfolg einer Mission waren daher nicht nur die offiziellen Begegnungen, sondern ebenso die informellen Kommunikationskanäle, die von einem Netz persönlicher Beziehungen und Bekanntschaften durchzogen waren.68 Im heutigen Sprachgebrauch wäre indes weniger von einem Geschenk an den Kanzler, sondern von Bestechung die Rede. Dies verstellt jedoch den Blick auf die Funktion des Gabentauschs in vormodernen Gesellschaften. Folgt man sozialwissenschaftlichen Theorien, >so ist ein Geschenk Bestandteil einer komplexen Systematik von Geben, Nehmen und Erwidern.69 Auf diese Weise 66 Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000; Rainer Scharf, Fiktive Geschenke: Praktiken von „erung“ und Bestechung am Hof Kaiser Friedrichs III., im Licht vornehmlich Nürnberger Quellen, in: König, Fürsten und Reich im 15. Jahrhundert, hg. von Franz Fuchs, Köln u.a. 2009, S. 21–58; Hillard von Thiessen, Korrupte Gesandte? Konkurrierende Normen in der Diplomatie der Frühen Neuzeit, in: Korruption. Historische Annäherungen an eine Grundfigur politischer Kommunikation, hg. von Niels Grüne, Göttingen 2010, S. 205–220. 67 Brehmer, Die hansische Gesandtschaft (wie Anm. 11), S. 46; ähnliche Beispiele auch bei Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen (wie Anm. 1), S. 296ff. 68 Nähe in der Ferne. Personale Verflechtungen in den Außenbeziehungen der Frühen Neuzeit, hg. von Hillard von Thiessen/Christian Windler, Berlin 2005. 69 Noch immer liegt vielen historischen Studien zu diesem Thema der ‚Essai sur le don‘ zugrunde, den der Ethnologe und Soziologe Marcel Mauss in den 1920er Jahren verfasste (Essai sur le don. Forme et raison de l’échange dans les sociétés archaïques. Préface de Florence Weber, Paris 2012; dt. Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 2011). Zur Rezeption vgl. Friedrich Rost, Theorien des Schenkens. Zur kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen Phänomens, Essen 1994; Gerhard Schmied, Schenken. Über eine Form sozialen Handelns, Opladen 1994; Helmuth Berking, Schenken. Zur Anthropologie des Gebens,

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schafft der Gabentausch ein reziprokes Verhältnis sowohl zwischen einzelnen Personen als auch Gruppen, Stämmen, Völkern oder Staaten. Fast zwingend ergibt sich daraus der Befund, dass dem Tauschprinzip nicht nur eine materielle, sondern auch eine moralische Komponente zu eigen ist. Wer eine Gabe annimmt, verpflichtet sich, sie zu erwidern: sei es mit materiellem Gut, sei es mit einer immateriellen Gegengabe wie etwa Unterstützung, Gunst, Gnade, Wohlwollen oder allgemein friedfertigem Verhalten. Im Falle der vermeintlichen Bestechung wird ein Geschenk, das Entscheidungen beeinflussen oder Vorteile verschaffen soll, mit einer immateriellen Leistung erwidert. So gesehen, waren die Geschenke an die Entscheidungsträger am Moskauer Hof unverzichtbarer Bestandteil einer komplexen Tauschsystematik. Sie hatten zwar keinerlei Bedeutung im Rahmen der öffentlichen Audienz, allerdings kam ihnen im diplomatischen Alltag eine zentrale Rolle zu. Eine andere Funktion hingegen erfüllten Geschenke, die am Hof des Gastgebers dargebracht wurden, ohne dass sie durch eine Gegengabe erwidert wurden. Das einseitige Schenken wurde in der Regel als Tribut und damit als Zeichen politischer Unterordnung interpretiert.70 Gerade am Moskauer Hof dürfte diese Auslegung von großer Bedeutung gewesen sein, denn die russischen Großfürsten selbst hatten noch im 15. Jahrhundert entsprechende Abgaben an die Tartaren zu entrichten, die ebenfalls mit dem Begriff Pominki umschrieben wurden.71 Dies ist möglicherweise auch der Grund dafür, dass Sigismund von Herberstein bei seiner Moskauer Audienz keine Gaben überreichte. Zwar bemerkte er, dass die Botschafter aus Litauen, Livland, Schweden und anderen Ländern Geschenke mitbrachten. Doch Herberstein selbst kam mit leeren Händen vor den Großfürsten und ließ sich auch von den Mahnungen der Hofleute, er solle endlich seine Pominiki übergeben, nicht beirren. Diesen Aufforderungen entgegFrankfurt  a.M. 1996; Von Geschenken und anderen Gaben. Annäherungen an eine historische Anthropologie des Gebens, hg. von Gerd Dressel/Gudrun Hopf, Frankfurt a.M. 2000; Vom Geben und Nehmen. Zur Soziologie der Reziprozität, hg. von Frank Adloff/Steffen Mau Steffen, Frankfurt a.M. 2005; Iris Därmann, Theorien der Gabe zur Einführung, Hamburg 2010. 70 Martin Rössler, Von der Gabe zur Abgabe. Transaktionen im politischen Kontext, in: Geschenke und Steuern. Zölle und Tribute, hg. von Hilmar Klinkott, Leiden u.a. 2007, S. 3–27; Christian Windler, Tribut und Gabe. Mediterrane Diplomatie als interkulturelle Kommunikation, in: Saeculum 51 (2000), S. 24–56. 71 Robert M. Croskey, Muscovite Diplomatic Practice in the Reign of Ivan III, New York 1987, S. 178f.

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nete er lediglich, „der prauch wäre bey uns dermassen nit […].“72 Der Hinweis, dass die Überreichung von Geschenken seinen heimischen Gepflogenheiten widerspreche, entspricht kaum der Wahrheit. Auch die Reaktion der Gastgeber, die sich seiner Aussage nach mit dieser Begründung zufriedengaben, lässt zumindest Zweifel aufkommen. Ob sich Herberstein tatsächlich so gewandt dieser Situation entzog, ist leider nicht zu überprüfen. Doch seine Weigerung, dem Großfürsten im Namen des Kaisers Geschenke zu übermitteln, liefert eine andere Erkenntnis zutage: In der beschriebenen Situation fürchtete der habsburgische Hof entweder, mit Schweden oder den baltischen Ländern auf eine zeremonielle Stufe gestellt zu werden, oder man wollte vermeiden, dass der Großfürst die Pominki als Abgabe und damit als Signal der Unterordnung des Kaisers auslegte. Offensichtlich nahm man in Wien eher einen drohenden Eklat als die Gefahr einer entsprechenden Fehlinterpretation in Kauf. Wenige Jahrzehnte später hingegen fand man einen eleganteren Ausweg. Als habsburgische Gesandte in den Jahren 1661 und 1675 den Hof Aleksej Michailovičs besuchten, brachten sie dem Zaren zwar Geschenke dar. Als Geber galt jedoch nicht der Kaiser, sondern fungierten die Gesandten selbst. Auf diese Weise war die bedrohliche Klippe umschifft, denn der zeremoniellen Dominanz des Zaren konnte sich ein Gesandter nicht in seiner Eigenschaft als Stellvertreter seines Herrn unterordnen, jedoch problemlos in eigener Person.73 Die Geschenke der Gesandten an den Großfürsten und seinen Hof stellten ebenso wie die empfangenen Gaben weitaus mehr als bloße Aufmerksamkeiten dar. Während der Audienz und jenseits der offiziellen Treffen besaßen sie unterschiedliche Bedeutungen: Im Rahmen des Gabentauschs waren sie nicht nur Ausdruck einvernehmlicher Beziehungen, sondern sie schufen ebenso wechselseitige Verbindlichkeiten. Die Annahme des Geschenks erforderte eine Gegengabe – sei sie materieller, sei sie immaterieller Natur. Eine Gabe ehrte den Partner, sie konnte jedoch auch gleichzeitig der Selbstdarstellung dienen, indem sie den Wohlstand oder den technologischen Standard im eigenen Land dokumentierte. Gaben, die nur von einer Seite überreicht wurden, konnten hingegen als Tributleistung ausgelegt werden und visualisierten eine inferiore Stellung. Wohl nicht zuletzt aufgrund ihrer multifunktionalen Einsatzmöglichkeiten

72 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii (wie Anm. 7), S. 408. 73 Sidorko, Der Elefant Peters des Großen (wie Anm. 52), S. 38; Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen (wie Anm. 1), S. 311.

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kam daher den Gaben und Geschenken eine zentrale Rolle im diplomatischen Austausch zu.

Fazit Die Frage „Welcher massen die Potschafften emphangen und gehalten werden“ war für vormoderne Gesandte während ihres gesamten Aufenthalts im Gastland von zentraler Bedeutung. Dass in dieser Angelegenheit nichts dem Zufall überlassen wurde, belegt die Tätigkeit der Pristave im russischen Reich. Sie nahmen direkt an der Landesgrenze ihren Dienst auf und waren nicht nur für die Begleitung, Versorgung und Unterbringung der Gäste verantwortlich, sondern ebenso für die Unterweisung in die diplomatische Zeremonialpraxis. Daher könnte man sie als ‚Dolmetscher‘ für die nonverbale Sprache der symbolischen Kommunikation bezeichnen. Sie agierten jedoch nicht nur als Vermittler, sondern sie bezogen im Austausch mit den Gästen ebenso eine Position, die den Status ihres Herrn präsentierte. Sie waren – modern formuliert – für die ‚Imagepflege‘ des Moskauer Reichs zuständig. Gemeinsam mit den örtlichen Statthaltern zeichneten sie für die Außendarstellung Russlands verantwortlich, indem den Fremden das Bild eines wohlhabenden und mächtigen Landes präsentiert werden sollte. Dabei hatten sie eine schwierige Balance zu bewältigen. Denn einerseits hatten sie die Gesandten angemessen zu versorgen und zu behandeln, so dass das Bild des Großfürsten als Gastgeber keinen Schaden litt. Andererseits durften sie jedoch nur einen Aufwand betreiben, der dem Status der Gesandten und seines Gastgebers angemessen war. Dass dies sorgfältiger Abwägungen bedurfte, belegt die Tatsache, dass die örtlichen Statthalter bei der Durchreise der Delegationen nur nach den Anweisungen Moskaus aktiv werden durften oder dass man die Frage, ob eine Gesandtschaft mit Betten ausgestattet werden durfte, zum Gegenstand ernsthafter politischer Gespräche machte. Gleiches galt für die symbolischen Handlungen, die wechselseitige Anerkennung präsentierten. Das Absitzen vom Pferd, das Lüften des Huts oder das Erheben an der Tafel zu Ehren des Gastes und seines Auftraggebers – dies waren Signale, die durch Gesten und Haltung entsprechende Botschaften aussandten. Dies galt für die Pristave wie die auswärtigen Emissäre gleichermaßen. Allerdings galten letztere nicht nur als „Ebenbilder Ihrer Fuersten“, sondern ebenso als eigenständige Persönlichkeiten. Zwischen diesen unterschiedlichen Stellungen wechselten sie mitunter in ein und derselben Situation. So wurden

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sie während der Audienz für einen Moment wie ihr Herr selbst geehrt, wenn sich der russische Herrscher kurz erhob. Dieser Statuswechsel schuf Konfliktpotential, wenn keine Übereinstimmung herrschte, ob der Emissär als Individuum oder als Stellvertreter seines Herrn agierte. Deutlich zeigte dies etwa die Empörung Herbsteins über die Brüder Vassilijs III., die sich an der großfürstlichen Tafel zu seiner Ehre nicht erhoben. Durch dieses Verhalten war Herberstein nicht persönlich gekränkt, sondern er fand seinen Herrn und Auftraggeber missachtet. Andererseits konnte die unterschiedliche Deutung der Position des Gesandten auch ausgleichend wirken. Wenn etwa Gesandte ihre Gaben im diplomatischen Zeremoniell nicht im Auftrag ihres Herrn, sondern in eigener Person darbrachten, so war den Vorstellungen beider Parteien Genüge geleistet: Der russische Hof hatte die obligaten Geschenke erhalten, die Auftraggeber hatten mit der Gabe keinerlei Verpflichtungen übernommen. Die Mehrdeutigkeit schuf somit die notwenige Flexibilität, um unterschiedlichen Herausforderungen gerecht zu werden. In diesem Fall trug sie wohl wesentlich dazu bei, einen drohenden Konflikt zu entschärfen. Dies galt schließlich auch für den Gabentausch im diplomatischen Zeremoniell. Die Geschenke konnten – je nach Situation und Standpunkt – als Zeichen von Gemeinschaft und friedfertigem Miteinander ebenso interpretiert werden wie als Abgabe, Tribut oder Bestechung. Aus dieser Perspektive war der gesamte Aufenthalt der Gesandten im Moskauer Reich von Zeichen und Symbolen bestimmt, die das Verhältnis von Gästen und Gastgebern dokumentierten. Alle Handlungen und Bewegungen, sämtliche Gegenstände fungierten als Signale wechselseitiger Wertschätzung oder einseitiger Über- oder Unterordnung. So stellten Fische keine bloßen Nahrungsmittel dar, sondern waren Ausdruck einer angemessenen Bewirtung, die den Emissär würdigte und den Wohlstand des Gastgebers betonte. Gleiches galt für ein Bett, das in diesem Kontext weniger als Möbelstück von Interesse war, sondern zum Gegenstand politischer Verhandlungen wurde. Aus dieser Perspektive stellte die Audienz vor dem Moskauer Herrscher zwar einen wesentlichen Bestandteil der diplomatischen Mission dar. Sie war jedoch in ein umfassendes Ensemble symbolischer Handlungen eingebettet und gewinnt erst in diesem Kontext die Bedeutung, die ihr vormoderne Gesandte beimaßen.

Zur Selbstdarstellung polnisch-litauischer Botschafter im frühneuzeitlichen Istanbul* Tetiana Grygorieva 1796 prägte Edmund Burke den modernen Begriff Diplomatie, um damit diverse Aktivitäten zu umschreiben: Repräsentation und (verbale wie nonverbale) Kommunikation offizieller Staatsvertreter, das Zusammentragen von Informationen und die Durchsetzung außenpolitischer Interessen. 1 In der Frühen Neuzeit gab es zwar noch keine Diplomaten im modernen Sinne, dafür aber zunächst zahlreiche oratores, procuratores, commisarii, nuntii, legati, consiliarii, die im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich von oratores und ambassadeurs verdrängt wurden.2 Die Bedeutungen dieser beiden Bezeichnungen vermitteln eine gewisse Vorstellung von den entsprechenden Funktionen: orator – derjenige, der eine zeremonielle Rede (oratio) hält; und ambassadeur – ein Bote oder Diener (ambactus). Mit anderen Worten: Die Hauptfunktion des frühneuzeitlichen Botschafters bestand, zumindest bei offiziellen Anlässen, darin, die Stelle seines Auftraggebers einzunehmen und dem Empfänger der Gesandtschaft eine Nachricht – Botschaft – zu übermitteln. Diese Repräsentationsfunktion stellte eine Einschränkung genau jener Aufgabe dar, die nach moderner Auffassung im Zentrum der diplomatischen Tätigkeit steht, nämlich der Gestaltung des Verhandlungsprozesses. Da frühneuzeitliche Botschafter den Rahmen des erklärten Herrscherwillens nicht verlassen durften, stellte die Verhandlung der „eigentlichen Absichten“ ihrer Auftraggeber mitunter eine beachtliche Herausforderung dar. Zweifellos wurde die Aufgabe dann erschwert, wenn sich ein Botschafter jenseits der Sphäre der europäischen Höfe bewegte, wo er seine Anliegen auf Lateinisch oder Französisch selbst artikulieren konnte; wenn er also für die Kommunikation der „eigentlichen Absichten“ seines Auftraggeber auf Dolmetscher angewiesen war. Im Folgenden werde ich das Verhalten polnisch-litauischer Botschafter an der Hohen Pforte im 16. und 17. Jahrhundert in den Blick nehmen. Zunächst werde ich anhand der diplomatischen Instruktionen untersuchen, wie die * Aus dem Englischen von Christine Vogel. 1 Geoff R. Berridge, Diplomacy: Theory and Practice, Basingstoke u.a. 2010, S. 1. 2 Mathew Anderson, The Rise of Modern Diplomacy, 1450–1919, New York 1993, S. 12.

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Hauptaufgaben und Ziele der Botschafter definiert und welche Methoden vorgeschlagen wurden, um im Sinne des Königs zu agieren. Dann werde ich mich den Selbstbeschreibungen der Botschafter in ihren Berichten zuwenden, wobei besonderes Augenmerk auf jenen Situationen liegen soll, die von den Botschaftern als entscheidende Momente ihrer Mission dargestellt werden. Die Beschreibung dieser Momente erlaubte ihnen, ihre Mission als Erfolg und ihre Aufgabe als erfüllt darzustellen. In diesem Zusammenhang gilt es zu klären, welchen Stellenwert die Beschreibung öffentlicher Audienzen einnahm. Schließlich werde ich versuchen zu klären, welche Funktionen ein frühneuzeitlicher Botschafter hatte, der im interkulturellen Kontext agierte.

Aufgaben und Arbeitsweisen des Botschafters Im Königreich Polen-Litauen wurden normalerweise oratores, nuntii (wieder: Boten), commissarii oder Botschafter/Ambassadeure (posłowie – Gesandte) eingesetzt, in den Beziehungen zum Moskauer Reich, zum Krimkhanat und zum Osmanischen Reich auch Großbotschafter (posłowie wielcy).3 Wenn es in der Präambel der Instruktionen keine entsprechende explizite Definition gab, war es jedoch unmöglich, lediglich anhand der festgelegten Aufgaben zu entscheiden, welcher Rang gemeint war: Der Großbotschafter hatte sich ebenso wie der einfache königliche Gesandte an den Wortlaut der Instruktionen zu halten, und diese sahen in den allermeisten Fällen nur einen einzigen möglichen Ablauf der Ereignisse vor. Um den „königlichen Willen“ tatsächlich zu erfüllen, musste zudem jeder Punkt der Instruktionen während der offiziellen Empfangszeremonien auch vorgebracht werden, und zwar insbesondere im Falle der Audienz beim Sultan. Diese Tradition, die vorsah, dass dem in den Instruktionen vorgeschriebenen Wortlaut strikt zu folgen sei, lässt sich auf die Gesandtschaftspraxis beim Sejm zurückführen. Hier wurde den Gesandten nur sehr selten – und dann auch nur bei rein formellen Angelegenheiten – die Möglichkeit zugestanden, eigenständig der jeweiligen Situation angemessene Entscheidungen zu treffen (plena potestas, plenaria facultas).4 Mit anderen Worten: Der höhere Rang eines Botschafters implizierte keine zusätzlichen Kom3 Historia Dyplomacji Polskiej, hg. von Zbigniew Wójcik, Bd. 2, Warschau 1982, S. 263f. 4 Stefania Ochmann-Staniszewska/Zdzisław Staniszewski, Sejm Rzeczypospolitej za panowania Jana Kazimierza Wazy. Prawo – Doktryna – Praktyka, Bd.  2, Breslau 2000, S. 36–41.

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petenzen, sondern hatte lediglich Folgen für seine zeremoniellen Funktionen, die Pracht seines Gefolges oder den Wert seiner Geschenke. Mit Ausnahme der Eingangs- und Schlussformeln hatten die Instruktionen keine festgelegte Struktur. Zu Beginn wurde stets vermerkt, dass sich der Botschafter nach Erhalt der Instruktionen unmittelbar auf den Weg machen sollte. Diese Vorschrift hatte Gründe, denn es kam gelegentlich vor, dass mehrere Monate verstrichen, ehe der Botschafter seine Mission begann. Dann waren einige der Vorschriften in den Instruktionen bereits wieder hinfällig, und es musste ein neues Dokument ausgestellt werden. Die Schlussbemerkungen listeten die persönlichen Tugenden auf, die vom Botschafter erwartet wurden. Der Erfolg seiner Mission wurde seiner Weisheit, Treue und Geschicklichkeit zugeschrieben. Die Instruktion selbst hatte zwei hauptsächliche Verwendungsweisen. Sie listete nicht nur die Aufgaben auf, die der Botschafter zu erfüllen hatte, sondern sie spielte auch noch eine zeremonielle Rolle als Zusatz zum königlichen Schreiben, das dem Sultan während der Audienz zu übergeben war. So wurde in der Instruktion beispielsweise stets der exakte Empfänger der Gesandtschaft benannt; hatte der Regent vor der Ankunft des Botschafters in Istanbul gewechselt, musste eine neue Instruktion ausgestellt werden. Mindestens zwei Mal war dies der Fall. So finden sich in den Akten zur Großbotschaft des Fürsten Krzystof Zbaraski (1622–1623) zwei Instruktionen: eine auf Mai 1622 datierte für Osman II. (1618–1622) und eine für Mustafa I. (1622–1623). Beide Texte sind bis auf die Eingangspassage mit der Nennung des Empfängers identisch.5 Ganz ähnlich verhielt es sich im Falle des Großbotschafters Wojciech Miaskowski (1640). Er musste seine Reise nach Istanbul unterbrechen, um auf eine neue Instruktion zu warten, nachdem Sultan Murad IV. (1623–1640) gestorben war und der neue Sultan Ibrahim I. (1640–1648) den Thron bestiegen hatte.6 Der zeremonielle Gebrauch der Instruktionen wurde auch dadurch betont, dass ihr Inhalt vor der Antrittsaudienz beim Sultan offiziell nicht diskutiert werden durfte. Die Quellen enthalten zahlreiche Berichte über diesbezügliche Streitigkeiten zwischen Botschaftern und Großwesiren, Kaymakamen und anderen ranghohen osmanischen Würdenträgern. Letztere verlangten regelmäßig, dass die Botschafter ihnen die Absichten ihrer Mission und den Inhalt ihrer Instruktionen enthüllen, worauf die Botschafter ebenso regelmäßig ein5 Biblioteka Kórnicka Polskiej Akademii Nauk (im Folgenden ВК), S. 535–547; ВК, S. 548–560. 6 Wielka legacja Wojciecha Miaskowskiego do Turcji w 1640 roku, hg. von Adam Przyboś, Warschau u.a. 1985, S. 54.

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wandten, dass sie dieses nur gegenüber dem Sultan als dem eigentlichen Adressaten tun könnten. Im Jahre 1654 versuchte beispielsweise der Pascha von Silistra, den Großbotschafter Mikolaj Bieganowski dazu zu überreden, ihm das wahre Ziel seiner Mission zu verraten. Bieganowski antwortete, dass er sich vorerst offiziell zu solch wichtigen Angelegenheiten nicht äußern dürfe, ihm als Privatmann jedoch versichern könne, dass er „mit Frieden“ nach Istanbul gehe.7 Es gab allerdings auch noch einen anderen Grund zur Geheimhaltung der in den Instruktionen enthaltenen Bestimmungen, von denen streng genommen kaum eine tatsächlich geheim war: Sobald nämlich der Inhalt der Instruktionen vollständig offiziell bekannt war, konnte der Botschafter nicht mehr sicher sein, wann und ob er zur Audienz beim Sultan vorgelassen würde. So befürchtete etwa der Großbotschafter Jan Gniński (1677–1678), dass der Großwesir ihn monatelang ohne Audienz in Istanbul festhalten würde, wenn er vorab bereits offiziell über den Inhalt der Instruktionen informiert wäre und gegen einige der Forderungen des Königs Einwände hätte.8 Für den Botschafter bedeutete die Verzögerung der Audienz eine Verlängerung seiner Isolierung, da es gemeinhin als unschicklich galt, vor der Audienz beim Sultan Visiten anderer in Istanbul residierender Botschafter zu empfangen oder diesen Besuche abzustatten. Für die Repräsentanten des Königreichs Polen-Litauen, die keine Unterstützung anderer auswärtiger Residenten hatten und damit nicht auf deren Netzwerke zurückgreifen konnten, war es dann schwierig, jenseits der offiziellen osmanischen Kanäle an Informationen zu kommen. Selbstverständlich bedeutete die Tatsache, dass die Botschafter alle offiziellen Auskünfte über den Inhalt ihrer Instruktionen vermieden, nicht, dass die Osmanen nicht genau gewusst hätten, ob der Zweck der Großbotschaft ein Friedensgesuch oder eine Kriegserklärung war. Vor der Ankunft einer Großbotschaft in der osmanischen Hauptstadt informierten die osmanischen Spione ihre Auftraggeber genauestens über die Persönlichkeit des Botschafters, seine Aufgaben und die Qualität und Quantität der mitgeführten diplomatischen Geschenke. In einem Brief an seinen Bruder, den Kastellan von Krakau Fürst Jerzy Zbaraski, beklagte sich der Großbotschafter Fürst Krzystof Zbaraski darüber, dass der Großwesir genauestens über die vollständige Geschenkeliste für den Sultan informiert war und jedes einzelne Marmorstück erwähnte, das Zba7 Rozmowa Baszy Silistryjskiego Szausz Baszy z JeMcią Panem Chorążym Lwowskim (Bieganowskim), in: Kwartalnik Historyczny 22 (1908), S. 396–401, hier S. 397. 8 Żródła do poselstwa Jana Gnińskiego wojewody chełmińskiego do Turcji w latach 1677–1678, hg. von Franciszek Pułaski, Warschau 1907, S. 34.

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raski als Geschenk mitgebracht hatte.9 Diese Auseinandersetzungen reflektierten somit keineswegs die Osmanische Unwissenheit bezüglich der Zielsetzungen der diplomatischen Missionen aus Polen-Litauen. Auf dem Spiel stand vielmehr der Repräsentationsanspruch der Botschafter, die nur mit demjenigen offiziell sprechen wollten, der als eigentlicher Empfänger der Botschaft nach polnischer Auffassung ihrem Souverän ranggleich war. Insofern zeugen die regelmäßigen Auseinandersetzungen über die Notwendigkeit bzw. die Unmöglichkeit der Vorab-Information über den Inhalt der Instruktionen vor allem davon, dass jede Partei versuchte herauszufinden, ob die andere ihre Rolle angemessen spielte. Indem sie die polnisch-litauischen Botschafter zu überzeugen versuchten, die Zielsetzung ihrer Mission noch vor ihrer Audienz beim Sultan zu offenbaren, forderten die osmanischen Würdenträger die Botschafter gewissermaßen heraus: Willigte der Botschafter ein, so wurde dies so ausgelegt, als habe der polnische König den Botschafter tatsächlich lediglich zum Großwesir und nicht zum Sultan entsandt. In diesem Fall hätte der Botschafter eine Fehleinschätzung seines eigenen Status demonstriert und könnte die Ehre, beim padishah empfangen zu werden, nicht mehr beanspruchen. Nach der Audienz im Sultanspalast wurde die vorläufig geheime Instruktion nicht länger geheim gehalten, sondern in einigen Fällen sogar so weit wie möglich verbreitet. Die öffentliche Enthüllung der Instruktionen nach der offiziellen Empfangszeremonie stellte während der Mission von Hieronim Radziejowski (1667) sogar eine besondere Aufgabe des Botschafters dar. Deren Sinn bestand darin, die anderen hochrangigen osmanischen Würdenträger über die friedfertigen Absichten des Königs in Kenntnis zu setzen, um damit mögliche kriegstreiberische Interessen des Großwesirs zu unterlaufen: „Nach der Audienz kann [der Botschafter], wenn er dies für nötig befindet, einen Teil des Textes in türkischer Übersetzung an all jene verteilen, die ihm sinnvoll erscheinen, damit der Wesir nichts vor dem Volk verheimlichen kann, um Hass und Feindschaft gegen das polnische Volk und den Botschafter zu schüren; er muss jedoch vorsichtig agieren, um den Wesir nicht zu verärgern und sich selbst nicht in Schwierigkeiten zu bringen.“10 9 Biblioteka ks. Czartoryskich w Krakowie (im Folgenden BCzart), Teki Naruszewicza (im Folgenden TN) 113, S. 1131–1143. 10 „Po audiencyi odprawioney particularia po turecku przetłumaczone może rozdawać in scripto komu videbitur i jeżeli tego potrzebe uzna, żeby co innego wezyr populo non obtenderet adducendo animos onych do nienawiści y nieprzyjazni ku narodowi polskiemu y samemu posłowi, ostrożnie iednak w tym sobie postąpi, aby wezyra nie uraził y sobie samemu trudności iakiey nie przyniosł.“ Archiwum

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Der Blick auf die in den frühneuzeitlichen Instruktionen für polnisch-litauische Botschafter enthaltenen Vorschriften offenbart in der Tat nichts, was die Osmanen wirklich hätte überraschen können. Gewöhnlich enthielt der größte Teil des Textes Bestätigungen des Friedens zwischen beiden Reichen, Vorschriften zur Regulierung bestehender Konflikte, kurze Hinweise zum angemessenen und ehrenhaften Verhalten am fremden Hof oder Beschreibungen der Wegstrecke von Warschau nach Istanbul. Im Regelfall waren diese Vorschriften mit „wenn… dann“ formuliert, wobei entweder versucht wurde, mögliche Schwierigkeiten, auf die ein Botschafter während seiner Mission stoßen konnte, oder Fragen zu antizipieren, die man an ihn richten würde. Mit anderen Worten: Die Texte entwarfen einen künftigen Dialog zwischen dem Botschafter und den osmanischen Würdenträgern oder enthielten die Rede, die vor dem Sultan zu halten war. Da sie die Notwendigkeit der Friedenssicherung zwischen den Souveränen bestätigten, beriefen sich die Instruktionen zuallererst auf die Tradition als Quelle von Gesetz und Recht. Immer wieder betonten sie die traditionell friedlichen Beziehungen zwischen den Vorfahren des polnischen Königs und jenen des osmanischen Sultans. All die (selbstredend belanglosen) Grenzstreitigkeiten wurden durch das unvernünftige Verhalten von zeitweise ungehorsamen Vasallen erklärt, die gegen den Willen ihrer Monarchen gehandelt haben. So erwartete man beispielsweise von Alexander Piasieczyński (1630), „vor der ganzen Welt“ zu bezeugen, dass die osmanischen Sultane immer die Absicht gehabt hätten, in Frieden mit den Polen zu leben: „[…] Sultan Süleyman, der Kaiser, weiser, ruhmvoller und siegreicher Herr zum Beispiel hat zwar erfolgreich Krieg gegen andere christliche Herrscher geführt und hätte auch hinreichend Gründe gehabt, einen Krieg gegen die polnischen Könige zu beginnen; doch er hatte niemals den Wunsch, die Waffen gegen sie zu erheben, und wollte vielmehr gut Freund mit ihnen sein, […] und so setzte er seinen Nachfolgern ein gutes Beispiel, wie sie den polnischen Königen Ehre erweisen und ihre Freundschaft respektieren sollten […].“11 Główne Akt Dawnych w Warszawie (im Folgenden AGAD), Metryka Koronna (im Folgenden MK) 206, S. 679–687. 11 „Czego oni dawni Domu Ottomańskiego przodkowie przestrzegali, a mianowicie sułtan Soliman cesarz, pan mądry, sławny i waleczny, który lubo z innymi pany chrześcijańskimi wojny szczęśliwie prowadził, i okkaziej dosyć miał do wojny z królami polskimi, nigdy jednak broni niechciał podnieść przeciwko nim, ale ich chciał mieć za przyjacioły i [...] i następcom swoim przykład dał, jako królów polskich szanować i przyjaźń ich poważać sobie mają [...]“. Żródła do dziejów

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Um noch überzeugender zu klingen, erinnerten die Instruktionen in anderen Fällen an die Tatsache, dass andere christliche Staaten (allen voran die Habsburger) Krieg gegen die Osmanen führen wollten, während die polnischen Könige stets friedliche Absichten gegen die Hohe Pforte gehegt hätten. Zugleich wiesen die Instruktionen die Botschafter an zu argumentieren, dass die gelegentlichen Verletzungen des Friedens durch die Vasallen des Sultans, allen voran die Krimtartaren, sehr viel schwerer wögen als jene, die von Vasallen des polnischen Königs begangen würden. Würden die Tartaren ihrem Herrn nur vollständig gehorchen, gäbe es gar keine Grenzzwischenfälle mehr.12 Im Hinblick auf dieses Thema schrieben die Instruktionen den Botschaftern vor, ihre Argumente mit elaborierten rhetorischen Figuren zu stärken. Die glänzendste Rhetorik ist wohl in der Instruktion für den Großbotschafter Alexander Trzebiński (1634) zu finden: „Ein Frieden, der nur auf dem Papier und in Worten besteht, aber nicht aus Taten, ist nur der Anschein eines Friedens, eines großen Monarchen unwürdig und inakzeptabel vor Gott. Daher sollten Frieden und Freundschaft so erneuert werden, dass sie durch die Tartaren nicht zerstört werden können. Andernfalls würden die Kosaken, die sich aus den von den Tartaren dezimierten und ausgeplünderten Grenzvölkern rekrutieren, ihrerseits den türkischen Staat angreifen und entvölkern, da sie keine andere Wahl haben, als Kosaken zu werden, um sich für die Brandschatzung ihrer Länder und die Versklavung ihrer Frauen, Kinder und Vasallen zu rächen. Denn wenn die Tartaren die Kronländer in Frieden lassen, werden die Kosaken auch nicht in See stechen, und so werden beide Staaten in Eintracht und Frieden leben.“13

Interessanterweise werden die durch die Tartareneinfälle verursachten Verluste als „enorm“, „groß“ und „schwer“ bezeichnet, während die Verletzungen der polskich, hg. von Michał Grabowski/Aleksander Przezdziecki, Vilnius 1845, S. 190–195. 12 AGAD, Libri Legationum (im Folgenden LL) 30, S. 13–15. 13 „Malowany to pokoy, ktory na papierze tilko y w słowach a nie wskutku iest, y nie przystoi na wielkich monarchów ani się Panu Bogu podoba. Zaczym tak ten pokoi y przyiazń zawierać y ponawiać potrzeba, żeby go tatarowie nie rwali y incursiami swemi do tego rzeczy nieprzywodzili, żeby wzajem kozacy państwa tureckie naieżdżali y infestowali, którzy się z obywatelów ukrainnych przes tatary spustoszonych y splondrowanych rodzą, czescią nie maiąc się do czego innego proć kozackiey rzucić szczęscią aby sie zemścili maiętności spalonych, żon, dziatek, poddanych w niewola zabranych. Kiedy tedy tatarowie zaniechaią państw koronnych, pewnie y kozacy na morze chodzić nie bendą a za tym w zgodzie y pokoju te oboje panstwa zostaną.“ Ebd.

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Friedensverträge im Allgemeinen (von beiden Seiten) als „leicht“ und „unbedeutend“ dargestellt werden. Insgesamt dienten die elaborierten rhetorischen Figuren im Stil der Parlamentsreden zur Untermauerung des Arguments, dass die Notwendigkeit des Friedens zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich durch die Tradition geheiligt und der Frieden daher unantastbar sei. Jeder Konflikt gilt lediglich als von den Feinden verursachtes Missverständnis, und die Schuld an unbedeutenden Vertragsverletzungen wird regelmäßig der anderen Seite angelastet: „Die Pforte hat uns Gründe geliefert, den Frieden zu verletzen, wir dagegen haben nicht den geringsten [Grund] geliefert.“14 Die königlichen Instruktionen für die Großbotschafter enthielten außerdem die klare Vorschrift, dass der Friedensvertrag genau mit den vorgegebenen Dokumenten übereinstimmen musste.15 Eine der besten Illustrationen hierfür ist die Instruktion für den bereits erwähnten Großbotschafter Zbaraski, in der es hieß: „überkommene Freundschaft und Zuneigung [sind] besser und dauerhafter als neue; daher ist es vernünftig, die alte Freundschaft mit alten Pakten zu untermauern, anstatt Neues hinzuzufügen.“16 Nichtsdestotrotz wurde vom Botschafter eine ganze Reihe von Handlungen erwartet, die mit Verben wie „fordern“, „darlegen“, „einwenden“ etc. umschrieben wurden und die theoretisch zu Änderungen am Vertragsdokument führen konnten. Normalerweise wurde von einem Botschafter im 16. und 17. Jahrhundert erwartet, dass er Klagen über militärische Überfälle der Tartaren formuliert, das ‚Vorschlagsrecht‘ des polnischen Königs für die Hospodare der Fürstentümer Moldau und Walachei erwähnt17, die Absetzung derjenigen Würdenträger verlangt, die für Konflikte zwischen beiden Reichen verantwortlich gemacht wurden, und dass er schließlich die Interessen und Rechte der polnischen Kaufleute verteidigt. Am Ende entstand so die paradoxe Situation, dass die Botschafter einerseits eine Reihe von Aufgaben zu erfüllen hatten, die im Erfolgsfall zu tiefgreifenden Veränderungen am Vertragswerk führen konn14 Ojczyste spominki, hg. von Alojzy Grabowski, Bd. 1, Krakau 1845, S. 95. 15 BK 326, S. 535–547; AGAD, MK 206, S. 679–687; Korespondencja Stanisława Koniecpolskiego hetmana wielkiego koronnego 1632–1646, hg. von Anna Biedryzcka, Krakau 2005, S. 185–188; Przyboś, Wielka legacja (wie Anm. 6), S. 169– 172; Ojczyste spominki (wie Anm. 14), S. 91–96. 16 „[...] stara przyiaźń i miłość lepsza y trwałsza bywa, aniżeli nowozaczęta, słuszna tedy iest, aby przy starey przyiaźni stare też pacta zostawały, nic nowego nieprzyczyniając.“ BK 326, S. 535–547. 17 Zuletzt erwähnt in der Instruktion für den Botschafter Wojciech Miaskowski (1640).

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ten; andererseits war ihnen durch die Instruktionen verboten, irgendwelche Neuerungen in das Vertragswerk einfügen zu lassen.18 Dieser Grundsatz ist in der kurzen diplomatietheoretischen Abhandlung über die Pflichten des Botschafters des Zeitgenossen Lawryn Piasieczyński zusammengefasst, der selbst drei Mal als Botschafter zum Khan der Krim, einem osmanischen Vasallen, entsandt worden war: „Akzeptiere keine Dinge, die deinem Auftrag entgegengesetzt oder neu sind oder die eine Zurückweisung deines Herrn beinhalten. Wenn er neue Dinge durchsetzen will, soll er seine eigenen Botschafter schicken.“19 Zugleich wahrten die Instruktionen Stillschweigen, wenn es um die Frage ging, wie der Botschafter die ihm gesetzten Ziele erreichen soll. Elaborierte Argumente in den vorgeschriebenen Antworten auf die erwarteten Fragen, historische Exempel, zahlreiche Berufungen auf Recht und Tradition lassen darauf schließen, dass die einzige Waffe des Botschafters die Macht der Überzeugung sein sollte. Insofern war die Rhetorik das einzige Mittel, das während der Audienzen beim Sultan und beim Großwesir eingesetzt werden konnte. Allerdings ist es für jeden, der mit dem Hofzeremoniell im Topkapı-Palast vertraut ist, offensichtlich, dass Besucher nur sehr begrenzte Möglichkeiten hatten, ihre Eloquenz unter Beweis zu stellen und all die vorgeschriebenen Argumente und rhetorischen Figuren wirklich vorzubringen, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass sie mit Hilfe eines Dolmetschers kommunizierten. Darüber hinaus spielten hier die räumliche Anordnung der Akteure, non-verbale Kommunikation und Körpersprache eine sehr viel wichtigere Rolle als Reden und Gespräche.20 Hakan Karateke zufolge ähnelten die Zeremonien im Topkapı-Palast Stummfilmen, in denen die Akteure ihren Gesten und Bewegungen außerordentliche Aufmerksamkeit widmen mussten, weil sie keine Möglichkeit hatten, ihren Gefühlen direkt Ausdruck zu verleihen.21 Hatten die Botschafter während ihrer Audienzen beim Großwesir noch hin und wieder die Möglichkeit, eine Art Gespräch zu führen, so war dies während der Audienz beim Sultan gänzlich 18 Einzige Ausnahme war die Instruktion für den Großbotschafter Jakób Zieliński (1634), der eine neue Bestimmung für den Vertrag aushandeln sollte, damit jedoch keinen Erfolg hatte. Korespondencja Stanisława Koniecpolskiego (wie Anm. 15), S. 246–249. 19 Stanisław Bodniak, Ławryna Piasieczyńskiego „Powinności poselskie“ z początku XVII wieku, in: Pamiętnik biblioteki Kórnickiej 4 (1947), S. 164–172. 20 Gülru Necipoğlu, Architecture, Ceremonial and Power: The Topkapı Palace in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, Cambridge 1991, S. 102–106. 21 Hakan Karateke, An Ottoman Protocol Register Containing Ceremonies from 1736 to 1808, Istanbul 2007, S. 8.

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unmöglich. Hier wurde der Botschafter, eingezwängt zwischen zwei kapıcıbaşı, zum Thron geführt und dort zu einer tiefen Verneigung genötigt. Zugleich waren wertvolle Geschenke die bestmögliche Überzeugungstechnik in Verhandlungen mit hohen osmanischen Würdenträgern. Nach dem ersten ernsthaften militärischen Konflikt zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich, dem osmanisch-polnischen Krieg von 1620–1621 mit der Schlacht von Chotyn, untersagten allerdings die Instruktionen die Verhandlungsführung mit Hilfe der Sprache der Geschenke. Der Hintergrund war folgender: Während der Friedensverhandlungen bei Chotyn verlangten die Osmanen vom polnischen König Tributzahlungen.22 Um zu verhindern, dass das traditionelle diplomatische Geschenk als Tribut verstanden wurde, begannen die Instruktionen den Botschaftern zu verbieten, weiterhin solche Geschenke im Namen des Königs zu machen. Sie behaupteten statt dessen, dass die Beziehungen zwischen dem König und dem Sultan auf freundlicher Herzlichkeit beruhten und nicht auf Geschenken. Dieses Thema ist besonders gut in den Instruktionen für Wojciech Miaskowski ausgeführt: „Falls der Wesir irgendwelche Geschenke für den Kaiser oder für sich selbst von seiner Majestät dem König von Polen-Litauen verlangt, soll [der Botschafter] einwenden, dass eine solche Gewohnheit zwischen den Monarchen nicht existiere und dass dies zwischen Freunden auch nicht statthaft sei. Weiterhin soll er sagen, dass Geschenke, da sie bislang niemals offiziell gemacht worden seien, auch künftig in keinem Fall angebracht seien. Seine königliche Majestät habe dem Botschafter die Hände gebunden; er wage es nicht, irgendwelche Geschenke zu machen, denn bei einer so engen Freundschaft wie der zwischen den Vorfahren seiner königlichen Majestät und denen des osmanischen Herrn bestehe das größte Geschenk darin, die Bedingungen der festen Verträge einzuhalten.“23

Die Botschafter, die aus dem Königreich Polen-Litauen ins Osmanische Reich geschickt wurden, fanden sich somit in einer recht schwierigen Situation wieder. Man verlangte von ihnen, sich strikt an die Vorschriften ihrer 22 Heute befindet sich die Stadt Chotyn auf ukrainischem Staatsgebiet. 23 „Upominków jeśliby się wezyr na cesarza albo na się imieniem K. J. Mci i R. P. upominał, powie, że tego zwyczaju nigdy nie było między monarchami, a zwłaszcza przyjaciołmi miejsca nie mają. Powie, że te publico nomine jako nigdy nie bywały dawane, tak i teraz żadną miarą dane być nie mogą. W czym wiąże J.K.M. ręce posła swego, aby się żadnych upominków dawać nie ważył, ponieważ w tak ścisłej przyjazni między temi państwy i między antecesorami tak J.K. Mci jako i pana ottomańskiego spólne dotrzymanie statecznych pakt [...] za nawiększe stanęło upominki.“ Przyboś, Wielka legacja (wie Anm. 6), S. 172.

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Instruktionen zu halten, die ihnen eine Anzahl von Aufgaben auferlegten und ihnen zugleich verboten, irgendwelche Neuerungen in die Friedensverträge einzuführen. Um diese Aufgaben zu erfüllen, hatten sie sich einzig auf ihre rhetorischen Fähigkeiten zu verlassen, doch die Realitäten des osmanischen Hofzeremoniells ließen die Umsetzung dieser Vorschriften gar nicht zu. Kein Wunder also, dass derartige Wirren zu einer Doppelmoral bei der Abfassung der Gesandtschaftsberichte führten – mussten die Botschafter hier doch einerseits demonstrieren, dass ihre Handlungsweise vollständig dem königlichen Willen entsprach, wie er sich in den Instruktionen ausdrückte, während sie andererseits eine gewisse Vorstellung vom tatsächlichen Verlauf ihrer Empfangszeremonien zu vermitteln hatten.

Berichte und Selbstbeschreibungen Im Unterschied zu dem, was im 16. Jahrhundert praktiziert wurde, hatten die Botschafter aus Polen-Litauen im 17. Jahrhundert nicht immer die Möglichkeit, während ihrer Missionen im Osmanischen Reich Berichte oder überhaupt irgendwelche Briefe zu verschicken. Dies galt insbesondere dann, wenn wichtige Verhandlungen auf dem Spiel standen. Eines der Privilegien der auswärtigen Residenten in Istanbul bestand darin, eine regelmäßige Korrespondenz mit ihrem Heimatland unterhalten zu dürfen. So schickten englische Botschafter alle sieben bis zehn Tage Routineberichte nach Hause. Das Gleiche galt für habsburgische Gesandte, und zwar selbst in jenen Zeiten im 16. Jahrhundert, in denen sich die Verhandlungen schwierig gestalteten.24 Venezianische und französische Vertreter berichteten alle 14 Tage nach Hause.25 Die polnisch-litauischen Botschafter hingegen mussten erst eine besondere Erlaubnis des Großwesirs einholen oder ihre Briefe heimlich durch Kaufleute verschicken, die auf dem Weg ins Königreich Polen-Litauen waren. Mit anderen Worten: Die Freiheiten, die ständige Vertreter genossen, unterschieden sich von jenen der polnisch-litauischen Sondergesandten. Unter dem Vorwand größerer Ehren wurden Großbotschaften in Wirklichkeit strenger kontrolliert. 24 Karl Nehring, Austro-Turcica 1541–1552. Diplomatische Akten des Habsburgischen Gesandtschaftsverkehrs mit der Hohen Pforte im Zeitalter Süleymans des Prächtigen, München 1995, S. 243–376. 25 Almut Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600, Frankfurt a.M. 2003, S. 128, 145.

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Meistens verhinderte diese Kontrolle das Versenden regelmäßiger Berichte ebenso wie den Empfang zusätzlicher Instruktionen. Diese Situation erklärt zumindest zum Teil, weshalb sich die Finalrelationen der polnischen Botschafter so stark von jenen westeuropäischer Gesandter unterschieden. Habsburgische, venezianische oder französische Botschafter berichteten in ihren regelmäßigen Schreiben über laufende Angelegenheiten, Treffen mit osmanischen Würdenträgern oder Nachrichten, die in Istanbul kursierten. Wenn sie dann ihre Finalrelationen verfassten, lieferten sie nur noch eine kurze chronologische Zusammenfassung ihrer Mission und konzentrierten sich auf Beobachtungen über die Funktionsweise des Osmanischen Reichs, auf Analysen des Staatsapparats sowie auf den Charakter und die Persönlichkeit des Sultans, der Würdenträger und der anderen europäischen Vertreter.26 Insofern scheinen die Finalrelationen der westeuropäischen Botschafter in erster Linie für ihre Nachfolger gedacht gewesen zu sein, die dadurch einen schnellen Überblick über die aktuelle Lage im Osmanischen Reich, das „who is who“ in Istanbul und die beste Art der Verhandlungsführung mit den erwähnten Personen erhielten. Im Gegensatz dazu waren die polnischen Berichte völlig unstrukturiert. Sie enthielten keinerlei Beobachtungen über die Funktionsweise des Osmanischen Reichs und keinerlei politische Ratschläge für den König, das Parlament oder die nachfolgenden Botschafter. Einzige Ausnahme war der Bericht des schon erwähnten Krzystof Zbaraski27, der an der Universität von Padua studiert hatte und vermutlich vom dort verbreiteten Modell der ethnographischen Beschreibung beeinflusst war. Die polnischen Berichte hingegen beschrieben akkurat die Reise des Botschafters ins Osmanische Reich, verzeichneten den wohlwollenden oder unvorteilhaften Empfang, beschrieben die Audienzen sowie sämtliche Besuche, die abgestattet oder empfangen wurden. Diese Beschreibungen wurden unter dem Begriff der „Gastfreundschaft“ subsumiert. In ihrer Einschät26 Ebd., S. 130–132, 144f., 152–154. 27 Relacyja rządów monarchii tureckiej od księcia Krzystofa Zbaraskiego, koniuszego koronnego, gdy był posłem wielkim do cesarza tureckiego sułtana Osmana, Anno D-ni 1622, in: Studia i Materiały do historii wojskowości 7–1 (1961), S.  325–346. A. Höfert zeigt, dass das Schema der ethnographischen Beschreibung, das die Grundlage der westeuropäischen Gesandtschaftsberichte bildete, an der Universität von Padua entwickelt worden war. Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 25), S. 141. Krzystof Zbaraski war der einzige polnisch-litauische Botschafter im Osmanischen Reich, der an der Universität Padua studiert hatte, insofern ist es nicht erstaunlich, dass er seine Berichte eng an die italienischen Beispiele anlehnte.

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zung der osmanischen „Gastfreundschaft“ und der Bewertung ihres eigenen Empfangs legten die Botschafter folgende Kriterien zugrunde: den räumlichen Abstand ihrer Unterkunft zum Sultanspalast, die Anzahl der Ehrenkaftane, die sie während ihrer öffentlichen Audienzen erhielten, sowie Menge und Qualität der ihnen von den Osmanen zugeteilten täglichen Verpflegung. Obgleich es wohlbekannt war, dass die Osmanen sowohl die Ehrenkaftane als auch die Verpflegung der Botschafter als Zeichen der Unterordnung ihrer Gäste verstanden, wird dieser Umstand nur von einem einzigen Bericht auch erwähnt, und zwar in jenem über die gescheiterte Mission von Kazimierz Wysocki (1671)28: „[…] und [der Botschafter] verlangte, sein eigenes Pferd mitzunehmen, und bezüglich der Kaftane sagte er, dass sein Gefolge [und er] selbst für den Fall, dass es regnen sollte, ohne türkische Mäntel auskommen würden. Selbst die Köche begannen schon, den Botschafter zu belästigen, indem sie Geschenke für ihr Wohlergehen verlangten, ganz so, als sei man tributpflichtig. Daher befreite ich mich von solch unangemessenen Dingen, von den Kaftanen und von der Unbedachtsamkeit des Hofes des Wesirs.“29

Der größte Teil eines jeden Berichts war der Beschreibung der Verhandlungen mit dem Großwesir gewidmet, die in Form von Dialogen präsentiert wurden. Es ist bemerkenswert, dass diese Beschreibungen nur selten einen Dolmetscher erwähnen, obwohl wir in den allermeisten Fällen wissen, dass die Botschafter der osmanischen Sprache nicht mächtig waren. Die Gespräche enthielten gewöhnlich die in den Instruktionen erwähnten Schlüsselbegriffe: dass der Frieden zwischen den Herrschern beider Reiche tief und fest in der Tradition verwurzelt sei; dass jeglicher Konflikt auf die Einmischung missgünstiger Dritter zurückzuführen sei; dass der Sultan seine Vasallen (die Tartaren) in Schach halten müsse und dass der König seinerseits dasselbe bezüglich der Kosaken verspreche; dass der den polnischen Untertanen durch die Tartareneinfälle entstandene Schaden ungleich größer sei als jener, den die os28 Die beste Untersuchung dieser Mission findet sich bei Iłona Czamańska, Czy wojna z Turcja była nieunikniona? Poselstwo Kazimierza Wysockiego do Turcji w Latach 1670–1672, in: Kwartalnik Historyczny 92 (1985), S. 769–790. 29 „[...] i swego konia prowadzić kazał, i to także powiedział o kaftanach, że choćby deszcz padał, obeydzie się i ludzie jego bez tureckich oponczy. Za które cożywo i kucharze już przez kilka dni dokuczać zwykli posłom, pretendując, jakoby od hołdowników do swojej sytości dary, i tak aprobratione takowej impertinentiej uwolnił się od kaftanów et ab importunitate dworu wezyrskiego.“ AGAD, LL 25, S. 274–281.

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manischen Untertanen durch die Seeangriffe der Kosaken erlitten hatten; und dass keine neuen Bestimmungen in die Friedensverträge aufgenommen werden dürfen. Zugleich scheinen die Gesprächsanteile des Botschafters und des Wesirs (oder Kaymakams) unausgewogen: Der Wesir (oder Kaymakam) stellte eher kurze Fragen mit knappen Argumenten, während der Botschafter ausführliche und sorgsam ausgearbeitete Antworten gab. Insbesondere betonen die Botschafter stets, wie gewissenhaft sie die alten, überkommenen Verträge verteidigten. So schilderte der königliche Gesandte Aleksander Piasieczyński (1630) seine Antwort auf den Wunsch des Kaymakams, eine neue Bestimmung in den Vertrag aufzunehmen, wie folgt: „[…] würde ich mich dazu entschließen, mich über das Wort und den Eid des Königs hinwegzusetzen, dann dürfte ich dasselbe wohl auch von Eurem Kaiser verlangen. Doch wenn Worte, Eid und Schrift irgendetwas für einen Herrscher bedeuten, dann können weder Euer Kaiser noch ihr irgendetwas Neues hinzufügen, sondern nur [die Bedingungen] der alten Verträge bewahren, die nach Osman30 von Mustafa31, dem Onkel Eures Herrn, gegenüber dem Fürsten Zbaraski […] bestätigt wurden, und später auch noch auf unverletzbare Weise von Eurem Herrn selbst, der seiner königlichen Majestät die Bestätigung durch Herrn Kiełczewski übersendet hat.“32

Das Interessanteste an diesen Dialogen ist, dass sie eigentlich überhaupt keine Verhandlungen enthalten. Ein Verhandlungsprozess würde ja irgendeine Art von Auseinandersetzung um künftige Vertragsbedingungen, um die Bedeutung des „königlichen Willens“ beider Herrscher oder, allgemein gesprochen, um die Bedeutung von Wahrheit und Gerechtigkeit voraussetzen. Doch solche Verhandlungen fanden tatsächlich gar nicht statt: Am Ende hatte niemand gewonnen und niemand verloren, kein Konsens war erreicht und keine abschließenden Bemerkungen wurden gemacht, keiner hatte die andere Seite von der Richtigkeit der eigenen Sache überzeugt. 30 Osman II. (1618–1622). 31 Mustafa I. (1617–1618, 1622–1623). 32 „[…] jeśli wolno, rzekszy i postanowiwszy monarsze nie trzymać słowo i przysięgi, tedy tego i cesarzowi twemu pozwolę. Ale jeśli między monarchami słowo, przysięga i pismo co waży, tedy i cesarz, i tej nic nowego wnosić nie możecie, jeno dawnych pakt, które po Osmanie książęciu Zbaraskiemu, wielkiemu i wiecznej pamięci godnemu posłowi, lubo także w tym Mehmet Gardzy, główny tego pokoju nieprzyjacieł, barzo przeszkadżał, Mustafa, stryj pana twego, a potem i sam pan twój, sacrosancte potwierdzieł i rewersał ich przez p. Kiełczewskiego do rąk JKMci posłał.“ Trzy relacje z polskich podróży na Wschód Muzułmański w pierwszej połowie 17 w., hg. von Adam Walaszek, Krakau 1980, S. 77.

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Zugleich vermittelten die Verfasser der Berichte ungeachtet des im Königreich Polen-Litauen weit verbreiteten Stereotyps des „habgierigen Türken“ den Eindruck, dass sie ihre Ziele (vor allem die gewünschten Verträge) nur aufgrund ihrer eigenen Überzeugungskraft erreicht hätten. Der Großbotschafter Miaskowski beispielsweise behauptete, er habe den Großwesir allein durch die aus Warschau mitgebrachten Originale der 1634 mit Sahin Aga und Murtaza Pascha abgeschlossenen Verträge und des ahdname Sultan Mehmeds IV. sowie durch eine Karte, die er mit seinen Fingern in den Sand gemalt habe, davon überzeugt, dass König Wladislaw IV. durch die Errichtung der Festung Kodak keine Grenzverletzung begangen habe.33 Bedeutsam ist dabei auch, dass das Gespräch mit dem Großwesir in seinem Bericht den größten Raum einnimmt, und nicht die Audienz im Sultanspalast. Dennoch war zweifellos die Audienz beim Sultan der wichtigste Teil der Mission, insbesondere im Hinblick auf die symbolische Kommunikation. Die heute noch erhaltenen Botschaftstagebücher liefern dem Leser ein klares und lebendiges Bild davon, wie der Botschafter und sein Gefolge sich auf den Besuch vorbereiteten; wie sie während der ganzen Nacht vor dem Empfang dem Lärm auf den Straßen lauschten, der durch die Ankunft der Janitscharen im Sultanspalast verursacht wurde; wie sie auf ihre Audienz beim Großwesir warteten und am zeremoniellen Bankett teilnahmen; wie ihnen die Zeremonialbekleidung – die Ehrenkaftane – überreicht und sie vom Sultan im Audienzsaal empfangen wurden; und wie sie schließlich warteten, bis die Janitscharen den Sultanspalast wieder verlassen hatten, um dann in ihre temporäre Residenz zurückkehren, in Begleitung zahlreicher Menschen, die ihnen im Laufe des Tages assistiert hatten und die nun auf ihre großzügige Entlohnung hofften. Die Berichte hingegen liefern eine sehr viel stärker standardisierte Beschreibung des Empfangs im Topkapı-Palast. Dem Leser werden zumeist vier „screenshots“ präsentiert: Zuerst betritt der Botschafter den Palast durch die erste Pforte und wird von den çavuşlar empfangen; danach erlebt er eine Sitzung des Divans und nimmt an einem zeremoniellen Bankett teil; sodann überreicht er unmittelbar vor der eigentlichen Audienz seine Geschenke und erhält seine Kaftane; und schließlich steht er im Audienzsaal vor dem Sultan. Nach dem osmanisch-polnischen Krieg von 1620–1621 begannen die Botschafter in voller Übereinstimmung mit den Instruktionen in ihren Berichten zu behaupten, dass sie die Geschenke in ihrem eigenen Namen überreichten und nicht in dem ihres Königs. Dieser Strategie folgen im Laufe des 17. Jahrhunderts so33 Przyboś, Wielka legacja (wie Anm. 6), S. 84f.

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wohl die Berichte über Großbotschaften als auch jene über gewöhnliche Gesandtschaften. Bei der Beschreibung des Höhepunktes der Mission, der eigentlichen Empfangszeremonie im Audienzsaal, lassen sich zwei Tendenzen beobachten. Entweder enthält sich der Verfasser jeglichen Kommentars zu den Details der Zeremonie (wie im Fall des Berichts von Jan Gniński34) oder er bemerkt lediglich, er habe den Sultan „mit einer kurzen Ansprache“ oder „in der üblichen Weise“ begrüßt.35 Ein Brief des Botschafters Jerzy Kruszyński gibt Aufschluss darüber, wie die Palastdiener in „üblicher Art und Weise“ dafür Sorge trugen, dass die Ansprache des Botschafters nicht ausuferte: „Nachdem ich am 22. Juli den Sultan gegrüßt und ihm das Schreiben Seiner Majestät des Königs überreicht hatte, schrie [er]: ‚Werde fertig! Verschwinde!‘ – und da ich nicht gehorchen wollte, ergriffen mich die eigens zu diesem Zweck dorthin beorderten kapıçıbaşı bei den Händen und hetzten mich hinaus.“36 Die einzige Beschreibung des 16. und 17. Jahrhunderts, die den modernen Rekonstruktionen des Zeremoniells im Topakı-Palast entspricht,37 lieferte der Botschafter Mariusz Jaskólski (1657): „Nachdem das Mahl beendet war, wurde ich mit dem Kaftan bekleidet und zur Audienz bei Seiner Majestät dem Kaiser geführt. Vor mir gingen sechs Türken, gehüllt in mit Goldbrokat verzierte Zobelpelze und mit Säbeln ausgestattet. Im Audienzsaal nahmen mich zwei von ihnen bei den Schultern, führten mich zum Kaiser und beugten mich nieder. Andere Türken führten und beugten meine Diener nieder bis auf den Boden. Nach dieser Begrüßung richtete ich Seiner Majestät dem Kaiser die besten Wünsche von Eurer Königlichen Majestät aus, worauf er mir nicht antwortete und weiter bewegungslos an seinem Platz saß. Sodann wurde mir geheißen fortzufahren. Ich stellte also so kurz wie möglich die Bestimmungen meiner Instruktionen vor und übergab sie am Ende in schriftlicher Form dem Kaymakam, der sie an den Kaiser weiterreichte, welcher sie sogleich las. Ohne ein einziges Wort der Erwiderung wurde ich sodann aus dem Saal geführt und auf dieselbe Weise wie auf dem Hinweg in meine Unterkunft geleitet.“38 34 35 36 37 38

Ebd., S. 36f. Ebd., S. 68. Korespondencja Stanisława Koniecpolskiego (wie Anm. 15), S. 311. Karateke, Ottoman Protocol Register (wie Anm. 21), S. 6–24. „Po skonczonym obiedzie poprowadziły mie na audientia do Cesarza JMści i, przykrzwszy kaftanem, sześć Turków przede mną w złotogłowych sobolami podszytych ferezyach szło. W izbie samej cesarskiej wzieły mie dwa z nich za barky i, przed cesarza przywiodszy, w poł do ziemie pochilili. Insi Turcy moich sług, co ze mną byli prowadzieły i do ziemie ich samey, albo raczej pavimentu, przyginali.

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Ihre Ehre verteidigten die Botschafter vor allem durch Berichte über Auseinandersetzungen um die Art und Weise der Begrüßung durch den Sultan im Audienzsaal. Insbesondere behaupteten die Verfasser, dass ihnen erlaubt worden sei, den Sultan ohne die obligatorische Verneigung vor dem Thron zu begrüßen. Vor der Audienz, so berichteten sie, hätten sie ihre Gastgeber daran erinnert, dass sie als Botschafter eines großen Monarchen kämen und ihnen daher erlaubt werden müsse, den Sultan „gemäß unseren eigenen Gepflogenheiten“ zu begrüßen – mit einem einfachen Kopfnicken. So beschreibt etwa der Botschafter Andrzej Modrzweski (1677) seine Audienz wie folgt: Nachdem der Wesir zum Sultan geführt worden war, „holten mich mehrere in Zobel gekleidete kapıçıbaşı […]. Die kapıçıbaşı hielten mich – vorgeblich als Ausdruck ihres Respekts – unter den Armen fest, obwohl doch zuvor ausgehandelt worden war, dass ich Botschafter eines Volkes sei, das sich niemals von seinem Schwert trennt.“39 Insgesamt hielten alle Botschafter, ungeachtet ihres Ranges, die erzwungene Verneigung für fremdartig, ungewöhnlich und eines polnischen Adligen unwürdig, obgleich die Verneigung von Vasallen vor ihren Herren (einschließlich der Verneigung von Adligen vor Magnaten) im Königreich Polen-Litauen seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine recht verbreitete Sitte geworden war.40 Insofern konnte die Verneigung vor allem von jenen Botschaftern als erniedrigend empfunden werden, die zuhause einen hohen Rang bekleideten, wie zum Beispiel Fürst Zbaraski, der frühere Kanzler Radziejowski oder der Wojwode Gniński. Doch auch für alle anderen war es inakzeptabel zuzugeben, dass sie sich vor dem Sultan verneigt hatten, und zwar aus zwei Gründen: Souveränität Po takowym powitaniu uczyniłem Cesarzowi JMści od WKMci pozdrowienie, na które, immotus na miejscu siedząc, nic mi nie odpowiedział. Potym dały mnie mówić kazano. Jako tedy mogłem najkrocej tak puncta instructiej proponowałem, a na ostatek in scripto […] jako się exemplar posła podałem, które cesarcowi oddał kajmakan i zaraz je czytał. Na wszystko to żadnego responsu i słowa nie dawszy, wyprowadzili mie z izby i do gospody jako był przyprowadżoni, odprowadżony zostałem.“ AGAD, Archiwum Koronne Warszawskie (im Folgenden AKW), Dział Turecki (im Folgenden DT), Teka 421, Nr. 724. 39 „Odprowadziwszy marszałek wezyra do cesarza, przyśli po mni i kilka kapici baszów w złotogłowych ferezyach [...]. Kapici baszowie wzieli pod pachy cum summa observantia, tak jako udawano. Jednak się przed tym umawiano, gdyż tego narodu poseł, któremu nigdy szabla od boku nie odpasana.“ Biblioteka Narodowa Polskiej Akademii Umijętności i Polskiej akademii Nauk w Krakowie 1855, S. 211f. 40 Maria Bogucka, Gest w kulturze szlacheckiej, in: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 26 (1981), S. 5–18, hier 11f.

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und Treue.41 Als Repräsentanten ihres Königs würden die Botschafter zum einen mit einer Verneigung einen Präzedenzfall schaffen und ihren Herrn dem Sultan unterordnen. Zum anderen würde eine solche Verneigung in der Symbolsprache des polnisch-litauischen Königreichs bedeuten, dass sie den Sultan als ihren Herrn akzeptierten, womit sie den Treueeid gegenüber ihrem eigenen König brächen. Aus diesem Grund insistierten die polnischen Botschafter darauf, dass die zeremonielle Verneigung vor dem Sultan den „alten Gebräuchen“ widerspreche, nach denen sie in Istanbul empfangen würden. Zugleich erwähnten mehrere Berichte, dass der Sultan auf die Rede des Botschafters „in eigenen Worten“ oder „mit seinem eigenen Munde“ geantwortet habe. Diese Behauptung findet sich insbesondere bei den Großbotschaftern Alexander Trzebiński (1634)42, Wojciech Miaskowski (1640)43, Mikołaj Bieganowski (1654)44, Hieronim Radziejowski (1667)45, Jan Gniński (1677–1678)46 sowie bei den Gesandten Mikołaj Bieganowski (1643)47 und Franciszek Kazimierz Wysocki (1670–1671).48 In der früheren Botschaftskorrespondenz und Berichten des 16. und 17. Jahrhunderts allerdings taucht sie nicht auf. Insofern folgten die Botschaftsberichte den kulturellen Mustern ihrer Heimatländer: Sie betonten die verbale Komponente der Kommunikation und missverstanden oder missdeuteten absichtlich die non-verbalen Elemente. Hier treffen die Bemerkungen von Sheila Ager zu, die zeigt, dass interkulturelle Diplomatie nicht nur „the meeting place of disparate cultures“ sei, „[which] serves as a sort of unarmed battleground of cultural concepts“, sondern auch „a field of manipulation of perception and of posturing. The genuine clash of cultures also provides ample opportunities for choosing to misunderstand: for choosing to regard a remark or

41 Zur Wechselwirkung von kollektiven Werten und empirischer Weltbeschreibung vgl. auch Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Forschungsperspektiven – Thesen, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489–527, hier S. 505. 42 Korespondencja Stanisława Koniecpolskiego (wie Anm. 15), S. 228–230. 43 Przyboś, Wielka legacja (wie Anm. 6), S. 93. 44 Lviv National Library of the Academy of Science of Ukraine, Fund 5: Ossolinskich, 189/II, S. 697f. 45 AGAD, AKW, DT, T. 455, Nr. 765. 46 Żródła do poselstwa Jana Gnińskiego wojewody chełmińskiego do Turcji w latach 1677–1678, hg. von Franciszek Pułaski, Warschau 1907, S. 37. 47 Stanisława Oswięcima diariusz 1643–1651, hg. von Wiktor Czermak, Krakau 1907, S. 23. 48 AGAD, LL 25, S. 274–281.

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action as an insult when no insult was intended, or for choosing to disregard the clearest deliberate affront, all according to the expediency of the moment.“49 Insgesamt betrachtet kann als Hauptziel der polnisch-litauischen Außenpolitik des 16. und 17. Jahrhunderts im Großen und Ganzen die Friedenswahrung gelten. Diese Behauptung gilt selbst für die Regierungszeit des kriegsliebenden Königs Władysław IV.: Ungeachtet seiner Pläne für eine anti-osmanische Kriegskoalition entsandte auch er regelmäßig Botschafter an die Hohe Pforte. Das Ziel der Friedenswahrung war eng verknüpft mit der Aufgabe, keine neuen Präzedenzfälle zu schaffen. Dies beinhaltete zunächst und vor allem eine möglichst vollständige Übereinstimmung der Friedensverträge mit den überlieferten Dokumenten. Zu diesem Zweck war den osmanischen Würdenträgern zu verdeutlichen, dass die Absichten des Königreichs Polen-Litauen so friedlich seien wie ehedem. Außerdem war darauf zu achten, dass die königlichen Botschafter gemäß dem „alten Brauch“ empfangen wurden. In dieser Hinsicht war die bestmögliche Leistung eines Botschafters, wenn er „in traditioneller Weise“ empfangen wurde. Daher betonten die Botschaftsberichte ständig, dass jede denkbare Mühe darauf verwendet wurde, die Tradition gemäß den im Königreich PolenLitauen geltenden Formen, Normen und Praktiken zu erhalten. Insbesondere hatten die Großbotschafter darauf zu achten, dass der polnisch-litauische König und der Sultan gleichrangig behandelt wurden, dass die Souveränität des Königreichs Polen-Litauen anerkannt wurde und dass die Beziehungen zwischen beiden Staaten als friedlich angesehen wurden. Die nach den Instruktionen und Berichten hierbei einzusetzenden Mittel waren dem öffentlichen Diskurs des Königreichs Polen-Litauen entlehnt und damit stark beeinflusst von der mündlichen Kultur der Sejm-Debatten mit ihrer Betonung von verbaler Kommunikation, Polemik und Rhetorik. Kein Wunder also, dass die Erwartungen an die kommunikativen Funktionen der frühneuzeitlichen polnisch-litauischen Botschafter in Istanbul hochgesteckt waren und der Fokus auf ihren repräsentativen Aufgaben lag: Der Verteidigung der „Ehren“, die der Botschafter empfing, sowie der Aufrechterhaltung des „alten Brauchs“ galt die größtmögliche Aufmerksamkeit. Trotz der ausufernden Dialoge in den Berichten der Botschafter war es längst noch nicht Zeit für den Beginn eines Dialogs der Kulturen.

49 Sheila L. Ager, Roman Perspectives on Greek Diplomacy, in: Diplomats and Diplomacy in the Roman World, hg. von Claude Eilers, Leiden u.a. 2009, S. 15– 45, hier S. 15.

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Die Simulation von Souveränität in der frühneuzeitlichen Diplomatie Die moldauische Gesandtschaft am polnischen Königshof im Jahr 1644∗ Michał Wasiucionek Im Dezember 1644 erreichte eine Gesandtschaft des Hospodaren des Fürstentums Moldau Warschau. Der Anlass war, König Władysław IV. um die offizielle Erlaubnis für die Vermählung des Großkämmerers von Litauen Janusz Radziwiłł, eines der mächtigsten Magnaten der Rzeczpospolita, mit Maria, der Tochter des Fürsten der Moldau, Vasile Lupu, zu bitten. Die Angelegenheit war eher eine Formalität als ein ernsthaftes Hindernis. Der König stimmte der Vermählung bereitwillig zu, die daraufhin im Februar 1645 stattfand. Dennoch unterschied sich die Audienz der moldauischen Gesandten von den seit langem eingespielten Mustern. Ein Augenzeuge, Albrycht Stanisław Radziwiłł, zu jener Zeit litauischer Großmarschall, berichtet: „Der Gesandte des moldauischen Fürsten wurde dem König öffentlich vorgestellt. Der König tat dies entgegen der überkommenen Gewohnheiten auf Bitten meines Verwandten, des litauischen Großkämmerers [i.e. Janusz Radziwiłł], der vorhatte, die Tochter des Moldauers zu heiraten […]. Nachdem der Gesandte den König im Namen seines Herrn mit den untertänigsten Worten begrüßt hatte, übergab er ihm eine Einladung zu der Hochzeit sowie mehrere Geschenke. Er erhielt vom Kanzler des Königs eine gnädige Antwort sowie das Versprechen, einen königlichen Gesandten – den Starosten von Śniatyń – zu der Hochzeit zu entsenden.“1

Interessanterweise haben die Vermählungsfeierlichkeiten sowohl in Polen als auch in den rumänischsprachigen Ländern sehr viel Aufmerksamkeit von Seiten der Historiker erfahren2, während die gerade erwähnte Audienz weit* Aus dem Englischen von Christine Vogel. 1 Albrycht St. Radziwiłł, Pamiętnik o dziejach w Polsce, Bd. 2, Warschau 1980, S. 423. 2 Lilia Zabolotnaia, Raporturile dinastice și rolul „diplomației de mariaj“ în relațiile moldo-polone în a două jumătate a secolului al XIV-lea – mijlocul secolului al XVII-lea, Chișinău 2004; Alojzy Sajkowski, Staropolska miłość, Posen 1981; Constantin Șerban, Vasile Lupu, domn al Moldovei (1634–1653), Bukarest 1991;

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gehend unbeachtet blieb. Niemanden hat es bislang erstaunt, dass es einem so geringen Herrscher gelungen war, eine der größten zeremoniellen Ehren der frühneuzeitlichen Diplomatie zu erlangen – was selbst dann ungewöhnlich bleibt, wenn man in Rechnung stellt, dass er die Unterstützung eines mächtigen Magnaten genoss. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass diese Änderung im Zeremoniell eine wichtige politische Bedeutung hatte, die allerdings nur dann sichtbar wird, wenn man sie sowohl im Kontext von Vasile Lupus Strategien der Herrschaftsausübung und Selbstdarstellung betrachtet als auch im Zusammenhang mit den politischen Entwicklungen in der Region. Ich werde zu zeigen versuchen, wie es dem moldauischen Hospodar gelang, nach außen das Bild eines souveränen Herrschers zu vermitteln, während er nach innen weiter an überkommenen Herrschaftsvorstellungen festhielt. Kurz: Es geht darum zu zeigen, wie Vasile Lupu seinen eigenen souveränen Status simulierte. Die Argumentation gliedert sich in sechs Abschnitte. Zunächst werden der Begriff der Souveränität und seine zeremoniellen Zeichen im Rahmen des Paradigmas einer Kulturgeschichte des Politischen untersucht. Dann folgt eine Darstellung des historischen Kontexts, wobei sich der Blick besonders auf die diplomatischen Beziehungen des Fürstentums Moldau richtet sowie auf die Pläne des polnischen Königs Władysław IV., einen Kreuzzug gegen das Osmanische Reich zu führen. Im dritten Abschnitt geht es um Vasile Lupus Strategien der Selbstdarstellung und deren Bezüge auf die imperiale Tradition des Byzantinischen Reichs. Danach untersuche ich die Rolle der post-byzantinischen Vorstellungen vom Kaisertum für den Begriff der Souveränität. Fünftens wird der kulturelle Unterschied zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen Reich als Möglichkeitsbedingung dafür betrachtet, dass es dem Hospodar gelingen konnte, in seinen diplomatischen Beziehungen differente Selbstdarstellungsweisen zu praktizieren, ohne dabei seine Position im Osmanischen Reich zu gefährden. Im Schlussabschnitt werde ich einzuschätzen versuchen, welche Handlungsspielräume die Wiederverwendung post-byzantinischer Herrschafts- und Souveränitätskonzepte für einen Herrscher in der Kontaktzone zwischen dem imperialen System der Osmanen und der europäischen société des princes eröffnete.

Henryk Wisner, Janusz Radziwiłł 1612–1655. Wojewoda wileński, hetman wielki litewski, Warschau 2000.

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Kulturelle Dimensionen von Souveränität Als William Roosen 1980 seinen Aufsatz zum frühneuzeitlichen diplomatischen Zeremoniell schrieb, hielt jeder, dem er davon erzählte, das Thema für langweilig und bedeutungslos.3 Seither hat sich die Lage so deutlich verändert, dass heute nur noch wenige dieser Ansicht zustimmen dürften. Der cultural turn der 1990er Jahre hat anthropologische Ansätze in den Mainstream der Geschichtswissenschaft integriert. Hatte man diesen Zugang anfänglich noch allgemein für unpolitisch gehalten und ihn im Gegensatz zur traditionellen Politik- und Diplomatiegeschichte verortet,4 so wurde im darauffolgenden Jahrzehnt mit einer cultural history of politics (oder vielleicht besser: einer Kulturgeschichte des Politischen5) der Brückenschlag gewagt. Durch die Vereinigung traditioneller und kulturwissenschaftlicher Trends der Geschichtsschreibung wurden so neue Deutungen der politischen Sphäre in vormodernen Gesellschaften ermöglicht. In diesen Neuansätzen spielen Zeremoniell und Ritual eine zentrale Rolle. Statt sie als nutzlosen Schein zu betrachten, wurden sie nun als Kommunikationsinstanzen behandelt, als bedeutungsvolle Handlungen, die gesellschaftliche Strukturen sowohl beschreiben als auch konstituieren. Solche Repräsentationen gesellschaftlicher Ordnung, die ihnen zugleich als Blaupause dienten, waren für jede Form von Machtausübung in frühneuzeitlichen Gesellschaften unverzichtbar. Hier wurde Herrschaft zugleich erschaffen und repräsentiert.6 Allerdings wurden ritualisierte Kommunikationsformen nicht nur genutzt, um existierende Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren; sie konnten sich auch 3 William Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial: A Systems Approach, in: Journal of Modern History 52 (1980) Nr. 3, S. 452–476, hier S. 452. 4 Frank Bosch/Norman Domeier, Cultural History of Politics. Concepts and Debates, in: European Review of History: Revue européenne dʼhistoire 15 (2008) Nr. 6, S. 577–586, hier S. 577; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574–606, hier S. 574f. 5 Barbara Stollberg-Rilinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, hg. von Barbara Stollberg-Rilinger, ZHF Beiheft, Berlin 2005, S. 9–24, hier S. 12f. 6 Barbara Stollberg-Rilinger, The Impact of Communication Theory on the Analysis of the Early Modern Statebuilding Process, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300–1900, hg. von Wim Blockmans/André Holenstein/Jon Mathieu, Farnham 2009, S. 313–318, hier S. 317f.; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2009, S. 299.

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in subversive Werkzeuge verwandeln, da sie grundsätzlich offen für Widerspruch, Unterbrechung, Verhandlung oder gegensätzliche Interpretationen waren. Die bestehende Ordnung vorzuführen bedeutete auch, die Zuschauer und Teilnehmer über die existierende gesellschaftliche Ordnung zu instruieren; vor allem aber konnten die Akteure mitunter ihre Position verbessern, indem sie den Verlauf des Zeremoniells veränderten. Insofern können Zeremoniell und Ritual Risse im Gewebe der Gesellschaft bewirken und die Neuaushandlung politischer Ordnung ermöglichen. Dies trifft insbesondere dann zu, wenn die zeremonielle Hierarchie zugleich den sozialen Rang markiert, wie dies in der politischen Sphäre der frühneuzeitlichen Diplomatie der Fall war.7 Im Gegensatz zum modernen System der Nationalstaaten war während des größten Teils dieser Periode das Ordnungsprinzip der Diplomatie nicht institutionalisiert und egalitär, sondern (wenn auch mit wechselnder Intensität) persönlich, hierarchisch und auf symbolischem Kapital basierend.8 Anders als das im 19. Jahrhundert entstandene internationale Staatensystem, das aus gleichberechtigten institutionellen Partnern besteht, haben wir es in der Frühen Neuzeit mit einer société des princes zu tun – einer hierarchisch gegliederten Gemeinschaft von Individuen, die mit Herrschaftsrechten versehen waren und sich gegenseitig als Teilnehmer dieses Systems anerkannten.9 Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Teilhabe am diplomatischen Verkehr hing nicht von der Machtfülle eines Herrschers ab, sondern von seiner Anerkennung als Teil der Fürstengemeinschaft. Nichtsdestoweniger war dieser exklusive Club alles andere als kohärent und schon gar nicht friedlich. Jeder Teilnehmer arbeitete daran, seinen Rang zu verbessern, und viele Anwärter kämpften darum, als Mitglieder der société des princes anerkannt zu werden. Die große Zahl verschiedener hierarchisch geordneter Herrscherlisten war ein Zeichen dieses politischen Kampfes. Zahlreiche früh7 André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz/ Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 1–32, hier S. 5f. 8 Barbara Stollberg-Rilinger, Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jh., in: Majestas 10 (2002), S. 125–150, hier S. 127; Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 7), S. 4f.; Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 3), S. 460. 9 Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 7), S. 18; Lucien Bély, Les relations internationales en Europe: XVIIe–XVIIIe siècles, Paris 1992; Lucien Bély, La société des princes: XVIIe–XVIIIe siècle, Paris 1999.

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neuzeitliche Gelehrte befassten sich eingehend mit dem Präzedenzrecht, um eine „objektive“ Hierarchie der Herrscher zu etablieren, die ihren jeweiligen Dienstherrn zugutekam.10 Keiner dieser Versuche war aber letztlich von Erfolg gekrönt, denn der politische Druck war zu groß und es gab zu viele Kriterien, um eine feste Hierarchie der Fürsten zu etablieren.11 Doch obgleich es unmöglich war, sich auf irgendeine Art allgemein akzeptierter Ordnungskriterien zu einigen, blieb das hierarchische Prinzip als solches für die Fürstengemeinschaft bis ins 18. Jahrhundert unumstritten. Die genaue Hierarchie der Souveräne war nicht das einzige Problem, das die frühneuzeitliche Diplomatie mit sich brachte. Auch die Frage, wer als ein vollwertiges Mitglied der Fürstengemeinschaft anzusehen war, blieb Gegenstand von Auseinandersetzungen. Wie André Krischer gezeigt hat, war eine vollwertige Mitgliedschaft nur jenen Herrschern vorbehalten, die einen souveränen Status hatten, also fast ausschließlich Königen.12 Die hiervon Ausgeschlossenen nutzten eine Reihe von Strategien, um als Souveräne anerkannt zu werden. Insofern war der Kauf von – bisweilen recht exotischen – Königstiteln eine Staatsangelegenheit und nicht eine Sache persönlicher Eitelkeit.13 Dies galt nicht nur für Monarchien, sondern auch für frühneuzeitliche Republiken; so versuchten selbst Venedig und Genua, ihre Territorialansprüche durch den Gebrauch monarchischer Prinzipien zu untermauern.14 Die Anerkennung eines Herrschers als Souverän war dabei eher eine Sache der société des princes als eine der Untertanen. Nicht der Wille des Volkes, sondern die vorgestellte Gemeinschaft der Herrschenden musste den Neuling in ihre Mitte aufnehmen. Einen souveränen Status zu erlangen, hatte für die alltägliche Praxis der Herrschaftsausübung aus Sicht der Untertanen gewöhnlich kaum Auswirkungen. Es war jedoch von entscheidender Wichtigkeit für die Fürstengesellschaft und den Rang eines Herrschers auf der diplomatischen

10 Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 3), S. 461–462; Stollberg-Rilinger, Die Wissenschaft der feinen Unterschiede (wie Anm. 8), S. 133. 11 Stollberg-Rilinger, Die Wissenschaft der feinen Unterschiede (wie Anm. 8), S. 133. 12 Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 7), S. 13–14. 13 Ebd., S. 18. 14 Ebd., S. 13; Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 3), S. 461; Matthias Schnettger, Die Republik als König. Republikanisches Selbstverständnis und Souveränitätsstreben in der genuesischen Publizistik des 17. Jahrhunderts, in: Majestas 8–9 (2000–2001), S. 171–209.

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Landkarte Europas.15 Dies galt für die Familie der Hohenzollern in Brandenburg-Preußen ebenso wie für den Herzog von Savoyen. Das Recht, am System der frühneuzeitlichen Diplomatie teilzunehmen, war der beste Beweis für die Anerkennung als Souverän. Das ius legationis wurde zu einer der wichtigsten Instanzen, wenn es darum ging, den souveränen Status der Teilnehmer anzuerkennen und zu erschaffen.16 In diesem System diente die Entsendung eines Botschafters nicht nur dazu, einen Vertrag zu unterzeichnen, sondern auch zur Vermittlung des souveränen Status des Entsendenden.17 Da Herrschende nur sehr selten persönlich zusammentrafen, dienten die diplomatischen Gesandten bei diesen Akten der Repräsentation von Macht und Rang als Stellvertreter ihrer Herren.18 Insofern ist es kaum erstaunlich, dass diplomatische Zeremonien als Mittel betrachtet wurden, mit dem Anwärter auf den Status eines souveränen Fürsten versuchten, ihren Rang zu erhöhen und in die exklusive Gemeinschaft der europäischen Souveräne aufzusteigen. Die wichtigsten Teile des diplomatischen Zeremoniells waren in dieser Hinsicht der zeremonielle Einzug und die öffentliche Audienz. Beide galten als wichtigste Elemente des ius legationis und als deutlichste Zeichen der Anerkennung des souveränen Status des Entsendenden.19 Die Tatsache, dass dem Gesandten von Vasile Lupu eine öffentliche Audienz zugestanden wurde, muss daher als bedeutungsvolle Änderung des Zeremoniells gelten und implizierte eine Statusänderung des Hospodars in den polnischmoldauischen Beziehungen. Durch diese ‚Streicheleinheit‘ („stroking“ in den Worten von William Roosen20) wurde er stillschweigend als souveräner Herrscher und rechtmäßiger Teilnehmer am frühneuzeitlichen diplomatischen System anerkannt. Dies war eine bemerkenswerte Leistung, denn andere Herrscher, die zweifellos mächtiger waren als der geringe moldauische Fürst, sind daran gescheitert. Einen der aussagekräftigsten Fälle notierte einer der führenden Spezialisten der Zeremonialwissenschaft des frühen 18. Jahrhunderts, Julius Bernhard von Rohr. Ihm zufolge habe der polnische König Johann III. Sobieski 15 16 17 18 19

Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 7), S. 17. Ebd., S. 20f.; Jeremy Black, A History of Diplomacy, London 2010, S. 57. Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 7), S. 11. Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 3), S. 455. In den Worten eines der einflussreichsten zeitgenössischen Diplomatietheoretikers, Abraham de Wicquefort: „Il n’y a point de plus illustre marque de la Souveraineté que le Droit d’envoyer et de recevoir des Ambassadeurs.“ Zitiert nach: Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 7), S. 12, Fußnote 46. 20 Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 3), S. 469.

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1694 den Gesandten des bayerischen Kurfürsten Max Emanuel die öffentliche Audienz verweigert, da dieser „kein souverainer Herr wäre“21. Dies geschah trotz der unmittelbar bevorstehenden Eheverbindung zwischen beiden Häusern, denn der Kurfürst wurde kurz darauf Sobieskis Schwiegersohn. Vor diesem Hintergrund erscheint die Tatsache, dass der Hospodar diese Ehre erhielt, noch rätselhafter: Wie hatte ausgerechnet Vasile Lupu das geschafft, woran so viele andere gescheitert waren, nämlich als Souverän anerkannt zu werden?

Moldauische Hospodare in Osteuropa in der Mitte des 17. Jahrhunderts Auf den ersten Blick erscheint es unwahrscheinlich, dass der moldauische Hospodar im 17. Jahrhundert als souveräner Herrscher wahrgenommen werden konnte. Das Fürstentum war zwischen den lokalen Mächten PolenLitauen, Ungarn und dem Osmanischen Reich eingeklemmt und jonglierte seit seiner Gründung in der Mitte des 14. Jahrhunderts mit wechselnden Treueverhältnissen. Nach der Schlacht bei Mohács, die zum Zusammenbruch des Königreichs Ungarn führte, blieben nur noch die Rzeczpospolita und das Osmanische Reich. Beide erhoben im Rahmen verschiedener rechtlicher und ideologischer Begründungszusammenhänge und auf der Basis unterschiedlicher historischer Präzedenzfälle Anspruch auf die Oberhoheit über das Fürstentum Moldau. Bereits kurz nach der Entstehung des Fürstentums Moldau richtete sich das Augenmerk der polnischen Krone auf die Region, und im Jahr 1387 leistete der Hospodar Petru I. Muşat dem polnischen König den Treueid. Obgleich die polnischen Könige im frühen 15. Jahrhundert noch bis zu einem gewissen Grad in die Auseinandersetzungen um die Nachfolge im Fürstentum eingriffen, war ihr Gesamteinfluss auf die moldauischen Angelegenheiten schwach und verschwand mit der Zeit völlig.22 Nach dem Höhepunkt polnischer Einflussnahme in den 1430er und 1440er Jahren gelang es den Hospodaren, sich von ihren nördlichen Nachbarn praktisch unabhängig zu machen und eigenständig zu handeln.23 Der Versuch Johanns I. Albrecht, das Fürstentum Moldau zu unter21 Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremonial-Wissenschaft der Grossen Herren (…), Berlin 1733, S. 387. 22 Ilona Czamańska, Mołdawia i Wołoszczyzna wobec Polski, Węgier i Turcji w XIV i XV wieku, Posen 1996, S. 290–292. 23 Ebd., S. 277f.

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werfen, endete 1497 in einer vernichtenden Niederlage gegen moldauische und osmanische Truppen. Das 15. Jahrhundert brachte neben dem Rückgang des polnischen Einflusses im Fürstentum Moldau den Beginn der imperialen Herrschaftsordnung der Osmanen in der Region. Nach ersten militärischen Kontakten in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und angesichts der Passivität der polnischen Krone in der Region begann der moldauische Hospodar Petru III. Aron im Jahr 1455 mit Tributzahlungen an das Osmanische Reich.24 Zwar konnte Stephan der Große (1457–1504) in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts noch eine etwas eigenständigere Politik verfolgen, doch letztendlich wurde die osmanische Stellung in der Donauregion gestärkt. Während der ersten Regierungszeit von Petru Rareş (1527–1538) führten Aufstände und insbesondere der Konflikt mit der polnischen Krone dazu, dass die Osmanen ihre Nordflanke sichern und das Fürstentum Moldau unter ihre Oberherrschaft bringen konnten. Eine vollständige Invasion des Fürstentums im Jahre 1538 führte zur Einverleibung der Budschak-Region (rum. Bugeac), dem Hinterland zweier bedeutender Schwarzmeer-Häfen (Kilija und Akkerman), und zur Neustrukturierung der moldauisch-osmanischen Beziehungen.25 Nach der nun geltenden Interpretation war das Fürstentum ein ‚durch das Schwert erobertes‘ Territorium und damit integraler Bestandteil der Memâliki Mahrûse.26 Dieser rechtliche Status besagte, dass der Hospodar lediglich ein Steuereintreiber des Sultans war und zusätzlich die Aufgabe hatte, die moldauische Bevölkerung zu überwachen. Er war verpflichtet, dem Sultan einen jährlichen Tribut zu zahlen – verstanden als eine pauschale Kopfsteuer (cizye maktû) – und der Pforte Vorräte, militärische Unterstützung und Informationen zu liefern.27 Obgleich das Fürstentum Moldau nach innen seine Autonomie bewahren konnte, galt es nach der rechtlichen Auffassung der Osmanen als integraler Bestandteil des imperialen Systems; die moldauischen Fürsten waren insofern lediglich Beamte und Untergebene des Sultans. Bei ihren Audienzen in Istanbul wurden ihnen die Insignien ihrer Macht übergeben: Als Zeichen dafür, dass sie ihre Herrschaft nun im Namen der osmanischen Dynastie ausübten, erhielten sie das Banner des Propheten und wurden damit von jeder eigenständigen Teilnahme am diplomatischen Austausch ausgeschlossen. 24 Ebd., S. 120. 25 Viorel Panaite, Pace, război și comerț în Islam. Țările române și dreptul otoman al popoarelor (sec. XV–XVII), Bukarest 1997, S. 430. 26 Ebd., S. 410–412. 27 Ebd., S. 329–343.

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Diese letzte Bestimmung war allerdings mehr eine Fassade als wirkliche politische Praxis, denn die Osmanen nutzten häufig selbst die Hospodare als Vermittler in delikaten diplomatischen Angelegenheiten, in denen es einen Kompromiss auszuhandeln und zugleich den Anschein absoluter und universeller Herrschaft zu wahren galt.28 Abgesehen von kurzen Unterbrechungen blieb es bei diesen Regelungen bis zum 18., mit Abschwächungen sogar bis zum frühen 19. Jahrhundert. Die polnische Krone hatte allerdings niemals auf ihre Herrschaftsansprüche über das Fürstentum Moldau verzichtet und artikulierte diese auch sowohl gegenüber den Hospodaren als auch gegenüber den Osmanen. Der polnische Hof war darum bemüht, die Pforte aus den bilateralen Beziehungen mit dem Fürstentum möglichst herauszuhalten. Dabei verfolgten die polnischen Könige eine Strategie der ‚doppelten Buchführung‘: Anstatt die osmanischen Ansprüche auf das Fürstentum offen in Frage zu stellen, umgingen sie die Hohe Pforte in ihren diplomatischen Beziehungen zu den Hospodaren und inszenierten häufig sich selbst als wahre Herren über die Fürsten der Moldau.29 Am Ende des 16. Jahrhunderts trat Polen-Litauen in der Region wieder in Erscheinung, als der 1593 ausgebrochene Lange Türkenkrieg die politische Ordnung zum Nachteil der polnischen Krone zu verändern drohte. Die Habsburger fanden Alliierte im Fürsten von Siebenbürgen sowie in den Hospodaren der Moldau und der Walachei. Die beiden letzteren rebellierten gegen die osmanische Oberherrschaft, massakrierten die Garnisonen in Iaşi und Bukarest und unterzeichneten einen formellen Vertrag, in dem sie sich dem Fürsten von Siebenbürgen, Sigismund Báthory, unterwarfen. Diese Rückschläge veranlassten die Osmanen, die Autonomie der Donaufürstentümer zu beschneiden. Im Frühjahr 1595 wurde im Divan der Entschluss gefasst, den Fürstentümern Moldau und Walachei die Autonomie zu entziehen und sie unter direkte osma28 Einen vergleichbaren, aber kohärenteren Fall stellen die frühneuzeitlichen japanisch-chinesischen Beziehungen der Bakufu-Epoche dar. Der japanische Hof unterhielt aus Prestigegründen keine direkten politischen Kontakte zum QingHof, sondern wandte sich an das Königreich von Ryukyu, das unter dem Protektorat beider Reiche stand und damit für die Aufrechterhaltung indirekter diplomatischer Kontakte dienen konnte, ohne dass das Prestige der beiden Parteien als Großreiche gefährdet worden wäre. Vgl. hierzu Ronald Toby, State and Diplomacy in Early Modern Japan: Asia in the Development of the Tokugawa Bakufu, Princeton u.a. 1984, S. 177. 29 Ilona Czamańska, Mołdawia i Wołoszczyzna w stosunkach polsko-tureckich XV– XVII wieku, in: Balcanica Posnaniensia. Acta et studia 4 (1989), S. 301–312, hier S. 305.

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nische Verwaltung zu stellen. In der Folge wurden Beylerbeys für beide Provinzen ernannt und mit den Herrschaftsinsignien ausgestattet.30 Die Inkorporation wurde durch die prompte Reaktion des polnischen Kanzlers und Oberbefehlshabers (hetman wielki) Jan Zamoyski verhindert. Im August 1595 überquerte die polnische Armee die Grenze, setzte den pro-siebenbürgischen Hospodar ab, ernannte den moldauischen Emigranten und polnischen Adligen Ieremia Movilă und erreichte nach einem kurzen Kampf dessen faktische Anerkennung durch die Osmanen. Obgleich die Herrschaft der MovilăDynastie (1595–1611, 1615–1616) nicht offiziell anerkannt war, bedeutete sie in weiten Teilen die Erneuerung der polnisch-litauischen Oberherrschaft über das Fürstentum Moldau, dieses Mal in einer Art inoffiziellem Kondominium mit den Osmanen. Trotz entsprechender Versuche polnischer Diplomaten lehnten die Osmanen die polnisch-litauischen Herrschaftsansprüche ab, die auf der Oberherrschaft der polnischen Könige im 15. Jahrhundert basierten, auf die sie niemals offiziell verzichtet hatten.31 Die polnisch-litauische Verhandlungsposition verschlechterte sich allerdings sehr bald. Die inneren Kämpfe zwischen Mitgliedern der Movilă-Dynastie führten zu deren Absetzung durch die Pforte und zu Kämpfen der beiden Großmächte um den Einfluss im Fürstentum. Höhepunkt war der polnischosmanische Krieg von 1620–21. Nach dem Waffenstillstand von Chotyn sah das Abkommen den Verzicht Polen-Litauens auf jegliche Ansprüche im Fürstentum Moldau vor. Mit Ausnahme einer kurzen Periode im Jahre 1634 beanspruchte die polnische Krone nach 1621 nicht mehr die Oberherrschaft über das Fürstentum Moldau. Sie nutzte jedoch subtilere Mittel, um die Hospodare enger an die Rzeczpospolita zu binden. So konnten die Fürsten der Moldau in den polnischen Adelsstand erhoben werden, wie beispielsweise Miron Barnovschi (Hospodar 1626–1629).32 All diese Bemühungen endeten allerdings 1634, als infolge des erneuten Kriegsausbruchs zwischen Polen-Litauen und dem Osmanischen 30 Mihai Maxim, Voyvodalık ou Beğlerbeğlik? La politique envers les Principautés Roumaines (Novembre 1594 – Fevrier 1596), à la lumière des nouveaux documents turcs, in: Mihai Maxim, Romano-Ottomanica. Essays & Documents from the Turkish Archives, Istanbul 2001, S. 163–172; C. Rotman-Bulgaru, Relațiile Moldovei cu Imperiul Otoman la începutul secolului al XVII-lea, in: Revista de Istorie 29 (1976) Nr. 5, S. 677–695, hier S. 680. 31 Documente privitoare la istoria românilor, Supplement 2, Band I: 1510–1600, culese din arhivele polone, hg. von Ion Bogdan, Bukarest 1893, S. 612–613. 32 Ilona Czamańska, Rumuńska imigracja polityczna w Polsce XVII wieku, in: Balcanica Posnaniensia. Acta et studia 6 (1993), S. 5–22, hier S. 14.

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Reich der pro-polnische Hospodar Moise Movilă gezwungen wurde, nach Polen zu fliehen. Der Prätendent auf den Fürstentitel Miron Barnovschi genoss zwar großes Wohlwollen auf Seiten der moldauischen Eliten, konnte aber nicht die Unterstützung der Pforte erlangen. Auf Betreiben des Obersten Richters (mare vornic) Lupu Coci wurde er hingerichtet und seine Unterstützer inhaftiert. Coci wurde zum neuen Hospodar ernannt und bestieg bald darauf den Thron als Vasile Lupu (1634–1653). Dieser Machtwechsel wurde am polnischen Hof als feindlicher Akt betrachtet; der neue Hospodar galt als Marionette der Osmanen. Der polnische Oberbefehlshaber (hetman wielki) Stanisław Koniecpolski, der faktisch für die diplomatischen Angelegenheiten in der Region zuständig war, drängte bei den Osmanen auf die Absetzung von Vasile Lupu zugunsten eines anderen, gemäßigteren Kandidaten.33 Doch diese Bemühungen führten nicht zum Erfolg. Die Beziehungen zwischen der Rzeczpospolita und dem Fürstentum Moldau verschlechterten sich nach den Auseinandersetzungen zwischen den Gesandten des Königs und dem Hospodar in den Jahren 1636 und 1640 weiter. Vasile Lupu hielt in seinem Fürstentum am pro-osmanischen Kurs fest und ging deutlich auf Abstand zum Königreich Polen-Litauen. Ab Mitte der 1640er Jahre begannen sich die Beziehungen zwischen Polen-Litauen und Vasile Lupu jedoch zu wandeln. Auf polnischer Seite hing dies mit den militärischen Plänen König Władysławs IV. zusammen, der zum Krieg gegen das Osmanische Reich rüstete und einen Kreuzzug auf dem Balkan vorbereitete. Um dies zu erreichen, versuchte er ein Bündnis mit den Fürsten der Moldau und Walachei zu schließen. Auch Vasile Lupu dachte in dieser Zeit daran, seine Beziehungen zum nördlichen Nachbarn zu verbessern. Dafür plante er, seine älteste Tochter Maria mit einem der führenden polnischen Magnaten zu verheiraten.34 Durch die Vermittlung des politischen Freundes des Hospodars, Petru Movilă, kamen die Verhandlungen zwischen Vasile Lupu und Janusz Radziwiłł im Frühjahr 1644 zu einem glücklichen Ende. Dies war der Anlass für die Gesandtschaft vom Dezember desselben Jahres. Die 1640er Jahre markierten insofern ein politisches Umschwenken Vasile Lupus, der sich nicht länger allein auf die Unterstützung der Pforte verlassen wollte und versöhnlichere politische Töne gegenüber der Rzeczpospolita an33 Korespondecja Stanisława Koniecpolskiego, hetmana wielkiego koronnego 1632– 1646, hg. von Agnieszka Biedrzycka, Krakau 2005, S. 248. 34 Wegen Platzmangels habe ich die Beschreibung der Verhandlungen ausgelassen, zumal sie in der Forschung eingehend untersucht worden sind (vgl. hierzu Anm. 2).

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schlug. Dies wurde durch das Bestreben Władysławs IV. erleichtert, den Hospodar stärker an die polnische Krone zu binden. Dies alles jedoch erscheint ebenso wenig wie Radziwiłłs Unterstützung ausreichend, um die Veränderung des Zeremoniells und das Zugeständnis einer öffentlichen Audienz für die moldauischen Gesandten zu erklären. Diese Art von ‚Streicheleinheit‘ war dermaßen außergewöhnlich, dass nicht einmal die Gesandten jener Hospodare in ihren Genuss kamen, die der Rzeczpospolita freundlicher gegenüberstanden als Vasile Lupu. Warum also gewährte Władysław IV. dieses Privileg ausgerechnet dem moldauischen Hospodar, der erst kürzlich zu einem potentiellen Verbündeten geworden war? Um dies zu erklären, muss sich der Blick auf die Herrschaftsinszenierung Vasile Lupus richten, denn kein anderer Donaufürst hat in diesem Bereich Ähnliches geleistet.

Vasile Lupus Strategie der Selbstinszenierung Nicolae Iorga hat in seiner klassischen Studie über die post-byzantinische politische und kulturelle Tradition Vasile Lupu und seinem Umkreis eine beachtliche Anzahl von Seiten gewidmet.35 Für den bekannten rumänischen Gelehrten war die Herrschaftszeit Vasile Lupus, der sich explizit an byzantinische Herrscher anlehnte, einer der Höhepunkte von Byzance après Byzance.36 In dieser Periode relativer Stabilität und Prosperität hatte sich ein Interesse an griechischer Kultur entwickelt, das zu einer Wiederbelebung nicht nur mittelalterlicher byzantinischer, sondern sogar alter griechischer Traditionen führte.37 In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass eine byzantinische Rhetorik und Symbolsprache der Kultur der Donaufürstentümer keineswegs fremd waren. Dumitru Năstase hat gezeigt, dass imperiale Symbole und Ansprüche bei den Hospodaren der Moldau und Walachei bereits im 14. Jahrhundert auftauchten und noch im 17. Jahrhundert auszumachen sind.38 Vasile 35 Nicolae Iorga, Byzance après Byzance, Valenii de Munte 1935, S. 163–80. 36 Ebd., S. 163f. 37 Andrei Pippidi, Tradiția politică bizantină în țările române în secolele XVI– XVIII, Bukarest 2001, S. 298. 38 Dumitru Năstase, Imperial Claims in the Romanian Principalities from the Fourteenth to the Seventeenth Centuries. New Contributions, in: The Byzantine Legacy in Eastern Europe, hg. von Lowell Clucas, Boulder 1988, S. 185–224, hier S. 210–212.

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Lupus Herrschaft unterscheidet sich hiervon jedoch durch die Kohärenz, mit welcher der Hospodar diese Strategie der Selbstinszenierung verfolgte. Einzig die Herrschaftszeit Radu Minheas im Fürstentum Moldau (1616–1619, 1623– 1626) und in der Walachai (1601–1602, 1611–1616, 1621–1623) hatte Ähnliches zu bieten. Dabei ist es auffällig, dass Lupu Coci während der Regierungszeit Radu Mihneas die politische Bildfläche betreten hatte. Noch vielsagender ist die Tatsache, dass nur die Herrschaft dieser beiden Hospodare von dem moldauischen Chronisten Miron Costin mit den Kaisern der Vergangenheit gleichgesetzt wurde.39 Der Bezug auf byzantinische Traditionen wird bereits durch die Wahl des Namens Vasile (griechisch basileios) bei der Thronbesteigung deutlich. Dieser Name entstammte nicht der moldauischen Tradition, sondern bezog sich auf die byzantinischen Kaiser des 9. bis 11. Jahrhunderts40 sowie auf den Titel basileus als Kennzeichen imperialer Macht.41 Wie Constantin Şerban gezeigt hat, versuchte Vasile Lupu auch, seinen vermeintlich autokratischen Regierungsstil zu betonen, indem er, zumindest auf der Ebene der Repräsentation, die Rolle seines Rates herunterspielte und seine Befugnis hervorhob, eigenständig Privilegien zu verleihen.42 Diese Versuche wiederholten sich, so dass sich hier die Existenz einer kohärenten und bewussten Strategie andeutet, um das Prestige der Herrschaft Vasile Lupus durch den Gebrauch imperialer Zeichen zu steigern. Vor allem zeigt sich dies im Bauprogramm und in der Ikonographie der Regierungszeit Lupus, die von Dumitru Năstase gründlich untersucht worden sind. Dem rumänischen Gelehrten zufolge bieten zwei geistliche Stiftungen in Iaşi hier die wichtigsten Anhaltspunkte: das Kloster Golia und die Kirche Trei Ierarhii.43 Ein häufiges Bildmotiv beider Bauten ist ein Kronleuchter in der Form einer geschlossenen (also kaiserlichen) Krone, die jeweils einen doppelköpfigen Adler aufweisen.44 Zwar war dieses Motiv in der Region nicht unbekannt, doch am häufigsten wurde es während der Regierungszeit Vasile Lupus

39 Miron Costin, Opere, Bd. 1, hg. von P.P. Panaitescu, Bukarest 1958, S. 27f. 40 Pippidi, Tradiția politică bizantină (wie Anm. 37), S. 293. 41 Dumitru Năstase, Din nou despre coroana lui Vasile Lupu, in: Arhiva Genealogică 4 (1997) Nr. 1–2, S. 267–284, hier S. 275. 42 Constantin Șerban, Vasile Lupu. Domn al Moldovei (1634–1653), Bukarest 1991, S. 64. 43 Năstase, Din nou despre coroana lui Vasile Lupu (wie Anm. 41), S. 267. 44 Ebd., S. 270.

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verwendet.45 Im Falle von Golia und Trei Ierarhii war das Motiv zudem mit dem Davidstern kombiniert, einem weiteren Bezug auf die traditionelle byzantinische Herrschaftsideologie.46 Einer der wichtigsten Untersuchungsgegenstände für das Verständnis der Regierung Vasile Lupus bleibt die Krone des Hospodars. Năstase zufolge wurde diese Krone 1645 während der Hochzeitsfeierlichkeiten von Maria Lupu und Janusz Radziwiłł in Anwesenheit der Gesandten zahlreicher Monarchen getragen.47 Allein dies ist ein vielsagender Hinweis auf Vasile Lupus Anspruch, mehr zu sein als ein von den Osmanen abhängiger Fürst. Nicolae Iorga bezeichnete die Regierungszeit Vasile Lupus als einen der Höhepunkte des moldauischen Einflusses auf die orthodoxe Kirche im Osmanischen Reich.48 Ihm zufolge habe Vasile Lupu das Kirchenpatronat über das Patriarchat in ähnlicher Weise ausgeübt wie die byzantinischen Herrscher. Vasile Lupu gründete Stiftungen im ganzen Osmanischen Reich und darüber hinaus, von Palestina über Epirus bis hin zu den ruthenischen Provinzen des Königreichs Polen-Litauen.49 Anders als seine Vorgänger griff er darüber hinaus in die politischen Angelegenheiten der orthodoxen Kirche ein und nahm entscheidenden Einfluss auf die Ernennung und Absetzung von Patriarchen, insbesondere im Fall der Absetzung und anschließenden Hinrichtung von Kyrillos Loukaris.50 Noch wichtiger erscheint indes sein Einfluss auf die dogmatischen Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche, insbesondere im Kontext der Streitigkeiten um die stark vom niederländischen Calvinismus beeinflusste Confessio Fidei Orthodoxae von Loukaris.51 Nach vergeblichen Versuchen, den Konflikt zu beenden, berief Vasile Lupu 1642 ein Konzil in der Kirche Trei Ierarhii in Iaşi ein, das er, wie seine byzantinischen Vorbilder, persönlich leitete.52 Das Konzil von 45 46 47 48 49

Năstase, Imperial Claims (wie Anm. 38), S. 206. Năstase, Din nou despre coroana lui Vasile Lupu (wie Anm. 41), S. 268. Ebd., S. 270. Iorga, Byzance (wie Anm. 35), S. 163. Petronel Zahariuc, Din Epir în Polonia. Frânturi din activitatea ctitorească a lui Vasile Lupu, in: Anuarul Institutului de Istorie „A.D.Xenopol“ 42 (2005), S. 71– 81. 50 Iorga, Byzance (wie Anm. 35), S. 164. 51 Paschalis M. Kitromilides Orthodoxy and the West: Reformation to Enlightenment, in: The Cambridge History of Christianity, Bd. 5, hg. von Michael Angold, Cambridge u.a. 2008, S. 193–199. 52 Iorga, Byzance (wie Anm. 35), S. 167; Năstase, Din nou despre coroana lui Vasile Lupu (wie Anm. 41), S. 271.

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Iaşi verurteilte Loukaris’ Glaubensbekenntnis und sprach sich für das des Metropoliten von Kiew, Petru Movilă, aus, der ein politischer Verbündeter des Hospodaren in Polen-Litauen war.53 Ein anderes, entscheidendes Feld politischer Propaganda war der Hof. So wurde die Residenz in Iaşi während der Regierungszeit Lupus vergrößert, und der Hof bekam, wie Andrei Pippidi gezeigt hat, einen kosmopolitischen Charakter, was von den Zeitgenossen nicht unbemerkt blieb.54 Paul Beke bemerkte, der Hof sei voller „Türken, Tartaren, Polen, Ungarn, Italiener sowie Moldauer, Griechen, Armenier, Ruthenier und Bulgaren.“55 Zeitgenössische Autoren stellten eine Verbindung zum osmanischen Hof her; Marco Bandini nannte den Hof des Hospodaren den „Schatten des Sultanshofs“.56 Eine solche Verbindung wurde auch im moldauischen Vokabular gezogen, wo man begann, den Begriff „Pforte“ auch für die Residenz des Hospodaren zu benutzen.57 Sichtbar wurde dieses ‚imperiale Projekt‘ auch bei den Empfängen polnischlitauischer Gesandter.58 So war es sowohl vor als auch nach der Zeit Vasile Lupus üblich, dass die Fürsten die Gesandten persönlich vor den Toren der Stadt einholten. Dies änderte sich unter Lupu grundlegend. In den beiden Fällen dieser Zeit, für die Quellen vorhanden sind (Gesandtschaften von 1636 und 1640), werden Konflikte zwischen den polnisch-litauischen Diplomaten und dem Hospodar erwähnt, die das Zeremoniell betrafen. Hauptkonfliktpunkt war in beiden Fällen die Weigerung Lupus, persönlich zu den Empfangszeremonien der polnischen Gesandten zu erscheinen.59 Vasile Lupu schien sich seines Status’ und seiner zeremoniellen Vorrechte sehr bewusst zu sein und reagierte im Kontext der Beziehungen zu Polen-Li53 Cătălina Checlu, Sinodul de la Iași (1642) – o evaluare istoriografică, in: Anuarul Institutului de Istorie „A.D.Xenopol” 46 (2009), S. 383–392, hier S. 385. 54 Pippidi, Tradiția politică bizantină (wie Anm. 37), S. 293. 55 Călători străini prîvind Țările Române, Bd. 5, hg. von Maria Holban/Maria Madalina Alexandrescu-Dersca Bulgaru/Paul Cernovodeanu, Bukarest 1973, S. 280. 56 Pippidi, Tradiția politică bizantină (wie Anm. 37), S. 46f. 57 Ebd., S. 45. 58 Eine umfassende Analyse der zeremoniellen Konflikte während der Einzüge der polnisch-moldauischen Gesandtschaften in Iași in: Michał Wasiucionek, Ceremoniał i polityka. Intrady posłów polskich w Jassach w XVII wieku. Zarys problematyki, Wschodni Rocznik Humanistyczny 7 (2010–2011), S. 109–118; ders., Ceremoniał jako polityka: Intrady posłów wielkich Rzeczypospolitej do Jass w latach 1622–1714, Masterarbeit an der Universität Warschau, 2011. 59 Ders., Ceremoniał jako polityka (wie Anm. 58), S. 118.

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tauen stark auf jeglichen Affront. Ein Fall ist besonders vielsagend: 1640 weigerte sich Vasile Lupu, den Anführer der polnischen Gesandtschaft, Wojciech Miaskowski, während dessen feierlichen Einzugs persönlich zu begrüßen. Daraufhin schickte Miaskowski zur öffentlichen Audienz lediglich einige Adlige aus seinem Gefolge, um die Schreiben des polnischen Königs zu übergeben, was wiederum den Hospodar in Rage brachte: Dieser „wollte [die Briefe] nicht annehmen und erklärte Herrn Kossakowski: […]‚ der König gab diese Briefe nicht Euch, sondern dem Gesandten; und ich will sie vom Gesandten selbst erhalten, nicht von Euch.‘ Herr Kossakowski versuchte, ihm die Briefe zu übergeben, doch er nahm sie nicht an.“60 Das Resultat dieses Vorfalls war eine Verschlechterung der moldauisch-polnischen Beziehungen sowie – unmittelbar – Lupus Verbot, den Mitgliedern der Gesandtschaft auf ihrem Weg durch das Fürstentum Nahrung und Unterkunft zur Verfügung zu stellen.61 Diese Zeremonialstreitigkeit führte zu einer diplomatischen Krise, die bis Mitte der 1640er Jahre andauerte. An anderer Stelle habe ich gezeigt, dass die Gründe für diese diplomatische Krise nicht persönlicher Natur waren, wie einige Quellen und Gelehrte annahmen, sondern vielmehr im Zeremoniell und in der Herrschaftsauffassung zu verorten sind.62 In ihrer Stellungnahme zu einem ähnlichen Konflikt hinsichtlich der Empfangszeremonie aus dem Jahre 1667 argumentierten die Moldauer, dass der Hospodar nicht mehr verpflichtet war, derartige Unterwerfungsrituale durchzuführen, da der polnische König nicht länger die Oberherrschaft über das Fürstentum innehatte.63 Zwar belebten einige Hospodare nach 1667 diese Praxis wieder, obgleich sie keine Vassallen des polnischen Königs mehr waren; doch die Verbindung zwischen diesem Zeremoniell und dem Status der Abhängigkeit des Hospodaren erscheint uns ebenso klar wie den Zeitgenossen.64 Es ist also kein Wunder, dass Vasile Lupu, der sein Prestige durch imperiale 60 Wielka legacja Wojciecha Miaskowskiego do Turcji w 1640 r., hg. von Adam Przyboś, Warschau u.a. 1985, S. 110. 61 Ebd., S. 114. 62 Wasiucionek, Ceremoniał i polityka (wie Anm. 58), S. 116f. 63 Ebd., S. 115; Wasiucionek, Ceremoniał jako polityka (wie Anm. 58), S. 85. 64 Wasiucionek, Ceremoniał i polityka (wie Anm. 58), S. 117. Ein ähnliches Argument bringt Constantin Șerban vor, in: Șerban, Vasile Lupu (wie Anm. 42), S. 129. Nichtsdestotrotz nimmt der rumänische Wissenschaftler an, dass es eine direkte Verbindung zwischen dem rechtlichen Status und der zeremoniellen Umsetzung gab, während die Beziehung der beiden Bereiche doch mehr Resultat von Aushandlungsprozessen als von anerkannten rechtlichen Normen gewesen zu sein scheint.

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Herrschaftssymbolik zu steigern versuchte, sich dieser Praxis vehement verweigerte. All diese Elemente könnten als eine Folge des Größenwahns oder des streitbaren Charakters von Vasile Lupu erscheinen, wenn man sie nur einzeln betrachtet. Zusammen genommen ergeben sie jedoch ein kohärentes Programm der Selbstinszenierung. So scheint es gerechtfertigt anzunehmen, dass der moldauische Hospodar danach trachtete, sich als Nachfolger der orthodoxen basilei und als Schutzherr der orthodoxen Kirche zu inszenieren. Die Nutzung traditioneller Symbole imperialer Herrschaft sowie die Versteifung und zunehmende Kompliziertheit des Zeremoniells ermöglichten es ihm, sich nach dem Vorbild der byzantinischen Kaiser zu entwerfen. Was steckte aber hinter diesem Spektakel der Macht? Und was machte Vasile Lupu so besonders und zugleich so erfolgreich in seiner Selbstinszenierung? Allem Anschein nach gelang ihm, was kaum einem seiner Vorgänger glückte: nämlich die Anerkennung seiner Legitimität als souveräner Herrscher nicht nur in seinem kleinen Herrschaftsgebiet zu erreichen, sondern auch durch zumindest ein Mitglied der société des princes. Um als ein legitimes Mitglied dieses exklusiven Clubs anerkannt zu werden, ohne zugleich seine Legitimität als Schutzherr der orthodoxen Christenheit zu verlieren, musste er auf das Vorbild aller orthodoxer Herrscher zurückgreifen – auf die byzantinischen Kaiser.

War Vasile Lupu ein Kaiser? Post-byzantinische Vorbilder von Souveränität und die Erfahrung des moldauischen Zeremoniells Aufgrund seiner Untersuchung der imperialen Repräsentationen der moldauischen Hospodare kam Dumitru Năstase zu dem Ergebnis, dass die Fürsten der Moldau eine ‚byzantinische‘ Agenda verfolgten; ihr Ziel sei es gewesen, innerhalb des Osmanischen Reichs ein orthodoxes krypto-Imperium zu erschaffen mit dem Ziel, die christliche Population aus dem „türkischen Joch“ zu befreien.65 Ziel der moldauischen Hospodare sei es demnach gewesen, das orthodoxe Byzantinische Reich zumindest auf dem osmanischen Balkan wiedererstehen zu lassen. Die imperiale Symbolik wäre dann nur Teil einer ‚großen

65 Năstase, Imperial Claims (wie Anm. 38), S. 209; Năstase, Din nou despre coroana lui Vasile Lupu (wie Anm. 41), S. 270f.

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Strategie‘ Vasile Lupus, deren letztendliches Ziel eine wirkliche Kaiserkrone gewesen wäre. Die Analyse der diplomatischen Entscheidungen Vasile Lupus widerspricht dem jedoch. Während seiner Regierungszeit blieb der Hospodar den Osmanen eng verbunden und diente ihren Interessen recht gut, indem er den Frieden an der Nordflanke des Reichs sicherte und Geheiminformationen über die Entwicklungen im russischen Zarenreich und in Polen-Litauen sammelte. Selbst nach der Neuausrichtung der Beziehungen zu Polen blieb er der Pforte treu ergeben. Als Władysław IV. Vasile Lupu mit Hilfe von Janusz Radziwiłł dazu drängte, sich der geplanten Koalition gegen die Osmanen anzuschließen, fiel die Antwort halbherzig aus, und es scheint, als sei der Hospodar ganz zufrieden damit gewesen, dass die grandiosen Pläne des polnischen Königs auf dem Sejm von 1646 scheiterten. Sein Ziel war, die eigene Position im Fürstentum Moldau zu stärken und seine Herrschaft über die Walachei auszudehnen. Es ist zweifelhaft, ob er sich dem überzogenen Projekt einer Wiedererrichtung des Byzantinischen Reichs verschrieben hatte. Der imperiale Anspruch und seine wiederholt entsprechend eingeschätzte Regierungszeit können indes nicht vernachlässigt werden. Die Antwort scheint im diplomatischen Ringen um Souveränität sowie im Modell einer post-byzantinischen Weltordnung zu liegen. Ähnlich wie die westeuropäische société des princes basierte das post-byzantinische Modell auf der Annahme einer natürlichen, gottgegebenen Hierarchie der Gesellschaft, die einer ‚Familie von Königen‘ ähneln sollte. Der Begriff Souveränität war dabei jedoch auf den Kaiser beschränkt, und diese Konzeption behielt ihre Gültigkeit selbst in den letzten Jahren des Byzantinischen Reichs. Dies wurde vom Patriarchen von Konstantinopel Antonios IV. noch 1393 in einem Schreiben an den Großfürsten von Moskau, Wassili I., betont. Der Patriarch wies hier den Souveränitätsanspruch des Moskauers zurück: „Höre was der Fürst der Apostel, Paulus, in seinem ersten Brief schreibt: ‚Fürchte Gott, verehre den Kaiser‘. Er sagte nicht: ‚die Kaiser‘, so dass niemand mutmaßen könnte, er meinte die sogenannten Kaiser bestimmter Nationen; sondern [er sagte] ‚der Kaiser‘, damit gezeigt würde, dass es auf der Welt nur einen einzigen Kaiser gibt.“66

66 Englische Übersetzung nach: George Ostrogorski, The Byzantine Emperor and the Hierarchical World Order, in: The Slavonic and East European Review 35 (1956) Nr. 84, S. 1–14, hier S. 9.

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Zu jener Zeit war dies nichts als eine politische Fiktion, jedoch eine starke. In der orthodoxen Welt war der Status als Souverän einzig dem Kaiser vorbehalten. Die Macht aller anderen Herrscher war nur vom Kaiser abgeleitet, wodurch ihnen der volle Zugang zur Fürstengesellschaft verwehrt blieb. 67 Auch in der post-byzantinischen Tradition war Souveränität daher eng mit dem Kaisertitel verknüpft. Obgleich die Herrscher nach innen die Rechte und die Rhetorik des Kaisertums beanspruchten (die Fürsten der Moldau und der Walachei leiteten ihre Herrschaft direkt von Gott ab), galt innerhalb der orthodoxen Fürstengesellschaft einzig der Zar als vollwertiges Mitglied, da er für sich die Nachfolge von Byzanz in Anspruch nahm. Die Aufgabe, in die Fürstengesellschaft aufzusteigen, ohne zugleich seine Legitimität als orthodoxer Herrscher zu verlieren, schränkte den Handlungsspielraum Vasile Lupus ein, zumal es auch noch galt, die Position des Fürstentums Moldau als integralen Bestandteils des Osmanischen Reichs nicht zu gefährden. Im Endeffekt weitete er also die in der moldauischen Herrschaftsideologie bereits vorhandene imperiale Rhetorik aus und wandte sie auf seine Beziehungen zur Rzeczpospolita an. Aus diesem Grund konnte er in seinen Beziehungen zu Mächten außerhalb des osmanischen Herrschaftsbereichs einen kühnen Umgang mit den Spielregeln des Zeremoniells wagen, während er sich innerhalb des imperialen Systems der Osmanen absolut folgsam gegenüber den Erwartungen erwies, die an einen Gefolgsmann der Pforte gestellt wurden. Auch wenn er sich einer imperialen Rhetorik befleißigte, schien Vasile Lupu zu keinem Zeitpunkt bereit zu sein, die osmanische Vorherrschaft in der Region in Frage zu stellen. Năstases Konzept eines ‚Krypto-Imperiums‘ erweist sich somit als wenig plausibel, während seine Analyse der imperialen Ideologie Vasile Lupus durchaus korrekt erscheint. Diese traditionellen ideologischen Mittel dienten allerdings zur Erreichung eines Ziels, das einer anderen ideologischen und politischen Ordnung der Frühen Neuzeit angehörte: jener der westeuropäischen Fürstengesellschaft. Um als orthodoxer Fürst in diese aufsteigen zu können, musste Lupu das Bild eines wahrhaft orthodoxen Herrschers aufrecht erhalten und dabei zugleich ein neues Bild erschaffen – das eines Souveräns. Kurz: Er musste die Anerkennung seiner Legitimität durch zwei verschiedene Gruppen erreichen: durch seine orthodoxen Untertanen und durch die europäischen Fürsten. Beide Gruppen legten dabei unterschiedliche Legitimitätskriterien an. Daher entschied er sich dazu, jenes Vorbild aufzugreifen, das beides integrierte: das des orthodoxen Kaisers. 67 Ebd., S. 13.

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Neben dem Problem des Zugangs zur Fürstengesellschaft und dem der Legitimität gegenüber seinen Untertanen musste Vasile Lupu allerdings noch ein weiteres Problem lösen: jenes der osmanischen Oberherrschaft. Dabei ging es um die Frage, wie er seinen Souveränitätsanspruch gegenüber der Hohen Pforte geheim halten konnte. Hierzu folgte er einer Strategie, die sich grundsätzlich von jener unterschied, die er gegenüber Polen-Litauen und seinen eigenen Untertanen anwandte. Anstatt verschiedene politische Ordnungen zu verbinden und zu verschmelzen, nutzte er die kulturelle Differenz, um zu verhindern, dass die Osmanen gegen seine Herrschaft vorgingen.

Die Simulation von Souveränität: kulturelle Differenz und Selbstdarstellungsstrategien Sein Vasallenstatus gegenüber dem Osmanischen Reich war für den Fürsten der Moldau das Haupthindernis, wenn es um die Behauptung seiner Souveränität ging. Das Fürstentum war nach der Eroberung durch Süleyman im Jahre 1538 in das zentralistisch organisierte imperiale System der Osmanen eingegliedert worden und agierte nun im Rahmen des hanafitischen ius gentium und des osmanischen Universalismus.68 Obgleich dieses System von dem der europäischen Fürstengesellschaft nicht vollständig isoliert war, behielt es doch seine Besonderheit bis ins 18. Jahrhundert.69 Das bedeutet freilich nicht, dass die Osmanen selbst oder die von ihnen abhängigen Herrscher auf dieses System beschränkt gewesen wären und mit der europäischen Fürstengesellschaft nicht auch interagiert hätten.70 Tatsächlich war sogar das Gegenteil der Fall. Dass die Osmanen, wie Nuri Yurdusev behauptet, eine positive Haltung zur Diplomatie gepflegt hätten, mag zwar leicht übertrieben erscheinen, doch zweifellos nahmen sie Teil an der diplomatischen Praxis der europäischen Fürstengesellschaft. Dasselbe galt für die Tributärfürsten. Das deutlichste Beispiel hierfür war das Fürstentum Siebenbürgen, das praktisch beiden Systemen angehörte. Ganz ähnlich unterhielt das Krimkhanat eigene diplomatische Beziehungen zu Polen-Litauen und dem Großfürstentum Moskau. Die Hospodare der Moldau und der Walachei waren 68 Panaite, Pace, război și comerț (wie Anm. 25), S. 63. 69 A. Nuri Yurdusev, The Ottoman Attitude toward Diplomacy, in: Ottoman Diplomacy. Conventional or Unconventional?, hg. von A. Nuri Yurdusev, Basingstoke 2003, S. 1–36, hier S. 6. 70 Yurdusev, The Ottoman Attitude (wie Anm. 69), S. 6f.

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in ihrer Bewegungsfreiheit stärker eingeschränkt als andere europäische Vasallen der Osmanen. Dennoch waren sie nicht völlig machtlos, und bis zu einem gewissen Grad wurde die Teilnahme an der europäischen Diplomatie von den Osmanen toleriert, ja sogar ermutigt. Um am europäischen Staatensystem teilhaben zu können, mussten die Tributärstaaten ein passendes Legitimitätsnarrativ entwickeln, das sich von dem im osmanischen Imperialsystem verwendeten unterschied. In diesem Zusammenhang bietet die von Lovro Kunčević unternommene Studie der unterschiedlichen Diskurse in der Republik Ragusa erhellende Einblicke. Die Republik profitierte von ihrer Mittlerposition zwischen der mediterranen und der osmanischen Welt, indem sie im Kontakt zu den christlichen Mächten eine antemurale christianitatis-Rhetorik pflegte und sich zugleich als loyale Untertanin der Hohen Pforte präsentierte.71 Eine solche Strategie der doppelten Legitimierung – einerseits innerhalb des osmanischen Systems, andererseits innerhalb der Fürstengemeinschaft – war folglich unter den Tributärstaaten der Hohen Pforte nicht ungewöhnlich. So verhielt es sich auch im Falle von Vasile Lupu. Seine Besonderheit bestand allerdings darin, dass er zugleich versuchte, seinen Status unter den europäischen Herrschern signifikant zu verbessern und in den Kreis der Souveräne aufgenommen zu werden. Dafür mussten die traditionellen – auch von den Osmanen akzeptierten – moldauischen Formen der Machtrepräsentation auf der europäischen Bühne verändert werden. Dabei nahm der Hospodar allerdings das Risiko auf sich, eine Grenze zu überschreiten, jenseits derer die Hohe Pforte den allzu großen Ehrgeiz ihres Vasallen nicht länger tolerieren konnte. Gegenüber den Osmanen musste der Hospodar seine Ambitionen folglich herunterspielen und seine Loyalität gegen den Sultan betonen. Auch war es in seinem Interesse, die beiden Systeme so weit wie möglich voneinander zu isolieren. Sein Erfolg hing somit ganz entscheidend davon ab, inwieweit Vasile Lupu die politische Kommunikation72 kontrollieren und die ethnischen Bindungen und Bündnisse an der Pforte pflegen konnte.73

71 Lovro Kunčević, Retorika granice kršćanstva u diplomaciji renesansnog Dubrovnika, in: Anali Dubrovnik 48 (2010), S. 179–211. 72 Filippo de Vivo, Information and Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford u.a. 2007, S. 14. 73 Ibrahim Metin Kunt, Ethnic-Regional (Cins) Solidarity in the Seventeenth-Century Ottoman Establishment, in: International Journal of Middle East Studies 5 (1974) Nr. 3, S. 233–239.

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Langfristig scheint der Hospodar erfolgreich darin gewesen zu sein, sich die Unterstützung der Pforte zu sichern, indem er erfolgreich Informationen vermittelte und die Osmanen von seiner Loyalität und Nützlichkeit überzeugte. Manches sickerte allerdings doch gelegentlich zu den Osmanen durch. In diesem Zusammenhang müssen beispielsweise die Gerüchte um Lupus Pläne einer Kaiserkrönung verstanden werden. Diese Gerüchte besagten, der Hospodar plane eine Verschwörung, „um sich selbst mit der Mitra des Patriarchen zu krönen.“74 Was Andrei Pippidi nur als Verleumdung gegen den Hospodaren ansah75 und Dumitru Năstase als Teil eines Plans, das Byzantinische Reich wieder auferstehen zu lassen76, muss in Wirklichkeit als das Herüberschwappen einer Repräsentationsform von einem politischen Kommunikationsraum in den anderen verstanden werden. Seine Selbstinszenierung als Souverän war dem Hospodaren in dem einen Kommunikationsraum nützlich; in dem anderen konnte sie für ihn katastrophale Folgen haben. Lupu gelang es, den durch diesen nicht intendierten und ungewollten politischen Kommunikationsakt verursachten Schaden einzudämmen, und er blieb an der Macht, bis der Chmelnyzkyj-Aufstand die politische Ordnung Osteuropas neu konfigurierte, was unter anderem die Absetzung des Hospodaren mit sich brachte.

Fazit In der Welt der frühneuzeitlichen Diplomatie war Vasile Lupu nur ein kleines Licht. Seine Ausgangsposition war alles andere als günstig, stand er doch unter starker osmanischer Kontrolle und befand sich dazu noch in einem Konflikt mit der anderen Großmacht der Region, Polen-Litauen, das ebenfalls Anspruch auf die Oberherrschaft über das Fürstentum erhob. Als Vasall des Osmanischen Reichs war er praktisch ausgeschlossen aus der société des princes, zu der nur souveräne Herrscher zugelassen wurden. Da Vasile Lupu nicht kämpfen konnte (und, wie es scheint, auch nicht wollte), um souveränen Status zu erlangen, blieben ihm, um die diplomatische Bühne zu besteigen, nur Innovation und Simulation. Dabei durfte er nicht die Aufmerksamkeit der Pforte erregen.

74 Nach Pippidi, Tradiția politică bizantină (wie Anm. 37), S. 297. 75 Ebd., S. 297. 76 Năstase, Din nou despre coroana lui Vasile Lupu (wie Anm. 41), S. 270.

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Dass der Hospodar dabei mit divergierenden rechtlichen und ideologischen Traditionen umgehen musste, brachte in dieser Situation sowohl Möglichkeiten als auch Hindernisse mit sich. Die Existenz zweier verschiedener und komplementärer Systeme der Diplomatie – das imperiale osmanische System und die christlich-europäische société des princes – erlaubte es ihm, verschiedene Rollen zu spielen und unterschiedliche Selbstinszenierungen zu praktizieren. Den Osmanen gegenüber gab er sich vor allem als loyaler Vasall; den polnisch-litauischen Gesandten gegenüber inszenierte er sich als Souverän. So jonglierte er in der einen Hand mit dem Bild des treuen Untertanen des Sultans, in der anderen mit jenem des christlichen Souveräns. Um seine Ziele zu erreichen, musste er darüber hinaus eine weitere Tradition bedienen. Die post-byzantinischen Traditionen waren das Fundament seiner Herrschaft im Fürstentum Moldau und seines Einflusses auf die orthodoxe Kirche unter osmanischer Herrschaft. Dieser Tradition zufolge gab es nur einen wahren Souverän: den orthodoxen Kaiser. Um sowohl die Rolle des wahrhaft orthodoxen Herrschers als auch jene eines vollwertigen Mitglieds der Fürstengesellschaft ausfüllen zu können, nutzte Vasile Lupu die ihm zur Verfügung stehende Symbolwelt. Er wandte byzantinische Machtvorstellungen an, die in Institution und Rhetorik der moldauischen Hospodare überliefert waren, und erweiterte sie, um seinen Zielen näher zu kommen. Diese Mittel wandte er konsequent in seinen diplomatischen Beziehungen und in seiner zeremoniellen Praxis an, so dass sie ihm zusammen mit einer geschickten diplomatischen Strategie dabei halfen, sein Ziel zu erreichen: 1644 wurde er durch den polnischen König als legitimes Mitglied der Fürstengesellschaft akzeptiert. Dies war zwar nur ein singuläres Ereignis; im Kontext des begrenzten politischen Handlungsspielraums des Hospodars aber kam ihm eine besondere Bedeutung zu. Die öffentliche Audienz im Dezember 1644 war deshalb keine bloße ‚Streicheleinheit‘ ohne Konsequenzen, sondern ein wichtiger diplomatischer und symbolischer Akt, durch den der Hospodar der Moldau als souveräner Herrscher anerkannt wurde, obwohl er ein Tributärfürst des osmanischen Sultans war. Dies war zugleich die Wirkung einer elaborierten und komplexen Strategie, deren Ziel es war, die Aufnahme in jenen exklusiven Kreis von Herrschern zu erreichen, die sich ihren Status durch das Entsenden und Empfangen von Botschaftern wechselseitig bestätigten. In der Audienz selbst, so ließe sich resümieren, gab es nichts Transkulturelles; der Prozess hingegen, der zu dieser Audienz geführt hatte, war durch und durch transkulturell.

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Ein Königreich für einen Botschafter Die Audienzen Thomas Bendishs in Konstantinopel während des Commonwealth* Florian Kühnel Um ihn zu demütigen, verweigerte der Großwesir in einer Audienz Thomas Bendish, Mitte des 17. Jahrhunderts englischer Botschafter in Konstantinopel,1 seinen Sitzplatz. Bendish ließ daraufhin angeblich einen seiner Begleiter auf allen Vieren niederknien und setzte sich auf dessen Rücken. Auch bei weiteren Audienzen Bendishs am osmanischen Hof soll es zu ähnlichen Zwischenfällen gekommen sein.2 So habe einmal der französische Botschafter einen ehrenvolleren Sitzplatz erhalten, woraufhin ihn Bendish zu Boden warf und sich an seiner Stelle auf den Stuhl setzte. Ein anderes Mal, nachdem es zu einem harten Wortgefecht mit dem Großwesir gekommen war, sei Bendish von seinem Platz aufgesprungen und habe seinen Stuhl quer durch den Raum getreten. Seit einigen Jahren schon widmet sich die Forschung verstärkt dem Phänomen der ‚symbolischen Kommunikation‘, besonders im Zusammenhang mit politischen Ritualen.3 Dabei spielt gerade die Frage des Sitzens eine herausragende Rolle, maßen doch die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Menschen selbst ihr eine große Bedeutung bei. Wer wo saß, gab in der ‚sozialen Logik des Raumes‘4 nicht nur Auskunft über bestehende Rangverhältnisse – in * Für Lektüre und konstruktive Kritik danke ich Matthias Bähr und André Krischer. 1 Auch „Bendysh“ oder „Bendyshe“. Die Schreibweise der Namen in diesem Beitrag folgt dem Oxford Dictionary of National Biography. Zu Bendishs Person siehe den biographischen Überblick Liane Saunders, Bendish, Sir Thomas, second baronet (1607–1674), in: Oxford Dictionary of National Biography. From the Earliest Times to the Year 2000, hg. von H. C. G. Matthew/Brian Harrison, 60 Bde., Oxford 2004, hier Bd. 5, S. 61f. 2 Diese berichtet Philip Morant, The History and Antiquities of the County of Essex. Compiled from the Best and Most Ancient Historians, 2 Bde., London 1768, hier Bd. 2, S. 352. 3 Programmatisch hier Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527. 4 Marian Füssel, Rang und Raum. Gesellschaftliche Kartographie und die soziale Logik des Raumes an der vormodernen Universität, in: Raum und Konflikt. Zur

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den Sitzordnungen manifestierte sich vielmehr erst der Rang der beteiligten Akteure, das heißt, er wurde performativ hergestellt.5 Es ist somit nicht verwunderlich, dass Thomas Bendish in seinen Audienzen am osmanischen Hof ebenfalls besonderen Wert darauf legte, seiner Stellung gemäß zu sitzen. Wie bei ihm, so kam es allerdings auch in den Audienzen anderer westlicher Gesandter häufiger zu Zwischenfällen, die als äußerst demütigend empfunden wurden.6 Bendishs Zeitgenosse Paul Rycaut, ein hervorragender Kenner der Materie,7 kam daher zu dem Schluss, dass an einen westlichen Botschafter im symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, hg. von Christoph Dartmann/Marian Füssel/Stefanie Rüther, Münster 2004, S. 175–197. Zur englischen Forschung siehe allgemein Janette Dillon, The Language of Space in Court Performance, 1400–1625, Cambridge u.a. 2010. 5 Siehe Hans-Werner Goetz, Der ‚rechte‘ Sitz. Die Symbolik von Rang und Herrschaft im Hohen Mittelalter im Spiegel der Sitzordnung, in: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift für Harry Kühnel zum 65. Geburtstag, hg. von Gertrud Blaschitz u.a., Graz 1992, S. 11–47; Robert Tittler, Seats of Honor, Seats of Power: The Symbolism of Public Seating in the English Urban Community, c. 1560–1620, in: Albion 24 (1992), S. 205–223; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, hier besonders S. 40–46, 55–64; Tim Neu, Sitzen, sprechen und votieren. Symbolische und instrumentelle Dimensionen landständischer Handlungssequenzen in Hessen-Kassel (17./18. Jahrhundert), in: Zelebrieren und Verhandeln. Zur Praxis ständischer Institutionen im frühneuzeitlichen Europa, hg. von dems./Michael Sikora/Thomas Weller, Münster 2009, S. 119–143; ders., The Importance of Being Seated. Ceremonial Conflict in Territorial Diets, in: The Holy Roman Empire, Reconsidered, hg. von Jason P. Coy/Benjamin Marschke/ David W. Sabean, New York/Oxford 2010, S. 125–142; Peter Burschel, “j’avais le plaisir de me voir comparée à tous les astres”. Gelebte Räume in den Memoiren der Kurfürstin Sophie von Hannover, in: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, hg. von Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser, Köln u.a. 2012, S. 335–347, hier S. 339–341. 6 Eine Reihe von Beispielen werden genannt bei Philip Mansel, Constantinople. City of the World’s Desire, 1453–1924, London 2006, S. 193, 196f.; Alison Games, The Web of Empire. English Cosmopolitans in an Age of Expansion, 1560–1660, Oxford 2008, S. 158; Dariusz Kołodziejczyk, Semiotics of Behavior in Early Modern Diplomacy: Polish Embassies in Istanbul and Bahcesaray, in: Journal of Early Modern History 7 (2003), S. 245–256; siehe auch den Beitrag von Christine Vogel in diesem Band, Seite 221. 7 Rycaut (1629–1700) war zwischen 1661 und 1667 Sekretär des englischen Botschafters in Konstantinopel Heneage Finch, Earl of Winchilsea. Anschließend war er bis 1678 Konsul in Smyrna. Er verfasste mehrere Schriften über das Osmanische Reich, die viele Neuauflagen erreichten und auch in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Zu seiner Biographie und seinen Werken siehe Sonia P.

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Osmanischen Reich ganz besondere Anforderungen gestellt würden: „Embassadours in this Country have need both of courage and circumspection, wisdom to dissemble with honour, and discreet patience, seemingly to take no notice of Affronts and Contempts, from which this uncivilized people cannot temperate their Tongues, even when they would seem to put on the most courteous deportment and respect towards Christians.“8 Ein Botschafter müsse daher jede Situation vermeiden, bei der seine Ehre verletzt werden könnte, da er mit seinem Ansehen auch seinen Einfluss an der Pforte verlöre.9 Diesen unsicheren Status der westlichen Gesandten im Osmanischen Reich erklärte Rycaut mit der fehlenden Achtung der Osmanen vor dem „Law of Nations“ im Sinne Hugo Grotius’10 und führte damit dieselbe Erklärung an, wie sie auch heute vertreten wird. Denn obwohl das Osmanische Reich ein wichtiger Faktor im europäischen Mächtesystem war, galten dort nicht die diplomatischen Regeln des christlich-europäischen Völkerrechts.11 Das führte etwa dazu,

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Anderson, An English Consul in Turkey. Paul Rycaut at Smyrna, 1667–1678, Oxford 1989; dies., Rycaut, Sir Paul (1629–1700), in: National Biography (wie Anm. 1), Bd. 48, S. 439–442. Vgl. außerdem Colin J. Heywood, Sir Paul Rycaut (1628–1700), a Seventeenth-Century Observer of the Ottoman State. Notes for a Study, in: Writing Ottoman History. Documents and Interpretations, hg. von dems., Aldershot u.a. 2002 [Orig. 1972]. Paul Rycaut, The Present State of the Ottoman Empire. Containing the Maxims of the Turkish Politie, The most material Points of the Mahometan Religion, Their Sects and Heresies, their Convents and Religious Votaries, In Three Books, London 1667, hier Book I, S. 89. Ebd., S. 90: „An Embassadour in this Court ought to be circumspect and careful to avoid the occasion of having his honour blemished, or of occurring the least violation of his person; for afterward as one baffled in his reputation, he becomes scorned, loses his power and interest, and all esteem of his worth and wisdom“. Ebd., S. 85–89. Da die Osmanen ihrem Anspruch nach über die ganze Welt herrschen sollten, existierte bei ihnen nicht die Vorstellung der Gleichheit der Völkerrechtssubjekte, wie sie sich in Westeuropa auszubilden begann. So kam es beispielsweise regelmäßig vor, dass die Immunität von Diplomaten verletzt wurde. Nuri A. Yurdusev, The Ottoman Attitude toward Diplomacy, in: Ottoman Diplomacy. Conventional or Unconventional?, hg. von dems., Basingstoke 2004, S. 5–35; Guido Komatsu, Die Türkei und das europäische Staatensystem im 16. Jahrhundert. Untersuchungen zu Theorie und Praxis des frühneuzeitlichen Völkerrechts, in: Recht und Reich im Zeitalter der Reformation. Festschrift für Horst Rabe, hg. von Christine Roll, Frankfurt a.M. u.a. 1996, S. 121–144; Matthew S. Anderson, The Rise of Modern Diplomacy, 1450–1919, London u.a. 1993, S. 9, 30f., 71–73; Hans Kruse, Die Begründung der islamischen Völkerrechtslehre, in: Saeculum 5 (1954), S. 221–241. Zum sich ausbildenden ‚europäischen Staatensystem‘ bzw. zu einer ‚europäischen

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dass die Gesandten nicht über diplomatische Immunität verfügten und jederzeit als Geiseln gefangen gesetzt werden konnten, wenn es zu Spannungen mit ihren Herkunftsländern kam.12 Wenn also die Diplomatie in Konstantinopel anderen Regeln folgte als an den westeuropäischen Höfen, so stellt sich die Frage, welche Bedeutung den Audienzen dort zukam. Denn versteht man Audienzen als Orte intensiver interkultureller Begegnung, die aufgrund ihrer symbolischen Verdichtung von den Beteiligten dekodiert werden mussten,13 dann verspricht ihre Analyse einen Einblick in genau dieses Verhältnis von westlichen und östlichen Wahrnehmungsmustern. Gerade weil den westlichen Diplomaten das politische Ritual der Audienz aus ihrer eigenen diplomatischen Kultur von Grund auf vertraut war, kam es bei der Übersetzung von Fremdem in bekannte Kategorien schnell zu Brüchen in den Deutungen.14 Diesen Brüchen wird im Folgenden nachgegangen.

I. In der Schlacht von Naseby wurde der englische König Karl I. im Juni 1645 von der Parlamentsarmee unter Oliver Cromwell entscheidend geschlagen. Er Kultur internationaler Beziehungen‘ siehe mit weiterführender Literatur Heidrun Kugeler/Christian Sepp/Georg Wolf, Einführung: Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven, in: Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven, hg. von dens., Hamburg 2006, S. 9–35, hier S. 16f., 22ff., 26f. 12 Dazu Anuschka Tischer, Diplomatie, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 2, hg. von Friedrich Jäger, Stuttgart/Weimar 2005, Sp. 1028–1041, hier Sp. 1031, 1034; Anderson, Diplomacy (wie Anm. 11), S. 72; Geoff R. Berridge, British Diplomacy in Turkey, 1583 to the Present. A Study in the Evolution of the Resident Embassy, Leiden 2009, S. 25; Ernst Dieter Petritsch, Zeremoniell bei Empfängen habsburgischer Gesandtschaften in Konstantinopel, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz/ Giogio Roth/Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 301–322, hier S. 303. 13 Siehe dazu die Einleitung in diesem Band, Seite 7. 14 Zur Übersetzung von ‚Fremdem‘ in ‚Eigenes‘ in interkulturellen Begegnungen vgl. Jürgen Osterhammel, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung, hg. von Hans-Joachim König/ Wolfgang Reinhard/Reinhard Wendt, Berlin 1989, S. 9–42, hier S. 33f.; Peter Burschel, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, hg. von Alexander Koller, Tübingen 1998, S. 260–271.

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unternahm daraufhin Bemühungen, Unterstützung von auswärtigen Mächten zu mobilisieren, wobei sein Blick auch auf das Osmanische Reich fiel.15 Von seinem Exil in Oxford aus wies er den englischen Botschafter in Konstantinopel Sir Sackville Crowe16 an, das Vermögen all derjenigen englischen Kaufleute zu konfiszieren, die man des Hochverrats überführen könne. Als Crowe diese Anweisung mit osmanischer Hilfe rücksichtslos umzusetzen begann und sogar einige Engländer gefangen setzen ließ, kippte die ohnehin schon schlechte Stimmung unter den Kaufleuten und es kam im Sommer 1646 zum offenen Widerstand.17 Spätestens zu diesem Zeitpunkt war Crowe, der nicht nur englischer Botschafter, sondern auch der oberste Handelsvertreter war, für die Levant Company nicht mehr tragbar.18 Auch das nach dem Sieg über Karl I. selbstbewusste Parlament favorisierte einen Botschafter, der weniger ein Mann des Königs war.19 Allerdings war es dem Parlament nicht ohne Weiteres möglich, einen neuen Botschafter zu ernennen. In den vorhergehenden 60 Jahren diplomatischer Beziehungen zwischen England und dem Osmanischen Reich war der Botschafter stets sowohl von der Levant Company wie vom König ermächtigt worden. Ohnehin besaßen nach frühneuzeitlichem Verständnis nahezu ausschließlich souveräne Herrscher das Recht, Botschafter zu ernennen.20 Daher ging man 15 Wie Daniel Goffman betont, wird dies in der englischen Geschichtsschreibung meistens vernachlässigt. Ders., Britons in the Ottoman Empire, 1642–1660, Seattle u.a. 1998, S. 236, Anm. 2. 16 Robert Ashton, Crowe, Sir Sackville, first baronet (c.1600–1683), in: National Biography (wie Anm. 1), Bd. 14, S. 483. 17 Vgl. Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 68–87; George Frederick Abbott, Turkey, Greece and the Great Powers. A Study in Friendship and Hate, London 1916, S. 94; Alfred C. Wood, A History of the Levant Company, 2. Aufl., London u.a. 1964, S. 89ff. 18 Zu dieser Doppelfunktion der englischen Botschafter siehe Alfred C. Wood, The English Embassy at Constantinople, 1660–1762, in: The English Historical Review 40 (1925), S. 533–561, hier S. 533ff.; Berridge, British Diplomacy (wie Anm. 12), S. 24–36. 19 Mark Charles Fissel/David Goffman, Viewing the Scaffold from Istanbul: The Bendysh-Hyde Affair, 1647–1651, in: Albion 22 (1990), S. 421–448, hier S. 425; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 88. 20 Anderson, Diplomacy (wie Anm. 11), S. 4f., 42; Linda S. Frey/Marsha Frey, The History of Diplomatic Immunity, Columbus 1999, S. 125–127; Barbara Stollberg-Rilinger, Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Dreihundert Jahre preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, hg. von Johannes Kunisch, Berlin 2002, S. 1–26; André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Ze-

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davon aus, dass die Osmanen an diesem Prozedere in jedem Falle festhalten und nur einen vom König autorisierten Botschafter akzeptieren würden. Auch der Anführer der rebellierenden englischen Kaufleute in Konstantinopel John Lancelot, der die Gruppe an der Pforte vertrat, versicherte dies in mehreren Briefen.21 Obwohl Karl I. also kaum noch über reale politische Macht verfügte, waren Levant Company und Parlament in dieser Frage auf ihn angewiesen. Die Direktoren der Levant Company reichten daher im Spätsommer 1646 im Parlament mehrere Petitionen zur Neubesetzung des Botschafterpostens ein, die jedoch allesamt abgelehnt wurden – nicht zuletzt, weil man dem König kein Mitbestimmungsrecht zugestehen wollte. Als Karl I. dann aber schließlich von sich aus anbot, Crowe zu ersetzen, wurde im Januar 1647 nach zähen Verhandlungen Thomas Bendish mit den Ermächtigungsbriefen des Königs, wenig später auch mit denen des Parlaments ausgestattet.22 Nach langer Reise, über die wir durch das Tagebuch seines Begleiters Robert Bargrave genauestens informiert sind,23 kam Bendish am 16. September 164724 in Konstantinopel an.25 Eigentlich sah das Protokoll vor, dass jetzt beide, der

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remoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 12), S. 1–32. Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 88, 90f. Ebd., S. 88–97. The Travel Diary of Robert Bargrave Levant Merchant (1647–1656), hg. von Michael G. Brennan, London 1999. Zur Überlieferungsgeschichte des Tagebuchs, das sich heute in der Bodleian Library, Oxford, befindet siehe ebd., S. 38–51. Zur Person Bargrave siehe ebd., S. 1–14; ders., Bargrave, Robert (1628–1661), in: National Biography (wie Anm. 1), Bd. 3, S. 809; Albert Rode, Robert Bargrave. Ein englischer Reisender des 17. Jahrhunderts. Mit bisher nicht veröffentlichten Auszügen aus seiner Reisebeschreibung, Hamburg 1905. Die Daten in diesem Beitrag sind entsprechend dem zeitgenössischen englischen System im alten Stil angegeben, das Kalenderjahr wird jedoch mit dem 1. Januar begonnen (der gregorianische Kalender wurde in England erst 1752 eingeführt, bis dahin war der offizielle Jahresanfang der 25. März). Goffman, der in weiten Teilen seines Buches ebenfalls nach altem Stil datiert, übernimmt für die ersten Wochen Bendishs in Konstantinopel jedoch die Daten aus dem Bericht des venezianischen Botschafters im neuen Stil, ohne sie umzudatieren. Dadurch kommt es wiederholt zu Ungereimtheiten. Als Datum für Bendishs Ankunft gibt er den 26. September an. Ders., Britons (wie Anm. 15), S. 110. Calendar of State Papers Relating to English Affairs in the Archives of Venice, 39 Bde., hg. von Rawdon Brown u.a., London 1864–1947 [digitalisiert zugänglich unter http://www.british-history.ac.uk; im Folgenden CSP Ven.], hier Bd. 28, 1647–1652, Nr. 43, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 9.10.1647 (a. St.). Auch Bendish selbst gibt in einer Schrift den 16. September als Ankunftstag an. Ders., Newes from Tvrkie, or, A True Relation of the

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scheidende und der neue Botschafter, gemeinsam eine Audienz beim Sultan besuchten, um die Amtsübergabe offiziell zu vollziehen. Als Bendish Crowe jedoch sein Ernennungs- sowie dessen Abberufungsschreiben übersandte, zweifelte dieser deren Authentizität an. Bendish verfüge lediglich über die Autorisierung des Parlaments, die des Königs habe er nicht. Offenbar behauptete Crowe, dass der König, weil er sich zu dieser Zeit in Gefangenschaft befand, die Briefe unter Zwang verfasst habe.26 Auch die wiederholten Versicherungen des neu ernannten Botschafters brachten keine Veränderung. Crowe weigerte sich, Bendish in einer Audienz als neuen Botschafter einzuführen.27 Hier zeigt sich ein strukturelles Problem: Weit entfernt von den politischen Entscheidungsträgern in England und ohne eigene Machtmittel, die Befehle durchzusetzen, waren die Gesandten in Konstantinopel ständig gezwungen, um ihren Status zu kämpfen.28 Beglaubigungsschreiben hatten hier nur eine relativ geringe Bedeutung für die Autorisierung von Gesandten,29 und darüber hinaus konnten die osmanischen Obrigkeiten selbst nicht mit Sicherheit um die Kompetenzen von Diplomaten wissen.30 Dass im Herbst 1647 in Konstantinopel zwei Personen gleichzeitig beanspruchten, legitime Vertreter der englischen Regierung zu sein, machte den Bürgerkrieg auch im Osmanischen Reich unmittelbar sichtbar.31 Als Sackville

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Passages of the Right Honourable Sir Tho. Bendish, Baronet, Lord Ambassadour, with the Grand Signieur at Constantinople, his Entertainment and Reception There, London 1648, S. 5f. British Library [im Folgenden BL], Add. MS, 15750, fol. 29f., Bendish an Karl I., Konstantinopel 12.11.1647. CSP Ven. 1647–52, Nr. 43, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 9.10.1647 (a. St.); Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 2–6. Vgl. Games, Web of Empire (wie Anm. 6), S. 157; James Mather, Pashas. Traders and Travellers in the Islamic World, New Haven/London 2009, S. 123–129. Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 20), S. 23f. An westeuropäischen Höfen besaßen die Ermächtigungs- und Abberufungsschreiben, die die englischen Botschafter mit sich führten, dahingegen eine sehr hohe Verbindlichkeit. Dazu Phyllis S. Lachs, The Diplomatic Corps Under Charles II and James II, New Brunswick 1965, S. 21–23. Vgl. Gerald MacLean/Nabil Matar, Britain and the Islamic World, 1558–1713, Oxford 2011, S. 83f. Ein bezeichnendes Beispiel – auch wenn es vom persischen Hof stammt – ist das des englischen Abenteurers Anthony Shereley. Nachdem er einige Zeit mit Piraterie zugebracht hatte, reiste er 1595 an den Hof Abbasʼ I., wo er sich als englischer Diplomat ausgab. Siehe dazu Early Modern Tales of Orient. A Critical Anthology, hg. von Kenneth Parker, London u.a. 1999, S. 61–82. Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 124; vgl. auch Dorothy M. Vaughan, Europe and the Turk. A Pattern of Alliances 1350–1700, Liverpool 1954, S. 241.

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Crowe die neuen Ermächtigungsbriefe nicht anerkannte, blieb Bendish nichts anderes übrig, als selber tätig zu werden. Er ersuchte daher direkt beim Großwesir um eine Audienz, der sich dazu auch umgehend bereit erklärte. Allerdings, so wurde vorher bekannt, wollte er darauf verzichten, Bendish bei dieser Gelegenheit mit den üblichen Ehrengewändern einzukleiden. Die feierliche Einkleidung der Gesandten bei ihrer Antrittsaudienz war jedoch ein elementarer Bestandteil des osmanischen Zeremoniells, weshalb Bendish diesen „affront“32 unter gar keinen Umständen hinnehmen konnte. Sein prekärer Status wäre dann performativ zementiert worden. Was für Bendish das Symbol seiner Anerkennung als Botschafter war, stellte sich aus osmanischer Perspektive jedoch ganz anders dar. Im Gabensystem der Osmanen symbolisierte die feierliche Einkleidung mit Ehrengewändern ein Abhängigkeitsverhältnis des Beschenkten gegenüber dem Schenkenden. Indem die westeuropäischen Gesandten die Gewänder annahmen, akzeptierten sie aus osmanischer Sicht ihren untergeordneten Status und erneuerten gleichzeitig das Vasallenverhältnis ihres Landes zum Osmanischen Reich.33 Für beide Seiten hatte das Ritual damit eine ganz unterschiedliche Funktion, die von der jeweils anderen Seite nicht verstanden wurde.34 Sehr deutlich zeigt sich daran die interkulturelle Offenheit des Zeremoniells, das es allen Beteiligten ermöglichte, die symbolischen Handlungen aus der Perspektive ihres eigenen Wertesystems zu interpretieren.35 32 Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 7. 33 Konrad Dilger, Untersuchungen zur Geschichte des osmanischen Hofzeremoniells im 15. und 16. Jahrhundert, München 1967, S. 96f.; Monika SpringbergHinsen, Die Ḫilʼa. Studien zur Geschichte des geschenkten Gewandes im islamischen Kulturkreis, Würzburg 2000, besonders S. 238–243; Hedda Reindl-Kiel, Der Duft der Macht. Osmanen, islamische Tradition, muslimische Mächte und der Westen im Spiegel diplomatischer Geschenke, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 95 (2005), S. 195–258, hier S. 210, 222, 225; Ingrid Biniok, Osmanische Stoffe und Kostüme, in: Türkische Kunst und Kultur aus osmanischer Zeit, Bd. 2, hg. vom Museum für Kunsthandwerk im Auftrag der Stadt Frankfurt, Dezernat Kultur und Freizeit, Recklinghausen 1985, S. 240–273, hier S. 245, 251–254. 34 Dazu Peter Burschel, Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 408–421, hier S. 418; vgl. außerdem Reindl-Kiel, Duft der Macht (wie Anm. 33), S. 225–232. 35 Vgl. dazu Christian Windler, Diplomatic History as a Field for Cultural Analysis: Muslim-Christian Relations in Tunis, 1700–1840, in: The Historical Journal 44 (2001), S. 79–106, hier besonders S. 103–106.

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In einer vierstündigen Verhandlung erreichten Bendishs Begleiter die Zusage des Wesirs, dass zumindest sein Sohn und er und wenigstens zwei weitere Begleiter eingekleidet würden – immerhin ein Teilerfolg, denn eigentlich wurden bei dieser Gelegenheit fünf Begleiter eingekleidet.36 Ausschlaggebendes Argument in der Verhandlung scheint gewesen zu sein, dass Bendish damit gedroht hatte, ohne sein Antrittsgeschenk in die Audienz zu kommen, womit er sich ebenfalls dem osmanischen Überlegenheitsanspruch symbolisch entzogen hätte.37 Dies wollte nun offensichtlich wiederum der Großwesir dringend vermeiden. Mit großer Spannung wurde daher die angesetzte Audienz erwartet: „Now was the Town full of expectation, nothing talked of but our businesse.“38 Als die Audienz eine Woche später stattfand, fiel das Ergebnis für Bendish mehr als enttäuschend aus. Er überreichte dem Großwesir seine Beglaubigungsschreiben und forderte ihn auf, ihn als Botschafter anzuerkennen und Sackville Crowe zurück nach England zu schicken. Der Wesir jedoch erwiderte, er könne keine Entscheidung treffen, ohne auch Crowe anzuhören, und solange werde Bendish auf die feierliche Einkleidung warten müssen.39 Bendish, außer sich vor Wut,40 blieb nichts anderes übrig, als die Audienz unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Am nächsten Tag befragte der Großwesir dann Crowe in 36 Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 7, 16. 37 Wie das feierliche Einkleiden, so bedeutete aus osmanischer Sicht auch das Überbringen von Geschenken an den Sultan einen Akt der Unterwerfung und war damit symbolischer Ausdruck des Vasallenstatus des Schenkenden. Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 33), S. 101–104; Burschel, Hündchen (wie Anm. 34), S. 418; Ernst Dieter Petritsch, Tribut oder Ehrengeschenk? Ein Beitrag zu den habsburgisch-osmanischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Archiv und Forschung. Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in seiner Bedeutung für die Geschichte Österreichs und Europas, hg. von Elisabeth Springer/ Leopoldt Kammerhofer, Wien/München 1993, S. 49–58; Florian Kühnel, Fascination or Supremacy? Technical Devices in Diplomatic Gift Exchange Between Western Europe and the Ottoman Empire, erscheint in: Culture of Politics or Cultural Politics: Ambassadors as Cultural Actors in the Ottoman-European Relations, hg. von Suna Suner/Matthias Pernerstorfer. 38 Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 7. 39 Zwar wurde umgehend nach Crowe geschickt. Dieser gab jedoch an, aufgrund einer Krankheit nicht bei der Audienz erscheinen zu können. Ebd., S. 8; CSP Ven. 1647–52, Nr. 43, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 9.10.1647 (a. St.). 40 Als Bendish vernahm, dass die Einkleidung nicht stattfinden würde, trat er laut auf den Boden auf und erklärte, dass noch nie ein Botschafter auf so niederträchtige Weise behandelt worden wäre. Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 8.

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einer Audienz nach dessen Sichtweise, der allerdings, obwohl ihm die Briefe des Königs vorgelegt wurden, weiterhin darauf beharrte, dass Bendish kein legitimer Botschafter sei.41 Da die Schreiben allerdings eindeutig waren,42 hatte der Großwesir offenbar genug. Er ordnete an, dass sich Bendish am nächsten Tag in Begleitung mehrerer osmanischer Wachen (Çavuş) in das Haus Crowes begeben solle, um diesen dann zu zwingen, die Briefe unter Zeugen zur Kenntnis zu nehmen. Deutlich ist zu sehen, wie unsicher der Status eines neu ernannten Botschafters in Konstantinopel war. Nur wenn er die osmanische Führung für sich gewinnen konnte, war es ihm möglich, die eigenen Statusansprüche durchzusetzen. Was im Falle Bendishs das Pfund war, mit dem er beim Großwesir wuchern konnte, lässt sich nur vermuten. Bei den Gerüchten, die englischen Kaufleute hätten den Wesir mit einer großen Geldsumme bestochen,43 handelte es sich wohl um die üblichen Habgiertopoi, die den Osmanen in Westeuropa gerne nachgesagt wurden44 und die beispielsweise auch der frühere Botschafter Thomas Glover bildreich beschrieben hatte: „And the Ambassadors here are not esteemed Ambassadors if the Viziers be not fed by them, as if one should feed a child often sucking, […] for without continual presenting, they will not be long satisfied.“45 Wahrscheinlicher ist, dass Bendish in seiner Audienz glaubhaft den Eindruck vermitteln konnte, dass unter seiner Aufsicht der englische Handel, den

41 Ebd., S. 9; CSP Ven. 1647–52, Nr. 43, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 9.10.1647 (a. St.). Auch Bendish war zu dieser Audienz eingeladen. Allerdings lehnte er mit der Begründung ab, der Wesir habe ihn am Vortag „unworthily and basely“ behandelt und er sehe nicht ein, sich länger mit den ungerechtfertigten Anschuldigungen Crowes zu befassen. 42 König Karl forderte in seinem Schreiben den Sultan dazu auf, Bendish alle Rechte eines Botschafters zu verleihen und im Gegenzug Crowe zurück nach England zu schicken, damit er sich dort für sein Verhalten gegenüber den Kaufleuten verantworte. Kopien der Schreiben sind enthalten in The National Archives [im Folgenden TNA], SP 97/17, fol. 9–16. 43 CSP Ven. 1647–52, Nr. 43, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 9.10.1647 (a.  St.); Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 78. So auch Wood, Levant Company (wie Anm. 17), S. 92. 44 So Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 117. Zu diesem Topos bei den Osmanen siehe mit weiterführender Literatur Burschel, Hündchen (wie Anm. 34), S. 419. 45 TNA, SP 97/5, fol. 197f., Glover an Cecil, Konstantinopel 25.7.1607. Glover war zwischen 1607 und 1611 englischer Botschafter an der Pforte.

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Crowe praktisch zum Erliegen gebracht hatte, wieder florieren würde.46 Dieses Argument wog umso schwerer, als der osmanische Handel zu dieser Zeit durch den Seekrieg mit Venedig stark eingeschränkt war.47 Möglicherweise hatte Bendish den Osmanen darüber hinaus auch die militärische Unterstützung englischer Schiffe zugesagt,48 die aufgrund ihrer schweren Bauweise den im Mittelmeer üblichen Galeeren im Kampf weit überlegen waren.49 In jedem Fall hatte Bendish die Oberhand gegenüber seinem Widersacher gewonnen. Sackville Crowe wurde in seinem Haus gezwungen, die Befehle des englischen Königs und des Parlaments anzuerkennen, wobei er sie bis zuletzt nicht wahrhaben wollte – „such a horror did this Letter of revocation strike into

46 In seiner Audienz hatte er mit dem Argument zu überzeugen versucht, dass alle englischen Kaufleute im Osmanischen Reich nicht hinter Crowe, sondern hinter ihm stünden und dass er darüber hinaus das Kommando über die englischen Handelsschiffe habe. Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 8. 47 Im Jahr vorher hatte der osmanisch-venezianische Krieg um Kreta mit einer ersten Belagerung der Dardanellen durch Venedig begonnen. Da die englischen Schiffe die Blockade passieren durften, waren sie für die Osmanen äußerst wichtig. Dazu Kenneth M. Setton, Venice, Austria, and the Turks in the Seventeenth Century, Philadelphia 1991, besonders S. 104–243; Klaus Schwarz, Zur Blockade der Dardanellen während des venezianisch-osmanischen Krieges um Kreta im Jahre 1650, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 77 (1987), S. 69–86; Vaughan, Europe and the Turk (wie Anm. 31), S. 242–249, 254–259. 48 Dies hat er jedenfalls des Öfteren getan, wie er gut zwei Jahre später gegenüber seiner Regierung erklärte: „Only I must advertise your Hon[ou]r that matters now so stand at this Port, that it must needes prove at this tyme very difficult to winne the Vizier to grant any thing which may proove distastfull to theire friends at Tunis and Algire, on whom this Empire at present cheifly relies for theire ayde and assistance with shipping in theire warre with the Venetians; And of this I have had allready on severall occasions, too greate experience.“ TNA, SP 97/17, fol. 23, Bendish an den Council of State, Konstantinopel 13.12.1649. Vgl. auch Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 117–120. 49 Zur militärischen Überlegenheit der englischen Schiffe siehe Ralph Davis, England and the Mediterranean, 1570–1670, in: Essays in the Economic and Social History of Tudor and Stuart England, hg. von Frederick J. Fisher, Cambridge 1961, S. 117–137, hier S. 126–132; Lee W. Eysturlid, „Where Everything is Weighed in the Scales of Material Interest“. Anglo-Turkish Trade, Piracy, and Diplomacy in the Mediterranean During the Jacobean Period, in: The Journal of European Economic History 22 (1993), S. 613–625, hier S. 619f.; Vaughan, Europe and the Turk (wie Anm. 31), S. 237f.; Mather, Pashas (wie Anm. 28), S. 155f.; Daniel Goffman, The Ottoman Empire and Early Modern Europe, 8. Aufl., Cambridge 2010, S. 217f.

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him“.50 Ihm war klar, dass er in England für seine Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen würde.51 Für Thomas Bendish hatte dies jedoch keine Auswirkungen mehr. Am 30. September, zwei Wochen nach seiner Ankunft in Konstantinopel, erhielt er endlich die von ihm ersehnte Audienz beim Großwesir, bei der er und sieben seiner Begleiter in Ehrengewänder gekleidet wurden, also zwei mehr als üblich – zumindest eine kleine Wiedergutmachung für die erlittenen Kränkungen.52 Wieder gut eine Woche später kam es dann zum Höhepunkt in der Anerkennung als Botschafter: der Audienz bei Sultan Ibrahim.53 Zwar fand diese nicht, wie sonst üblich, im Audienzpavillon, sondern in einem Außenhaus des Topkapı Sarayı am Wasser statt. Ansonsten wurde jedoch das typische Zeremoniell eingehalten:54 Eskortiert von einem Pascha und 42 Wachen folgten Bendish, zwölf gentlemen und eine Gruppe Kaufleute auf Pferden dem Wesir. In einem Palastgarten angekommen wurden Bendish und 18 weitere Personen mit Ehrenroben eingekleidet, wieder zwei mehr, als dem englischen Botschafter eigentlich zustanden.55 Bendish wurde flankiert von zwei Paschas in den Audi50 Nachdem Crowe die Briefe gelesen hatte, fragte er Bendish, ob der König sie ihm persönlich gegeben habe, wann er den König zuletzt gesehen habe und ob er auch Bendishs Ermächtigungsschreiben sehen dürfe. Schließlich gab er an, dem König schreiben zu wollen, um ihn umzustimmen. Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 11. Bargrave berichtet, Crowe habe den Brief weiterhin als „either counterfeit or deceitfully obtaind“ angesehen und sich geweigert, ihn anzuerkennen. Die beiden seien dann „in Disgust & Defyance“ auseinandergegangen. Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 77. 51 Dies wurde ihm in seinen Abberufungsschreiben explizit angekündigt. TNA, SP 97/17, fol. 9–16. Zu den Strafen für Gesandte, die sich den Anweisungen der Regierung widersetzt bzw. eigenmächtig gehandelt hatten, siehe Lachs, Diplomatic Corps (wie Anm. 29), S. 27ff. 52 CSP Ven. 1647–52, Nr. 43, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 9.10.1647 (a. St.); Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 16. 53 Sultan Ibrahim (1615–1648) – ‚der Verrückte‘ – gilt gemeinhin als schwacher und sogar geisteskranker Herrscher. Er wurde 1648 abgesetzt und hingerichtet, möglicherweise auf Bestreben seiner Mutter. Dazu Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 18f. 54 Zum Ablauf von Audienzen westlicher Gesandter in Konstantinopel siehe Mansel, Constantinople (wie Anm. 6), S. 57–80; Pia Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo: Ceremonial Diplomatic Protocol in Istanbul, in: Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 12), S. 287–299; Petritsch, Zeremoniell (wie Anm. 12), S. 310–315. 55 Die Regelung am osmanischen Hof sah vor, dass der französische Botschafter 24, der englische 16 und die venezianischen und der niederländischen Gesandten jeweils zwölf Kaftane erhalten sollten. Mansel, Constantinople (wie Anm. 6), S. 66.

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enzsaal gebracht, wo der Sultan auf ihn wartete. Bendish verbeugte sich, küsste die Hand des Sultans und wurde von den Paschas zu einem Sofa dem Sultan gegenüber geführt. Wie das Einkleiden war auch der Handkuss aus Bendishs Sicht weniger die symbolische Unterwerfung unter den Sultan als vielmehr seine ultimative Anerkennung als Botschafter.56 Nachdem nun die Ermächtigungsschreiben überreicht worden waren, wurde in einer halbstündigen Verhandlung über die Missstände in den anglo-osmanischen Handelsbeziehungen beraten. Am Ende stand die Zusage des Sultans, die vorgetragenen Forderungen umzusetzen, zu denen neben der Erneuerung der ‚Kapitulationen‘ auch die Rücksendung Crowes nach England gehörte. Der Sultan sprach Bendish als „Ambassador“ an und überreichte feierlich ein weiteres Ehrengewand („Robe of Honour“).57 Nun endlich hatte Bendish sein Ziel erreicht – aus seiner Sicht war sein Botschafterstatus in der Audienz performativ hergestellt worden. Er verließ den Sultan und kehrte mit seinem Gefolge in seinen Botschafterpalast zurück. In den nächsten Tagen zeichnete sich jedoch ab, dass sich durch die Audienz nur wenig änderte. Weder wurden die Missstände im Handel behoben noch unternahmen die Osmanen Bemühungen, Crowe zurück nach England zu schicken. Offensichtlich hatte das Audienzritual die von Bendish erwartete performative Wirkung nicht entfaltet. Enttäuscht beklagte er dies beim Großwesir: „What is it to be vested, graciously accepted by the Grand Signieur [das heißt dem Sultan], and promised redresse of injuries, if nothing be performed”.58 Erneut wird deutlich, dass die Audienz für die Osmanen nicht dieselbe Funktion besaß wie für die Europäer. Während sie aus westlicher Perspektive der Anerkennung des Botschafters und dessen Ansprüchen diente, sahen die Osmanen darin ein Ritual der Unterwerfung unter ihre Oberhoheit. Wie in Bendishs Fall, so wurden die dort ausgehandelten Kapitulationen deshalb häufig nicht beziehungsweise nur teilweise umgesetzt. Denn aus osmanischer Sicht handelte es sich dabei nicht um bilaterale Staatsverträge im Sinne des europäischen Völker56 Wie sich zeigt, deuteten westliche Gesandte den Kuss der Hand oder des Gewandsaums des Sultans generell nicht als Unterwerfungsgeste bzw. versuchten, diese Interpretation zu vermeiden. Dazu Palmira Brummett, A Kiss is Just a Kiss: Rituals of Submission Along the East-West Divide, in: Cultural Encounters Between East and West, 1453–1699, hg. von Matthew Birchwood/Matthew Dimmock, Amersham 2005, S. 107–131, hier besonders S. 120f. Zur Bedeutung des Kusses im osmanischen Zeremoniell vgl. außerdem Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 33), S. 70–72; Mansel, Constantinople (wie Anm. 6), S. 64. 57 Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 77. 58 Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 22.

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rechts, sondern um einseitig gewährte Handelsprivilegien aus Gnade des Sultans.59 Diese konnten natürlich jederzeit eingeschränkt werden – was von den westlichen Gesandten dann als Vertragsbruch und typisch osmanische Hinterhältigkeit angesehen wurde. Um seine Forderungen dennoch umgesetzt zu sehen, beschritt Bendish den in solchen Fällen üblichen Weg und drohte, den englischen Handel vollständig einzustellen – ein Vorgang, für den es mit „battulating“ sogar einen spezifischen Terminus gab.60 Mit dieser Strategie hatte er Erfolg: Am 3. November 1647 nahmen zwei Wachen des Großwesirs Crowe in seinem Haus fest.61 Einige Tage später wurde er zuerst nach Smyrna und von dort aus dann auf einem englischen Schiff zurück nach London gebracht, wo er unter Anklage gestellt und im Tower inhaftiert wurde.62 59 Mather, Pashas (wie Anm. 28), S. 145–150; Wolfgang Kaiser, Politik und Geschäft: Interkulturelle Beziehungen zwischen Muslimen und Christen im Mittelmeerraum, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hg. von Hillard von Thiessen/Christian Windler, Köln u.a. 2010, S. 295–317, hier S. 299f., 311; Edhem Eldem, Capitulations and Western Trade, in: The Cambridge History of Turkey, Bd. 3. The Later Ottoman Empire, 1603–1839, hg. von Suraiya Faroqhi, Cambridge 2006, S. 283–335, hier besonders S. 292–297. 60 Bendish, Newes from Tvrkie (wie Anm. 25), S. 22. Zur Praxis des „battulating“ siehe Mather, Pashas (wie Anm. 28), S. 150. 61 In Bezug auf dieses Datum gibt es einige Unklarheiten. Bendish nennt in einem Brief an den König den 3. November: „I received y[ou]r letters of the 6th of August upon the 23th Novem[ber] twenty dayes after S[i]r Sackvile Crow’s departure hence”, BL, Add. MS, 15750, fol. 31, Bendish an Karl I., Konstantinopel 26.11.1647. Auch Crowe selbst nennt offenbar dieses Datum, wie Goffman angibt, ders., Britons (wie Anm. 15), S. 247, Anm. 67. Allerdings glaubt Goffman, dass Crowes Angabe falsch ist, und gibt stattdessen, wie der venezianische Bailo, den 23. November als Tag der Festnahme an (ebd., S. 115). Wie immer überträgt er damit aber die venezianische Datierung nicht in den alten Stil. Allerdings müsste auch danach die Festnahme nicht am 3., sondern am 13. November erfolgt sein. CSP Ven. 1647–52, Nr. 56, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 18.11.1647 (a. St.). Zu der inkonsequenten Datierung bei Goffman siehe oben (Anm. 24). 62 Der Bailo und Robert Bargrave berichten übereinstimmend, wie erniedrigend die Festnahme für Crowe gewesen sei, da die Wachen ihn gewaltsam vor sich her durch die Stadt getrieben hätten. Anschließend sei er in einer kleinen Zelle inhaftiert worden. CSP Ven. 1647–52, Nr. 56, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 18.11.1647 (a. St.); Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 77f. Vgl. außerdem Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 114–123, 208f.

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Erst zwei Monate, nachdem Thomas Bendish in Konstantinopel angekommen war, bestand also kein Zweifel mehr an seinem Status als Botschafter. Doch diesen Status hatte er nicht erreicht, weil er von Levant Company, Parlament und König dazu autorisiert worden war, sondern weil er durch geschicktes Taktieren in den Audienzen die osmanische Regierung dazu gebracht hatte, ihn als Botschafter anzuerkennen und seine Ansprüche gewaltsam durchzusetzen. Botschafter im Osmanischen Reich war aus westlicher Perspektive also nicht der, so könnte man pointiert formulieren, der von seiner Regierung dazu ernannt wurde, sondern der, dessen Autorität in einer Audienz anerkannt wurde. Und auch anschließend blieb dieser Status stets gefährdet.

II. Nur wenige Jahre konnte der neu ernannte Botschafter Thomas Bendish sein Amt ausüben, als erneut die politischen Entwicklungen in England direkte Auswirkungen auf die Situation im Osmanischen Reich zeigten. Am 30. Januar 1649 war der englische König Karl I. hingerichtet und England zum „Commonwealth and Free State“ erklärt worden. Die Anhänger der Krone sahen jedoch weiterhin den Sohn des getöteten Königs Karl Stuart als legitimen Erben des englischen Throns an. Vom Exil aus schickte Karl Gesandte an nahezu alle europäischen Höfe, in der Hoffnung, diese würden die royalistische Sache finanziell unterstützen.63 Gleichzeitig machte er damit seinen Anspruch auf den englischen Thron symbolisch vor der ‚Höfischen Öffentlichkeit‘64 deutlich. Indem er Botschafter entsandte, beanspruchte er ein Recht, 63 Die ständigen Gesandten in den Generalstaaten, den Spanischen Niederlanden und Frankreich, die von seinem Vater ernannt worden waren, wurden von ihm bestätigt. Eigene Gesandte schickte er im Laufe der folgenden Jahre nach Spanien, Portugal, Dänemark, Schweden, Polen, Kurland, Russland, in die italienischen und die deutschen Staaten. Dazu Eva Scott, The King in Exile. The Wanderings of Charles II. from June 1646 to July 1654, London 1905, S. 284f.; Maurice Ashley, Charles II. The Man and the Statesman, 3. Aufl., London 1972, S. 32, 59, 64f.; Ronald Hutton, Charles the Second. King of England, Scotland, and Ireland, Oxford u.a. 1989, S. 34f.; Geoffrey Smith, Royalist Agents, Conspirators and Spies. Their Role in the British Civil Wars, 1640–1660, Farnham u.a. 2011, S. 128ff. 64 ‚Höfische Öffentlichkeit‘ bezeichnet die überterritoriale Adelsöffentlichkeit der europäischen Höfe, die vor allem durch ein weitverzweigtes und ausdifferenziertes Gesandtschaftssystem hergestellt wurde. Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen

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das allein gekrönten Staatsoberhäuptern zustand. Im Gegenzug erkannten die europäischen Monarchen seine Souveränität an, wenn sie die Gesandten mit allen zeremoniellen Ehren empfingen. König war im frühneuzeitlichen Zeichensystem eben der, der als König anerkannt wurde.65 Wie häufig in Fällen, in denen um die politische Macht gerungen wurde, versuchte Karl also das diplomatische Zeremoniell als ‚Waffe‘ gegen seine innenpolitischen Gegner einzusetzen66 – mit unterschiedlichem Erfolg: Während einige Herrscher die Gesandten ehrenvoll empfingen und auch Kredite zusagten, lehnten andere den Empfang ab.67 Doch nicht nur an die christlichen Höfe wandte sich Karl, sondern auch nach Marokko, Persien und Konstantinopel.68 Ins Osmanische Reich entsandte er den königstreuen Henry Hyde, der einige Jahre zuvor als Konsul der osmanischen Provinz Morea unehrenhaft entlassen worden war, weil er sich auf Kosten

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Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F. 7 (1997), S. 145–176; Volker Bauer, Höfische Gesellschaft und höfische Öffentlichkeit im Alten Reich. Überlegungen zur Mediengeschichte des Fürstenhofs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 5 (2003), S. 29–68. Stollberg-Rilinger, Honores regii (wie Anm. 20), S. 5f.; dies., Des Kaisers alte Kleider (wie Anm. 5), S. 151f.; Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 20), S. 14–17. „Diplomatic ceremonial could be a weapon in the fight between various elements of early modern states in their struggle for power“; William Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial: A Systems Approach, in: The Journal of Modern History 52 (1980), S. 452–476, hier S. 472, 474; vgl. auch Stollberg-Rilinger, Honores regii (wie Anm. 20), S. 12. Zum Problem der englischen Regierungen, sich zwischen 1639 und 1660 als Repräsentant Englands zu inszenieren, Jeremy Black, British Diplomats and Diplomacy 1688–1800, Exeter 2001, S. 6. John Colepeper wurde in Moskau ehrenvoll empfangen und man sicherte ihm einen Kredit von 20.000 Rubel zu. William Croft erhielt in Warschau nur eine unbedeutende Summe. Edward Hyde und Francis Cottington wurden in Madrid nur unter großen Vorbehalten empfangen. Je stärker sich das Commonwealth mit den Jahren etablierte, desto weniger Erfolg hatten die diplomatischen Missionen Karl Stuarts. Scott, King in Exile (wie Anm. 63), S. 285–296; Hutton, Charles the Second (wie Anm. 63), S. 83ff.; James D. Schneider, The English Diplomatic Corps, 1649–1660: A Comparison of the Diplomats of the Commonwealth and Protectorate and of Charles II, unveröffentlichte Masterthesis, Kansas State University, 2011, besonders S. 17–19 [online zugänglich unter http://krex.k-state. edu/dspace/bitstream/2097/8454/3/JamesSchneider2011.pdf; 17.7.2012]. Henry Bard wurde 1653 nach Persien geschickt, Viscount Bellamont kam auf seiner Reise nach Marokko in einem Sandsturm um. Scott, King in Exile (wie Anm. 63), S. 285. Zu Hydes Mission vgl. Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 158–161.

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der Levant Company und der dortigen Kaufleute persönlich bereichert hatte. Als Vertrauter Sackville Crowes war Hyde 1647 gemeinsam mit diesem nach England überführt worden.69 Hyde erhielt von Karl den Auftrag, bei Sultan Mehmed IV. um einen Kredit zu ersuchen, im Gegenzug verlieh er ihm das Konsulat von Smyrna.70 Henry Hyde kam am 9. Mai 1650 in Konstantinopel an und traf sich in den folgenden Tagen mehrmals mit Bendish in dessen Botschafterpalast zum Essen.71 Dabei erklärte er, dass er ihn zwar nicht als Botschafter ablösen solle, dass der König allerdings unzufrieden mit ihm sei und Hyde daher beauftragt habe, nach dem Rechten zu sehen.72 Als er dann aber von Bendish wiederholt verlangte, für ihn eine Audienz beim Großwesir zu arrangieren, wurde dieser misstrauisch, ob Hyde nicht doch den Botschafterposten anstrebte.73 Aus eigener Erfahrung wusste Bendish nur zu gut um die performative Kraft einer Audienz. Und wie sich zeigt, waren die Befürchtungen Bendishs nicht unberechtigt. Denn offenbar hatte Karl Stuart zu diesem Zeitpunkt wirklich die Absicht, ihn als Botschafter zu ersetzen – wenn auch wohl nicht durch Henry Hyde.74 Um die wahren Absichten Hydes genauer zu durchschauen, fragte Bendish ihn daher, mit welchem Titel er ihn beim Großwesir ankündigen solle, „whether Ambassador, Inter-nuntio, or otherwise“.75 Er ging offenbar davon aus, dass 69 Dazu siehe Fissel/Goffman, Scaffold (wie Anm. 19), S. 425; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 51–67; Kaiser, Politik und Geschäft (wie Anm. 59), S. 308f. 70 Fissel/Goffman, Scaffold (wie Anm. 19), S. 431f.; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 161. 71 Das Tagebuch Bendishs setzt mit der Ankunft Hydes in Konstantinopel ein. Es ist vorhanden in The Essex Record Office, D/DHf 04, Diary of Sir Thomas Bendish, Ambassador to the Ottoman or Sublime Porte, Constantinople. 72 Ebd. Aus zwei Gründen sei Karl unzufrieden: erstens, weil Bendish während der Gottesdienste nicht mehr für den König beten lasse, und zweitens, weil er den Osmanen englische Schiffe zur Verfügung gestellt habe. 73 Zu den Befürchtungen Bendishs vgl. Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 102f. 74 Der Gesandte des Königs in Venedig hatte erklärt, Karl wolle Bendish durch seinen Vertrauten John Berkeley ersetzen. CSP Ven. 1647–52, Nr. 401, Sitzungsbericht des Collegio, Venedig 18.4.1650 (a. St.) & 405, Anweisung an den Bailo in Konstantinopel, Venedig 17.5.1650 (a. St.). 75 Den Briefwechsel mit Hyde ließ Bendish später in England veröffentlichen, um sein korrektes Verhalten zu dokumentieren. Ders., A Brief Narrative and Vindication of Sir Thomas Bendysh Knight and Barronet, Ambassador with the Grand Seignieur; in Defence of Himself, in the Matter Concerning Sr. Henry Hyde or the Said Embassy, who Arrived at Constantinople the 9th of May, and Departed for England About the End of August 1650, [London] 1660. Er hatte den Brief-

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Hyde gezwungen sein würde, sich offiziell als Botschafter ankündigen zu lassen, wenn er das Amt mit osmanischer Hilfe übernehmen wolle. Als Hyde daraufhin antwortete, er solle als „Extraordinary Ambassador of his Majesty“ angekündigt werden, war Bendish endgültig gewarnt. Zum einen galt in der diplomatischen Rangfolge der ‚außerordentliche‘ Botschafter mitunter als ehrenvoller als der ‚ordentliche‘.76 Zum anderen war der Machtkampf in England zwischen König und Parlament schon an anderen Höfen gerade auch über die Diplomatie erbittert geführt worden. Nicht nur, weil die Anhänger der Krone dabei zum Teil über Leichen gingen,77 war Bendish zur Vorsicht gezwungen. Er schrieb, er könne nichts unternehmen, ohne die Instruktionen des Königs selbst gesehen zu haben, und ließ sich auch durch die im Ton immer schärfer werdenden Briefe Hydes in den folgenden Tagen nicht umstimmen.78 Henry Hyde befand sich zu diesem Zeitpunkt in derselben Lage wie Thomas Bendish bei seiner eigenen Ankunft in Konstantinopel einige Jahre zuvor. Es verwundert daher nicht, dass er dieselbe Maßnahme ergriff und direkt beim Großwesir um eine Audienz ersuchte, die dann auf den 18. Mai festgesetzt wurde. Auch Hyde war klar, dass die Audienz derjenige Ort war, an dem über den Status eines Gesandten entschieden wurde und an dem dieser Status performativ festgeschrieben wurde – und laut Robert Bargrave war sein Ziel wirklich „to be receivd Ambassador“.79 Zudem hatten sich schon kurz nach seiner Ankunft Teile der englischen Kaufleute auf seine Seite geschlagen.80 Bendish

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wechsel ebenfalls in sein Tagebuch aufgenommen. Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71). Erich H. Markel, Die Entwicklung der diplomatischen Rangstufen, Erlangen 1951, S. 53–55; Lachs, Diplomatic Corps (wie Anm. 29), S. 4. So wurde der Gesandte des Parlaments an die Generalstaaten Isaac Dorislaus am 12. Mai 1649 in Den Haag von Anhängern Karls – und unter Beteiligung des portugiesischen Botschafters – getötet. Der Diplomat Anthony Ascham wurde gut zwei Wochen später, am 27. Mai, in Madrid ermordet, wohl unter Mithilfe der königlichen Gesandten Cottington und Hyde, in jedem Fall unter der des venezianischen Botschafters. Inwieweit diese Attentate auf Karl Stuart zurückgingen, ist ungewiss. Dazu Jason T. Peacey, Order and Disorder in Europe: Parliamentary Agents and Royalist Thugs 1649–1650, in: The Historical Journal 40 (1997), S. 953–976. Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71). Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 104. So berichtete der venezianische Botschafter: „The English merchants are divided into factions, so it is likely that fresh quarrels will arise among them.“ CSP Ven. 1647–52, Nr. 403, der Bailo Soranzo an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 11.5.1650 (a. St.).

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musste also unter allen Umständen vermeiden, dass Hyde vom Großwesir alleine empfangen wurde. Er begab sich daher am Morgen der Audienz vor der Ankunft Hydes gemeinsam mit einigen Verbündeten zum Diwan und forderte den Großwesir auf, ebenfalls teilnehmen zu dürfen. Der Wesir entschied daraufhin, dass mittags um zwölf Uhr beide Parteien gemeinsam empfangen werden sollten, um ihre Positionen vorzubringen.81 Bei der Sitzung erschienen dann jedoch nur die jeweiligen Verbündeten von Bendish und Hyde und stritten um die Legitimität der Ansprüche. Der Großwesir ließ dann aber zusätzlich auch noch Henry Hyde herbeiholen, um ihn zu vernehmen, was nun wiederum Thomas Bendish zum Handeln zwang. Er stürmte mit einigen Anhängern ebenfalls in die Audienz, von denen einer, James Modyford, auf Türkisch direkt auf den Wesir einredete. Dabei verunglimpfte er Hyde offenbar so erfolgreich, dass der Großwesir diesen umgehend und unehrenhaft der Audienz verwies.82 Wieder hatte Thomas Bendish seinen Anspruch als Botschafter erfolgreich verteidigt. Dabei wird erneut sehr deutlich, was für eine entscheidende Rolle die Audienz dabei spielte. Hier war der Ort, an dem die Gesandten um ihren Status ringen mussten – und, wenn sie mit den nötigen Ehren empfangen wurden, an dem der Status performativ hergestellt wurde. Bendish konnte daher zufrieden in seinem Tagebuch notieren, dass Hyde, obwohl er dem Großwesir zwölf Gewänder als Geschenk überreicht hatte, selber nicht feierlich eingekleidet worden war und darüber hinaus beim Verlassen des Palastes auf sein Pferd verzichten musste.83 Sein Botschafterposten schien zu diesem Zeitpunkt nicht weiter in Gefahr. Dabei hatte er den Großwesir offensichtlich erneut vor allem mit dem Argument überzeugt, dass er die Kontrolle über den englischen Handel und die englischen Schiffe besitze.84 Doch Henry Hyde nahm seine Niederlage nicht hin. Am 11. Juni, über drei Wochen nachdem der Großwesir ihn aus dem Diwan geworfen hatte, erschien er wieder mit 16 Getreuen zu einer Audienz. Er bezichtigte Bendish des Landesverrats und gab an, inzwischen die gesamte englische Kaufmannschaft im 81 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 18.5.1650. Zum Folgenden siehe Fissel/Goffman, Scaffold (wie Anm. 19), S. 436f.; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 165f. 82 Dies berichtete Robert Bargrave, der Bedienstete James Modyfords. Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 104. 83 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 18.5.1650. 84 So habe der Großwesir, bevor er Hyde aus dem Diwan entließ, ausgerufen, „I must have shipps & merchants“. Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 166.

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Osmanischen Reich hinter sich zu haben. Außerdem stehe König Karl mit einem großen Heer in Schottland und sei kurz davor, England zurückzuerobern, sodass er in Kürze der rechtmäßige Botschafter Englands in Konstantinopel sei.85 Nun wusste Großwesir Kara Murad sich nicht mehr zu helfen. Was er dann aber tat, lässt tief in die osmanische Sicht auf die westeuropäische Diplomatie blicken: Kara Murad ließ einen Diener namens Mustafa Çavuş kommen, der schon einmal auf einer diplomatischen Mission in England gewesen war, und fragte diesen, wie ein englischer Botschafter gewöhnlich legitimiert werde. Mustafa erklärte, Botschafter würden mindestens vom König und der Levant Company, meistens auch noch vom Parlament autorisiert, wie dies bei Thomas Bendish der Fall sei. Hyde hingegen habe keine der erforderlichen Vollmachten – nicht einmal die Briefe Karl Stuarts wurden somit anerkannt.86 Ganz deutlich ist an der Nachfrage des Großwesirs zu erkennen, wie wenig den Osmanen das westliche Botschafter-Konzept präsent war. Für sie spielte es im Normalfall ganz offensichtlich keine Rolle, ob ein Gesandter von einem souveränen Herrscher autorisiert war oder nicht. Lange schon verhandelten sie mit den Abgesandten der italienischen Stadtrepubliken, besonders natürlich Venedig, und seit dem frühen 17. Jahrhundert auch mit den Niederlanden. Auch dass England inzwischen eine Republik war, änderte nichts an der Stellung des Botschafters – ganz im Gegensatz etwa zur Situation an westlichen Höfen.87 Gleichzeitig zeigt sich ebenso deutlich, dass die Gesandten selbst nicht aus diesem Deutungssystem ausbrechen konnten. Schon Bendishs Nominierung 1646/47 hatte sich über ein Jahr hingezogen, weil man in England fest davon ausgegangen war, die Osmanen würden darauf bestehen, dass König und Parlament gemeinsam einen Kandidaten mit Vollmachten ausstatteten. Ein Botschafter wurde eben als Stellvertreter eines souveränen Herrschers gedacht, weshalb Republiken stets um ihre Anerkennung kämpfen mussten.88 Dies setzte auch die neu entstandene englische Republik unter großen Druck bei der sym85 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 11.6.1650. 86 Ebd. 87 Denn hier gerieten die englischen Botschafter nach der Abschaffung der Monarchie sehr wohl in zeremonielle Rangkonflikte und es kam sogar zu tätlichen Übergriffen. Dazu Anderson, Diplomacy (wie Anm. 11), S. 60f.; Peacey, Order and Disorder (wie Anm. 77); Linda S. Frey/Marsha Frey, Diplomatic Immunity, (wie Anm. 20), S. 244–246. 88 Vgl. Anderson, Diplomacy (wie Anm. 11), S. 59–61; Roosen, Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 66), S. 457f., 461; Stollberg-Rilinger, Honores regii (wie Anm. 20), S. 16f., 20f.; Krischer, Souveränität als sozialer Status (wie Anm. 20), S. 14.

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bolischen Anerkennung ihrer Souveränität – nicht zuletzt deshalb, weil infolge des Westfälischen Friedenskongresses der Souveränitätsgedanke besondere Aktualität besaß.89 Im Fall von Bendish und Hyde führte das zu der paradoxen Situation, dass beide darauf pochten, legitime Vertreter des Königs eines Landes zu sein, das eine Republik war und keinen König hatte. Bendish berief sich auf den inzwischen hingerichteten Karl I., Hyde auf dessen im Exil lebenden Sohn. Sie ignorierten damit die gerade stattfindende symbolische ‚Neuerfindung‘ des Commonwealth und das damit verbundene Bestreben, selbst als souveränes Völkerrechtssubjekt anerkannt zu werden.90 Offensichtlich erschien ihnen der Bezug auf einen Souverän als ein besonders schlagkräftiges Argument – und die Osmanen hatten ohnehin nur ein begrenztes Interesse an den politischen Verhältnissen in England. Kara Murad informierte sich daher über die Modalitäten der Botschafterernennung, nicht weil er dem westlichen Souveränitätsprinzip Bedeutung zugemessen hätte, sondern weil er an guten Handelsbeziehungen mit England und militärischer Hilfe durch englische Schiffe interessiert war. Dazu war er gezwungen herauszufinden, welcher der beiden Gesandten im Auftrag der Regierung handelte und mit wem er seine Ziele erreichen konnte. Der Großwesir folgte daher der Aussage seines Dieners und erklärte Thomas Bendish zum legitimen englischen Botschafter. Dass die Sachlage anders aussehe, wie er gesagt haben soll, wenn Karl Stuart sein Königreich zurückerlangt haben würde,91 lässt sich ebenfalls mit seinem machtpolitischen Kalkül erklären. Als Kara Murad 89 André Krischer, Souveränität ohne Autorität. Zur Verfassungskultur der englischen Republik (1649–1653), in: Kommunikation und Konfliktaustragung. Verfassungskultur als Faktor politischer und gesellschaftlicher Machtverhältnisse, hg. von Werner Daum u.a., Berlin 2010, S. 35–76, hier S. 37f. 90 In den neuen zeremoniellen Formen kam daher auch ein kollektives politisches Selbstbewusstsein des Parlaments zum Ausdruck. Bei ihrer ‚Erfindung‘ orientierte sich der Zeremonienmeister Oliver Flemming an anderen „free states“, vor allem an Venedig und der Eidgenossenschaft. Dazu Sean Kelsey, Inventing a Republic. The Political Culture of the English Commonwealth, 1649–1653, Manchester 1997, hier besonders S. 53–78. Im Anschluss an Kelsey hat André Krischer noch einmal betont, dass die englische Republik mit den neuen symbolischen Repräsentationsformen ihren Souveränitätsanspruch zu verdeutlichen versuchte. So verzichtete das Parlament in den diplomatischen Beziehungen mit den westeuropäischen Höfen etwa demonstrativ darauf, monarchische Symbole zu verwenden, z.B. in der Titulatur der Botschafter. Dazu Krischer, Souveränität ohne Autorität (wie Anm. 89), besonders S. 39f., 47f. 91 Dies berichtet jedenfalls der venezianische Botschafter in Wien, wobei nicht ganz klar ist, wann diese Äußerung des Großwesirs gefallen sein soll. CSP Ven.

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daraufhin Henry Hyde auch bei seiner zweiten Audienz aus dem Diwan werfen ließ, schärfte er ihm ein, auf keinen Fall noch ein weiteres Mal in dieser Angelegenheit vorstellig zu werden.92 Trotz dieser eindeutigen Vorgabe des Großwesirs ersuchte Hyde bereits wenige Tage später erneut um eine Audienz, die Kara Murad – das verwundert inzwischen nicht mehr – ablehnte. Als sich daraufhin auch noch der französische Botschafter in einer Audienz für Hyde massiv einsetzte, wurde der Großwesir endgültig ungehalten. Er wies den französischen Botschafter an, sich aus den Angelegenheiten der Engländer herauszuhalten, und ließ Hyde am 16. Juni festnehmen, mit einem Schiff nach Smyrna bringen und dem dortigen englischen Konsul übergeben.93 Dort angekommen, konnte Hyde sich jedoch zunächst mit Hilfe des französischen Konsuls auf ein im Hafen liegendes französisches Schiff flüchten, von wo aus er weiter versuchte, die englische Gemeinschaft hinter sich zu bringen94 – allerdings ohne Erfolg.95 Bendishs Status als Botschafter geriet ohnehin nicht mehr in Gefahr. Er erhielt am 5. Juli eine weitere sehr ehrenvolle Audienz beim Großwesir, in der ihm dieser sein Vertrauen aussprach und ihn und sieben Begleiter noch einmal mit Ehrengewändern einkleidete.96 Als Kara Murad dann am 26. Juli abgesetzt wurde, wurde Bendish auch von seinem Nachfolger, Großwesir Melek Ahmed Pascha, in mehreren Audienzen ehrenvoll empfangen.97

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1647–52, Nr. 422, der venezianische Botschafter in Wien Sagredo an den Dogen und den Senat, Wien 24.8.1650 (a. St.). Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 11.6.1650. Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 17.6.1650. TNA, SP 97/17, fol. 35, Bendish an den Council of State, Konstantinopel 6.8.1650. So schrieb Hyde etwa am 5. Juli einen Brief an die englischen Kaufleute in Smyrna, in dem er seine Ansprüche auf das Konsulat von Smyrna untermauerte und Bendish anklagte „for his delaying and denying obedience to his Ma[jes]ties commands exhibited unto him under his royall signature, and other iratorous practices, by him and his rebellious complices and impudent incendiaryes“. Ebd., fol. 31, Hyde an die Kaufleute von Smyrna, Smyrna 5.7.1650. Dazu auch Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 169f. Die Kaufleute antworteten, Hydes Anspruch auf das Konsulat von Smyrna wäre „as falce as your p[re]tences have been to the Embassy“, TNA, SP 97/17, fol. 35, fol. 33, Kaufleute von Smyrna an Hyde, Smyrna 3.8.1650. Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 5.7.1650. Auch das Datum der Absetzung gibt Goffman im neuen Stil an (also dem 5. August), wodurch es zu Widersprüchen im Ablauf der Ereignisse kommt. Bendish nennt im alten Stil den 26. Juli, die erste Audienz hat er drei Tage später am 29. Juli, die zweite dann am 12. August.

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Der Konflikt mit Henry Hyde eskalierte noch einmal, als er schließlich gefangen genommen wurde, um nach England gebracht zu werden. Seine Anhänger, vor allem der französische Konsul, nahmen Mitglieder der Gegenpartei als Geiseln, um ihn freizupressen. Diese wurden dann jedoch, nachdem auch die Verbündeten Bendishs einige Geiseln genommen hatten, wieder freigelassen.98 Henry Hyde war inzwischen am 5. September auf ein englisches Schiff gebracht und zurück nach England geschickt worden, wo er im Januar 1651 ankam.99 Dort wurde er unter Anklage gestellt, verurteilt und am 4. März hingerichtet. Auf dem Schafott räumte er ein, eigenmächtig gehandelt zu haben und von Karl Stuart niemals zum Botschafter, sondern lediglich zu einem „Internuncio“ ernannt worden zu sein, also einem Boten an den Sultan.100 Wie gegen Sackville Crowe, so hatte Thomas Bendish nun also auch gegen Henry Hyde seinen Status als Botschafter erfolgreich verteidigt. Dabei war es erneut nicht die diplomatische Legitimität der Ansprüche, die die Osmanen dazu brachte, ihn zu unterstützen. Für sie spielte es keine Rolle, ob ein ausländischer Botschafter von einem souveränen Herrscher autorisiert war. Womit Bendish in den verschiedenen Audienzen erst den alten und dann den neuen Großwesir auf seine Seite zog, waren daher auch ganz handfeste Argumente: „I am certain that the English parliamentary ambassador here has promised 15 or 20 ships on condition that the gentleman sent here by his Majesty of Great Britain and who was at Smyrna on a French ship, shall be put on board an English ship and taken to England to be handed over to the parliament.“101 Mit dieser Vermutung scheint der französische Botschafter in Konstantinopel Jean de la Haye die Lage richtig erkannt zu haben. Wieder hatte Bendish sein Amt 98 Eine der Geiseln war Robert Bargrave, der ausführlich über diese Zeit berichtet. Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 104–109. Der Verlauf der Ereignisse kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Siehe dazu Fissel/Goffman, Scaffold (wie Anm. 19), S. 441f; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 171–176. 99 Die Nachricht von Hydes Abfahrt am 5. September von Smyrna erreichte Bendish in Konstantinopel am 11. September. Goffman gibt als Abfahrtszeitpunkt Mitte August an, weshalb er annimmt, dass die englischen Kaufleute erst nach Hydes Abreise gekidnappt worden seien. Ebd. Vgl. auch noch einmal den Bericht Bendishs an den Council of State vom 14.1.1651 (TNA, SP 97/17, fol. 57f.). 100 A True Copy of Sir Henry Hide’s Speech on the Scaffold, Immediately Before his Execution Before the Exchange, on the 4th of March, 1650. Taken in Shorthand from his Mouth, London 1651, S. 7, 9. 101 CSP Ven. 1647–52, Nr. 424, der französische Botschafter de la Haye an den Dogen und den Senat, Konstantinopel 31.8.1650 (a. St.).

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gegen militärische Hilfe für den Seekrieg gegen Venedig eingetauscht. Wie sich jedoch später herausstellen sollte, handelte er dabei ohne Rücksprache mit der Levant Company, ja sogar gegen deren Willen. Denn wie man aus London hörte, konnte der Direktor der Company nicht glauben, dass Bendish so weit gegangen war.102

III. Bendish hatte mit seinem eigenmächtigen Verhalten zwar sein Amt vorerst verteidigt, seinen Arbeitgeber103 damit aber so verärgert, dass seine Unterstützung in London zu bröckeln begann.104 Die Auseinandersetzungen Englands mit den Niederlanden führten jedoch zunächst dazu, dass der Frage der Besetzung des Botschafterpostens in Konstantinopel keine Priorität eingeräumt wurde.105 Auf Drängen der Levant Company bereitete dann aber das neu eingerichtete Committee for Trade and Foreign Affairs zu Beginn des Jahres 1652 102 So der toskanische Resident in London, Amerigo Salvetti, der auf Veranlassung Venedigs bei der Levant Company Nachforschungen betrieben hatte. CSP Ven. 1647–52, Nr. 455, London 6.1.1651 (a. St.); Nr. 439 & 444, Anweisungen an den venezianischen Botschafter in Frankreich, Morosini, Venedig 23.11. & 21.12.1650 (a. St.). 103 Auch wenn die Levant Company nicht frei über die Besetzung des Botschafterpostens verfügen konnte, so wurde der Botschafter trotzdem aus ihren Mitteln bezahlt. 104 Erneut berichtete der toskanische Resident in London über seine Gespräche mit den Vertretern der Levant Company: „They had received no such news and did not believe it. Their orders were precise and they showed the entry in their registry book. They said that if the ambassador had any such idea he would not have asked the Company to obtain a decree from parliament forbidding any ships or sailors to serve foreign powers.“ CSP Ven. 1647–52, Nr. 459, London 23.1.1651 (a. St.). Siehe dazu auch die „Articles of Treason“, die Bendish vorgeworfen wurden. TNA, SP 97/17, fol. 76. 105 So sagte später Oliver Flemming, der Zeremonienmeister der Regierung, Bendish wäre längst abgesetzt worden, wenn der Krieg mit den Niederlanden nicht dazwischen gekommen wäre. CSP Ven. 1653–54, Nr. 77, der venezianische Sekretär in London Paulucci an den venezianischen Botschafter in Paris Sagredo, London 12.4.1653. Zu diesem Krieg kam es infolge des ersten Navigation Act, mit dem England den niederländischen Zwischenhandel auszuschalten versuchte, indem nur noch englische Schiffe oder Schiffe der Erzeugerländer Waren nach England transportieren durften. Dazu J. E. Farnell, The Navigation Act of 1651, the First Dutch War, and the London Merchant Community, in: The Economic History Review, New Series 16 (1964), S. 439–454.

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die Absetzung Bendishs vor,106 was dieser verhindern konnte, indem er seinen Sohn umgehend nach London schickte.107 Ein Jahr später gab es erneute Bemühungen. Da – wie so oft – kein geeigneter Kandidat für den Posten des Botschafters zur Hand war,108 präsentierte das Committee Richard Lawrence, der Bendish als Agent ersetzen und England so lange an der Pforte vertreten sollte, bis ein passender Botschafter gefunden war.109 ‚Agenten‘ waren die rangniedrigste Stufe der Gesandten. Sie wurden meist an Höfe entsandt, die keine große politische Bedeutung besaßen, und vertraten dort die Handelsinteressen Englands.110 Am 1. September 1653 wurde Lawrence von der englischen Regierung mit den passenden Instruktionen ausgestattet.111 In ihrem Brief an Bendish begründete die Levant Company den Schritt damit, dass das Parlament aufgrund des mittlerweile nur noch schwachen Handels Englands mit dem Osmanischen

106 Als Nachfolger wurde ein Mr. Methold vorgeschlagen. CSP Dom. Ser., 1651– 1652, S. 157, Protokoll der Sitzung des Council of State, London 27.2.1652. Das Committee for Trade and Foreign Affairs war erst wenige Monate zuvor, am 17. Dezember 1651, entstanden und nahm in der Folge eine wichtige Rolle in der Handels- und Außenpolitik des Commonwealth ein. Dazu Robert Thomas Fallon: Milton in Government, University Park 1993, S. 30f. 107 Offensichtlich gelang es dem Sohn, Zwietracht zwischen der Levant Company und dem englischen Parlament zu säen und so die Entscheidung zu Bendishs Ablösung zu verhindern. Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 185. 108 Allgemein behielt die englische Diplomatie bis ins 18. Jahrhundert hinein einen „casual and amateurish character“. Immer gab es das Problem, fähige Diplomaten zu finden, und viele Gesandte traten ihren Posten nur an, weil ihnen für die Zeit nach ihrer Rückkehr ein ehrenvoller Posten in England garantiert wurde. „[S]ometimes a completely unsuitable man was entrusted with an important appointment merely because, for some private reason of his own, he was willing to accept it“. Anderson, Diplomacy (wie Anm. 11), S. 81f.; ähnl. Lachs, Diplomatic Corps (wie Anm. 29), S. 58–62. 109 TNA, SP 97/17, fol. 103, Beschluss des Committee for Trade and Foreign Affairs, London 24.1.1653. Siehe außerdem CSP Dom. Ser., 1652–1653, S. 184, Protokoll der Sitzung des Committee for Trade and Foreign Affairs, London 25.2.1653; siehe auch ebd., S. 190, 197, 203. 110 Lachs, Diplomatic Corps (wie Anm. 29), S. 4. Siehe außerdem Markel, Rangstufen (wie Anm. 76), S. 35–40. 111 CSP Dom. Ser., 1653–1654, S. 123, Instruktionen des Council of State für Richard Lawrence, London 1.9.1653. Merkwürdigerweise gibt Goffman an, Lawrence sei am 2. Februar 1653 ernannt worden und dann innerhalb eines Monats in Konstantinopel angekommen. Ders., Britons (wie Anm. 15), S. 187f.

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Reich einen Botschafter in Konstantinopel für überflüssig halte.112 Hierbei handelte es sich jedoch offensichtlich um den Versuch, Bendish argumentativ zur Rückkehr zu bewegen, was zeigt, wie stark sich die Zentrale in London ihrer Schwäche bei der Durchsetzung von Weisungen bewusst war. Denn Lawrence sollte der osmanischen Regierung sehr wohl versichern, dass baldmöglichst ein Gesandter „in the quality of an Ambassador“ geschickt werde.113 Nach einigen Verzögerungen konnte Lawrence Mitte Oktober in See stechen,114 er kam am 30. Januar 1654 in Konstantinopel an, wo er sich umgehend mit Bendish traf.115 Dieser bot ihm an, gemeinsam zu beraten, wie im Folgenden vorzugehen sei, und versicherte ihm, alle Wünsche der Regierung und der Levant Company zu erfüllen.116 Doch entgegen dieser Aussage verschleppte er in der folgenden Zeit den Fortgang der Ereignisse. Wie immer, so war es auch im Fall Richard Lawrences notwendig, dass sein Status als Vertreter Englands in einer Audienz beim Großwesir und beim Sultan anerkannt wurde, auch wenn er lediglich mit den Befugnissen eines Agenten ausgestattet worden war. Das Problem für ihn bestand nun allerdings darin, dass der Zugang zu einer solchen Audienz nur über Thomas Bendish als Vermittler möglich war. Bendish allerdings zeigte sich nur wenig kooperativ.117 Um vom Großwesir und vom Sultan zum ersten Mal empfangen zu werden, musste ein Gesandter 112 CSP Dom. Ser., 1653–1654, S. 148, Levant Company an Bendish, London 14.9.1653. Daneben informierte die Company auch noch die englischen Kaufleute in Konstantinopel und Smyrna über die Entscheidung. Ebd., S. 148–150. 113 TNA, SP 97/17, fol. 101f., fol. 107f., Briefe des Parlaments an den Sultan. Dasselbe berichtete der ‚inoffizielle‘ venezianische Botschafter in London. CSP Ven. 1653–54, Nr. 167, der venezianische Sekretär in London Paulucci an den venezianischen Botschafter in Paris Sagredo, London 17.10.1653. Venedig wollte in den Anfängen der Republik zunächst keinen eigenen Botschafter nach London entsenden, weil unklar war, wie dieser behandelt werden würde. Man hatte daher den venezianischen Botschafter in Paris Morosini angewiesen, seinen Sekretär Paulucci nach London zu schicken, um dort Verhandlungen aufzunehmen. Dazu Kelsey, Inventing a Republic (wie Anm. 90), S. 67f. 114 Eigentlich sollte Lawrence mit der ersten Flotte Richtung Mittelmeer aufbrechen, die Abfahrt verzögerte sich jedoch aufgrund schlechter Witterungsbedingungen und vor allem durch die Wirrungen des englisch-niederländischen Seekriegs. Siehe dazu erneut die Briefe Pauluccis an den venezianischen Botschafter in Paris Sagredo, London 12.9., 3.10. & 17.10.1653. CSP Ven. 1653–54, Nr. 155, 164, 167. 115 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 30.1.1654. 116 Ebd. 117 Wie aus dem Antwortschreiben der Levant Company in England hervorgeht, hatte Lawrence dies in mehreren Briefen beklagt, so am 10. und 15. Februar,

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notwendigerweise kostbare Geschenke überreichen, da er in der Sicht der Osmanen nur so seinen Vasallenstatus – und den seines Landes – anerkannte.118 Lawrence hatte jedoch keine Geschenke aus England mit sich geführt und versuchte deshalb, sie von der englischen Gemeinschaft finanzieren zu lassen. Das war zwar nicht ungewöhnlich, verzögerte aber naturgemäß seine Audienz.119 Unmittelbar nach Lawrences Ankunft ließ Bendish dem Großwesir sein Erscheinen mit dem Hinweis ankündigen, dass Lawrence erst eine Audienz wünsche, wenn er über die nötigen Geschenke verfüge. Es ist bezeichnend für das Interesse der Osmanen an den englischen Verhältnissen, dass der Großwesir sich daraufhin erkundigte, wer denn gerade England regiere und wer den neuen Agenten geschickt habe.120 Die Beschaffung der Gelder gestaltete sich für Lawrence äußerst schwierig. Die Gemeinschaft der englischen Kaufleute in Smyrna gab an, die benötigten 8000 Löwentaler121 nicht bereitstellen zu können. Offenbar versprach sie aber, die Hälfte zu übernehmen, die andere Hälfte wollte Lawrence dann „out of my own estate“ bezahlen.122 Dass Bendish hier seine Finger im Spiel hatte, stand

am 15. und 17. März sowie am 5. und 20. April 1654. CSP Dom. Ser., 1654, S. 215, Levant Company an Lawrence, London 19.6.1654. Siehe hierzu außerdem Wood, Levant Company (wie Anm. 17), S. 93f.; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 188–190. 118 Vgl. Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 33), S. 101–104; Petritsch, Ehrengeschenk (wie Anm. 37); Burschel, Hündchen (wie Anm. 34), besonders S. 418– 421; Kühnel, Fascination or Supremacy? (wie Anm. 37). 119 Es war normal, dass die englischen Kaufleute als Gemeinschaft für diplomatische Geschenke aufkommen mussten. Dazu Anderson, English Consul (wie Anm. 7), S. 129f. 120 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 3.2.1654. Zur Kritik an der Vorstellung, die Osmanen hätten sich nicht für die Verhältnisse in Westeuropa interessiert, Gerald MacLean, Looking East. English Writing and the Ottoman Empire Before 1800, Basingstoke 2007, S. 209. 121 Offenbar hatte Bendish diese Summe als notwendig angegeben. So Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 189. Der niederländische Löwentaler („Leeuwendaalder“) war eine Art universales Zahlungsmittel im Fernhandel zwischen Westeuropa und der Levante. Dazu Ralph Davis, Money in the Levant, in: Aleppo and Devonshire Square. English Traders in the Levant in the Eighteenth Century, hg. von dems., London 1967, S. 189–206. 122 TNA, SP 97/17, fol. 123f., Lawrence an den Council of State, Konstantinopel 22.3.1654. Auf Lawrences Anfrage hin teilte die englische Gemeinschaft in Smyrna erst nach über einem Monat mit, dass sie 4425 Taler bereitstellen könne. Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Einträge vom 1.2.–9.3.1654.

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für Lawrence außer Frage.123 Auch sah er sich veranlasst, sich gegenüber Lawrence zu verteidigen. Er habe von Beginn an eine Audienz organisieren wollen, „with, or without a present“, und ihm sei daher kein Vorwurf zu machen. Sobald er seine Abfindung von 3700 Talern erhalten habe, werde er sich bereitwillig auf den Weg zurück nach England machen.124 In den folgenden Monaten wurde das Verhältnis zwischen den beiden immer eisiger. Wiederholt lud Bendish Lawrence zu Festlichkeiten in die englische Botschaft ein, so etwa zum Erntedank- oder Osterfest, doch stets lehnte dieser ab – unter anderem mit dem Verweis, er wolle Bendish erst wieder zu Gesicht bekommen, wenn er ihm auch seine Abfindung überreichen könne.125 Bendish ging inzwischen weiterhin seiner Tätigkeit als Botschafter nach. Regelmäßig suchte er den Großwesir und andere hohe Würdenträger auf, um sich deren Unterstützung gegenüber Lawrence zu sichern. Am 4. Mai notierte er in sein Tagebuch: „The Vizier swore that he never had sent for him noe never would, noe desired to see him.“126 Kara Murad, der frühere Großwesir und jetzige Kapudan Pascha, ließ ihn am 26. April angeblich wissen, dass Lawrence als Agent der Ehre des Sultans nicht angemessen sei und der nächste englische Gesandte unbedingt wieder den Rang eines Botschafters bekleiden müsse.127 Dass der Sultan einen Agenten wirklich für unangemessen hielt, ist aber eher unwahrscheinlich, da, wie Paul Rycaut nur wenige Jahre später berichtete, die Osmanen eigentlich keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Rängen machten.128 Und auch Lawrence vermutete, Bendish selbst habe den Osmanen diese Sichtweise eingeredet, um ihn zu diskreditieren, was etwa auch daran zu sehen sei, dass sie schon häufig mit englischen und niederländischen Agenten 123 Vgl. die Briefe von Lawrence an den Lordprotector and Council of State, Konstantinopel 22.3. und 13.5.1564 (SP 97/17, fol. 123–126). 124 Den Brief an Richard Lawrence vom 14. März 1654 gibt er in seinem Tagebuch wieder. Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71). 125 „I sent my cheife Drogerman [Chefübersetzer] to invite him to all, but he refused saying that untill he brought me my mony he would not see my face.” Ebd., Einträge vom 16.3.–25.3.1654. 126 Er besuchte den Großwesir am 8. und 17. April sowie am 4. und 18. Mai, den Großmufti am 24. April. Ebd. 127 Ebd., Eintrag vom 26.4.1654. Der Kapudan Pascha war der oberste Befehlshaber der osmanischen Seestreitkräfte. 128 „It is worth observation, that the Turks make no difference in the name between an Embassadour, Resident, Agent, or any petty Messenger sent or residing upon a publick Affair; the name Elchi, serves them to express all“; Rycaut, Present State (wie Anm. 8), S. 89.

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verhandelt hätten: „whereas it is well knowne that the Turkes esteeme our presents more then our persons“.129 Bendish wollte demnach nur seinen eigenen Wert für England an der Pforte unterstreichen. Als Lawrence schließlich im Sommer 1654, also ein halbes Jahr nach seiner Ankunft, endlich die Geschenke für den Großwesir und den Sultan zur Verfügung hatte, waren diese nicht mehr bereit, ihn zu empfangen.130 Wieder einmal hatte Bendish seine Macht durch geschicktes Taktieren erfolgreich gesichert. Wie in den Jahren zuvor hatte er es verstanden, die Mitglieder der osmanischen Regierung in verschiedenen Audienzen auf seine Seite zu bringen und so das Durchsetzungsdefizit der englischen Regierung auszunutzen. Auch die Zentrale in England erkannte, dass ihr Vorhaben, den unliebsamen Botschafter in Konstantinopel übergangsweise durch einen Agenten zu ersetzen, nicht aufging. Daher wurde Richard Salway, der offenbar schon länger für das Amt vorgesehen war, am 14. August 1654 von Cromwell zum neuen englischen Botschafter ernannt.131 Die Levant Company informierte umgehend Lawrence und andere Amtsträger im Osmanischen Reich und bat darum, bis zu Salways Ankunft alle Auseinandersetzungen mit Bendish zu vermeiden.132 Doch wieder wandte sich das Blatt: Als ein Freund von ihm starb, musste sich Salway um dessen Grundbesitz kümmern und bat daher im Februar 1655, vom Amt des Botschafters zurücktreten zu dürfen.133 Bendish nahm diese Nachricht beruhigt auf.134 Und wie sich zeigt, hatte er die Gefahr seiner Abberufung damit auch endgültig überstanden. Am 26. Oktober 1655 erhielt er die, wie er schrieb, 129 Bendish habe versucht, „to infuse into the head of the Turkes that it would bee dishonourable unto the Grand Sig[neur] to receave any who would not come quallified as an Ambassador“; „whereas it is well knowne that the Turkes esteeme our presents more then our persons, and for that gaine have receavd sundry Agents both Inglish and Dutch and doubtless would doe it more, were it not for this opposition made by Sr. Thomas Bendish.“ TNA, SP 97/17, fol. 125f., Lawrence an den Lordprotector and Council of State, Konstantinopel 13.5.1654. 130 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 22.6.1654. 131 CSP Dom. Ser., 1654, S. 340, Levant Company an Richard Salway, London 30.8.1654. Schon am 1. September 1652 war Salway von der Levant Company zum Botschafter bestimmt, bisher aber noch nicht vom Parlament bestätigt worden. Wood, Levant Company (wie Anm. 17), S. 93; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 185f. 132 CSP Dom. Ser., 1654, S. 364f., Briefe der Levant Company an Lawrence sowie an die Konsuln in Aleppo und Smyrna, London 7. & 25.9.1654. 133 Wood, Levant Company (wie Anm. 17), S. 94; Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 191. 134 Diary of Sir Thomas Bendish (wie Anm. 71), Eintrag vom 14.4.1655.

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„good news from England“:135 Die Levant Company teilte ihm mit, man habe ihn zwar eigentlich ersetzen wollen, da er sich jedoch inzwischen wieder um ihre Belange verdient gemacht habe, könne er vorerst den Botschafterposten behalten.136 Gleichzeitig schrieb man an Lawrence und gestand die Niederlage gegen Bendish ein: „We have tried to settle your business at Constantinople, and ease ourselves of charges, but have not succeded.“ Die Company beorderte Lawrence daher zurück nach England.137 Nun weigerte sich jedoch Lawrence, den Anweisungen Folge zu leisten. Er gab an, als Gesandter Englands könne seine Rückberufung nicht durch die Levant Company, sondern allein durch das Staatsoberhaupt, also Oliver Cromwell, erfolgen.138 Mit dieser Berufung auf das Souveränitätskonzept bemühte er sich, seine Mission eindeutig als eine diplomatische auszuzeichnen und so die sehr viel prestigeträchtigere Dimension gegenüber der des Vertreters der englischen Handelsinteressen zu betonen – eine Deutung, die die englischen Botschafter in Konstantinopel generell durchzusetzen versuchten.139 Die Levant Company äußerte jedoch ihr Unverständnis, „since you were never introduced into the employment you were designed for“.140 Die Forderung sei daher „needless and irrational“.141 Lawrence war aus Sicht der Levant Company also kein Diplomat, weil er nicht im Rahmen einer Audienz beim Großwesir und beim Sultan als solcher empfangen worden war. In England stand die performative Bedeutung der Audienz als dem Ort, an dem ein Diplomat ‚gemacht‘ wurde, außer Frage.142

135 Ebd., Eintrag vom 26.10.1655. 136 CSP Dom. Ser., 1655, S. 336f., Levant Company an Bendish, London 17.9.1655. 137 CSP Dom. Ser., 1655, S. 337, Levant Company an Lawrence, London 17.9.1655. 138 Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 190. 139 Mather, Pashas (wie Anm. 28), S. 135. Bezeichnenderweise hoben im Gegenzug die konkurrierenden europäischen Diplomaten an der Pforte stets die kommerzielle Bedeutung der englischen Gesandten hervor, um sie zu diskreditieren und ihren Einfluss zu untergraben (ebd.). 140 CSP Dom. Ser., 1655–1656, S. 59f., Levant Company an Lawrence, London 17.12.1655. 141 CSP Dom. Ser., 1655–1656, S. 68, Levant Company an Bendish, London 24.12.1655. 142 So sagt Lachs generell zu Antrittsaudienzen in der europäischen Diplomatie: „Whatever the form took, the audience with the souvereign power marked the formal initiation of the mission. It had the characteristics of a symbolic rite, overriding the behavior of the participants.“ Ders., Diplomatic Corps (wie Anm. 29), S. 107.

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Um die Angelegenheit aber endgültig zu beenden, wurde Richard Lawrence dann noch einmal ein Abberufungsschreiben von Cromwell zugesandt.143

IV. Thomas Bendish war vor Beginn des Commonwealth englischer Botschafter in Konstantinopel geworden und er sollte es auch noch an dessen Ende sein. Schon seine Ernennung 1647 während des Bürgerkriegs war eine Folge der politischen Verhältnisse in England, da das erstarkte Parlament den königstreuen Botschafter Sackville Crowe ersetzen wollte – hierfür allerdings noch die Zustimmung des Königs einholte. Genauso basierte die Weigerung Crowes, die Briefe von König und Parlament anzuerkennen, auf der Krise der Monarchie. Auch der Konflikt mit Henry Hyde 1650 – die Existenz von zwei englischen Botschaftern an der Pforte – resultierte unmittelbar aus dem Machtkampf zwischen Commonwealth und Thronprätendenten. Davon, dass der englische Botschafter im Osmanischen Reich relativ unabhängig von der Politik in England war,144 kann demnach keine Rede sein. Stattdessen spiegelten sich die englischen Verhältnisse in Konstantinopel unmittelbar wider. Das war auch mit der Restauration so. Nachdem Karl II. am 29. Mai 1660 unter großem Jubel der Bevölkerung in London eingezogen und die Monarchie wiederhergestellt worden war, dauerte es keinen Monat, bis er sich für einen neuen Botschafter im Osmanischen Reich entschieden hatte – obwohl Bendish ihm noch zuvor die Treue geschworen hatte.145 Am 25. Juni teilte er der Levant Company mit, Thomas Bendish durch Heneage Finch, den dritten Earl of Winchilsea, ersetzen zu wollen. Winchilsea war damit der erste peer, der englischer Botschafter an der Pforte wurde, und Karl gab in seinem Schreiben an, dem Amt auf diese Weise zu noch größerer Reputation verhelfen zu wollen.146 Zwar versuchte die Company noch mit 143 CSP Dom. Ser., 1655–1656, S. 332, Levant Company an Lawrence, London 22.5.1656. Dennoch weigerte er sich noch Ende 1656, die Heimreise anzutreten. CSP Dom. Ser., 1656–1657, S. 204f., Levant Company an Bendish, London 19.12.1656. Wann er nach England zurückkehrte, ist unklar. 144 So Lachs, Diplomatic Corps (wie Anm. 29), S. 14. 145 Umgehend nachdem Bendish von der Krönung Karls gehört hatte, hatte er in einem Brief an den König versichert, immer ein treuer Royalist gewesen zu sein. BL, Egerton MS, 2537, fol. 114f., Bendish an Karl II., Konstantinopel 25.7.1660. 146 „Whereas wee finde it expedient for the good of Our affaires, to recall Sr. Thomas Bendish from his Employment at Constantinople, and to send in his roome a

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dem Argument zu intervenieren, Winchilsea sei für diese Aufgabe zu ehrenvoll, allerdings ließ sich Karl nicht mehr umstimmen.147 Vorrangiges Ziel dieser Maßnahme war wohl auch, die Levant Company stärker unter die Kontrolle der Krone zu bringen.148 Am 27. Januar kam Winchilsea in Konstantinopel an, wo er von Bendish äußerst freundlich empfangen und in einer großen Prozession zur Botschaft geleitet wurde.149 Wenige Wochen später besuchten sie gemeinsam eine Audienz beim Großwesir, eine weitere beim Sultan, „which by Bendyshe’s endeavours, was solemn and honourable“, wie Winchilsea voller Hochachtung an den König schrieb.150 Bendish verließ Konstantinopel und kam am 14. August 1661 in London an.151 Dieses Mal stand für die beteiligten Europäer der Status des englischen Botschafters nicht zur Disposition. Zwar musste dieser auch hier erst im Rahmen einer Audienz bestätigt werden. Da aber König Karl II., ein souveräner Herrscher, den neuen Botschafter autorisiert und den alten abberufen hatte, war aus westlicher Sicht die Sachlage eindeutig. Die Osmanen hingegen teilten ohnehin Person whose Quality, Affection to Our Service & his Country, and desire to improove and advance the Trade of those parts, may raise the reputacion of that Employment and produce other great advantages both to Us and you.” TNA, SP 105/109, fol. 206, Karl II. an die Levant Company, London 25.6.1660. Zur Person Winchilseas siehe Sonia P. Anderson, Finch, Heneage, third earl of Winchilsea (1627/8–1689), in: National Biography (wie Anm. 1), Bd. 19, S. 566–568. 147 Karl entgegnete, ihm sei bewusst, dass Winchilsea in Bezug auf diesen Posten jemand sei „of more eminent quality than usually employed“. CSP Dom. Ser., 1660–1661, S. 136, Karl II. an die Levant Company, London 31.6.1660. Wood glaubt, die Levant Company sei gegen Winchilsea gewesen, weil sie bei einem Hochadligen höhere Kosten befürchtet habe. Ders., Levant Company (wie Anm. 17), S. 96. 148 Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 201f. 149 A Narrative of the Success of the Voyage of the Right Honourable Heneage Finch, Earl of Winchelsea [...]. His Majestjes Ambassadour Extraordinary to the High & Mighty Prince Sultan Mamet Han, Emperour of Turkey, from Smyrna to Constantinople; his Arrival There, the Manner of his Entertainment and Audience with the Grand Vizier and Grand Seignior, London 1661, S. 3f. Dieser anonym erschienene Bericht stammt wohl von Paul Rycaut, der als Winchilseas Privatsekretär die Ereignisse miterlebt hat. Anderson, English Consul (wie Anm. 7), S. 28. 150 Winchilsea an Karl II., Konstantinopel 1.3.1661, in: Report on the Manuscripts of Allan George Finch, Esq., of Burley-on-the-Hill, Rutland, Bd. 1, London 1913, S. 96, ähnlich S. 97f. Der genaue Ablauf der Audienzen ist beschrieben bei Voyage of the Right Honourable Heneage Finch (wie Anm. 149), S. 5–11. Anderson, English Consul (wie Anm. 7), S. 29. 151 Goffman, Britons (wie Anm. 15), S. 209.

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nicht das Souveränitätskonzept der westlichen Diplomatie, für sie hatte sich daher mit der Restauration wenig geändert – außer, dass sie nun einen klaren Ansprechpartner für ihre Interessen hatten. Dass es in den Jahren des Commonwealth zu Statuskämpfen des englischen Botschafters in Konstantinopel gekommen war, lag daher auch nicht an der Situation im Osmanischen Reich, sondern allein am Deutungssystem der westlichen Diplomaten. Für sie war nach dem Ende der Monarchie die Legitimität des Botschafters unsicher geworden. Die strukturellen Rahmenbedingungen im Osmanischen Reich, die diese Machtkämpfe erst möglich machten, das heißt vor allem das Durchsetzungsdefizit und die dadurch notwendigen Allianzen mit den Machtinstanzen vor Ort, waren vor und nach der Zeit der Republik genauso vorhanden. Obwohl auch Thomas Bendish nicht aus diesem Deutungssystem ausbrechen konnte und seine Abberufung durch Karl II. wie selbstverständlich hinnahm, hatte er es während der 14 Jahre seiner Botschaftertätigkeit geradezu meisterhaft verstanden, die Gegebenheiten für seine Zwecke auszunutzen – er war damit ein wahres „cultural chameleon“152. Früh hatte er erkannt, dass der Botschafter in den Audienzen zwar erst ‚gemacht‘ wurde, dass die Osmanen sich aber bei der Entscheidung, wen sie zum Botschafter machten, von konkreten Machtinteressen leiten ließen. Entscheidend für sie war, ob sie mit einem Gesandten ihre Ziele zu erreichen glaubten. Beglaubigungsschreiben westlicher Herrscher waren daher nur insofern von Bedeutung, als sie einen Hinweis auf die Kompetenzen eines Botschafters lieferten, nicht weil ein Botschafter durch sie zum Stellvertreter seines Souveräns gemacht worden wäre. Von Beginn an nutzte Bendish daher die Audienzen nicht nur, wie man das aus Westeuropa kannte, zum „Austausch exakt bemessener symbolischer Botschaften“,153 sondern auch instrumentell, das heißt zu sachlichen Verhandlungen.154 Vor allem 152 Mit diesem Ausdruck bezeichnet Goffman Henry Hyde, weil er es zu seiner Zeit als Konsul verstanden hat, sich persönlich zu bereichern. Ebd., S. 56ff. Die Bezeichnung passt aber wohl besser auf Bendish. Vgl. auch Kaiser, Politik und Geschäft (wie Anm. 59), S. 308f. 153 Zu dieser Funktion von Audienzen in der westlichen Diplomatie vgl. StollbergRilinger, Des Kaisers alte Kleider (wie Anm. 5), S. 160. 154 Menschliches Handeln weist immer sowohl ‚instrumentelle‘ wie ‚symbolische‘ Dimensionen auf, die jedoch je nach Kontext stark unterschiedlich gewichtet sein können. Siehe dazu Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne (wie Anm. 3), S. 497ff.; dies., Herstellung und Darstellung politischer Einheit. Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert, in: Die Sinnlichkeit der Macht. Herrschaft und Repräsentation seit der Frühen Neuzeit, hg. von Jan Andres, Frankfurt a.M./

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mit der Zusicherung englischer Schiffe für den Kampf gegen Venedig hatte er Erfolg. Er tauschte damit seine symbolische Anerkennung gegen militärische Hilfe ein. Dies zeigt sich auch an einem der Zwischenfälle, die eingangs beschrieben wurden. 1651 rief der Großwesir Bendish sowie den französischen und den niederländischen Gesandten zu einer Audienz zu sich, um über die Unterstützung von Schiffen zu verhandeln.155 Bendish, der um den Wert der englischen Schiffe wusste, verlangte im Vorhinein, rechts neben dem Wesir sitzen zu dürfen, und beanspruchte damit Vorrang gegenüber dem französischen Botschafter, dem dieses Recht eigentlich zustand.156 Der Großwesir gab zurück, es könne der rechts von ihm sitzen, der zuerst in der Audienz erscheine. Er stand dieser Rangstreitigkeit der Westeuropäer „indifferent“ gegenüber,157 wollte aber die militärische Unterstützung nicht aufs Spiel setzen. Als Bendish dann als erstes erschien, stellte er sich vor seinen Stuhl, um ihn so in Besitz zu nehmen. Da er sich jedoch unterhielt, bemerkte er nicht, wie sich der französische Botschafter Jean de la Haye in seinem Rücken auf den Stuhl schlich. Erst als er Platz nehmen wollte und sich dabei auf den Schoß de la Hayes setzte, erkannte er die Situation. Er handelte augenblicklich. Mit der Hand schlug er de la Haye in den Nacken und schleuderte ihn von seinem Sitz. Hieraufhin zogen sowohl die Engländer wie die Franzosen ihre Dolche und nur das Einschreiten des Großwesirs und seiner Wache konnte Schlimmeres verhindern. Den Osmanen waren diese Konflikte unverständlich, weil sie allein der Logik des westeuropäischen Zeremonialsystems folgten.158 Laut Bendish entschulNew York 2005, S. 73–92; Matthias Köhler, Strategie und Symbolik. Verhandeln auf dem Kongress von Nimwegen, Köln/Weimar/Wien 2011, besonders S. 30–36. 155 Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 84. 156 Die französischen Gesandten rangierten an der Pforte traditionsgemäß vor allen anderen Gesandten. Der französische König wurde vom Sultan als „Padischah“, also Kaiser, angeredet. Seit den 1620er Jahren, besonders aber Mitte des Jahrhunderts, verschlechterte sich das Verhältnis der beiden Länder jedoch zusehends. Dazu Mansel, Constantinople (wie Anm. 6), S. 191–196; Kaiser, Politik und Geschäft (wie Anm. 59), S. 300; Faruk Bilici, Les relations franco-ottomanes au XVIIe siècle. Réalisme politique et idéologie de croisade, in: Turcs et turqueries (XVIe–XVIIIe siècles), hg. von Lucien Bély, Paris 2009, S. 37–61. 157 So Travel Diary of Robert Bargrave (wie Anm. 23), S. 84. Ohnehin galt im Osmanischen Reich die linke Seite als die ehrenvollere. Roosen, Diplomatic Ceremonial (wie Anm. 66), S. 466. 158 Zum sehr einheitlichen Zeichensystem in der westeuropäischen höfischen Kultur siehe noch einmal zusammenfassend Peter-Michael Hahn, Fürstliche Wahr-

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digte sich der Großwesir einige Tage später, „th[a]t he was ignorant of the Rights and customes of Our Nations“.159 Nur untereinander kämpften die westlichen Diplomaten in den Audienzen an der Pforte um ihren Status und ihren symbolischen Vorrang. Adressaten waren nicht die Osmanen, sondern die anderen westlichen Diplomaten beziehungsweise die Höfische Öffentlichkeit in Europa. Die Statusfragen waren aus osmanischer Sicht vor allem deswegen unerheblich, weil sie die Europäer ohnehin nicht als gleichberechtigt ansahen. So teilten Bendish und Winchilsea nach der Restauration in ihrer Audienz dem Großwesir mit, es sei eine besondere Ehrbekundung Karls II. gegenüber dem Sultan, dass er vor allen christlichen Höfen einen Botschafter nach Konstantinopel entsandt habe. „To which the Vizier proudly replied, that that was but reason, since the Grand Seignior was an Emperour and they but Kings, and he the greatest & most Soveraign Potentate of the world.“160

nehmung höfischer Zeichensysteme und zeremonieller Handlungen im Ancien Régime, in: Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit, hg. von dems./Ulrich Schütte, München/Berlin 2006, S. 9–37. 159 TNA, SP 97/17, fol. 70f., Bendish an den Council of State, Konstantinopel 22.12.1651. Bendish schildert die Begebenheit etwas anders. So habe er, nachdem er zufällig als erster im Audienzsaal erschienen sei, den drohenden Rangkonflikt erkannt und daher den Kapudan Pascha gewarnt „of the inconvenience of Ambassadors meeting together in one place”. Dieser habe davon aber nichts wissen wollen. Bendish habe dann den „cheife chaire“ rechts neben dem Wesir in Besitz genommen, weshalb er mit dem französischen Botschafter in eine gewaltsame Auseinandersetzung geraten sei. Als der Wesir dann dem französischen Botschafter den Stuhl zugestanden habe, habe Bendish die Audienz umgehend verlassen, „declaring the injury done to Our Nation and Com[m]onwealth“. 160 Voyage of the Right Honourable Heneage Finch (wie Anm. 149), S. 6. Der handschriftliche Bericht Winchelseas befindet sich in SP 97/17, fol. 183–186.

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Udienza und Divan-ı Hümayun Venezianisch-osmanische Audienzen des 16. und 17. Jahrhunderts* Stefan Hanß Ermolao Barbaro, venezianischer Gesandter in zahlreichen diplomatischen Missionen, begann Ende des 15. Jahrhunderts sein Traktat De officio legati mit einer grundlegenden Feststellung: Ein Legaten-Amt werde dem Träger durch seine Republik oder seinen Fürsten übertragen; einmal angenommen, sollte es gewissenhaft zum Nutzen derjenigen ausgeübt werden, die einen solchen Titel verliehen hatten.1 Die Bühne, auf der sich die Gesandten zu beweisen und im Sinne ihrer Herrschaft zu bewähren hatten, stellte das diplomatische Zeremoniell mit seinen Ehrzuweisungen und -zurückweisungen dar. Auf dieser Bühne waren, das veranschaulichen zahlreiche jüngere Studien, Konflikte um Rangansprüche und Rollenauffassungen an der Tagesordnung. In ständischen Gesellschaften, deren soziale Konfiguration, Konstellation und Praxis wesentlich auf Ehrkonzeptionen basierten, funktionierte „Souveränität als sozialer Status“, den es in Zeichen, Symbolen, Codes und Praktiken auf der diplomatischen Bühne zu beanspruchen, durchzusetzen und zu behaupten beziehungsweise anzunehmen, zu adaptieren oder zurückzuweisen galt.2 * Ich danke Peter Burschel (Berlin), Abdullah Güllüoğlu (Berlin), David Neuhäuser (Berlin), Maria Pia Pedani (Venedig) und Christine Vogel (Vechta) für ihre Lektüren, Hinweise und Unterstützung bei früheren Textversionen. 1 Ermolao Barbaro, De Coelibatu. De Officio Legati, hg. von Vittore Branca, Florenz 1969, S. 159: „Legati munus est mandata Reipublicae suae vel Principis obire diligenter et ex usu eius, a quo legati nomen habuit“. Vgl. ebd., S. 161. Zu den Hintergründen siehe ebd., S. 17–25, hier S. 20 zur Abfassungszeit (1489–1491); Bruno Figliuolo, Il diplomatico e il trattatista. Ermolao Barbaro ambasciatore della Serenissima e il De officio legati, Neapel 1999. 2 André Krischer, Souveränität als sozialer Status. Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz/ Giorgio Rota/Jan P. Niederkorn, Wien 2009, S. 1–32. Zu Rangstreitigkeiten diplomatischer Vertreter in Venedig siehe Stefan Hanß, „The Catholic Ambassador will Sing the Mass“. Ambassadorial Service and Venetian Celebrations after the Battle of Lepanto (1571), in: Culture of Politics or Cultural Politics.

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Da direkte Monarchenbegegnungen kaum stattfanden, spielten sich die Durchsetzungs- und Behauptungsansprüche herrschaftlicher Souveränität auf der diplomatischen Ebene der Entsandten ab: „Der Repräsentant sollte handeln und behandelt werden, als ob der Repräsentierte selbst zugegen wäre“.3 Im Umkehrschluss dazu galten diplomatische Repräsentanten selbst wiederum als „Spiegel ihrer Herren“,4 was die Wichtigkeit der Forderung Barbaros unterstreicht, der Gesandte solle sich entsprechend dem Nutzen für die eigene Herrschaft verhalten. Im Sinne Venedigs hieß das, die Einschätzung, Akzeptanz und das Wirken der Herrschaft als Souverän unter den Mächten zu gewährleisten. Dabei sah sich die Republik Venedig allerdings in ihrem Anspruch auf Souveränitätsanerkennung der grundsätzlichen Problematik ausgesetzt, dass „[d]ie europäische Staatenwelt der Frühen Neuzeit […] im wesentlichen monarchisch geprägt [war]“.5 Insofern das Zeremoniell in zeitgenössischer Einschätzung den Umgang „unter souverainen, oder ihnen gleichgeltenden Personen“6 regelte, „hatten sich auch die nichtmonarchischen Akteure auf dem diplomatischen Parkett, also die Republiken, [nach diesen monarchischen Rahmenbedingungen und Spielregeln] zu richten“.7 Republiken scheuten daher nicht den mitunter immens hohen finanziellen, ökonomischen und militärischen Aufwand, um die

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Ambassadors as Cultural Actors in the Ottoman-European Relations, hg. von Michael Hüttler/Hans E. Weidinger (im Druck). Zum frühneuzeitlichen Begriff der Repräsentation siehe Souverain, in: Johann H. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 38, Leipzig/Halle 1743, Sp.  1039f.; Souveraines Reich, in: ebd., Sp. 1040; Souverainität, in: ebd.; Majestät, Majestas, in: ders., Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 19, Leipzig/Halle 1739, Sp. 534–548. Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 10. Vgl. Repräsentant, Repræsentans, in: Johann H. Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 31, Leipzig/Halle 1742, Sp. 649; Repräsentiren, in: ebd.; Majestät (wie Anm. 2); Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u.a. 2000, S. 30–55. In Anlehung an Christian Wieland, Diplomaten als Spiegel ihrer Herren? Römische und florentinische Diplomatie zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 359–379. Matthias Schnettger, Die Republik als König. Republikanisches Selbstverständnis und Souveränitätsstreben in der genuesischen Publizistik des 17. Jahrhunderts, in: Majestas 8–9 (2000/2001), S. 171–209, hier S. 176. So Johann Christian Lünig in seinem Theatrum Ceremoniale historico-politicum oder Historisch- und politischer Schau-Platz Aller Ceremonien (1719–1720), zitiert nach Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 10. Schnettger, Die Republik als König (wie Anm. 5), S. 176.

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an der monarchischen Herrschaftsform ausgerichtete höchste Rangstufe der frühneuzeitlichen Diplomatie, das königliche Traktament (honores regii), zu erreichen. Während solche Bemühungen beispielsweise für die Republik Genua letztlich erfolglos im Sande verliefen, besaß Venedig „aufgrund seines über Jahrhunderte gewachsenen Ansehens und seines immer noch beachtlichen wirtschaftlichen und machtpolitischen Potentials“ kaum größere Schwierigkeiten, „sich in der europäischen Staatenhierarchie des 17. Jahrhunderts zu behaupten“.8 Die Gesandtschaften spiegelten dabei sowohl auf außerstädtischer Ebene (nach monarchischen Prinzipien) als auch in innerstädtischer Perspektive (nach republikanischen Grundsätzen) soziale Hierarchien durch soziale Schätzung wider. Für Venedig entstand dadurch eine zunächst womöglich paradox erscheinende Situation: Gesandte, die ihr Amt der Zugehörigkeit zu einem sich seit dem Hoch- und Spätmittelalter durch exkludierende Mechanismen herausgebildeten venezianischen Adel verdankten, suchten auf diplomatischer Bühne die Republik Venedig, deren Politik durch das Wechselspiel zwischen den Gremien und Dogen charakterisiert war, erfolgreich als Souverän entsprechend der mo-

8 Ebd., S. 176f., 207. Willy Andreas, Staatskunst und Diplomatie der Venezianer im Spiegel ihrer Gesandtenberichte, Leipzig 1943 und Garrett Mattingly, Renaissance Diplomacy, London 1955 führen (ersterer in ideologischen Zügen) an, dass Venedig aufgrund des Seehandels und Stato da Mar sehr früh über diplomatische Beziehungen verfügte und darum einen zentralen Platz in der RenaissanceDiplomatie einnahm. Diese Einschätzung bestätigt Kurt Heller, Venedig. Reich, Kultur und Leben in der Republik. 697–1797, Wien u.a. 1999, S. 807. Achim Landwehr, Die Erschaffung Venedigs. Raum, Bevölkerung, Mythos. 1570–1750, Paderborn u.a. 2007, S. 355–407 analysiert die Verwicklungen venezianischer Politik mit dem vielbeschworenen Mythos Venedigs. Siehe zudem grundsätzlich Barbara Stollberg-Rilinger, Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, hg. von Johannes Kunisch, Berlin 2002, S. 1–26. Zu Genua vgl. Matthias Schnettger, Libertà e imperialità. La Repubblica di Genova e il Sacro Romano Impero nel tardo Cinquecento, in: Libertà e dominio. Il sistema politico genovese: le relazioni esterne e il controllo del territorio, hg. von dems./Carlo Taviani, Rom 2011, S. 129–144 sowie Carlo Bitossi, L’immagine del sistema politico genovese nell’età moderna. Scrittori e ambasciatori (1550–1730), in: ebd., S. 193–221. Zu Florenz und Rom vgl. Wieland, Diplomaten (wie Anm. 4) und grundlegend Alexander Koller, Imperator und Pontifex. Forschungen zum Verhältnis von Kaiserhof und römischer Kurie im Zeitalter der Konfessionalisierung (1555–1648), Münster 2012. Zu Spanien vgl. Michael J. Levin, Agents of Empire. Spanish Ambassadors in Sixteenth-Century Italy, Ithaca u.a. 2005.

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narchischen repraesentatio majestatis darzustellen.9 So verwundert es kaum, dass es sich bei Barbaros De officio legati um eines von zahlreichen italienischen und französischen Traktaten handelt, die um 1500 die Pflichten, Aufgaben und Tugenden eines Gesandten thematisierten.10 Das Problem republikanischer Souveränitätsansprüche im diplomatischen Zeremoniell stellt sich jedoch noch einmal auf andere Weise, wenn die Kontakte zwischen der Lagune und dem Bosporus in das Blickfeld geraten, da Herrschaftsdarstellung im Osmanischen Reich nicht nach den Regeln der lateineuropäischen repraesentatio majestatis verlief.11 Wie funktionierte angesichts dieser unterschiedlichen „zeremoniellen Vokabeln“12 die venezianisch-osmanische Diplomatie im 16. und 17. Jahrhundert, und inwiefern konnte Herrschaft während der Audienzen durch das diplomatische Zeremoniell vergegenwärtigt werden? In diesem Aufsatz wende ich mich einer historischen Anthropologie politischer Herrschaftsdarstellung und -repräsentation in transkultureller Perspektive zu und untersuche einerseits, welche Konzeptionen von Herrschaftsdarstellung den venezianisch-osmanischen Audienzen zugrunde lagen.13 Andererseits gehe ich 9 Einführend zum venezianischen Adel: Rebekka von Mallinckrodt, Unsichtbare Macht – Repräsentative Machtlosigkeit? Ein Vergleich politischer Einflußmöglichkeiten und architektonischer Repräsentation frühneuzeitlicher Bruderschaften in Venedig und Köln, in: Machträume der frühneuzeitlichen Stadt, hg. von Christian Hochmuth/Susanne Rau, Konstanz 2006, S. 333–353, hier S. 333f. Vgl. grundsätzlich Repräsentant (wie Anm. 3); Repräsentiren (wie Anm. 3); Majestät (wie Anm. 2). 10 Etienne Dolet, De officio legati. De immunitate legatorum. De legationibus Ioannis Langiachi Episcopi Lemovicensis, hg. von David Amherdt, Genf 2010, S. 1–40. 11 Konrad Dilger, Untersuchungen zur Geschichte des osmanischen Hofzeremoniells im 15. und 16. Jahrhundert, München 1967; Gülru Necipoğlu, Süleyman the Magnificent and the Representation of Power in the Context of Ottoman-Hapsburg-Papal Rivalry, in: The Art Bulletin 71 (1989), S. 401–427; Emrah Aydemir/ Arif Behiç Özcan, Repräsentation im Osmanischen Reich und der Übergang zur Republik, in: Repräsentation in Politik, Medien und Gesellschaft, hg. von Lutz Huth, Würzburg 2007, S. 47–68. Zu Differenzen zeremonialer Praktiken vgl. Ernst D. Petritsch, Zeremoniell bei Empfängen habsburgischer Gesandtschaften in Konstantinopel, in: Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 2), S. 301–322, hier S. 301. 12 Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 4: „Missverständnisse gab es daher nicht selten im europäisch-osmanischen Gesandtschaftsverkehr, wo man nicht die gleichen zeremoniellen Vokabeln teilte“. 13 Historische Anthropologie dabei im Sinne von Hans Medick, Quo vadis Historische Anthropologie? Geschichtsforschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Mikro-Historie, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 78–92,

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der Frage nach, inwieweit das diplomatische Zeremoniell den Beteiligten Handlungs- und Interpretationsspielräume bot, mithilfe derer sich die Akteure selbst innerhalb des Sozialgefüges von Herrschaften positionieren konnten.14 Nach einigen grundsätzlichen Bemerkungen zu diplomatischen Rängen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Venedig (I) konzentriere ich mich auf solche Fallstudien, zu denen hinsichtlich meiner Fragestellung besonders aufschlussreiche Quellen überliefert sind. Zunächst untersuche ich die osmanischen Gesandtschaften in Venedig unmittelbar vor und nach den kriegerischen Auseinandersetzungen um Zypern zu Beginn der 1570er Jahre (II–III). Anschließend stehen die Empfänge im Zentrum, die Venezianern in Konstantinopel gewährt wurden (IV, V).

I. Venezianische Diplomatie im Mediterraneum: Rang und Repräsentation Die Exklusionsmechanismen des venezianischen Adels sind bereits kurz angesprochen worden. Konkret bedeutet dieses Stichwort, dass mit der sogenannhier S. 92 als Untersuchung der „historisch geprägten und historisch prägenden Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Handlungsweisen in ihren kulturspezifischen Vernetzungen, Unterschieden, Brüchen und Gemeinsamkeiten“. 14 In methodischer Hinsicht hierzu vgl. Gabriele Jancke/Claudia Ulbrich, Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, hg. von dens., Göttingen 2005, S. 7–27. Im Hinblick auf Gesandte siehe dazu Dorothee Linnemann, Repraesentatio Majestatis? Zeichenstrategische Personenkonzepte von Gesandten im Zeremonialbild des späten 16. und 17. Jahrhunderts, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke, Köln u.a. 2007, S. 57–76. Zur Transkulturalität dieses Ansatzes vgl. auch Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser, Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, in: Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven, hg. v. dens., Köln u.a. 2012, S. 1–19; Elke Hartmann/Gabriele Jancke, Roupens Erinnerungen eines armenischen Revolutionärs (1921/1951) im transepochalen Dialog. Konzepte und Kategorien der Selbstzeugnis-Forschung zwischen Universalität und Partikularität, in: ebd., S. 31–71; Cemal Kafadar, Self and Others. The Diary of a Dervish in Seventeenth Century Istanbul and First-Person Narratives in Ottoman Literature, in: Studia Islamica 69 (1989), S. 121–150; Many Ways of Speaking About the Self. Middle Eastern Ego-Documents in Arabic, Persian, and Turkish (14th–20th Century), hg. von Ralf Elger, Wiesbaden 2010.

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ten Serrata del Maggior Consiglio, der im Jahr 1297 einsetzenden Schließung des Großen Rats für weitere Familien, die politische Macht der Republik de facto bei einer kleinen sozialen Gruppe lag. Diese nahm aufgrund ihrer durch Ratsfähigkeit kodifizierten Nobilität politische Ämter wahr und leitete die Geschicke der Republik während der kommenden Jahrhunderte. Die 1381 vorgenommene, einmalige Aufnahme von weiteren dreißig Familien in diesen Rang stellte lediglich eine Detailkorrektur innerhalb umfassender Exklusionsbestrebungen dar, deren Rigorosität und Konsequenz im 16. Jahrhundert zunahmen.15 Diese privilegierte Gruppierung stellte geschätzte ein bis maximal fünf Prozent der venezianischen Bevölkerung dar; demgegenüber gab es eine quantitativ vergleichbare Anzahl zumeist finanzkräftiger Bürger (cittadini), die zwar in der Bürokratie angesehene Ämter bekleideten, jedoch keine politischen Entscheidungsämter im strikten Sinne besetzen konnten.16 Diese Sozialstruktur spiegelt sich auch im venezianischen Gesandtschaftswesen wider, das sich im Hoch- und Spätmittelalter etablierte. In diesem wurde grundsätzlich zwischen den Rängen des Botschafters (ambasciatore) beziehungsweise Orators (oratore), die an die Ratsmitgliedschaft und damit an den Adelsstatus geknüpft waren, sowie den Residenten (residenti), die auch von Bürgern besetzt werden konnten, und den bürgerlichen Nuntien (nuncii) unterschieden.17 Zudem erforderten spezielle Missionen, wie die Gesandtschaften 15 Tatsächlich dauerte die Serrata bis in die ersten Jahrzehnte des 14. Jahrhunderts an. Die Bestimmungen zum Nachweis der Nobilität wurden 1550 verschärft. Zu einer zweiten Öffnung des Maggior Consiglio kam es erst Ende des 17. Jahrhunderts, als die Aussicht auf die Erhebung in den Adelsstand zum Einsatz gegen die Osmanen und zum Stopfen von Finanzlücken in den Staatskassen motivieren sollte. Es existierten folglich case vecchie und nove. Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 76f., 93–104; Landwehr, Die Erschaffung Venedigs (wie Anm. 8), S. 362–382; Sally McKee, The Implications of Slave Women’s Sexual Service in Late Medieval Italy, in: Unfreie Arbeit. Ökonomische und kulturgeschichtliche Perspektiven, hg. von M. Erdem Kabadayi/Tobias Reichardt, Hildesheim u.a. 2007, S. 101–114; Brian S. Pullan, Rich and Poor in Renaissance Venice. The Social Institutions of a Catholic State, to 1620, Oxford 1971; von Mallinckrodt, Unsichtbare Macht (wie Anm. 9), S. 333f. 16 Pullan, Rich and Poor (wie Anm. 15), S. 7, 101–103; von Mallinckrodt, Unsichtbare Macht (wie Anm. 9), S. 334. 17 Die Rangbezeichnungen traten in verschiedener Schreibung auf (z. B. auch ambaxator, ambasciadore, orator, nuntius). Statt nuncius sind auch die Bezeichnungen notarius beziehungsweise secretarius anzutreffen. Nur selten kam es zu Ausnahmen dieser Bezeichnungspraxis. Donald E. Queller, The Office of Ambassador in the Middle Ages, Princeton 1967, S. 3, 66–68; Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 807.

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nach Rom anlässlich eines neu gewählten Papstes, die Ernennung sozial besonders hoch angesehener Botschafter. Da es zusätzlich erforderlich war, während der Gesandtschaft das eigentlich zu führende Amt ruhen zu lassen, war die Zahl der tatsächlich für das Amt eines Botschafters zur Wahl stehenden Adligen weiter beschränkt. Die Wahl selbst fand ursprünglich im Maggior Consiglio statt, im Laufe des Spätmittelalters fiel sie jedoch in den Zuständigkeitsbereich des Senates. Die Erwählten erhielten ein zuvor aufgesetztes Schreiben mit genauen Instruktionen zu ihrer Mission, das jedoch nicht zur Übergabe während der Audienz gedacht war. Diese commissio konnte sowohl vom Großen Rat als auch durch den Senat ausgestellt werden, wie auch beide Gremien die für Botschafter relevanten Gesetzgebungen erließen.18 Nach der Amtsannahme durch einen Schwur hatten die Botschafter Venedig innerhalb weniger Tage zu verlassen, da andernfalls der Amtsverlust drohte. Seit 1269 stellte, wenn der Schwur bereits geleistet worden war, die Verweigerung des Amtsantrittes einen Straftatbestand dar und führte dazu, dass betreffende Personen für ein Jahr ihre Ämter niederzulegen hatten. Nur in Krankheitsfällen durfte die Wahl unter Androhung einer Geldstrafe abgelehnt werden.19 Ein Beschluss des Maggior Consiglio von 1461 verknüpft die Wahl der Gesandten explizit mit dem Souveränitätsanspruch Venedigs.20 Eine solche Stellungnahme abzugeben hielten Doge, Dogenberater und Ratsmitglieder für erforderlich, weil zuvor Adlige, die für nicht begehrte Missionen erwählt worden waren, das Wahlprozedere selbst in Frage gestellt hatten, um das Amt straffrei ablehnen zu können. Ein solcher Vorwurf stellte jedoch nicht nur die Botschaf18 Vgl. Donald E. Queller, Early Venetian Legislation on Ambassadors, Genf 1966. Nur vereinzelt führt Queller Beschlüsse des Consiglio dei Dieci an. Die im Spätmittelalter feststellbare Kompetenzverlagerung vom Maggior Consiglio zum Senat ist auch im Bereich der Diplomatie zu beobachten. Der Senat übernahm vor allem die Aufgabenbereiche der Geheimkorrespondenz und Berichterstattung sowie zahlreiche Wahlen. Ebd., S. 38f.; Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 104–107, 230. 19 Queller, Early Venetian Legislation (wie Anm. 18), S. 11–49, insbesondere S. 14f., 28, 30–39. Freilich sind die Ratsbeschlüsse im Laufe der Jahrzehnte modifiziert worden (so auch die Gesetzgebung von 1269, vgl. ebd., S. 32–34). 20 Ebd., S. 100, Maggior Consiglio, 22. Februar 1461: „[…] Serenissimus dominus Dux et consiliarii venire deliberarunt ad hoc excellentissimum consilium, tanquam ad verum dominum status nostri, in quo consistit omnis potestas et liberum arbitrium in omnibus rebus nostris, a quo dependent omnia alia consilia nostra, omnia regimina, aut Magistratus, officia et beneficia huius urbis, omniumque civitatum terrarum et locorum nostrorum terrestrium et maritimorum, et proponuntque hec que superius dicta sunt in hunc modum“.

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ter-Wahl, sondern auch die auf der Delegierungskompetenz des Großen Rates basierende Republik-Verfassung selbst potentiell in Frage.21 In Reaktion darauf legitimierte dieser Ratsbeschluss nun nicht allein das Wahlprozedere und die Kompetenzen der einzelnen Gremien, sondern kennzeichnete damit auch den Status des erwählten ambasciatore als Repräsentant ad verum dominum status nostri.22 Diese Formulierung verwies sowohl auf die Lagune als auch auf die anderen venezianischen Besitzungen im Mittelmeerraum und charakterisierte damit zugleich den Botschafterrang auf jene Weise, welche die Darstellung der Souveränität Venedigs auf diplomatischer, außerstädtischer Ebene bestimmte. Hier war es eben nicht der Umstand, dass Venedig eine republikanische Herrschaftsform besaß, der die Anerkennung „unter souverainen, oder ihnen gleichgeltenden Personen“23 gewährleistete, sondern der Besitz der Königreiche Kreta, Dalmatien und Zypern.24 Auf innerstädtischer Ebene fand diese Souveränität der Republik Venedig, nach zeitgenössischer Formulierung die somma delle cose beziehungsweise summa rerum, jedoch eine andere Begründung: Humanistische Traktate des 16. Jahrhunderts grenzten Venedig bewusst von Monarchien ab und setzten die Stadt mit antiken Herrschaftsformen in Beziehung. Die Souveränität der Republik leitete sich damit gerade nicht vom sozialen Status bestimmter Menschen her, sondern wurzelte in ihren Gesetzen.25 Daher war der Doge beim Empfang auswärtiger Repräsentanten genauso an die Weisungen des Senates gebunden wie die venezianischen Gesandten an die von Senat oder Maggior Consiglio ausge21 Ebd.: „[…] producere posset maximum inconveniens et periculum in statu nostro“. 22 Ebd., S. 37, 100. 23 So Johann Christian Lünig in seinem Theatrum Ceremoniale historico-politicum oder Historisch- und politischer Schau-Platz Aller Ceremonien (1719–1720), zitiert nach Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 10. 24 Ebd., S. 13; ders., Das Gesandtschaftswesen und das vormoderne Völkerrecht, in: Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert, hg. von Michael Jucker/Martin Kintzinger/Rainer C. Schwinges, Berlin 2011, S. 197–240, hier S. 202. 25 Diego Quaglioni/Vittor I. Comparato, Italy, in: European Political Thought. 1450–1700. Religion, Law and Philosophy, hg. von Howell A. Lloyd/Glenn Burgess/Simon Hodson, New Haven u.a. 2007, S. 55–101, hier S. 87–91. Ebd., S. 88: „The basis of the Venetian state was, for Contarini, the fact that its summa rerum (‚sovereignty‘) appertained, not to men, but to the law“. Gasparo Contarini, DELLA REPVBLICA ET MAGISTRATI DI VENETIA […], Venedig 1591, III, S. 57f.; Paolo Paruta, DISCORSI POLITICI DI PAOLO PARVTA […], Venedig 1599.

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stellten Instruktionen.26 Diese enthielten die Verpflichtung zu regelmäßiger Berichterstattung sowie ausführliche Regelungen zu Finanzen und Sachwerten der meist kostspieligen Gesandtschaften.27 Gerade deshalb war nicht jedes Amt beziehungsweise jede Mission beliebt. Um der Wahl oder den Strafen im Falle der Ablehnungen eines Botschafteramtes zu entgehen, flohen viele venezianische Adlige im 14. Jahrhundert nach Murano. Denn die Abwesenheit von Venedig schloss vom Wahlgang aus, und etwaige Strafen verfielen nach einer bestimmten Anzahl von Monaten, die sich durch Senatsbeschlüsse ständig änderte.28 Im Gegensatz dazu erfreute sich das Amt des diplomatischen Vertreters Venedigs in Konstantinopel, des sogenannten bailo, steter Beliebtheit.29 Weil es soziales Ansehen und wirtschaftlichen Profit versprach, gehörte das Amt zum cursus honorum eines venezianischen Adligen.30 Die Wurzeln des Bailo-Amtes gehen zurück auf venezianische Handelsaktivitäten in byzantinischer Zeit:31 Die knapp 20.000 Menschen umfassende und mit Privilegien ausgestattete comunità veneziana Konstantinopels wählte 1204, nach dem Tod des Dogen, ihren podestà veneziano e despota di Costantinopoli. Nach der Rückeroberung der Stadt bestätigte der byzantinische Kaiser im Jahr 1268 das Recht der Venezianer, ihren bajulus selbst zu wählen.32 Da 26 Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 259f.; Queller, Early Venetian Legislation (wie Anm. 18). 27 Ebd., S. 14–26, 29f., 106f. Zur materiellen Kultur der Baili vgl. Stefan Hanß, Baili e ambasciatori. Bayloslar ve Büyükelçiler, in: Il Palazzo di Venezia a Istanbul, e i snoi antichi abitanti. İstanbul’daki Venedik Sarayı ve Eski Yaşayanları, hg. von Maria P. Pedani, S. 35–52. 28 Queller, Early Venetian Legislation (wie Anm. 18), S. 31, 34ff. 29 Eine Ausnahme stellte freilich die Wahl 1705/1706 dar, als sich erst im sechzehnten Wahlgang die Besetzung des neuen Bailos (Alvise Mocenigo) entschied. Maria P. Pedani, Venezia porta d’Oriente, Bologna 2010, S. 81. 30 Queller, Early Venetian Legislation (wie Anm. 18), S. 31; Eric R. Dursteler, The Bailo in Constantinople. Crisis and Career in Venice’s Early Modern Diplomatic Corps, in: Mediterranean Historical Review 16 (2001), S. 1–30; Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 810. 31 Eine weitaus ausführlichere Besprechung der Geschichte, Aufgabenbereiche und Verpflichtungen der Baili findet sich in Hanß, Baili e ambasciatori (wie Anm. 27). 32 Horatio F. Brown, The Venetians and the Venetian Quarter in Constantinople to the Close of the Twelfth Century, in: Journal of Hellenic Studies 40 (1920), S. 68–88; Alexander P. Kazhdan, Bailo, in: The Oxford Dictionary of Byzantium, hg. von dems. u. a., Bd. 1, New York/Oxford 1991, S. 245; Chrysa A. Maltezu, Ho thesmos tu en Kōnstantinupolei Benetu Bailu (1268–1453), Athen 1970; Maria P. Pedani, Consoli veneziani nei porti del Mediterraneo in età moderna, in: Mediterraneo in armi (secc. XV–XVIII), hg. von Rossella Cancila, Bd. 1, Palermo 2007,

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Venedig – trotz der offiziellen Unterstützung des Byzantinischen Reiches gegen die Osmanen – bereits frühzeitig diplomatische Kontakte zu diesen und den Seldschuken aufnahm und schon 1451 ein Friedensabkommen schloss, wurden die Kompetenzen des Bailo nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen bestätigt.33 Fortan vertrat er die venezianischen Interessen vor dem Sultan, hohen Würdenträgern und anderen auswärtigen – etwa genuesischen oder griechischen – Gemeinden in Konstantinopel. Vor allem sollte er die Sicherung der Privilegien und Waren venezianischer Händler gewährleisten; auch dann, wenn diese verstorben waren, ohne ein Testament zu hinterlassen. Baili sorgten für die Übermittlung venezianischer Tributzahlungen an die osmanischen Sultane und stellten als Repräsentanten Venedigs und Vorsteher der lokalen Gemeinde einflussreiche Dokumente beispielsweise über den Gesundheitsstatus von Reisenden, Händlern und Pilgern sowie die Zugehörigkeit griechischer Untertanen zum venezianischen stato da mar aus. Zudem hatten Baili die Gerichtsbarkeit über Venezianer inne, die de facto dadurch ausgeweitet wurde, dass die osmanischen Instanzen von einer Zuständigkeit des Bailo auch für christliche Untertanen anderer Herrschaften ausgingen. Ebenso bemühten sie sich um den Loskauf versklavter venezianischer und nicht-venezianischer Christen. Baili suchten außerdem die Durchführung religiöser Aktivitäten lateinischer Christen im Osmanischen Reich zu gewährleisten.34 Wie S. 175–205; Pedani, Venezia porta d’Oriente (wie Anm. 29), S. 79; dies., Venezia e il Maghreb nei documenti dell’Archivio di Stato di Venezia, in: Quaderni di Studi Arabi 10 (1992), S. 159–173; dies., Bailo, in: Encyclopedia of the Ottoman Empire, hg. von Gábor Ágoston/Bruce Masters, New York 2009, S. 72f.; I trattati con Bisanzio 1265–1285, hg. von Marco Pozza/Giorgio Ravegnani, Venedig 1996, S. 26–47, 56–65; Bertold Spuler, Bālyōs, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, hg. von Bernard Lewis, Charles Pellat, Joseph Schacht, 12 Bde., Leiden 1986–2004 [EI²], hier Bd. 1, S. 1008. 33 Carla Coco/Flora Manzonetto, Baili veneziani alla sublime porta. Storia e caratteristiche dell’ambasciata veneta a Costantinopoli, Venedig 1985, S. 23f.; Donald M. Nicol, Byzantium and Venice. A Study in Diplomatic and Cultural Relations. Cambridge u.a. 1988, S. 246–263; Şerafettin Turan, Türkiye-İtalya ilişkileri. Selçuklular’dan Bizans’ın sona erişine, Istanbul 1990; Antonio Fabris, From Adrianople to Constantinople. Venetian-Ottoman Diplomatic Missions, 1360–1453, in: Mediterranean Historical Review 7 (1992), S. 154–200; Mustafa Soykut, Italian Perceptions of the Ottomans. Conflict and Politics through Pontifical and Venetian Sources, Frankfurt a.M. u.a. 2011, S. 242. 34 Tommaso Bertelè, Il palazzo degli ambasciatori di Venezia a Costantinopoli e le sue antiche memorie. Ricerche storiche con documenti inediti, Bologna 1932; Christiane Villain-Gandossi, Contribution à l’étude des relations diplomatiques et commerciales entre Venise et la Porte ottomane au XVIe siècle, in: Südost-

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auch für andere venezianische Gesandte bestand für die Baili eine Berichtspflicht: Zum einen übersandten sie sogenannte dispacci ein- oder zweimal wöchentlich nach Venedig; zum anderen präsentierten sie am Ende ihrer Amtszeit mündlich dem Senat eine Finalrelation, die anschließend in schriftlicher Form archiviert wurde.35 Solche Verpflichtungen, Befugnisse und Amtsmodalitäten sind jeweils vor Amtsantritt in einer commissio niedergeschrieben worden. Die Dogen und der Große Rat wählten Baili ursprünglich für zwei Jahre mit Option auf Verkürzung oder Verlängerung. In osmanischer Zeit war die Amtszeit dann jedoch meist auf ein Jahr reduziert, wenngleich Baili mehrheitlich für drei Jahre in Konstantinopel mit der famiglia, also dem Sekretär und

forschungen 26 (1967), S. 22–45, 28 (1969), S. 13–47, 29 (1970), S.  290–300; dies., Les attributions du Baile de Constantinople dans le fonctionnement des Échelles du Levant au XVIe siècle, in: Recueils de la Société Jean Bodin pour l’Histoire Comparative des Institutions 33 (1972), S. 227–244, hier S. 235–238; Coco/Manzonetto, Baili (wie Anm. 33), S. 24; Dilek Desaive, Les documents en ottoman des fonds des archives du Baile à Constantinople, in: Turcica 33 (2001), S. 369–377; Giustiniana Migliardi O’Riordan, Présentation des archives du Baile à Constantinople, in: Turcica 33 (2001), S. 339–367; Eric R. Dursteler, Commerce and Coexistence. Veneto-Ottoman Trade in the Early Modern Era, in: Turcica 34 (2002), S. 105–133; Suraiya Faroqhi, Before 1600. Ottoman Attitudes towards Merchants from Latin Christendom, in: Turcica 34 (2002), S. 69–104, hier S. 77; Eric R. Dursteler, Venetians in Constantinople. Nation, Identity, and Coexistence in the Early Modern Mediterranean, Baltimore 2006, S. 27, 30f., 77–88, 141; Stefan Hanß, „Io ritorno, serenissimo principe dal sultan Solimano“. Devşirme and Yeniçeri in a Record of the Venetian bailo Bernardo Navagero, 1553, in: Eurasian Studies 10 (2012), S. 97–125. 35 Queller, Early Venetian Legislation (wie Anm. 18), S. 86; Maria P. Pedani, Safiye’s Household and Venetian Diplomacy, in: Turcica 32 (2000), S. 9–32; Almut Höfert, Den Feind beschreiben. „Türkengefahr“ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450–1600, Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 128–135; Filippo De Vivo, Information and Communication in Venice. Rethinking Early Modern Politics, Oxford u.a. 2007; Cristian Luca, Alcuni „confidenti“ del bailaggio veneto di Costantinopoli nel Seicento, in: Dacoromano-Italica. Studi e ricerche sui rapporti italo-romeni nei secoli XVI–XVIII, hg. von dems., Cluj-Napoca 2008, S. 159– 178; Eric R. Dursteler, Power and Information. The Venetian Postal System in the Early Modern Eastern Mediterranean, in: From Florence to the Mediterranean. Studies in Honor of Anthony Molho, hg. von Diogo R. Curto u.a., Florenz 2009, S. 601–623; Maria P. Pedani, Relazione, in: Ágoston/Masters, Encyclopedia of the Ottoman Empire (wie Anm. 32), S. 487.

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verschiedenen Dolmetschern sowie Bediensteten wie dem Majordomus, Ärzten, Dienern oder Köchen, residierten.36 Die venezianische Repräsentation in Konstantinopel ad verum dominum status nostri oblag jedoch nicht nur dem Bailo.37 Zu außergewöhnlichen Anlässen wie dem Herrschaftsantritt eines neuen Sultans, der Beschneidung eines seiner Söhne oder der Aushandlung von Friedensabkommen entsandte die Republik Venedig sogenannte ambasciatori straordinari. Insofern vormoderne Repräsentation auf sozialer (Wert)Schätzung in interpersonalen Relationen beruhte, war die Klassifizierung der Gesandtschaftsränge und Klärung der Funktionsdefinitionen eine Frage des persönlichen und herrschaftlichen Status.38 Daher wurde die Frage des legalen Status der baili und ambasciatori straordinari im Laufe des 16. Jahrhunderts zunehmend virulent.39 Ein Grund dafür ist auch, dass der Bailo-Rang nicht nur in Konstantinopel existierte, sondern ebenfalls für venezianische Vertreter in Akkon, Aleppo, Armenien, Durrës, Korfu, Koroni, Modon (Methoni), Nafplio, Negroponte (Euböa), Patras, Tenedos, Trabzon, Tripoli, Tyros und Zypern Verwendung fand. Während diese Baili jedoch den Rang eines governatore zugesprochen bekamen, wurde der Bailo Konstantinopels seit dem 15. Jahrhundert als console bezeichnet. Als solcher besaß er die Befugnis, dem Senat die Namen der venezianischen Levante-Konsuln zur Wahl vorzuschlagen. Seit 1670 fielen dabei sämtliche venezianische Konsuln innerhalb des Osmanischen Reiches in den Verantwortungsbereich des Bailo von Konstantinopel. Bereits 1612 konnte sich daher der Bailo Simone Contarini als beides beschreiben: Er sei zugleich ambasciatore und console.40 Außerhalb dieses Vorrechts lagen im östlichen Mittelmeerraum lediglich die vom Maggior Consiglio gewählten Konsuln von Aleppo sowie von Alexandria und Kairo. Als die Republik aber im späten 17. Jahrhundert begann, diese Posten auch mit cittadini zu besetzen, stärkte das erneut die Position der adligen Baili von Konstan36 Coco/Manzonetto, Baili (wie Anm. 33), S. 13–20, 23–28; Francesca Lucchetta, La scuola dei „giovani di lingua“ veneti nei secoli XVI e XVII, in: Quaderni di Studi Arabi 7 (1989), S. 19–40; dies., Il medico del bailaggio di Costantinopoli. Fra terapie e politica (secc. XV–XVI), in: Veneziani in Levante. Musulmani a Venezia, hg. von ders., Venedig 1997, S. 5–50; Dursteler, Venetians in Constantinople (wie Anm. 34), S. 32–40; Pedani, Bailo (wie Anm. 32). 37 Queller, Early Venetian Legislation (wie Anm. 18), S. 100, Maggior Consiglio, 22. Februar 1461: „ad verum dominum status nostri“. 38 Krischer, Souveränität (wie Anm. 2); ders., Gesandtschaftswesen (wie Anm. 24). 39 Vgl. im Folgenden Pedani, Bailo (wie Anm. 32); Hanß, Baili e ambasciatori (wie Anm. 27). 40 Dursteler, Venetians in Constantinople (wie Anm. 34), S. 29.

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tinopel. Schließlich erhielten diese durch ein Gesetz im Jahr 1575 den Status eines ambasciatore residente zugesprochen, womöglich, um den Baili denselben Rang zu verleihen, den die fortan häufiger beim Sultan vorsprechenden französischen, niederländischen und englischen Botschafter besaßen.41 Die Tatsache, dass bereits 1560 der Bailo Marino Cavalli schrieb, er kümmere sich um den Handel als bailo genauso wie um die politischen Dinge, die cose di stato, als ambasciatore, lässt vermuten, dass die Gesetzgebung von 1575 eine bereits zuvor bestehende Praxis aufgriff. Es waren eben die merkantilen und politisch-diplomatischen Sphären, die den Dienst eines Bailo a servizio e benefizio pubblico kennzeichneten.42 Diese Ausführungen veranschaulichen, dass sich im venezianischen Gesandtenwesen in der Frühen Neuzeit ein differenziertes System an Bezeichnungspraktiken und Befugniszuschreibungen herausgebildet hatte, das die Repräsentation der Republik sowie ihre Vertretung im Osmanischen Reich auf der Grundlage sozialer Hierarchisierungen sicherte. Dies geschah vor dem Hintergrund intensiver, wechselseitiger diplomatischer Kontakte zwischen der Lagune und dem Bosporus. Insgesamt sind 176 osmanische Gesandtschaften in Venedig nachweisbar, deren erste aufgrund antigenuesischer Bündnisoptionen im Jahr 1384 stattfand.43 Knapp zwei Drittel aller rekonstruierbaren osmanischen 41 Archivio di Stato di Venezia [ASVe], Compilazione leggi, b. 157, fol. 357. Maria P. Pedani, Venetian Consuls for Ottoman Subjects, in: IXth International Congress of Economic and Social History of Turkey, hg. von d. Turkish Historical Society, Ankara 2005, S. 213–219; dies., Venetian Consuls in Egypt and Syria in the Ottoman Age, in: The Mediterranean World 18 (2006), S. 7–21, hier S. 8; dies., Reports of Venetian Consuls in Alexandria (1554–1664), in: Alexandrie ottomane, hg. von Michel Tuchscherer/Maria P. Pedani, Kairo 2011, S. 43–182; einführend generell: Georg Christ, Trading Conflicts. Venetian Merchants and Mamluk Officials in Late Medieval Alexandria, Leiden 2012. 42 Relazioni degli ambasciatori veneti al Senato, III, Bd. 1, hg. von Eugenio Albèri, Florenz 1840, S. 274, relazione des Bailo Marino Cavalli, 1560: „Mi basterà dunque solo dir quello che circa la mercanzia, come bailo, ho trattato, e poi in fine quelle cose di stato che sono state da me avvertite e considerate come ambasciatore, a servizio e benefizio pubblico“. 43 Maria P. Pedani, In nome del Gran Signore. Inviati ottomani a Venezia dalla caduta di Costantinopoli alla Guerra di Candia, Venedig 1994, S. 203–209; dies., Ottoman Diplomats in the West. The Sultan’s Ambassadors to the Republic of Venice, in: Tarih incelemeleri dergisi 11 (1996), S. 187–202; dies., Ottoman Envoys to Venice (1384–1644), in: Arab Historical Review for Ottoman Studies 13–14 (1996), S. 111–115. Zu den Beziehungen zwischen Genua und dem Osmanischen Reich vgl. Kate Fleet, European and Islamic Trade in the Early Ottoman State. The Merchants of Genoa and Turkey, Cambridge u.a. 1999.

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Gesandtschaften kamen während des in dieser Untersuchung fokussierten Zeitraumes, also zwischen 1500 und 1700, nach Venedig.44 Der diplomatische Austausch bildete dabei nur einen Aspekt umfassender kultureller Kontakte: Eine große Anzahl an Venezianern lebte in Konstantinopel und auch umgekehrt hielten sich zahlreiche muslimische und jüdische Sultansuntertanen in Venedig auf.45 Neben dem engen merkantilen Austausch sind architektonische und künstlerische Einflüsse nachweisbar.46 Venedig galt zudem als Zentrum für Pilger- und Orientreisende sowie für Nachrichten und Informationen aus der Levante.47

44 Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 205–209. 45 Paolo Preto, Venezia e i Turchi, Florenz 1975; Cemal Kafadar, A Death in Venice (1575). Anatolian Muslim Merchants Trading in the Serenissima, in: Journal of Turkish Studies 10 (1986), S. 191–218; Benjamin Arbel, Trading Nations. Jews and Venetians in the Early Modern Eastern Mediterranean, Leiden u.a. 1995; Dursteler, Venetians in Constantinople (wie Anm. 34); Ella-Natalie Rothman, Between Venice and Istanbul. Trans-imperial Subjects and Cultural Mediation in the Early Modern Mediterranean, [Diss. University of Michigan] 2006; Stefan Hanß, „PER LA FELICE VITTORIA“. Venezianische Reaktionen auf die Seeschlacht von Lepanto (1571), in: Frühneuzeit-Info 22 (2011), S. 98–111. 46 Maria P. Pedani, The Portrait of Mehmed II. Gentile Bellini, the Making of an Imperial Image, in: Turkish Art. 10th International Congress of Turkish Art, Geneva, 17–23 September 1995, hg. v. François Déroche, Genf 1999, S. 555–558; Hans Georg Majer, Giovio, Veronese und die Osmanen. Zum Sultansbild der Renaissance, in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von Bodo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann, Tübingen 2000, S. 345–371; Deborah Howard, Venice and the East. The Impact of the Islamic World on Venetian Architecture, 1100–1500, New Haven u.a. 2000; dies., Venice, the Bazaar of Europe, in: Bellini and the East, hg. von Caroline Campbell/Alan Chong, London u.a. 2005, S. 12–35; Maria P. Pedani, Between Diplomacy and Trade. Ottoman Merchants in Venice, in: Merchants in the Ottoman Empire, hg. von Suraiya Faroqhi/Gilles Veinstein, Paris u.a. 2008, S. 3–21. 47 Renate Pieper, Informationszentren im Vergleich. Die Stellung Venedigs und Antwerpens im 16. Jahrhundert, in: Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, hg. von Michael North, Köln 1995, S. 45–60; Peter Burke, Early Modern Venice as a Center of Information and Communication, in: Venice Reconsidered. The History and Civilization of an Italian City-State, 1297–1797, hg. von John Martin/Dennis Romano, Baltimore 2000, S. 389–419; Deborah Howard, The Status of the Oriental Traveller in Renaissance Venice, in: Re-Orienting the Renaissance. Cultural Exchanges with the East, hg. von Gerald MacLean, Basingstoke 2005, S. 29–49; Dursteler, Power and Information (wie Anm. 35).

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II. In nome del Signor suo: Empfangene Repräsentanten des Sultans Im folgenden Abschnitt sollen nun der Verlauf der Audienzen osmanischer Gesandtschaften in Venedig sowie die venezianische Perspektive auf ebendiese untersucht werden: In welchem Rahmen fanden die Audienzen statt, und inwiefern bot das diplomatische Zeremoniell der Serenissima Handlungsspielräume in Bezug auf Rang, Status und soziale Schätzung? Einen guten ersten Eindruck liefert der Empfang eines Osmanen namens Hasan, der sich im Sommer 1576 knapp über einen Monat lang in Venedig aufhielt.48 Die ersten beiden Tage nach seiner Ankunft verbrachte er in der osteria dalla corona an der Ponte della Paglia für insgesamt zehn Dukaten; die erste Abendspeisung wurde ihm bezahlt. Für die restliche Zeit seines Aufenthaltes bezog er ein Haus der Scuola della Carità bei der Kirche Sant’Eufemia auf der Giudecca für täglich fünf Zecchinen. Hasan konnte erst am dritten Tag dieses Haus zugewiesen werden, weil damals eine verheerende Pestepidemie Venedig plagte.49 Die Audienzen, während derer Hasan die Finanzfragen und den Loskauf von Gefangenen und Sklaven zu besprechen suchte, fanden wie auch für andere Gesandtschaften üblich in der Sala del Collegio des Dogenpalastes statt. In diesen auch als Sala dell’Audientia bezeichneten Raum eingetreten, erhob sich die Signoria von ihren Plätzen. Hasan selbst setzte sich zur rechten Seite des Dogen, wo für gewöhnlich der älteste der sechs Dogenberater seinen Platz einnahm.50 Als Geschenke überreichte Hasan fünf Gewänder aus Damast, vier 48 Hasans Aufenthalt wird in ASVe, Collegio, Cerimoniali, reg. 1, fol. 47r beschrieben. Da der Eintrag besonders ausführlich die Unterkunft des Osmanen anspricht, ist davon auszugehen, dass diese Frage von den Zeitgenossen als wichtiger Bestandteil des Empfangs eingeschätzt wurde. Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 59–66. Laut ASVe, Collegio, Cerimoniali, reg. 1, fol. 47r hielt sich Hasan im Juni und Juli 1576 in Venedig auf (08.06.1576 bis 12.07.1576). Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 91, 206 gibt zwei Audienzen für den 4. und 23. Juni an. Insofern die Cerimoniali-Ausführungen die Art des Aufenthaltes generell fokussieren, müssen die Tagesangaben nicht unbedingt korrekt sein. 49 Iain Fenlon, The Ceremonial City. History, Memory and Myth in Renaissance Venice, New Haven u.a. 2007, S. 217–229. 50 Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 191–202, 251–266; Edward Muir, Civic Ritual in Renaissance Venice, Princeton 1981, S. 19f.; Robert Finlay, Politics in Renaissance Venice, London 1980; Giuseppe Maranini, La costituzione di Venezia, Bd. 2, Florenz ²1974, S. 325–368.

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in scharlachroter Farbe und ein weiteres aus Samt. Im Gegenzug erhielt er vor seiner Abreise 500 Zecchinen.51 Im Vergleich zu Hasans Empfang fiel sechs Jahre zuvor die Audienz eines anderen Osmanen namens Kubad merklich verschieden aus. Dieser traf Ende März 1570 in Venedig mit zwei Schreiben ein, die unter Kriegsandrohung die Abtretung Zyperns an das Osmanische Reich forderten.52 Eine solche Mission stellte ein absolutes Novum dar und sollte eine Sonderstellung in der Geschichte der venezianisch-osmanischen Diplomatie einnehmen: Unter sämtlichen osmanischen Gesandtschaften in Venedig befand sich keine weitere, in der ein Krieg offiziell bekannt gegeben wurde.53 Bevor Kubad jedoch überhaupt in Venedig eingetroffen war, hatte sich die Nachricht vom drohenden Krieg bereits in der Lagunenstadt verbreitet.54 So 51 ASVe, Collegio, Cerimoniali, reg. 1, fol. 47r. Während der Überfahrten zum Kollegium sowie während der Rückfahrten zum besagten Haus wurde Hasan von den Savi agli ordini (die im Kollegium versammelten Savi der Seefahrt) und dem Dolmetscher Filippo Emanuel begleitet. Zu Geschenken siehe Pedani, Venezia porta d’Oriente (wie Anm. 29), S. 100–109; dies., In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 91. 52 Die biografischen Hintergründe Kubads sind unbekannt. Es ist vermutet worden, er entstamme der Region um den kaukasisch-tscherkessischen Fluss Kuban. Belegbar ist, dass sein Sohn ebenfalls čavuš wurde und 1594 vergeblich um eine Gesandtschaft nach Venedig ersuchte. Daniel Goffman, The Ottoman Empire and Early Modern Europe, Cambridge 2002, S. 23–26, 55–58, 93–97, 131–136, 165–168; Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 29, 37f.; Arbel, Trading Nations (wie Anm. 45), S. 122, 128ff., 132f., 135–140, 145, 151ff. Die osmanischen Schreiben werden aufbewahrt als ASVe, Documenti turchi, 808, 810. Vgl. I „Documenti turchi“ dell’Archivio di Stato di Venezia. Inventario della miscellanea. Con l’edizione dei regesti di Alessio Bombaci, hg. von Maria P. Pedani-Fabris, Rom 1994, S. 201ff. Zur Gesandtschaft Kubads siehe Anonym, DISCORSO SOPRA DVE GRANDI E MEMORABILI BATTAGLIE NAVALI FATTE NEL MONDO, L’VNA DI CESARE AVGVSTO CON M. ANTONIO, L’altra delli Sig. Venetiani, e della santissima Lega CON SVLTAN SELIM signor di Turchi, Bologna 1572, S. 12ff.; Emilio M. Manolesso, HISTORIA NOVA, NELLA QVALE SI CONTENGONO tutti i successi della guerra Turchescha, […], Padua 1572, fol. 19v–21r; Giovanni C. Saraceni, I FATTI D’ARME FAMOSI, SVCCESSI TRA TVTTE LE NATIONI DEL MONDO, DA CHE PRIMA HAN COMINCIATO A GVERREGGIARE SINO AD HORA […], Bd. 2, Venedig 1600, fol. 706vff. 53 Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 162, 203–209; dies., Ottoman Envoys (wie Anm. 43). 54 Kubad unternahm die letzten Stationen seiner Reise von Poreč nach Venedig an Bord der Galeere Suriana, auf der sich auch Alvise (Luigi) Bonrizzo, Sekretär

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entschied sich schon vor Kubads Audienz, dass die Serenissima der Aufforderung Sultan Selims II. (1566–1574) nicht nachkommen würde. Entsprechende Kriegsvorkehrungen waren zu treffen: Bereits am 17. März informierte der Doge Pietro Loredan (1567–1570) Maximilian II. (1564–1576) und Philipp II. (1556–1598). Zusätzlich wurden Botschafter instruiert und eine Flotte aufgestellt, der laut Senatsbeschluss vom 18. März Girolamo Zane vorstehen sollte. Am 27. März, einen Tag nach den Osterprozessionen, bekam er die Standarte festlich überreicht.55 In Anbetracht des exzeptionellen Charakters der Gesandtschaft ist es nicht verwunderlich, dass innerhalb der Gremien auch über das Audienzzeremoniell selbst debattiert wurde: Wie sollte Kubad genau empfangen werden? Der venezianische Nuntius Giovanni Antonio Facchinetti, der spätere Papst Innozenz IX. (1591), schrieb am 17. März in einem Brief nach Rom, dass drei Ansichten vorherrschten. Kubad solle der Eintritt nach Venedig ganz verwehrt werden; man empfange ihn geheim im Kollegium; oder aber er werde in einer udienza pubblica „bei geöffneten Türen“56 angehört, zu der auch andere Botschafter und venezianische Würdenträger zugelassen seien. Damals fand noch letzterer Vorschlag die größte Zustimmung,57 doch wenige Tage später wurde Kubad dann doch „bei geschlossenen Türen“58 empfangen.

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des Bailo, befand. Nachdem ein am 4. März 1570 in Ragusa aufgesetzter Brief Bonrizzos eingetroffen war, entschied die Signoria am 16. März 1570, die besagte Galeere nach Poreč zu senden. In seinem Schreiben übermittelte Bonrizzo auch die Hintergründe zu Kubads Gesandtschaft. ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 23v–24v. Vgl. Angelo Ventura, Bonrizzo, Alvise (Luigi), in: Dizionario biografico degli italiani, hg. vom Istituto della Enciclopedia Italiana, bis dato 75 Bde., Rom 1960ff. [DBI], hier Bd. 12, S. 365ff. Von der Chiesa di San Moisè aus ging eine Gruppe Adliger zur Basilica di San Marco, wo Zane im Anschluss an die Messe das Oberkommando durch den Dogen übertragen bekam. ASVe, Senato Secreta, reg. 76, fol. 62vf. (83vf. ), 17. März 1570; Nunziature di Venezia, Bd. 9: 26 marzo 1569 – 21 maggio 1571, hg. von Aldo Stella, Rom 1972, S. 242, 244, 249; Kenneth M. Setton, The Papacy and the Levant (1204–1571), Bd. 4, Philadelphia 1984, S. 953ff. Zur Bedeutung der venezianischen Osterprozessionen siehe Muir, Civic Ritual (wie Anm. 50), S. 219–222. Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 240: „a porte aperte“. Ebd., S. 238, 240. Ebd., S. 244: „a porte chiuse“. Vgl. Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12; Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 19v; Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 162, 207; Heller, Venedig (wie Anm. 8), S. 263.

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Weitere Festlegungen zu den Details des Audienzzeremoniells trafen die Senatoren am 27. März: Erstens sollte Kubad zwar – wie üblich – vom Collegio dei Savi empfangen werden; für den Fall jedoch, dass er eine Audienz beim hochrangigen Consiglio dei Dieci, dem Rat der Zehn, verlangen würde, solle ihm diese verwehrt werden. Die Antwort solle unmissverständlich ausfallen: Kubad habe nur diese eine Audienz, um das, was er zu sagen habe, anzuführen.59 Dieser Beschluss beschnitt radikal die Möglichkeit eines verhandelbaren Entscheidungsbildungsprozesses, denn gerade die auf die Schriftenübergabe während der ersten Audienz folgenden Empfänge wurden als bedeutend angesehen, um Positionen zu verhandeln. Dabei war es üblich, osmanische Gesandte mehrfach – mitunter sogar sieben Mal – vor dem Kollegium anzuhören. Mit der Zurückweisung einer Anhörung vor dem mächtigen Rat der Zehn verhinderten die Senatoren etwaige Kompetenzstreitigkeiten und verweigerten Kubad damit zugleich die Möglichkeit einer Intervention. Venedig präsentierte sich gegenüber Kubad also in entschlossener Haltung.60 Zweitens planten die Senatoren, dass die Audienz an sich nicht länger als dreißig Minuten dauern solle.61 An einem anderen Beispiel veranschaulichte Thomas Weller bereits, dass frühneuzeitliche Herrschaften die Dauer der gewährten Audienzen sowie kürzere und längere Wartezeiten als Mittel nutzten, um den in der Audienz Empfangenen Ehre zu- oder abzusprechen.62 Insofern ist es aufschlussreich, dass Kubads Audienz zuvor zeitlich auf eine halbe Stunde begrenzt worden war. Vielsagend ist auch, dass es der Nuntius in einem Schrei59 ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 34v, 27. März 1570 (172 Ja-Stimmen, 24 Nein-Stimmen, 9 Enthaltungen): „[…] et i[n] caso ch’esso dimandasse audientia con li Capi del cons.o n[ost]ro di X. gli sia risposto, che quella è [diejenige im Collegio, S. H.] l’audientia, che se gli hà da dar, et chel dica quello, che gli pare“. 60 Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 72f., 162ff., 207. Vgl. Mauro Macchi, Storia del Consiglio dei Dieci, 4 Bde., Mailand 1864. 61 Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 240. 62 So Thomas Weller in seinem Vortrag Gleichzeitiges und Ungleichzeitiges. Zeitwahrnehmung und Interkulturalität in frühneuzeitlichen Reise- und Gesandtschaftsberichten. Vgl. Stefan Hanß, Tagungsbericht Frühe Neue Zeiten. Zeitkonzepte zwischen Reformation und Revolution. 22.–24.09.2010, Mainz, in: H-Soz-u-Kult 16.10.2010, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3317; Thomas Weller, Städtisches Selbstverständnis und frühneuzeitliche Diplomatie. Fremdes und Eigenes in den Berichten über die hansischen Gesandtschaften nach Moskau (1603) und Madrid (1606), in: Der Blick auf sich und die anderen. Selbstbild und Fremdbild von Frauen und Männern in Mittelalter und früher Neuzeit, hg. von Sünje Prühlen/Lucie Kuhse/Jürgen Sarnowsky, Göttingen 2007, S. 349–377.

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ben nach Rom für bemerkenswert hielt, dass die Audienz des Osmanen noch nicht einmal eine Viertelstunde in Anspruch genommen hatte.63 Damit setzte Venedig ein doppeltes Zeichen: Es stellte die ablehnende Haltung gegenüber der osmanischen Zypern-Forderung und Kriegsdrohung zeremoniell dar und signalisierte zugleich die Ernsthaftigkeit der Situation gegenüber diplomatischen Vertretern anderer christlicher Herrschaften, mit denen sich die Republik teilweise in Verhandlungen um militärische Unterstützung befand. Drittens beschlossen die Senatoren, dass Kubad zwar wie für Gesandte üblich den Sitz neben dem Dogen zugewiesen bekomme; jedoch sollte sich dieser und auch niemand sonst im Kollegium erheben beziehungsweise dem Osmanen ein Zeichen (segno) zukommen lassen.64 Was es mit diesem Zeichen auf sich hatte, wird in der Korrespondenz des in Venedig weilenden habsburgischen Orators Veit von Dornberg ersichtlich, der ausdrücklich nach Wien schrieb, dass das Kollegium Kubad kein honoris signum entgegenbrachte.65 Venedig nutzte demnach das diplomatische Zeremoniell bewusst, um Kubad entsprechend der Gepflogenheiten zu empfangen, diese aber dennoch gemäß aktuellem Anlass im Detail abzuändern.66 Das gängige zeremonielle Grundgerüst zum Empfang osmanischer Gesandter wurde beibehalten: Venedig empfing Kubad, wie es einem Ambasciadore di alcuno Prencipe zustand.67 Das verdeutlicht auch die überwältigende Mehrheit, mit der die Senatoren vor Kubads Anreise die Titulatur bestimmten, die sich auf den Antwortschreiben an den Sultan befinden sollte: Das Schreiben hatte Selim II. zu Beginn als Ser.mo, et Ex.mo Domino Selino Sach Turcarum Jmperatori Ill.mo zu bezeichnen. Zum Ende 63 Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 240, 244. 64 ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 25v, 27. März 1570: „[…] qual chiaus sia fatto sentar appresso il S.mo P., secondo, che sono soliti far li chiaus, che uengono dalla porta, non si douendo al suo comparer Il .S.mo P. nè alcun altro di Collo leuarsi inpiedi, ò far altro segno uerso dilui“. Vgl. zu Ansichten hierzu wenige Tage vor der Audienz: Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 240. Siehe auch Giorgio Rota, Safavid Envoys in Venice, in: Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 2), S. 213–249, hier S. 216f. 65 Österreichisches Staatsarchiv Wien [OeStA], Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), Staatenabteilung, Venedig, Berichte, 11, Ins. 1, fol. 107r–108v, Bericht von Veit von Dornberg, aufgesetzt in Venedig am 01. April 1570, hier fol. 107r. 66 Patricia Fortini Brown, Measured Friendship, Calculated Pomp. The Ceremonial Welcomes of the Venetian Republic, in: „All the World’s a Stage…“. Art and Pageantry in the Renaissance and Baroque, Bd. 1: Triumphal Celebrations and the Rituals of Statecraft, hg. von Barbara L. Wollesen-Wisch/Susan S. Munshower, University Park 1990, S. 137–186, hier S. 140. 67 Contarini, DELLA REPVBLICA (wie Anm. 25), III, S. 57.

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war der Doge als Ser.me, et Ex.me Domine Petrus Lauredano, Dei gratia, Dux venetiarum, et[c.] anzuführen.68 Das Zeremoniell beinhaltete dabei Elemente, die das königliche Traktament definierten (‚rechte Hand‘ in der Sitzordnung), und wies andere explizit zurück (Hutziehen oder vergleichbares segno).69 Die Änderungen drückten gegenüber Kubad unmissverständlich die ablehnende Haltung aus, welche die Lagunenstadt gegenüber der Forderung des Sultans einnahm, Venedig solle Zypern an das Osmanische Reich abtreten oder müsse mit kriegerischen Auseinandersetzungen rechnen. Da die Republik Venedig auf diplomatischer Ebene den Rang eines königlichen Traktaments auch mit dem Besitz des zypriotischen Königreiches begründete,70 wären die Folgen einer Abtretung auch im Hinblick auf zeremonielle Aspekte besonders weitreichend gewesen. Die zeremoniellen Einschnitte, denen sich Kubad während seiner Audienz ausgesetzt sah, drückten die Missbilligung der Signoria gegenüber dem Sultan als Absender der Kriegserklärung aus. Damit empfing und behandelte Venedig Kubad entsprechend den Logiken der lateineuropäischen repraesentatio majestatis als Repräsentanten des Sultans. Dass die von anderen Herrschaften nach Venedig Entsandten dies auch so wahrnahmen, belegen die Ausführungen des Nuntius und des habsburgischen Orators, die mehr oder weniger ausführliche Audienzbeschreibungen an den päpstlichen und kaiserlichen Hof sandten.71 Insofern behielt die Signoria die Oberhand über die Gestaltung und Interpretation des diplomatischen Zeremoniells während des Empfanges des Osmanen. Damit erhob sie zugleich Anspruch darauf, bestimmte symbolische Positionen zu besetzen.72 68 ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 24v, 27. März 1570. 69 Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 8: „Die honores regii […] wurden nach 1648 durch drei Symbole repräsentiert: Den Titel Exzellenz, den Empfang der ersten Visite durch andere Gesandte auf Kongressen und die so genannte ‚rechte Hand‘, den Ehrenvorrang beim Sitzen, Stehen und Gehen, sowie ggf. auch noch das Hutziehen vor dem Botschafter“. Vgl. Stollberg-Rilinger, Honores regii (wie Anm. 8). 70 Johann C. Lünig, THEATRUM CEREMONIALE HISTORICO-POLITICUM, Oder Historisch= und Politischer Schau=Platz Aller CEREMONIEN, […], Bd. 1, Leipzig 1719, S. 12ff., 33; Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 13. 71 Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 240, 244; OeStA, HHStA, Staatenabteilung, Venedig, Berichte, 11, Ins. 1, fol. 107r–108v, Bericht von Veit von Dornberg, aufgesetzt in Venedig am 01. April 1570. 72 Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527, hier S. 507. Fortini Brown, Measured Friendship (wie Anm. 66), S. 150.

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Zu dem Kubad bereiteten Traktament geben einige zeitgenössische Turcica weitere Aufschlüsse.73 Die Audienz selbst war für den Tag nach Kubads Ankunft anberaumt worden.74 Die Flugschriften berichten, er habe sich sofort nach dem Betreten des Saales neben den Dogen gesetzt und gemeint, dass er „ein guter Freund“75 sei. Um diese Aussage zu unterstreichen, erinnerte er die Anwesenden daran, dass er schon einmal eine Audienz erhalten hatte, als es um 73 Da in den Jahren des venezianisch-osmanischen Krieges um Zypern eine im 16. Jahrhundert unerreicht hohe Anzahl an Schriften über das Osmanische Reich die zu einem großen Anteil venezianischen Druckerwerkstätten verließ, thematisieren einige dieser Drucke den Verlauf der Audienz. Carl Göllner, Turcica, 3 Bde., Bukarest u.a. 1961–1978, hier Bd. 3, S. 19; Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 35), S. 98. 74 ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 24rf.; Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 244. Es existieren verschiedene Datumsangaben bezüglich Kubads Ankunft wie auch seiner Audienz. Die Flugschrift Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12 berichtet, dass Kubad am 26. März eingetroffen sei. Mit dieser Aussage stimmt auch ein aviso überein, der zu Ulrich Fugger nach Augsburg geschickt wurde. In diesem wird allerdings vermutet, die Audienz habe ebenfalls am 26. März stattgefunden: Setton, The Papacy (wie Anm. 55), S. 954. Doch in der Lagunenstadt war anscheinend schon vor Kubads Ankunft bekannt, dass dieser sich in „unsere Sachen“ einmischen wolle, und so ist in einer Archivalie vom 27. März zu lesen: „L’anderà parte che sia fatto venir in questa città esso chiauso con la medesima galea ch’el condurà in Istria, con ordine al sopracomito che debba fermarsi alli due castelli et usar ogni accurata diligentia che nissuno monti in galea, nè che alcuno uscisca da essa per levar il modo a ditto chiauso di intender e penetrar delle cose nostre, per il qual effetto siano anco poste delle barche a guardia di essa galea, della qual sia solamente lassato partire il segretario Bonriccio […] audienza di ditto chiausso la qual li sia deputata per la mattina seguente il gionger suo […].“ ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 24rf. Demzufolge müsste Kubad am 28. März am Lido angekommen und am Vormittag des 29. März empfangen worden sein. Jedoch verweist Setton, The Papacy (wie Anm. 55), S. 954 auf das am 27. März verfasste und nach Spanien versandte Schreiben ASVe, Senato Secreta, reg. 76, fol. 68v (89v), in dem zu lesen ist, dass „[i]l chiaus mandatovi dal Turco […] gionse terzo giorno in questa città“. Der Nuntius meinte schließlich, Kubad sei am 27. März über Ragusa angereist. Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 236, 238, 241, 243f. ASVe, Esposizioni Principi, reg. 2, fol. 4rff. wiederum legt nahe, dass die Audienz am 29. März stattfand. Auch Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 162, 207 nennt den 28. März sowie 29. März als Datum der Ankunft und Audienz Kubads. 75 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12: „buon’amico di sua Serenità“. Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 19v: „buono amico io sia de questa inclita Rep.“.

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die „Angelegenheit der Juden“76 ging. Tatsächlich war Kubad bereits am 31. Oktober 1567 in Venedig empfangen worden, da er Schulden bei einem Juden namens Ḥayyim Saruq einzutreiben hatte. Damals stand Ḥayyim Saruq vor einem wirtschaftlichen Scherbenhaufen: Über die Jahre hinweg hatte er einen florierenden, gesamtmediterranen Handel betrieben, doch nun wollten die Gläubiger ihre Geldbeträge ausgezahlt haben. Unter anderem hatte Ḥayyim als Pächter einiger Alaunminen Schulden beim osmanischen Sultan Süleyman I. (1520–1566) angesammelt.77 Kubad wurde damals, wie auch Hasan zehn Jahre später, auf der Giudecca untergebracht.78 Im Dezember 1567 erhielt Kubad schließlich in zwei Zahlungen 10.190 Dukaten ausgehändigt und kehrte nach Konstantinopel zurück.79 Kubad hatte also bereits eine Audienz hinter sich und war somit in der Lage, das Zeremoniell der Empfänge zu vergleichen. Gewiss bemerkte er die Änderungen: die Einmaligkeit und kurze Dauer der Audienz, das Fehlen eines ehrzuweisenden Zeichens sowie die Tatsache, dass er 1570 im weiter entfernten Lido unterkam. Sogleich betonte Kubad, dass er diese Aufgabe nur mit großem Unbehagen übernehme. Laut verschiedener Flugschriften habe er um das erneute Wohlwollen Gottes gebeten.80 Nach dem Schreiben seines Signore gefragt, überreichte er den Brief des Sultans.81 In diesem beklagte Selim II., dass es vor allem auf Zypern zu zahlreichen Auseinandersetzungen gekommen war, 76 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12: „materia de gli Ebrei“. Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 19v: „negotio de li Hebrei“. 77 Arbel, Trading Nations (wie Anm. 45), S. 95–144. 78 Zur Unterkunft osmanischer Gesandter in Venedig vgl. Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 59–66. Auf der Giudecca empfing Kubad Juden und Christen, lauschte beim Abendessen dem Spiel des Spinetts sowie der Violine und stand in Kontakt mit muslimischen Sklaven. Ebd., S. 43, 56, 90, 181; Arbel, Trading Nations (wie Anm. 45), S. 134f. 79 Ebd., S. 95–144; Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 10, 20, 36f., 43, 56, 88f., 94, 97, 158–163, 207; Brian Pullan, Jewish Banks and Monti di Pietà, in: The Jews of Early Modern Venice, hg. von Robert C. Davis/Benjamin C. I. Ravid, Baltimore 2001, S. 53–72, hier S. 63f.; Benjamin C. I. Ravid, An Introduction to the Charters of the Jewish Merchants of Venice, in: ders., Studies on the Jews of Venice, 1382–1797, Aldershot u.a. 2003, IV, S. 203–246. 80 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12; Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 19vf. Vgl. eher OeStA, HHStA, Staatenabteilung, Venedig, Berichte, 11, Ins. 1, fol. 107r–108v, Bericht von Veit von Dornberg, aufgesetzt in Venedig am 01. April 1570, hier fol. 107r. 81 Hierzu im Folgenden ASVe, Documenti turchi, 808, 809; Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12f.; Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20r; Pedani-Fabris, I „Documenti turchi“ (wie Anm. 52), S. 201f.

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die das bestehende Friedensabkommen verletzten. Schon zu Zeiten seiner Vorgänger Sultan Süleyman I., Bayezid II. (1481–1512) und Mehmed II. (1444– 1446, 1451–1481) hätten Venezianer Festungsanlagen außerhalb ihrer Grenzen errichtet, und nun versenkten und enterten auch noch Korsaren vor Zypern zwei muslimische Schiffe. Die Schuldigen hatte Venedig dem Bey von Alexandria trotz entsprechender Nachfrage nicht genannt, und jetzt hätten Zyprioten auch noch ein weiteres, dem Bey unterstehendes Schiff überfallen. In seinem Schreiben führte der Sultan weitere Übergriffe auf osmanische Händler an: Beispielweise hätten Uskoken Haddsch Ali seiner Waren (insbesondere Wolle) im dalmatinischen Kotor beraubt, und nach wie vor sei er für diesen Verlust nicht entschädigt worden. Aufgrund solcher Vorkommnisse verlangte der Sultan die Aushändigung Zyperns. Sollte Venedig die Insel nicht abtreten, würden die Osmanen auf dem Meer und zu Land angreifen, statt die friedlichen Beziehungen aufrechtzuerhalten.82 All dies übersetzte der interprete Michele Membrè und trug es den venezianischen Würdenträgern im Kollegium vor. Eine Flugschrift führt an, dass er dabei auch die „hohen und großen Titulaturen ausgelegt [interpretata]“ habe, „mit denen für gewöhnlich diese Signor Turchi [i. e. Sultane] zu Beginn ihrer Briefe Eindruck schinden wollen und die von Unverschämtheit und Aufgeblasenheit nur so strotzen, so als wären sie Götter auf Erden“.83 Gemeint ist damit 82 ASVe, Documenti turchi, 808; Pedani-Fabris, I „Documenti turchi“ (wie Anm. 52), S. 201f.; Maria P. Pedani, Tra economia e geo-politica. La visione ottomana della Guerra di Cipro, in: Annuario. Istituto Romeno di Cultura e Ricerca Umanistica 5 (2003), S. 287–298. Zur Bedeutung Zyperns für Venedig und das Osmanische Reich: George Hill, A History of Cyprus, Bd. 3: The Frankish Period. 1432–1571, Cambridge 1948, S. 765–1040; Mehmet A. Erdoğru, The Servants and Venetian Interest in Ottoman Cyprus in the Late Sixteenth and the Early Seventeenth Centuries, in: Veneziani in Levante (wie Anm. 36), S. 97–120; Vera Costantini, Venetian Trade and the Boundaries of Legality in Early Modern Ottoman Cyprus, in: Merchants in the Ottoman Empire (wie Anm. 46), S. 35–46; Benjamin Arbel, Cyprus, the Franks and Venice, 13th–16th Centuries, Aldershot u.a. 2000. 83 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12f.: „[…] & quella basciata, fu interpretata per Michiel Membrè con alti e grandissimi tituli, co i quali sono soliti questi Signor Turchi dar maestà nel principio alle loro lettere, pieni di molta insolentia, & fasto insopportabile, come se essi fossero Idij in terra“. Für seine Hilfe bei der Übersetzung dieses Zitates danke ich Alexander Koller (Deutsches Historisches Institut Rom). Vgl. auch Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20r. Zu dem zypriotischen interprete Michele Membrè, der in das safawidische Persien gereist und in Venedig als Übersetzer tätig war, existiert eine umfangreiche Forschungsliteratur: Michele Membré, Relazione di Persia (1542). Ms.

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das Schriftbild des Namenszuges und der Titulatur des osmanischen Sultans in Form der dem Schreiben vorangesetzten großherrlichen Tughra (ṭuġrā) (Abb. 1). „Selim Schah, Sohn des Süleyman Schah Chan, immer siegreich“,84 stand dort geschrieben. Im Venezianischen Staatsarchiv befindet sich noch heute die Übersetzung des von Kubad überreichten Schreibens, die Michele Membrè anfertigte. Er übertrug die Titulatur in eine leicht abgewandelte Form als „Sultan Selim, Sohn des Sultans Süleyman Scheich, glücklich siegreicher Kaiser“.85 Diese Tughra bezeichnete der Flugschriftenautor, ein anonymer gentilhuomo, zwei Jahre nach der Audienz als anmaßend, implizierte sie doch, dass Selim II. erneut siegreich sein werde, sollte es zur Auseinandersetzung um Zypern kommen. Stattdessen kam es bei der Seeschlacht von Lepanto am 7. Oktober 1571 zu einer verheerenden Niederlage für die Osmanen, die in besagter Flugschrift mit der Schlacht bei Actium (31 v. Chr.) verglichen wird.86 Im Druck dient inedito dell’Archivio di Stato di Venezia, hg. von Giorgio R. Cardona u. a., Neapel 1969; Michele Membré, Mission to the Lord Sophy of Persia (1539–1542), hg. von A. H. Morton, London 1993; Gianroberto Scarcia, Un documento persiano del 946/1539 nell’Archivio di Stato di Venezia, in: Annali dell’Istituto Universitario Orientale di Napoli. N. S. 18 (1968), S. 338–342; Pedani, In nome del Gran Signore, (wie Anm. 43), S. 29, 31, 44, 56, 92, 161, 166, 173, 176, 179, 197; Nelly Mahmoud Helmy, Membré, Michele, in: DBI (wie Anm. 54), Bd. 73, S. 411ff. sowie generell Guglielmo Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia, Turin 1865. Ein weiterer Aufsatz Benjamin Arbels (Tel Aviv) ist im Druck. 84 Selῑm šāh bin Süleymān šāh hān el-muz.affer dāimā, vgl. auch Maria P. Pedani, ˘ Nişan del sultano Selim II con cui si stabilisce la pace con il doge di Venezia, Costantinopla, 7 marzo 1573 (3 zilkade 980), in: Venezia e Istanbul. Incontri, confronti e scambi, hg. von Ennio Concina, Udine 2006, S. 88; Josef Matuz, Eine ungewöhnliche osmanische Großwesirs-Titulatur, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 77 (1987), S. 87–103, hier S. 91. 85 ASVe, Documenti turchi, doc. 809: „Sultan Selim fig.lo di Sultan Suliman Scheich’ Imp.e felicemente Vittorioso“. 86 Dass die Seeschlacht letztlich nicht die gewünschten Konsequenzen hervorrief, konnte der Autor freilich zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht wissen. Vgl. Andrew C. Hess, The Battle of Lepanto and its Place in Mediterranean History, in: Past & Present 57 (1972), S. 53–73; Fernand Braudel, Bilan d’une bataille, in: Il Mediterraneo nella seconda metà del ’500 alla luce di Lepanto, hg. von Gino Benzoni, Florenz 1974, S. 109–120. Die besagte Flugschrift stammt aus der Druckerwerkstatt der Brüder Alessandro und Giovanni Battista Benacci, die in Bologna zahlreiche Drucke zu Lepanto herausbrachten. Simona Mammana, Lèpanto. Rime per la vittoria sul turco. Regesto (1571–1573) e studio critico, Rom 2007, S. 136, Nr. 4, S. 147, Nr. 24, S. 148, Nr. 26, S. 161f., Nr. 53, S. 172, Nr. 80, S. 266f., Nr. 232, 233. Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52) dürfte weit verbreitet gewesen sein. Allein EDIT 16 weist den Druck in den Beständen fol-

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Kubads Audienz argumentativ dazu, retrospektiv die Unangemessenheit der Forderung des Osmanischen Reiches zu betonen, um letztlich die Seeschlacht plausibel als Eingreifen Gottes zur Bestrafung der Osmanen schildern zu können.87 Die Tughra des Sultans, in der er sich ermächtigt, zu beleidigen, als wäre er Gott auf Erden, brachte in diesem Sinne dessen Überheblichkeit, seine „türkische Arroganz“,88 zum Ausdruck, Zypern einzufordern. Ebenfalls 1572 erschien in Padua eine weitere Flugschrift, die über Kubads Audienz auf ganz ähnliche Weise berichtete. Der Verfasser Emilio M. Manolesso griff sogar einzelne Formulierungen des anonymen Druckes aus Bologna auf. Diese wertende Art der retrospektiven Schilderung von Kubads Audienz war offensichtlich willkommen, denn die HISTORIA NOVA, die Manolesso dem Dogen Alvise Mocenigo (1570–1577), dem spanischen Orator Don Diego Guzmán de Silva sowie dem päpstlichen Nuntius Giovanni Antonio Facchinetti widmete, verschaffte ihm den publizistischen Durchbruch.89 Nach dem Vortrag des osmanischen Schreibens gab das Kollegium die zuvor im Senat beschlossene Antwort bekannt, dass man die Vorwürfe und Forderungen des Sultans zurückweise.90 Auf das Regnum Cipri besitze Venedig iusto

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gender Bibliotheken nach (URL: http://edit16.iccu.sbn.it/web_iccu/ihome.htm [Zugriff am: 01.10.2011]): Biblioteca universitaria Bologna, Biblioteca comunale dell’Archiginnasio Bologna, Biblioteca civica Queriniana Brescia, Biblioteca Marucelliana Firenze, Biblioteca della Società napoletana di storia patria Napoli, Biblioteca universitaria Padova, Biblioteca d’arte del Museo civico Correr Venezia, Biblioteca nazionale Marciana Venezia. Das von mir verwendete Exemplar befindet sich in der Cambridge University Library, Acton.d.23.442. Zum Motiv des göttlichen Eingreifens in Venedig nach der Seeschlacht von Lepanto vgl. Letizia Pierozzi, La vittoria di Lepanto nell’escatologia e nella profezia, in: Rinascimento S. S. 34 (1994), S. 317–363; Benjamin Paul, Identità e alterità nella pittura veneziana al tempo della battaglia di Lepanto, in: Venezia Cinquecento 29 (2005), S. 155–187; Ruth Schilling, Die ganze Stadt und die Christenheit? Feiern und Gedenken an die Schlacht von Lepanto im frühneuzeitlichen Venedig und Rom, in: Stadt und Religion in der frühen Neuzeit. Soziale Ordnungen und ihre Repräsentationen, hg. von Vera Isaiasz u.a., Frankfurt u.a. 2007, S. 103–124; Hanß, „PER LA FELICE VITTORIA“ (wie Anm. 45), S. 99. Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20rf.: „arroga[n]za Turchesca“. Roberto Zago, Manolesso, Emilio Maria (Emiliano), in: DBI (wie Anm. 54), Bd. 69, S. 140ff. Zu Don Diego Guzmán de Silva vgl. Hanß: „The Catholic Ambassador will Sing the Mass“ (wie Anm. 2). ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 24r–25r. Das Schreiben an den Sultan wurde mit 199 Ja-Stimmen, 5 Nein-Stimmen und 16 Enthaltungen

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atq[ue] legitimo titulo.91 Ein Sekretär hielt diese Antwort schriftlich fest, und Kubad hatte, wie für venezianische Audienzen üblich, die Stellungnahme mehrfach zu wiederholen.92 Der Osmane habe den Dogenpalast mit tief gesenktem Haupt und kreidebleichem Gesicht verlassen.93 Noch immer war die Piazzetta di San Marco mit erregt flüsterten Menschen gefüllt.94 Kubad hatte Angst um sein Leben, so die Flugschriften weiter; und die Senatoren fürchteten, dass er mit Steinen beworfen oder auf andere Weise beleidigt werden könnte.95 Der

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bewilligt. Die Antwort an den Großwesir mit 202 Zustimmungen, 4 Ablehnungen und 10 Enthaltungen. OeStA, HHStA, Staatenabteilung, Venedig, Berichte, 11, Ins. 1, fol. 107r–108v, Bericht von Veit von Dornberg, aufgesetzt in Venedig am 01. April 1570, hier fol. 107v. Vgl. ASVe, Documenti turchi, 810; Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20rff.; Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 13f.; OeStA, HHStA, Staatenabteilung, Venedig, Berichte, 11, Ins. 1, fol. 107r–108v, Bericht von Veit von Dornberg, aufgesetzt in Venedig am 01. April 1570, hier fol. 107v; Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 240–249; Pedani-Fabris, I „Documenti turchi“ (wie Anm. 52), S. 202f. Die Regelmäßigkeit dieser Verfahrensweise führt auch Contarini, DELLA REPVBLICA (wie Anm. 25), III, S. 57f. an. Zur legitimatorischen Bedeutung vormoderner Verfahren vgl. grundsätzlich Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, hg. von ders./André Krischer, Berlin 2010, S. 9–31. Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 14: „con la testa molto bassa“, „diuenuto pallido in faccia“. Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20v: „e tutto turbato, pallido, e smorto in uiso“. Auch Veit von Dornberg verweist auf die Menschenmenge, die sich bereits zu Kubads Ankunft versammelt hatte. OeStA, HHStA, Staatenabteilung, Venedig, Berichte, 11, Ins. 1, fol. 107r, Bericht von Veit von Dornberg, aufgesetzt in Venedig am 01. April 1570. Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 14: „contra il quale essendosi da i circostanti molto sussurato, vedendo egli il popolo alterato, temette non poco della vita.“ Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 21r. Solche Anfeindungen kamen durchaus vor und sind beispielsweise für die Zeit unmittelbar nach dem Eintreffen der Siegesnachrichten von Lepanto belegbar. Hanß, „PER LA FELICE VITTORIA“ (wie Anm. 45), S. 100f. Gegenüber Kubad sind sie jedoch nicht zweifelsfrei nachzuweisen. Ein anderer Druck 30 Jahre nach dessen Audienz berichtet, er sei tatsächlich von der Menschenmenge beleidigt und beschimpft worden. Diese Schilderung sagt allerdings vermutlich mehr über die venezianischen Osmanenwahrnehmungen zur Zeit des sogenannten „Langen Türkenkrieges“ aus als über die Audienz von 1570. Saraceni, I FATTI D’ARME FAMOSI (wie Anm. 52), fol. 707v. Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 3, Pest 1828, S. 567 führt an, Kubad habe den Palast „durch eine Hinterthür“ verlassen müssen.

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Sekretär begleitete Kubad über die Piazzetta zu einer Galeere, die ihn zurück auf den Lido brachte.96 Von dort aus kehrte Kubad am 30. März 1570 über Ragusa nach Konstantinopel zurück.97 Am selben Tag legten am Lido auch die Galeeren Girolamo Zanes ab, welche die dalmatinische Küste entlang Richtung Zara und Zypern segeln sollten, um dort das ehemalige Königreich Zypern als Besitz der Republik Venedig militärisch gegen die osmanischen Ansprüche zu behaupten.98 Diese Ausführungen veranschaulichen sehr deutlich, dass Venedig Kubad als ambasciatore di un principe empfing:99 Dabei wandte die Serenissima formal dieselben Spielregeln an, die auch für sie als Republik auf diplomatischem Parkett unter christlichen Monarchien sowie für den Empfang anderer Gesandter im Auftrage christlicher Potentaten galten. Die Senatoren nutzten die Bühne, indem sie das Zeremoniell so änderten, dass es zwar gewahrt wurde, dass es gleichzeitig aber auch ihre Missbilligung der osmanischen Forderung zum Ausdruck brachte. Das funktionierte allerdings nur dann, wenn die Stellvertreterrolle des Entsandten von denjenigen, die ihn empfingen, akzeptiert wurde. In den Augen der venezianischen Obrigkeit galt Kubad damit als Repräsentant Sultan Selims II. im Sinne der lateineuropäischen repraesentatio majestatis. Deutlich formulierte dies auch eine im Jahr 1600 gedruckte militärhistorische Abhandlung: „im Namen seines Signor [i. e. Sultan] verlangte er [Kubad], dass

96 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 14; Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20vf.; Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 244. Es handelte sich um den Sekretär Bonrizzo sowie die Galeere Suriana. 97 ASVe, Esposizioni Principi, reg. 2, fol. 10rff. Zu den Planungen seiner Rückkehr: ASVe, Senato Deliberazioni Costantinopoli, reg. 4, fol. 23vf. Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 14 berichtet, dass Kubad auf Caorle gewartet habe. Jedoch ist ASVe, Esposizioni Principi, reg. 2, fol. 10rff. zu entnehmen, dass Kubad bereits am 30. März am Lido auf der Galeere Suriana bereit für die Abreise war. Ein an die Fugger gerichteter aviso berichtet am 30. März, dass Kubad die Stadt verlassen habe: Setton, The Papacy (wie Anm. 55), S. 954f. Der Nuntius schrieb am 1. April, dass Kubad aus Venedig abgereist sei. Stella, Nunziature di Venezia (wie Anm. 55), S. 249. Durchschnittlich dauerte der Aufenthalt osmanischer Gesandter, wenngleich abhängig von den jeweiligen Aufgaben, zwanzig bis dreißig Tage. Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 94. Zur Bedeutung Ragusas für die osmanischen Gesandten vgl. ebd., S. 50. 98 Setton, The Papacy (wie Anm. 55), S. 954f. 99 Contarini, DELLA REPVBLICA (wie Anm. 25), III, S. 57: „Ambasciadore di alcuno Prencipe“.

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sie [die Venezianer] ihm Zypern in freiwilligem Einvernehmen gaben“.100 Dass dieses Verständnis von repraesentatio majestatis den osmanischen Gesandten in Venedig fremd war, soll im folgenden Abschnitt erläutert werden.

III. Entsandte Boten ihres Herrn Die bereits erwähnte großherrliche Tughra zu Beginn des Dokumentes – in der Wahrnehmung venezianischer Flugschriftenautoren Ausdruck der Überheblichkeit des Sultans – nimmt knapp ein Viertel des gesamten Schreibens ein (Abb. 1). Während das Viertel darüber unbeschrieben ist, folgt darunter der Text. Die Tughra selbst ist mit goldener Tinte niedergeschrieben worden und führt in stark verdichteter Form den Namen und die Titulatur Selims II., diejenige seines Vaters Süleyman sowie die immer-siegreich-Formel an (el-muz.affer dāimā). Die Tughra stellt ein „Herrschaftszeichen“101 dar, das, auf vorosmanische Handzeichen zurückgehend, die Echtheit offizieller Dokumente sicherstellte und ihnen erst Rechtskraft verlieh. Mit dem Nişancı existierte ein eigenes hochrangiges Hofamt, dem die Ausstellung der jeweils Sultan-spezifischen Tughra anvertraut war. Der Inhaber besaß nicht nur die Kontrolle über die Verteilung der Timare und Waqf, sondern ihm war auch dieTeilnahme am Diwan (Divan-ı Hümayun), dem Großherrlichen Staatsrat, gestattet. Im Laufe der Zeit etablierte sich mit dem Tuğrakeş ein weiteres Amt, das die Erlaubnis zur Anfertigung der Tughra besaß.102 Der Nişancı ʿAbd al-Rahman beschrieb 1087 H./1676–1677 die administrativen Abläufe, die mit der kalligraphischen Anfertigung der Tughra einhergingen: Zunächst erhielt der Nişancı den Firman, einen großherrlichen Erlass, und notierte auf dessen Rückseite, dass man ihm die Register aus dem Archiv bringen solle, anhand derer es das Schriftstück zu überprüfen galt. Über zwei weitere Ämter bekam der Nişancı schließlich die entsprechenden Register überreicht, in denen er den jeweiligen Eintrag heraussuchte und ihn mit dem Schriftstück verglich. Erst anschließend sei die Tughra aufgetragen worden. 100 Saraceni, I FATTI D’ARME FAMOSI (wie Anm. 52), fol. 707v: „in nome del Signor suo chiedette, che li dessero Cipro co[n] volo[n]tario accordo“. 101 Hans-Caspar von Bothmer, Tughra, in: Türkische Kunst und Kultur aus osmanischer Zeit, hg. vom Museum für Kunsthandwerk Frankfurt, Bd. 2, Recklinghausen 1985, S. 44. 102 Ebd. führt an, dass auch Oberbefehlshaber das Privileg besaßen, die Tughra auftragen zu dürfen.

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Zugleich erhielt der Nişancı vom Kadıasker, dem obersten Richter, eine versiegelte Tasche, worin sich der Berat befand, ein Dekret zur Niederschrift erteilter Privilegien. Dann notierte der Nişancı die Namen der Begünstigten sowie einen Prüfungsvermerk. Nachdem die Tasche erneut versiegelt worden war, sandte er diese an einen Kanzlisten.103 ʿAbd al-Rahmans Notizen verdeutlichen, welch ausführlicher administrativer Apparat zur Niederschrift der Tughra in Bewegung gesetzt wurde. Als „Herrschaftszeichen“104 waren sie auf Dokumenten (in goldener und roter Tinte, ab dem 18. Jahrhundert auch als Druck), Münzen, Edelmetallen oder Bauten anzutreffen. In der Forschung wurde angeführt, „daß [vermutlich] die Qualität der Ausstattung etwas mit der Bedeutung des im beglaubigten Dokument niedergelegten Rechtsaktes, und zudem mit dem Rang desjenigen zu tun hat, der durch diesen Rechtsakt begünstigt wird bzw. in dessen Interesse eine Zweitschrift ausgestellt wurde“.105 Insofern ist zu schlussfolgern, dass die Tughra auf dem von Kubad überreichten Sultansschreiben zunächst einmal die Echtheit des dargebotenen Schriftstückes garantierte. Darüber hinaus dürfte es sich jedoch auch um ein Zeichen handeln, das die osmanische Herrschaft, die sich im Aufsetzen des Textes und dessen Inhalt ausdrückte, durchaus in Relation zu dem Empfänger des Schreibens darstellte. Die augenscheinlich kunstvoll ausgeführten Linien und die gekonnt stilisierte Führung der für die Sultans-Tughra charakteristischen, lang gezogenen elif-Buchstaben (‫ )ا‬sowie der beiden besonders ausschweifenden nūn-Linien (‫ )ن‬linkerhand, die Bestandteil der Worte „Sohn Süleymans“ sind, dürften keineswegs zufällig sein.106 103 Clifford E. Bosworth u.a., Tughra, in: EI² (wie Anm. 32), Bd. 10, S. 599f. 104 Von Bothmer, Tughra (wie Anm. 101), S. 44. 105 Ebd. 106 Für die obenstehenden Ausführungen zur Tughra vgl. Franz Babinger, Die grossherrliche Tughra. Ein Beitrag zur Geschichte des osmanischen Urkundenwesens, Leipzig 1925; Lajos Fekete, Einführung in die osmanisch-türkische Diplomatik der türkischen Botmässigkeit in Ungarn, Budapest 1926, S.  xliv; Paul Wittek, Notes sur la tughra ottomane, in: Byzantion 18 (1948), S. 311–334, 20 (1950), S. 267–293; Samuel M. Stern, Fāṭimid Decrees. Original Documents from the Fāṭimid Chancery, London 1964, S. 123–165; Alessio Bombaci, Les toughras enluminés de la collection de documents turcs des archives d’état de Venise, in: Atti del secondo congresso internazionale di arte turca. Venezia, 26–29 settembre 1963, hg. vom Istituto universitario orientale, Neapel 1965, S. 41–55; Bosworth u.a., Tughra (wie Anm. 103); Ernst Kühnel, Islamische Schriftkunst, Graz 1972; Von Bothmer, Tughra (wie Anm. 101); Osmanlı padişah fermanları. Imperial Ottoman fermans, hg. von Ayşegül Nadir, London 1986; Maria P. Pedani-Fabris, Ottoman Fetihnames. The Imperial Letters Announcing a Victory, in: Tarih İn-

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Mit solcher Machtfülle versehen, lehnten mitunter auch hohe Amtsträger ihre Handzeichen stilistisch an die Gestaltung der Sultans-Tughra an.107 Kubad trug ein zweites osmanisches Schreiben mit sich, das ein solcher Würdenträger verfasst hatte. Das Kollegium erhielt die Ausführungen des Großwesirs Sokollu Mehmed Pascha (1565–1579), der ebenso wie der Sultan betonte, dass seit einiger Zeit in Konstantinopel Nachrichten von venezianischen Grenzverletzungen eingetroffen seien. Die Vorbereitungen für einen Krieg, so der Großwesir weiter, wären zu Land und zu Wasser getroffen.108 Im Gegensatz zur großherrlichen Tughra, die in ihrer Breite beinahe das gesamte Schreiben des Sultans bedeckt und auch in der Länge einen großen Teil des Dokumentes einnimmt, befindet sich auf dem Schreiben des Großwesirs lediglich ein kleiner, äußerst filigraner Stempel zu Beginn der letzten Zeile (Abb. 2). Er besitzt die Form eines Kreises, dessen äußerer Rand durch wiederkehrend angeordnete Halbkreise abgeschlossen wird, deren innere Muster sich in negativer Spiegelung abwechseln. Das Stempelinnere zieren winzige Buchstaben und weitere Muster sowie ein ovales Textfeld im Zentrum. In seiner Höhe nimmt das Stempelsiegel kaum mehr als eine Schriftzeile ein; dabei bestätigt es Sokollu Mehmed Pascha als Aussteller des Textes unter Anführung der Hidschra-Jahresangabe seines Amtsantritts.109

Abb. 1  Tughra Sultan Selims II. in goldener Tinte, ASVe, Doc. turc. 808, fol. 1r. Atto di concessione n. 15/2013. Abb. 2  Das Stempelsiegel des Großwesirs Sokollu Mehmed Pascha, ASVe, Doc. turc. 810, fol. 1r. Atto di concessione n. 15/2013.

celemeleri Dergisi 13 (1998), S. 181–192; M. Uğur Derman, Siegel des Sultans. Osmanische Kalligrafie aus dem Sakıp Sabancı Museum, Berlin 2001. 107 Bosworth u.a., Tughra (wie Anm. 103), S. 599f.; Matuz, Eine ungewöhnliche osmanische Großwesirs-Titulatur (wie Anm. 84). 108 ASVe, Documenti turchi, 810; Pedani-Fabris, I „Documenti turchi“ (wie Anm. 52), S. 202f., hier S. 203: „Ingenti preparativi di guerra per terra e per mare sono stati ordinati“. 109 ASVe, Documenti turchi, 808, 810. Ich danke İ. Metin Kunt (Istanbul) für seine hilfreichen Kommentare zum Stempelsiegel des Großwesirs.

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In diesen durch Tughra und Stempelsiegel authentifizierten Schreiben nahmen die Verfasser ausdrücklich auf die Schriftübermittlung Bezug. Sie bezeichneten Kubad dabei als Tschausch (čavuš), mittels dessen Selim II. die Nachricht überbringe. Der Sultan informierte zudem die Signoria, dass er erwarte, eine Antwort durch denselben Tschausch zu erhalten.110 Dieser Terminus bezeichnet keineswegs einen Botschafter (ēlči), sondern einen Boten, der im Osmanischen Reich im Dienste verschiedener Provinzadministrationen oder auch der Janitscharen stehen konnte. Besonders angesehen waren solche Boten, wenn sie in den äußeren Palast-Diensten (bīrūn) des Sultans standen.111 Sie waren es, die während des 16. und 17. Jahrhunderts vornehmlich nach Venedig entsandt wurden.112 Angesichts der kalligraphisch vergegenwärtigten Macht des Sultans und des Großwesirs sowie der sozialen Stellung eines Tschausch verwundert es kaum, dass Kubad während seiner Audienz im März 1570 den Sultansbrief aus seinem Turban gezogen und anschließend geküsst haben soll.113 Insofern es die Schreiben waren, die Herrschaft kalligraphisch vergegenwärtigten, und nicht der Entsandte selbst, der im osmanischen Verständnis als Bote – und eben gerade nicht 110 ASVe, Documenti turchi, 808, 810; Pedani-Fabris, I „Documenti turchi“ (wie Anm. 52), S. 202f. 111 Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 36–40, 220; Robert Mantran, Čāʾūs̲h̲, in: EI² (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 16f.; Molly Greene, Catholic Pirates and Greek Merchants. A Maritime History of the Mediterranean, Princeton u.a. 2010, S. 41; Maria P. Pedani, Venice, in: Ágoston/Masters, Encyclopedia of the Ottoman Empire (wie Anm. 32), S. 581f., hier S. 581. 112 Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 205–209 von insgesamt 113 nachweisbaren osmanischen Gesandtschaften wurden folgende von einem čavuš unternommen: 1500 (Alessio); 1512 (Symix); 1515 (Süleyman); 1516 (Mustafa); 1519 (Mustafa bey); 1521 (Halil); 1522 (Sinan); 1524 (Hasan); 1525 (Heinechan); 1530 (Hüseyin); 1536 (Mehmed); 1541 (Murad); 1542 (İbrahim); 1543 (Şecca); 1543 (Murad); 1544 (Mehmed); 1546 (Fehrad); 1546 (Cafer çelebi); 1547 (Mehmed); 1549 (Ferhad); 1550 (Hüseyin); 1550 (Ömer); 1551 (Hüseyin); 1552 (Sinan); 1558 (Hasan); 1563 (Şecca); 1566 (Mehmed bin İskender); 1567 (Kubad); 1570 (Kubad); 1575 (Mustafa); 1576 (Hasan); 1580 (Hasan); 1583 (Hacı Hasan); 1592 (Molcaz); 1593 (Mustafa); 1594 (Cafer); 1595 (Derviş ağa); 1598 (?); 1600 (Davud); 1602 (Halil); 1605 (Osman); 1613/1614 (Derviş); 1614 (Hüseyin); 1618 (Mustafa); 1618 (Mehmed); 1622 (Mustafa); 1624 (Mustafa ağa); 1656 (Mustafa); 1658 (?). Vgl. Pedani, Venice (wie Anm. 111), S. 581. 113 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12f.: „Dapoi trasse dal tolipano la lettera del Signor, c’haueua in capo, & quella basciata, […]“. Vgl. auch Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20r: „E cosi detto diede la lettera di credenza, e se trasse dal Tulipano la littera del Signore è quella con riuerenza basciata appresentò“. Zur kalligraphischen Vergegenwärtigung von Herrschaft vgl. Aydemir/Özcan, Repräsentation (wie Anm. 11), S. 56ff.

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als Repräsentant – die Nachricht zu überbringen hatte, bedurften diese Schreiben selbst zeremonieller Formen der Wertschätzung. Dass von venezianischer und osmanischer Seite unterschiedliche Vorstellungen darüber existierten, wie der Rang der von Konstantinopel Entsandten einzuordnen war, belegen auch die überlieferten Quellen zur Gesandtschaft Hasans und Mustafas, der ersten sich in Venedig aufhaltenden Entsandten, nachdem Kubad die Zypern-Forderung überreicht hatte. Die politische Situation hatte sich zu diesem Zeitpunkt grundlegend geändert: Entgegen den überschwänglichen Tönen, welche die Flugschriftenautoren nach der Seeschlacht von Lepanto anstimmten, konnte die ‚Heilige Liga‘ keine vergleichbaren Erfolge mehr vorweisen.114 So schloss die Signoria 1573 einen Separatfrieden mit dem Osmanischen Reich, der Venedig zwar die vormaligen Grenzen zusicherte, aber einen Tribut von 300.000 Dukaten von der Lagunenstadt einforderte, dessen Zahlung im Frühjahr 1574 stattfand.115 Die Anwesenheit der beiden Osmanen wurde jedoch überschattet von verbalen und beinahe handgreiflichen Auseinandersetzungen.116 Als Hasan um die Mittagszeit auf dem Balkon der Unterkunft stand, beschimpften ihn vorübergehende Venezianer als Ziegenbock, Gehörnten, Juden und Hund.117 Wäre ihm dies andernorts widerfahren, so gab Hasan später zu Protokoll, hätte er diese Menschen dafür getötet. Doch hier höre er das ständig, sodass er kaum noch auf die Straße oder auf den Balkon gehe und sich deshalb fühle, als sei er in einem Gefängnis.118 Auch Mustafa wurde am Abend vor der Herberge von einer Gruppe venezianischer Soldaten mit osmanischen Beleidigungen als bre (brè), Hund, und mit „anderen Frechheiten“ beschimpft.119 Als die Kontrahenten schließlich die Dolche zücken wollten, griff der Wirtshausbesitzer in die Auseinandersetzung ein und konnte Schlimmeres verhindern.120 114 Hess, The Battle of Lepanto (wie Anm. 86); Braudel, Bilan d’une bataille (wie Anm. 86). 115 ASVe, Documenti turchi, 818, 820; Pedani-Fabris, I „Documenti turchi“ (wie Anm. 52), S. 207f.; Mahmut Şakiroğlu, II. Selim’in Venedik Cumhuriyeti’ne Verdiği 1567 ve 1573 Tarihli Ahidnâmeler, in: Erdem 2 (1986), S. 527–553, hier S. 547ff. Eine Kopie befindet sich im Başbakanlık Arşivi Istanbul, Mühimme defteri, 21, fol. 165rff., n. 404. 116 Hanß, „PER LA FELICE VITTORIA“ (wie Anm. 45), S. 103ff.; Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43), S. 62f. 117 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Protokoll, fol. 1v. 118 Ebd. 119 Ebd., fol. 2r: „ch[e] li haueano ditto uillania in Turchesco, brè can, et altre uillanie“. 120 Ebd., fol. 2rf.

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Abb. 3  Haddsch Hasans und Mustafas Unterzeichnung der Beschwerde, ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Beschwerde, fol. 1r. Atto di concessione n. 15/2013. Abb. 4  Der Stempel Haddsch Hasans unter dem Beschwerdeschreiben, ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Beschwerde, fol. 1r. Atto di concessione n. 15/2013.

Wegen dieser Vorkommnisse setzten Hasan und Mustafa am 19. März 1574 ein Beschwerdeschreiben auf, in dem sie die Signoria über „die außerordentlich großen Injurien und Beleidigungen“ informierten, „die Ihre Untertanen uns jeden Tag hier in der Unterkunft antun“.121 Die Osmanen unterzeichneten als „Haddsch Hasan und Mustafa, Diener des sehr verehrten Herrn Großwesirs der erhabenen, kaiserlichen Majestät“ (Abb. 3).122 Darunter setzte Hasan seinen Stempel, in dessen Mitte eine rechte Faust dargestellt ist, aus deren Griff sich Schlangen winden (Abb. 4). Die Köpfe der Reptilien führen zu den arabischen Schriftzeichen, die auf der einen Seite Haddsch Hasan als Besitzer anführen. Auf der anderen Seite verweisen sie auf den lichtspendenden Allah.123 Jüngst betonten Jeremy Johns und Nadia Jamil für arabische Unterzeichnungen im normannischen Sizilien, wie wesentlich derartige Namensnennungen und Mottos waren, um die eigene Gesinnung auszudrücken und denjenigen mitzuteilen, die in der Lage waren, die stark verdichteten Schriftzüge zu entziffern.124 121 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Beschwerde, fol. 1r: „l’grandissime ingiurie, Et vltragij che lj v[ost]ri subditj ne fanno, ogni giorno qui nel allogiame[n]to“. 122 Ebd.: „Haj Hassan Et mostafa s[er]ui del Ill.mo S:or Maximo vezir dela sublime imperial M:ta“. 123 Ich danke Maria P. Pedani (Venedig), Suraiya Faroqhi (Istanbul) sowie Hans Georg Majer (München) für ihre hilfreichen Hinweise. Für einen vergleichbaren Stempel siehe Hedda Reindl-Kiel: Luxury, Power Strategies, and the Question of Corruption. Gifting in the Ottoman Elite (16th–18th Centuries), in: Şehrâyîn. Die Welt der Osmanen, die Osmanen in der Welt. Wahrnehmungen, Begegnungen, Abgrenzungen. Festschrift Hans Georg Majer, hg. von Yavuz Köse unter Mitarbeit von Tobias Völker, Wiesbaden 2012, S. 107–120, hier S. 120. 124 Jeremy Johns/Nadia Jamil, Signs of the Times. Arabic Signatures as a Measure of Acculturation in Norman Sicily, in: Muqarnas 21 (2004), S. 181–192. Grundlegend ist auch Stern, Fāṭimid Decrees (wie Anm. 106), S. 123–165.

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Da die Lichtmetaphorik eine prominente Bedeutung im Sufismus besitzt,125 könnte Hasans Stempel sowohl dessen besondere Wertschätzung gegenüber mystischen Strömungen des Islam symbolisieren als auch einen weiteren Aspekt seiner Verbundenheit gegenüber dem Großwesir Sokollu Mehmed Pascha zum Ausdruck bringen, als dessen „Diener“126 sich die Gesandten selbst bezeichneten. Denn dieser hatte sich zur selben Zeit einen Namen als Förderer des Sufismus gemacht: Zwischen 1570 und 1574 ließ er durch den Architekten Sinan südlich des Hippodroms den Gebäudekomplex Kadırga Limanı errichten, der aus einer Moschee, Medrese und einem Derwischkonvent bestand.127 Im Anschluss an die Beschwerde kam es zu einem Gerichtsverfahren, in dem die Avogaria di comun Hasan, Mustafa, den Wirtshausbesitzer sowie zwei Gäste zu den Auseinandersetzungen befragte. Während dieser Verhöre machte Giovanni Boneti, der Eigentümer der Herberge, eine aufschlussreiche Aussage: Er habe den venezianischen Soldaten, die Mustafa beleidigt hatten, zugerufen, dass die Signoria die Osmanen hier in die Herberge geschickt habe und dass sie „Botschafter des Turco [i. e. Sultan] sind“.128 Während sich Hasan und Mustafa also als Diener des Großwesirs verstanden, wurden sie von Venezianern als Botschafter des Sultans wahrgenommen. Im Gegensatz zu den Osmanen, welche die Anfeindungen als persönliche Ehrverletzungen sowie als solche gegenüber ihrem Patron Sokollu Mehmed Pascha ansahen, der sie in die Lagungenstadt geschickt hatte,129 sahen die Venezianer in Hasan und Mustafa in erster Linie die Vertreter Sultan Selims II. Eine solche – Hasans und Mustafas Selbsteinschätzung nicht entsprechende – venezianische Beurteilung wird auch in dem am 20. März 1574 aufgesetzten Urteil ersichtlich. Nachdem die Soldaten nicht 125 ʿAbd al-Razzāq al-Qāshāni/David Pendlebury, A Glossary of Sufi Technical Terms, London 1991, S. 58, 62, 84; John Renard, Historical Dictionary of Sufism, Lanham u.a. 2005, S. 143f. 126 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Beschwerde, fol. 1r: „s[er]ui“. 127 Gilles Veinstein, Soḳollu Meh.med Pasha, in: EI² (wie Anm. 32), Bd. 9, S. 706– 711; Zeynep Yürekli, A Building Between the Public and Private Realms of the Ottoman Elite. The Sufi Convent of Sokollu Mehmed Pasha in Istanbul, in: Muqarnas 20 (2003), S. 159–185. 128 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Protokoll, fol. 2r: „sono ambassadori del Turco“. 129 Vor der Avogaria di comun meinte Hasan, dass „q[ue]ste ingiurie, no[n] sono fatte à noi, ma al n[ost]ro patrone“, ebd., fol. 1v. In ihrer Beschwerde führten Hasan und Mustafa ebenfalls an, dass „q[u]esto no[n] sollame[n]te si tratta lhonor n[ost]ro ma ancho a chi ne a mandato in questo seruicio“, ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Beschwerde, fol. 1r.

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hatten aufgespürt werden können,130 verkündete die Avogaria, dass zukünftig diejenigen, welche „die Untertanen und Repräsentanten des sehr verehrten Herrn Turco [i. e. Sultan]“131 beleidigen oder angreifen würden, mit einer fünfjährigen Galeerenstrafe zu rechnen hätten. Ein nach Venedig geschickter Osmane war zumeist ein Bote (čavuš), der ein Anliegen seines Herrschers übermittelte. Offensichtlich charakterisierten sich Osmanen dabei religiös – im vorgestellten Beispiel als Pilgerfahrer und womögliche Sufi-Sympathisanten – und sozial als s[er]ui ihres patrone, im Falle der Gesandtschaft Haddsch Hasans und Mustafas als Diener des Großwesirs Sokollu Mehmed Pascha. Hingegen klassifizierten venezianische Adlige und Bürger diese als ambassadori und representanti des Sultans.132 Trotz dieser unterschiedlichen Konzeption des Ranges der entsandten und empfangenen Osmanen und der ihnen zugrundeliegenden verschiedenen Charakteristika einer personalen und kalligraphischen Herrschaftsdarstellung forderten Hasan und Mustafa indirekt ein königliches Traktament für ihren Sultan ein, indem sie diesen als sublime imperial M:ta titulierten.133 Ob es sich dabei um ein bewusstes Aufgreifen lateineuropäischer Repräsentationsdiskurse handelte, muss hier aufgrund fehlender Quellen dahingestellt bleiben.

IV. In nome di v[ost]ra Ser:tà: Venedig vor dem Sultan Zeremonielle Empfänge stellten eine der ersten Herausforderungen für einen Bailo dar, sobald er in Konstantinopel eingetroffen war. Bereits wenige Tage, nachdem der neu erwählte Bailo Marcantonio Barbaro im Oktober 1568 den Bosporus erreicht hatte, setzte er ein Schreiben nach Venedig auf, um seine Antrittsaudienzen zu schildern.134 Von Sokollu Mehmed Pascha sei er gemeinsam mit seinem Amtsvorgänger Jacopo Soranzo in Ehre und Höf130 Vgl. Hanß, „PER LA FELICE VITTORIA“ (wie Anm. 45), S. 104. 131 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Urteil, fol. 1r: „li sudditi, et representanti il Ser.mo S.or Turco“. 132 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Urteil, fol. 1r: „representanti il Ser.mo S.or Turco“. ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Protokoll, fol. 2r: „ambassadori del Turco“. 133 ASVe, Avogaria di Comun, Miscellanea civil, b. 279, fasc. 7, Beschwerde, fol. 1r. 134 Im Folgenden siehe Biblioteca Nazionale Marciana, Venedig [BNM], MS It. VII, 390 (8872), fol. 2r–3v, Schreiben aufgesetzt von Marcantonio Barbaro in Konstantinopel/Pera am 10. Oktober 1568, geschickt nach Venedig. Angereist war er am 4. Oktober 1568.

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lichkeit empfangen worden; er habe diesem sogleich die neun Seidenstoffe als Geschenk überreicht, für die sich der Großwesir bei der Republik Venedig bedankt habe.135 Nachdem Barbaro in nome di v[ost]ra Ser:tà die Wertschätzung gegenüber dem Sultan und Wesir kundgetan hatte, bedankte sich Sokollu Mehmed Pascha erneut. Barbaro erläuterte nun, von welch immenser Wichtigkeit der „Erhalt dieser wahren Freundschaft und des guten Friedens“ 136 für ihn sei, worauf der Großwesir entgegnete, dass die Einhaltung des Friedensabkommens ganz in den Händen Venedigs liege. Anschließend unternahm Barbaro die visite bei anderen osmanischen Würdenträgern, denen er ebenso Geschenke darbot, für die er entsprechenden Dank erhielt.137 In den kommenden Tagen sollte schließlich der Empfang bei Sultan Selim II. stattfinden. Für eine solche Sultansaudienz durchliefen Baili ein umfangreiches Eintrittszeremoniell.138 Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert befand sich die Residenz der Baili in Pera,139 von wo aus sie das Goldene Horn überquerten und feierlich den Topkapı Sarayı durch das Bab-ı Hümayun, das Großherrliche Tor, betraten. Ein vermutlich der Unterweisung dienendes Miniaturenalbum aus dem 17. Jahrhundert stellt einen solchen Einzug bildlich dar: Angeführt wird dieser von drei Janitscharen (von denen die Baili in ihrer Residenz insgesamt mindestens vier zugeteilt bekamen); es folgen venezianische Adlige, der Sekretär, Pfortendolmetscher (dragomanni), andere, in orientalischen Sprachen ausgebildete, junge Venezianer (giovani della lingua) sowie Kaufleute. Baili und Botschafter sind zu Ross gezeichnet worden (Abb. 5).140 135 Ebd., fol. 2r: „et similmente dal Cl:mo Bailo mio precessore son stato riceuuto con quel piu di honore, et di cortesia, che si poteua aspettar in queste parti, frutti soliti della sua generosità, et infinita amoreuolezza“. 136 Ebd., fol. 2v: „conseruatione di questa uera amicitia, et buona pace“. 137 Zu Audienzen bei osmanischen Würdenträgern siehe auch Le relazioni degli ambasciatori veneti al Senato, III, Bd. 3, hg. von Eugenio Albèri, Florenz 1855, S. 251–322, relazione des Gianfrancesco Morosini, Bailo, 1585, hier S. 288f. 138 Zum osmanischen Zeremoniell einführend vgl. Albert H. Lybyer, The Government of the Ottoman Empire in the Time of Suleiman the Magnificent, Cambridge, Mass. u.a. 1913, S. 133–141; Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11). 139 Alt-Stambuler Hof- und Volksleben. Ein türkisches Miniaturenalbum aus dem 17. Jahrhundert, hg. von Franz Taeschner, Bd. 1, Hannover 1925, Nr. 48; Bertelè, Il palazzo (wie Anm. 34); Dursteler, Venetians in Constantinople (wie Anm. 34), S. 25ff. 140 Auch Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 193–270, anonyme relazione, 1553, hier S. 234 führt an, dass „andammo accompagnati da tutta la nazione il giorno che si dà l’udienza pubblica“. Siehe ebenso ebd., S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 377.

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Im ersten Innenhof des Palastes warteten die Baili in der Nähe des Çinili Köşk auf den Großwesir, der sie in den zweiten Innenhof begleitete.141 Dabei

Das sogenannte Taeschner Album umfasst 55 Miniaturen und befand sich ursprünglich im Privatbesitz des Orientalisten Franz Taeschner (1888–1967), der es 1937 an das Berliner Staatsmuseum verlieh. Seit dem Zweiten Weltkrieg gilt es als verschollen. Glücklicherweise publizierte Taeschner 1925 die Miniaturzeichnungen, ohne jedoch die italienischen Bildunterschriften abzudrucken. Ein geplanter zweiter Band mit italienischen Texten und kritischen Erläuterungen erschien nie. Zudem sind leider nur vier bildliche Darstellungen in Farbe. Taeschner selbst datierte das Album auf den Beginn der Herrschaft Sultan Mehmeds IV. (1648–1687). Die Miniaturen umfassen ein breites Spektrum dargestellter Themen: Karawansereien, Märkte und Straßenbrunnen sind ebenso gezeichnet worden wie Moscheen, der Gebetsruf des Muezzins, Prediger und das Gebet der Gläubigen. Unter den abgebildeten Gebäuden befinden sich ein Palast, eine Schule, die casa del bailo und ein Hamam. Porträts der Sultane Ahmed I. (1603–1617) und Osman II. (1618–1622) sowie des Padischahs (im Audienzzimmer und auf seiner Barke) sind ebenso unter den Miniaturen wie Zeichnungen von Damen, Derwischen und Bettlern sowie einigen Berufsständen und deren Ritualen (Zunfteintritt eines Lehrlings). Auch sonst beinhaltet das Album verschiedene Darstellungen von Zeremonien, Ritualen, Amüsements und Festivitäten wie Beschneidungen, Bestattungen, Ring-, Speerwurfund Bogenschießaktivitäten, Festumzüge, Gauklerszenerien, schaukelnde Osmanen sowie Männer und Frauen, die auf einem „Luftrad“ fahren. Aber auch Schlachtenszenen mit Venezianern sind Teil des Albums. Zur Verwendung des Albums sowie zum Zusammenhang mit dem Museo Civico Correr Venezia, Cod. Cicogna 1971 vgl. Rothman, Between Venice and Istanbul (wie Anm. 45), S. 313–342, 473. Alt-Stambuler Hof- und Volksleben (wie Anm. 139). Vgl. auch Baki Tezcan, The Second Ottoman Empire. Political and Social Transformation in the Early Modern World, Cambridge u.a. 2010, S. 24f.; Jan Schmidt, Franz Taeschner’s Collection of Turkish Manuscripts in the Leiden University Library, in: ders., The Joys of Philology. Studies in Ottoman Literature, History and Orientalism. 1500–1923, Istanbul 2002, S. 237–266. Zu den Janitscharen der Baili sowie deren famiglia vgl. Dursteler, Venetians in Constantinople (wie Anm. 34), S. 25–40; Lucchetta, La scuola (wie Anm. 36). 141 Maria P. Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo. Ceremonial Diplomatic Protocol in Istanbul, in: Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 2), S. 287–299, hier S. 290; dies., Il cerimoniale di corte ottomano. Il ricevimento degli ambasciatori stranieri (secoli XVI–XVIII), in: Venezia e Istanbul (wie Anm. 84), S. 23–29. Vgl. zum ersten Innenhof Gülru Necipoğlu, Architecture, Ceremonial, and Power. The Topkapi Palace in the Fifteenth and Sixteenth Centuries, Cambridge, Mass. u.a. 1991, S. 31–52. Der Bailo Ottaviano Bon berichtet von geschäftigem Treiben auf diesem weiträumigen Platz mit Unterstellmöglichkeiten bei Regenwetter, einem von Eunuchen und Dienern geleiteten Krankenlager, Abstellplätzen für Holz und Wagen sowie einer großen Halle, in der osmanische Waffen hingen, die für den „feierlichen Einzug in die Stadt Konstantinopel” genutzt wurden. Ot-

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Abb. 5  Unbekannter Künstler, Geleit des Bailo zur Audienz (vermutlich Amtsvorgänger und -nachfolger beziehungsweise Bailo und ambasciatore straordinario), Alt-Stambuler Hof- und Volksleben. Ein türkisches Miniaturenalbum aus dem 17. Jahrhundert, hg. von Franz Taeschner, Bd. 1, Hannover 1925, Nr. 53.

wurden sie Zeuge der häufig im Zusammenhang mit Gesandtschaftsempfängen stattfindenden Soldauszahlungen, während derer hunderte, in Reihen nach ihrem Rang geordnete Soldaten ihr Essen erhielten. Venezianische Gesandte beschrieben dies als ein beeindruckendes Erlebnis, das die osmanische Stärke, den Gehorsam sowie die Großzügigkeit des Sultans zur Schau stelle.142 Schließlich wurde der Bailo auf Befehl des Großwesirs von einem Çavuşbaşı, Vorsteher der Tschauschen, und von weiteren ihm unterstehenden berittenen

taviano Bon, A DESCRIPTION OF THE GRAND SIGNOR’S SERAGLIO, OR Turkish Emperours Court, London 1650, S. 8f., Zitat ebd., S. 9: „solemn entry into the City of Constantinople“. 142 Ebd., S. 31: „making indeed a very goodly shew, for they are very well clothed, and are most of them of comely personage“. Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 347–368, relazione des Andrea Badoaro, ambasciatore, 1573, hier S. 356: „[…] vedemmo un corpo di giannizzeri in numero di quattro mila, con sì bell’ordine posti, e sì ben vestiti alla corte, e comandati, che in verità dariano da pensare a gran forze.“ Ebd., S. 437–468, anonyme relazione, 1579, hier S. 465: „[…] file di giannizzeri, i quali tenendo le maniche lunghe, la cintura in croce, senza parlare e senza batter ciglio, danno riverente indizio della grandezza del Gran-Signore. Sotto la loggia, in testa loro, alla destra della porta ove si entra, sta il loro agà, egli solo come capo sedendo; ilquale quando cammina, o quando sotto preteso di faccende i giannizzeri gli passano d’accanto se gli inchinano“. Ebd., S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 377f. Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 105; Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo (wie Anm. 141), S. 290; Necipoğlu, Architecture (wie Anm. 141), S. 53–90.

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Boten in den Kuppelbau (Kubbealtı) geführt (Abb. 6).143 Baili beschrieben diesen Raum als besonders prachtvoll: Auf dem leicht erhoben platzierten Sofa lagen prächtige, golddurchwirkte Teppiche und mit Perlen bestickte purpurfarbene Stoffe. Auch die floralen Muster der weißen Wände hinterließen einen prachtvollen Eindruck.144 Hier tagte mehrmals wöchentlich – samstags, sonntags, montags und dienstags – der Großherrliche Diwan-Staatsrat (Divan-ı Hümayun), der unter dem Vorsitz des Großwesirs die Timar-Vergabe vollzog, Befugnisse und Verordnungen aussprach sowie Streitschlichtungen durchführte. Außer dem Großwesir waren zwei oder drei weitere Wesire (der Kuppel), die beiden Kadıasker, die Defterdar von Rumeli und Anadolu, der Nişancı, der Beylerbeyi von Rumeli und mitunter auch der Kapudan-i derya, Reis ül-küttab und Großmufti (Şeyh ül-islam) anwesend. Außerdem befanden sich Diwansekretäre (Kâtib), Vorsteher der Hoffouriere (Müteferrika), Tschauschen, Schreiber und Pfortenwächter vor Ort.145 Hier wurde zunächst die zeremonielle Speisung vollzogen; mitunter scheint während dieser Audienzen auch eine Parfümierung des Bailo stattgefunden zu haben: In einer zeitgenössischen Miniatur kniet der Bailo nach vorn gebeugt, während zwei Bediens-

143 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 22ff., 31; Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 104–121; Mehrdad Kia, Daily Life in the Ottoman Empire, Santa Barbara u.a. 2011, S. 223–250. 144 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 4f.: „and hath within it a Sofa [A place raised from the floor about a foot to sit upon.] spread with very sumptuous Carpets of gold, and of Crimson velvet embrodered with costlie pearles; upon which the Grand-Signor sitteth: and about the Chamber in stead of Hangings, the walls are covered with very fine white stones, which having divers sorts of leaves & flowers artificially wrought and bak’t upon them, do make a glorious shew. There is also a little room adjoyning unto it, the whole inside whereof is covered with silver plate hatch’d with gold, and the floor is spread with very rich Persian carpets of silk and gold“. 145 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 18; Albèri, Relazioni, III, Bd.  1 (wie Anm. 42), S. 111–192, relazione des Domenico Trevisano, Bailo, 1554, hier S.  117ff.; ebd., S. 347–368, relazione des Andrea Badoaro, ambasciatore, 1573, hier S. 356; ebd., S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 430f.; ʿAbd al-ʿAzīz ad-Dūrī u.a., Dīwān, in: EI² (wie Anm. 32), Bd. 2, S. 323–337; Bernard Lewis, Dīwān-ı humāyūn, in: ebd., S. 337ff.; Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte, Darmstadt 1985, S. 31, 35, 39, 88–95, 121, 333–336, 338; Klaus Kreiser, Der osmanische Staat. 1300–1922, München 2008, S. 54; Necipoğlu, Architecture (wie Anm. 141), S. 82; Petritsch, Zeremoniell (wie Anm. 11), S. 311f.

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tete in Duftstoffe getränkte Tücher um seinen Kopf wickeln (Abb. 7).146 Der Sultan selbst war – vermutlich seit Mehmed II. – nicht im Raum zugegen, sondern konnte das Geschehen durch ein Fenster mit kleinem Gitterraster vom Nachbarraum aus beobachten, was jedoch bereits im 16. Jahrhundert nur noch selten vorkam.147

Abb. 6  Unbekannter Künstler, Audienz des Bailo beim Großwesir, Alt-Stambuler Hof- und Volksleben. Ein türkisches Miniaturenalbum aus dem 17. Jahrhundert, hg. von Franz Taeschner, Bd. 1, Hannover 1925, Nr. 51.

146 Alt-Stambuler Hof- und Volksleben (wie Anm. 139), Nr. 52. Während insbesondere über den diplomatischen Gabentausch viel publiziert wurde, sind Untersuchungen zu Sinneswahrnehmungen während des Audienzzeremoniells sowie deren Beschreibungen und Darstellungen weiterhin ein Forschungsdesiderat. 147 Lewis, Dīwān-ı humāyūn (wie Anm. 145), S. 337f.; Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 47–52; Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 111–192, relazione des Domenico Trevisano, Bailo, 1554, hier S. 119; ebd., S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 431.

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Abb. 7  Unbekannter Künstler, Der Bailo wird während der Audienz beim Großwesir parfümiert, Alt-Stambuler Hof- und Volksleben. Ein türkisches Miniaturenalbum aus dem 17. Jahrhundert, hg. von Franz Taeschner, Bd. 1, Hannover 1925, Nr. 52.

Die Möglichkeit einer Sultansaudienz war begrenzt: Der Bailo Ottaviano Bon schrieb Anfang des 17. Jahrhunderts, er habe sie nur an einem Sonntag oder Dienstag wahrnehmen können.148 Zunächst wurde der Bailo eingekleidet: In der Schatzkammer erhielt er einen Kaftan, der wohl nicht nur entsprechend dem ihm entgegengebrachten Ansehen ausgewählt worden war, sondern auch, um symbolische Abhängigkeiten, nämlich das „Patronat des Padischah“, auszudrücken.149 Erst im Anschluss an die Einkleidung wurde der Bailo zum Tor der Glückseligkeit (Bâbüssaâde Kapısı) geführt, dem Eingang in den drit148 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 30. 149 Zitat von Petritsch, Zeremoniell (wie Anm. 11), S. 313. Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 33f.; Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo (wie Anm. 141), S. 293f.; Peter Burschel, Der Sultan und das Hündchen. Zur politischen Ökonomie des Schenkens in interkultureller Perspektive, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 408–421, hier S. 418. Die Ansicht der Schätze bewirkte freilich eine entsprechende Einschätzung des Osmanischen Reiches, wo es „gran quantità d’oro e d’argento monetato, e di pietre preziose, e di lavori d’oro e d’argento e giojellati, come spade, coltelli guarniti ed altro“ gebe. Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 347–368, relazione des Andrea Badoaro, ambasciatore, 1573, hier S. 357.

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ten Innenhof des Topkapı Sarayı, wo die Gesandten verweilen mussten, bis der Sultan die am Diwan beteiligten osmanischen Würdenträger empfangen hatte.150 Durch ein Fenster konnte der Sultan die überreichten Geschenke betrachten.151 Anschließend führten zwei Kapıcıbaşı (Obersttürhüter) oder Tschauschen die Venezianer bei den Armen zum kunstvoll ausgestalteten Thronsaal des Sultans (Arz Odası). Hier küssten die Gesandten unter Anwesenheit der osmanischen Würdenträger in gebeugter Haltung die Hand des Sultans – wobei viele Venezianer nachdrücklich betonten, es handele sich nur um den herabhängenden Saum seines Gewandes.152 Schließlich verkündete der Dragomane das Anliegen der Audienz, worauf der Bailo die großherrliche Antwort durch den Großwesir übermittelt bekam. Anschließend verließen die Venezianer erneut den Innenhof und schließlich den Topkapı Sarayı.153 In ihren Beschreibungen der Audienzen schilderten Baili und Botschafter das Zeremoniell in Konstantinopel entsprechend den Logiken, die auch in Venedig für den Empfang auswärtiger Gesandter galten. Sie sprachen mit den Osmanen in nome di v[ost]ra Ser:tà, als Repräsentanten ihrer Republik.154 Dabei betonten sie, im Sinne der Serenissima Repubblica gehandelt zu haben: Beispielsweise resümierte Ottaviano Bon im Jahr 1609 seine Amtszeit als ein ser150 Necipoğlu, Architecture (wie Anm. 141), S. 91–183. 151 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 347–368, relazione des Andrea Badoaro, ambasciatore, 1573, hier S. 358; ebd., S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 379; ebd., S. 437–468, anonyme relazione, 1579, hier S. 464f. 152 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 32f., hier 33: „[…] who take the Embassador, the one by one arm, and the other by the other arm, and so lead him to kiss his highness hand (which in trueth is but his hanging sleeve […])“. Vgl. auch Topkapı Sarayı Müzesi, Istanbul, Hazine 1339, fol. 247v; Palmira Brummett, A Kiss is Just a Kiss. Rituals of Submission along the East-West Divide, in: Cultural Encounters Between East and West. 1543–1699, hg. von Matthew Birchwood/Matthew Dimmock, Cambridge 2005, S. 107–131; Petritsch, Zeremoniell (wie Anm. 11), S. 313ff.; Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), ebd., S. 193–270, anonyme relazione, 1553, hier S. 235; ebd., S. 347–368, relazione des Andrea Badoaro, ambasciatore, 1573, hier S. 358f.; ebd., S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 379; ebd., S. 437–468, anonyme relazione, 1579, hier S. 466. Dilger, Untersuchung, S. 70ff. 153 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 33; Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo (wie Anm. 141), S. 287f. 154 BNM, MS It. VII, 390 (8872), fol. 2r–3v, Schreiben aufgesetzt von Marcantonio Barbaro in Konstantinopel/Pera am 10. Oktober 1568, geschickt nach Venedig, hier fol. 2v.

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vitio publico in einer Stadt, in der die venezianischen Untertanen „San Marco im Herzen tragen“, indem sie „gegenüber den Baili ihren Gehorsam und ihre Ehrfurcht“ demonstrierten.155 Insofern die Republik, die sie vertraten, ihre Souveränität auf Gesetze gründete,156 überrascht es nicht, dass die Baili in ihren nach Venedig gesandten Schreiben regelmäßig verlautbarten, sie hätten gemäß der commissio gehandelt.157 Im folgenden Abschnitt soll nun anhand ausgewählter Beispiele das Verständnis venezianischer Gesandter den osmanischen Logiken des Audienzzeremoniells gegenübergestellt werden.

V. Divergente Deutungen des osmanischen Zeremonialvokabulars158 Wenn venezianische Gesandte das Audienzzeremoniell als interpersonale Anerkennung im Sinne der repraesentatio majestatis verstanden, die letztlich darauf beruhte, das königliche Traktament zu wahren,159 stellte es ein Problem dar, dass während der Audienzen im Topkapı Sarayı offensichtlich der Großwesir – nicht der Sultan – eine zentrale Position einnahm: Er war es, der die anreisenden Venezianer zuerst empfing, der die Audienzen beim Sultan vermittelte, der den Diwan leitete und die großherrlichen Antworten schließlich überbrachte. Dass diese Antworten auffallend kurz ausfielen, war daher zentraler Gegenstand venezianischer Debatten um das diplomatische Zeremoniell. Nachdem der Bailo oder Botschafter sein Anliegen vorgetragen, der 155 ASVe, Collegio, Relazioni, busta 5, fol. 1r–28v, hier 1r und 28v: „Riescono però questi tali molto affettionati al nome della Serenissima Repubblica, et portano San Marco nel cuore, et in ogni occasione lo dimostrarebbono con gl’affetti, poiché si scuopre in loro obbedienza et timore verso li baili.“ Bons relazione wurde ediert in Relazioni di ambasciatori veneti al Senato, Bd. 14: Costantinopoli. Relazione inedite (1512–1789), hg. von Maria P. Pedani-Fabris, Padua 1996, S. 475–523. Vgl. auch Le Relazioni degli stati europei lette al Senato dagli ambasciatori veneziani nel secolo decimosettimo, hg. von Nicolò Barozzi/Guglielmo Berchet, Serie V: Turchia, Bd. 1, Venedig 1871, S. 59–115, 116–124. 156 Quaglioni/Comparato, Italy (wie Anm. 25), S. 87–91. 157 BNM, MS It. VII, 390 (8872), fol. 2r–3v, Schreiben aufgesetzt von Marcantonio Barbaro in Konstantinopel/Pera am 10. Oktober 1568, geschickt nach Venedig, hier fol. 2v: „conforme alla mia com[m]issione“. Ebd. auch: „et à proposito per espressione della commission mia“. 158 Ich greife die Rede von „zeremoniellen Vokabeln“ auf: Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 4. 159 Ebd.; ders., Gesandtschaftswesen (wie Anm. 24).

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Dragomane dieses dem Großwesir übersetzt und der es schließlich dem Sultan übermittelt hatte, antwortete der Sultan nur mit wenigen Worten wie ḫoš (gut), pek iyi (sehr gut) oder šoyle olsuñ (so sei es), die dann wiederum der Großwesir auslegte.160 Häufig muss der Sultan jedoch selbst diese kurzen Antworten verwehrt haben, denn venezianische Gesandte beschwerten sich regelmäßig, dass der Sultan regungslos dasitze und nicht antworte und man so den Thronsaal schließlich verlassen müsse.161 Andere klagten, dass nicht der reglose und verstummte Sultan auf ihr Anliegen antwortete, sondern nur der Großwesir, und selbst der spreche lediglich ein einziges Wort: güzel (hübsch).162 Diese Umgangsformen stießen bei den Venezianern auf Unverständnis und bereiteten ihnen einiges Kopfzerbrechen: Was bedeutete ein solches Verhalten des Sultans gegenüber den diplomatischen Vertretern Venedigs für den Status der Republik? Ottaviano Bon vermutete, dass der Sultan sich deshalb in seinen Antworten an den Großwesir und nicht direkt an die Gesandten wandte, weil er es verachte, mit Christen zu sprechen.163 Hingegen tat Marcantonio Barbaro den Umstand, dass Sokollu Mehmed Pascha während der ersten Audienz so kurz angebunden war, mit dem zweimaligen Hinweis darauf ab, dass es eben dem hiesigen Brauch entspreche.164 Nachdem der Großwesir schließlich die erste Sultansaudienz Barbaros veranlasst und der Bailo gerade „mit einer statt160 Sehr anschaulich geschildert von Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo (wie Anm. 141), S. 296; Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 82–87. 161 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 193–270, anonyme relazione, 1553, hier S. 235: „Egli [der Sultan] non si mosse, nè rispose cosa alcuna“; Relazioni degli ambasciatori veneti al Senato, III, Bd. 2, hg. von dems., Florenz 1844, S. 29–191, relazione des Antonio Tiepolo, Bailo, 1576, hier S. 168: „[…] la qual cosa espedita non si sente risposta nè si vede altro moto nel Gran-Signore, onde senza altro convien uscirsi e ritornarsene in casa“. 162 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Badoaro, 1573, hier S. 381: „Fornite il parlare dei clarissimi, partirono subito senza risposta alcuna del Gran-Signore, eccetto che del gran-visir, il quale in nome del Gran-Signore disse giozel, che vuol dir bello, e si appropria a molti propositi“. James W. Redhouse, English and Turkish Dictionary, […], Bd. 1, London 1856, S. 31, 141 führt allerdings an, dass güzel nicht nur „beautiful“, sondern auch „goodly“ bedeutete. 163 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 33: „This done the Druggaman […] declareth the Embassadors commission, to which the Grand Signor maketh no answer at all, (disdaining to speak to a Christian) but only speaketh a word or two, to the chief Vizir to license him; referring all proceedings to his discretion“. 164 BNM, MS It. VII, 390 (8872), fol. 2r–3v, Schreiben aufgesetzt von Marcantonio Barbaro in Konstantinopel/Pera am 10. Oktober 1568, geschickt nach Venedig, hier fol. 2v: „secondo l’uso di questa Porta“; „secondo il solito“.

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lichen Anzahl an Tschauschen“ seine Residenz verlassen hatte, begegneten ihm auf dem Weg zum Topkapı Sarayı andere vom Großwesir entsandte Tschauschen, die Barbaro mitteilten, dass der Sultan zur Jagd gehen werde und die geplante Audienz deshalb auf den folgenden Morgen verschoben werden müsse.165 Aufgrund solcher Erfahrungen charakterisierte Barbaro, nachdem er schließlich nach Venedig zurückgekehrt war, den Großwesir als den eigentlichen Inhaber der suprema potentissima autorità di quel governo.166 Damit stimmte er mit den Ausführungen überein, die wenige Jahre zuvor, 1564, der Bailo Daniele Barbarigo in seiner Abschlussrelation dargelegt hatte: Man könne letztlich sagen, so der Bailo, dass der damals amtierende Großwesir Semiz Ali Pascha (1561–1565; 1579–1580) der wahre „Patron dieses ganzen Imperiums“ sei.167 Durch derartige Bewertungen, das heißt die Aufwertung der machtpolitischen Bedeutung des Großwesirs durch die Gesandten, stiegen auch die vom Großwesir gegenüber den Baili und Botschaftern vollzogenen, vermeintlichen zeremonialen Wertschätzungen in der Beurteilung der Venezianer. Die einem Souverän vergleichbare Beurteilung des sozialen Status des Großwesirs als Inhaber der somma di tutte le cose168 wertete auch dessen Position innerhalb des diplomatischen Zeremoniells neben dem Sultan auf. Mit dieser Einschätzung versicherten sich die diplomatischen Repräsentanten der Republik Venedig zugleich des ihnen angemessenen Traktamentes im Audienzzeremoniell. Aus osmanischer Perspektive ist jedoch eine ganz andere Situation für die Frage aufschlussreich, wie Herrschaft in der Audienz dargestellt und vergegenwärtigt wurde: Es ging hier weniger um das zeremonielle Betragen gegenüber der entsandten Person als vielmehr um den zeremoniellen Umgang mit dem von der venezianischen Signoria aufgesetzten Schreiben, das die Entsandten 165 Ebd., fol. 3v: „con honorato numero di Chiaussi“. 166 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 299–346, relazione des Marcantonio Barbaro, Bailo, 1573, hier S. 319: „Ma la somma dell’universal governo è tutta posta nella persona di Mehemet-pascià, suo primo visir“. Ebd., S. 320f.: „In questa sola persona è collocata, dopo il Gran-Signore, la suprema potentissima autorità di quel governo“. Ebd., S. 321: „[…] il Gran-Signore […] commette a Mehemet-pascià la somma di tutte le cose“. Vgl. ebd., S. 319–322. 167 Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 1–60, relazione des Daniele Barbarigo, Bailo, 1564 hier S. 26: „si può dire che il padrone di tutto questo imperio è il magnifico Ali pascià“. 168 Ders., Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 299–346, relazione des Marcantonio Barbaro, Bailo, 1573, hier S. 321: „[…] il Gran-Signore […] commette a Mehemet-pascià la somma di tutte le cose“. Quaglioni/Comparato, Italy (wie Anm. 25), S. 88; Contarini, DELLA REPVBLICA (wie Anm. 25), III, S. 57f.

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darbrachten. Besonders eindrücklich beschrieb dies 1573 der an der Audienz des ambasciatore Andrea Badoaro beteiligte Venezianer Costantino Garzoni: Nachdem Badoaro das Schreiben Venedigs dem leitenden Pfortendolmetscher Sultan Selims II. überreicht hatte, gab dieser das Schriftstück einem Obersttürhüter, der es schließlich dem rangniedrigsten Wesir überreichte. Von diesem wanderte das Dokument zum jeweils ranghöheren Wesir, bis der Großwesir das Schreiben erhielt und es dem Sultan aushändigte.169 Die lettera di credenza, die den Überbringer der Nachricht als Gesandten seiner Herrschaft autorisierte, war somit selbst wesentlicher Bestandteil des osmanischen Audienzzeremoniells. Die Umgangsweise mit diesem Dokument ist vergleichbar mit jener Kubads, der in seiner Audienz vor dem venezianischen Collegio den Brief des Sultans küsste, bevor er ihn übergab.170 Herrschaft wurde in diesen beiden Beispielen der 1570er Jahre kalligraphisch dargestellt. Somit bedurfte das Schreiben selbst zeremonieller Formen der Wertschätzung. Im Fall Badoaros wanderte das Schreiben Venedigs durch die Hände der für den am Empfang auswärtiger Gesandter beteiligten und für dessen Verlauf wichtigsten osmanischen Amtsträger. Von einer Hand zur nächsten zirkulierte das Dokument entlang der aufsteigenden Rangstufen der osmanischen Herrschaft. Es wurde von den wichtigsten Vertretern der jeweiligen Machtbereiche berührt: dem leitenden Dragomanen, der die Übertragung der Sprachen und des Dokumentes sicherstellte; dem Vorsteher der Türhüter, der den Zugang zur Herrschaft regulierte; den sechs Wesiren und Paschas, die Recht und Religion, das Militär zu Land und die Flotte zu Wasser, Reich, Palast und Provinzen vertraten.171 Dieses 169 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 380: „Presentò il clarissimo ambasciatore la lettera di credenza al dragomanno grande del Gran-Signore, il quale la diede a un capigì-bascì, che la portò in mano dell’ultimo visir, e di mano in mano sino al primo visir, il quale poi la diede al Gran-Signore, non essendo dignità che altri che il primo visir gliela presentasse“. Zu dieser Praxis vgl. Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 87f. Zu den Pfortendolmetschern siehe Josef Matuz, Die Pfortendolmetscher zur Herrschaftszeit Süleymāns des Prächtigen, in: Südost-Forschungen 34 (1975), S. 26–60. 170 Anonym, DISCORSO (wie Anm. 52), S. 12f.: „Dapoi trasse dal tolipano la lettera del Signor, c’haueua in capo, & quella basciata, […]“. Auch Manolesso, HISTORIA NOVA (wie Anm. 52), fol. 20r: „E cosi detto diede la lettera di credenza, e se trasse dal Tulipano la littera del Signore è quella con riuerenza basciata appresentò“. Zur kalligraphischen Vergegenwärtigung von Herrschaft vgl. Aydemir/Özcan, Repräsentation (wie Anm. 11), S. 56ff. 171 Zur Zuordnung der Wesir-Ränge durch Venezianer vgl. u.a. Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), relazione des Andrea Badoaro, ambasciatore, 1573, hier

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Zeremoniell reproduzierte die Machtstrukturen des Osmanischen Reiches en miniature und gewährleistete zugleich den Weg des Schriftstückes als kalligraphische Darstellung der venezianischen Herrschaft entlang den sozialen Rangstufen des Osmanischen Reiches. Diese unterschiedliche Gewichtung zeremonieller Handlungen sowie deren Interpretation als bloßes ‚Missverständnis‘ zwischen einer personal ausgerichteten Repräsentation von Herrschaft seitens der Venezianer und einer kalligraphischen Logik von Herrschaftsdarstellung seitens der Osmanen zu charakterisieren, mag stimmen, greift aber zu kurz. Gülru Necipoğlu verdeutlichte sehr anschaulich, dass die osmanische Herrscherstilisierung in bewusster Auseinandersetzung mit lateineuropäischen Konzeptionen von Herrschaftsrepräsentation stattfand. Necipoğlu zeigte, dass Süleyman I. zu Beginn seiner Herrschaft die seit der Einnahme Konstantinopels bestehende Idee eines Rom und Byzanz umschließenden Imperiums aufgriff und diese strategisch kommunzierte: So kaufte er eine in Venedig hergestellte, reich ausgestattete, einer Krone durchaus ähnliche Kopfbedeckung, um mit dieser seine imperialen Ansprüche zu kommunizieren. Im Laufe seiner Regentschaft verlor diese Idee jedoch zunehmend an Bedeutung, bis schließlich in den 1540er und 1550er Jahren ein grundlegender Wandel hin zu einer durch islamisch-imperiale Traditionen legitimierten Herrschaftsdarstellung feststellbar ist. Diese äußerte sich auch in Süleymans berühmten juristischen Bestimmungen, die ihm den Beinamen ‚der Gesetzgebende‘ (Kanunî) einbrachten. „Europäische Statussymbole“, die zuvor noch Verwendung fanden, seien fortan mehr und mehr aus dem osmanischen Hofzeremoniell verbannt worden.172 Gerade in jenen Jahrzehnten lässt sich aber auch eine zweite, das Zeremoniell betreffende Änderung feststellen, die Konrad Dilger, Gülru Necipoğlu und Ernst D. Petritsch als eine „Erhöhung der Person des Sultans“ beziehungsweise als dessen (soziale, religiöse, räumliche und auch ze-

S. 364–367: Sokollu Mehmed Pascha als „primo pascià“; „Pialì“ als „secondo pascià“; „Tas“ als „terzo pascià“; „Achmet“ als „quarto pascià“; Mustafa als „quinto pascià“; Sinan als „sesto pascià“. 172 Necipoğlu, Süleyman the Magnificent (wie Anm. 11), S. 401–427, pointiert u.a. auf S. 425: „Such Western status symbols […] appear to have been primarily useful in communicating Ottoman imperial claims to European rivals through an intelligible Western vocabulary. […] The elderly Süleyman’s reinforcement of the Islamic imperial tradition signaled a change in cultural politics around the 1540’s and 1550’s, after which the Ottoman court ceased to seek out such European status symbols“.

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remonielle) „Entrückung“ beschrieben.173 Demnach ist es „unbestreitbar […], dass der ungezwungene Verkehr der frühen osmanischen Sultane mit ihrer Umwelt ständig zurückging und die Großherrn seit dem 16. Jahrhundert in scheinbar unerreichbare Sphären entrückt waren.“174 Dies drückte sich auch im Audienzzeremoniell aus: Der Sultan wohnte dem Diwan nicht mehr bei und verfolgte das Geschehen auch kaum noch durch das Gitterfenster; im Thronsaal reagierte Süleyman nur noch selten auf die von Gesandten vorgetragenen Anliegen und seit dem späten 16. Jahrhundert erwiderten grundsätzlich die Wesire statt der Sultane die diplomatischen Gesuche; seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahm der Sultan das überreichte Dokument erst entgegen, wenn dieses entlang der Rangstufen emporgeleitet wurde und schließlich den Großwesir erreicht hatte.175 Es liegt also nahe, nachdem sich bereits Necipoğlu überzeugend für eine intendierte Adaption lateineuropäischer Imperiumsdiskurse während der Frühzeit der Herrschaft Süleymans I. ausgesprochen hat, davon auszugehen, dass auch Süleymans spätere „Entrückung“176 sowie die von seinen Nachfolgern praktizierte Herrscherstilisierung, die stärker auf islamischimperialen Traditionen basierte, als bewusste Akte der Herrschaftsdarstellung verstanden werden können.177 Das osmanische Hofzeremoniell bestand aus Elementen alttürkischer, islamischer, byzantinischer und lateineuropäischer Traditionen, die unterschiedlich aktualisiert, adaptiert und akzentuiert werden konnten.178 So kann der von den Gesandten viel bemerkte Umstand, dass der Sultan sich den Venezianern nicht alla turchesca, sondern alla cristiana, auf dem Thron sitzend präsentierte, durchaus als bewusster zeremonieller Akt verstanden werden. Während bis zu Süley173 Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 52–60; Necipoğlu, Architecture (wie Anm. 141), S. 22–30; Petritsch, Zeremoniell (wie Anm. 11), S. 311f. 174 Ebd., S. 315; Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 60. 175 Ebd., S. 87f. 176 Petritsch, Zeremoniell (wie Anm. 11), S. 312. 177 Vgl. einführend Süleymân the Second and his Time, hg. von Halil İnalcık/Cemal Kafadar, Istanbul 1993. Zu den methodischen Hintergründen transkultureller Vergleiche monarchischer Herrschaften siehe vor allem Wolfram Drews/Almut Höfert, Monarchische Herrschaftsformen im transkulturellen Vergleich. Argumentationsstrategien zur Rechtfertigung von Usurpationen bei Karolingern und Abbasiden, in: Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Hybrid Cultures in Medieval Europe. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule, hg. von Michael Borgolte/Bernd Schneidmüller, Berlin 2010, S. 229–244. 178 Vgl. grundsätzlich Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11); Necipoğlu, Süleyman the Magnificent (wie Anm. 11); dies., Architecture (wie Anm. 141).

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mans Sultanat die Sitzweise mit überschlagenen Beinen üblich war, berührten die Sultane seit den 1520er Jahren mit ihren Füßen den Boden.179 Griff das Zeremonialvokabular hingegen solche Traditionen stärker auf, die den Venezianern von den Empfängen bei christlichen Herrschern nicht bekannt waren, riefen diese bei ihnen zumeist Unverständnis hervor, führten zu Missverständnissen oder bedurften, wie im Falle der zentralen Position des Großwesirs, eines gewissen Interpretationsaufwandes, um angemessen gedeutet zu werden. Ein weiteres, besonders anschauliches Beispiel hierfür liefert das Bankett, das zu Ehren der empfangenen Gesandten vom Großwesir im Kuppelbau veranstaltet wurde. Zunächst achteten die Venezianer sehr genau auf die Sitzordnung und die Art und Weise, wie die Speisen und Getränke serviert wurden: Insgesamt gab es fünf Tafeln, an denen die osmanischen Würdenträger entsprechend ihrer Rangfolge saßen. Die venezianischen Gesandten ließen sich an der ersten Tafel beim Großwesir nieder.180 Geschirr und Speisen entsprachen ebenso der Rangfolge der Osmanen.181 Auf den Tafeln wurde das Essen auf großen Tellern serviert, allerdings ohne dass es Messer, Gabeln oder Servietten gegeben hätte. Lediglich überdimensional große Holzlöffel lagen bereit. Statt der Tischdecken waren die Tafeln mit Teppichen behangen, klagte der ambasciatore Jacopo Soranzo 1581.182 Ottaviano Bon hingegen notierte, dass man sich Servietten auf

179 Siehe u.a. Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 129–192, relazione des Tiepolo Antonio, Bailo, 1576, hier S. 167: „ […] sedendo non alla turchesca ma alla cristiana con le gambe distese“. Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 80f. 180 Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 209–25, relazione und diario des Jacopo Soranzo, ambasciatore, 1581, hier S. 229; Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 22ff.; Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 113–116. 181 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 23f.: „The Bashawes and other great men, have drink brought unto them, (which is Sherbet) in great Porcelaine dishes: but the others do either not drink at all, or if they do drink, it is fair water brought them from the next fountains. At the same time when the Vizirs of the Bench, and others of the Divan are at dinner; the under Officers, Waiters, and Keepers, do dine also; (for they must loose no time,) the which are not lesse ordinarily then four or five hundred persons (including also such poor sharking fellows, as slip into the Companie for a dinner;) but their food is nothing but bread, aud pottage, which they call Churva, which serves to fill their bellies, though it be but of small nourishment“. 182 Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 209–25, relazione und diario des Jacopo Soranzo, ambasciatore, 1581, hier S. 229f.

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die Knie legte.183 Das Getränk beschrieb Soranzo als ein Gemisch aus Wasser, Zucker und anderen Gewürzen sowie Inhaltsstoffen, die „wenig erfreulich für den Geschmack der Italiener“ sind.184 Auch über das Essen selbst wunderten sich die Venezianer. Es gab Hähnchen sowie Hammel-, Hühner-, Tauben-, Gänse- und Lammfleisch. Dazu wurden Reis- und Erbsenbrühe wie auch Hülsenfrüchte serviert.185 Dabei störten sich die Gesandten daran, dass Früchte fehlten.186 Aber auch der ungewöhnliche Geschmack traf nicht ihre Vorstellungen eines gelungenen diplomatischen Banketts: Bis zu 50 Teller verschiedener Speisen habe man essen müssen, so der Bailo Gianfrancesco Morosini 1585, die er allerdings keineswegs als geschmacksvoll bezeichnen könne. Eher seien sie mäßig durchwachsenen Geschmacks gewesen.187 Vor allem führte jedoch die Auswahl der Speisen zum Argwohn der Gesandten, denn diese galten in ihrer Heimat als Essen geringen Wertes.188 So schrieben Bon und Soranzo, das Essen sei keineswegs außergewöhnlich gewesen und hätte sicherlich nur wenig gekostet.189 Auch Costantino Garzoni stellte enttäuscht fest, dass die Kosten für das 183 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 22f. Zu Servietten und den auch üblichen Lederbezügen für die Tafeln siehe Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 104–113. 184 Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 209–25, relazione und diario des Jacopo Soranzo, ambasciatore, 1581, hier S. 229: „poco piacevoli al gusto degl’Italiani“. 185 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 23: „[…] Mutton, Hens, Pigeons, Geese, Lamb, Chickins, Broth of Rise and pulse dressed after divers fashions; and some Tarts, or such like at the last […]“. Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 209–25, relazione und diario des Jacopo Soranzo, ambasciatore, 1581, hier S. 230: „[…] e furono minestre di riso e di piselli accomodate in più modi in gran vasi. Appresso vi erano scudelloni di mangiar bianco di poca spesa; agnelli arrostiti intieri, e i bolliti in gran pezzi; qualche lavoraccio di pasta con miele in certe frittelle grosse, con pezzi di castrato bolliti, sopra i quali erano piselli […]“. Maria P. Pedani, La grande cucina ottomana. Una storia di gusto e di cultura, Bologna 2012. 186 Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 209–225, relazione und diario des Jacopo Soranzo, ambasciatore, 1581, hier S. 229f. 187 Albèri, Relazioni, III, Bd. 3 (wie Anm. 137), S. 209–250, relazione des Gianfrancesco Morosini, Bailo, 1585, hier S. 282: „ […] 50 gran piatti di diversi cibi delicatamente acconci secondo quel costume, che a noi altri causerian più tosto nausea che piacere, e di questi mangia moderatamente.“ Andere Gesandte zählten 72 Speisen oder auch 8 Speisen in 80 Schüsseln: Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 111. 188 Vgl. Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo (wie Anm. 141), S. 292f. 189 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 23: „Their diet is ordinarily“. Albèri, Relazioni, III, Bd. 2 (wie Anm. 161), S. 209–225, relazione und diario des Jacopo

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Bankett exorbitant hoch gewesen wären, wenn es „unsere Delikatessen aus Italien“ gegeben hätte; „aber sie geben sich [hier] mit bloßem Brot, Reis, Hammelfleisch und Wasser zufrieden“.190 Noch drastischer formulierte es Bon, der den Gastgebern geiziges Verhalten bei der Bewirtung der Begleitung des venezianischen Gesandten vorwarf.191 Der Bailo sprach den Osmanen damit eine Eigenschaft zu, die in zeitgenössischen venezianischen Politiktraktaten als Schande und Schmach (infamia) bewertet wurde und die Legitimation rechtmäßiger Herrschaft absprach.192 Damit waren die so beurteilten Diwan-Bankette Bestandteil des verbreiteten Narrativs der „schlechten Herrschaft“ der Osmanen, die in Flugschriften und diplomatischen Relationen der „guten Herrschaft“ der Republik Venedig gegenübergestellt wurde.193 Trotz der generellen Unzufriedenheit mit dem Bankett überfiel die Gesandten Fassungslosigkeit, wenn ihnen die zeremonielle Speisung vorenthalten werden sollte.194 Ein solcher Fall ereignete sich im Herbst 1572, ungefähr ein Jahr nach der Seeschlacht von Lepanto: Venedig hatte Antonio Tiepolo zum Nachfolger des Bailos Marcantonio Barbaro gewählt und entsandte ihn gemeinsam mit Andrea Badoaro nach Konstantinopel. Letzterem oblag als ambasciatore straordinario der Abschluss eines Friedensvertrages zwischen der Republik Venedig und dem Osmanischen Reich, der den Krieg um Zypern beenden sollte. Anlässlich der Ankunft Tiepolos und Badoaros fanden in der Diplomaten-Residenz in Pera zwei feierliche Bankette statt, in denen knapp einhundert beritSoranzo, ambasciatore, 1581, hier S. 230: „[…] di poca spesa […]“. 190 Ders., Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 431: „Sarebbe veramente tale spesa eccessiva, se in quei paesi si usasero le delicatezze nostre d’Italia; ma si contentano di pane, riso, castrato, e acqua solamente“. 191 Bon, A DESCRIPTION (wie Anm. 141), S. 32: „I can say are served after a very mean fashion“. 192 Francesco Sansovino, CONCETTI POLITICI DI M. FRANCESCO SANSOVINO. Raccolti da gli Scritti di diuersi Auttori Greci, Latini, & Volgari, […], Venedig 1578, fol. 73vf. Vgl. grundsätzlich Paul F. Grendler, Francesco Sansovino and Italian Popular History. 1560–1600, in: Studies in the Renaissance 16 (1969), S. 139–180. 193 Zu dem Motiv in Turcica vgl. Burschel, Der Sultan und das Hündchen (wie Anm. 149), S. 419. Bon charakterisiert die Herrschaft des Sultans auch in seiner Finalrelation als mal governo: ASVe, Collegio, Relazioni, busta 5, fol. 1r–28v, hier fol. 1r. Höfert veranschaulicht, dass die Relationen letztlich das Selbstbild Venedigs als christliche Republik tradierten. Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 35), S. 128. 194 Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 104 spricht von „seltenen Fällen“.

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tene Tschauschen sowie die Venezianer und Einwohner des mehrheitlich von Christen bewohnten Stadtteiles verköstigt wurden.195 Die Antrittsaudienz beim Sultan wurde schließlich für den 15. Oktober anberaumt. Als die Vorbereitungen für diese bereits getroffen waren, erfuhren die Venezianer, dass der Diwan „ohne das übliche Bankett“ stattfinden sollte, das eigentlich sämtlichen königlichen Botschaftern (ambasciatori regj) zu solchen Anlässen gewährt wurde.196 Barbaro, Tiepolo und Badoaro besprachen ausgiebig die Lage und diskutierten lange darüber, wie sie sich verhalten sollten. Schließlich beschlossen sie, bei der Audienz nicht zu erscheinen. Andernfalls, so brachte es der venezianische Beobachter Costantino Garzoni auf den Punkt, wäre dies ein beträchtlicher Schaden für die „Reputation der venezianischen Republik“: es würde dem venezianischen Botschafter den Status eines königlichen Botschafters aberkennen.197 Die diplomatischen Repräsentanten fürchteten also um das königliche Traktament (honores regii), das der Republik Venedig auf dem diplomatischen Parkett traditionell zugestanden wurde.198 Hinter einer solchen zeremoniellen Verweigerung vermuteten die Gesandten einen einfachen Grund: Sokollu Mehmed Pascha besitze eine ausgeprägte „türkische Verachtung gegen die christlichen Herrscher“ und wolle die Dignität der Republik Venedig unterlaufen.199 Doch der Großwesir besaß gute Argumente, schließlich war Venedig nicht mehr länger im Besitz des vormaligen Königreichs Zypern, durch den die 195 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 374: „due solennissimi banchetti, l’uno per li ciaus, l’altro per li cristiani“. Zur Bedeutung venezianischer Bankette in Konstantinopel siehe Eric R. Dursteler, „A Continual Tavern in My House“. Food and Diplomacy in Early Modern Constantinople (im Druck). Zum Stadtteil siehe ders., Venetians in Constantinople (wie Anm. 34), S. 23–28. 196 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 374: „senza il banchetto ordinario, che si fa a tutti gli ambasciatori regj ogni volta che entrano a baciar la mano al Gran-Signore“. 197 Ebd., S. 374f.: „[…] di non trasferirvisi in modo alcuno senza il dovuto banchetto, parendo loro che facendo altrimenti si fosse pregiudicato molto alla reputazione della Repubblica Veneziana; poiché altro non voleva dire il non dar loro il banchetto, che privare l’ambasciatore di Venezia del luogo degli ambasciatori regj“. 198 Dazu grundsätzlich Stollberg-Rilinger, Honores regii (wie Anm. 8). 199 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 375: „sprezzo turchesco verso li principi cristiani, e per smaccare la dignità della Repubblica Veneziana“.

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Republik ihren zeremoniell beanspruchten Status des königlichen Traktamentes nachdrücklich legitimierte.200 Die Republik könne man daher nicht mehr länger zu den gekrönten Häuptern zählen, antwortete der Großwesir den verblüfften Venezianern.201 Als die Gesandten dem Großwesir darauf anhand ihrer Aufzeichnungen darlegten, dass – mit einer Ausnahme – allen venezianischen ambasciatori das Bankett im Topkapı Sarayı gewährt worden war und die ambasciatori der Signoria di Venezia bei „sämtlichen Herrschern der Welt“ zu den „gekrönten Häuptern“ zählen, beendete Sokollu Mehmed Pascha das Gespräch, indem er versicherte, dass er keine grundlegenden Änderungen durchzuführen beabsichtige: Die Audienz werde ohne zeremonielle Speisung stattfinden; doch versprach er den Venezianern, drei weitere Bankette zum Ausgleich für die nun fehlende Speisung ausrichten zu lassen.202 Mehrere Zwischenhändler, die wesentlich zum Zustandekommen der Friedensverhandlungen beigetragen hatten, rieten Barbaro, Tiepolo und Badoaro, das Angebot anzunehmen. Für eine Zurückweisung sei es zu spät, da die Audienz für den kommenden Morgen bereits vorbereitet und es gefährlich sei, den „größten Herrscher der Welt“, der zudem besonders jähzornig sei, zu provozieren. Bereits eine Kleinigkeit könne zur Enthauptung der Venezianer und zu einer neuen Verschärfung des Kriegszustandes führen.203 Tatsächlich war der Einwand – jenseits der Rhetorik der „Türkenfurcht“204 – nicht ganz unberech-

200 Lünig, THEATRUM CEREMONIALE (wie Anm. 70), Bd. 1, Leipzig 1719, S. 12ff., 33; Krischer, Souveränität (wie Anm. 2), S. 13; ders., Gesandtschaftswesen (wie Anm. 24), S. 202. 201 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 375: „poichè gli pareva che avendole tolto il regno di Cipro, non dovesse più detta repubblica essere annoverata tra le potenze regie“. 202 Ebd.: „ […] esser costume di farsi tal banchetto agli ambasciatori veneti in tutte le occasioni, eccetto che al clarissimo Cavallo, per essere stato più presto odiosa persona, che grata quella corte; e che appresso di tutti li principi del mondo gli ambasciatori della Signoria di Venezia avevano luogo con quelli delle teste coronate; […]. Mehemet-pascià fece intendere allora alli clarissimi […], poichè non intendeva di alterare l’ordinario, e che egli in particolare prometteva anzi tre banchetti, cosa insolita farsi, e molti altri favori di maggiore importanza“. 203 Ebd., S. 375f., hier S. 376: „offendevano il maggior principe del mondo, il più collerico“; „che una così piccola causa li privasse tutti e tre della testa, e rinnovasse più ardente e più pericolosa che mai fosse stata la guerra“. 204 Höfert, Den Feind beschreiben (wie Anm. 35).

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tigt. Früher schon hatte der Sultan Baili hinrichten oder inhaftieren lassen.205 Barbaro selbst befand sich seit Ausbruch des Zypernkrieges unter Hausarrest.206 Dennoch, so Garzoni weiter, hätten die drei Repräsentanten einmütig erklärt, dass sie den Tod nicht fürchten, wenn es um die Dignität der Republik geht.207 Gegen Mitternacht fiel der endgültige Beschluss, dass Barbaro, Tiepolo und Badoaro zu einer Audienz ohne Bankett nicht erscheinen würden. Als am kommenden Morgen drei vom Großwesir geschickte Tschauschen in der Residenz erschienen, um die Venezianer abzuholen, lag Badoaro noch im Bett und erklärte, dass es ihm nicht gut gehe und er an der Audienz nicht teilnehmen könne. Zwar suchten die Gesandten dadurch die Situation zu entschärfen (denn es kursierten bereits Gerüchte über die Unstimmigkeiten zwischen dem Großwesir und den Gesandten), doch waren die Vorbereitungen für den Diwan bereits getroffen, sodass die Audienz nicht mehr rechtzeitig verschoben werden konnte. Schließlich entschlossen sich die Gesandten, Francesco Barbaro, den Sohn des Bailos Marcantonio, zum Topkapı Sarayı zu schicken.208 Da die Republik ihn nicht offiziell als Repräsentanten entsandt hatte, gefährdete dieser Empfang ohne die zeremonielle Speisung auch den Status Venedigs nicht. Gegenüber dem Großwesir und Sultan legte Francesco Barbaro dar, dass der ambasciatore Badoaro unpässlich sei. Zwar bezweifelte Sokollu Mehmed Pascha das, doch Selim II. habe ihm in Anbetracht des Alters des Botschafters von knapp 60 Jahren geglaubt. Wie Barbaro das angesichts der Reglosigkeit des Sultans und der knappen Vermittlung durch den Großwesir einschätzen konnte, muss dahingestellt bleiben.209 Als sich die Baili und der Botschafter wenig später beim Großwesir für die durch Badoaros Krankheit entstandenen Unannehmlichkeiten entschuldigten, legten sie erneut ihr Missbehagen dar, das sie aufgrund des ungewöhnlichen zeremoniellen Umganges empfanden. Nach weiteren, lang andauernden Debatten bot Sokollu Mehmed Pascha schließlich einen erneuten Diwan – mit Ban205 Pedani, Bailo (wie Anm. 32), S. 73: Tod des Girolamo Minotto; Inhaftierung von Paolo Barbarigo, Nicolò Giustinian, Jacopo Canal, Giovanni Soranzo. 206 Coco/Manzonetto, Baili (wie Anm. 33), S. 45–49. 207 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 376: „[…] tutti tre riuniti, non spaventarsi punto della morte, trattandosi della dignità della repubblica“. 208 Ebd., S. 376f. 209 Ebd., S. 377. Dursteler, The Bailo (wie Anm. 30), S. 30 führt an, dass Badoaro 1515 geboren wurde und 1575 verstarb.

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kett – am 1. November an.210 Während dieser zeremoniellen Speisung saßen Barbaro, Tiepolo und Badoaro an einer Tafel mit den ranghöchsten osmanischen Würdenträgern. Wie gewöhnlich nahmen ihre Begleiter außerhalb des Raumes auf dem Vorhof unter einem durch Säulen gestützten Vordach die Speisen zu sich. Hier saß auch Garzoni auf Teppichen, die auf dem Boden ausgebreitet waren. Wenngleich er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, störte auch er sich an der ihm dargebotenen Speisenauswahl. Vor allem über das Hühnerfleisch beklagte er sich in seinem später verfassten Bericht.211 Die venezianische Empörung soll nun mit der osmanischen Perspektive auf das Diwan-Bankett verglichen werden. Zunächst ist auffällig, dass die Speisen in den Beschreibungen der venezianischen Gesandten einer groben Simplifizierung unterlagen: Was die Baili und Botschafter beispielsweise schlicht als Reis bezeichneten, stellte tatsächlich eine Vielfalt an Gerichten dar, zwischen denen Osmanen auch sprachlich unterschieden. Serviert wurde einfacher oder persischer Reis sowie solcher, der Weizen, Fleisch, Gemüse, Rosinen, Korinthen, Pfeffer, Maulbeeren, Kürbis, Honig oder auch Zucker enthielt.212 In einer grundlegenden Studie betont Hedda Reindl-Kiel, dass die Essensversorgung wesentlicher Bestandteil der Stilisierung osmanischer Sultane war.213 Dabei bildete die Zubereitung des Essens, die entsprechend bestehender Rangunterschiede baulich separiert stattfand, die Art und Menge der Speisen und ihrer Zutaten sowie deren Darbietung soziale Hierarchien ab, die auf der grundlegenden „Idee der väterlichen Fürsorgepflicht des Herrschers“ basierten.214 Besonders die mit Zucker, Zimt, Ingwer und Safran verfeinerten Gerichte dürften daher den gehobenen Status derjenigen versinnbildlicht haben, die solche Speisen gereicht bekamen. Zugleich stellten sie auch die besondere Zuneigung und Fürsorge des Sultans zur Schau.215 Das von den Venezianern fortwährend kriti210 Albèri, Relazioni, III, Bd. 1 (wie Anm. 42), S. 369–436, relazione des Costantino Garzoni, Begleitung des ambasciatore Andrea Badoaro, 1573, hier S. 377. 211 Ebd., S. 378. Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 110. 212 Hedda Reindl-Kiel, The Chickens of Paradise. Official Meals in the Mid-Seventeenth Century Ottoman Palace, in: The Illuminated Table, the Prosperous House. Food and Shelter in Ottoman Material Culture, hg. von Suraiya Faroqhi/Christoph K. Neumann, Würzburg 2003, S. 59–88, hier S. 61. 213 Ebd., S. 59: „[…] supplying food was an integral part of the Ottoman sultans’ role“. 214 Zitat von Dilger, Untersuchungen (wie Anm. 11), S. 105. Reindl-Kiel, The Chickens of Paradise (wie Anm. 212), S. 72f.; Necipoğlu, Architecture (wie Anm. 141). 215 Reindl-Kiel, The Chickens of Paradise (wie Anm. 212), S. 82f.

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sierte Geflügel gehörte mindestens seit Mehmed II. zu den besonders beliebten und häufig servierten Speisen im Topkapı Sarayı. Auch deren Verzehr unterlag sozialen Richtlinien: Während Tauben, Gänse und Enten nur einer kleinen Gruppe zugänglich waren, ist Hähnchenfleisch einem etwas größeren Kreis serviert worden, der jedoch im Vergleich zu denjenigen, die ausschließlich Hammelfleisch verzehrten, immer noch beschränkt war. Diese Reglementierung besaß eine religiös-herrschaftliche Begründung: Laut Koran sollen die Gläubigen im Paradies Geflügelfleisch erhalten.216 Die zeremoniellen Bankette während der Audienzen waren insofern Bestandteil einer Herrschaftssymbolik, die den Palast als irdisches Paradies versinnbildlichte, in dem jene Speisen in den prominent sichtbaren Küchengebäuden zubereitet und schließlich dargereicht wurden, die Gläubige im Paradies zu erwarten hätten. Damit war eine Stilisierung des Sultans entsprechend seines zunehmend verbreiteten Titels als ‚Schatten Gottes auf Erden‘ verbunden.217

VI. Fazit und Ausblick Im Zentrum dieses Aufsatzes standen verschiedene Fallstudien, anhand derer ich das Problem der Herrschaftsdarstellung in venezianisch-osmanischen Audienzen des 16. und 17. Jahrhunderts behandelte. Ich ging der Frage nach, welche Konzeptionen dabei zugrunde lagen und inwieweit das Herrschaft vergegenwärtigende Zeremoniell den beteiligten Akteuren Deutungs- und Handlungsräume eröffnete. In der vergleichenden Untersuchung stellte sich heraus, dass die Venezianer an den Bosporus entsandt wurden, um „die hohe Person […] [des] Principalen, gleich als ob dieser nehmlich selbst zugegen wäre, vorzustellen“.218 Eine derartige Konzeption basierte wesentlich auf einem personalen Verständnis von Herrschaftsrepräsentation, das die Republik Venedig an der repraesentatio majestatis und dem königlichen Traktament (honores regii) 216 Ebd., S. 81, 85f., 88; vgl. Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo (wie Anm. 141), S. 292f. 217 Reindl-Kiel, The Chickens of Paradise (wie Anm. 212), S. 87f.; Cornell H. Fleischer, The Lawgiver as Messiah. The Making of the Imperial Image in the Reign of Süleyman, in: Soliman le Magnifique et son temps, hg. von Gilles Veinstein, Paris 1992, S. 159–177, hier S. 162; Suraiya Faroqhi, Part II Crisis and Change, 1590–1699, in: An Economic and Social History of the Ottoman Empire, 1300–1914, hg. von Halil İnalcık/Donald Quataert, Cambridge 1996, S. 411–636, hier S. 616–620. 218 Repräsentiren (wie Anm. 3), Sp. 649.

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maß. Hingegen funktionierte Herrschaftsdarstellung im Osmanischen Reich stärker über kalligraphische Logiken. Die diplomatischen Kontakte offenbaren gleichwohl „eine verschüttete gemeinsame Geschichte“219 regelmäßiger Begegnungen auf der Grundlage eines ausdifferenzierten Gesandtschaftswesens. Zugleich waren diese Austauschprozesse aber durch wesentliche Missverständnisse charakterisiert, die sich im unterschiedlichen Zeremonialvokabular sowie in divergenten Deutungen zeigen. Das Zeremoniell war dabei jedoch nicht nur ein Quell potentieller Missverständnisse; es stellte zugleich den nuancierten Rahmen für kulturelle Kontakte her, der es Venedig und dem Osmanischen Reich gleichwohl ermöglichte, je nach Situation Akzente zu setzen, Adaptionen vorzunehmen und Positionen zu beanspruchen. Vor diesem Hintergrund stellt sich für zukünftige Forschungen die Frage, wie sich diese wechselseitige Perspektive auf das Audienzzeremoniell in Bezug auf Dritte darstellte. Auf der Ebene der auf sozialer Schätzung basierenden personalen Herrschaftsrepräsentation besaß der Empfang eines venezianischen Gesandten beim osmanischen Sultan oder Großwesir zugleich immer auch eine umfassendere Dimension im Hinblick auf andere, an dieser Audienz zunächst selbst unbeteiligte Herrschaften. So drohte das fehlende Diwan-Bankett den Botschaftern den Rang der ambasciatori regj zu nehmen und damit Venedig das königliche Traktament zu entziehen, was wiederum Auswirkungen auf den Status der Republik bei anderen Monarchen gehabt hätte. Ebenso fand die innervenezianische Differenzierung der Gesandtschaftsränge, wie die Gesetzgebung von 1575 vermuten lässt, auch im Hinblick auf den Empfang auswärtiger Botschafter im Sultanspalast statt. Es wäre deshalb systematisch zu fragen, inwieweit venezianisch-osmanische Audienzen auch auf andere Herrschaften und deren Repräsentationsformen bezogen waren. Diese Dimension kann hier nur anhand eines weiteren Beispieles kurz angeführt werden. Eine solche Perspektive lässt sich anhand eines Gemäldes veranschaulichen, auf dem Gabriele Caliari den Empfang der persischen Gesandtschaft von 1603 in Venedig darstellt (Abb. 8).220 Es handelt sich um eine von 13 (oder 14) safa219 Suraiya Faroqhi, Geschichte des Osmanischen Reiches, München 42006, S. 10. Zu dieser Forschungstendenz vgl. Francesca Trivellato, Renaissance Italy and the Muslim Mediterranean in Recent Historical Work, in: The Journal of Modern History 82 (2010), S. 127–155; Molly Greene, A Shared World: Christians and Muslims in the Early Modern Mediterranean, Princeton u.a. 2000. 220 Zur Debatte um die Zuordnung des Gemäldes vgl. Emmanuele A. Cigogna, Delle inscrizioni veneziane, Bd. 5, Venedig 1842, S. 644–647; Rota, Safavid Envoys (wie Anm. 64), S. 229.

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|  Stefan Hanß Abb. 8  Gabriele Caliari, Der Doge Marino Grimani empfängt die persische Gesandtschaft (1603), Öl auf Leinwand, Palazzo Ducale, Venezia, Sala delle Quattro Porte, 1603/1604, Guglielmo Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia, Turin 1865, nach S. 46.

widischen Gesandtschaften, die sich im 16. und 17. Jahrhundert in Venedig aufhielten. Während dieser Gesandtschaft ging es vor allem um den Versuch, ein gemeinsames, anti-osmanisches Bündnis zu schließen.221 Das Gemälde Caliaris zeigt Fathi Bey, den Gesandten Schah ʿAbbas I. (1587–1629), neben dem Dogen Marino Grimani (1595–1605) im Sala del Collegio sitzend mit seinen Turbane tragenden persischen und armenischen Begleitern. Vor diesen, dem Dogen mit der Corno Ducale auf dem Kopf sowie weiteren sitzenden venezianischen Ratsmitgliedern werden Geschenke präsentiert. Darunter befindet sich ein geknüpfter Teppich, der aus einer Kiste genommen und in ausgerolltem Zustand den Venezianern präsentiert wird. Ein Venezianer beugt sich in dessen Richtung, anscheinend um den Teppich zu bestaunen. Zwei andere Venezianer nehmen, aufrecht stehend, das Geschenk zur Kenntnis, und auf den Bänken scheint die Gabe Gegenstand einiger Gespräche zu sein. Insgesamt erhielt die Republik Venedig acht kunstvoll gewebte Teppiche während der Empfänge persischer Gesandter in den Jahren 1603, 1622 und 1634 überreicht.222 Die von Fathi Bey überreichten Teppiche ließen die Senatoren in den 221 Vgl. ebd., S. 215; Guglielmo Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia, Turin 1865; Giorgio Rota, Under Two Lions. On the Knowledge of Persia in the Republic of Venice (ca. 1450–1797), Wien 2009. 222 Daniela Cecutti, Adolph Loewi e il commercio di tappeti orientali a Venezia fra Otto e Novecento, in: MDCCC 1 (2012), S. 33–42, hier S. 34; Giovanni Curatola, I tappeti, Venezia e l’Oriente, in: Arabeschi. Tappeti classici d’Oriente dal XVI al XIX secolo, hg. von dems., Venedig 1991, S. 15–27. Die Teppiche der Gesandtschaften von 1603 und 1622 werden aufbewahrt in Venezia, Museo di San Marco, inv. n. 22–26. Ein weiteres Fragment befindet sich im Museo Correr di Venezia, inv. n. Cl. XXII, n. 37. Ebenso ist in der Sekundärliteratur der Hinweis auf die Bestände des Museo di Palazzo Mocenigo zu finden. Maria P. Pedani, Oltre la retorica. Il pragmatismo veneziano di fronte all’Islam, in: L’Islam visto da occidente. Cultura e religione del Seicento europeo di fronte all’Islam, hg. von Bernard Heyberger u.a., Genua u.a. 2009, S. 171–185, hier S. 175. Vgl. hierzu

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Schatz der Markusbasilika bringen. Einer sollte fortan auf den Hocker gelegt werden, auf dem sich der Doge zu besonders festlichen, religiösen Anlässen niederkniete. Schah ʿAbbas I. ließ der Republik auch Mäntel überreichen, die der Senat in Messgewänder umarbeitete.223 Die Signoria ließ wiederum der persischen Gesandtschaft anlässlich ihrer Audienz einen besonderen Teppich im Wartesaal ausrollen, und der Senat brachte ihr wertvolle Geschenke dar, insbesondere Waffen und Roben, die für den Schah, Fathi Bey und die anderen Gesandten vorgesehen waren.224 Kurz darauf beauftragten die Senatoren auch Caliari, die Audienz der persischen Gesandtschaft im Collegio zu malen.225 Das Gemälde wurde im Dogenpalast in der Sala delle Quattro Porte angebracht, wo sämtliche Botschafter zu warten hatten, bevor sie das Collegio betraten.226 Venedig beabsichtigte also, dass die osmanischen Gesandten fortan in den Momenten unmittelbar vor der Audienz ein Gemälde sahen, das die diplomatischen Kontakte der Lagunenstadt mit dem Safawidenreich betonte. Da zwischen den Osmanen und den Safawiden regelmäßig kriegerische Auseinandersetzungen ausbrachen, kann die bewusste Entscheidung Venedigs für ein solches Gemälde als Möglichkeit verstanden werden, mithilfe einer Darstellung der durch kostbare Geschenke versinnbildlichten positiven Beziehungen zwischen der Signoria und dem Schah direkten Einfluss auf die Gestaltung des zeremoniellen Empfangs von Osmanen zu nehmen.227 Für zukünftige Forschungen sollte es sich deshalb lohnen, das venezianisch-osmanische Audienzzeremoniell auch in einem weiteren Kontext der diplomatischen Beziehungen Venedigs zu den Safawiden, mit Damassowie im Folgenden Rota, Safavid Envoys (wie Anm. 64), S. 227–231; Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia (wie Anm. 221), S. 44–47; Giovanni Curatola, A Sixteenth-Century Quarrel about Carpets, in: Muqarnas 21 (2004), S. 129–137. 223 Cigogna, Delle inscrizioni veneziane, Bd. 5 (wie Anm. 220), S. 644–647; Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia (wie Anm. 221), S. 44–47; Rota, Safavid Envoys (wie Anm. 64), S. 228. 224 Rota, Safavid Envoys (wie Anm. 64), S. 227f. 225 Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia (wie Anm. 221), S. 47; Cigogna, Delle inscrizioni veneziane, Bd. 5 (wie Anm. 220), S. 644–647. 226 Vgl. hierzu sowie im Folgenden Berchet, La Repubblica di Venezia e la Persia (wie Anm. 221), S. 44–47; Pedani, Oltre la retorica (wie Anm. 222), S. 174f.; Rota, Safavid Envoys (wie Anm. 64), S. 229ff. 227 Zu safawidisch-osmanischen Auseinandersetzungen vgl. Gábor Ágoston, Iran (Islamic Republic of Iran, Persia), in: ders./Masters, Encyclopedia of the Ottoman Empire (wie Anm. 32), S. 278–282; Faroqhi, Geschichte (wie Anm. 219), S. 37f., 64f.

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kus, Kairo, Alexandria und Fès, aber auch mit den Habsburgern, Rom, Spanien, England, Frankreich, den Niederlanden und weiteren Herrschaften der italienischen Halbinsel zu thematisieren.228

228 Vgl. u.a. Pedani, In nome del Gran Signore (wie Anm. 43); dies., Venezia e il Maghreb (wie Anm. 32); dies., Venetian Consuls in Egypt and Syria (wie Anm. 41); Dursteler, The Bailo (wie Anm. 30); John Wansbrough, A Mamluk Ambassador to Venice in 913/1507, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies 26 (1963), S. 503–530; Fortini Brown, Measured Friendship (wie Anm. 66); Natalie Z. Davis, Trickster Travels. A Sixteenth-Century Muslim Between Worlds, London 2008, S. 60f., 73, 107, 249; Christ: Trading Conflicts (wie Anm. 41).

Der Marquis, das Sofa und der Großwesir Zu Funktion und Medialität interkultureller diplomatischer Zeremonien in der Frühen Neuzeit Christine Vogel

Die Sofa-Affäre: Frankreich und das Osmanische Reich im Mai 1677 Nachdem Kara Mustafa Pascha im November 1676 zum Großwesir des Osmanischen Reichs ernannt worden war, hatte er zunächst einmal Besseres zu tun, als die Glückwünsche der christlichen Mächte entgegenzunehmen. Konflikte zwischen Kosaken und Krimtartaren um die Vorherrschaft in der Ukraine führten zum Ausbruch des Krieges gegen das Russische Zarenreich, während zeitgleich Abgesandte aus Ungarn und Siebenbürgen an der Hohen Pforte um Unterstützung für den Partisanenkrieg der Kuruzen warben. Die westeuropäischen Diplomaten in Istanbul mussten sich jedenfalls rund sechs Monate gedulden, bevor der französische Botschafter Charles de Nointel am 2. Mai 1677 endlich als Erster von ihnen eingeladen wurde, dem neuen Großwesir im Rahmen einer öffentlichen Audienz seine Aufwartung zu machen.1 Nointel war zu diesem Zeitpunkt mit dem osmanischen Hofzeremoniell und seinen Tücken bereits bestens vertraut. Schon seit 1670 amtierte er im Osmanischen Reich, und den eigentlichen Zweck seiner Mission hatte er längst zur Zufriedenheit seiner Auftraggeber in Versailles erledigt: 1673 hatte er eine Erneuerung der Kapitulationen durch Sultan Mehmed IV. ausgehandelt.2 Die bisweilen unzutreffend als „Bündnisse“ charakterisierten Kapitulationen (ahdname) waren aus osmanischer Sicht Gnadenerweise des Sultans, die den rechtlichen Status der Untertanen christlicher Mächte regelten, die sich für längere Zeit im 1 Nointel an Ludwig XIV., 5.5.1677 [im Folgenden zitiert als: Nointel, Audienzbericht], La Courneuve, Archives du ministère des affaires étrangères [im Folgenden: MAE], Correspondance politique [im Folgenden: CP], Turquie 13, fol. 193r–194v. 2 Zu Nointel und seiner Mission vgl. Albert Vandal, L’Odyssée d’un ambassadeur. Les voyages du marquis de Nointel (1670–1680), Paris 1900.

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Osmanischen Reich aufhielten – in der Regel, weil sie dort Handel trieben.3 Im hanafitischen Rechtskontext handelte es sich um einseitig gewährte Privilegien für eine bestimmte christliche „Nation“4 als Voraussetzung für deren Duldung im Reich eines islamischen Herrschers. Auf Seiten der Franzosen hingegen wurden die Kapitulationen in Analogie zum entstehenden europäischen Völkerrecht wie Abkommen zwischen gleichberechtigten Souveränen behandelt.5 Zu Beginn der 1670er Jahre stand es mit dem osmanisch-französischen Verhältnis allerdings nicht zum Besten: Die Franzosen hatten im Kampf gegen die Piraterie der Barbareskenstaaten mehrfach Tunis attackiert, waren 1664 mit einem Truppenkontingent von 6000 Mann unter dem kaiserlichen Oberbefehlshaber Raimondo Montecuccoli an der Schlacht bei Mogersdorf beteiligt gewesen und hatten unter venezianischer und päpstlicher Flagge bis 1669 einen nicht unerheblichen Beitrag zur (freilich erfolglosen) Verteidigung von Candia (Kreta) geleistet.6 Dennoch war es Nointel in jahrelangen schwierigen 3 Zu den Kapitulationen allgemein vgl. Halil Inalcık, Imtiyāzāt (Capitulations) II. Empire Ottoman, in: Encyclopédie de l’Islam, III, 1208–1219; Edhem Eldem, Capitulations and Western Trade, in: The Cambridge History of Turkey, Bd. 3: The Later Ottoman Empire, 1603–1839, hg. von Suraiya Faroqhi, Cambridge u.a. 2006, S. 283–335; Wolfgang Kaiser, Politik und Geschäft: Beziehungen zwischen Muslimen und Christen, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hg. von Hillard von Thiessen/Christian Windler, Köln u.a. 2010, S. 295–317, insbes. S. 298–307; zu den französischen Kapitulationen im Einzelnen: Géraud Poumarède, Négocier près la Sublime Porte. Jalons pour une nouvelle histoire des capitulations franco-ottomanes, in: L’invention de la diplomatie. Moyen Age – Temps modernes, hg. von Lucien Bély/Isabelle Richefort, Paris 1998, S. 71–85. 4 Zu diesem Begriff vgl. Kaiser, Politik (wie Anm. 3); Niels Steensgaard, Consuls and Nations in the Levant from 1570 to 1650, in: Scandinavian Economic History Review 15 (1967), S. 13–55. 5 Dies zeigt u.a. der Titel der offiziösen französischen Druckfassung LES CAPITVLATIONS ENTRE L’EMPEREVR DE FRANCE, ET MEHEMET QVATRIEME EMPEREVR DES TVRCS, renouvellées le 5 Iuin 1673. Par les soins de Monsieur LE MARQVIS DE NOINTEL, Ambassadeur pour Sa Majesté Tres-Chrestienne à la Porte Othomane, Marseille 1675. Zu den sprachlichen und den darauf basierenden rechtlichen Mehrdeutigkeiten in den osmanisch-europäischen Beziehungen s. auch Dennis Dierks, Übersetzungsleistungen und kommunikative Funktion osmanisch-europäischer Friedensverträge im 17. und 18. Jahrhundert, in: Frieden durch Sprache? Studien zum kommunikativen Umgang mit Konflikten und Konfliktlösungen, hg. von Martin Espenhorst, Göttingen 2012, S. 133–174. 6 Vgl. Faruk Bilici, Les relations franco-ottomanes au XVIIe siècle. Réalisme politique et idéologie de croisade, in: Turcs et turqueries (XVIe–XVIIIe siècles), Paris 2009, S. 37–61, hier S. 48–55.

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Verhandlungen gelungen, einige neue und für die Franzosen vorteilhafte Regelungen in die Kapitulationen von 1673 einzubringen.7 Obwohl er nicht alle Forderungen der Franzosen durchsetzen konnte, wurde die Erneuerung der Kapitulationen in Frankreich als Erfolg gefeiert, der sowohl den Ruhm des Sonnenkönigs mehrte als auch die Reputation seines Botschafters begründete.8 Die französisch-osmanischen Beziehungen begannen sich somit seit Mitte der 1670er Jahre wieder zu entspannen, so dass die Antrittsaudienz beim neuen Großwesir im Mai 1677 im Grunde als reine Formalität gelten konnte. Zugleich war sie für alle europäischen Mächte vor Ort aber auch eine Gelegenheit, den eigenen Ranganspruch im Osmanischen Reich performativ zu untermauern. Dieser Ranganspruch war eine komplexe, mehrdimensionale Angelegenheit: Im Verhältnis zu den Osmanen war den Franzosen daran gelegen, wo immer dies möglich war, die Gleichrangigkeit des Sonnenkönigs mit dem Sultan symbolisch zum Ausdruck zu bringen – angesichts des imperialen Herrschaftsverständnisses des Sultans und der entsprechenden zeremoniellen Symbolsprache9 ein im Grunde aussichtsloses Unterfangen, an dem es nichtsdestotrotz festzuhalten galt. Im Verhältnis zu den übrigen westeuropäischen Mächten ging es den Franzosen um die Durchsetzung bzw. Aufrechterhaltung des französischen Präzedenzanspruchs, was schon mehr Aussicht auf Erfolg hatte. Traditionell beanspruchte der französische Botschafter unter den europäischen Vertretern in Istanbul den ersten Rang, und in allen Instruktionen für seine Botschafter betonte Ludwig XIV. die Notwendigkeit, diesen Vorrang vor allem gegenüber den Engländern und den Niederländern, wenn möglich und nötig sogar gegenüber den Abgesandten des Kaisers, zu behaupten.10 Die Zeremonie beim Großwesir musste also genutzt werden, um diese komplexen Repräsentationsaufgaben zu erfüllen und die Rangansprüche Ludwigs XIV. auf den ver-

7 Poumarède, Négocier (wie Anm. 3), S. 78–81. 8 Vandal, LʼOdyssée (wie Anm. 2), S. 77–112. 9 Zum osmanischen Hofzeremoniell siehe Konrad Dilger, Untersuchungen zur Geschichte des osmanischen Hofzeremoniells im 15. und 16. Jahrhundert, München 1967; Gülru Necipoğlu, Architecture, Ceremonial, and Power. The Topkapı Palace in the Fifteenth and Seventeenth Centuries, Cambridge, Mass. u.a. 1991; Hakan Karateke, An Ottoman Protocol Register: Containing Ceremonies from 1736 to 1808; BEO Sadaret defterleri 350 in the Prime Ministry Ottoman State Archives, Istanbul 2007. 10 Vgl. Pierre Duparc, Recueil des instructions données aux ambassadeurs et ministres de France depuis les traités de Westphalie jusqu’à la Révolution française, Bd. 29: Turquie, Paris 1969, S. 21f., 65, 96f., 117, 173f., 201f.

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schiedenen Ebenen zu kommunizieren. Diese Aufgabe sollte sich im Frühjahr 1677 allerdings schwieriger als erwartet gestalten. Am Morgen des 2. Mai machte sich Nointel mit seinem Gefolge auf den Weg zum Palast des Großwesirs, „avec la pompe ordinaire“, wie der Botschafter in seinem Bericht an den König wenige Tage darauf kurz vermerkte.11 Aus anderen Berichten wissen wir, dass dieses „übliche Gepränge“ durchaus ein Gefolge von mehreren hundert Personen umfassen konnte, die, teils zu Pferd und allesamt prächtig ausstaffiert, dem Botschafter eine repräsentative Prozession von seiner Residenz bis zum Ort des Geschehens verschafften.12 Doch schon kurz nach der Ankunft im Palast begann der Ärger. Zunächst einmal ließ man Nointel in einem Nebenzimmer warten. Das war an sich nicht ungewöhnlich, man hatte ohnehin seit langem gelernt, die Dauer der Wartezeit vor Beginn der eigentlichen Audienz als Gradmesser für die Ehrerweisung der Osmanen gegen den Gast zu lesen. Eine halbe Stunde etwa war durchaus üblich und konnte auch ohne größeren Gesichtsverlust akzeptiert werden. Alles, was darunter lag, wurde in der Regel bereits als außergewöhnliche Ehrerweisung verbucht. An diesem Tag allerdings ließ man Nointel ungebührlich lange warten, einem Bericht zufolge gar mehr als vier Stunden.13 Das hätte ihm an sich gar nicht so viel ausgemacht, beteuerte Nointel, wäre es nicht in der Folge zu einer noch übleren Behandlung gekommen.14 Um nämlich zum Audienzsaal selbst zu gelangen, der ein Stockwerk höher gelegen war, musste der Botschafter sich unter Einsatz seiner Ellenbogen den Weg durch eine Menschenmenge bahnen, die ihn weder zu kennen noch überhaupt zu beachten schien.15 Nachdem er sich solcherart endlich bis zum Audienzsaal durchgekämpft hatte, musste der Franzose zu seinem Schrecken feststellen, dass der ihm zugedachte Sitzplatz, ein einfacher Hocker, unterhalb des sogenannten Sofas, eines erhöhten Podests, auf dem der Großwesir Platz nehmen würde, aufgestellt war. „Ich schloss daraus,“ schrieb Nointel in seinem Bericht an den König, „dass man mich zwingen würde, in

11 Nointel, Audienzbericht (wie Anm. 1), fol. 193r. 12 Vgl. z.B. MAE CP Turquie 10, fol. 236r, Bericht Nointels über seine Audienz beim Großwesir am 6.6.1673; Bibliothèque nationale de France, MS FR 7163, fol. 291r–v, Pierre de Girardin, Journal de mon ambassade à la Porte, Bericht über seine Audienz beim Großwesir am 9.3.1686; MAE CP Turquie 33, fol. 64r–v, Charles de Ferriol an Ludwig XIV., 8.1.1700, über seine Audienz beim Sultan. 13 Mercure hollandois… de l’an 1677, Amsterdam 1679, S. 154. 14 Nointel, Audienzbericht (wie Anm. 1), fol. 193v. 15 Ebd.

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einer derart ungleichen und unüblichen Situation zu ihm zu sprechen, dass ich glaubte diesen neuen Affront verhindern zu müssen […].“16 Wie Nointel mit dieser Situation umging, lässt sich ganz genau nicht mehr rekonstruieren, denn es liegen hierzu – bezeichnenderweise – widersprüchliche Berichte vor. Er selbst jedenfalls schilderte seinen Vorgesetzten das Geschehen wie folgt: „Kaum dass ich in den Saal getreten war, stieg ich auf das Sofa und nahm den für mich vorgesehenen Sitzhocker aus den Händen dreier Männer, die ihn festhielten. Sie überließen ihn mir demütigst und hoch erstaunt angesichts der berechtigten Empörung, die sich auf meinem Antlitz zeigte, wiewohl ich vollkommen Herr meiner selbst war. Zugleich kam man, um mich zu bitten, wieder herabzusteigen. […] Ich antwortete mit fester und ziemlich lauter Stimme, so dass ich auch vom Wesir [nebenan] gehört werden konnte, dass ich meinen Platz wohl kennte und lieber mein Leben ließe als auf ihn zu verzichten. Und sollte der Wesir mir meinen Platz weiterhin streitig machen, so würde ich mich ohne Audienz zurückziehen. […] Als schließlich Mauro Cordato [=Alexander Mavrocordatos, Erster Pfortendolmetscher17] sprach: ‚Der Großwesir befiehlt, dass der Sitz auf den Boden gestellt wird‘, da antwortete ich: ‚Dieser Herr mag wohl dem Sitz Befehle erteilen, das stelle ich ihm anheim, nicht aber mir. Ich werde mich in meinen Palast zurückziehen.‘ Und im selben Augenblick ging ich stolz fort, sehr zum Erstaunen der Türken und zur Freude der Franzosen wie auch insbesondere zweier oder dreier Holländer, die mich begleitet hatten und von denen einer Zeuge des gesamten Vorfalls war. Ich kehrte dann in schöner Ordnung nach Hause zurück.“18 16 Nointel, Audienzbericht (wie Anm. 1), fol. 193v: „j’entray […] dans le lieu destiné a me recevoir, un tabouret m’y estant presenté au bas de l’estrade, qui me donna a juger, que celuy du Visir lorsqu’il arriveroit se mettant sur son extremité, on me reduiroit a luy parler dans une situation si inesgalle, et qui est contre l’usage, je crus devoir prevenir ce nouvel affront […].“ 17 Zu Alexander Mavrocordatos und seinem Amt als erster Pfortendolmetscher vgl. Nestor Camariano, Alexandre Mavrocordato, le grand drogman. Son activité diplomatique 1673–1709, Thessaloniki 1970. 18 Nointel, Audienzbericht (wie Anm. 1), fol. 193v–194r: „tout aussi tost que je fusse dans cette chambre, je montay sur le sofa, je pris le tabouret qui m’estoit preparé des mains des trois homes qui le tenoient, ils me le quitterent fort humblemt & estonnez de la juste indignation, qui ne laissoit pas quoy que je fusse entierement maistre de moy mesme de paroistre sur mon visage. On vint en mesme temps me prier de descendre affin de me tenir en bas […] je respondois d’un ton de voix ferme, et assez eslevé a estre entendu du Visir mesme, que je sçavois ma place, que plustost de la quitter je perdrois la vie, et que si le Visir persistoit a me la disputer je me retirerois sans aud.ce […] Enfin quand Mauro Cordato eut prononcé: Il supremo Visiro commenda, che la sedia si meej da basso; Je repliquay puol questo

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Dieser Vorfall ist als „Sofa-Affäre“ in die Diplomatiegeschichte eingegangen, wo er vor allem im Hinblick auf seine Bedeutung für die französisch-osmanischen Beziehungen und die Ehre des Sonnenkönigs untersucht worden ist.19 Vor dem Hintergrund dessen, was wir inzwischen über symbolische Kommunikationsakte in der Vormoderne wissen, scheint auf den ersten Blick auch vollkommen klar zu sein, was sich hier abgespielt hat: Der Großwesir hat versucht, durch einen Überraschungscoup eine zeremonielle Neuerung durchzusetzen, die eine deutliche Rangerniedrigung der Franzosen impliziert hätte; Nointel weist diesen neuen Geltungsanspruch der Osmanen zurück, indem er seine Mitwirkung an der Zeremonie demonstrativ verweigert und sich unter deutlichen Gesten des Missfallens zurückzieht. So bleibt der osmanisch-französische Konflikt um Rang- und Machtanspruch symbolisch in der Schwebe und beide Parteien können vorerst ihr Gesicht wahren.20 Damit wäre auch dieser Fall lediglich ein weiteres Beispiel dafür, dass politische Zeremonien wie beispielsweise Audienzen „alleine und ausschließlich der Repräsentation des wechselseitigen Verhältnisses“ der beteiligten Mächte dienten.21 Die primäre Funktion signore Commendar alla sedia, che la li lascio libera, mà non à mj, che mi reitiro nel mio Palazzo, Et en mesme temps je passay fierement a l’estonnement des Turcs et a la joye des François, et particulierement de deux ou trois hollandois qui m’avoient accompagné, dont l’un a été tesmoing de tout, et je suis retourné chez moy en trés bel ordre.“ 19 Géraud Poumarède, La querelle du sofa. Etude sur les rapports entre gloire et diplomatie, in: Histoire, économie & société 20 (2001), S. 185–197; Vandal, L’Odyssée (wie Anm. 2), S. 219–231; Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte des Osmanischen Reiches, Bd. 6, Graz 1963 [Nachdruck der Ausg. Pest 1830], S. 338f. 20 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung 27 (2000), S. 389–405; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 489–527; dies., Knien vor Gott – Knien vor dem Kaiser. Zum Ritualwandel im Konfessionskonflikt, in: Zeichen – Rituale – Werte. Internationales Kolloquium des Sonderforschungsbereichs 496 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, hg. von Gerd Althoff, Münster 2004, S. 501–533; dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008; sowie Spektakel der Macht. Rituale im Alten Europa 800 –1800. Katalog zur Ausstellung vom 21. 09. 2008 bis zum 05. 01. 2009 im Kulturhistorischen Museum Magdeburg, hg. von ders./Matthias Puhle/Jutta Götzmann/Gerd Althoff, Darmstadt 2008. 21 Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in:

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interkultureller diplomatischer Zeremonien wäre dann ebenso wie im Falle innereuropäischer Begegnungen diejenige des symbolischen Aushandelns von Rangverhältnissen der beteiligten Mächte. Dabei bleibt allerdings die Frage ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen frühneuzeitliche politische Zeremonien in interkulturellen Kontexten eigentlich funktionieren konnten und welche Bedeutung die beteiligten Mächte ihnen tatsächlich zumaßen. Das diplomatische Zeremoniell, so haben wir am Beispiel der europäischen Fürstengesellschaft gelernt, ist ein „theatrales Präsenzmedium“, durch das Machtverhältnisse und Statusansprüche in räumliche und zeitliche Verhältnisse übersetzt und so für alle Beteiligten sinnlich wahrnehmbar gemacht werden.22 Als Kommunikation unter Anwesenden stellt es diese Machtverhältnisse nicht nur dar, sondern bringt sie performativ hervor, wobei die Anwesenden durch ihr Interaktionsverhalten im Vollzug der Zeremonie die repräsentierten Machtverhältnisse und Geltungsansprüche symbolisch anerkennen oder auch zurückweisen konnten. Innerhalb Europas bedienten sich die Akteure dabei einer elaborierten Zeichensprache, eines zeremoniellen Codes, der sich seit dem Spätmittelalter nach und nach herausgebildet hatte und in der europäischen Adelsgesellschaft als „Medium mit eindeutigen Signalen“ funktionierte.23 Auch wenn manche basalen Elemente dieses Codes, wie zum Beispiel der Kniefall, grundsätzlich transkulturell verständlich gewesen sein mochten, basierte die zeremonielle Semantik letztlich auf kulturellen Konventionen: Ob es ehrenhafter ist, zur Rechten oder zur Linken zu gehen, die Kopfbedeckung abzunehmen oder sie zu behalten, zu sitzen oder zu stehen, mit beiden Beinen zu knien oder nur mit einem – all das ist Definitionssache und damit kulturell variabel. Auch die besondere Repräsentationsfunktion des Botschafters, die ihn zum Zeichen der Souveränität seines Auftraggebers machte, war eine europäiForschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte N.F. 7 (1997), S. 145–176, hier S.155. 22 Zum Zeremoniell als theatralem Präsenzmedium vgl. Volker Bauer, Höfische Gesellschaft und höfische Öffentlichkeit im Alten Reich. Überlegungen zur Mediengeschichte des Fürstenhofs im 17. und 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 5 (2003), S. 29–68; zum diplomatischen Zeremoniell in der Frühen Neuzeit allgemein siehe William Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial: A System Approach, in: Journal of Modern History 52 (1980), S. 452–476; André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der Frühen Neuzeit, hg. von Ralf Kauz/Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 1–32. 23 Krischer, Souveränität (wie Anm. 22), S. 8.

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sche Erfindung.24 Damit umschrieben die Grenzen der europäischen Fürstengesellschaft in der Frühen Neuzeit auch die Reichweite jenes zeremoniellen Codes, der innerhalb dieses Sozialverbundes galt. Was aber passierte, wenn diese kulturellen Grenzen in der symbolischen Kommunikation überschritten wurden? Worin genau unterschieden sich interkulturelle diplomatische Zeremonien von dem, was sich innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft abspielte? Wie ging ein westeuropäischer Botschafter damit um, dass die Osmanen seinen (innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft etablierten) Status als Abgesandten eines souveränen Fürsten ignorierten? Die Sofa-Affäre soll im Folgenden im Hinblick auf diese Fragen untersucht werden: Was kann sie uns über das Funktionieren symbolischer Kommunikationsakte in interkulturellen Kontexten sagen? Wie gestalteten sich interkulturelle politische Zeremonien und welche Kommunikationsleistung konnten sie erbringen? Zur Debatte steht somit die grundsätzliche Frage nach der Funktion und der Medialität interkultureller diplomatischer Zeremonien in der Frühen Neuzeit.

Die Öffentlichkeit interkultureller politischer Rituale in der frühen Neuzeit Anders als bei einmaligen, anlassbezogenen Gesandtschaften zu außereuropäischen Herrschern waren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Begegnungsrituale auf der politischen Ebene des westeuropäisch-osmanischen Kulturkontakts bekannt und einigermaßen eingespielt. Es hatte sich ein recht konstantes diplomatisches Zeremoniell etabliert, das bereits vor der eigentlichen Ankunft in der Hauptstadt Istanbul (oder der Residenzstadt Edirne) einsetzte,25 dann üblicherweise einen feierlichen Einzug in die Stadt vorsah 24 So z.B. definiert bei Abraham de Wicquefort, L’Ambassadeur et ses fonctions, Bd. 1, Köln 1690, S. 3, vgl. hierzu auch Krischer, Souveränität (wie Anm. 22). 25 Beim Austausch von Großbotschaftern, etwa im Kontakt zwischen Osmanen und Habsburgern, fand ein erstes wichtiges Begegnungsritual im Moment der Grenzüberschreitung der beiden Botschafter statt, vgl. Ernst D. Petritsch, Zeremoniell bei Empfängen habsburgischer Gesandtschaften in Konstantinopel, in: Diplomatisches Zeremoniell (wie Anm. 22), S. 301–322. Bei den ständig residierenden französischen, englischen und niederländischen Botschaftern, die auf dem Seeweg in Istanbul eintrafen, markierte die Passage der Dardanellenfestungen den Beginn der eigentlichen ritualisierten Ankunft, vgl. hierzu Christine Vogel, Gut ankommen. Der Amtsantritt eines französischen Botschafters im Osmani-

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und schließlich in einer Reihe von Antrittsaudienzen – gegebenenfalls beim Kaymakam, beim Kapudan Pascha und beim Mufti, auf jeden Fall beim Großwesir und beim Sultan – gipfelte, die jeweils mit mehr oder weniger eindrucksvollen Geschenkübergaben einhergingen. Im groben Ablauf war all dies geregelt, im Detail konnte indes vieles variieren und verhandelt werden – wie zum Beispiel die Position der Sitzgelegenheit für den Botschafter während der Audienz beim Großwesir. Die für diese Verhandlungen und Detailverschiebungen geltenden Spielregeln konnten je nach politischer Konjunktur variieren und sich von dem, was innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft üblich war, durchaus substantiell unterscheiden. Alle beteiligten Akteure, die osmanischen ebenso wie die westeuropäischen, mussten sie deshalb bei ihrer Amtsübernahme jeweils wieder neu erlernen bzw. miteinander aushandeln, wobei die persönliche Ehre der direkt Beteiligten ebenso wie jene der von diesen repräsentierten Herrscher entscheidende Ressourcen darstellten. Auch wenn also je nach politischem Kontext unterschiedliche Auffassungen darüber herrschten, wie die Zeremonien im Einzelnen ablaufen sollten und wie deren verschiedene Elemente genau zu deuten waren, so war doch eines allen Beteiligten klar: Die öffentliche diplomatische Zeremonie, insbesondere die Audienz, war der Ort und der Zeitpunkt, an dem Ehre gewonnen werden und Ansehen verloren gehen konnten. In einem nämlich glichen sich Osmanen und Westeuropäer vollkommen: Es handelte sich in beiden Fällen um vormoderne Präsenzgesellschaften, in denen politische und soziale Sinnbildung primär durch symbolische Kommunikationsakte unter Anwesenden erfolgte.26 Nun befanden sich im Audienzsaal des Großwesirs am 2. Mai 1677, dem Tag der Sofa-Affäre, zahlreiche osmanische Würdenträger (allerdings nicht der Großwesir), einige Bedienstete und Dolmetscher, der Botschafter selbst sowie mehrere Personen aus seinem Gefolge, darunter, wie Nointel in seinem Bericht betonte, mindestens ein Niederländer. Man darf deshalb wohl getrost davon ausgehen, dass die eigentlichen Adressaten dieses Kommunikationsakts mit den im Raum anwesenden Personen nicht oder nur sehr partiell identisch waren. Dies gilt selbst dann, wenn man einen erweiterten Personenkreis zu den Anwesenden zählt: Personen, die in angrenzenden Räumen des Palastes die Vorfälle schen Reich im späten 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 21 (2013) (Themenheft „Diplomatiegeschichte“, hg. von Peter Burschel/Birthe Kundrus), S. 158–178. 26 Grundsätzlich hier Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformationen in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224.

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indirekt miterlebten; Beobachter, die während der Prozession des Botschafters durch die Stadt die Straßen säumten, darunter zweifellos auch zahlreiche Westeuropäer – Botschaftspersonal, Kaufleute, Reisende. Was bedeutet das für die Funktion und die Medialität dieser interkulturellen diplomatischen Zeremonie? Zunächst einmal ist die Tatsache, dass Anwesende und Adressaten eines solchen symbolischen Kommunikationsakts „unter Anwesenden“ de facto gar nicht identisch waren, kein spezifisches Problem interkultureller Zeremonien, sondern lässt sich genauso für die Zeremonialkultur innerhalb Europas konstatieren. Volker Bauer hat bereits vor knapp zehn Jahren auf das „grundsätzliche mediale Dilemma“ der höfischen Gesellschaft hingewiesen. Es bestand darin, dass im Zeremoniell der Fürstenhöfe zwar die Positionierung der beteiligten Akteure in der europäischen Fürstengesellschaft auf dem Spiel stand, das relevante Zielpublikum dieser Akte, eben die europäische Fürstengesellschaft, aber dezentral und multipolar organisiert war und, anders als beispielsweise die Reichsstände auf dem Reichstag, niemals wirklich zusammenkam.27 Es geht also um das, was Bauer treffend als „Aporie höfischer Öffentlichkeit zwischen Präsenz- und Druckmedien“ bezeichnet hat. „Denn“, so schreibt Bauer, die „Herrschaftsrepräsentation [der höfischen Gesellschaft] beruhte einerseits auf dem Einsatz theatraler Präsenzmedien, die sich nur an physisch anwesende Adressaten richten konnten, jedoch andererseits in ein Druckmedium überführt werden mussten, um der europaweiten Dezentralität der höfischen Welt zwischen Lissabon und St. Petersburg gerecht zu werden.“28 Vor kurzem griff Bauer diese Problematik wieder auf und führte den Begriff der „Distanzmedialität erster Ordnung“ ein.29 Gemeint ist damit die frühneuzeitliche Hofpublizistik, deren Aufgabe es war, „präsenzmediale Interaktion in den distanzmedialen Druck“30 zu überführen. Die meist aufwendig gestalteten und in fürstlichem Auftrag produzierten Fest- und Zeremonialbeschreibungen 27 Bauer, Höfische Gesellschaft (wie Anm. 22), S. 30, 44. Vgl. auch ders., Nachrichtenmedien und höfische Gesellschaft. Zum Verhältnis von Mediensystem und höfischer Öffentlichkeit im Alten Reich, in: Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750), hg. von Johannes Arndt/Esther-Beate Körber, Göttingen 2010, S. 173–194. 28 Bauer, Höfische Gesellschaft (wie Anm. 22), S. 30. 29 Bauer, Strukturwandel der höfischen Öffentlichkeit. Zur Medialisierung des Hoflebens vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 38 (2011), S. 585–620. 30 Ebd., S. 597; vgl. auch Thomas Rahn, Festbeschreibung. Funktion und Topik einer Textsorte am Beispiel der Beschreibung höfischer Hochzeiten (1568–1794), Tübingen 2006.

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reproduzierten „quasi maßstabsgetreu die Rangverhältnisse der betreffenden Hofgesellschaft“ durch bestimmte Darstellungskonventionen, durch „ein an das Kanzleizeremoniell angelehntes typographisches Dekorum“ und durch die meist aufwendige und kostspielige Ausstattung mit Kupferstichen.31 Sie dienten, wie es andernorts auch heißt, zur „nachträglichen Sicherung der intendierten Bedeutung des Zeremoniells“32 und funktionierten damit als „affirmative Verstärkermedien“.33 Kurz: Die Hofpublizistik zielte darauf, die zeitliche und räumliche Beschränkung des Präsenzmediums Zeremoniell zu überwinden.34 Und da sie selbst, genau wie die repräsentierten höfischen Interaktionen, durch äußerste Großzügigkeit und ostentative Verschwendung gekennzeichnet waren, entsprachen sie eben dadurch der „ständische[n] Exklusivität der höfischen Gesellschaft“.35 Indem also die Hofpublizistik den „Bruch zwischen Präsenzund Distanzmedialität“ einigermaßen erfolgreich verschleierte, ermöglichte sie die Herausbildung einer europaweiten höfischen Öffentlichkeit, die die präsentische, okkasionelle und kontingente Öffentlichkeit der Einzelhöfe transzendierte.36 Und genau hier liegt denn auch der entscheidende Unterschied, wenn nach der Medialität interkultureller diplomatischer Zeremonien gefragt wird. Es gab nämlich – bis auf einige sehr wenige, individuelle Ausnahmen37 – schlicht und ergreifend keine Schnittmenge zwischen der europäischen Adelsgesellschaft und der osmanischen Herrschaftselite. Mithin gab es auch keinen gemeinsamen Kommunikationsraum, keine „transkulturelle Öffentlichkeit“, die die osmanische Oberschicht in nennenswertem Umfang mit der europäischen verbunden hätte und in die hinein eine durch Verschriftlichung oder Druck räumlich und 31 Bauer, Strukturwandel (wie Anm. 29), S. 597. 32 Thomas Rahn, Sinnbild und Sinnlichkeit. Probleme der zeremoniellen Zeichenstrategie und ihre Bewältigung in der Festpublizistik, in: Zeichen und Raum. Ausstattung und höfisches Zeremoniell in den deutschen Schlössern der Frühen Neuzeit, hg. vom Rudolstädter Arbeitskreis zur Residenzkultur, München 2006, S. 39–48, hier S. 46. 33 Miloš Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat: Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt a.M. 1998, S. 227–230, 234–235; Bauer, Höfische Gesellschaft (wie Anm. 22), S. 46. 34 Bauer, Höfische Gesellschaft (wie Anm. 22), S. 46. 35 Ebd. 36 Bauer, Strukturwandel (wie Anm. 29), S. 598 u. 613. 37 Die griechischen Pfortendolmetscher hatten zum Teil ihre Ausbildung in Italien genossen und nahmen partiell an der europäischen Gelehrtenrepublik teil, so z.B. der erste Pfortendolmetscher Alexander Mavrocordatos, vgl. Camariano, Alexandre Mavrocordato (wie Anm. 17).

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zeitlich entgrenzte symbolische Interaktion hätte wirken können. Die Publizität der Audienz-Zeremonie war zwar auch an der Hohen Pforte gegeben, denn es waren, wie gezeigt, zumindest bei Teilen der Zeremonie bis zu mehreren tausend Menschen anwesend, darunter häufig hunderte Europäer. Dennoch fehlte ein gemeinsamer, transkultureller Kommunikationsraum und damit die soziale Basis für eine geteilte politisch-soziale Sinnbildung. So blieben die in den osmanisch-lateineuropäischen Begegnungszeremonien symbolisch ausgedrückten Geltungsansprüche de facto folgenlos und unverbindlich. Oder anders ausgedrückt: Auch wenn die Europäer während der Audienz beim Sultan dessen Rocksaum küssten und dabei einen Ehrenkaftan trugen, der sie im Symbolverständnis der Osmanen zu Vasallen machte38, bedeutete das nicht, dass sie den damit verbundenen imperialen Geltungsanspruch des Sultans auch anerkannten. Da die symbolische Interaktion außerhalb der eigenen politisch-sozialen Sphäre stattfand, konnte sie ihren sozialen Sinn nicht unmittelbar entfalten; sie musste erst für die eigenen Adressatenkreise übersetzt werden. Das diplomatische Zeremoniell am Sultanshof konnte daher eine performative Wirkung im Sinne von Anwesenheitskommunikation zwar im Hinblick auf die Herrschaftsrepräsentation des Sultans nach innen entfalten, nicht aber im Hinblick auf die Frage nach dem Machtverhältnis oder der Rangordnung zwischen dem Sultan und den europäischen Mächten. Denn dazu hätte es, wie im Fall der europäischen höfischen Öffentlichkeit, eines gemeinsamen Bezugsrahmens und einer geteilten Öffentlichkeit gebraucht. Deshalb standen die konkurrierenden osmanischen und lateineuropäischen Deutungen und Sichtweisen des Geschehens unverbunden nebeneinander und mussten nicht, wie innerhalb der höfischen Öffentlichkeit Westeuropas, aufeinander eingehen, argumentieren, den eigenen Standpunkt plausibel machen. Das diplomatische Zeremoniell am Sultanshof war in diesem Sinne eben gerade kein „Medium 38 Vgl. hierzu Monika Springbert-Hinsen, Die Hil’a. Studien zur Geschichte des geschenkten Gewandes im islamischen Kulturkreis, Würzburg 2000, S. 242; Suraiya Faroqhi, Introduction, or why and how one might want to study Ottoman Clothes, in: Ottoman Costumes. From Textile to Identity, hg. von ders./Christoph K. Neumann, Istanbul 2004, S. 15–48; Olivia Pelletier, Les robes d’honneur et les ambassades européennes à la Cour ottomane, in: Topkapı à Versailles. Trésor de la Cour ottomane. Musée Nationale des Châteaux de Versailles et de Trianon, 4 mai–15 août 1999, hg. von Anne de Margerie/Laurence Posselle, Paris 1999, S. 89–100; Hedda Reindl-Kiel, Der Duft der Macht. Osmanen, islamische Tradition, muslimische Mächte und der Westen im Spiegel diplomatischer Geschenke, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes 95 (2005), S. 195–258.

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mit eindeutigen Signalen“.39 Es war vielmehr grundsätzlich erklärungs- und interpretationsbedürftig, und es war prinzipiell offen für konträre Deutungen – wenn auch zahlreiche Elemente des osmanischen Hofzeremoniells ganz offensichtlich nur unter großem Interpretationsaufwand „schöngedeutet“ werden konnten, und wenn sich auch im Genre des Audienzberichts aus dem Osmanischen Reich im späten 17. Jahrhundert bereits bestimmte Deutungstraditionen ausgebildet hatten. Trotzdem musste und konnte vieles in den offiziellen und inoffiziellen Berichten erklärt und „übersetzt“ werden. Die westeuropäischen Beobachter hatten seit langem diverse Strategien entwickelt, um zeremonielle Demütigungen, von denen es unzählige gab, zu relativieren oder bestimmte Dinge bewusst falsch zu verstehen oder offen zu lassen. So konnten die Audienzen auf der Seite der Osmanen als reine Huldigungs- und Unterwerfungszeremonien inszeniert und gedeutet werden, während beispielsweise der französische Hof dasselbe Ereignis als symbolische Inszenierung prinzipieller Gleichrangigkeit souveräner Herrscher zu deuten versuchte oder aber es sogar als vollständig irrelevant für das Rangverhältnis zwischen dem Sonnenkönig und dem Sultan beschrieb. Der Widerspruch musste gar nicht aufgelöst werden, da die jeweiligen Adressatengruppen bzw. Öffentlichkeiten klar voneinander unterschieden waren; hier die osmanischen Herrschaftseliten, dort die höfische Welt des christlichen Europas.40 Innerhalb der höfischen Öffentlichkeit Europas galt es jedoch durchaus, die Deutungshoheit über das zeremonielle Geschehen am Sultanshof zu erlangen, das ja nicht nur von den Franzosen, sondern auch von anderen europäischen Mächten beobachtet wurde.

Zeremonialberichte als kulturelle Übersetzung Auch wenn sie außerhalb der eigenen politisch-sozialen Sphäre stattfand, war die symbolische Interaktion am Sultanshof für die europäischen Mächte keineswegs unverbindlich und bedeutungslos, im Gegenteil: In einer Hinsicht hatten die diplomatischen Zeremonien dort nämlich sehr wohl performative Wirkung, und zwar was die Rangfolge der europäischen Vertreter untereinander anging. Die Hohe Pforte diente den Europäern vor allem als Bühne für ihr 39 Krischer, Souveränität (wie Anm. 22), S. 8. 40 Eine mittlere Position zwischen diesen beiden Welten nahmen die christlichen Vasallenstaaten des Osmanischen Reichs ein, die diese Doppelzugehörigkeit zu zwei nicht miteinander verbundenen symbolischen Ordnungen für ihre Zwecke nutzen konnten, vgl. hierzu den Beitrag von Michał Wasiucionek in diesem Band.

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ganz eigenes Präzedenztheater. Die Symbolsprache des osmanischen Zeremoniells wurde dabei von den europäischen Akteuren quasi zweckentfremdet und im Rahmen ihrer eigenen höfischen Öffentlichkeit sowie im Hinblick auf ihre eigenen Ordnungsvorstellungen gedeutet. So war für die Europäer die Frage, ob die in osmanischen Audienzen verteilten Ehrenmäntel im Symbolverständnis der islamischen Welt ihren Vasallenstatus betonten, weitaus weniger relevant als diejenige, ob Anzahl und Pracht ihrer Mäntel ihrem Rangverständnis im Verhältnis zu den übrigen europäischen Mächten entsprachen. Aus französischer Sicht wäre es beispielsweise inakzeptabel gewesen, in einer Audienz weniger Ehrenkaftane zu erhalten als der englische Botschafter. Ganz ähnlich stand bei der Sofa-Affäre vor allem auch der Vorrang der Franzosen auf dem Spiel: Was, wenn Kara Mustafa nach Nointel den englischen Botschafter auf dem Sofa statt unterhalb desselben empfing? Das konnte nur vermieden werden, wenn sich Nointel weigerte, die Ehrminderung zu akzeptieren. Dadurch setzte er zugleich einen Maßstab für seine Amtskollegen, denn wer nun den ehrenrührigen Platz unterhalb des Sofas akzeptierte, ordnete sich damit de facto den Franzosen unter. Das wiederum wollte der englische Botschafter vermeiden, so dass er unter einem Vorwand erst gar nicht zur Antrittsaudienz bei Kara Mustafa erschien.41 Es ging also selbstverständlich stets darum, wie viel Ehre die Osmanen einem Botschafter erwiesen. Entscheidend war im Rahmen der europäischen Fürstengesellschaft aber weniger das Ehrverhältnis zwischen dem Sultan und der jeweiligen europäischen Macht, das in der osmanischen Symbolkommunikation ohnehin stets zugunsten des Ersteren ausfiel. Vielmehr ging es um die Frage, ob der eine Botschafter mehr Ehren empfangen hatte als der andere. Diplomatische Zeremonien an der Hohen Pforte waren für die europäischen Mächte also erst dann relevant, wenn sie in den Kommunikationsraum der gesamteuropäischen höfischen Gesellschaft eingespeist wurden – und dafür, dass das passierte, sorgten nicht nur die Botschafter selbst mit ihren offiziellen Zeremonialberichten, sondern auch andere Botschaftsangehörige oder Reisende in ihrer Korrespondenz, ihren Reiseberichten oder Memoiren sowie die Vertreter der anderen Mächte, die die Audienzen ihrer Kollegen genau beobachteten und darüber an ihre Auftraggeber Bericht erstatteten. Wirksam und politisch bedeutsam war die Zeremonie also weniger als Präsenzmedium, sondern als Distanzmedium, durch den Zeremonialbericht. Anders als die Zeremonialberichte der europäischen Hofpublizistik konnten und sollten die Zeremonialberichte 41 Mercure hollandois… de l’an 1677 (wie Anm. 13), S. 156.

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aus dem Osmanischen Reich allerdings gar nicht als affirmative Verstärkermedien fungieren. Stattdessen ging es im Gegenteil zumeist vor allem darum, die osmanische Symbolkommunikation so für die Öffentlichkeit der europäischen Fürstenhöfe zu übersetzen, dass die im Zeremoniell vermittelten Geltungsansprüche der Osmanen möglichst weitgehend entwertet wurden. Ein beredtes Beispiel für diese Praxis ist der Bericht, den Charles de Nointel einige Jahre vor der Sofa-Affäre über die Audienz anfertigte, die er 1673 anlässlich der Erneuerung der Kapitulationen bei Kara Mustafas Amtsvorgänger Köprülü Fâzıl Ahmed Pascha erhielt. Nointel hat den Bericht über diese bis zuletzt noch mehrfach vertagte Audienz wenige Tage nach dem Ereignis mit diversen Begleitschreiben an den Hof geschickt.42 Auf den ersten Blick wirkt seine Schilderung irritierend, denn Nointel scheint während der Zeremonie eine äußerst unglückliche Figur zu machen. Der Bericht beginnt mit der Prozession des Botschafters zum Palast des Großwesirs, dann folgt eine Beschreibung der Räumlichkeiten und schließlich die Schilderung, wie der Audienzsaal sich füllte, bis endlich, nach einer gewissen Zeit, der Großwesir den Raum betrat. Was an der dann folgenden Schilderung der Interaktion zwischen dem Botschafter und dem Großwesir ins Auge fällt, ist die ungleiche Verteilung der Redezeit: Der Gastgeber begrüßte seinen Gast gar nicht und blieb auch im weiteren Verlauf äußerst einsilbig, während der Botschafter die Konversation größtenteils allein bestritt.43 Der stete Redefluss des Franzosen, der ein Kompliment an das nächste reihte und diverse Angelegenheiten ansprach, bewirkte nicht etwa angemessene Erwiderungen von Seiten des Großwesirs, sondern lediglich kurze Ermahnungen oder ostentatives Schweigen. Und noch inmitten der recht langatmigen Ausführungen Nointels zur Barbareskenpolitik Ludwigs XIV. ließ der Großwesir bereits den Kaffee servieren, was nach dem üblichen Ablauf des Zeremoniells das Ende der Audienz einläutete. Davon unbeeindruckt ergriff Nointel nach einem kurzen Schluck Kaffee erneut das Wort, um eine weitere Lobrede auf den Großwesir und die beiden Herrscher anzustimmen – worauf der Wesir wortlos die Kaftane bringen ließ, was gewöhnlich den Abschluss der Audienz markierte. Nointels Redefluss versiegte indes noch immer nicht und wurde nur von kurzen, einsilbigen Antworten seines Gegen42 MAE, CP, Turquie 10, fol. 236r–238v, Audienzbericht von Nointel vom 6. Juni 1673; sowie fol. 239r–241r, Nointel an Ludwig XIV., 13.6.1673. Der Audienzbericht ist ohne Quellenangabe abgedruckt in: Journal [d’Antoine Galland] pendant son séjour à Constantinople, 1672–1675, hg. von Charles Schéfer, Paris 1881, Bd. 2, S. 165–171. 43 MAE, CP, Turquie 10, fol. 236v–237v.

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übers skandiert. Erst nach der Einkleidung mit den Ehrenmänteln folgte schließlich jener Akt, der Anlass der gesamten Zeremonie war: die Übergabe des Sultansbriefs, bei dem es sich allerdings nur um das Begleitschreiben für die eigentlichen Kapitulationen handelte, das der Großwesir zudem nicht selbst überreichte, sondern durch seinen Sekretär übergeben ließ. Nointel nutzte seine Dankansprache, um auf eine angemessene Durchsetzung der Kapitulationen in den verschiedenen osmanischen Handelszentren des Mittelmeerraums zu drängen und die Freilassung zweier französischer Sklaven zu erbitten. Die Antwort des Wesirs fiel erneut kurz angebunden aus, woraufhin noch einige Abschiedsfloskeln ausgetauscht wurden, bevor Nointel sich, wie er schreibt, mit einer „kurzen, mittelmäßigen Verbeugung“ abwandte und zeitgleich mit dem Wesir den Raum verließ.44 Erst als der Botschafter den Kaftan bereits wieder abgelegt hatte und sich in einem Durchgang befand, erhielt er aus der Hand des Sekretärs die eigentlichen Kapitulationen in einer Schmuckschatulle. Man könnte diesen Audienzbericht Nointels ohne weiteres als Aneinanderreihung symbolischer Demütigungen des Franzosen lesen. Ein weiterer französischer Augenzeuge, der Botschaftssekretär La Croix, der später einen ausführlichen Reisebericht veröffentlicht hat, unterschlug denn auch geflissentlich die Details dieser Audienz, obgleich er ansonsten kaum eine Gelegenheit ausließ, um die osmanischen und die französischen Zeremonien, denen er beiwohnte, genauestens zu schildern.45 Auf den zweiten Blick wird allerdings deutlich, dass sich Nointels Bericht auch ganz anders lesen lässt: Der Franzose verwendete nämlich an zentralen Stellen seiner Beschreibung immer wieder die beiden Schlüsselbegriffe civilité und honnêteté und evozierte damit fundamentale Interaktionsregeln der höfischen Gesellschaft, der er selbst entstammte.46 So porträtierte er den Großwesir in seinem Zeremonialbericht als jemanden, der die basalen Normen des gesellschaftlichen Miteinanders permanent verletzte, der weder civilité noch honnêteté besaß noch – im Gegensatz zu Nointel – die Kunst der höfischen Konversation und des Komplimentierens beherrschte. Damit war weit mehr impliziert als nur die Behauptung, dass der Großwesir ein unhöflicher Rüpel sei, der am Hofe des 44 Ebd, fol. 237v. 45 Mémoires du Sieur de la Croix, cy-devant secretaire de l’Ambassade de Constantinople. Contenans Diverses Relations tres-curieuses de l’Empire Othoman. Premiere Partie. A Paris, Chez la Veuve A. Cellier, 1684, S. 398f. 46 MAE, CP, Turquie 10, fol. 236v: „Ne croyant pas qu’il fut apropos de relever la fauceté de cette reponse […] je continuay ma civilité en luy disant […]“; ebd., fol. 237r: „Le Visier ne respondant rien a cette honesteté […].“

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Sonnenkönigs niemals hätte reüssieren können, denn honnêteté und civilité hatten nach zeitgenössischer Auffassung auch einen moralischen Gehalt: Ein gesittetes, zivilisiertes Auftreten ließ auf einen tugendhaften Charakter schließen. Haltung und Kleidung, Benehmen und Redeweise galten als Ausdruck der Qualität von Geist und Seele.47 Begriffsgeschichtliche Studien haben zudem gezeigt, dass civilité in der höfischen Erziehungsliteratur der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sogar in den Rang eines Unterscheidungsmerkmals zwischen Mensch und Tier aufgestiegen war:48 Wer diese spezielle Art der höflichen Umgangsformen nicht beherrschte, war nach zeitgenössischer Auffassung im Grunde gar kein Mensch. Entsprechend lauteten die Gegenbegriffe zu civilité und honnêteté „Barbarei“ und „Despotismus“.49 Zugleich gab es in der zeitgenössischen honnêteté-Reflexion, insbesondere in den jansenistischen Kreisen, denen auch Nointel entstammte50, eine Tendenz zur Verchristlichung der honnêteté, die zu ihrer Identifizierung mit der christlichen Tugend der Nächstenliebe führte. Am Ende stand die Auffassung, dass einzig Christen wahrhaft tugendhaft, honnête, sein könnten.51 Vor dem Hintergrund dieser zeitgenössischen Wissensformationen zeigt sich, dass Nointel in seinem Audienzbericht den Großwesir Punkt für Punkt als genaues Gegenbild zum Ideal des honnête homme entworfen hatte. Wo dieser ein höfliches Kompliment auf möglichst einfallsreiche Art erwidern würde, brüskierte der Wesir seinen Gast durch ostentatives Schweigen. Statt den befreundeten Herrscher zu preisen und seinem Gesandten Ehre zu erweisen, hagelte es Kritik und Ermahnungen. Nointel hob die Verschlossenheit des Wesirs, seinen übergroßen Stolz sowie die Tatsache hervor, dass er dem Botschafter den Sultansbrief und die Kapitu-

47 Roger Chartier, civilité, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Bd. 4, hg. von Rolf Reichardt u.a., München 1986, S. 11. 48 Ebd., S. 13. 49 Vgl. ebd., S. 2. 50 Zum jansenistischen Familienhintergrund Nointels vgl. Vandal, L’Odyssée (wie Anm. 2), S. 38–39. 51 Jacques Esprit, La Fausseté des vertus humaines, 2 Bde, Paris 1678, hier Bd. 1, S. 446, zitiert bei Annette Höfer/Rolf Reichardt, Honnête homme, Honnêteté, Honnêtes gens, in: Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, Bd. 7, hg. von Rolf Reichardt u.a., München 1986, S. 19. „on peut dire que la charité […] est elle seule une politesse & une honnêteté véritable & que de tous les hommes il n’y a que les Chrétiens qui soient véritablement polis et honnêtes gens.“

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lationen nicht einmal eigenhändig übergeben hatte.52 Als mögliche Erklärung für diese Schroffheit des Wesirs führte Nointel ins Feld, dass dieser gar nicht eigenständig handelte, da er permanent unter Beobachtung stand: Die gesamte Zeremonie sei nämlich durch den angeblich im Nebenzimmer hinter einem Vorhang versteckten Sultan beobachtet worden.53 Damit deutet sich hier etwas an, was in anderen Briefen des Botschafters noch deutlicher zutage tritt:54 Es geht nämlich nicht allein um den Wesir, sondern letztlich um die gesamte politische, gesellschaftliche und moralische Ordnung des Osmanischen Reichs. Pointiert gesagt wurde der Großwesir unter Nointels Feder zu einem Barbaren, der einem ungläubigen Despoten dient. Er selbst hingegen erschien vor dieser Kontrastfolie umso deutlicher als honnête homme, der seinen Vorgesetzten im sicheren Vertrauen darauf schrieb, dass diese dieselben gesellschaftlichen Spielregeln von honnêteté und civilité erkannten und befolgten, wie er selbst. Die auf diesen Normen basierende Herrschaft des Sonnenkönigs wiederum erwies sich dadurch als wohlgeordnet und verlässlich, der allerchristlichste König war eben, im Gegensatz zum Sultan, kein Despot. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wandeln sich die zeremoniellen Demütigungen damit in ihr Gegenteil: Nointel macht seinen Lesern in der Heimat letztlich klar, dass er in der Fremde eine Art kulturelles Martyrium durchläuft, an dem sich auch sein persönliches Verdienst und seine Standhaftigkeit als honnête homme erweisen. Durch diese teils implizite, teils aber auch explizite Oppositionsstruktur des Audienzberichts wird der Sultanshof mitsamt seinem Zeremoniell als fremd in einem radikalen Sinne codiert.55 Nointel und der Großwesir bewegen sich im Bericht des Franzosen auf völlig unterschiedlichen Ebenen, was unter anderem 52 Schreiben ohne Datum und Adressat, zitiert in: Journal [d’Antoine Galland] (wie Anm. 42), Bd. 2, S. 165–171, hier S. 170f. 53 Ebd., S. 170. 54 Beispielsweise in der Schilderung des Festumzugs des Sultans vom Palast in die Moschee am Bairam 1671, vgl. Nointel an Lionne, 9.5.1671, zitiert in: Journal [d’Antoine Galland] (wie Anm. 42), Bd. 1, S. 264–271, hier S. 269–271. 55 Dem entspricht die generelle Beobachtung von Wolfgang Neuber, demzufolge „die frühneuzeitlichen Gesellschaften […] jegliche Form von Alterität in Oppositionsstrukturen konstruieren“, vgl. Grade der Fremdheit. Alteritätskonstruktion und experientia-Argumentation in deutschen Turcica der Renaissance, in: Europa und die Türken in der Renaissance, hg. von Bodo Guthmüller/Wilhelm Kühlmann, Tübingen 2000, S. 249–265, hier S. 250. Vgl. zu dieser Art der radikalen Abgrenzung auch Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen bei der Expansion Europas, in: Saeculum 46 (1995), S. 101–138, sowie Herfried Münkler, Barbaren und Dämonen. Die Konstruktion des Fremden in Imperialen Ordnungen, in: Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentation sozialer Ordnungen im Wandel,

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bedeutet, dass im Verkehr zwischen gleichrangigen Akteuren geltende Reziprozitätsnormen hier nicht greifen. Damit aber brauchte man die osmanische Symbolkommunikation nicht allzu ernst zu nehmen, denn es handelte sich ja nur um die Sprache von Barbaren. Nointel wurde zwar brüskiert, und der Großwesir sprach vom französischen König wie von einem Vasallen des Sultans, aber all das konnte dem Ruhm des Sonnenkönigs keinen Abbruch tun, denn die Osmanen waren ohnehin nicht satisfaktionsfähig: Sie standen außerhalb der Zivilisation. Die Zeremonialbeschreibung Nointels leistete somit das genaue Gegenteil dessen, was klassischerweise als Funktion von Zeremonialschriften beschrieben wird: Statt „affirmatives Verstärkermedium, das den Radius zeremonieller Botschaften erweiterte, ohne ihnen etwas hinzuzufügen“56, haben wir es hier vielmehr mit einer Art Entwertungsmedium zu tun, das die Relevanz der dargestellten symbolischen Interaktion grundsätzlich bestritt, und das die Osmanen explizit aus der europäischen Adelsgesellschaft herausschrieb.

Von der Repräsentation zur Propaganda Nointels offizielle Berichte über die Audienz von 1673 und über die SofaAffäre waren zunächst einmal nur für einen sehr kleinen und überschaubaren Adressatenkreis gedacht, für den König und die zuständigen Staatssekretäre nämlich, die für die weitere Kommunikation am Hof und damit für eine Verbreitung in der höfischen Öffentlichkeit sorgten. Insofern kann man die diplomatischen Audienzberichte als Distanzmedien erster Ordnung beschreiben. Berichte über interkulturelle Audienzen konnten innerhalb Europas aber auch noch eine darüber hinausgehende mediale Weiterverarbeitung erfahren. Sie konnten Eingang in das marktförmige Mediensystem finden und damit, in der Begrifflichkeit Volker Bauers, eine Medialisierung zweiter Ordnung erfahren. Dadurch wurde allerdings auch der Adressatenkreis entscheidend erweitert und eine Öffentlichkeit erreicht, die über den exklusiven Kreis der höfischen Gesellschaft hinausging. Eine solche Distanzmedialität zweiter Ordnung hatte demnach auch Folgen für die Funktion des Zeremoniells, das dann nicht länger ausschließlich der sozialen Reproduktion der direkt (oder vermittelt) hg. von Jörg Baberowski/Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer, Frankfurt a.M. u.a. 2008, S. 153–189, hier S. 174. 56 Bauer, Höfische Gesellschaft (wie Anm. 22), S. 46.

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beteiligten Akteure diente, sondern zu einem Diskursgegenstand der europäischen Medienöffentlichkeit wurde. Auch die Sofa-Affäre von 1677 blieb nicht auf den überschaubaren Kreis diplomatischer und politischer Akteure in Istanbul und Versailles beschränkt; sie hatte offensichtlich einen ziemlich guten Nachrichtenwert: Rund zwei bis drei Monate brauchten Briefe damals von Istanbul bis in die westeuropäischen Hauptstädte, und was man etwas mehr als drei Monate später, im September 1677, im Pariser Mercure galant nachlesen konnte, spiegelt die offizielle französische Wahrnehmung der Affäre: „Aus Konstantinopel bekommen wir die Nachricht, dass der Marquis de Nointel, unser Botschafter an der Pforte, die Würde seines Amtes dort so verteidigt hat, wie es sich geziemt.“57 Nach Meinung der französischen Hofpresse hatte Nointel also in völlig angemessener Weise auf die Herausforderung des Großwesirs reagiert. Der weitere Bericht war so eng an den Brief Nointels angelegt, dass die Nähe des Verfassers zu jenen Hofkreisen, die den Botschafterbericht kannten, auf der Hand liegt. Selbst Nointels Antwort an Mavrocordatos wurde im Mercure galant wiedergegeben: „[Der Großwesir] ließ Herrn von Nointel durch den Ersten Dragoman Mauro Cordato ausrichten, dass er keine Audienz erhielte, solange er auf dem Sofa sitze. Herr von Nointel antwortete, dass der Großwesir zwar seinem Sofa Befehle erteilen könne, nicht aber ihm, und im selben Augenblick verließ er den Raum.“58 Kein Zweifel: Der französische Hof wollte die gesamte Aktion als diplomatischen Erfolg verbuchen, der den Ruhm des Sonnenkönigs vermehrte. Ganz andere Berichte finden sich hingegen im Mercure hollandois sowie im Theatrum europaeum. Der Bericht aus dem Theatrum erschien zwar erst 1682, war aber eine deutsche Übersetzung des französischen Textes aus dem Mercure hollandois. Hier heißt es: „der Groß-Vezir […] hat […] sofort dem Herrn Alexander Marrocordati Obersten Dragoman oder Dolmetschen des Reichs befohlen/ dem Abgesandten seinen Unfug zu erkennen zu geben/ und ihm anzudeuten/ dass er von seinem hochmüthigen Beginnen abstehen sollte; Alldieweiln er aber diesem kein Gehör gab/ war 57 Le nouveau mercure galant, contenant les nouvelles du mois de Septembre 1677 & plusieurs autres, tome VII, Paris 1677, S. 100: „Nous avons eu des nouvelles de Constantinople qui nous apprennent que Mr. le Marquis de Nointel nostre Ambassadeur à la Porte, y avoit soûtenu comme il devoit la Dignité de son caractère.“ 58 Ebd., S. 101f.: „[Le Grand Visir] envoya dire par Mauro Cordato son premier Drogman, qu’il ne luy donneroit point Audiance, s’il n’estoit assis hors du Sofa. Mr. de Nointel répondit au Drogman que le Grand Visir pouvoit ordonner de son Siege, mais non pas de sa Personne, & s’en alla dans le mesme instant.“

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hierauff dem Chiaus-Bassa […] anbefohlen/ das obgemeldte Tabouret alsobald von der Sopha abzunehmen […] welcher auch gleich darauff mit grimmigem Gesicht in diese Audientz-Stube kommen/ und mit lauter Stimme/ und einer Mine von ungemeiner Verachtung seinen Leuten befohlen/ dass sie das Bäncklein/ auff welchem der Abgesandte gesessen/ unter ihme hinweg nehmen sollten/ welches so geschwind und hurtig geschahe/ dass der Abgesandte sich mit genauer Noth für dem Fallen hüten kunte; worauff er dann/ als er sich nicht allein von aller Ehr und Hülfflichkeit entblöset/ sondern auch über dieses offentlich verschimpfet gesehen/ […] von der Sopha abgetretten/ und alsbald mit diesen Worten weggegangen; Alldieweiln man auff solche Weise mit ihme umbgienge/ begehrte er bey dem GroßVezir keine Audienz zu haben. Worauff der Groß-Vezier geantwortet: Lasset ihn dann dieselbe bey dem haben/ bey welchem die Verdammten sind.“59

Mit anderen Worten: Ungebührliches und hochmütiges Betragen werden nicht etwa den Osmanen zugeschrieben, sondern allein dem Franzosen, der einen unangemessenen Stolz an den Tag gelegt habe – weshalb er denn auch herumgestoßen, beleidigt und mit einem sinngemäßen „Scher dich doch zum Teufel!“ herauskomplimentiert wurde und damit – jedenfalls in der niederländischen und der deutschsprachigen Presse – als lächerliche und entehrte Person erscheint. Der Mercure hollandois berichtete direkt im Anschluss auch noch über den unmittelbaren Fortgang der Sofa-Affäre, denn für die übrigen westeuropäischen Vertreter stellte sich nun die Frage, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Anders als für die Engländer stellte für die Niederländer eine mögliche symbolische Unterordnung unter den französischen Botschafter kein Problem dar, da ihr Vertreter nicht den Rang eines Botschafters (ambassadeur) bekleidete, sondern als Resident ohnehin dem ranghöheren Franzosen den Vortritt lassen musste. Der Mercure hollandois räumte denn auch der Audienz des niederländischen Botschafters bei Kara Mustafa ebenso viel Platz ein wie der des Franzosen.60 Der Kontrast zwischen beiden Zeremonien hätte allerdings kaum deutlicher ausfallen können: Dem Niederländer sei demnach eine besonders ehrenvolle Behandlung zuteil geworden, und obwohl auch er sich mit einem Platz unterhalb des Sofas zufriedengeben musste – und das auch völlig widerspruchslos tat, ganz so als sei das ohnehin keine wichtige Sache –, gab ihm der Großwesir auf verschiedenerlei Art seine Wertschätzung zu verstehen. So ließ man ihn und sein Gefolge durch den Hof direkt bis vor die Eingangstreppe des 59 Theatrum europaeum 11, Frankfurt a.M. 1682, S. 1136f. 60 Mercure hollandois… de l’an 1677 (wie Anm. 13), S. 156–159.

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Palastes reiten, „wo man seinem Dolmetscher zu verstehen gab, dass dies eine außerordentliche Ehre sei, die der Großwesir den Hochmögenden Herren in der Person ihres Ministers machen wolle.“61 Anders als Nointel musste sein niederländischer Kollege Collier fast gar nicht warten, sondern wurde gleich nach seiner Ankunft von Mavrocrodatos empfangen und in den Audienzsaal geführt, wo auch der Großwesir bald erschien. Als dieser den Niederländer passierte, „legte er seine rechte Hand auf seine Brust, neigte den Kopf und bestieg die Empore“.62 Sodann rückte er seinen eigenen Sitz ganz an den Rand der Empore und begrüßte den Botschafter mit dem Ehrentitel „Eltzi Bey, was Ambassadeur & Prince bedeutet“, wie der Mercure hollandois präzisierte.63 Die gesamte Audienz verlief dem Bericht zufolge für beide Seiten äußerst zufriedenstellend, und am Ende habe der Großwesir sich erhoben und zum Abschied den Niederländer durch wiederholtes Kopfneigen gegrüßt, was, wie es zum Schluss dann noch einmal ganz explizit heißt, „den Unterschied zeigt, den man in der Türkei zwischen der Behandlung des französischen Vertreters und des unsrigen macht.“64 Was, so möchte man angesichts dieser Schilderung fragen, bedeutet schon ein niedrigerer Sitzplatz, wenn man ansonsten, wie der Niederländer, mit Ehrerweisungen nur so überhäuft wird. Aus niederländischer und wohl auch aus deutscher Perspektive sah es also ganz und gar nicht so aus, als habe Nointel die Würde seines Königs besonders geschickt verteidigt. Vielmehr erscheint sein Gebaren übertrieben stolz, unangemessen und unklug. Und das ist auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der Mercure hollandois zur Zeit des Holländischen Krieges berichtete und die Publikation des Theatrum europaeum in den Zeitraum fiel, als sich die französische Reunionspolitik auf ihrem Höhepunkt befand. Der Konflikt zwischen den europäischen Großmächten wurde bekanntlich auch mit propagandistischen Mitteln geführt: Die Niederländer und der Kaiser setzten alles daran, die Selbstinszenierung Ludwigs XIV. als Sonnenkönig und damit seinen universel-

61 Ebd., S. 157: „[…] il pouvoit entrer a cheval dans la Cour, & n’en descendre que devant l’escalier du Palais, ou l’on avoit fait entendre au truchement, que c’estoit un honneur extraordinaire que le Premier Visir vouloit faire a leurs Hautes Puissances, en la personne de leur Ministre […].“ 62 Ebd, S. 158: „en passant devant le Resident, ce Prince mit la main droite sur sa poitrine, baissa la teste & monta sur l’estrade […].“ 63 Ebd., S. 158: „Eltzi Bey, ce qui signifie Ambassadeur & Prince“ 64 Ebd., S. 159: „Ce qui fait voir la difference du traittement qu’on fit en Turquie au Ministre de France & au nostre.“

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len Machtanspruch ins Lächerliche zu ziehen.65 Die Berichterstattung über die diplomatischen Zeremonien im Osmanischen Reich dienten in der niederländischen und der deutschsprachigen Presse ganz und gar diesem Zweck. Die interkulturelle Zeremonie war hier zu einem Propagandagegenstand im innereuropäischen Mächtespiel geworden. Ihr Nachrichtenwert für die europäische Presse basierte vor allem auf diesem Propagandakontext.

Fazit Innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft war die prinzipielle Mehrdeutigkeit symbolischer Kommunikationsakte durch die Herausbildung eines gemeinsamen diplomatischen Zeremoniells mit eindeutig definierten Zeichen weitgehend eliminiert worden; nur so war das diplomatische Zeremoniell als zwischenhöfisches Kommunikationsmedium überhaupt funktional.66 Im Falle interkultureller Begegnungsrituale galt aber das genaue Gegenteil: Die Möglichkeit, die Zeichen des Zeremoniells unterschiedlich zu interpretieren, war nachgerade die Voraussetzung dafür, dass es überhaupt zur Verständigung zwischen zwei politisch-sozialen Ordnungen kommen konnte, die jeweils universale Geltungsansprüche vertraten. Gerade weil es keine transkulturelle Öffentlichkeit gab, konnten die widersprüchlichen Geltungsansprüche, die beide Seiten mit der symbolischen Interaktion verbanden, im Prinzip aufrecht erhalten werden, ohne die symbolische Interaktion als solche zu gefährden. Dies galt allerdings nur, solange beide Seiten den Verlauf der Zeremonie nicht grundsätzlich störten: Mit der Sofa-Affäre kündigte Kara Mustafa den stillschweigenden Konsens fürs Erste auf. Dabei kam ihm die Tatsache zugute, dass die westeuropäischen Vertreter im Osmanischen Reich sich gegenseitig beobachteten und die Hohe Pforte als Bühne für ihr eigenes Präzedenztheater nutzten: 1673 konnte Nointel die vergleichsweise leichten Affronts des Großwesirs noch ignorieren, weil am Ende der Zeremonie die Übergabe der Kapitulationen stand, die als außenpolitischer Erfolg des Sonnenkönigs gefeiert werden konnten. 1677 sah es ganz anders aus: Der Affront durch den ernied65 Vgl. Hendrik Ziegler, Der Sonnenkönig und seine Feinde. Die Bildpropaganda Ludwigs XIV. in der Kritik, Petersberg 2010; Krieg der Bilder. Druckgraphik als Medium politischer Auseinandersetzung im Europa des Absolutismus, hg. von Wolfgang Cilleßen, Berlin 1976, Peter Burke, The Fabrication of Louis XIV, New Haven u.a. 1992. 66 Vgl. Krischer, Souveränität (wie Anm. 22), S. 8.

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rigten Sitz hätte den Präzedenzanspruch der Franzosen im Verhältnis zu den anderen westeuropäischen Vertretern an der Pforte gefährdet. Hier war es für Nointel nicht mehr möglich, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und das Geschehen in seinem Zeremonialbericht mit Verweis auf den Barbarenstatus der Osmanen verbal zu neutralisieren. Das bedeutet aber auch, dass ein Verständnis interkultureller diplomatischer Zeremonien als reine theatrale Präsenzmedien in Analogie zu den innereuropäischen politischen Ritualen zu kurz greift, da die Vermittlung in die höfische Öffentlichkeit der europäischen Fürstengesellschaft im Grunde wichtiger war als die Interaktion selbst. Entsprechend können auch die Berichte über interkulturelle Zeremonien, selbst wenn sie nur zur internen Kommunikation mit dem eigenen Hof verfasst wurden, nicht als affirmative Verstärkermedien gelesen werden, die das Zeremonialgeschehen quasi maßstabsgetreu abbildeten. Im Gegenteil: Wie das Beispiel von Nointels Audienzbericht aus dem Jahr 1673 gezeigt hat, gehorchte die Darstellung der symbolischen Interaktion vollständig bestimmten kulturellen Deutungsmustern, die zunächst einmal für die Einordnung des gesamten Geschehens in einen bestimmten Sinnhorizont sorgten. Im Falle der Audienz von 1673 ging es beispielsweise um die Einordnung der Interaktion in einen radikalen Abgrenzungsdiskurs, der die Osmanen als barbarisch-fremd codierte und aus der europäischen Fürstengesellschaft kategorisch ausschloss. Mit der Medialität änderte sich in interkulturellen Kontexten aber auch die Funktion der Zeremonien. So ging es in diesen Fällen nicht mehr primär um die Aushandlung von Machtpositionen und Rangverhältnissen der beteiligten Akteure: In den jeweils eigenen und miteinander nicht kompatiblen Vorstellungen einer Weltordnung standen diese ohnehin von vornherein fest.67 Doch auch wenn symbolische Interaktionen in interkulturellen Kontexten somit die Rangverhältnisse zwischen den an der Zeremonie beteiligten Mächten nicht performativ regeln konnten, hatten sie dennoch eine wichtige Kommunikationsfunktion. Für den Sultan waren sie, wie andere Herrschaftszeremonien auch, Teil eines ganzen Bündels von Legitimationsstrategien68, und auch für den Großwe67 Zu osmanischen Vorstellungen einer gerechten Weltordnung siehe Gottfried Hagen, Legitimacy and World Order, in: Legitimizing the Order. The Ottoman Rhetoric of State Power, hg. von Hakan T. Karateke/Maurus Reinkowski, Leiden u.a. 2005, S. 55–83. 68 Vgl. hierzu Hakan T. Karateke, Legitimizing the Ottoman Sultanate: A Framework for Historical Analysis, in: Legitimizing the Order (wie Anm. 67), S. 13–53, hier S. 32.

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sir konnten sie zur Absicherung der eigenen Position im Machtgefüge am Sultanshof dienen. Aus der Perspektive der westeuropäischen Mächte konnten die Zeremonien an der Hohen Pforte vor allem zum Prestigegewinn oder -verlust eines Hofes innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft beitragen. Dies zeigte das Beispiel der europäischen Medienberichterstattung zur Sofa-Affäre: Für Franzosen wie Niederländer ging es letztlich um die propagandistische Nutzung der interkulturellen Zeremonien. Die Franzosen nutzten sie als Baustein für die Inszenierung des Sonnenkönigs am eigenen Hof und in der europäischen Öffentlichkeit; für die Gegner Ludwigs XIV. dienten sie zum Kampf gegen eben diese Selbstinszenierung und die damit verbundenen Geltungsansprüche. Auf dieser Ebene der Medienberichterstattung unterschieden sich die interkulturellen Zeremonien allerdings nicht von den innereuropäischen: In beiden Fällen wurde, ob intendiert oder nicht, der elitäre Kreis der höfischen Öffentlichkeit als eigentlicher Adressat des Zeremoniells gesprengt. Durch die Medialisierung zweiter Ordnung in der Presseberichterstattung richtete sich die Symbolkommunikation der Zeremonien nun an die europäische Medienöffentlichkeit, die sich mit dem Durchbruch der periodischen Presse in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sozial mehr und mehr ausfächerte.69 Diese Entwicklung dürfte nicht ohne Rückwirkung auf die Funktion und Wahrnehmung des Zeremonialgeschehens selbst geblieben sein. Denn sicher war es ursprünglich gerade nicht darum gegangen, das diplomatische Zeremoniell „vor dem Volk“ aufzuführen.70 Doch in dem Maße, wie die Presseberichterstattung den sozialen Exlusionsmechanismus des Zeremoniells unterwanderte, wurde es eben doch allmählich auch zu einem Bühnenstück zumindest für die Zeitungsöffentlichkeit. Seine Bedeutung als performativer Akt trat hinter seine Funktion als Diskursgegenstand einer europäischen Medienöffentlichkeit zurück. Das gilt selbstverständlich nicht nur für interkulturelle Zeremonien. Aber hier ist diese Tendenz sehr viel deutlicher als bei innereuropäischen diplomatischen Zeremonien bereits im Geschehen selbst und seiner spezifischen Medialität angelegt.

69 Hierzu zuletzt: Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit, hg. von Volker Bauer/Holger Böning, Bremen 2011. 70 Vgl. Krischer, Souveränität (wie Anm. 22), S. 21f.

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Wandel durch Annäherung? Französisch-siamesische Audienzen 1684–16861 Ruth Schilling Phra Narai, Herrscher über das siamesische Reich seit dem Jahr 1656, informierte sich nicht nur über die neuesten naturwissenschaftlichen Entdeckungen in Europa,2 sondern war auch aus anderen Gründen mit dem politischen Geschehen auf diesem Kontinent vertraut. In seiner engsten Umgebung nahmen Europäer eine wichtige Stellung ein: Nicht-Siamesen wie der griechischstämmige Berater Constance Phaulkon stabilisierten Phra Narais Machtbasis.3 Der Herrscher besaß großes Interesse daran, die Handelsmacht der Niederländer zu begrenzen. Kontakte zu Frankreich erschienen ihm daher besonders erstrebenswert, nicht zuletzt, nachdem Frankreich sich als den Niederlanden militärisch überlegen gezeigt hatte.4 Französische Missionare warben bei Ludwig XIV. für gute Beziehungen zum Königreich Siam. Neben den ökonomischen Vorteilen einer solchen Allianz stellten sie eine bevorstehende Konversion des siamesischen Monarchen in 1 Für Lektüre und umfangreiche Hinweise danke ich Christine Vogel und Peter Burschel. Vorarbeiten zu diesem Aufsatz entstanden während der Arbeit in dem von Heinz Schilling geleiteten Forschungsprojekt „Religiöse und säkulare Repräsentationen im frühneuzeitlichen Europa“ am Sonderforschungsbereich 640 (Humboldt-Universität zu Berlin) (erste Laufzeit 2004–2008). Sie fußen insbesondere auf den interdisziplinären Diskussionen der Arbeitsgruppe „Repräsentationen auf Reisen“, für die ich meinen damaligen Kolleginnen und Kollegen danke. Vgl. hierzu auch: Die Ankunft des Anderen. Repräsentationen sozialer und politischer Ordnungen in Empfangszeremonien, hg. von Susann Baller u.a., Frankfurt a.M. 2008. 2 Phra Narai beobachtete zum Beispiel mithilfe eines Teleskops, das ihm die Jesuiten zur Verfügung gestellt hatten, im Jahre 1688 eine Sonnenfinsternis. Vgl. Dirk van der Cruysse, Louis XIV et le Siam, Paris 1991, S. 411–413. 3 Constance Phaulkon stellt eine der wichtigsten Gestalten der europäisch-siamesischen Beziehungen in dieser Zeit dar. Dennoch existieren kaum seriöse Untersuchungen zu ihm. Vgl. die eher hagiographisch angelegte Biographie Giorgos Athanasiu Siores, Phaulkon: the Greek First Counsellor at the Court of Siam: an Appraisal, Bangkok 1998. 4 Zur niederländischen Präsenz in Siam vgl. Sven Trakulhun, Siam und Europa. Das Königreich Ayutthaya in westlichen Berichten 1500–1670, Hannover-Laatzen 2006, S. 100–110.

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Aussicht.5 Dies war für Ludwig XIV. von besonders großem Anreiz. Es hätte für ihn einen erheblichen Reputationsgewinn bedeutet, wenn er für sich hätte in Anspruch nehmen können, einen nicht-christlichen Herrscher zum Glaubenswechsel bewegt zu haben. Besonders im Wettstreit mit Spanien betonte die französische Panegyrik dieser Zeit die Verbindung von Katholizität und dem Anspruch, die gesamte nicht-christliche Welt missionieren zu können.6 Innen- wie außenpolitische Interessen an einem diplomatischen Kontakt herrschten also auf beiden Seiten. Ihre Verschiedenartigkeit kam immer wieder im diplomatischen Zeremoniell des Empfangs zum Ausdruck. Und doch endeten die französisch-siamesischen Beziehungen nicht wegen einer gescheiterten Audienz und einem darauffolgenden Rückzug der Diplomaten. Vielmehr hatten sich in Siam im Jahre 1688 die Gegner jeglicher Kontakte zu Europäern im Rahmen einer Palastrevolte durchgesetzt.7 In den 1660er–1680er Jahren aber hatte das Bemühen beider Mächte um ein gegenseitiges Bündnis stetig zugenommen. Dies führte schließlich zur Ausrichtung wechselseitiger Gesandtschaften in den 1680er Jahren. Diese Delegationen und die Art und Weise, wie sie jeweils vom anderen Herrscher und seinem Hof empfangen wurden, geben Aufschluss darüber, wie sich die jeweils empfangende, aber auch die empfangene Gruppe inszenieren wollte, welche politischen Ordnungsvorstellungen sie hierbei als maßgeblich und repräsentationswürdig empfanden. Die französisch-siamesischen Begegnungen der 1680er Jahre zeigen einen Prozess auf, der sich mit einem Anachronismus als Wandel durch Annäherung bezeichnen lässt. Beide Seiten waren sich bewusst, dass das hochritualisierte Aufeinandertreffen von Gesandten und Herrschern Gefahrenpotentiale für eine Aufnahme und Fortsetzung einvernehmlicher Beziehungen in sich barg. Daher versuchten sie, sich an den jeweils anderen Kommunikationsmodus – soweit es ihnen möglich war – anzupassen.8 5 6 7 8

Van der Cruysse, Louis XIV (wie Anm. 2), S. 191–218. Vgl. Pierre Blet, Louis XIV et le Saint-Siège, in: XVII siècle (1979), S. 137–154. Vgl. van der Cruysse, Louis XIV (wie Anm. 2), S. 441–478. Es wäre im Rahmen weiterer Forschungen aufschlussreich zu klären, inwieweit das französische Verhalten während der französisch-siamesischen Beziehungen eine Reaktion auf Erfahrungen aus dem Scheitern der türkischen Mission des Soliman Aga im Jahre 1669 darstellt. Für diesen Hinweis dankt die Verfasserin Christine Vogel. Vgl. hierzu Géraud Poumarède, Les envoyés ottomans à la cour de France: d’une présence controversée à l’exaltation d’une alliance (XVe–XVIIIe siècles), in: Turcs et turquéries XVI–XVIII siècles, Paris 2009, S. 63–95, hier: S. 81–90; weitere Literatur- und Quellenhinweise in: Jean-Louis Bacqué-Grammont/Sinan Kuneralp/Frédéric Hitzel, Représentants permanents de la France en

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Dies gelang allerdings nur so weit, wie nicht eigene Ordnungsvorstellungen tangiert wurden. Die französisch-siamesischen Begegnungen können als ein Szenario auf zwei Ebenen analysiert werden, an dem zum einen deutlich wird, welche Elemente der eigenen Repräsentation die jeweilige Gruppe bereit war, zugunsten der anderen, fremden zu modifizieren; und zum anderen, welche Grenzen diesem Wandel durch Annäherung gesetzt waren, welche Elemente also als unabdingbar für den Kernbestand der eigenen Selbstdarstellung angesehen wurden. Diese Grenzen waren den Begegnungen bereits durch die politische Motivation der Kontaktaufnahme auferlegt. Die folgende Analyse konzentriert sich auf den Moment des Aufeinandertreffens beider Monarchien in der herausgehobenen Situation der Audienz. Diese stand bereits in zeitgenössischen Quellen im Mittelpunkt des Interesses. Sie stellte visuell und performativ das jeweilige Verständnis von politischer Ordnung,9 der eigenen und der fremden, in einem besonders herausgehobenen, häufig der Öffentlichkeit oder der Nachwelt überlieferten Augenblick dar.

1. „Je présume quʼil nʼy a pas tant de difficultés à entrer chez les Capucins, quʼà les faire sortir des chambres“.10 Siamesische Mandarine in Paris, Oktober–November 1684 Im Dezember des Jahres 1680 verließ das Schiff „Le Soleil dʼOrient“ mit einer Gruppe siamesischer Gesandter Siam, kam aber nie in Frankreich an. Vermutlich hatte es Schiffbruch erlitten und war untergegangen. Vier Jahre später schickte Phra Narai zwei Mandarine in Begleitung zweier französischer Missionare aus, um sich nach dem Schicksal dieser ersten Delegation zu erkundigen. Unter ihnen befand sich der Priester Bénigne Vachet (1641–1720). Die siamesischen Mandarine waren nicht zu offiziellen Gesandten ernannt worden, da nicht bekannt war, ob die im Jahre 1680 losgeschickten Würdenträger Turquie (1536–1991) et de la Turquie en France (1797–1991), Istanbul u.a. 1991, S. 111f. 9 Der Begriff der politischen Ordnung ist hier bewusst allgemein gehalten und zielt auf die normative Vorstellung von der in beiden Fällen monarchischen Struktur von Herrschaftsausübung. 10 Bénigne Vachets Bericht wurde in der von Dominique Lannis publizierten Form benutzt: Le Rêve Siamois du Roi Soleil. Récits d’une fièvre éxotique à la cour du Très-Chrétien 1666–1727, hg. von Dominique Lanni, Paris 2001, S. 43–73, hier S. 55.

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noch lebten. Ihr unklarer diplomatischer Status führte zu konstanten Verwicklungen. Die beiden Siamesen stritten sich fortwährend mit dem französischen Geistlichen Bénigne Vachet um die Frage, wer denn nun weisungsbefugt, also „premier envoyé“ sei.11 Diese Rangstreitigkeit erwies sich als eine denkbar schlechte Ausgangsbedingung für die Beziehung zwischen Vachet und den siamesischen Würdenträgern während ihres Aufenthalts in Frankreich vom Oktober des Jahres 1684 bis Januar 1685. Für ihn stellt Vachets Bericht eine der ausführlichsten Quellen dar. Das Manuskript wurde erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht.12 Vachet war eng in das Netz der französischen Mission eingebunden. Daher ist anzunehmen, dass er seine Notizen zur internen Rechenschaft nutzte.13 Dies war umso wichtiger, als das Verhalten der siamesischen Würdenträger nahelegte, dass er an seiner Aufgabe, sie mit französischen Sitten und Gepflogenheiten vertraut zu machen, gescheitert war. Bereits während der ersten Station ihres Aufenthalts in Frankreich folgten die beiden Siamesen nicht Vachets Aufforderung, den „civilités“ Interesse entgegenzubringen, die ihnen ranghohe Adelige und Militärund Zivilbeamte erwiesen. In Vachets Augen war dies Ausdruck ihrer mangelnden Vertrautheit mit der „civilisation“, eine generalisierende Abwertung, die seine Verzweiflung über das Verhalten der ihm Anvertrauten ausdrückte. „Il est vrai que la curiosité y a sa bonne part: mais quoi qu’il en soit, cʼest une chose de dure digestion, lorsquʼon est avec des gens qui se froissent des actions les plus honnêtes, quʼil faut aiguilloner comme des boeufs pour les disposer à une civilité, et qui se choquent aussi facilement que les autres s’étudient simplement à leur donner du plaisir.“14

Es war für die siamesischen Besucher, das legt ihr Verhalten nahe, außerordentlich schwierig zu entscheiden, welche öffentlichen Handlungen auf französischem Boden einer angemessenen Repräsentation der siamesischen Krongewalt zuträglich waren. Ihre eigene Gegenwart gehörte ihrer Meinung nach 11 Van der Cruysse, Louis XIV (wie Anm. 2), S. 266. 12 Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 43f. 13 Vgl. die Instruktionen, die ihm der Bischof von Métellopolis mitgegeben hatte. Instructions données à Siam par M. l’Évêque de Métellopolis à MM: Vachet et Pascot, Missionaires Français qui accompagnent les Envoyés de Siam 1684, in: http://rencontredespaces.org/renespace/voyages/ASIE&20SE/Tha...20Siam/ mapage.noos.fr/memoires-de-siam/presentation_vachet.html (zuletzt besucht am 30.12. 2011). 14 Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 46f.

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nicht dazu. Jeglicher öffentliche Auftritt erhöhte in ihren Augen vielmehr die Gefahr eines Ehrverlustes für die siamesische Krone. So entgegneten sie Vachet auf seine Aufforderung, ihre Residenz zu verlassen, dass ihr Herrscher ihnen nicht befohlen habe, sich in Gesellschaft zu begeben.15 Vermutlich empfanden sie bereits das Verlassen ihrer Unterkunft als einen gravierenden Gesichtsverlust.16 Auf Vachets Drohung hin, er werde sich direkt bei Phra Narai über sie beschweren, beteuerten sie, dass ihnen die Wahrung ihrer Ehre wichtiger als das eigene Leben sei. Die Unstimmigkeiten weisen auf ein grundsätzlich anderes Verhältnis zur ‚richtigen‘ Repräsentation der Krongewalt hin: In Vachets Augen war es unerlässlich, dass sie abgesehen vom Zusammentreffen mit dem französischen Herrscher auch in Beziehungen zu anderen Gruppen und Akteuren traten. In den Augen der siamesischen Mandarine war dies einer guten Beziehung zwischen beiden Monarchen eher abträglich, da diese unkontrollierten Kommunikationsgelegenheiten zu große Gefahren des Gesichtsverlustes in sich bargen. Diese grundsätzliche Differenz kommt auch in ihrem Zusammentreffen mit Ludwig XIV. zum Ausdruck. Es stellte sich für einen reibungslosen zeremoniellen Ablauf in Versailles als äußerst hinderlich dar, dass die siamesischen Gäste nicht mit einem offiziellen Gesandtenstatus ausgestattet worden waren, weshalb sie weder eine Antritts- noch eine Abschiedsaudienz durchliefen.17 Ludwig XIV. ließ vielmehr ein formvollendet formloses Zusammentreffen mit ihnen arrangieren. Hierfür waren zwar genauso viele Vorbereitungen nötig wie für eine „audience solennelle“. Die Begegnung galt aber nicht als ein Gesandtenempfang, was dem französischen Herrscher viel Spielraum bei der Behandlung der beiden Mandarine ließ. Das Zusammentreffen im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles erfolgte im Beisein einer großen Menge an schaulustigen Höflingen. Es ließ zwei äußerst unterschiedliche Konzeptionen politischer Repräsentation zutage treten. „Nos Siamois, qui étaient accoutumés à ce profond respect et ce grand silence que l’on garde en présence de leur roi, étaient dans une surprise extraordinaire d’entendre un murmure confus, et de voir qu’on s’empressait si fort pour s’approcher de la personne du prince: les uns le devançaient, d’autres le suivaient, et la plus grande

15 Ebd., S. 54f. 16 Ebd., S. 59. 17 Van der Cruysse (wie Anm. 2), S. 263–294.

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partie était à ses côtés, en sorte que n’étant plus qu’à cinq ou six pas de nous, il fallut nous dire: ‚Voilà le roi!‘“18

Die Siamesen erwarteten eine bis ins letzte Detail kontrollierte Gegenwart des Herrschers, wie sie es aus dem siamesischen Hofzeremoniell kannten. Vachet hatte im Vorfeld diese Erwartungshaltung gefördert, indem er ihnen empfahl, die entsprechende Kleidung anzulegen.19 Auf der anderen Seite trafen sie hier auf ein genau entgegengesetztes Charakteristikum der Monarchie unter Ludwig XIV. Für ihn galt die Zahl derjenigen, die versuchten, ihn anzusprechen, als ein Gradmesser seiner eigenen Macht. Ludwig XIV. wollte sich zudem jederzeit als Souverän des Zeremoniells erweisen. Dies drückte sich für ihn darin aus, es spontan ändern zu können.20 So befahl er den in Prosternation vor ihm hingestreckten Siamesen nach kurzer Zeit, sich wieder zu erheben. Dies bewirkte bei ihnen einen grundsätzlich anderen Effekt, als von ihm intendiert: Beide Mandarine begannen nun ernsthaft an der königlichen Würde ihres Gegenübers zu zweifeln.21 Ludwig XIV. nahm dies kaum zur Kenntnis, sondern lud sie anschließend zum Besuch der Pariser Opéra ein, eine in seinen Augen hohe Ehre.22 Bei diesem Besuch wurden die Differenzen zwischen beiden Seiten so offensichtlich, dass nicht einmal mehr Vachet es vermochte, sie zu überbrücken. Auch hier gingen der französische Herrscher und die siamesischen Würdenträger von grundsätzlich anderen Repräsentationsfunktionen und Ordnungsvorstellungen aus. Ludwig XIV. befahl, die Mandarine als seine Sitznachbarn unmittelbar in der Nähe der Bühne zu platzieren. Die Siamesen konnten dies wiederum nicht akzeptieren, hätte es doch bedeutet, dass jemand über ihren Köpfen saß. Dies hätte nach ihrer Vorstellung einen vollständigen Gesichtsverlust nach sich gezogen. Beide verließen fluchtartig die Pariser Oper und konnten nur mit Mühe von einer sofortigen Abreise abgehalten werden.23 Trotz dieses Eklats bestand Ludwig XIV. auf einer Wiederholung des missglückten Experiments. Vachet ließ beide daraufhin mit einer Militäreskorte zur Oper geleiten. Dort erwarteten sie bereits der König und wichtige Hofangehörige. Auch dieses Mal kam es zu Missverständnissen über die Sitzordnung. Diese endeten schließlich mit dem königlichen Befehl, einen 18 19 20 21 22 23

Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 56f. Ebd., S. 55. Olivier Chaline, Le règne de Louis XIV, Paris 2005, S. 71–86. Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 58. Ebd., S. 58f. Ebd., S. 59.

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Soldaten zu exekutieren, dem Vachet die Schuld für das Verhalten der Siamesen in die Schuhe geschoben hatte.24 Die siamesisch-französischen Beziehungen brachen trotz dieses von diplomatischen Misserfolgen geprägten rencontre nicht ab. Daher ist es an dieser Stelle wichtig, sich noch einmal die grundlegenden Parameter der Kommunikation zwischen beiden Akteursgruppen vor Augen zu führen. Beiden gemein war eine bestimmte Vorstellung von der Bedeutung eines mit einer Gesandtschaft verknüpften Ranges. Phra Narai hatte den Status seiner Würdenträger im Unklaren gelassen und damit den Grundstein für die Konflikte zwischen ihnen und dem französischen Missionar Bénigne Vachet gelegt. Den Mandarinen gelang es weitgehend, ihre eigene Vorstellung von der mit ihnen verknüpften Repräsentation durchzusetzen, da Vachet fortwährend einen öffentlich sichtbaren Konflikt fürchtete. Als zutiefst unterschiedlich erwies sich die Bewertung von königlicher Macht und physischer Präsenz des Herrschers: Das Bestreben der beiden Siamesen, möglichst selten in der Öffentlichkeit zu erscheinen, brachte in ihren Augen die Position ihres Herrschers als ranggleich oder sogar ranghöher zum Ausdruck. Dieser Absicht standen zwei Faktoren entgegen: zum einen das Spezifikum der Monarchie unter Ludwig XIV., die Herrschaft über das Zeremoniell als Machtinstrument zu nutzen. Zum anderen mussten die Mandarine erfahren, dass sie als Gäste behandelt wurden, und zudem als ranghohe Gäste, die man – wollte man seine eigene „civilité“ beweisen – besuchte und zum Gegenbesuch einlud.

2. „Haussez! Haussez!“ – ein Brief und die audience solennelle des Chevalier de Chaumont am 18. Oktober 1685 in Ayutthaya Der französische Gegenbesuch in Siam ließ nicht lange auf sich warten und führte zu einem sehr viel größeren Medienecho in Frankreich als der im Jahre 1684 kaum wahrgenommene Besuch der Siamesen. So veröffentlichten zwei der an dieser Reise Beteiligten, François-Timoléon Abbé de Choisy und Alexandre Chevalier de Chaumont, kurz nach ihrer Rückkehr ausführliche Beschreibungen.25 Alexandre Chevalier de Chaumont maskierte mit seiner aus24 Ebd., S. 66f. 25 Das Reisejournal des Abbés ist von Dirk van der Cruysse herausgegeben worden: François-Timoléon abbé de Choisy, Journal du voyage de Siam, Paris 1995. Der

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führlichen Berichterstattung das politische und diplomatische Scheitern seiner Mission. Der Abbé de Choisy wollte sich als Reiseschriftsteller profilieren.26 Die Reise nach Siam stellte eine der wichtigsten Etappen der geistlichen und intellektuellen Karriere des Abbé de Choisy dar. Zwei Jahre später wurde er in die Académie Française aufgenommen und machte sich in den darauf folgenden Jahrzehnten einen Namen als Kirchenhistoriograph.27 Chaumont versuchte im Vorfeld der Audienz, sich über die Besonderheiten des siamesischen Hofzeremoniells zu informieren.28 In seinen Augen war es notwendig, die siamesische Hierarchie in die Rangvorstellungen der französischen Hofgesellschaft zu übersetzen. „Il vint quarante mandarins des premiers de sa cour, dont deux qui étaient oyas, c’est-à-dire comme sont tous les ducs en France.“29 Der Abbé de Choisy beobachtete sehr viel genauer als Chaumont. Er hob hervor, dass weniger die Zahl der Würdenträger an sich bedeutsam für die Ehrenbezeugung gegenüber der Gesandtschaft war als vielmehr der Zeitpunkt des Empfangs („Ils ont déjà résolu de donner lʼaudience le jour de lʼentrée, ce qui ne sʼest jamais fait.“30) wie auch die Behandlung des Schriftstücks, das Chaumont überreichen sollte, des Briefes Ludwigs XIV. an Phra Narai. Im Gegensatz zu Chaumont beschrieb de Choisy das zeremonielle Verhalten der siamesischen Mandarine gegenüber dem Brief, der für sie eine Repräsentation von Majestät darstellte. Vor ihm verbeugten sie sich wie vor einem Herrscher.31 Chaumont hingegen zeigte auch im Folgenden kein Verständnis für die besondere Bedeutung des Schriftstücks, das eine Schlüsselrolle in der Audienz spielen sollte. Ihm zufolge mussten ihm als Stellvertreter der französischen Krone mindestens genau dieselben Ehren zuteilwerden wie dem Schriftstück, das er überreichen sollte. Bereits im Vorfeld erbat er sich daher von Constance Phaulkon, dem engsten Berater Phra Narais, der bei dieser Gelegenheit als Zeremonienmeister und Dolmetscher fungierte, das Recht, den Brief persönlich, das heißt von Hand zu Hand, zu überreichen. Diese Forderung war für siamesische Verhältnisse geradezu skandalös, implizierte sie doch einen direkten Körperkontakt

26 27 28 29 30 31

Bericht de Chaumonts wurde in der von Lanni herausgegebenen Fassung verwendet: Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 76–143. Dirk van der Cruysse, Introduction, in: François-Timoléon abbé de Choisy, Journal du voyage de Siam, Paris 1995, S. 2–33, hier: S. 19–25 Vgl. auch Dirk van der Cruysse, LʼAbbé de Choisy, androgyne et mandarin, Paris 1995. Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 131. Ebd., S. 132. Choisy, Journal (wie Anm. 25), S. 190. Ebd.

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und eine Situation zwischen Herrscher und Gesandtem, bei der sich beide in die Augen schauen konnten.32 Phaulkon hatte schließlich den Kompromiss erzielt, dass Chaumont den Brief zwar selbst, aber nicht unmittelbar von Hand zu Hand, sondern mithilfe eines an einem langen Stiel befestigten Tabletts überreichen sollte. Um dies zu verstehen, ist es wichtig, sich die Situation im Audienzzimmer vor Augen zu führen. Der siamesische Herrscher saß nicht öffentlich sichtbar auf einem Thron. Vielmehr ließ er beim Höhepunkt der Audienz einen kleinen Ausschnitt von sich an einem erhöht angebrachten Fenster sehen. Feierliche Musik kündigte diesen Moment vorher an.33 Im Angesicht des Monarchen selbst hatte vollkommene Ruhe zu herrschen. Alle Anwesenden waren dazu aufgefordert, sich mit dem Gesicht zu Boden zu werfen. Chaumont durchbrach dieses auf eine Überhöhung des Herrscherleibs abzielende Szenario. Nicht nur, dass er während seiner Rede, die er stehend hielt, weder Kopfbedeckung noch Degen ablegte.34 Er wies auch die von siamesischer Seite vorbereitete Konstruktion zur Überreichung des Briefes zurück, um ihn direkt in die Hand zu nehmen. Er war auch um den Preis des Scheiterns seiner diplomatischen Aufgabe fest dazu entschlossen, eine persönliche und in seinen Augen gleichrangige Übergabe durchzusetzen: „Je pris la lettre des mains de monsieur l’abbé de Choisy et je la portai dans le dessein de ne la présenter que comme je venais de me déterminer de le faire. Monsieur Constance qui m’accompagnait rampant sur ses genoux et sur ses mains me cria et me fit signe de hausser le bras de même que le roi, je fis semblant de n’entendre point ce qu’on me disait et me tins ferme, le roi alors se mettant à rire, se leva et se baissa pour prendre la lettre dans la vase et se pencha de manière que l’on lui vit tout le corps, dès qu’il l’eut prise, je fis la revérence et je me retirai sur mon siège.“35

Phra Narai wiederum handelte, so beschrieb es Chaumont, gegen das siamesische Hofzeremoniell, indem er sich soweit wie möglich zu Chaumont herunterbeugte und den Brief auf Kopfhöhe hob. Die Fortsetzung der Beziehungen lag sichtlich in Phra Narais Interesse. Es darf vermutet werden, dass sein ungewöhnliches Verhalten während der Audienz nicht zu seiner Popularität beitrug, beugte sich hier doch zum ersten Mal ein siamesischer Herrscher, und dies auf Initiative eines Ausländers hin. 32 33 34 35

Choisy, Journal (wie Anm. 25), S. 207. Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 134. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 137.

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3. „Le roi avait son justaucorps de pierreries“.36 Die Interpretation des siamesischen Audienzzeremoniells in Versailles am 4. September 1686 Das Jahr 1686 markierte den Höhepunkt der französischen Aufmerksamkeit für die Beziehungen zum siamesischen Königreich. Waren bereits mehrere Beschreibungen der französischen Gesandtschaft im Königreich Siam im Jahr zuvor erschienen, so widmete nun fast jeder, der in Kontakt mit den siamesischen Mandarinen kam, wenigstens ein paar Zeilen in seiner Korrespondenz oder seinem Tagebuch dem Besuch der siamesischen Delegation in Frankreich.37 Besonders aufschlussreich ist, dass wir auch zum ersten Mal eine Quelle aus siamesischer Feder lesen können. Kosa Pan, der Leiter der siamesischen Delegation, führte ein Tagebuch, dessen Fragmente sich in einer Sammelhandschrift im Archiv der Missions Étrangères erhalten haben. 38 Leider bricht der Text nach der Schilderung der ersten Station Brest ab, so dass es nicht möglich ist, eine französische mit einer siamesischen Schilderung der „audience solennelle“ zu vergleichen. Dennoch bietet das Tagebuch Kosa Pans die Möglichkeit, Informationen aus erster Hand über das rekonstruieren zu können, was dem Gesandten wichtig erschien, schriftlich festgehalten und Phra Narai vorgetragen zu werden. Im Gegensatz zu den französischen Berichten, die den Schreibenden als wortwitzig und gewandt im Auftreten charakterisieren sollen, macht das Tagebuch Kosa Pans einen überaus nüchternen Eindruck. Detailgetreu befasste er sich mit drei Themen: 1. den Personen, mit denen die Delegation zusammentraf, und ihrem jeweiligen Rang, 2. den Schiffen, ihrer Anzahl, Bauweise, militärischen Nutzung und ihrer zeremoniellen Ehrung, sowie 3. der Art und Weise, wie der Brief Phra Narais behandelt wurde.39 Kosa Pan ließ sich nur mit Mühe davon überzeugen, dass es genauso 36 Es handelt sich hierbei um einen anonymen Tagebucheintrag zum 4. September 1686. Das Journal ist Teil einer in der Bibliothèque Nationale aufbewahrten Sammelhandschrift mit dem Titel „Lettres historiques et anecdotiques, 1682 à 1687“, vgl. http://rencontredespaces.org/renespace/voyages/ASIE&20SE/ Tha...20Siam/mapage.noos.fr/memoires-de-siam/griselle.html (zuletzt besucht am 30.12. 2011). 37 Vgl. Trakulhun, Siam (wie Anm. 4), S. 75 und Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 144f. 38 Vgl. Michael Smithies, Introduction, in: The Diary of Kosa Pan Thai Ambassador to France June-July 1686, Bangkog 2002, S. 1–26, hier S. 15. 39 The Diary of Kosa Pan (wie Anm. 38), zum Beispiel S. 36–46.

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sicher und ehrenvoll sei, diesen Brief auf dem Wasser statt auf dem Landweg von Brest nach Versailles reisen zu lassen,40 wobei die Wasserreise des Schriftstücks eine französische Adaption des siamesischen Zeremoniells darstellte. Denn für diesen Brief war eigens eine Transportkonstruktion gebaut worden, die jener nachempfunden worden war, mit der ein Jahr zuvor der Brief Ludwigs XIV. in den Palast des siamesischen Herrschers transportiert worden war. Kosa Pan widmete ihr eine ausführliche Beschreibung: „At about two oʼclock in the afternoon, priests, naval officers, officials, and men and women from the city came in thirty boats to receive the Thai kingʼs letter. Among these boats, the one assigned to carry the royal letter was a ship about 18  long and 4 m wide. (...) The roof of the ship is laid over with silk fabric embroidered with gold threads and tied in knots in places. Other designs are wooven with gold threads. It is further decorated with silk straps and fringes as pendant tufts of gold cords. The wall of the room is carved and gilded. The two sides of the ship and the front bow are also gilded. The wall inside the room has paintings in bencharong patterns. Windows are lined with glass panes. At the front of the ship four twoinch cannons are mounted. In the front part of the room there is a raised platform covered with a carpet on which the pavilion holding the royal letter is to be placed.“41

Ein Kupferstich aus dem Almanach des Jahres 1687 zeigt, wie Aufsehen erregend die spezielle Konstruktion zum Transport des Schriftstücks war, setzt er sie doch prominent über der eigentlichen Audienzszene ins Bild. Im Mittelpunkt der Szene steht vergleichbar der Monstranz bei einer Fronleichnamsprozession der Apparat zum Transport des siamesischen Briefes. Der Kupferstecher brachte damit dessen gleichsam sakrale Funktion zum Ausdruck. Diese wurde auch von anderen intensiv wahrgenommen. So beschrieb Louis Nicolas Le Tonnelier de Breteuil, Höfling in Versailles, sie in seinem Tagebuch mit folgenden Worten:42 „La première action que le premier ambassadeur fit, fut de placer la lettre du roi son maître, à la ruelle, du lit de chambre des parades (...). Tous les ambassadeurs mettaient tous les jours des fleurs nouvelles dessus la lettre du roi, et toutes les fois quʼils passaient devant ce lieu royal, ils faisaient de profondes révérences.“43

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Ebd., S. 70f. Ebd., S. 36. Vgl. Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 146–163. Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 152.

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Abb. 1  Kupferstich mit dem Transport des Briefes aus dem Almanach des Jahres 1687, Bibliothèque Nationale de France, Signatur: QB-5(1687)-FT 5

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Abb. 2  Audience solennelle in Versailles, Kupferstich aus dem Almanach 1687, Bibliothèque Nationale de France, Signatur: QB-5(1687)-FT 5

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Die französische Seite akzeptierte das in ihren Augen befremdliche Wertschätzen eines diplomatischen Briefes, indem sie das siamesische Zeremoniell nach Frankreich holte. Aber auch in einem weiteren Punkt versuchte sie, auf die Gegenseite zuzugehen. Die siamesischen Legaten wurden einem sehr viel entspannteren Besuchsprogramm ausgesetzt als ihre Vorgänger.44 Diese wiederum waren instruiert worden, dem französischen Drang nach „civilité“ nachzugeben und selbst dann nicht vor Konversation und körperlichen Berührungen zurückzuschrecken, wenn Damen involviert waren.45 Adaptierten die siamesischen Gesandten die Formen der Konversation und körperlichen Interaktion, so versuchte Ludwig XIV., sich der Form der in Siam gebräuchlichen monarchischen Repräsentation zu bedienen. In der audience solennelle entschloss er sich dazu, vom sonst üblichen Procedere abzuweichen. So ließ er eigens für diese Audienz einen Thron auf einer Plattform im Spiegelsaal errichten, um wie der siamesische Monarch in signifikanter Höhe über dem Geschehen platziert zu sein, eine Änderung, die auch ein Kupferstich im Almanach des Jahres 1687 ins Bild setzte. Außerdem ließ er sich ein prachtvolles, mit Edelsteinen besetztes Gewand schneidern.46 Den Moment seiner Thronbesteigung markierten 24 Trompeten und 36 Tamburine – auch dies eine französische Adaption siamesischer Sitten.47 Hatte Ludwig XIV. die eigene Prachtentfaltung merklich erhöht, so hatte er den Rang der siamesischen Gesandten im Vorfeld der Audienz heruntergesetzt, indem er sie nicht durch einen Prinzen zur Audienz geleiten ließ, sondern nur durch den Maréchal de La Feuillade.48 Vielleicht ermöglichte ihm erst diese Herabstufung, die unterwürfige Gestik der siamesischen Gesandten zu akzeptieren. Die siamesische Delegation näherte sich ihm in derselben Körperhaltung wie ihrem eigenen Herrscher. „Les ambassadeurs, du moment qu’ils aperçurent aussi le roi, firent trois profondes révérences, pliant leur corps, et élévant leurs mains jointes à la hauteur de leur tête. Ils marchèrent ensuite, toujours les mains élevées, et firent, de distance en distance, de très profonds salut, jusqu’à ce qu’ils fussent arrivés au pied du trône.“49

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Dirk van der Cruysse, Louis XIV (wie Anm. 2), S. 373–410. The Diary of Kosa Pan (wie Anm. 38), zum Beispiel S. 36. Vgl. Van der Cruysse, Louis XIV (wie Anm. 2), S. 389. Ebd. Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 152. Ebd., S. 155.

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Die Adaption des siamesischen Audienzzeremoniells stieß in den Punkten an ihre Grenzen, in denen die Audienz für Ludwig XIV. bestimmte Funktionen innerhalb des Hofes und für die französische Öffentlichkeit erfüllte. So führten das Anlegen eines andersartigen Gewandes und das Besteigen eines prachtvollen Thrones keineswegs zu einer grundsätzlichen Verhaltensänderung des Monarchen. Zwar war für genügend Platz für die siamesische Delegation gesorgt worden. Um sie herum drängte sich jedoch die Menge der Versailler Hofgesellschaft. Dem Wechsel von akustischem Signal und absolutem Schweigen, das die apparitio des siamesischen Monarchen musikalisch untermalte, stand hier ein lautes akustisches Signal und eine bestimmte akustische Grunduntermalung entgegen, die eine große, nicht spezifisch im Raum angeordnete Menge zwangsläufig mit sich bringt. Zudem ließ Ludwig XIV. es sich nicht nehmen, sich auch im Verlauf dieser Audienz als Herr des Zeremoniells zu erweisen. So überging er Einwände, dass die siamesischen Gesandten das Gesicht von ihm entsprechend ihren eigenen Gepflogenheiten abwenden würden, und hieß sie, ihn anzuschauen.50 Damit wirkte er dem Eindruck monarchischer Abgehobenheit entgegen, dessen Evozierung das Ziel des siamesischen Zeremoniells war. Leider sind die Reaktionen der siamesischen Würdenträger nicht überliefert, aber es ist anzunehmen, dass sie diese Unstimmigkeiten genau wahrnahmen. Ludwig XIV. nutzte außerdem den Rahmen der Audienz, um der kurz zuvor erfolgten Legitimierung zweier seiner unehelichen männlichen Nachkommen, des duc de Maine und des comte de Toulouse, auch im Zeremoniell Ausdruck zu verleihen, indem er sie zusammen mit den Prinzen von Geblüt auf die Bühne holte.51 Für den französischen König stand die innerhöfische und innergesellschaftliche Kommunikationsfunktion der Audienz im Vordergrund. Das spektakuläre Ereignis des Empfangs der siamesischen Delegation gab ihm Gelegenheit, sich als Monarch in Szene zu setzen, der – mit fremdartigen Ehren angetan – die Hoheit über gesellschaftlichen Rang innerhalb seines Reiches beanspruchte. Eine konsequente Befolgung des siamesischen Hofzeremoniells hätte dazu geführt, einen entsprechenden Eindruck von der Größe der französischen Monarchie bei der siamesischen Delegation hervorzurufen. Sie hätte aber auch bedeutet, die innerfranzösische Kommunikationssituation der Audienz zu negieren. So hätte sie für Ludwig XIV. die Gefahr eines Kontrollverlustes im Inneren nach sich ziehen können, eine Gefahr, die für ihn sehr viel un50 Ebd. 51 Le Rêve Siamois (wie Anm. 10), S. 155.

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mittelbarer war als der Eindruck, den er bei der siamesischen Delegation hervorrufen wollte.

4. Wandel durch Annäherung? Die eigene Ordnung und die Ordnung des Anderen in der Sprache wechselseitiger Besuche Die audience solennelle im Spiegelsaal von Versailles am 1. September 1686 stellte den letzten feierlichen Empfang einer siamesischen Gesandtschaft im Frankreich der Frühen Neuzeit dar. Sie war gleichzeitig Höhe- und Abschlusspunkt einer Geschichte der wechselseitigen Wahrnehmungen der französischen und siamesischen Monarchie. Wie in einem Brennglas zeigt sie die Möglichkeiten und Grenzen einer kulturelle Barrieren überwindenden Annäherung beider Mächte. An den politischen Rahmenbedingungen der Kontakte änderte sich durch die persönlichen Begegnungen nichts. Weder erreichte Ludwig XIV. die Konversion Phra Narais noch konnte dieser eine dauerhafte französische Unterstützung gegen niederländische Interessen und innersiamesische Zwistigkeiten sichern. Die Inhalte der jeweiligen Schriftstücke, die ausgetauscht wurden, glichen sich über die Jahre hinweg.52 Diese gleichbleibende Interessenlage war dafür verantwortlich, dass die unterschiedlichen zeremoniellen Sprachen nicht zu einem Abbruch der Beziehungen führten. Vielmehr verstärkte die Interessenlage das Bemühen, den zeremoniellen Code des anderen zu verstehen und soweit zu adaptieren, dass beide Seiten den Eindruck erwecken konnten, sich um die Gegenseite zu bemühen. Dabei durfte diese Adaption aber nicht die Kommunikationsfunktion, die die Audienz für die jeweilige Hofgesellschaft besaß, durchbrechen. Tat sie dies, und sei es nur in Ansätzen, wirkte sich dies für beide Monarchen negativ aus. Phra Narai wurde für sein Entgegenkommen gegenüber dem französischen Gesandten Alexandre de Chaumont kritisiert.53 Im Falle Ludwigs XIV. wiederum mag die audience solennelle dazu beigetragen haben, Kritik an seiner Selbsterhöhung neue, anschauliche Nahrung zu geben.54

52 Van der Cruysse, Louis XIV (wie Anm. 2), S. 271, 355, 399. 53 Ebd., S. 351–354. 54 Vgl. zum Beispiel Pierre Jurieu, Les soupirs de la France esclave qui aspire après la liberté, Amsterdam 1689.

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Als ein grundlegendes Hindernis für die Entwicklung einer gemeinsamen Zeremonialsprache erwies sich in allen drei Begegnungen eine völlig andere Bedeutung der Stellvertretung des abwesenden Monarchen. Im französischen Fall übernahm diese Funktion der Gesandte. In dieser Logik handelte Alexandre de Chaumont vollkommen folgerichtig. Er versuchte als Vertreter Ludwigs XIV., keinen Fingerbreit von der Absicht zu weichen, dessen Rangposition so weit wie möglich durchzusetzen: gut sichtbar in der Übergabe des Briefes auf gleicher Augenhöhe mit Phra Narai. Diese körperliche Repräsentation stand nicht im Mittelpunkt des siamesischen Herrschaftsverständnisses. Hier übernahm vielmehr das eigenhändig vom König unterzeichnete Schriftstück die Funktion, Rang und Würde zu repräsentieren. Ihm wurde deshalb auch eine kultische Verehrung zuteil, die einem Menschen wohl nicht oder doch nur temporär hätte zukommen können. In diesem Sinne konzentrierte sich die siamesische Delegation auf die Überreichung des Briefes in der Audienz und sah alle weiteren ‚zivilen‘ Begegnungen mit Mitgliedern der Administration als unnötige Gefährdungen der hochgradig formalisierten Darstellung der Würde ihres Herrschers an. Diese grundsätzlichen Differenzen wurden in den Jahren 16841686 nicht überbrückt. Vielmehr kam es zu wechselseitigen Modifikationen, etwa in der Errichtung eines eigenen Gestells und Bootes für den königlichen siamesischen Brief in Frankreich im Jahre 1686 oder in der Tatsache, dass Phra Narai sich zu Alexandre de Chaumont hinunterbeugte. Die kulturelle Adaption an das jeweilige Gegenüber stellte dabei – anders als heute – keinen Wert an sich dar, sondern war aus dem Willen beider Seiten geboren, die Kommunikation unter keinen Umständen abbrechen zu lassen.

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Beim „König“ von Anomabo Audienzen an der westafrikanischen Goldküste als Schauplatz afrikanischer Politik und europäischer Konkurrenz (1751/52) Christina Brauner Als der Abgesandte der französischen Compagnie des Indes Du Bourdieu 1752 im westafrikanischen Anomabo an Land ging, um über die Errichtung eines Forts zu verhandeln, wurde er ehrenvoll empfangen und erhielt sogleich eine Audienz beim „Roi Courantry“, in der die wechselseitige Freundschaft bekräftigt wurde. Doch war es so? Was sich in den ersten Seiten des Berichts Du Bourdieus als eindeutige Szene liest, wird bei genauerer Untersuchung fragwürdig und mehrdeutig. Weder war der ehrenvolle Empfang eindeutig „ehrenvoll“ noch die Freundschaft eindeutig „Freundschaft“ noch der König eindeutig „König“. Vielmehr wird die Szene der Begegnung als Produkt sinnstiftender Lektüren und diskursiver Vereindeutigungsversuche erkennbar, die sich im weiteren Verlauf der Mission in Anomabo immer wieder als fragil und brüchig erwiesen. Gerade aufgrund dieser Brüchigkeit lässt sich aber besonders prägnant aufzeigen, dass Audienzen, zumal transkulturelle, stets eine semiotische Herausforderung, man könnte sagen: ein semiotisches Abenteuer darstellen. In dem hochsymbolischen Rahmen der Audienz verdichten sich wechselseitige Zuschreibungen und Aushandlungsprozesse, verdichtet sich das Verhältnis der Akteure und der Gemeinwesen, die sie repräsentieren, gleichsam zu einer ‚Szene‘, die von beiden Seiten mit einem Überschuss an Bedeutungserwartung und Sinnstiftung versehen wird. In dieser Szene wird jede Bewegung, jeder Zwischenraum, jeder Gegenstand, jedes Wort unter ‚Sinnverdacht‘ gestellt, kann so über sich selbst hinausweisen und zum Zeichen für den Zustand oder den Wandel der gesamten Beziehung werden – nicht notwendigerweise aber zum eindeutigen, von allen gleich gedeuteten Zeichen.1 1 Der Begriff der ‚Szene‘ wird hier in Anlehnung an die Überlegungen von Burghartz verwendet, s. Susanna Burghartz, ‚Translating Seen into Scene‘, in: Berichten, Erzählen, Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas, hg. von ders./Maike Christadler/Dorothea Nolde, Frankfurt a.M. 2003, S. 161–175. – Ich benutze hier einen Audienz-Begriff, der weiter ist als derjenige der Diplomatie- und Zeremonielltheorie. Damit trage ich

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Eine Audienz ist keine Begegnung statischer Entitäten mit determiniertem Verlauf und Ergebnis, vielmehr ist sie zugleich Ort und Ereignis der (Re)Produktion und Aushandlung von Machtverhältnissen. Diese betreffen nicht allein Empfangenden und Empfangenen, sondern auch deren Positionen innerhalb der jeweils eigenen Gruppe. Im Folgenden werden die Audienzen zweier Abgesandter einer Handelskompanie, der französischen Compagnie des Indes, untersucht, die Audienz Du Bourdieus im Februar 1752 sowie diejenige seines Vorgängers Came im Februar 1751.2 Die beiden Missionen dienten der Verhandlung über die Errichtung eines Forts, waren aber gleichzeitig Teil der englisch-französischen Auseinandersetzung um Handels- und Herrschaftsrechte in Anomabo. An ihrem Beispiel soll zunächst die oben skizzierte Bedeutung von Audienzen als Ort und Gegenstand der Aushandlung von Machtverhältnissen herausgearbeitet werden, sodann werden die Rolle des Vergleiches für die Deutung von Audienzzeremoniell und sein Funktionieren als symbolisches Kapital untersucht. Abschließend diskutiere ich anhand des Begriffs der Souveränität und der mit ihm verbundenen Symbol- und Deutungskonflikte das Verhältnis von europäischem Diskurs und lokalen Praktiken sowie Verständnisweisen. Diesen drei Untersuchungsschritten ist eine kurze Einführung in den historischen Kontext vorangestellt, in der ich eingangs die Situation an der westafrikanischen Goldküste mit ihren komplexen Akteurskonstellationen erläutere und dann einen knappen Überblick über Anomabo als Ort europäisch-afrikanischer Beziehungen gebe.

zum einen den (zumindest in europäischen Augen) weniger formalisierten Abläufen in Anomabo Rechnung, zum anderen scheint mir eine allzu enge Fassung des Gegenstandes dem Erkenntnispotential der Untersuchung von „Audienzsituationen“ eher ab- als zuträglich zu sein, insbesondere lässt sich oft nicht trennscharf zwischen Audienz und Verhandlung unterscheiden. 2 Für die Audienz von 1752 ist hauptsächlich die Korrespondenz zwischen Du Bourdieu und seinem Vorgesetzten Périer de Salvert heranzuziehen, Archives d’Outre-Mer (ANOM), Aix-en-Provence, C 6/13; für die Audienz von 1751 die Relation de M. de Came au sujet de la députation auprès le Roi d’Annamabou, dd. 06.02.1751, ANOM, Dépôt Fortifications et Colonies (DFC) XIII/75, no. 96. In beiden Fällen werden neben weiteren Überlieferungen der Compagnie des Indes auch die entsprechenden Dokumente der englischen Company of Merchants Trading to Africa sowie der beiden Außenministerien untersucht.

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1. Historischer Kontext a. Die Goldküste in der Frühen Neuzeit „...where in some particular places [the European forts] are so crouded together, that our Charts or Maps can hardly distinguish them; and indeed they stand so close, that they have much ado to preserve the Peace among one another, in the matters of Trade...“3

Diese Charakterisierung aus dem Atlas Maritimus & Commercialis von 1728 zeichnet ein anschauliches Bild der komplexen Situation, wie man sie an der westafrikanischen Goldküste im 17. und 18. Jahrhundert antraf. Ein Blick auf eine zeitgenössische Karte macht deutlich, dass hier der Vielzahl von europäischen Akteuren eine ebensolche Vielzahl an afrikanischen Gemeinwesen gegenüberstand. Dies beförderte – neben ihrer Attraktivität als Gold-, später auch als Sklavenlieferantin – die Entwicklung der Region zu einem Schauplatz starker europäischer Konkurrenz. Auf europäischer Seite waren es vor allem privilegierte Handelskompanien, die wesentlichen Anteil an dem Konkurrenzkampf um Handelsrechte, Forts und Verbündete hatten.4 3 Nathaniel Cutler et al., Atlas maritimus & commercialis, or, A general view of the world, so far as relates to trade and navigation, London 1728, S. 248. Davies konstatiert Ähnliches: „To an extent greater than any other extra-European part of the seventeenth-century world, Africa was the resort of ships and traders of many nations. English, French, Dutch, Portuguese, Germans, Scandinavians and Spaniards were to be met with; of the European nations, only the Italians and the Poles seem to be missing.“ Kenneth Gordon Davies, The Royal African Company, London u.a. 1957, S. 264. 4 Zu den englischen Aktivitäten: Paul E.H. Hair/Robin Law, The English in Western Africa to 1700, in: The Oxford History of the British Empire, Bd. 1: The Origins of Empire. British Overseas Enterprise to the Close of the Seventeenth Century, hg. von Nicholas Canny, Oxford u.a. 1998, S. 241–263 und Davies, Company (wie Anm. 3); zur niederländischen WIC: Henk den Heijer, De geschiedenis van de WIC, Zutphen 22007; zu den skandinavischen Kompanien: Georg Nørregård, Danish Settlements in West Africa, 1658–1850, Boston 1966 und György Nováky, Small Company Trade and the Gold Coast, in: Itinerario 16 (1992), S. 57–76; zu den französischen Kompanien: Abdoulaye Ly, L’évolution du commerce français d’Afrique noire dans le dernier quart du XVIIe siècle: La Compagnie du Sénégal de 1673 à 1696, Bordeaux 1955 und Kenneth J. Banks, Financiers, Factors and French Proprietary Companies in West Africa, 1664–1713, in: Constructing Early Modern Empires. Proprietary Ventures in the Atlantic World, 1500–1750, hg. von Louis H. Roper/Bertrand van Ruymbeke, Leiden u.a. 2007, S.  79–116 (die französischen Unternehmungen jenseits des

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Diese Kompanien waren jeweils mit königlichen bzw. staatlichen Privilegien ausgestattet, besaßen meist ein nationales Monopol auf den „Guinea“- oder Afrika-Handel und konnten bestimmte Souveränitätsrechte ausüben.5 Damit kann man die Kompanien als Repräsentanten der jeweiligen ‚Staaten‘ ansehen. Ein Angriff auf eine solche Kompanie und ihre Besitzungen wurde dementsprechend als Angriff auf den jeweiligen Souverän betrachtet. Die Funktion der Handelskompanien und ihrer Angestellten als „Akteure der Außenbeziehungen“ ist einer an einem engen Diplomatiebegriff orientierten Forschung bislang weitgehend entgangen bzw. sie wurde allenfalls im Sinne ihrer Vorläuferrolle für die Koloniegründungen des 19. Jahrhunderts beleuchtet.6 Meines Erachtens lassen sich aber gerade anhand der Interaktionen der Handelskompanien in Westafrika, sowohl mit afrikanischen Vertretern als auch untereinander, verschiedene Aspekte frühneuzeitlicher diplomatischer Praxis besonders prägnant herausarbeiten: Erstens kann eine Untersuchung der Beziehungen zu den zahlSenegals bedürfen, vor allem für das 18. Jhdt., weiterhin einer ausführlichen Studie); zur brandenburgischen BAC bzw. BAAC: Eberhard Schmitt, The Brandenburg Overseas Companies in the 17th Century, in: Companies and Trade, hg. von Leonard Blussé/Femme Gaastra, Leiden 1981, S. 159–176 und Ulrich von der Heyden, Rote Adler an Afrikas Küste. Die brandenburgisch-preußische Kolonie Großfriedrichsburg in Westafrika, Berlin 2001. 5 So sieht das Octroy für die West Indische Compagnie vom 03.06.1621 vor, dass sie „op [der Staten Generaal] Name ende authoriteyt / binnen de Limiten hier vooren gestelt / sal mogen maecken Contracten / Verbintenissen ende Alliancien met de Princen ende Naturelen vande Landen daer inne begrepen […].“ Zudem werden ihr die Jurisdiktionsgewalt im Oktroigebiet und die Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden verliehen; Octroy By de Hooghe Mogende Heeren Staten Generael / verleent aende West-Indische Compagnie, in date den derden Junij 1621, Weduwe ende Erfgenamen van Hillebrant Jacobssz. van Wouw: ’s Graven-Hage 1637, fol. 3r. – Untersuchungen zur Rechtsstellung und -praxis dieser Kompanien fehlen bislang, erste Anhaltspunkte kann die besser untersuchte Praxis der Ostindien-Kompanien liefern, s. bspw. Jan A. Somers, De VOC als volkenrechtelijke actor, [Deventer] 2001 und Charles Henry Alexandrowicz, An Introduction to the History of the Law of Nations in the East Indies (16th, 17th and 18th Centuries), Oxford 1967; anregend außerdem Ken MacMillan, Sovereignty and Possession in the English New World. The Legal Foundations of Empire (1576–1640), Cambridge u.a. 2006. 6 Als Ausnahmen vgl. aber Jurriaan van Goor, De koopman als diplomaat. Hofreizen als spiegel van Europees-Aziatische verhoudingen, in: Orbis in Orbem. Liber amicorum John Everaert, Gent 2001, S. 513–538 und Hof en handel. Aziatische vorsten en de VOC 1620–1720, hg. von Elsbeth Locher-Scholten/Peter Rietbergen, Leiden 2004; Gerrit Knaap/Ger Teitler (Red.), De Verenigde Oost-indische Compagnie tussen oorlog en diplomatie, Leiden 2002.

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reichen westafrikanischen Herrschern und ‚Staaten‘ dazu beitragen, die Grenzen der völkerrechtlichen Praxis der Zeit auszuloten und ihre Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert zu verfolgen. Zweitens tritt in der Ausbildung einer lokalen diplomatischen Praxis mit einem gemeinsamen Repertoire an Verfahren und Ritualen der Vertrauensbildung, Aushandlung und Absicherung, das sich durch wechselseitige Adaptationen und Einflussnahme ausbildete, der Aspekt der Interkulturalität und Fremdheitserfahrung, der mittlerweile als ein zentraler Teil diplomatischer Erfahrung (wieder)entdeckt wurde,7 besonders deutlich hervor. Drittens lässt sich durch die Vielzahl der europäischen Akteure eine (innereuropäische) Vergleichsperspektive aufwerfen. So kann einerseits die These der Inkommensurabilität der verschiedenen europäischen Praktiken und Vorstellungen der „Besitznahme“ in Übersee überprüft werden, wie sie vor allem Patricia Seed in ihrer Studie über „Ceremonies of Possession“ vor einigen Jahren aufgestellt hat,8 andererseits rücken die Verflechtungsprozesse zwischen den Kompanien in den Blick. Dabei wird deutlich, dass die Kompanien sich 7 So z.B. Wahrnehmungen des Fremden. Differenzerfahrungen von Diplomaten im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von Michael Rohrschneider, Münster 2007; Thomas Weller, Andere Länder, andere Riten? Die Wahrnehmung Spaniens und des spanischen Hofzeremoniells in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke, Köln u.a. 2007, S.  41–56; Peter Burschel, Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, hg. von Alexander Koller, Tübingen 1998, S.  260–271; Hillard von Thiessen/Christian Windler, Einleitung: Außenbeziehungen in akteurszentrierter Perspektive, in: Akteure der Außenbeziehungen. Netzwerke und Interkulturalität im historischen Wandel, hg. von dens., Köln 2010, S. 1–12. 8 Patricia Seed, Ceremonies of Possession in Europe’s Conquest of the New World, 1492–1640, Cambridge u.a. 1995. Deutlicher auf Gemeinsamkeiten verweisen dagegen Keller et al. (u.a. S. 28ff. zur Frage der effektiven Okkupation). Sie halten jedoch insbes. im Hinblick auf Verträge mit außereuropäischen Herrschern und Völkern fest an einer eindeutigen Differenz zwischen „semibarbarous and savage peoples“, mit denen allenfalls „symbolische“ Verträge abgeschlossen wurden, und zivilisiert(er)en Völkern, die als Souveränitätsrechte besitzend betrachtet und mit denen folgerichtig auch „true international treaties“ eingegangen wurden; s. Arthur S. Keller/Oliver J. Lissitzyn/Frederick J. Mann, Creation of Rights of Sovereignty Through Symbolic Acts, 1400–1800, New York 1938 (Reprint New York 1967), bes. S. 10ff. und 15f. Meines Erachtens ist es zweifelhaft, ob vor dem späten 18. Jhdt. schon ein eindeutiges Zivilisationskriterium die Rechtspraxis bestimmte. Zwar wird die Frage der Existenz staatlicher Strukturen (im weitesten Sinne) bereits in der spanischen Spätscholastik diskutiert, doch kaum als allgemein gültiges

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zwar häufig einer ausgeprägt nationalen Rhetorik bedienten, die in manchen Teilen bereits spätere Zeiten vorwegzunehmen scheint, zugleich aber die personellen Strukturen wie die Praxis vor Ort sie als „transnationale“ Unternehmungen ausweisen.9 Audienzen spielten in der afrikanisch-europäischen Beziehungspraxis eine zentrale Rolle, an ihnen lässt sich auch die enge, unlösbare Verknüpfung von ‚Handel‘ und ‚Politik‘ aufzeigen. In den ‚Küstenstaaten‘ waren sie eine nahezu alltägliche Erscheinung: In einigen Fällen wurde zur Aufnahme von Handel für jedes einzelne Schiff grundsätzlich eine Erlaubnis des Herrschers benötigt, überall aber galt es, Kontakte zu pflegen und Geschenke zu tauschen, aber auch über Jurisdiktionsfragen, militärische Bündnisse und andere Allianzen zu verhandeln.10 Außeralltäglichere Ereignisse waren hingegen Audienzen in den mächtigen ‚Inlandsstaaten‘ wie Asante, Dahomey oder Akyem, die sowohl zeitgenössisch11 als auch von Seiten moderner Historiker die größere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.12 An ihnen ließen sich Erzählungen von großen,

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Kriterium des praktischen Vorgehens gebraucht – entscheidend sind vielmehr situative Momente, besonders die Machtverhältnisse vor Ort. Auf diesen „transnationalen“ Charakter der frühneuzeitlichen Handelskompanien hat Flüchter am Beispiel der VOC aufmerksam gemacht, vgl. Antje Flüchter, Identität in einer transkulturellen Gemeinschaft? ‚Deutsche‘ in der Vereenigde Oost-Indische Compagnie, in: Identität und Krise? Zur Deutung vormoderner Selbst-, Welt- und Fremderfahrungen, hg. von Christoph Dartmann/Carla Meyer, Münster 2007, S. 155–186. Manche Herrscher beteiligten sich auch selbst direkt oder indirekt am Handel. – Zur erwähnten Erlaubnis vgl. für Allada und Popo West Africa in the Mid-Seventeenth Century. An Anonymous Dutch Manuscript, hg. und übers. von Adam Jones, Atlanta 1995, S. 37ff. und S. 197 und Secrete geslote instructie voor den schipper en opperhoofden van het schip Hasselt, dd. 05.03.1657, in: Pieter van Dam, Beschryvinge van de Oostindische Compagnie, hg. von F.W. Stapel, Bd. II,3, ’s-Gravenhage 1939, Bijlage IIa, S. 532–538, hier S. 534f. Für Westafrika seien exemplarisch nur genannt Robert Norris, Memoirs of the Reign of Bossa Ahadee, King of Dahomy, an Inland Country of Guiney, W. Lowndes: London 1789; Thomas Edward Bowdich, Mission from Cape Coast Castle to Ashantee (1819), Faksimile-Ausgabe eingel. und hg. von William E.F. Ward, London 1966; Richard Francis Burton, A Mission to Gelele, King of Dahome, 2 Bde., Tinsley Bros.: London 1864. Vgl. Henk den Heijer, David van Nyendaal. The First European Envoy to the Court of Ashanti, 1701–1702, in: Merchants, Missionaries & Migrants. 300 Years of Dutch-Ghanaian Relations, hg. von Ineke van Kessel, Amsterdam u.a. 2002, S. 41–49, der den Ausnahmecharakter der Mission eines Europäers ins Landesinnere zu Beginn des 18. Jhdts. unterstreicht: „The Dutch mainly had contacts with the states in the coastal region. Their knowledge of the kingdoms of the interior

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geheimnisvollen Königreichen ebenso festmachen wie Gräuelgeschichten von grausamen Despoten, die in Blut wateten und im Luxus ihres Harems schwelgten.13 Derartige spektakuläre Szenen hatten die meisten der eher kleinräumigen Küstenstaaten nicht zu bieten – für die Beziehungsgeschichte ist ihr Fall, der eher den Normalfall der europäisch-afrikanischen Beziehungen darstellt, aber vielleicht umso aufschlussreicher. Im Gegensatz zu den selteneren Audienzen an den großen „Höfen“ lässt sich hier nämlich die Begegnung mit dem Herrscher – oder demjenigen, den man dafür hielt – besonders gut in seiner Einbettung in das Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen Akteuren an der Küste beobachten. Aufgrund dieser Einbettung und der starken Aufladung mit Bedeutsamkeit funktionieren Audienzen als symbolisches Kapital auch im Konkurrenzkampf zwischen den europäischen Akteuren – allerdings als symbolisches Kapital in einem Feld, dessen Regeln und Strukturen keineswegs so eingeübt waren wie zeitgleich in der diplomatischen Praxis innerhalb Europas und seiner (näheren) Peripherien. Entsprechend lässt sich am vorliegenden Fall besonders gut beobachten, wie Akteure versuchen, Regeln diplomatischer Praxis zu definieren, aber auch zu manipulieren, wie sie ihnen bekannte Strukturen auf ‚fremde‘ Kontexte

was limited. Contacts were generally restricted to the sending of gifts in order to keep trade routes open and to obtain military support against enemy states. However, the European members of the WIC’s staff never travelled inland themselves. Contacts with states beyond the coast were maintained by African employees or allies.“ Diese Situation begann sich jedoch in der ersten Hälfte des 18. Jhdts. sowohl an der Gold- als auch an der Sklavenküste zu verändern, da ‚Inlandstaaten‘ wie Akyem und Dahomey durch Expansion Richtung Küste immer stärkeren Einfluss auch auf europäische Handelsposten gewannen. 13 Dies gilt besonders für Asante und Dahomey (nach 1724/27). Audienzen in Dahomey während des 18. und 19. Jhdts. untersuche ich im Rahmen meines Dissertationsprojekts ausführlicher, sowohl im Hinblick auf die Ausbildung der Audienzpraxis und den in ihrem Rahmen erfolgenden Kulturtransfer als auch auf die Entwicklung des Despotiediskurses. – Zur europäischen Wahrnehmung dieser beiden Staaten vgl. die Wiener Dissertation von Arno Sonderegger, Die Dämonisierung Afrikas. Zum Despotiebegriff und zur Geschichte der Afrikanischen Despotie, Saarbrücken 2008. Sonderegger arbeitet umfangreiches Material auf, jenseits der Wahrnehmungsgeschichte bleibt seine Arbeit jedoch in vielerlei Hinsicht weit hinter dem aktuellen Kenntnisstand zurück, da der Autor wiederholt auf veraltete Literatur zurückgreift und die Forschungsarbeiten der letzten Jahrzehnte nicht berücksichtigt.

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projizieren und anwenden, aber durchaus auch die Möglichkeit einer anderen Logik als der eigenen zulassen oder vielmehr zulassen müssen.

b. Anomabo als Handelszentrum und Teil der Fante-Föderation War Westafrika insgesamt in der Frühen Neuzeit ein Schauplatz starker europäischer Konkurrenz, so lässt sich dies im besonderen Maße für den Ort Anomabo feststellen. Anomabo (zeitgenössisch auch Annamaboe, Annamabou), das zum Gebiet der Fante gehört, stieg im späten 17. Jahrhundert erst zu einem Zentrum des Gold-, im 18. Jahrhundert dann verstärkt des Sklavenhandels auf.14 Es war, wie Ray A. Kea schreibt, „the center of the [Fante] federation’s mercantile activity“ und „the leading port on the Gold Coast“ mit vermutlich mehr als 20.000 Einwohnern um Mitte des 18. Jahrhunderts.15 Damit wurde Anomabo wie auch Fante insgesamt zum Schauplatz der Konkurrenzkämpfe, die verschiedene europäische Akteure miteinander und über ihre afrikanischen Verbündeten austrugen. Bereits 1624 schloss die niederländische West Indische Compagnie (WIC) unter Arent Jacobsz. van Amersfoort einen Vertrag mit Ambro, dem Oberhaupt (brafo) von „Fantijn“, gegen die Portugiesen.16 Dieser Vertrag, der hauptsächlich Waffenhilfe vereinbarte, wurde nach der erfolgreichen Eroberung von Elmina 1637 und der weitgehenden Vertreibung der Portugiesen argumentativ gegen die neue englische Konkurrenz eingesetzt, die in Fante mehrere kleine Posten errichtet hatte (Kormantin, Anashan u.a.). Er sollte in diesem Zusammenhang 14 Zu Anomabo im 18. Jhdt. vgl. Margaret Priestley, West African Trade and Coast Society. A Family Study, London u.a. 1969; James R. Sanders, The Political Development of the Fante in the Eighteenth and Nineteenth Centuries: A Study of a West African Merchant Society, Evanston 1980 und Rebecca Shumway, The Fante and the Transatlantic Slave Trade, Rochester 2011, bes. S. 71–87. Zum Sklavenhandel im späten 18. Jhdt. George Metcalf, Gold, Assortments, and the Trade Ounce: Fante Merchants and the Problem of Supply and Demand in the 1770s, in: Journal of African History 28,1 (1987), S. 27–41. 15 Ray A. Kea, City-State Culture on the Gold Coast: The Fante City-State Federation in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: A Comparative Study of Thirty City-State Cultures. An Investigation Conducted by the Copenhagen Polis Centre, hg. von Mogens Herman Hansen, Kopenhagen 2000, S. 519–530, hier S. 528. 16 Vertrag zwischen WIC und dem brafo von Fante, dd. 31.03.1624, Nationaal Archief (NA), Den Haag, Nederlandsche Bezittingen op de Kuste van Guinea (NBKG) 222, fol. 314v–315r.

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die exklusive Übertragung des „whole strand of Fantyns command, or Jurisdiction, [with] [the] Havens, ports and dependencies thereof togither [with] [the] trafficke, or commerce therein“ auf die Generalstaaten und die WIC begründen.17 Jener lokale englisch-niederländische Konflikt war verknüpft mit den Auseinandersetzungen, die in dem zweiten englisch-niederländischen Seekrieg (1665–67) kulminierten, in dessen Verlauf die Faktoreien und Forts an der Goldküste mehrfach den Besitzer wechselten.18 Auch in Anomabo hatte zunächst die WIC einen Stützpunkt errichtet, der im Juni 1664 von Robert Holmes erobert und im Februar 1665 von Michiel de Ruyter, wohl mit Unterstützung der Fante, zurückgewonnen wurde.19 Zudem baute die schwedische Afrika-Kompanie unter ihrem Generaldirektor Hendrick Caerloff 1653 einen Stützpunkt, der mit Caerloff selbst aber 1658 zur

17 Brief von Johan Valckenburg an John Stoaks, 12.09.1663, The National Archives (TNA), Kew, CO 1/17, fol. 197r–200v, dort wird der Vertrag jedoch fälschlich auf 1629 datiert. Mit ihm argumentierte auch Ruyter für die Illegitimität der englischen Eroberung von Anomabo und Egya 1664, s. den Brief von Michiel de Ruyter an François [eigentlich Francis] Selwyn, dd. 08.02.1665, abgedruckt in Gerard Brandt, Het leven en bedryf van de Heere Michiel de Ruiter, Wolfgang et al.: Amsterdam 1687, S. 349f. Die Beziehungsgeschichte wird ausführlicher in einem früheren Protest des Generals Amersfoort geschildert, Protest tegen de Engelsen (Abschrift), dd. 16.07.1640, NA, NBKG 222, S. 5–13. Hier wird auch der Vertrag von 1624 fälschlicherweise als exklusiver Zessionsakt (opdragt) beschrieben, zudem ein weiterer Vertrag von 1639 erwähnt. 18 Vgl. dazu u.a. Roger Hainsworth/Christine Churches, The Anglo-Dutch Naval Wars, 1652–1674, Thrupp 1998, Kap. 9 und J.R. Jones, The Anglo-Dutch Wars of the Seventeenth Century, London u.a. 1996, S. 145ff., zur englisch-niederländischen Konkurrenz und den Auswirkungen des Seekriegs auf die Goldküste vgl. Kwame Yeboa Daaku, Trade and Politics on the Gold Coast, 1600–1720. A Study of the African Reaction to European Trade, Oxford 1970, S. 15ff. 19 George Frederick Zook, The Company of Royal Adventurers Trading into Africa, 1660–1672, in: Journal of Negro History 4,2 (1919), S. 134–205, hier S. 182. Holmes begründete die Eroberung der niederländischen Stützpunkte in Anomabo und Egya mit einem englischen Besitzanspruch, der wohl auf erste englische Unternehmungen in Anomabo 1632 zurückging, als Arent de Groot für Nicholas Crispe & Co. einen Vertrag mit Ambro Brafo von Fante schloss, vgl. Robert Porter, The Crispe Family and the African Trade in the Seventeenth Century, in: Journal of African History 9,1 (1968), S. 57–77, hier S. 63 und 65. – Zur Rückeroberung 1665 Brandt, Het Leven (wie Anm. 18), S. 344ff., die englische Besatzung in Anomabo sprengte Brandt zufolge die Festung zum Teil in die Luft, bevor sie sich nach Kormantin zurückzog (346).

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dänischen Glückstädter Compagnie überging.20 Im späten 17. und frühen 18.  Jahrhundert dominierte, wenn auch nicht kontinuierlich, die englische Royal African Company (RAC) die Region,21 die neben Gold und Sklaven vor allem Getreide lieferte. Seit den 1730er Jahren erwuchs der RAC, nicht zuletzt auch aufgrund interner Probleme und Umstrukturierungen,22 von Seiten der französischen Compagnie des Indes ernstzunehmende Konkurrenz.23 Im Kern ging es dabei um die Kontrolle von Handel und Handelswegen, die die jeweiligen Konkurrenten für 20 Nørregård, Danish Settlements (wie Anm. 4), S. 10 und 16f. 1658 wurde mit niederländischer Hilfe noch ein schwedischer Rückeroberungsversuch abgewehrt, 1659 der Posten dann aber bereits aufgegeben (ebd., S. 18f.). Zu Caerloff, einem der faszinierendsten Akteure in jenem Kontext, jüngst Henk den Heijer, Een dienaar van vele heren. De Atlantische carrière van Hendrieck Caerloff, in: Het verre gezicht. Politieke en culturele relaties tussen Nederland en Azië, Afrika en Amerika. Opstellen aangeboden aan Prof. Dr. Leonard Blussé, red. J. Thomas Lindblad/Alicia Schrikker, Franeker 2011, S. 162–180, zu Caerloffs dänischschwedischem Seitenwechsel bes. S. 167–171. Caerloff habe, so Heijer, „het fort [Carolusburg in Cabo Corso, das spätere Cape Coast; C.B.] en de handelsposten als zijn eigendom“ angesehen (170). 21 Die RAC besaß seit 1679 eine Logie in Anomabo, die 1681 befestigt wurde und als „Charles Fort“ bekannt war (s. Davies, Royal African Company [wie Anm. 3], S. 246), sie wurde 1701 bei einem afrikanischen Angriff (teilweise?) zerstört (ebd., S. 263). Zum ab 1753 neuerrichteten Fort, später „Fort William“ genannt, vgl. Arnold W. Lawrence, Trade Castles & Forts of West Africa, London 1963, S. 349–355, Albert van Dantzig/Barbara Priddy, A Short History of the Forts and Castles of Ghana, Accra 1971, S. 41f. und Kwesi J. Anquandah, Castles & Forts of Ghana, Atalante 1999, S. 42–45. 22 Die RAC wurde, nachdem ihre Privilegien und Monopolrechte schrittweise immer weiter eingeschränkt worden waren, 1750 schließlich durch Parlamentsbeschluss aufgelöst. Der Afrika-Handel wurde freigegeben und die Verwaltung der Forts der neu gegründeten Company of Merchants Trading to Africa übertragen, die nur über eingeschränkte Kompetenzen verfügte und finanziell prekär ausgestattet wurde. Vgl. Eveline C. Martin, The English Establishments on the Gold Coast in the Second Half of the Eighteenth Century, in: Transactions of the Royal Historical Society, 4th ser., 5 (1922), S. 167–208, bes. S. 169ff. 23 In diesem Fall die Compagnie perpétuelle des Indes, die 1720 als Nachfolgerin der Compagnie d’Occident gegründet worden war und bis 1767 existierte. Die Compagnie de Guinée hatte bereits im November/Dezember 1687, im Zuge der Expedition von Du Casse, einen Versuch unternommen, sich in der Nähe von Anomabo niederzulassen, vgl. dazu The English in West Africa. The Local Correspondence of the Royal African Company of England, 1681–1699, hg. von Robin Law, Bd. 2: 1685–1688, Oxford 2001, no. 571–581, S. 223–226. Zum temporären französischen comptoir in Anomabo während der 1740er Jahre siehe Anm. 28.

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sich allein beanspruchten. Diese Kontrolle manifestierte sich in der Errichtung von Befestigungen und Forts, die in vielen Fällen nicht nur oder sogar nur zum geringen Teil der effektiven Verteidigung, vor allem aber der symbolischen Konstituierung der eigenen Rechtsposition vor Ort dienten.24 So wird in einer Beschreibung der englischen Stützpunkte (wohl 1737) auf erste französische Versuche, in Anomabo Fuß zu fassen, Bezug genommen, die von der RAC durch neuerliche Bekräftigung ihres Besitzanspruchs beantwortet wurden: „As this has awak’t the Vigilance of the present Chief Agent here, they have lately sent a Serjeant to a Fort which the African Company has at Annamaboe, which tho’ it is at present out of Repair, yet still to fix their [sic] own Right and that of the English Traders in general, by hoisting there a St George’s flag. It is upon this pretence that the British Merchant Ships in the Road assume to themselves the sole Priviledge of Trading here, and have often lately desired the Consent and Assistance, of the Companies Agents to force the French to quit this Road.“25

Genauer werden die Rechtslage und die Funktion der „fortresses“ in einem englischen Memorandum beschrieben, das auf französische Klagen über Angriffe auf Handelsschiffe vor Anomabo antwortet. Dort heißt es zunächst, dass, wie alle Welt wisse, „les Droits de chaque nation Européenne aux Terres et au Commerce exclusif d’Afrique, de l’Asie, et de l’Amerique“ begründet würden durch „des dons que les divers Etats ont fait à leurs Sujets respectifs“, sodann durch Verträge und Übereinkünfte „faits avec les Natifs“ und schließlich durch eine „possession sans interruption, ni contestation.“ Auf diese Prinzipien gründeten nicht nur die Spanier ihr exklusives Recht auf das 24 Abzulehnen ist ihre Interpretation als regelrechte „Kolonien“, wie sie in der älteren Forschung, die vor allem den Anschluss an das 19. Jhdt. herzustellen suchte, vorgebracht wurden, hierzu kritisch Hair/Law, The English (wie Anm. 4), S. 260f. Sie betonen, dass die Forts nicht dazu bestimmt waren, „military control over African localities“ auszuüben, „rather to defend shipping against rival European nations“ (261). 25 A DESCRIPTION of the Castles Fort and Settlements Belonging to the Royal African Company of England, on the Gold Coast of AFRICA and at WHYDAH, wohl 1737, TNA, T 70/1470, S. 40. In dieser Beschreibung heißt es über das Hauptquartier Cape Coast: „Cape Coast Castle, situated as it is upon a Head Land, sufficiently confesses itself at first sight the Chief residence of the Agents for the English; and is as Capable of supporting the Dignity of their Nation, as well as defending itself as is necessary in so barbarous and unexperienc’t a Part of the World.“ (ebd., S. 39). – Zu einem ähnlichen Vorgehen der Engländer nach der Mission Cames vgl. den Brief Melvils an das Committee, dd. 11.07.1751, TNA, T 70/29, fol. 1r–3r bzw. CO 388/45, fol. 89r–91r.

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Land, den Handel und die Schätze Mexikos und Perus und die Niederländer ihr Eigentums- und Handelsrecht auf den ostindischen Gewürzinseln, sondern auch die englische Afrikakompanie ihre Rechte, ihr Eigentum und ihren exklusiven Handel „à toutte les terres et Places contenües dans les limites de sa Patente en Afrique“. Um diese Rechte aber zu sichern, habe die Kompanie zahlreiche Forts errichten lassen, die „de marques, non seulement de Possession, mais de leur droits de Commerce exclusif aux endroits ou les forts sont erigés“ darstellen.26 Genau um diese eng verknüpften Rechte – (exklusive) Handels- und Besitzrechte – drehte sich die englisch-französische Auseinandersetzung in Anomabo in den 1750er Jahren. Der Konflikt begann zunächst auf See, indem englische Kriegsschiffe französische Handelsschiffe am Ankern und Handeln vor Anomabo hinderten, sie beschossen und vertrieben.27 In der Folge verlagerte sich der Fokus dann, wiewohl die Präsenz von Kriegsschiffen weiterhin eine große Rolle spielte, auf das Festland und die französischen Bemühungen um einen Vertrag mit den Fante und die Errichtung eines eigenen Forts begannen. Die beiden Audienzen 1751 und 1752, die im Folgenden untersucht werden, hatten einer26 Reponse d’Angl[eterre] sur les demelez des francois avec les angl[ais] [dans] la Rade d’Annamabo, dd. 05.04.1749/50, Archives des Affaires étrangères (AAE), La Courneuve, Mémoires et Documents (MD), Afrique et Colonies 10, fol. 72r–73r, hier fol. 72r–72v. In den State Papers findet sich eine Notiz über die Übergabe dieses Memorandums, Brief Bedfords an Albemarle, dd. 05.03.1749/50, TNA, SP 78/235, fol. 153r. 27 Vgl. u.a. die französischen Beschwerden in einem Memorandum, erhalten am 24.01./04.02.1749/50, TNA, SP 78/235, fol. 52r–52v und die Reponse d’Angl[eterre], dd. 05.04.1749/50, AAE, MD, Afrique et Colonies 10, fol. 72r– 73r sowie das französische ‚Positionspapier‘ Parti a prendre sur les vexations des Ang[lois] a la Côte d’or, dd. Juni 1750, ebd., fol. 74r–76v, Die Klagen richteten sich Anfang 1750 gegen das Schiff St. Philippe unter Kapitän „Vardre“ (Warder ?), der zwei französische Handelsschiffe aus La Rochelle mithilfe „plusieurs coups de canon“ vertrieben habe. Zum Hintergrund vgl. den Brief von Rouillé an Puyzieulx, dd. 18.01.175[0], AAE, MD, Afrique 12, fol. 258r–259r und die Antwort Puyzieulx’, dd. 24.01.1750, ebd., fol. 260r–260v. – Allerdings gab es in den 1740er Jahren bereits ein temporäres französisches comptoir unter La Court und Verhandlungen über die Errichtung eines französischen Forts, die jedoch von englischer Seite offenbar nicht so große Aufmerksamkeit auf sich zogen; vgl. die Chronologie, die John Currantee/Courantry einem englischen Offizier schilderte, im Brief Thomas Melvils an das Committee der Company of Merchants, dd. 14.03.1752, TNA, T 70/29, fol. 13r–19r, hier fol. 16r–16v und die Verweise auf La Court und das comptoir im Brief Levets an die Direktoren der Compagnie des Indes, dd. 12.10.1746, ANOM, C 6/25.

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seits zum Ziel, die Rechtslage vor Ort, d.h. vor allem die englischen Prätentionen, zu prüfen und andererseits mit den Fante über die Errichtung eines Forts und Handelsrechte zu verhandeln. Bei diesem Konflikt waren es weniger nationale Unterschiede im Rechtsdenken und im Zeremoniell der Inbesitznahme als vielmehr die fehlende Hierarchisierung der Rechtsansprüche und der oben skizzierten Prinzipien, zudem die ungeklärten Kriterien für die „Effektivität“ der Okkupation, die die Auseinandersetzung verschärften. So stand das englische Fort leer und war aufgrund eines früheren Konflikts mit den Fante nur noch als Ruine vorhanden, die Kompanie zahlte aber weiterhin die „ground rent“.28 Dass der Konflikt um Anomabo und die jeweiligen Rechte dort sich so lang hinzog, relativ große Resonanz in den jeweiligen Metropolen erhielt und vor Ort intensiv ausgetragen wurde, lag darin (mit)begründet, dass der afrikanische Konflikt sich in einer Zeit der weltweit ausgetragenen militärischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Ländern abspielte. Entscheidend war jedoch vor allem, dass die Fante keineswegs eine passive Größe in einem innereuropäischen (Rechts)Streit darstellten. Vielmehr gaben die verschiedenen Vertreter und Autoritäten der Fante verschiedene, widersprüchliche Statements über die Rechte der Engländer, deren vermeintliche Oberherrschaft und die Souveränität der Fante ab und entzogen sich so einer Instrumentalisierung, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Das europäisch-afrikanische Verhältnis vor Ort war, aller ‚Machtdemonstration‘ durch Kanonen und Festungsmauern zum Trotz, vielerorts bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein durch eine deutliche Dominanz der afrikanischen ‚Seite‘ geprägt29 – in verschiedenen bekannten Fällen kam es gar dazu, dass ein Fort längere Zeit von lokalen Gruppen besetzt und gegen Rückeroberungsversuche 28 Dieser Konflikt ist u.a. dokumentiert in einem Brief von Howsley Freeman, Thomas Peck und William Hicks, dd. 06.11.1701, der in Auszügen abgedruckt ist in Charles Davenant, Reflections upon the Constitution and Management of the Trade to Africa (1709), in: The Political and Commercial Works of Charles D’Avenant, hg. von Charles Whitworth, London 1771, Bd. 5, S. 71–343, hier S. 184f. sowie in dem Journal des dänischen Forts Christiansborg (Osu), ediert in Danish Sources for the History of Ghana, 1657–1754, Bd. 1: 1657–1735, hg. von Ole Justesen, Kopenhagen 2005, Nr. III.21, S. 127–195, hier S. 146f. 29 In eine solche Richtung argumentiert auch Per Hernæs, A Symbol of Power: Christiansborg Castle in Ghanaian History, in: Transactions of the Historical Society of Ghana 9 (2005), S. 141–156. Für die Sklavenküste vgl. Robin Law, „Here is No Resisting the Country”: The Realities of Power in Afro-European Relations on the West African ‚Slave Coast‘, in: Itinerario 18 (1994), S. 50–64 –

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behauptet wurde.30 Das englische Fort in Anomabo ähnelte, folgt man dem niederländischen Kaufmann Willem Bosman, um 1700 eher einem Gefängnis für die Garnison denn einer starken Bastion: „Vreeslyk werden de Engelsche hier van de Fantynse Negers geplaagt, dewelke zy zomtijds in haar eygen Fort bannen, zonder de vryheid te hebben van ’er te mogen uytkomen, en by aldien het Opperhooft niet ha haar zin is, zo zendense den zelve op een smadelijke wijs met een Canoa na Cabocors [i.e. Cape Coast Castle, das Hauptquartier der RAC, C.B.], en met geweld konnen de Engelsche zig hier niet tegen stellen, of zyn genootzaakt de Fantynse weder met eenige vereeringe te bevredigen. Dit Dorp Annamabo mag tegenwoordig voor het magtigste van’t geheele Strand gehouden werden, want het heeft met het geen ’er onder hoord wel zo veel Volk van Oorlog als het Saboes of Commanysche Koningryk [gemeint sind die benachbarten Länder Asebu und Eguafo, C.B.], en [Anomabo] is maar een vyfde part van Fantyn […].“31 die Stärke der afrikanischen Seite an der Goldküste fiel gegenüber der Situation an der Sklavenküste jedoch vergleichsweise geringer aus. 30 Berühmtheit hat besonders der Fall John Konnys erlangt, der als „schwarzer Preuße“ die Festung Groß-Friedrichsburg in Pokesu (Ahanta) nach dem Abzug des letzten brandenburgischen Generals verwaltete, sie auch nach dem offiziellen Verkauf aller brandenburgischen Besitzungen in Westafrika an die WIC weiterhin besetzt hielt und gegen mehrere niederländische Angriffe verteidigte. Schließlich einigte man sich vertraglich über die Übergabe gegen umfangreichere Zahlungen. Vgl. Daaku, Trade and Politics (wie Anm. 18), S. 127–143 und Albert van Dantzig, Les Hollandais sur la Côte de Guinée à l’époque de l’essor de l’Ashanti et du Dahomey, 1680–1740, Paris 1980, S. 181–188. Auch das dänische Christiansborg in Accra war ungefähr zwei Jahre lang in afrikanischer Hand, dazu Hernæs, A Symbol of Power (wie Anm. 29), S. 142ff. In beiden Fällen ging die Übernahme des Forts auch mit einer Aneignung von europäischen Symbolen und Zeremonien einher. – Für Anomabo vgl. Shumway, Fante (wie Anm. 15), S. 73f. 31 Willem Bosman, Nauwkeurige Beschryving van de Guinese Goud- Tand- en Slavekust, Anthony Schouten: Utrecht 1704, Teil 1, S. 57f. – 1751 beschrieb der englische Gouverneur Thomas Melvil die Wiedererrichtung des Forts in Anomabo gar als gefährlich: „The Fanteen are an unruly, avaricious people, live in a manner without Government & I am afraid if we have a fort among them, we must either be their slaves or be eternally at War with them“. Brief Thomas Melvils an das Committee of the Company of Merchants Trading to Africa, dd. 11.07.1751, TNA, T 70/29, fol. 1r–3r bzw. CO 388/45, fol. 89r–91r, hier fol. 90r. Einige Tage später erklärte er, dass die „Fanteens“ stets „our Masters“ sein würden, solange sie in der Lage seien, die Boote der vor Anomabo ankernden Schiffe in ihre Gewalt zu bringen, und schlug vor, den Handel künftig über Cape Coast abzuwickeln und nur Kriegsschiffe vor Anomabo kreuzen zu lassen, um Konkurrenten abzuschrecken und abzuwehren. Dies wurde nicht umgesetzt, vielmehr reichte das Committee kurz vor Erhalt der Briefe Melvils ein Memorandum über die Planung

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Die Dominanz der afrikanischen Seite und die entsprechende Unterlegenheit der Europäer, deren Position immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden musste, war es auch, die zur Ausbildung einer intensiven Beziehungspraxis, wie wir sie auch im Fall Anomabos feststellen können, führte.32

2. Audienzen in Anomabo a. Die dreifache Konstruktion des „Königs“ Die anfänglich aufgerufene Szene stellt den Empfang und die Audienz beim „König“ von Anomabo dar. – Wer war aber derjenige, der Du Bourdieu 1752 und Came 1751 als Abgesandte des französischen Königs in Anomabo empfing und den sie als „Roi“ bezeichneten? Einer ihrer Kollegen hatte kurz zuvor in einem Memorandum festgestellt, dass jene Person, der man den Titel „Roy d’Annamabou“ gebe, isoliert im Landesinnern lebe, „sans autorité, sans crédit; n’ayant point de pouvoir sur les bords de la mer […].“33 Dieser fälschlich so genannte „König“ sei nichts weiter als einer der führenden „Cabaichers“ der Stadt, wenn auch sehr reich. Als „cabaicher“, „caboceer“ oder „kabusier“ bezeichnete man, in Anlehnung an cabeça (portugiesisch Haupt), Angehörige der lokalen Oberschichten und regionale Oberhäupter; in Reiseberichten wird der Begriff mit „Adeliger“ oder „nobleman“ erläutert. Die Stadt Anomabo regiere sich auch gar nicht, so der anonyme Kommentator, wie ein Königreich, sondern „comme une République indépendante“. Damit stimmte er mit zahlreichen anderen Berichten seit dem späten 17. Jahrhundert eines neuen Forts in Anomabo ein, Brief Thomas Melvils an das Committee, dd. 23.07.1751, CO 388/45, fol. 137r–138v, hier 137r, Memorial des Committee, dd. 06.11.1751, ebd., fol. 116r–116v. 32 „In order to fulfil commercial ambitions [the Europeans] were forced to develop partnerships and alliances, and they had to accept terms given by African rulers. European political and territorial control was out of the question.“; Hernæs, A Symbol of Power (wie Anm. 29), S. 142. Zu einer ähnlichen Schlussfolgerung kam Davies, Royal African Company (wie Anm. 3), S. 263, bereits in den 1950er Jahren, eine systematische Überprüfung dieser Beziehungspraxis steht jedoch noch weitgehend aus. 33 [anon.], Mémoire sur le Commerce de Guinée (Annamabou), dd. 08.10.1750, ANOM, DFC XIII/75, no. 95. – Die Vermutung liegt nahe, dass der Autor Courantry zum Teil mit dem brafo (siehe unten) verwechselt, dies lässt zumindest der Verweis auf die Residenz im Landesinneren vermuten.

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überein,34 aber auch mit heutigen Forschungsmeinungen.35 Sie interpretieren sowohl die einzelnen Fante-Städte als auch Fante insgesamt als „Republik“, „commonwealth“ oder „gemeene best“,36 als deren Hauptcharakteristikum eben das 34 Erstmals meines Wissens in der Deposition von Charles le Petit (18.12.1690), ediert in H.C. Hazewinkel (Bearb.), Twee Attestaties over de Nederlandsche kolonisatie aan de Goudkust, in: Bijdragen en Mededelingen van het Historisch Genootschap 53 (1932), S. 246–261, hier S. 253 und 256; des Weiteren u.a. bei Bosman, Nauwkeurige Beschryving, Teil 1 (wie Anm. 31), S. 58f.; John Barbot, A Description of the Coasts of North and South-Guinea, in: A Collection of Voyages and Travels, hg. von Awnsham und John Churchill, Bd. 5, London 1732, S. 175 (wohl nach Bosman); [anon.], The Royal African: Or, Memoirs of the Young Prince of Annamaboe, W. Reeve u.a.: London [1749] und Paul Erdmann Isert, Reise nach Guinea und den caribäischen Inseln in Columbien, in Briefen an seine Freunde beschrieben, J.F. Morthorst: Kopenhagen 1788, S. 301. 35 Diese wissenschaftlichen Positionen berufen sich dabei oft auf die frühneuzeitlichen Deutungen, ohne diese ausreichend zu reflektieren und begrifflich präzise zu fassen. Zudem bietet diese Beschreibung vielfach Anknüpfungspunkte für „grand narratives“, die den „Föderalismus“ entweder als Schwäche, hervorgerufen durch europäischen Einfluss und Sklavenhandel, mangelnde Einigkeit und ökonomisches Gewinnstreben einzelner (Stichwort abirempon, „big men“), auslegen oder als Zeichen für den urdemokratischen Charakter der Fante, wie er bspw. bei Fynn unterstellt wird, John Kofi Fynn, The Political System of the Fante in Ghana during the Pre-colonial Period, in: Universitas. An Inter-Faculty Journal (University of Ghana) 9 (1987), S. 108–120, hier 112. Solche Annahmen kritisiert Kwame Arhin, Diffuse Authority among the Coastal Fanti, in: Ghana Notes & Queries 9 (1966), S. 66–70, der dafür aber die „fissive tendencies“ durch den europäischen Einfluss und die „intense European intrigues“ herauszustellen weiß (bes. S. 69f.). Dagegen sieht Sanders in den gemeinsamen ökonomischen Interessen, die in dem Handel mit den Europäern begründet waren, das verbindende Element, das es den Fante erst ermöglichte, als „political community“ zu agieren, Sanders, Development (wie Anm. 14), S. 310ff. – Selbst in den neuesten Publikationen, die sich solchen Narrativen zu entziehen suchen, stößt man auf begriffliche Verwirrung, so noch in dem jüngst erschienenen Aufsatz von Shumway, die einerseits von „kingdom“ spricht, andererseits aber von einer Art priesterlicher Gruppenherrschaft unter der Ägide des „national shrine“ Nananom Mpow ausgeht – die Rolle von brafo/curranteers blendet sie bei ihrer Beschreibung des politischen Systems aus, Rebecca Shumway, The Fante Shrine of Nananom Mpow and the Atlantic Slave Trade in Southern Ghana, in: International Journal of African Historical Studies 44,1 (2011), S. 27–44. Zur Kritik daran jüngst Robin Law, The Goverment of Fante in the 17th Century, in: Journal of African History 54, 1 (2013), S. 31–51. 36 Diese Deutung konnte mit konträren Wertungen verbunden werden, die nicht zuletzt auf die jeweils angestammte politische Kultur der Interpretatoren zurückgehen. So finden sich in englischen Berichten Mitte des 18. Jhdts. idealisierende

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Fehlen von Königsherrschaft ausgemacht wird. Fante gilt als föderales Gebilde mit lokalen Entscheidungsträgern (den genannten caboceers), das allenfalls ein gemeinsames militärisches Oberhaupt (brafo bzw. abrafo), beraten von einem Gremium von ‚Großen‘ (curranteers), habe. Dieser brafo, den Bosman 1704 mit dem niederländischen Stadhouder vergleicht, residierte in Mankessim, wo sich das „Nationalheiligtum“ Nananom Mpow befand, das ebenso wie seine Priester (akomfo, Sing. okomfo) große Autorität in ganz Fante genoss und von zentraler Bedeutung für die kollektive Identität der Fante war.37 Courantry, von den EngDarstellungen, die die Freiheitsliebe der Fante in den Mittelpunkt rücken und diese auch als Ursprung ihrer militärischen Stärke ansehen; vgl. bspw. [anon.], The Royal African (wie Anm. 35), S. 16f., ähnlich John Hippisley, Essays, T. Lownds: London 1764, S. 26. 1760 kommt der dänische Kaufmann Rømer jedoch zu einer gänzlich gegensätzlichen Schlussfolgerung, indem er seine Prognose, dass Asante in Kürze über Fante siegen werde, schlichtweg begründet „by the fact that Fante is a republic where each free Negro is his own absolute master [hvor enhver Fri=Neger er Eenevolds=Herre]. They have no leader [Anforer]. If they had had a competent [dygtig] general (brafoes) they would have killed him, on the orders of the fetish. Among themselves the Fantes hate one another and desire each other’s ruin.“ Ludewig Ferdinand Rømer, A Reliable Account of the Gold Coast of Guinea (1760), übers. und hg. von Selena Axelrod Winsnes, Oxford u.a. 2000, S. 201, im dän. Original: Tilforladelig Efterrettning om Kysten Guynea, Ludolph Henrich Lillie: Kiobenhavn 1760, S. 272. – Zur Begriffsgeschichte Wolfgang Mager, Art. Republik, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. von Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 549–661, bes. Abs. V, S. 580–589. Der Terminus „Republik“ ist Mager zufolge bereits im 15. Jhdt. in der Verwendung als Gegenbegriff zur Monarchie oder Königsherrschaft nachweisbar (584f.), er umfasst aber weiterhin ein großes Spektrum möglicher Regierungsformen. Als Hauptcharakteristika gelten ein föderativer Charakter und die Herrschaftsausübung durch mehrere (587f.). 37 Thomas C. McCaskie, Nananom Mpow of Mankessim: An Essay in Fante History, in: West African Economic and Social History. Studies in Memory of Marion Johnson, hg. von dems./David Henige, Madison 1990, S. 133–150, Shumway, The Fante Shrine (wie Anm. 35) und John Kofi Fynn, The Nananom Pow of the Fante: Myth and Reality, in: Sankofa. The Legon Journal of Archaeological and Historical Studies 2 (1976), S. 54–59. – Das Verhältnis zwischen Nananom Mpow und brafo/curranteers hat sich offenbar im Laufe des 18. Jhdts. verschoben – ersteres gewinnt (mitsamt seinen Priestern) an Bedeutung, während die Autorität des brafo eingeschränkter wird, wie – bei aller gebotenen quellenkritischen Vorsicht – auch die Verträge zwischen den Fante und den verschiedenen Kompanien belegen. Schloss 1624 noch allein Ambro Brafo einen Vertrag mit der WIC, figurieren im Vertrag von 1697 bereits die „hooft Caboceers“ bzw. „Curantiers“ neben dem brafo als Vertragspartner und 1753 beschlossen den Vertrag mit den Engländern dann „the Braffoe & Curranteers, the Priests & People of Fantee“;

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ländern John Currantee genannt, eigentlich wohl Eno Baisi Kurentsi, war einer der lokalen caboceers in Anomabo. Ihm kam aufgrund seines politischen Einflusses und seines Reichtums die Rolle eines primus inter pares zu und er fungierte als „(war) captain“ der Stadt.38 Wieso aber sahen sich Du Bourdieu und Came durch einen „König“ empfangen? Eine Antwort liegt sicherlich in der Erwartungshaltung und dem klassifikatorischen Begriffsinstrumentarium, die die beiden französischen Gesandten mitbrachten und die ihre Vorgesetzten vor Ort ebenso wie in Paris und Versailles teilten. Der Empfang, das Handeln und Verhalten Courantrys bestärkten Du Bourdieu und Came (zunächst jedenfalls) in dieser Erwartungshaltung. Courantry als „König“ zu beschreiben und zu behandeln, vereinfachte – scheinbar – die Verhältnisse, denn als „König“ konnte Courantry als zentraler Ansprechpartner, Verhandlungsführer und auch als Entscheidungsträger fungieren. Zugleich erleichterte es die Kommunikation und die Verständigung wiederum mit den Entscheidungshierarchien der Compagnie und der Ministerien – die Klassifikation als „König“ machte die Position Courantrys verständlich und verlieh ihm (in den Augen der Pariser Leser) Autorität.39 Mit KönigVertrag zwischen WIC und dem brafo von Fante, dd. 31.03.1624, NA, NBKG 222, fol. 314v–315r; Vertrag zwischen WIC und dem brafo sowie den currantiers von Fante, dd. 15.08.1697, NA, TWIC 122, S. 44–45 (Original?); Vertrag zwischen England und den Fante, dd. 06.02.1753, TNA, T 70/1695 (Original) bzw. CO 388/45, fol. 128r–129v (Kopie). 38 Vgl. zu Courantry/Currantees Biographie Priestley, West African Trade (wie Anm. 14), S. 13ff. und David Henige, The Chronology of Oral Tradition. Quest for a Chimera, Oxford 1974, S. 150ff. Seine militärische Stärke betonte u.a. der englische Missionar Thompson, fügte aber hinzu, dass „Corrantee“ aufgrund seines hohen Alters „had done with military affairs“. Er schilderte ihn als Schlichter und Richter lokaler „pallavers“, Thomas Thompson, An Account of Two Missionary Voyages, Benjamin Dod: London 1758, S. 47f. 39 Vgl. auch Windlers Überlegungen zum Gebrauch der Begriffe „république“ und „royaume“ durch französische Konsuln im Maghreb; Christian Windler, La diplomatie comme l’experience de l’autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840), Genève 2002, Kap. 2.3.1, S. 259–266. Windler schreibt: „Le travail de classement […] traduit un effort à la fois de compréhension et d’explication. Les consuls se servaient de catégories européennes comme de repères, tout en les chargeant de significations nouvelles. Les taxinomies donnaient consistance et cohérence à une réalité qui échappait partiellement à l’observation directe des consuls; elles donnaient un sens aux événements rapportés dans les dépêches consulaires. […] Ce travail de classement définissait les acteurs et le cadre de la diplomatie maghrébine, afin de rendre compréhensibles aux employés des bureaux ministériels à Versailles ou à Paris ainsi qu’au secrétaire d’Etat ou ministre lui-même les choix

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tum verbanden Came und Du Bourdieu dabei wohl nicht so fest umrissene Definitionen, wie wir sie heute assoziieren,40 vielmehr wandten sie Analogien zwischen bestimmten Elementen auf die Situation in Anomabo an: So war es europäischer Logik gemäß ganz folgerichtig, den Empfang am Meeresufer durch die Söhne Courantrys und eine Volksmenge, begleitet von Musikinstrumenten, als eine – verhältnismäßig – würdige Einholung zu interpretieren. Ins Bild passt ebenfalls, in ein Haus – den Begriff Palast vermeiden beide Gesandte – mit großen (Innen)Höfen geführt zu werden und dort nach dem Durchschreiten verschiedener Räume von dem „König“ sitzend im Kreis des Adels41 empfangen zu werden. Den großen Haushalt Courantrys mit (angeblich) „environ 3. Mil Esclaves libres, où Soldats et Domestiques“ und den 15 Frauen des adoptés ou proposés. Cette opération de traduction réalisées par les consuls annonçait les décisions prises formellement par des instances plus élevées.“ (S. 259f.) 40 Zur Entwicklung des Wortfeldes Monarchie/Königsherrschaft vgl. Horst Dreitzel, Monarchiebegriffe in der Fürstengesellschaft. Semantik und Theorie der Einherrschaft in Deutschland von der Reformation bis zum Vormärz, Bd. 1: Semantik der Monarchie, Köln u.a. 1991, zum Wandel des Königsbegriffs seit der frz. Revolution u.a. S. 39f. und S. 119–124. Zur rechtlichen und zeremoniellen Dimension Barbara Stollberg-Rilinger, Honores regii. Die Königswürde im zeremoniellen Zeichensystem der Frühen Neuzeit, in: Dreihundert Jahre Preußische Königskrönung. Eine Tagungsdokumentation, hg. von Johannes Kunisch, Berlin 2002, S. 1–26; zum Kontext völkerrechtlicher Praxis André Krischer, Das Gesandtschaftswesen und das vormoderne Völkerrecht, in: Rechtsformen internationaler Politik. Theorie, Norm und Praxis vom 12. bis 18. Jahrhundert (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 45), hg. von Michael Jucker et al., Berlin 2011, S. 197–239, hier S. 213–218. 41 Gerade die Existenz und Präsenz des Adels konnte als Kennzeichen einer Monarchie gegenüber einer Despotie angesehen werden, so heißt es bspw. prägnant bei Montesquieu: „Le pouvoir intermédiaire subordonné le plus naturel est celui de la noblesse. Elle entre, en quelque façon, dans l’essence de la monarchie, dont la maxime fondamentale est: Point de monarque, point de noblesse; point de noblesse, point de monarque. Mais on a un despote.“; Montesquieu, Esprit des lois, in: Œuvres de Montesquieu, Bd. 2, Paris 1827, L. 2, Cap. 4, S. 152, zum Gebrauch des Begriffs im Kontext der Kritik an Ludwig XIV. vgl. Richard Koebner, Despot and Despotism: Vicissitudes of a Political Term, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 14 (1951), S. 275–302, hier S. 292ff. Despotie war, wie oben skizziert (bei Anm. 11), im 18. Jhdt. ein viel gebrauchtes Klassifikationsschema für die Inlandsreiche Westafrikas. Dort wird zumeist die Demütigung auch der Ranghöchsten herausgestellt, zudem befindet sich der „Despot“ klassischerweise bei Audienzen nicht im Kreis des Adels, sondern wird von seinen Frauen und Eunuchen umgeben, was wiederum die (heimliche) Macht des Harems anzeigen soll.

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„Königs“ konnte Came entsprechend als „Hof“ verstehen und beschreiben.42 Somit lässt sich der „roi Courantry“ als Produkt einer europäischen Klassifikation bestimmen, die eine einigermaßen kohärente Interpretation des Audienzgeschehens ermöglichte. Der Rang des Empfangenden bestimmte wesentlich die Bedeutsamkeit des Ereignisses und damit auch das symbolische Kapital, das sich aus diesem gewinnen ließ – und dieses symbolische Kapital war eine entscheidende Größe im englisch-französischen Konkurrenzkampf. Je höher der Status des afrikanischen Verhandlungspartners, desto mehr Gewicht und Autorität kam der ausgehandelten Position zu – eine simple Vorgehensweise, die im Verlaufe der Gesandtschaft Cames auch von englischer Seite eingesetzt wurde.43 Republiken hatten zwar gegenüber Monarchien im europäischen Rangrecht durch die zunehmende Bedeutung des Souveränitätskonzepts eine Aufwertung erfahren, dennoch mussten sie gegenüber souveränen Monarchien in verschiedener Hinsicht zeremonielle Nachteile hinnehmen.44 Auf englischer Seite lässt sich ebenfalls ein strategischer Umgang mit dem Königstitel bzw. dem Königtum im Bezug auf Anomabo feststellen – die Engländer betonten zwar den republikanischen Charakter Fantes, schreckten aber nicht davor zurück, einen der Söhne Courantrys/Currantees, William Ansa(h) Sessarakoo, in England als „Prince of Annamaboe“ und „Royal African“ vorzustellen.45 42 Zum Wortfeld „Hof“ in der Vormoderne vgl. Aloys Winterling, „Hof“. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, in: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen, hg. von Reinhardt Butz/Jan Hirschbiegel/Dietmar Willoweit, Köln 2004, S. 77–90, bes. S. 79ff. Winterling stellt fest, dass, indem sich ein Hof durch Interaktion konstituiert, die sachliche, die zeitliche und die personale Bedeutung von „Hof“ zusammenfallen. Das „Hof“ Courantrys konstituiert sich so in den Augen der europäischen Akteure sowohl durch die Interaktionen mit ihnen selbst als auch durch die (alltäglicheren) Interaktionen des „Herrschers“ mit der adeligen „Hofgesellschaft“ und dem weiteren Gefolge, die alle in einem bestimmten Raum oder auf diesen Raum ausgerichtet stattfinden. 43 Das Fortbestehen eines solchen rangorientierten Denkens im Kolonialismus des 19. und 20. Jhdts. hat jüngst Cannadine in einem provokanten Essay herausgestellt; David Cannadine, Ornamentalism. How the British Saw Their Empire, London 2002, zum British Empire als „royal empire“ bes. S. 101–120. 44 Kurz Windler, La diplomatie (wie Anm. 39), S. 261; ausführlicher Stollberg-Rilinger, Honores regii (wie Anm. 40) und Krischer, Gesandtschaftswesen (wie Anm. 40). 45 William war jedoch nicht von Beginn an „königlich“ behandelt worden, vielmehr verkaufte ihn der Kapitän, der ihn nach England bringen sollte, in Barbados in die Sklaverei, aus der er schließlich ausgelöst und nach London gebracht wurde.

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Entsprechend kann man den „roi Courantry“ nicht nur als Produkt einer Zuschreibung, gleichsam einer notwendigen Anverwandlung an europäische Konzepte, betrachten, sondern auch als Produkt einer diskursiven Strategie, die situativ und bewusst eingesetzt wurde. Damit wäre eine einfache Erklärung gefunden – doch ist eine Erklärung, die lediglich von der europäischen Seite ausgeht, hinreichend? Aufschlussreich erscheint es vielmehr, die Brüche in der europäischen Repräsentation der Audienzen in den Blick zu nehmen, die Rückschlüsse auf uneindeutige und (scheinbar) unpassende Verhaltensweisen und Umgangsformen sowie auf Konflikte erlauben, insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis Courantrys zu den anderen caboceers Anomabos: So berichtet Came, dass Courantry gegen Ende der „Antrittsaudienz“ darum gebeten habe, die „conference“ über weitere inhaltliche Fragen auf den Nachmittag zu verschieben, da der „kabecher d’Ayaya et quelqu’autres de ses voisins“ dabei sein müssten. Diesen „Kabecher“46 namens Andaoumen stuft Came – wie mit dem ambigen Begriff „voisin“, den auch Du Bourdieu verwendet47 – im Weiteren vorsichtig als subalternen „chef Diese Geschichte zeigt die Extreme afrikanischer Erfahrungen in der ‚Atlantischen‘ Welt, war mit ihrer heroischen Tragik aber auch besonders reizvoll für ein europäisches Publikum, wie die zahlreichen publizistischen Erzeugnisse belegen. Vgl. vor allem [anon.], The Royal African (wie Anm. 34), S. i und 16 (u.ö.) und den Stich von John Faber Jr (Stecher), Gabriel Mathias (nach), William Ansah Sessarakoo, Druck (Mezzotinto), 1749, 32,8 x 22,5 cm, British Museum, Reg. no. 1902,1011.1867. Dieser Fall ist auch im weiteren Kontext der populären captivity narratives und anderer Besuche afrikanischer Fürstensöhne in England zu betrachten, vgl. Wylie Sypher, The African Prince in London, in: Journal of the History of Ideas 2,2 (1941), S. 237–247, bes. S. 239–244, zum Zusammenhang mit zeitgenössischen Abolitionismus-Debatten Robin Law, Legal and Illegal Enslavement in West Africa, in the Context of the Trans-Atlantic Slave Trade, in: Ghana in Africa and the World. Essays in Honor of Adu Boahen, hg. von Toyin Falola, Trenton u.a. 2003, S. 513–533, hier S. 526ff. – Auch die Franzosen brachten Söhne Courantrys/Currantees nach Europa, über die gleichfalls ‚königliche‘ Behandlung des einen von ihnen (Baissi) vgl. Rømer, A Reliable Account of Trade on the Coast of Guinea (1756), in: ders., Account (wie Anm. 36), S. 67ff. 46 Es handelt sich wohl um den caboceer von Egya, einem Nachbarort Anomabos; vermutlich identisch mit dem „Cabechere daya“ bzw. „d’aya“, von dem Du Bourdieu berichtet, Correspondence, [S.  9], Brief Du Bourdieus an Perier, dd. 15.02.1752 (a). Ein „cabechere Andahoume“ schickt zudem seinen Sohn namens „Coaffy“ mit Du Bourdieu nach Frankreich, vgl. die Coppies des Reconnaissances fornies pour les Negres qui viennent en France, dd. 19.02.1752, ANOM, C 6/13. Diesen Vorgang darf man wohl als diplomatischen Erfolg verbuchen. 47 Correspondence, [S. 1f.], Brief Du Bourdieus an Perier, dd. 13.02.1752.

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de canton“ und weniger vorsichtig als „partisan des anglois“ ein. Letztere Annahme bestätigt sich umgehend, denn Andaoumen unterbricht Came, der auf Bitten Courantrys sein Anliegen vom Vormittag wiederholt, und beschwert sich darüber, dass die Franzosen keine Geschenke mitgebracht haben. Er verlangt mindestens Branntwein „en nous disant que la seule façon de traitter avec eux etoit de commencer par leur donner de quoy boire.“ Auf Cames Antwort hin, er habe keinen Branntwein, den er ihm geben könne, erklären zwei Männer aus Andaoumens Gefolge, die Came sogleich als „espions des anglois“ entlarvt haben will, sie hätten in Cames Kanu sehr wohl einen Anker Branntwein gesehen. Diesen Disput, in dem sich Andaoumen offensichtlich zum Sprecher einer größeren Gruppe macht, sich aber keineswegs wie ein untergeordneter „chef de canton“ verhält und sich dabei vermutlich den Verstoß Cames gegen eine gesellschaftliche Norm Fantes zunutze macht,48 beendet Came geschickt – er lässt den Anker Branntwein holen und schenkt ihn Courantry. Damit hat er sich, so seine eigene Einschätzung, nicht zum Schenken zwingen lassen, vielmehr kann er die Gabe als Gegen- und Dankesgabe für die „Politesses et des bons traittemens que nous avions Receu du Roy“ ausgeben und damit zugleich in seinem Handeln die zentrale Autorität eben dieses „Königs“ stärken. Mit diesem Versuch, das Geschenk, um das er offenbar nicht umhin kommt, in seinem Sinne zu semantisieren, sucht Came zugleich sein Gesicht und die Position der Franzosen zu wahren – er ist kein Bittsteller, der Geschenke bringen muss, sondern bedankt sich angemessen für empfangene ‚symbolische‘ Gaben.49 Der Austausch von Komplimenten und Geschenken spielt auch bei der Gesandtschaft Du Bourdieus 1752 eine zentrale Rolle – einzelne cabecheres suchen 48 Die Rolle von Alkohol in den sozialen Beziehungen der Akan-Gesellschaften vor dem 19. Jhdt. untersucht Emmanuel Akyeampong, Drink, Power, and Cultural Change. A Social History of Alcohol in Ghana, c. 1800 to Recent Times, Portsmouth u.a. 1998, S. 21–46, der auf die bis heute erhaltene Bedeutung von Alkohol als Gabe hinweist: „One cannot pay a courtesy call on a chief or elder without a wrapped bottle of schnapps as a gift.“ (S. 161) Dies gelte nicht zuletzt auch für Wissenschaftler auf der Suche nach Interviewpartnern. 49 Dieser Gabenkonflikt verweist auch auf die zwei „Ökonomien des Schenkens“, wie Baesjou sie ausgemacht hat. Während afrikanische Herrscher Geschenke oft als „une reconnaissance de leur position de force“ ansahen, entsprachen sie im europäischen Verständnis eher Gehaltszahlungen, die eine kurz- oder mittelfristig zu erbringende Gegenleistung erforderten. René Baesjou, Une note sur le don dans l’évolution des rapport entre Africains et Européens à la côte de Guinée, unveröffentl. Manuskript Leiden s.d., S. 12f. und 16f.

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hier die französische Delegation in bewusst informellen Rahmen, durch Besuche in ihrem Quartier und auffällig zufälligen Begegnungen bei abendlichen Spaziergängen, ihrer Zustimmung oder vielmehr emphatisch ausgedrückt: ihrer Liebe für die französische Nation zu versichern und sich zugleich ihren Anteil an Geschenken (meist in Form von Branntwein) zu reklamieren. Du Bourdieu und sein Kollege de la Prevalaye gehen auf diese Offerten ein, sie orientieren sich hier wie auch bei weiteren Verhandlungen weniger an der Maxime einer Zentralgewalt als vielmehr an dem Konzept einer eher „republikanischen“, konsensorientierten Verfassung. Zugleich aber bemüht sich der „König“ darum, die Kontrolle über die Geschenkpraxis, die wiederum im Sinne von Gegengabe für empfangene „bonnes façons, et les services“ legitimiert wird, zu erlangen und zu wahren. Nachdem er zunächst, so Du Bourdieus Darstellung, völlig überwältigt ist von den für ihn selbst vorgesehenen Geschenken, unter denen sich wertvolle Stoffe, Hüte sowie ein Paar „pistolets garnis en argent“ befinden, erkundigt er sich umgehend, ob es auch Geschenke für die anderen „Cabecheres“ gebe. Als Du Bourdieu bejaht, erklärt Courantry „qu’il falloit luy remettre ce que j’avois, et qu’il le distribueroit“. Du Bourdieu weigert sich jedoch mit Verweis auf seine Instruktion und seine Verantwortung, über die verteilten Geschenke später Rechenschaft abzulegen.50 Die Diskussion ist damit aber nicht beendet: Bei einem (Gegen)Besuch im Quartier der Franzosen lässt sich Courantry die für die caboceers vorgesehenen Geschenke zeigen, „quand il a vû que le presents etoit [sic] Tout aussy riches que ceux qu’il avoit receu, Il m’a fait dire que c’etoit trop beau pour de [sic] petits Cabecheres“.51 Als angemessenere Alternative schlägt er „des pagnes d’ecarlotte“ anstatt der golddurchwirkten Stoffe vor.52 Indem er sich als Richter über die Angemessenheit von Geschenken und damit den jeweiligen Rang der zu Beschenkenden präsentiert, spielt Courantry sein Wissen über die Machtstrukturen und Hierarchien in Anomabo und Fante insgesamt aus. Wiewohl er mit diesen Versuchen letztlich scheitert, lassen sie deutlich zutage treten, dass es keineswegs nur um materielle Güter geht, sondern vielmehr um Teilhabe an politischer Macht und Entscheidungsgewalt sowie Zugehörigkeit zur herrschenden Elite. Hier scheinen die Geschenke eine 50 Correspondence, [S.11f.], Brief Du Bourdieus an Perier, dd. 16.02.1752 (a). 51 Ebd., [S. 16], Brief Du Bourdieus an Perier, dd. 17.02.1752 (a). 52 Wenn er jedoch darauf aufmerksam macht, dass eine nächste Expedition zur Errichtung des geplanten Forts ohnehin weitere Geschenke verteilen müsse und „que les accoutumant a des presents de cette Richesses il faudroit Toujours les continuér“, trifft er in der Tat wunde Punkte, die immer wieder zu Konflikten führen.

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zweifache Funktion zu besitzen:53 einerseits müssen sie den bestehenden Machtverhältnissen gemäß verteilt werden, um die Unterstützung aller einflussreichen Akteure zu sichern,54 andererseits können sie in gewissem Rahmen auch zu einer Neuordnung politischer Verhältnisse führen. Dies mag man besonders im Fall der Söhne Courantrys vermuten, die nach matrilinearem Erbrecht keine Hoffnung auf Nachfolge oder anderweitige Beteiligung an dem Vermögen ihres Vaters haben, deren Position aber durch ihre prominente Rolle in den Interaktionen mit den Franzosen gestärkt wird.55 53 Neben ihrer Funktion innerhalb der afrikanischen Gesellschaft war die Geschenkpraxis auch „an area of rivalry between competing white powers: it measured their relative prosperity and influence“; so Malcolm D. McLeod, Gifts and Attitudes, in: The Golden Stool. Studies of the Asante Center and Periphery, hg. von Enid Schildkrout, New York 1987, S. 184–201, hier S. 185. Dies lässt sich auch für Anomabo nachweisen, nicht zuletzt ging es dabei in einem regelrechten „Gabenkampf“ u.a. um Geschenke an das Heiligtum Nananom Mpow, mit denen man sich das „Orakel“ gewogen stimmen wollte, dazu kurz Fynn, Nananom Pow (wie Anm. 37), S. 57f., A. Adu Boahen, Fante diplomacy in the eighteenth century, in: Foreign Relations of African States, hg. von Kenneth Ingham, S. 25–49, hier S. 40f. Dass Du Bourdieus großzügige Gaben nicht ohne Wirkung blieben, deutet die Argumentation William Ansas gegenüber Kapitän Buckle an. Der französische Offizier habe „by making presents, from the Highest to the lowest sort of People, gained all the Natives to his side, excepting his Father Currantee. That his Father could not in Opposition to the whole Country turn him on board his ship, but that he was determined he should not erect a fort, or hoist French colours this year.“ Brief Matthew Buckles an Cleveland (Secretary to the Lords of Admiralty), dd. 19.02.1752, TNA, CO 388/45, fol. 41r–51v, hier fol. 45v. Es scheint aber gerade nicht „the whole country“ bedacht worden zu sein, vgl. die folgende Anm. 54 Dass gerade eine solche angemessene Verteilung im Bezug auf gesamt Fante nicht erfolgt sei, führen die Fante 1753 als einen Grund dafür an, dass sie sich gegen Courantrys/Currantees französische Pläne gewandt haben, vor allem habe er „Abrah“ (Abura) vernachlässigt; vgl. A Diary or Narrative of Transactions with the Fantees from the Death of Intuffero King of Warsaw, in 1753, TNA, T 70/1520, S. 4f.: Currantee „neglected Abrah intirely, and distributed the French Presents with a sparing Hand to the other Hands, that he might have the more to himself, Abrah now begins to ask, who is this that pretends to give away our Country without our Consent? Thus […] by his Greediness he has in a great Measure destroyed his Importance among the white Men, for now he must obey what the Fantees shall think fit to order.“ Zu Abura kurz Shumway, S. 109f. (wie Anm. 14). 55 Dazu tragen u.a. ihre Auslandsaufenthalte bei, denen entsprechend William als „fils anglois“, Baissi/Bazile, von den Engländern auch Lewis Banishee genannt, als „fils français“ und „Jouan“ (wohl João) als „fils portugais“ (aufgrund eines Aufent-

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So sehr Du Bourdieu und der Chevalier de la Prevelaye aber bereit sind, Courantry als „roi“ oder auch „chef“ Anomabos zu akzeptieren und ihn entsprechend zu behandeln, so explizit drängten sie in Belangen der ganzen „Nation fantine“ darauf, alle Großen des Landes zu versammeln. Als sie am zweiten Abend ihres Aufenthalts aber Bazile befragen, ob diesbezüglich bereits Boten ausgesandt seien, antwortet dieser, „que son Pere feroit cella tout seul, et qu’il n’avoit pas besoin de prendre l’avis de personne.“ Daraufhin schickt Du Bourdieu ihn zu Courantry zurück „pour luy dire qu’on ne traittoit pas de Nation a Nation de cette façon la sur tout dans un Pays presque republicain, qu’il falloit le Concours de toutte la Nation fantine par une assemblée des Grands, attendu que sy Courantry venoit a mourir les autres fussent en etat d’executér [sic] les Parolles qu’ils donneront aux francois, et de ne pas faire des frais immenses á la Compagnie qui deviendroit Infructueux.“56

Es gibt also noch eine andere, eine – wenn man so will – afrikanische Seite des „Königtums“ Courantrys und eine andere Bedeutungsdimension der Audienzen Cames und Du Bourdieus, die sich weniger auf die europäischen Delegationen als vielmehr auf die Einwohner der Stadt Anomabo und vor allem die Mit-caboceers Courantrys bezieht. Denn auch sie gehörten zu dem ‚Publikum‘, vor dem Courantry sich als Gastgeber und Audienzgeber in Szene setzte. 57 Wie der Streit um die Geschenkeverteilung vielleicht am prägnantesten zeigt, versuchte er die symbolischen Interaktionen mit den französischen Abgesandten zugunsten der Bestätigung und Bekräftigung der eigenen Position, nach deren Verstetigung und Aufwertung er strebte, zu nutzen und zu manipulieren. halts in Brasilien) bezeichnet wurden. Aufgrund der dabei erworbenen (Sprach) Kenntnisse und Kontakte pflegten Baissi/Bazile und William enge Beziehungen zu den Europäern, beide waren zeitweilig bei einer Kompanie angestellt; dazu Brief Melvils an das Committee, dd. 11.07.1751, TNA, T 70/29, fol. 1r–3r bzw. CO 388/45, fol. 89r–91r und Rømer, A Reliable Account (wie Anm. 45), S. 67ff. 56 Correspondence, [S. 5], Brief Du Bourdieus an Perier, dd. 14.02.1752 (b). Bemerkenswert ist auch, dass Du Bourdieu offenbar einen korporativen Repräsentationsbegriff verwendet, um die „assemblée des Grands“ zur Repräsentantin und zugleich Verkörperung der „nation fantine“ zu erklären. Im Weiteren überträgt er auch das Konzept einer Rangordnung auf die „cabecheres“, unter denen er Geschenke „selon les differents grades que je leur connoitray“ verteilen will (ebd., [S. 6]). 57 Vgl. auch die Ausführungen von Roosen zur Bedeutung von diplomatischem Zeremoniell „in delineating the positions of rulers in their own societies“; William Roosen, Early Modern Diplomatic Ceremonial: A Systems Approach, in: Journal of Modern History 52,3 (1980), S. 452–476, hier S. 472–475, Zitat S. 475.

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Eine solche Aufwertung sollte ihm posthum auch zuteil werden, indem er in die sogenannte „King list“ des „Anomabo Stool“ einging.58 Wie ihn uns die zeitgenössischen Quellen zeigen, gerade mit allen Widersprüchen, die sich dabei ergeben, erscheint Courantry/Currantee weniger als Verführter oder gar als Instrument einer der europäischen Parteien denn als virtuoser Taktierer, der eben insbesondere die europäischen Kontakte geschickt zu seinem Vorteil und der Distinktion gegenüber seinen Mit-caboceers nutzte. Darauf weist auch ein Brief des englischen Gouverneurs, Thomas Melvil, von Juli 1751 hin. Currantees/Courantrys Offerten, bei der Errichtung eines englischen Forts zu helfen, kommentiert Melvil wie folgt: „The true motive of John’s [i.e. John Currantee/Courantry; C.B.] Anxiety is this he has by rapin and every Indirect Method raised himself to his present Greatness, he is very old and knows very well that after his Death those who dare not Mutter against him now, will make his Family refund the money he has unjustly taken, and therefore he wants to make a merit with us in Building the Fort which he will expect we are to employ in the Protection of his Family, which may be destitute as the Poast [sic] of Capt[ain] of Annamaboe is elective, and in all Probibility [sic] without our Assistance will go into another Family.“59 58 Dazu insbes. Sanders, Development (wie Anm. 14), S. 270–282 und Henige, Chronology (wie Anm. 38), S. 149–152, der auf die Bedeutung gedruckter Quellen für die oralen Traditionen verweist (151). Henige vermutet, dass Courantry/ Currantee (oder sein Vorgänger) „the first de facto independent ruler of Anamabu“ war, zur kritischen Interpretation der oralen Tradition der Fante insgesamt S. 163ff. Der Titel bzw. das Amt eines Königs (ohene) wurde Priestley zufolge 1774 offiziell erstmals vergeben; Priestley, West African Trade (wie Anm. 14), S. 15. 59 Brief Melvils an das Committee, dd. 11.07.1751, TNA, T 70/29, fol. 1r–3r bzw. CO 388/45, fol. 89r–91r. – Ähnlich auch eine spätere Bewertung von französischer Seite: „Ces puissances [in Anomabo; C.B.] sont presentement composées de sept cabecheres. Le nombre n’en etant pas fixé, car tous negre [sic] peut parvenir á ce grade pourvu qu’il ayt de quoy soutenir les depenses que cette place exige. L’un d’eux nommé Courantry en est le chef, C’est celuy, Messieurs, dont vous avés fait elever le Fils [i.e. Baissi; C.B.], et quoy que quelques uns luy/donnent le titre du Roy. Il ne l’est point, Il est seulement le premir [sic] d’entre ses Egaux, qui sont tous maitres ches eux et independants, Tout ce qui Le distingue d’avec ce sont des honneurs exterieurs qu’ils luy rendent, Et que dans les affaires qui regardent les Pays, Ils s’assemblent chés Luy pour en deliberer, ou Il arrive souvent que ses avis ne sont pas suivis, et toujours d’En yres Le conseil á ses depens. La nomination de ce chef, qui n’a aucune suitte pour sa posterité, depend des cabecheres, qui prennent toujours un d’entr’eux, et ordinairement le plus Riche, Elle peut se faire sans la participation du Roy, á qui cependant ils en sont honnetetés.“ Anomabo

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Mit Eifersucht und Verärgerung habe Currantee/Courantry, so schreibt Melvil weiter, darauf reagiert, dass Cudjo Caboceer [i.e. Kwadwo Egyir], ein einflussreicher caboceer aus Fante in englischen Diensten,60 ein Schwert von der Kompanie geschenkt bekommen habe: „John Currantee is affronted that Cudjo should have a sword and he none: he is not a Woman, he says to be send of a Cloth, when other People younger than himself have swords sent them by the Company, such Presents flatter their Vanity, and are more valued by the Negroes than twice the Value in Goods.“

Auch hier ist wiederum das Bemühen um die Wahrung von Distinktion offensichtlich, zudem wird deutlich, dass Currantee/Courantry seinen Status sowohl aus afrikanischer wie aus europäischer Anerkennung bezog. Dass sich seine Verärgerung ausgerechnet auf ein Schwert – gegenüber den herkömmlichen Geschenken und Zahlungen in mehr oder minder kostbaren Tüchern61 – richtete, dürfte jenseits der aufgerufenen gender-Dimension auch in der spezifischen Symbolik des Schwerts bei den Fante begründet sein, das kein Tauschgut gehobener Qualität darstellte wie die Stoffe, sondern ein Repräsentationsobjekt, eine Insignie, die verliehen werden musste.62 Eine besondere sei also weder eine Monarchie noch eine Republik, sondern vielmehr „un Endroit habité par plusieurs Tirans, à qui il est important de plaire á tous, pour parvenir avec moins d’Inconveniences, aux Fins que l’on se propose.“; Brief Levets an die Direktoren der Compagnie des Indes, dd. 12.10.1746, ANOM, C 6/25. 60 „This famous individual’s authority ran throughout the whole of the Fante confederacy. He was also the lynch-pin of the British connexion on the Coast and was generally credited with having preserved Cape Coast Castle for the English during the Seven Years War. In Cape Coast his official position was that of town caboceer – a term used by the Europeans and coastal Africans alike to denote a person who might be designated as a power behind the throne. In addition, Kwadwo was also the Company linguist and a great slave merchant – altogether the archetypical birempon or ‚big man‘.“; Metcalf, Gold (wie Anm. 14), S. 31. Vgl. auch Priestley, West African Trade (wie Anm. 14), S. 15f. und Ty M. Reese, An Economic Middle Ground? Anglo/African Interaction, Cooperation and Competition at Cape Coast Castle in the Late Eighteenth Century Atlantic World, Vortrag bei der Tagung Interactions: Regional Studies, Global Processes, and Historical Analysis, 2001, URL: www.historycooperative.org/proceedings/interactions/reese.html [zuletzt besucht am 14.09.2011], Abs. 2. 61 Andrea Reikat, Handelsstoffe. Grundzüge des europäisch-westafrikanischen Handels vor der industriellen Revolution am Beispiel der Textilien, Köln 1997, S. 106f.; Baesjou, Une note (wie Anm. 49), S. 7 und 12. 62 Ein kurzes Schwert (mfoa) gehört u.a. zu den „magischen Regalien“ der drei mythischen Gründer Mankessims, vgl. McCaskie, Nananom Mpow (wie Anm. 37),

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Symbolik besaß das Schwert aber auch in den Augen der Engländer, und so wurde die ersehnte Waffe Currantee/Courantry im Februar 1752 – noch während der Mission Du Bourdieus – übergeben im Namen des englischen Königs gemeinsam mit einer englischen Flagge und den Worten: „those arms were to defend the Rights & Liberties of the Flag“.63 In diesem englischen Vorgehen spiegelt sich ebenso wie in vergleichbaren Aktionen der französischen Abgesandten, dass die Erzeugung und Absicherung der Position Courantrys/Currantees sowohl in seinem eigenen Interesse als auch dem der europäischen Akteure lag, insofern er als Garant für ihre Unterstützung galt. Damit erscheint das „Königtum“ Courantrys nicht allein als Produkt europäischer Zuschreibung und diskursiver Strategien, sondern vielmehr als Produkt komplexer Machtbeziehungen.64 Dabei werden die symbolischen Interaktionen mit Europäern zum performativen Element für die Konstruktion und Stützung seiner Position – einer Position, die, wie ein Gouverneur der Compagnie des Indes schrieb, sich vor allem durch „des honneurs exterieurs“ vor derjenigen der anderen caboceers auszeichnete.65 Der „König“ Courantry ist damit, zugespitzt formuliert, ein ‚transkulturelles Phänomen‘.66

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S. 135. – Zur „Hierarchie der Gegenstände“ und ihren unterschiedlichen Funktionen im Gabentausch und Tauschhandel vgl. Karl-Heinz Kohl, Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte, München 2003, S. 144ff. Brief Matthew Buckles an Cleveland, dd. 19.02.1752, TNA, CO 388/45, fol. 41r– 51v, hier fol. 46r. – Manche europäische Kompanien inszenierten die Übergabe eines Schwerts auch im Rahmen eines Einsetzungsrituals, vgl. z.B. Hans Christian Monrad, A Description of the Guinea Coast and its Inhabitants (1822), hg. und übers. von Selena Axelrod Winsnes, Legon, Accra 2009, S. 54f., in Angola praktizierten die Portugiesen Lehnsrituale bereits seit dem 16. Jhdt., s. Beatrix Heintze, Luso-African Feudalism in Angola? The Vassal Treaties of the 16th to the 18th century, in: Revista Portuguesa de História 18 (1980), S. 111–131. Auch bei Currantee/Courantry und Cudjo Caboceer kann man solche Anklänge an Lehnsrituale vermuten. Sehr anregend ist in diesem Zusammenhang die Studie von Till Förster, Die Darstellung neuer Herrschaft. Die Entstehung repräsentativer Öffentlichkeit in einer akephalen Gesellschaft Westafrikas, in: Anthropos 90 (1995), S. 377–390, die sich mit der Bedeutung von symbolischem Handeln und dessen Manipulation im Zuge der Ausbildung eines „Königtums“ bei den Senufo (heutige Elfenbeinküste) auseinandersetzt. Brief Levets an die Direktoren der Compagnie, dd. 12.10.1746, ANOM, C 6/25. In einem ähnlichen Sinne mag man auch die Situation Mitte des 19. Jhdts. verstehen, wie sie Horton 1868 wohl etwas polemisch überspitzt beschrieb: „[T] he close proximity to the guns of the forts, and the keener eye with which the domestic affairs of these states are watched by the Protecting Government, en-

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b. Ehrenvoller Empfang? Audienzen als Matrix der Konkurrenz Wie sah nun der eingangs erwähnte „ehrenvolle“ Empfang aus, den Du Bourdieu 1752 in Anomabo erhielt? In seinem Bericht werden einige Elemente hervorgehoben, die für ein europäisches Publikum als Indikatoren für „feine Unterschiede“ des zeremoniellen Traktaments lesbar waren. So kann er – wiederum nach seinen Maßstäben – den Rang der Einholenden betonen, indem er sie als Söhne des „Königs“ vorstellt, die Versammlung einer großen Volksmenge zeigt den öffentlichen und außergewöhnlichen Charakter des Ereignisses an. Als besonderen Ehrerweis verstand der Abgesandte neben der Anwesenheit fast aller „cabecheres“ während der Audienz, dass die gesamte Delegation von Courantry und den anwesenden ‚Großen‘ mit Handschlag begrüßt wurde.67 Auch die Bewirtung mit Punsch und Palmwein und den anschließenden Umtrunk verbuchte er als positives Zeichen. Bestimmte Signalwörter, fast schon Gemeinplätze, wie „faire mille d’amitiés“ und „favorable accueil“ akzentuieren das Bild eines freundlichen, ehrenvollen Empfanges. Doch wecken manche Details bei einem aufmerksamen Leser erste Zweifel: Wie konnte Du Bourdieu, dessen Wissen über Anomabo und die Fante offensichtlich recht beschränkt war, überprüfen, ob tatsächlich nahezu alle „cabecheres“ anwesend waren? Woher wollte er wissen, was einen „ehrenvollen“ Empfang in Anomabo auszeichnete? Wie konnte er die Größe der Menschenmenge verhältnismäßig einschätzen? Was also war der Maßstab, anhand dessen er seinen Empfang und seine „Antrittsaudienz“ beurteilte? Offensichtlich unterwarf Du Bourdieu das afrikanische Zeremoniell einer europäisch-diplomatischen Lesart, indem er ein Raster zum Messen von Distinktion anlegte, wie es aus den zeitgenössischen Zeremonialliteratur bekannt

able any man who can plant a village, make a stool and sit himself on it, to call himself a king, without his claim being called in question by the surrounding kings, or even disputed. In every small croom or village there is a king, although his territory does not extend beyond a mile round his capital; this is absurd in the extreme, but the habit exists […].“; James Africanus Horton, West African Countries and Peoples (1868), eingel. von George Shepperson, Edinburgh 1969, S. 118. S. auch Kwame Arhin, Rank and Class among the Asante and the Fante in the Nineteenth Century, in: Africa. Journal of the International African Institute 53,1 (1983), S. 2–22, hier S. 14f. 67 Dazu kurz François de Callières, De la manière de négocier avec les Souverains, Amsterdam 1716, S. 69.

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war.68 Das Ceremoniel mit seinem universellen Gültigkeitsanspruch69 gab dabei zwar für die einzelnen Gesten wie das Bedecken des Kopfes, den Handschlag und den Fußkuss sowie die jeweilige räumliche Situierung von Personen und Handlungen scheinbar eindeutige Interpretationen vor,70 doch fehlte im lokalen Rahmen gleichsam die Skala zu diesem Raster möglicher Distinktionen.71 68 Den Bericht Cames, der durchaus eine Bezugsgröße für einen ersten Vergleich hätte liefern können, kannte Du Bourdieu offenbar nicht. So fielen ihm u.a. mehrere Details, die halbe Stunde Wartezeit anstelle eines sofortigen Empfangs, die fehlenden „Tambours“ und auch die fehlenden Sonnenschirme bei der Einholung, zunächst nicht auf. Letzteren hatte Came allerdings lediglich eine Funktion des Sonnenschutzes zugeschrieben und die hohe symbolische Bedeutung, die Schirme und Baldachine bei den Akan als Zeichen von Würde und hohen Ämtern besaßen, offensichtlich nicht erkannt; s. z.B. McLeod, Gifts (wie Anm. 53), S. 188 und Suzanne Preston Blier, Royal Arts of Africa. The Majesty of Form, London 1998, S. 139ff. 69 Diese universelle Gültigkeit wurde jedoch von den einzelnen Vertretern der Zeremonialwissenschaft, Diplomatietheoretikern und Juristen höchst unterschiedlich beurteilt: Während einige der frühen deutschen zeremonialwissenschaftlichen Traktakte das Ceremoniel als sichtbaren Verweis auf die „Regelhaftigkeit des sozialen Kosmos“, letztlich auf die göttliche Ordnung, verstanden, sahen andere kein gemeinsames „Wesen“ des Ceremoniels mehr, sondern betonten die Differenzen zwischen den verschiedenen Ländern. Dabei behielten sie aber gleichfalls, wenn auch implizit, eine eindeutige Lesart der jeweiligen Gesten, ritualisierten Handlungen etc. und damit ein universelles Bedeutungsmuster bei. Auch bestimmte ausgezeichnete Elemente des diplomatischen Zeremoniells wie das Privileg von Botschaftern souveräner Herren, eine Audienz mit bedecktem Haupt zu absolvieren, sollten bspw. Wicquefort zufolge weltweit, auch gegenüber außereuropäischen Herrschern, behauptet werden; Abraham de Wicquefort, L’Ambassadeur et ses fonctions. Dernière édition, Pierre Marteau: Köln 1690, Bd. 1, S. 242ff. – Es fehlt bislang eine genauere Untersuchung der Darstellung und Deutung außereuropäischen Zeremoniells in Zeremonialwissenschaft und Gesandtschaftsliteratur. Erste Hinweise bei Miloš Vec, Zeremonialwissenschaft im Fürstenstaat. Studien zur juristischen und politischen Theorie absolutistischer Herrschaftsrepräsentation, Frankfurt a.M. 1998, S. 157–182, S. 289ff. und S. 393ff. 70 Anschaulich bei Gottfried Stieve, Europäisches Hoff-Ceremoniel, Johann Friedrich Gleditschens seel. Sohn: Leipzig 1723, bes. Kap. 15, S. 263–291 zum diplomatischen Audienzzeremoniell und Julius Bernhard von Rohr, Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der grossen Herren (1733), Faksimile-Ausgabe eingel. und hg. von Monika Schlechte, Weinheim 1990, Teil II, cap. 3, §§ 52–63. Die Annahme einer „transkulturellen“ Vergleichbarkeit von Ritualen führt eindrücklich Friedrich Friese, Historische Nachricht von denen Merckwürdigen Ceremonien derer Altenburgischen Bauern, Groschuff: Leipzig 1703, vor. 71 Eine ganz ähnliche Situation thematisiert Wicquefort zu Beginn seiner Ausführungen über Empfang und Audienz eines Botschafters am Beispiel der niederländi-

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Zehn Tage später jedoch hatte Du Bourdieu einen Vergleich zur Hand und änderte seine Beurteilung seines Empfangs schlagartig: Den Ehren gegenüber, die der konkurrierenden englischen Delegation aus Cape Coast zuteilwurden, verblasste der französische Empfang auf einmal. Courantry habe, so berichtet Du Bourdieu, die drei englischen Kapitäne, unter ihnen Matthew Buckle, mit ihren Begleitern am Meeresufer empfangen lassen „avec ses Tambours ses Parasols, et touttes Les Magnificences dont ils sont en Possession“, er selbst habe sie in seinem Hof begrüßt, und während sie gemeinsam in den Saal gingen, sei die ausländische Delegation von Salutschüssen geehrt worden – neun Gewehre seien siebenmal abgefeuert worden. Du Bourdieu war über diesen Empfang höchst empört und beschwerte sich heftig über „cette distinction de recevoir les Anglois autrement que les francois“, worauf Courantry mit Beschwichtigungsversuchen und Verweisen auf die ‚realpolitische‘ Entwicklung reagierte und im Weiteren sogar durch zeremonielle Demütigungen der Engländer die gekränkte Ehre des Franzosen wiederherzustellen suchte. Möglicherweise beging Du Bourdieu aber auch seinerseits in den Augen Courantrys einen groben Schnitzer, weil er nicht in der Lage war, das tractement und die dekodierte Botschaft richtig zu dechiffrieren und angemessen zu reagieren. Diese Umwertung demonstriert anschaulich, dass Audienzen und Audienzzeremoniell stets in Relationierungsprozesse eingebettet sind. Eine Audienz kann nur vor dem Hintergrund eines Vergleichshorizonts als ehrenvoll oder weniger ehrenvoll gelten.72 Dieser Vergleichshorizont war in der diplomatischen Praxis in Europa relativ genau fixiert, was es den Diplomaten oftmals bereits vor oder in Audienzen ermöglichte, sich bestimmter Behandlung zu erwehren, ein bestimmtes Vorschen Gesandtschaft nach Polen 1627, die einen Frieden zwischen Schweden und Polen aushandeln sollte. Während Gustav Adolf die Gesandten ehrenvoll empfangen hatte, wurden sie in Warschau nicht eingeholt. Zur Begrüßung vor dem angemieteten Quartier wartete lediglich der „Mareschal du Roiaume“, der ihnen den Termin ihrer Audienz mitteilte. Drei Tage später brachte man ihnen einige Verpflegung „de la part du Roy, qui ne leur fit pas faire la moindre civilité. Le Gentilhomme qui les vit de la part du Mareschal, leur dit entre autres choses, qu’en Pologne on n’estoit pas accoustumé à faire entrée aux Ambassadeurs. Il ne disoit pas la verité; veu qu’on a plusieurs exemples d’entrées-solemnelles & trés-magnifiques, que l’on y a faites.“; Wicquefort, L’Ambassadeur (wie Anm. 69), Bd. 1, S. 197f. 72 Roosen, Ceremonial (wie Anm. 57), S. 458ff. und S. 464ff.; Barbara StollbergRilinger, Die Wissenschaft der feinen Unterschiede. Das Präzedenzrecht und die europäischen Monarchien vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Majestas 10 (2002), S. 125–150.

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recht einzufordern oder sich einem besonderen Ehrerweis entsprechend zu verhalten – dennoch blieb immer noch genügend Raum für Uneindeutigkeiten, kurzum: genügend Konfliktpotential bestehen.73 Trotz des geringeren Formalisierungsgrades und mancher Alteritätserfahrung ließen sich Konzepte der Distinktion durch zeremonielles Traktament verhältnismäßig gut auf die diplomatische Erfahrung in Westafrika transferieren. Allerdings erlaubte eben jener geringere Grad an Formalisierung und die nur unvollständige kommunikative Anbindung an ein Publikum in Europa auch einen flexibleren Umgang mit Zeremoniell, so konnte ein nachteiliges Traktament ausgeblendet oder, wie es im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend geschah, mithilfe einer Karnevalisierungsstrategie als ‚lächerlich‘ und damit wirkungslos entlarvt werden.74 Schwierig hingegen gestaltete sich der Transfer von Symbolen und symbolischen Akten, die bestimmte Rechte begründen sollten, sowie von Rechtskonzepten. Ein zentrales Konzept war in diesem Zusammenhang das der Souveränität und damit verbunden die heftig umstrittene Frage einer englischen Souveränität über Fante.

c. Flaggen als Hoheitszeichen? Souveränität im Deutungskonflikt In einem gewissen Maße, insbesondere wenn es im eigenen Interesse lag oder dieses beförderte, waren diplomatische Akteure bereit, mussten sie bereit sein, sich auf andere, von ihren eigenen Interpretationen und Gewohnheiten abwei73 Nicht zuletzt da die Hierarchie der Vergleichsmaßstäbe unklar war und blieb. Vgl. auch André Krischer, Souveränität als sozialer Status: Zur Funktion des diplomatischen Zeremoniells in der Frühen Neuzeit, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz/ Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 1–32, bes. S. 11ff. 74 Eindrücklich bspw. der Bericht über eine Audienz bei dem Akyem-Herrscher Frempung bei Rømer, Account (wie Anm. 36), S. 141 und die Schilderung einer Audienz bei „king Pedro” am Rio Sestos, John Atkins, A Voyage to Guinea, Brazil, & the West-Indies (1735), Faksimile-Ausgabe, London 1970, S. 64f. – Dieser Befund lässt sich, wenn auch zeitlich offenbar ein wenig früher situiert, an die Beobachtungen Osterhammels zur Wahrnehmung des asiatischen Zeremoniells anschließen, vgl. Jürgen Osterhammel, Gastfreiheit und Fremdenabwehr. Interkulturelle Ambivalenzen in der Frühen Neuzeit, in: Furcht und Faszination. Facetten der Fremdheit, hg. von Herfried Münkler unter Mitarbeit von Bernd Ladwig, Berlin 1997, S. 379–436, hier S. 397–404.

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chende Gebräuche, Symbole und Interpretationen von Handlungen einzulassen75 – zugleich, so scheint es, waren manche afrikanischen Akteure durchaus in der Lage, diese antizipierte Alterität wiederum in ihrem Sinne zu nutzen. Anschaulich wird dies bei der Ankunft Cames in Anomabo 1751. Wie oben erwähnt, war er – anders als Du Bourdieu – mit Sonnenschirmen und einer Vielzahl von Musikinstrumenten direkt am Strand empfangen worden. Dennoch stellte sich bei ihm die Indignation noch schneller ein als bei seinem Kollegen: Als er sich Courantrys Haus näherte, sah er, dass dort eine englische Flagge gehisst war. Damit schien, zumindest auf den ersten ‚europäischen’ Blick, seine Mission beinahe schon beendet – war es doch sein Auftrag, herauszufinden, ob es wahr sei oder nicht „que les fantins fussent Les sujets du Roy dʼAngletterre [sic], et si Luy Roy d’Anamabo, Les Kabechers ses voisins et le Peuple Fantin reconnoissoient la souveraineté des anglois sur leur pays, ou si au contraire ils n’etoient un Peuple libre, En droit, et En Volonté de Commercer avec les françois, aussi bien qu’avec les anglois et les hollandois.“ Doch auf seine Frage nach der Bedeutung der Fahne am Haus des „Königs“ antworteten Cames einheimische Begleiter: „C’etoit un present des Anglois et que si nous voulions en donner aussi un au Roi Cormantin [sic] qu’il arboreroit egalement suivant l’usage de tous les nègres qui se font un plaisir d’arborer tous les pavillons de ceux qui leur en donnent.“ Damit schienen Cames Befürchtungen, der die Flagge offensichtlich gemäß europäischer Deutung als Hoheitszeichen interpretiert hatte, entkräftet. Bereitwillig akzeptierte er die Erklärung als spezifische Gebrauchsweise der „negres“ und rechtfertigt dies zusätzlich durch ähnliche Vorerfahrungen am Kap Mesurado (im heutigen Liberia). In der Tat finden sich auch andernorts Berichte darüber, dass die westafrikanischen Herrscher gerne geschenkte Flaggen annahmen und aufhängten, es gibt auch verschiedentlich Hinweise darauf, dass eigene Fahnen nach europäischem Vorbild entworfen wurden.76 Da europäische Flaggen jedoch wichtig für die Markie75 Vgl. auch Callières, De la manière (wie Anm. 67), S. 174: „Il faut qu’il [le Negociateur; C.B.] s’accommode aux mœurs & aux Coûtumes du Pays où il se trouve, sans y témoigner de la repugnance & sans les mépriser, comme font plusieurs Negociateurs qui loûent sans cesse les manieres de vivre de leur pays pour trouver à redire à celles des autres. Un Negociateur doit se persuader une fois pour toutes qu’il n’est pas assez autorisé pour réduire tout un pays à se conformer à sa façon de vivre, & qu’il est bien plus raisonnable qu’il s’accommode à celle du Pays où il est pour le peu de temps qu’il y doit rester.“ 76 Zur Flagge als Geschenk kurz McLeod, Gifts (wie Anm. 53), S. 187f. Eigene Flaggen der Fante asafo (etwa Militärkompanien) sind seit dem 19. Jhdt. bezeugt. Erste Ansätze könnte es aber bereits im 18. Jhdt. gegeben haben, mindestens

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rung der Forts und der Schiffe waren und sich häufig Konflikte an ihrer Missachtung oder Zerstörung sowie der Täuschung durch falsch gehisste Flaggen entzündeten, nicht zuletzt in Anomabo,77 dürfte allerdings bekannt gewesen sein, welche Bedeutung die Europäer ihnen zumaßen. Came ließ sich dennoch – angesichts seines nicht-europäischen Gegenübers – von dieser Erklärung der Flagge überzeugen und schenkte bei der anschließenden Konversation mit Courantry selbst dessen Versicherungen Glauben, dass die Engländer entgegen ihrer Behauptungen in Europa keineswegs einen Souveranitätstitel über Fante besäßen. Die Engländer seien zwar, so Courantry, „anciens alliés“, als deren Freund er sich betrachte, die Fante seien aber niemals „les sujets de l’Angletterre“ gewesen, im Gegenteil, sie seien ein freies Volk, das niemals unterworfen worden sei – aus diesem Grund sei ihr Land das bevölkerungsreichste und stärkste der ganzen Küste. Die schriftliche Intervention des englischen Vize-Gouverneurs gegen die französische Gesandtschaft liest sich vor diesem Hintergrund als Auftakt zu einem regelrechten Deutungskonflikt um Hoheitssymbole – denn William Husband belegt seine Behauptung, den Engländern komme sehr wohl die der Gebrauch nicht näher bezeichneter Fahnen bei Zeremonien ist belegt, vgl. Kwame Amoah Labi, The Transformation of European Forts, Castles and Flags into Local Fante Asafo Iconography, in: Research Review (Institute of African Studies, University of Ghana, Legon), N.S., 22,1 (2006), S. 83–98, S. 86ff. und Shumway, Fante (wie Anm. 14), S. 84. Doran H. Ross, Fighting with Art: Appliquéd Flags of the Fante Asafo, [Los Angeles] 1979, S. 12ff.– Bezeugt sind ‚eigene‘ Flaggen bereits an anderen Orten der Gold- und Sklavenküste, vgl. z.B. die Beschreibung von Atkins’ Empfang durch John Konny 1721 und Müllers Bemerkungen zur Besetzung des späteren Cape Coast Castle durch die Fetu 1659/60; Atkins, Voyage (wie Anm. 74), S. 75–80 und Wilhelm Johann Müller, Die africanische auf der guineischen Gold-Cust gelegene Landschafft Fetu (1676), Faksimile-Ausgabe, eingel. von Jürgen Zwernemann, Graz 1968, S. 12. Besonders ausgeprägt waren die Nutzung europäischer Flaggen und der Entwurf von eigenen Fahnen in Dahomey, das Blier als „culture of assemblage“ charakterisiert hat; Suzanne Preston Blier, Assemblage: Dahomey Arts and the Politics of Dynasty, in: Res. Anthropology and Aesthetics 45 (2004), S. 187–210 und dies., Europia Mania: Contextualizing the European Other in Eighteenth- and Nineteenth-Century Dahomey Art, in: Europe Observed. Multiple Gazes in Early Modern Encounters, hg. von Kumkum Chatterjee/Clement Hawes, Lewisburg 2008, S. 237–270. 77 Bereits im 17. Jhdt. waren Flaggen bei Auseinandersetzungen in Anomabo von Bedeutung, vgl. u.a. Daaku, Trade and Politics (wie Anm. 18), S. 16, ebenso in einem früheren englisch-französischen Konflikt in den 1680ern, The English in West Africa (wie Anm. 21), Bd. 2, no. 573–578, S. 222–227.

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„souveraineté“78 über Anomabo und das „pays des Fantins“ zu, neben den englischen Forts im Land eben durch die englischen Flaggen, die man überall im Fante-Land wehen sähe. Dieser klaren Interpretation der Flaggenpräsenz als Hoheitszeichen setzte Glandeves, der Vorgesetzte Cames, die Antwort entgegen, die Came am Tag seiner Ankunft erhalten hatte, legte sie nun aber dem „König“ in den Mund: Dieser habe gesagt, er würde gleichfalls eine französische Flagge hissen und verbinde mit diesem Zeichen keinerlei Abhängigkeit. Auf diese Diskussion, die nicht nur auf unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten, sondern letztlich auf die Frage nach der Deutungshoheit über die Flagge und ihre Symbolik zielte, ließ sich Husband jedoch nicht ein und beharrte selbst, als eine französische Abordnung nach Cape Coast geschickt wurde, schlichtweg auf der Eindeutigkeit der Flaggen als Hoheitszeichen. Auch den Verweis der Franzosen auf die Versicherungen ihnen gegenüber, die Fante seien keine Untertanen der Engländer, ließ er nicht gelten, sondern erklärte sie kurzerhand zu Übersetzungsfehlern.79 Da man sich nicht einigen konnte, schlug Husband schließlich eine Demonstration der englischen Exekutivgewalt vor. Sie sollte darin bestehen, dass sich neben den caboceers von Anomabo auch diejenigen aus „Fantem Murum“ (wohl Mankessim) auf seinen Ruf hin sofort nach Cape Coast begeben würden. Damit versuchte Husband, den Streit um die Flagge,

78 Zum Begriff der Souveränität vgl. Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jahrhundert bis 1806, Berlin 1986 und Krischer, Gesandtschaftswesen (wie Anm. 40), S. 213ff. 79 Relation de M. de Came (Inserat). – Dies passt zu der Version der Ereignisse bei Melvil im Juli 1751: „Few months ago French sent two ships to make a settlement at Annamaboe. They sent a Lieutenant ashoar to ask to whom the Fantees belonged? John Currantee answered to the English. The French man told John that the King of France had sent them to build a Fort there upon which John Demanded wheather or no they had brought him a Letter from King George: The Lieu[tenant] replied no then says John go back and bring me one, for you shall not settle here without his leave: upon which the Frenchman threatned to land men & settle in spite of John, which so moved his Indignation that he ordered him off Directly & told him if ever he catched any of them ashoar again he would but of [sic] their Heads, so the men of War were obliged to lye in the road till they had sold their Brandy to the English ships (for which they received very bad Gold) as the English Captains themselves confess during which time they Buried a great Part of their Ships Crews, and will not in all Probability, attempt any more Annamaboe Expeditions in a Hurry.“ Brief Melvils an das Committee, dd. 11.07.1751, TNA, T 70/29, fol. 1r–3r bzw. CO 388/45, fol. 89r–91r.

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der in erster Linie eine Auseinandersetzung um Deutung und Interpretationsgewalt war, auf eine scheinbar ‚realpolitische‘ Ebene zurückzubinden. Ein rein europäisches Modell, das Souveränität allein europäischen Monarchen zubilligt und den Erwerb von Souveränitätsrechten in Übersee allein auf einseitige Akte gründet,80 wird hier jedoch nicht, kann hier nicht vertreten werden81 – schließlich ist mindestens der „Gehorsam“ der Fante, mehr noch: sind deren eigene Rechtsaussagen im Spiel. Dennoch mag der Vorgang vielleicht als Instrumentalisierung der unwissenden Fante durch die englische Kompanie erscheinen. Ein deutlich komplexerer Sachverhalt und eine deutlich kompliziertere Rechtssituation ergeben sich jedoch, zieht man weitere Dokumente über Aussagen der caboceers von Anomabo heran. Sie waren sich durchaus über die Bedeutung der Flagge als Hoheitssymbol im Klaren, nur sahen sie die mit ihr verbundenen Verpflichtungen durch das vergangene englische Verhalten geschwächt, wie eine Delegation im Dezember 1751 erklärte: „Two days ago arrived here a Deputation from Annamaboe, Agga & Annishan three Towns situated very near each other, They said that several years ago 80 Dieses Modell liegt in vielen Fällen dem Erwerb zunächst eines Besitz- und dann eines Souveränitätstitels (allein) durch Inbesitznahme und ungestörte Okkupation von Gebieten zugrunde, die als „herrenlos“ (terra oder res nullius) angesehen wurden. Vgl. Keller et al., Creation (wie Anm. 8), MacMillan, Sovereignty (wie Anm. 7). Ebenso wie sich die Rechtsgelehrten und Völkerrechtstheoretiker in diesen Fragen uneins waren, war auch die völkerrechtliche Praxis im höchsten Maße uneinheitlich und uneindeutig. 81 Welcher völkerrechtliche Status den westafrikanischen Herrschern und den mit ihnen geschlossenen Verträgen in der Frühen Neuzeit zukam bzw. zugeschrieben wurde, ist bislang kaum untersucht worden. In eingeschränktem Rahmen, nämlich am Beispiel einer Episode aus der Chronik Rui de Pinas, hat Russell diese Frage thematisiert. Er stellt dabei die Diskrepanz zwischen einer christlich-höfischen Annahme einer communitas fidelium mit den getauften afrikanischen Königen und der Nichtakzeptanz dieser „egalitären“ Konzeption durch die Mehrheit der Portugiesen heraus; Peter E. Russell, White Kings on Black Kings. Rui de Pina and the Problem of Black African Sovereignty, in: ders., Portugal, Spain and the African Atlantic, 1343–1490. Chivalry and Crusade from John of Gaunt to Henry the Navigator, Aldershot 1995, no. XVI. Im 17. und 18. Jhdt., zumal bei protestantischen Ländern, spielte der Aspekt der Mission jedoch eine geringere Rolle, es sind aber ähnliche, mglw. eher rechtlich-pragmatisch motivierte Ansätze einer Gleichberechtigung afrikanischer Herrscher zu beobachten. Im englischen Fall könnte man an Cannadines Studie zu Rang und Königtum im British Empire (wie Anm. 44) anschließen. – Wiewohl der Fall Westafrikas insgesamt eher dem (Ost)Asiens und mancher Gebiete Nordamerikas denn demjenigen Lateinamerikas ähnelt, ist der Befund lokal zu differenzieren.

Beim „König“ von Anomabo  |

Capt[ain] Howe sent shoar and measured the Fort at Annamaboe, that they had heard I had brought out Bricks & Tyles as they understood to Build their Fort, but hitherto they had seen no steps towards it, that on the coming of the French men of war upon the coast they had taken English Flags to hoist to shew the French that they belonged to us and that they would not suffer them to settle among them, that our Flags were dry Flags as we gave them nothing to drink, and therefore desired to know whether we would give their Cabboceers at Agga and Annishan any pay, or if they should send us back our Flags.“82

Gouverneur Melvil nahm diese Drohung ernst und zeigte sich bereit, auf die Forderungen einzugehen und eine entsprechende Summe, teilweise in Brandy, für das Hissen der englischen Flagge zu zahlen. Eine Anerkennung englischer Souveränität über Fante lässt ein solches Verhältnis nicht gerade erkennen, vielmehr wird die Möglichkeit einer englischen Einflussnahme an entsprechende, kontinuierliche Gegenleistungen geknüpft. Buckle, dessen Empfang Du Bourdieu so erzürnte, erhielt im Februar 1752 auf seine Frage nach der englischen Oberherrschaft zwar eine positive Antwort, die aber deutlich machte, dass die caboceers darunter offenbar etwas anderes verstanden, als die Engländer meinten: „We told them we always thought the whole Fantee Nation owned a Sovereignty to the English Nation for the Quit-Rent83 we paid them annually, and if they did not 82 Brief Melvils an das Committee, dd. 26.12.1751, TNA, T 70/29, fol. 8v–9v, hier fol. 9r. Ähnliche Argumentation auch in einem Dialog zwischen den „Phantees“ und John Currantee, wie ihn William Ansa schildert; Brief William Ansas an den Earl of Halifax, dd. 20.02.1752, TNA, CO 388/45, fol. 53r–57r, hier: fol. 54v–55r. 83 Die Verwendung dieses Begriffs wirft ein gewisses Paradox auf, da eine „QuitRent“ im herkömmlichen rechtlichen Sinne eine Ablösesumme bedeutet, die für Land bzw. Lehen (anstelle anderer Verpflichtungen wie Frondienst o.ä.) gezahlt und mittels derer die Oberherrschaft bzw. Souveränität des Empfängers anerkannt wird. Dergestalt wurde die „Quit-Rent“ auch im British Empire andernorts eingesetzt; z.B. Beverley W. Bond, The Quit-Rent System in the American Colonies, in: American Historical Review 17,3 (1912), S. 496–516. Warum Buckle die Zahlungen an die Fante als „Quit-Rent“ deklariert, ihnen zugleich aber konträre rechtliche Implikationen zuschreibt, ist unklar. Hinzuweisen ist auf Fälle aus Nordamerika, in denen englische Siedler einen Tribut an indigene Gruppen entrichteten, der gelegentlich als „Quit-Rent“ bezeichnet wurde. Pulsipher weist darauf hin, dass offen bleibe, ob damit die „Indian sovereignty“ anerkannt oder lediglich ihrer Macht, die Forderung durchzusetzen, Rechnung getragen werde. Ihr zufolge haben jedoch die Indianer die Zahlungsbereitschaft als „evidence of the respect due to them as sovereign lords“ interpretiert; Jenny Hale Pulsipher, „Dark Cloud Rising from the East“. Indian Sovereignty and the Coming of King Wil-

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look upon themselves to be English. They said yes, the English was their Masters [sic], but asked if the English & French were at War, that we would not suffer the French to have a piece of Ground with us.“84

Doch Buckles Reaktion auf diese Frage zeugt ihrerseits wiederum davon, dass es mit der effektiven Durchsetzung oder Verwirklichung der prätendierten Souveränität nicht gut bestellt war. England und Frankreich seien nicht im Krieg, aber wenn die Fante den Franzosen erlaubten, ein Fort zu bauen, würde dies zu Spaltungen unter den Fante selbst führen. Es sei unmöglich für sie mit zwei so verschiedenen Interessen friedlich zu leben. Daher müssten sie entweder die Engländer, „their old Friends & Allies“, oder aber die Franzosen aufgeben. Darauf klagten die caboceers zunächst über die mangelnden Freundschaftserweise von Seiten der Company, beharrten aber weiterhin darauf, sowohl die Engländer als auch Franzosen ein Fort errichten zu lassen, wiewohl „upon the whole they acknowledged themselves to be English“. Was heißt aber „being English“ hier? Den „Phantees“ schreibt William Ansa folgende Worte zu, die vermuten lassen, dass dies keine Frage exklusiver nationaler Zugehörigkeit sein musste: „…that they hoist an English Flag at Annamaboe because

liam’sWar in New England, in: New England Quarterly 80,4 (2007), S. 588–613, hier: S. 600f. 84 Brief Matthew Buckles an Cleveland, dd. 19.02.1752, TNA, CO 388/45, fol. 41r– 51v, hier fol. 47r. – Eine ähnliche Antwort erhielt, William Ansa zufolge, auch Du Bourdieu. Allerdings sind in dem Wortwechsel, den Ansa wohl nicht zuletzt in der Absicht wiedergibt, die Loyalität seines Vaters zu betonen, entscheidende, hier kursiv hervorgehobene Begriffe anders gewählt: „[T]he French king desired to know whither the whole Coast & Kingdom of the Phantees [sic] was the Property of the English, for that the English acquainted them it was & that they had bought it & them w[ith] all the Cattle [etc.] thereon, for which Reason the English would not lett them Trade here; at the same time they Desired my Father would inform them to the Truth thereof ? Who Answer’d That they was [sic] not Slaves to the English, but that him his Fore-Ffathers and his present Generation were English; and my Father likewise inform’d them the English do & has Paid him annually for the Rent of the Land, besides Sending him other considerable Presents; so that the English live by us & we by them.“ Brief Ansas an den Earl of Halifax, dd. 20.02.1752, TNA, CO 388/45, fol. 53r–57r, hier: fol. 53r–v. Ansa stellt Currantee als einsamen Verteidiger der Loyalität zu den Engländern gegenüber „all the Capashiers & the Majority of Com[m]on People in the Kingdom“ dar, die aufgrund zahlreicher Geschenke die Franzosen favorisieren (55v).

Beim „König“ von Anomabo  |

they are English in order for English Merch[ant] Ships to come and deal with them“.85 Wenn Melvil nach den Missionen Du Bourdieus und Buckles von Februar 1752 fragt, „Why was [ John Currantee] so much an Englishman last Year, and so much a Frenchman this?“,86 liegt demnach eine Antwort darin, dass die Fante in Anomabo, allen voran John Currantee, offenbar weder das englische Konzept der Souveränität noch das einer exklusiven nationalen Zugehörigkeit teilten. Fante war auf pragmatische Allianzen zur Sicherung seiner Mittelsposition zwischen den Inlandreichen und den Europäern an der Küste angewiesen, nicht zuletzt um sich Monopolbestrebungen auf beiden Seiten zu entziehen.87 Die Vorstellung einer Oberherrschaft der Engländer mit exklusiven Handelsrechten passte weder in diese Politik der Fante noch war sie mit den begrenzten Mitteln der Company durchsetzbar. So schlecht es offenbar um die reale Existenz und damit wohl auch um die rechtliche, sofern durch die Effektivität der ‚Okkupation‘ (mit)konstituierte, Grundlage einer englischen Souveränität über Fante bestellt war, so wichtig war diese Vorstellung jedoch in der Auseinandersetzung zwischen Engländern und Franzosen. Und wie wenig die Fante auch von exklusiven Handels- und Herrschaftsrechten halten mochten, so geschickt wussten sie jedoch ihre Position in diesem Konkurrenzkampf zu nutzen. So ist es kaum überraschend, dass die caboceers von Anomabo wenige Tage nach Buckles Besuch einen Vertrag mit der Compagnie des Indes über die Errichtung eines Forts und die Abtretung eines entsprechenden Gebiets schlossen.88 Und es ist vielleicht auch nicht überraschend, dass es ein Jahr später nicht

85 Brief William Ansas an den Earl of Halifax, dd. 20.02.1752, TNA, CO 388/45, fol. 53r–57r, hier: fol. 55r. Dies wird laut Ansa wiederum mit einer Klage über den Bruch von Gewohnheiten verbunden – denn die Handelsschiffe würden gegenwärtig gar nicht mehr nach Anomabo kommen, sondern in Cape Coast gestoppt. 86 Brief Melvils an das Committee, dd. 14.03.1752, TNA, T 70/29, fol. 13r–19r, hier fol. 15v. 87 Zu den komplexen diplomatischen Netzwerken der Fante vgl. Boahen, Fante diplomacy (wie Anm. 53) und Robert S. Smith, Warfare & Diplomacy in PreColonial West Africa, London 21989, v.a. Kap. 2. 88 Vertrag zwischen Compagnie des Indes und den caboceers von Anomabo im Namen Fantes, dd. 22.02.1752, ANOM, C 6/13 (Original) bzw. 40 COL 9, Nr. 408 (Reinschrift). Die eigentliche Zession sollte durch eine Gesandtschaft Fantes, der u.a. der „französische Sohn“ Courantrys angehörte, in Frankreich vollzogen werden.

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die Franzosen, sondern die Engländer waren, die mit den Bauarbeiten für ein Fort in Anomabo begannen.89

Fazit Im Zuge eines um sich greifenden „presentism“, so hat der Londoner Historiker Richard Reid kürzlich festgestellt, wird die sogenannte „vorkoloniale” Geschichte Afrikas immer weniger berücksichtigt. Nicht nur erscheine sie einer afrikanistischen Geschichtswissenschaft, die ihren Daseinszweck zunehmend in der Politikberatung verorte, als wenig bedeutungsvoll, vielmehr rufe die vorkoloniale Vergangenheit „active discomfort“ hervor: „it looks muddy, difficult to conceptualize and categorize, and often all rather violent, and not in a positive, constructive way, but in a cyclical, ‚nasty, brutish, and short‘ kind of way.“90 Mindestens die ersten beiden der von Reid genannten Attribute scheinen in besonderem Maße auf die Verhältnisse in Anomabo und in Fante zuzutreffen. Ähnliches lässt sich auch aus kolonialgeschichtlicher Perspektive für die „vorkolonialen“ europäischen Unternehmungen in Westafrika feststellen. Mithilfe eines kulturgeschichtlichen Ansatzes, der diskursanalytische Zugänge mit neueren Institutionentheorien verbindet und weniger Ethnien oder Staaten als vielmehr die historischen Akteure in den Mittelpunkt rückt, lassen sich diese trüben Wasser besser erhellen. Ohne sie damit zu einer besonderen Spezifik des Vorkolonialen zu hypostasieren (auch die Kolonialzeit hat sicherlich Uneindeutigkeits-Potentiale), sollten diese Uneindeutigkeiten und Kontingenzen der historischen Ereignisse eben nicht wegerklärt oder ignoriert, sondern als ein wesentliches Charakteristikum der Beziehungen an der Goldküste untersucht werden. So stellen auch Law und Hair die Uneindeutigkeit der Machtverhältnisse heraus: „The English and other Europeans on the Gold 89 Dies geschah u.a. aufgrund eines Vertrags, den Melvil unter Mitwirkung Cudjo Caboceers mit Vertretern aus gesamt Fante schloss, unter ihnen die Priester von Nanapom Mpow, der brafo sowie verschiedene lokale caboceers aus Abora ; Vertrag zwischen England und Fante, dd. 06.02.1753, TNA, T 70/1695 (Original) bzw. CO 388/45, fol. 128r–129v (Kopie), parallel wurde ein Vertrag mit den „östlichen“ Ekumfi-Fante geschlossen, Vertrag zwischen England und den EkumfiFante, dd. 14.03.1753, TNA, T 70/1695 (Original) bzw. CO 388/45, fol. 130r– 131v (Kopie). Vgl. Boahen, Fante diplomacy (wie Anm. 53), S. 40–44, zum Fort s. Anm. 21. 90 Richard Reid, Past and Presentism: The ‚Precolonial‘ and the Foreshortening of African History, in: Journal of African History 52 (2011), S. 135–155, hier S. 153.

Beim „König“ von Anomabo  |

Coast might perhaps be regarded as exercising a form of ‚informal empire‘ over the African communities allied to them; but it might equally be argued that it was the Africans who were exploiting European support, and playing off rival Europeans against each other, rather than vice versa.“91 Audienzen eignen sich besonders für eine solche Untersuchung, die Uneindeutigkeiten sowie Strategien der historischen Akteure, dem Geschehen Sinn und Eindeutigkeit zu verleihen, in den Mittelpunkt stellt, lässt sich an ihnen doch prägnant aufzeigen, wie die Begegnung und Interaktion von Menschen diskursiv und symbolisch vermittelt zu einer ‚staatstragenden’ Aktion wird. Am Beispiel des „Königs“ Courantry konnte gezeigt werden, dass eine Audienz nicht per se als diplomatisches Ereignis der ‚virtuellen‘ Begegnung zweier Gemeinwesen angesehen werden kann, dass es vielmehr die diskursiven und symbolischen Praktiken zu untersuchen gilt, mittels derer die persönliche Begegnung zum politisch relevanten Geschehen wird. Audienzen spiegeln zudem ein größeres Beziehungsgeflecht als nur das Verhältnis der anwesenden Parteien – so definiert sich das symbolische Kapital, das Akteure durch Audienzzeremoniell konstituieren können, stets im Bezug auf andere Audienzen, Audienzen müssen stets gleichsam in eine Matrix des Vergleichs eingebunden werden. Die englisch-französische Rivalität, wie sie auch über die fehlenden Sonnenschirme und die Flagge am Haus Courantrys/Currantees ausgetragen wurde, konnte in diesem Sinne exemplarisch für die komplexen Beziehungsverhältnisse an der Goldküste untersucht werden. Wenn man, wie nicht zuletzt Johannes Fabian angemahnt hat, stärker die persönliche, die Akteursdimension von Begegnungen in den Blick nimmt,92 lösen sich sowohl scheinbar klare kulturelle Grenzen als auch vermeintlich eindeutige Rechtsverhältnisse auf. So muss letztlich unklar bleiben, ob die englische Kompanie jemals die Souveränität über Fante erlangt hat. Wir stehen von einem Gewirr sich widersprechender Aussagen und Zeugnisse – man erinnere sich an die oben erwähnte „muddiness“ –, oft ohne Prioritäten oder endgültige Entscheidungen ausmachen zu können. Und selbst die seltenen Versicherungen der caboceers, die Engländer seien ihre „masters“, erscheinen zweifelhaft – weder entsprach die Vorstellung von Souveränität und Herrschaft, wie sie die Fante in diesen Situationen offenbar an den Tag legten, dem europä91 Hair/Law, The English (wie Anm. 4), S. 262. 92 Johannes Fabian, You Meet and You Talk. Anthropological Reflections on Encounters and Discourses, in: The Fuzzy Logic of Encounter. New Perspectives on Cultural Contact, hg. von Sünne Juterczenka/Gesa Mackenthun, Münster 2009, S. 23–34, hier S. 26.

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ischen Rechtsdiskurs noch hielten die Engländer selbst es offensichtlich für denkbar, dass die Fante sich ihrer Oberherrschaft beugten. Dennoch finden sich zahlreiche Memoranden, Briefe und andere Dokumente, in denen genau über diese Frage gestritten wird – die englische Souveränität über Fante war, trotz ihrer zweifelhaften Existenz, relevant in der englisch-französischen Auseinandersetzung. Die Einbeziehung gerade der Uneindeutigkeiten kann somit einen besseren Einblick in das Funktionieren (oder eben Nicht-Funktionieren) der afrikanisch-europäischen Beziehungen ermöglichen und zur Vorsicht gegen allzu rasche Kategorisierungen mahnen.

Der dı-va-n des Vizekönigs von Ägypten als transkultureller Begegnungsraum Audienzen und Empfänge bei Meh.med ʿAlı- Pas¸a und ʿAbba-s Pas¸a (1820–1850) Felix Konrad

Einleitung In der auf Austausch- und Interaktionsprozesse zwischen dem Osmanischen Reich und Europa fokussierten kulturgeschichtlichen Forschung zeichnet sich seit einiger Zeit ein vermehrtes Interesse an Empfängen und Audienzen ab. Empfänge und Audienzen sind nicht nur für die neue, kulturgeschichtlich orientierte Diplomatiegeschichte von Bedeutung, sondern auch für die Untersuchung von Selbst- und Fremdwahrnehmungen. Das Interesse gilt dabei vor allem der Zeit vom 16. bis ins 18. Jahrhundert und konzentriert sich auf Empfänge von Europäern am Sultanshof in Istanbul einerseits 1 und auf die Wahrnehmung von osmanischen Gesandtschaften in West- und Mitteleuropa andererseits.2 Verglichen damit wurden Audienzen bei osmanischen Gouver1 Peter Burschel, Topkapı Sarayı oder Salomon Schweiggers Reise ans Ende der Zeit, in: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell, hg. von Andreas Bähr/Peter Burschel/Gabriele Jancke, Köln u.a. 2007, S. 29–40; Maria Pia Pedani, The Sultan and the Venetian Bailo: Ceremonial Diplomatic Protocol in Istanbul, in: Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit, hg. von Ralph Kauz/Giorgio Rota/Jan Paul Niederkorn, Wien 2009, S. 287–299; Ernst D. Petritsch, Zeremoniell bei Empfängen habsburgischer Gesandtschaften in Konstantinopel, in: ebd., S. 301–322. Siehe auch den Beitrag von Christine Vogel in diesem Band, Seite 221. 2 Fatma Müge Göçek, East Encounters West. France and the Ottoman Empire in the Eighteenth Century, Oxford 1987; Anni Miksch, Außenpolitik im Spiegel des sächsisch/polnischen Zeremoniells. Die Audienzen der tatarischen und türkischen Gesandtschaft bei König August II. von Polen 1731 in Warschau, in: Im Lichte des Halbmonds. Das Abendland und der Türkische Orient, hg. von Alfred Brückner, Dresden 1995, S. 184–191; Stephan Theilig, Die erste osmanische Gesandtschaft in Berlin 1763/64: Interkulturalität und Medienereignis, in: Europäische Wahrnehmung 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse, hg. von Joachim Eibach/Horst Carl, Hannover 2008, S. 131–160.

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neuren oder anderen untergeordneten Herrschaftsträgern sowie Audienzen während des 19. Jahrhunderts weniger thematisiert. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Christian Windler zu Diplomatie, Fremderfahrung und Gabentausch in Tunesien zwischen 1700 und 18403 sowie Khaled Fahmys Diskussion der Audienzen bei Meh.med ʿAlī Paşa als subtiles Mittel der politischen Beeinflussung.4 Daneben wurden Audienzen in breit angelegten Studien zum osmanischen Hofzeremoniell des 19. Jahrhunderts und zum Hof der ägyptischen Khediven untersucht.5 Dass Audienzen bei nicht souveränen, aber autonomen Herrschern wie den Vizekönigen (Khediven) von Ägypten weniger Interesse fanden als jene beim Sultan, liegt möglicherweise daran, dass sie für die Zeitgenossen in protokollarischer Hinsicht weniger Probleme aufwarfen. Macht und politische Handlungsspielräume dieser Herrschaftsträger waren in mancherlei Hinsicht eingeschränkt und damit stand bei Audienzen tendenziell weniger auf dem Spiel, als dies bei Zusammentreffen mit dem Sultan oder seinem Großwesir der Fall gewesen wäre, nicht zuletzt auch auf symbolischer Ebene. Im Folgenden sollen Audienzen bei Meh.med ʿAlī Paşa und seinem Enkel ʿAbbās Paşa untersucht werden, die von 1805 bis 1848 beziehungsweise von 1848 bis 1854 als osmanische Vizekönige Ägypten regierten. Ziel dieses Beitrags ist es, zwei unterschiedliche Audienztypen als transkulturelle Begegnungen zu analysieren: erstens Privataudienzen bei Meh.med ʿAlī Paşa, zweitens feierliche Audienzen von Generalkonsuln bei ʿAbbās Paşa. Die Analyse der Privataudienzen basiert auf Reiseberichten, wobei der zeitliche Rahmen von rund 1820 bis 1845 bewusst weit gefasst ist, um typische Handlungs- und Deu3 Christian Windler, La diplomatie comme expérience de l’Autre. Consuls français au Maghreb (1700–1840), Genf 2002; ders., Normen aushandeln. Die französische Diplomatie und der muslimische „Andere“ (1700–1840), in: Ius Commune. Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte 24 (1997), S. 171–210; ders., Tributes and Presents in Franco-Tunisian Diplomacy, in: Journal of Early Modern History 4 (2000), S. 168–199; ders., Diplomatic History as a Field for Cultural Analysis. Muslim-Christian Relations in Tunis, 1700–1840, in: The Historical Journal 44 (2001), S. 79–106; ders., Diplomatie et interculturalité – Les consuls français à Tunis, 1700–1840, in: Revue d’histoire moderne et contemporaine 50/4 (2003), S. 63–91. 4 Khaled Fahmy, All the Pasha’s Men. Mehmed Ali, his Army, and the Making of Modern Egypt, Cambridge u.a. 1997, S. 1–9. 5 Hakan T. Karateke, Padişahım Çok Yaşa! Osmanlı Devletinin Son Yüz Yılında Merasimler, Istanbul 2004, zu Audienzen von Ausländern S. 130–194; Felix Konrad, Der Hof der Khediven von Ägypten. Herrscherhaushalt, Hofgesellschaft und Hofhaltung 1840–1880, Würzburg 2008, zu Audienzen S. 343–347, 417–425.

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tungsmuster in diachroner Perspektive nachzuzeichnen. Bei den Audienzen der Generalkonsuln hingegen konzentriert sich die Analyse auf ein Ereignis im Jahre 1850, das ungewöhnlich gut dokumentiert ist. Dieses Vorgehen bietet sich nicht nur aufgrund der Quellenlage6 an, sondern ist auch geeignet, Wandel und Persistenzen in unterschiedlichen Kontexten herauszuarbeiten, dies nicht nur in Bezug auf die Funktion dieser transkulturellen Begegnungen, sondern auch in Bezug auf die Handlungen der Akteure im Rahmen der Audienz selbst sowie deren Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Da sich beide Audienztypen durch eine hohe Dichte an symbolischer Kommunikation7 auszeichnen, können an sie dieselben Fragen nach der Kommunikationsfunktion von zeremoniellen und rituellen Handlungen herangetragen werden. Dabei sind Ritual und Zeremonie nicht immer leicht auseinanderzuhalten, da es sich bei beiden um nicht alltägliche, aber repetitive und in hohem Maße durch protokollarische Vorgaben reglementierte Handlungen von symbolischer Bedeutung handelt. Im Zentrum des Rituals steht die aktive Partizipation der Akteure, die beim Vollzug der rituellen Handlung miteinander interagieren und sich so in Beziehung zueinander setzen. Im Zentrum von 6 Die europäische Reiseliteratur bietet eine Fülle von Informationen über Privataudienzen bei Meh.med ʿAlī; vergleichbare Schilderungen aus der Zeit seiner Nachfolger ʿAbbās Paşa und Meh. med Saʿīd Paşa (reg. 1854–1863) sind hingegen nur selten in Reiseberichte eingeflossen. Umfangreiche, zum Teil kommentierte Schilderungen von sogenannten audiences solennelles, bei denen Konsuln ihr Akkreditierungsschreiben überbrachten, sind in der konsularischen Korrespondenz zu finden. Ägyptische Quellen zu Audienzen, sei es in Arabisch oder in Osmanisch-Türkisch, sind hingegen äußerst spärlich. Dies gilt sowohl für narrative Quellen als auch Archivalien. So weist das Ägyptische Nationalarchiv in Kairo keinen gesonderten Bestand an Protokollregistern oder Ähnlichem auf, der über das Prozedere von Audienzen Aufschluss gäbe. Anscheinend war der ägyptische Hof weniger an der Archivierung solcher Dokumente interessiert als der osmanische, der spezielle Protokollregister (teşrīfāt defterleri) produziert hat. (Für ein publiziertes Protokollregister siehe Hakan T. Karateke, An Ottoman Protocol Register. Containing Ceremonies from 1736 to 1808. BEO Sadaret Defterleri 350 in the Prime Ministry Ottoman State Archives, Istanbul, Istanbul u.a. 2007.) Diese Quellenlage führt dazu, dass Audienzen bei den ägyptischen Vizekönigen nur aus der Sicht der europäischen Besucher erschlossen werden können. Implizit lassen deren Schilderungen aber auch Rückschlüsse auf den Empfangenden zu, so dass beide Akteurseiten erfasst werden können. 7 Grundlegend zur symbolischen Kommunikation siehe Barbara Stollberg-Rilinger, Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe – Thesen – Forschungsperspektiven, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 489– 527.

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Zeremonien steht hingegen die Repräsentation gegenüber einer Öffentlichkeit, da zeremonielle Handlungen als symbolische Vorführungen dazu angelegt sind, von anderen beobachtet und interpretiert zu werden.8 Bei den folgenden Ausführungen ist die Stellung Meh.med ʿAlī Paşas9 und seiner Nachfolger im Auge zu behalten. De jure waren sie nichts anderes als hochrangige osmanische Amtsträger, die die Provinz Ägypten im Auftrag des Sultans verwalteten und im Prinzip gegenüber der Reichsregierung weisungsgebunden waren.10 Da die Regierung des Sultans aber de facto nur sehr beschränkte Zugriffs- und Kontrollmöglichkeiten hatte, konnten sie ihre Macht in Ägypten praktisch unbegrenzt ausüben und auch stetig ausbauen. Meh.med ʿAlī erreichte bereits in seinen ersten zehn Amtsjahren eine Machtfülle, die es der Regierung in Istanbul unmöglich machte, ihn von seinem Posten zu entfernen. Seine Familie und sein Hof entwickelten sich zum unangefochtenen politischen und gesellschaftlichen Zentrum des Landes.11 Meh.med ʿAlīs Politik zielte darauf ab, sich und seiner Familie einen gesicherten Herrschaftsraum innerhalb des Osmanischen Reiches zu schaffen. Dies führte zu großen Spannungen mit der Regierung des Sultans, die in zwei Kriegen zwischen dem Vizekönig und der Zentralmacht gipfelten (1831–1833 beziehungsweise 1838–1840). Diese Konflikte dürfen aber nicht als Unabhängigkeitskriege Ägyptens missverstanden werden. Vielmehr waren sie das Resultat einer dynastischen Familienpolitik, die Meh.med ʿAlī und seinen Nachfolgern die Herrschaft über die Provinz Ägypten garantieren und damit ihre Stellung 8 Johannes Paulmann, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn u.a. 2000, S. 17f. 9 Ich ziehe „Meh.med ʿAlī Paşa“, die osmanisch-türkische Lesart des Namens, gegenüber der arabischen Form „Muhammad ʿAlī Bāšā“ vor, weil sie die soziokulturelle Identität des Herrschers als Oberhaupt der osmanisch-ägyptischen Elite reflektiert. Vgl. Ehud R. Toledano, Mehmet Ali Paşa or Muhammad Ali Basha? An Historiographic Appraisal in the Wake of a Recent Book, in: Middle Eastern Studies 21/4 (1985), S. 141–159; für die osmanisch-ägyptische Elite siehe ders., State and Society in Mid-Nineteenth-Century Egypt, Cambridge u.a. 1990, S. 68–93. 10 Für einen Überblick über die Geschichte Ägyptens unter Meh.med ʿAlī und seinen Nachfolgern siehe Khaled Fahmy, The Era of Muhammad ‘Ali Pasha, 1805– 1848, in: The Cambridge History of Egypt, Bd. 2: Modern Egypt, from 1517 to the End of the Twentieth Century, hg. von M.W. Daly, Cambridge u.a. 1998, S. 139–179, und Robert F. Hunter, Egypt under the Successors of Muhammad ‘Ali, in: ebd., S. 180–197. 11 Siehe Konrad, Hof der Khediven (wie Anm. 5).

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innerhalb des osmanischen Reichsverbands festigen sollte.12 Meh.med ʿAlī erntete die Früchte dieser Politik im Jahr 1841, als Sultan ʿAbdülmecīd die Erblichkeit des ägyptischen Gouverneursamtes in seiner Familie anerkannte. Dies und die damit verbundene feste Etablierung seiner Familie als osmanischägyptische Dynastie bedeuteten jedoch keine Souveränitätsrechte. In der diplomatischen Sprache und in der Hierarchie der Fürsten waren Meh.med ʿAlī und seine Nachfolger keine „Majestäten“, sondern lediglich „Hoheiten“. Daran änderte sich auch nichts, als Meh.med ʿAlīs Enkel İsmāʿīl Paşa (reg. 1863– 1879) von Sultan ʿAbdülʿazīz das Recht erhielt, den im Osmanischen Reich einmaligen Titel „Khedive“13 zu führen, der ihm nahezu königliche Würden verlieh.

Privataudienzen bei Meh.med ʿAlı- Pas¸a Audienzen bei Meh.med ʿAlī Paşa sind über die europäische Reiseliteratur gut erschließbar. Franzosen, Briten, aber auch Deutsche und Amerikaner, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach Ägypten reisten, berichten fast regelmäßig über eine Privataudienz beim Vizekönig, sei es, dass sie bei ihm persönlich vorstellig wurden – zum Beispiel, um eine Reiseerlaubnis in eine bestimmte Gegend zu erhalten oder um ihm einen Höflichkeitsbesuch abzustatten – oder dass sie im Gefolge eines Landsmannes einer Audienz beiwohnten. Die Privataudienzen bei Meh.med ʿAlī verliefen nach einem einheitlichen Muster, das für unterschiedliche Empfangsorte gleichermaßen galt. In der Regel gab er seine Audienzen in einer der beiden Hauptresidenzen. Dies sind der Palast auf der Zitadelle von Kairo, dem eigentlichen Regierungssitz, und der Palast Raʾs at-Tīn in Alexandria, wo er sich meist im Sommer aufhielt. In den Sommermonaten kamen auch Audienzen in einem Pavillon (köşk) vor, so zum Beispiel auf dem Gelände des Šubrā-Palastes außerhalb Kairos. In den beiden Hauptresidenzen begegneten die Besucher dem Vizekönig im dīvān,14 einem 12 Siehe Fahmy, Pasha’s Men, S. 284, 304f. (wie Anm. 4). Vgl. auch Butrus Abu-Manneh, Mehmed Ali Paşa and Sultan Mahmud II. The Genesis of a Conflict, in: Turkish Historical Review 1/1 (2010), S. 1–24. 13 Osmanisch-Türkisch ḫıdīv, Arabisch ḫidīw bedeutet „(guter) Herr“, „Fürst“, „Souverän“. 14 Auch Amtsstuben und Regierungsämter sowie Ratsversammlungen wurden als dīvān bezeichnet.

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großen Empfangssaal, in dem Meh.med ʿAlī auch seine alltäglichen Regierungsgeschäfte zu erledigen pflegte.15 Der Zugang zum dīvān führte durch 15 Beschreibungen von Audienzen in einem Saal/dīvān siehe Giuseppe Forni, Viaggio nell’Egitto e nell’alta Nubia, 2 Bde., Mailand 1858, Bd. 1, S. 109f., 125f. (Kairo, 1815); Auguste comte de Forbin, Voyage dans le Levant en 1817 et 1818, Paris 1819, S. 301–304 (Alexandria, 1817/18); P[ascal]-X[avier] Coste, Mémoires d’un artiste, notes et souvenirs de voyage (1817–1877). Egypte, Tunis, le Rhin, Hollande, Belgique, Sicile, Grèce, Turquie, Perse, Babylonie (Mésopotamie), Syrie, Angleterre, Algérie, Maroc, Suisse, Italie, Allemagne, Espagne, Danemark, Norvège, Suède, Finlande, Russie et la France, 2 Bde., Marseille 1878, Bd. 1, S. 13 (Kairo, 1818); R[ichard] R[obert] Madden, Travels in Turkey, Egypt, Nubia, and Palestine in 1824, 1825, 1826, and 1827, 2 Bde., London 1829, Bd. 1, S. 335–339 (Kairo, 1826); P[ierre] N[icolas] Hamont, L’Egypte sous Méhémet-Ali. Populations, gouvernement, institutions publiques, industrie, agriculture. Principaux événements de Syrie pendant l’occupation égyptienne. Soudan de Méhémet-Ali, 2  Bde., Paris 1843, Bd. 2, S. 115–117 (Alexandria, 1827); [Marie] Th[éodore] baron Renoüard de Bussierre, Lettres sur l’Orient écrites pendant les années 1827–1828, 2 Bde., Paris 1829, Bd. 1, S. 321–323 (Kairo, 1827/28); Jean-François Champollion, Lettres écrites d’Egypte et de Nubie en 1828 et 1829, Paris 1833, S. 42f. (Alexandria, 1828); James Augustus St. John, Egypt, and Muhammad Ali. Or, Travels in the Valleys of the Nile, 2 Bde., London 1834, Bd. 1, S. 49–55 (Alexandria, 1832); [François-Marie]-Joseph[-Louis] d’Estourmel, Journal d’un voyage en Orient, 2 Bde., Paris 1848, Bd. 2, S. 464f. (Kairo, 1833); [Auguste-Frédéric-Louis Viesse de Marmont,] Voyages du maréchal duc de Raguse en Hongrie, en Transylvanie, dans la Russie méridionale, en Crimée, et sur les bords de la mer d’Azoff, à Constantinople, dans quelques parts de l’Asie-Mineure, en Syrie, en Palestine, et en Egypte. 1834–1835, 5 Bde., Paris, 1837–1838, Bd. 3, S. 213f. (Alexandria, 1834); Oleg V. Volkoff, Voyageurs russes en Egypte, Kairo 1972, S.  104f. (Kairo, 1835); [Hermann Ludwig Heinrich Fürst Pückler-Muskau,] Aus Mehemed Ali’s Reich vom Verfasser der Briefe eines Verstorbenen, 3 Bde., Stuttgart 1844, Bd. 1, S. 175–178 (Kairo, 1837/38); William Holt Yates, The Modern History and Conditions of Egypt, its Climate, Diseases, and Capabilities. Exhibited in a Personal Narrative of Travels in that Country. With an Account of the Proceedings of Mohammed Ali Pascha from 1801 to 1843. Interspersed with Illustrations of Scripture History, the Fulfillment of Prophecy, and the Progress of Civilization in the East, 2 Bde., London 1843, Bd. 1, S. 391–399 (Kairo, 1843); [Henri-Joseph] Gisquet, L’Egypte. Les Turcs et les Arabes, 2 Bde., Paris o.J. [1848], Bd. 2, S. 125f. (Šubrā-Palast bei Kairo, 1844); Victor Schoelcher, L’Egypte en 1845, Paris 1846, S. 149 (Šubrā-Palast bei Kairo, 1844); John Petherick, Egypt, the Sudan and Central Africa. With Explorations from Khartoum on the White Nile to the Regions of the Equator. Being Sketches from Sixteen Years’ Travel, Edinburgh/London 1861, S. 2f. (Šubrā-Palast bei Kairo, 1845); Antoine de Latour, Voyage de S.A.R. Monseigneur le Duc de Montpensier à Tunis, en Egypte, en Turquie et en Grèce. Lettres, Paris [1847], S. 36–38 (Alexandria, 1845). Audienzen in einem köşk in: [Charles Lewis Meryon,] Travels of Lady

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eine weite Halle, die die Besucher oft als sehr geschäftig schildern, da dort Bedienstete und Beamte ihrer Arbeit nachgingen oder auf den Zugang zum Herrscher warteten. Hier als Beispiel die Schilderung von Auguste-FrédéricLouis Viesse de Marmont, der Meh.med ʿAlī 1834 in Alexandria traf: „Dès le matin, le pacha sort de son harem, et s’établit dans son divan : là il est accessible à tout le monde. A l’extérieur est un poste de ses troupes. L’appartement se compose d’un petit nombre de très-grandes pièces. Dans la première, la plus vaste, se trouvent pêle-mêle ses officiers, ses employés, les gens qui attendent pour lui parler, les curieux qui veulent savoir les nouvelles. La pièce suivante, fort grande aussi, est celle où se tient Méhémet-Ali: il est ordinairement assis à l’angle droit d’un large canapé qui fait le tour de la chambre, ayant vue sur le port.“16

Die Geschäftigkeit in der vorgelagerten Halle kontrastiert stark mit der Atmosphäre im Audienzraum selbst, in dem meist nur wenige Personen anwesend waren und eine würdige Stille herrschte.17 Manchmal verließ mit Ausnahme des Übersetzers das ganze beim Eintritt der Besucher anwesende Hofpersonal den Raum. Das Innere des Empfangsraumes war von Sofas gesäumt, die mit wertvollen Stoffen bezogen und reich bestickt waren. Der Platz des Vizekönigs befand sich in jener Ecke des Raumes, die am weitesten von der Tür entfernt lag, wo er auf seinem Sofa an Kissen gelehnt saß (siehe Abb. 1). Einige Besucher weisen auch auf das gedämpfte Licht hin, in dem sich Meh. med ʿAlī aufhielt.18 Zahlreiche Reisende berichten ausführlich über das Empfangsritual. Aus diesen Schilderungen lassen sich Verhaltensweisen ablesen, die als Normen einer höfischen Etikette gelten können. Grußformen waren entsprechend der Hester Stanhope. Forming the Completion of her Memoirs, narrated by her Physician, 3 Bde., London 1846, Bd. 1, S. 158f. (Palast in al-Azbakīya, Kairo, 1812); [Marie-Louis-Jean-André-Charles Demartin du Tyrac,] vicomte de Marcellus, Souvenirs de l’Orient, 2 Bde., Paris 1839, Bd. 2, S. 170f., 252–255 (Alexandria, 1820); G[ustav] Parthey, Wanderungen durch das Nilthal, Berlin 1840, S. 47–51 (Alexandria, 1822). Für den Empfang eines Osmanen zur Audienz siehe Nubar Pacha, Mémoires de Nubar pacha, hg. von Mirrit Boutros Ghali, Beirut 1983, S. 5, 19 (1842 bzw. 1844). 16 Viesse de Marmont, Voyages, Bd. 3, S. 213 (wie Anm. 15). 17 Allerdings scheint nicht immer Ruhe geherrscht zu haben. Auguste de Forbin berichtet, dass albanische Truppen während seiner Audienz ein lautes Übungsschießen im Palastgarten veranstalteten (de Forbin, Voyage, S. 301, wie Anm. 15). 18 St. John, Egypt, Bd. 1, S. 50 (wie Anm. 15); weitere Belege in Fahmy, Pasha’s Men, S. 3f., 6f. (wie Anm. 4).

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sozialen Stellung des Grüßenden beziehungsweise Begrüßten abgestuft,19 so dass das Empfangsritual sehr genau die Wertschätzung, die einem Besucher entgegengebracht wurde, als auch die sozialen Unterschiede zwischen den Anwesenden widerspiegelte. Die gesellschaftliche Position der Anwesenden beziehungsweise Rang und Wertschätzung, die ihnen beigemessen wurden, ließen sich außerdem daran ablesen, wo und wie sie sich setzen durften. Ein Besucher erhielt nach der Begrüßung einen Sitzplatz in gebührendem Abstand entweder neben dem Vizekönig oder ihm diagonal gegenüber angewiesen.20 Gebührend heißt hier, dass Nähe beziehungsweise Ferne zum Vizekönig wie auch der Raum, den eine Person einnahm, deren Rang, Ansehen und Wertschätzung abbildeten. Auch die Art des Sitzens war hierarchisch codiert. Grundsätzlich galt: Je höher der Rang und das Prestige eines Besuchers, desto bequemer durfte er sich niederlassen.21 Europäer wurden bei der Audienz oft mit Kaffee, seltener auch mit kalten Erfrischungsgetränken und manchmal mit Tabakpfeifen bewirtet. Auch die Bewirtung diente dazu, Rang und Wertschätzung des Besuchers zu kommunizieren. So erhielten nur jene Kaffee, die auch das Recht hatten, in der Gegenwart des Herrschers Platz zu nehmen. Pfeifen wiederum waren besonders wichtigen und angesehenen Besuchern vorbehalten. Serviert wurde natürlich entsprechend der Rangordnung, und je wichtiger ein Gast war, desto wertvoller waren Kaffeegeschirr und Pfeifen, die er gereicht bekam.22 Dieses Kaffee- und Pfeifenritual war zentraler Bestandteil der symbolischen Kommunikation, was sich in 19 Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 178f. (wie Anm. 15). Vgl. auch Parthey, Wanderungen, S. 51f. (wie Anm. 15); de Forbin, Voyage, S. 303 (wie Anm. 15); A[ntoine-]B[arthélémy] Clot-Bey, Aperçu général sur l’Egypte, 2 Bde., Paris 1840, Bd. 2, S. 26f.; Forni, Viaggio, Bd. 1, S. 162, 164f. (wie Anm. 15); Nubar, Mémoires, S. 5, 52 (wie Anm. 15). 20 Ein Sonderfall war die Audienz von John Petherick 1845, dem ein Stuhl angeboten wurde (Petherick, Egypt, S. 2, wie Anm. 15). 21 Für Beschreibungen der unterschiedlichen Sitzweisen siehe Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 179f., 185 (wie Anm. 15); Nubar, Mémoires, S. 5f. (wie Anm. 15); Madden, Travels, Bd. 1, S. 336 (wie Anm. 15). Laut Clot Bey, einem französischen Arzt, der das staatliche ägyptische Gesundheitswesen leitete, galten für europäische Besucher weniger strenge Richtlinien als für Einheimische (Clot, Aperçu, Bd. 2, S. 28f., wie Anm. 19). 22 Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 184f. (wie Anm. 15); Volkoff, Voyageurs russes, S. 164f. (wie Anm. 15); Clot, Aperçu, Bd. 2, S. 29–31 (wie Anm. 19); Forni, Viaggio, Bd. 1, S. 161–164 (wie Anm. 15); [ John] Barker, Syria and Egypt under the Last Five Sultans of Turkey. Being Experiences, During Fifty Years, of Mr. Consul-General Barker. Chiefly from his Letters and Journals, hg.

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den Audienzberichten darin widerspiegelt, dass auf die Beschreibung von Empfangsraum, Begrüßungsritual und Verhalten des Hofpersonals nicht selten ein Exkurs über die Kaffee- und Tabakutensilien folgt, in dem deren Bedeutung interpretiert wird. Dies zeigt, dass die europäischen Besucher den symbolischen Gehalt des Kaffee- und Pfeifenrituals kannten. Obwohl es in ihren Interpretationen einige Differenzen gibt, verweist ihre grundsätzlich „richtige“ Interpretation von Zeremoniell und Etikette darauf, dass sie zuvor mit denselben vertraut gemacht worden waren. Die hierfür notwendigen Informationen werden sie von anderen Reisenden beziehungsweise deren Büchern, von in Ägypten ansässigen Landsleuten oder aber von ihren Konsulaten bezogen haben, die für sie Privataudienzen arrangierten. Hinweise auf Missverständnisse oder Fehlverhalten in Bezug auf die Etikette kommen zwar vor, sind aber äußerst selten. So berichtet der britische Generalkonsul John Barker über zwei Briten, die sich 1831 bei ihren Audienzen so ungebührlich benahmen, dass sich Meh.med ʿAlī geweigert habe, sich weitere Engländer vorstellen zu lassen. Ursache für des Vizekönigs Ärger war Admiral Pulteney Malcolm, der in seiner Anwesenheit wiederholt laut gelacht habe, und ein anderer, namentlich nicht genannter Brite, der vor ihm den Fez abgenommen habe.23 Der Admiral verletzte also das Ruhegebot und beeinträchtigte damit Meh. med ʿAlīs Würde. Das Verhalten des zweiten Briten war auf ein fehlendes Verständnis des kulturellen Codes zurückzuführen. Er verhielt sich wie zu Hause und verstieß damit gegen die Konventionen, dass europäische Besucher den Kopf nur dann zu entblößen hatten, wenn sie auch eine europäische Kopfbedeckung trugen und so als Europäer auftraten. Trugen sie jedoch den osmanischen Fez, „osmanisierten“ sie sich gewissermaßen und hatten ihn daher den landesüblichen Gepflogenheiten entsprechend aufzubehalten. In Berichten über Privataudienzen ist auch regelmäßig eine Beschreibung Meh.med ʿAlīs zu finden. Diese Schilderungen sind so stereotyp, dass man von einem Topos der Reiseliteratur sprechen kann. Die Autoren verweisen auf die Einfachheit und Schlichtheit seiner Kleidung,24 was natürlich mit der Kostbarkeit des Kaffeegeschirrs und der Pfeifen kontrastiert, aber auch mit den wertvon Edward B.B. Barker, 2 Bde., London 1876, Bd. 2, S. 91f.; Gisquet, L’Egypte, Bd. 2, S. 126 (wie Anm. 15). 23 Barker, Syria and Egypt, Bd. 2, S. 172–174 (wie Anm. 22). 24 Champollion, Lettres, S. 42 (wie Anm. 15); d’Estourmel, Journal, Bd. 2, S. 465 (wie Anm. 15); Parthey, Wanderungen, S. 50 (wie Anm. 15); Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 175f. (wie Anm. 15).

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vollen Verzierungen seines Säbels, die manchmal erwähnt werden.25 Sie schreiben über Meh.med ʿAlīs Art zu sitzen, seine Haltung, seinen würdigen, freundlichen oder sanften Gesichtsausdruck, über seinen langen weißen Bart. Regelmäßig erwähnen sie auch seine Augen, die sie als aufmerksam, feurig, leuchtend oder durchdringend beschreiben, und ziehen daraus Rückschlüsse auf seine Charaktereigenschaften.26 Nach diesen Topoi folgt jeweils ein Bericht über die Konversation mit dem Vizekönig, wobei die Gesprächsinhalte mehr oder weniger detailliert wiedergegeben werden. Auch die Themen, über die sich die Besucher mit Meh.med ʿAlī unterhielten, weisen eine große Einheitlichkeit auf. Sie drehen sich primär um Politik: In den 1820er Jahren geht es um die griechische Unabhängigkeitsbewegung, zu deren Bekämpfung ägyptische Truppen in der Peloponnes stationiert waren. In den 1830er und frühen 1840er Jahren werden die Konflikte zwischen Meh.med ʿAlī und dem Sultan, aber auch sein Verhältnis zu den europäischen Mächten und die „Orientalische Frage“ erörtert. Auch Meh.med ʿAlīs Innenund Wirtschaftspolitik, die Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte, die er in Ägypten umgesetzt hat oder plant, werden immer wieder besprochen. Kurz gesagt, die Gespräche drehen sich oft um den „Fortschritt der Zivilisation“, den Ägypten unter seiner Herrschaft erlebt habe. Damit bestätigen die Reiseberichte das – zwar nicht ganz unumstrittene – Bild, das man sich in weiten Teilen der europäischen Öffentlichkeit von dem ägyptischen Vizekönig machte, nämlich das Bild eines fortschrittlichen und aufgeklärten Herrschers, der zur „Regeneration“ Ägyptens, ja des Orients beitrage.27 Es ist auffällig, dass selbst eine Audienz, die einen eher offiziellen Charakter hatte und zumindest Möglichkeiten bot, politisch relevante Gespräche zu führen, nach diesem Narrationsmuster geschildert wird. Bei dem fraglichen Ereignis handelt es sich um den Besuch, den der Duc de Montpensier, AntoineMarie-Philippe-Louis d’Orléans (1824–1890), im Juli 1845 dem ägyptischen Hof in Alexandria abstattete.28 Auch diese Audienzschilderung ist Bestandteil 25 Siehe z.B. Parthey, Wanderungen, S. 50 (wie Anm. 15). 26 Renoüard de Bussierre, Lettres, Bd. 1, S. 323 (wie Anm. 15); Champollion, Lettres, S. 42f. (wie Anm. 15); Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd.  1, S.  175f. (wie Anm. 15); Yates, Modern History, Bd. 1, S. 395–397 (wie Anm. 15). Joseph d’Estourmel stellte gar eine „expression spirituelle dans ses yeux“ fest (d’Estourmel, Journal, Bd. 2, S. 465, wie Anm. 15). Für weitere Belege siehe Fahmy, Pasha’s Men, S. 4f. (wie Anm. 4). 27 Siehe z.B. Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 173 (wie Anm. 15). 28 De Latour, Voyage, S. 36–38 (wie Anm. 15).

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eines Reiseberichts. Zwar betont der Autor des Berichts, Antoine de Latour, dass der Besuch keinerlei politischen Charakter gehabt habe, dass dies auch von Meh.med ʿAlī so gesehen wurde, kann aber bezweifelt werden. Denn immerhin war der Duc de Montpensier ein Sohn des französischen Königs LouisPhilippe (1773–1850) und der Maria Amalia von Neapel-Sizilien (1782–1866); ein Jahr nach seinem Ägyptenbesuch sollte er die spanische Prinzessin Luisa Fernanda heiraten (1832–1897).29 Meh.med ʿAlī pflegte freundschaftliche Beziehungen zu Louis-Philippe, denn der französische König und seine Regierung hatten ihm in den Jahren zuvor politischen Rückhalt gegenüber dem Sultan verschafft, auch als er in seinen Auseinandersetzungen mit der osmanischen Zentralregierung militärische Mittel einsetzte. Meh.med ʿAlī hatte also allen Grund, den Prinzen mit besonderen Ehren zu behandeln, und stattete ihm unter anderem in Alexandria einen unerwarteten Besuch ab.30 Auch die französische Vertretung in Ägypten zeigte großes Interesse an dem Besuch und sandte detaillierte Berichte nach Paris.31 Diese stellen zwar nicht explizit politische Bezüge her, erwecken aber den Eindruck, dass es sich bei Montpensiers Ägyptenreise um einen Staatsbesuch mit offiziellem Charakter handelte. Trotzdem schildert de Latour die Audienz de Montpensiers bei Meh.med ʿAlī innerhalb der gängigen Narrationsmuster. Abgesehen von der Einheitlichkeit der Schilderungen fällt ins Auge, dass viele Besucher beeindruckt, ja fasziniert waren von ihrer Audienz bei Meh.med ʿAlī. Nicht nur seine Persönlichkeit, sein Auftreten, die politischen und „zivilisatorischen“ Errungenschaften, die er ihnen im Gespräch auseinandersetzte, waren dazu angetan, einen positiven Eindruck auf die Besucher zu machen, sondern auch sein Palast und das zeremonielle Gepräge im dīvān selbst. Die detaillierten und zu einem guten Teil übereinstimmenden Berichte, mit denen die Reiseschriftsteller ihre Eindrücke schildern, sind als Belege dafür zu werten, 29 Für eine Kurzbiographie siehe H.F., Montpensier (Antoine-Marie-Philippe-Louis d’Orléans), in: Nouvelle biographie générale depuis les temps les plus reculés jusqu’à nos jours, Bd. 36, Paris 1865, S. 390f. 30 De Latour, Voyage, S. 43 (wie Anm. 15); für eine weitere persönliche Ehrbezeugung Meh.med ʿAlīs siehe ebd., S. 41. 31 Die konsularischen Berichte finden sich in den Dossiers der Correspondance politique, Egypte, im Archiv des französischen Außenministeriums (Ministère des affaires étrangères) in Paris; fortan abgekürzt als MAE/CP Egypte. MAE/CP Egypte 17, fol. 83–86, V. Benedetti an Guizot, 6.7.1845; fol. 87–90, Vattier de Bourville an Außenministerium, 11.–14.7.1845; fol. 93–94, Vattier de Bourville an Außenministerium, 2.8.1845; fol. 95–96, V. Benedetti an Guizot, 8.8.1845; fol. 97–100, V. Benedetti an Guizot, 10.8.1845.

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dass sie Zeugen eines bis ins Detail arrangierten Ereignisses waren. Dass Meh. med ʿAlī bei den Privataudienzen stets in derselben Art und Weise auftrat, war sicherlich kein Zufall und auch nicht nur einem feststehenden oder gar starren höfischen Protokoll geschuldet. Vielmehr muss man davon ausgehen, dass er die Audienzen gezielt nutzte und entsprechend ausgestaltete, um seine Besucher zu beeindrucken und ihnen ein positives Bild seiner selbst und seiner Herrschaft zu vermitteln.32 Dass es sich bei seinen Besuchern – zumindest potentiell – um Autoren von Reiseberichten handelte, war ihm sicherlich bewusst. Daher ist es naheliegend, dass er über die Audienzen mit der europäischen lesenden Öffentlichkeit zu kommunizieren und die öffentliche Meinung in Europa zu beeinflussen trachtete. Die Kommunikation verlief aber nicht nur in eine Richtung, denn es lässt sich auch belegen, dass Meh.med ʿAlī gezielt Kontakte zu Europäern suchte, um Informationen aus und über Europa zu erhalten.33 Welche der beiden Kommunikationsrichtungen für den Vizekönig wichtiger war, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit feststellen. Den Gesprächen in den Reiseberichten nach zu schließen, stand für ihn die Vermittlung seiner Selbstsicht im Zentrum. Aber möglicherweise ist dies auch ein Effekt des Interesses des Lesepublikums und der Autoren der Reiseberichte. Die Kommunikationsmöglichkeiten, die ihm ausländische Besucher boten, waren sicherlich der Hauptgrund für Meh.med ʿAlīs Zugänglichkeit und die Leichtigkeit, mit der Ausländer Audienzen arrangieren konnten.34 Auf der anderen Seite hatten auch europäische Reisende und ihr Lesepublikum ein großes Interesse an Meh.med ʿAlī. Eine Privataudienz scheint zumindest zum Reiseprogramm jener gehört zu haben, die die Absicht hatten, ihre Eindrücke in einem Buch zu publizieren.35 Reisende brauchten auch nicht in jedem Fall ein 32 Vgl. Fahmy, Pasha’s Men, S. 6–8 (wie Anm. 4). 33 Nubar, Mémoires, S. 66 (wie Anm. 15). 34 Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 177 (wie Anm. 15): „Ueberdies ist nichts leichter, als vom Vicekönig Gehör zu erhalten.“ James Augustus St. John schreibt, dass Reisende für gewöhnlich gleich nach ihrer Ankunft Meh. med ʿAlī vorgestellt wurden (St. John, Egypt, Bd. 1, S. 49, wie Anm. 15). 35 Laut Andrew Archibald Paton war Meh.med ʿAlī „eine der Sehenswürdigkeiten Ägyptens“ (A[ndrew] A[rchibald] Paton, A History of the Egyptian Revolution. From the Period of the Mamelukes to the Death of Mohammed Ali. From Arab and European Memoirs, Oral Tradition, and Local Research, 2 Bde., London 1870, Bd. 2, S. 82f.), die man offenbar gesehen haben musste: Zwei Amerikaner waren 1839 bei ihrem Versuch, in Alexandria eine Audienz zu arrangieren, gescheitert, da der für sie zuständige Konsul krank war. Sie fanden jedoch einen Briten in ägyptischen Diensten, der ihnen anbot, sie nach Raʾs at-Tīn zu führen,

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konkretes Anliegen vorzubringen, um Meh.med ʿAlī zu sehen. Laut einem russischen Reisenden hatten Europäer nicht einmal ein Empfehlungsschreiben nötig, es reichte, wenn sie in europäischem Anzug und mit Hut erschienen.36 Es war auch möglich, dass sich Reisende von ihren Konsuln zu einem Arbeitstreffen in den Palast mitnehmen ließen und die Vorgänge im Raum beobachten konnten, ohne mit Meh.med ʿAlī direkt in Interaktion zu treten. Ein solcher Beobachter ist der irische Arzt Richard Robert Madden (1798–1886), der vom britischen Generalkonsul vorgestellt wurde, als der Vizekönig seinen alltäglichen Regierungsgeschäften nachging. Er beobachtete „christliche Parasiten“, also christliche Kaufleute, die mit dem Vizekönig Geschäfte tätigten, und zeigte sich von der Szene sehr wenig beeindruckt.37 Madden nutzte seine wenig vorteilhafte Audienzschilderung für seine Argumentation, dass Meh.med ʿAlīs Herrschaft eine ausbeuterische und despotische sei. Er ist damit ein Beispiel für die kritischen Stimmen zu Meh. med ʿAlī und seinem Regime, die jedoch gegenüber den positiven und wohlmeinenden Darstellungen bei weitem in der Unterzahl sind. Auch wenn in den bisherigen Darlegungen der Ablauf der Audienzen als einheitlich beschrieben wurde, so heißt das nicht, dass Reiseberichte keine Abwo sie Meh. med ʿAlī sehen könnten. Unbehelligt schritten sie durch den Palast bis vor den Audienzsaal und konnten durch die offene Tür beobachten, wie sich der Vizekönig mit Funktionären unterhielt (Stephen Olin, Travels in Egypt, Arabia Petræa, and the Holy Land, 2 Bde., New York 1860, Bd. 1, S. 32–34; James Ewing Cooley, The American in Egypt. With Rambles through Arabia Petræa and the Holy Land, During the Years 1839 and 1840, New York 1842, S. 194–203). Vergleichbares berichtet James Augustus St. John: „Any person who has leisure, and knows no better mode of employing it may go every evening to the palace, whether he have business there or not; and, if he does not choose to force himself upon the notice of the Pasha, he can enter into any of the other magnificent apartments […].“ (St. John, Egypt, Bd. 1, S. 61, wie Anm. 15). William Holt Yates schreibt, dass Meh. med ʿAlī gewusst habe, dass er das „chief object of our curiosity“ gewesen sei (Yates, Modern History, Bd. 1, S. 395, wie Anm. 15). Zum Interesse europäischer Reisender an Meh. med ʿAlī vgl. Fahmy, Pasha’s Men, S. 3, 7 (wie Anm. 4). 36 Volkoff, Voyageurs russes, S. 156 (wie Anm. 15). 37 Madden, Travels, Bd. 1, S. 335–339 (wie Anm. 15). Ähnlich beschreibt Scipion Marin, ein französischer Reisender, dessen Verlässlichkeit zweifelhaft ist, eine Audienz als eine „scène commerciale“, da Konsuln, Vertreter von europäischen Handelshäusern und andere „amis et courtisans du pacha“ im Audienzsaal ein und aus gingen und ihre Geschäfte mit dem Vizekönig tätigten (Scipion Marin, Evénements et aventures en Egypte en 1839, 2 Bde., Paris 1840, Bd. 1, S. 84–90); für eine andere, ähnlich dargestellte Audienz siehe ebd., Bd. 2, S. 92–100.

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weichungen von der Regel erwähnen. Auch diese Abweichungen waren kaum zufällig, sondern zumindest teilweise dazu gedacht, einen Besucher zu beeindrucken oder die Macht und die Bedeutung des Vizekönigs vorzuführen. So wurde das Gespräch während der Audienz des französischen Grafen Auguste de Forbin 1817/18 unerwartet unterbrochen, als eine Delegation Beduinen vorgelassen wurde. Die Männer überreichten dem Vizekönig Tiere als Geschenk (einen jungen Panther, eine weiße Gazelle und einen kleinen Strauß), küssten den Saum seines Gewandes, und wurden schnell wieder entlassen.38 Auch der deutsche Philologe und Buchhändler Gustav Friedrich Konstantin Parthey (1798–1872) wurde bei seiner Audienz im Jahre 1822 Zeuge von Huldigungen, die ihm – wie er bemerkte – die soziale Hierarchie Ägyptens vor Augen führten: „Einige Fellah’s (arabische Bauern) kamen dem Pascha das Kleid zu küssen, und kauerten dann dicht an der Thür so eng in ihren braunen Kitteln zusammen, daß der Kopf unmittelbar auf den Knieen stand, und kaum von einer menschlichen Gestalt etwas zu erkennen war. Dann folgten einige Scheich’s (Dorfschulzen), die nach erzeigter Ehrerbietung neben den Fellah’s Platz nahmen, aber einen guten Kopf höher blieben; ferner mehrere Kaufleute (Khawadji) aus der Stadt, die eine Stellung einnahmen, wie die knieenden Chorknaben, und die Scheich’s weit überragten. Die türkischen Hausbedienten des Pascha, welche Pfeifen und Kaffee brachten, blieben an der Thür stehn und bildeten die Spitze der Pyramide.“39

Abgesehen von solchen Inszenierungen, die offensichtlich dazu angelegt waren, die europäischen Besucher zu beeindrucken, kann man auch beobachten, dass das eigentliche Empfangs- und Begrüßungsritual an Meh.med ʿAlīs Hof flexibel gehandhabt und an die Bedeutung des Besuchers angepasst wurde. Dies zeigt sich daran, dass Abweichungen vom Üblichen von den Besuchern geflissentlich notiert und manchmal auch kommentiert und interpretiert wurden. Besonders erwähnenswert fanden es Besucher, wenn sie von Meh. med ʿAlī stehend empfangen wurden. Dies galt als eine besondere Auszeichnung, die möglicherweise im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend restriktiver gehandhabt wurde und vor allem hohen Adeligen (wie dem bereits erwähnten Duc de Montpensier)40 und offiziellen Vertretern der Großmächte zuteilwurde.41 38 39 40 41

De Forbin, Voyage, S. 301 (wie Anm. 15). Parthey, Wanderungen, S. 51f. (wie Anm. 15). De Latour, Voyage, S. 37 (wie Anm. 15). Die Exklusivität dieser Begrüßungsart lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. 1812 erhob sich Meh.med ʿAlī vor einigen Engländern, die sich weder durch

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Manchmal war der stehende Empfang diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet: Dass sich Meh.med ʿAlī beim Eintritt des französischen Grafen Joseph d’Estourmel zur Begrüßung erhob, lag wahrscheinlich daran, dass er zusammen mit dem französischen Botschafter Charles-Edmond de Boislecomte zur Audienz kam.42 In anderen Fällen war der stehende Empfang eines Besuchers das Ergebnis von Verhandlungen im Vorfeld der Audienz. So hatte der britische Generalkonsul John Barker 1828 für Lord Yarborough und dessen zwei Söhne diese Ehre erwirkt.43 Bei Auguste-Frédéric-Louis Viesse de Marmont (1774–1852) war diese Ehre jedoch weder den diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet noch scheint sie das Ergebnis von Verhandlungen gewesen zu sein. Vielmehr wurde Viesse de Marmont aufgrund seines Prestiges als Militär, Marschall von Frankreich und Herzog von Ragusa mit höchsten Ehren empfangen.44 In der relativ knappen Schilderung seiner Privataudienz in Alexandria 1834 hebt er alle Modifikationen im Empfangsritual hervor, die dazu angetan waren, ihn als gleichrangig mit dem Vizekönig erscheinen zu lassen, was natürlich nicht zuletzt auch seiner eigenen Selbstdarstellung diente: „Lorsque j’allais chez lui, l’étiquette était changée : il se levait au moment où je paraissais et venait à ma rencontre jusqu’à moitié de la pièce. Nous nous asseyions au milieu du canapé, du côté donnant sur la mer. Des pipes pareilles, ornées de diamants d’une grande valeur, nous étaient offertes, et ensuite le café, dans des tasses également riches. Il a constamment établi entre nous des rapports qui supposaient une parfaite égalité.“45

Ähnlich, wenn auch weniger explizit und interpretierend, weist auch der preußische Fürst und im 19. Jahrhundert sehr beliebte Schriftsteller Hermann

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hohen Adel noch hohen diplomatischen Rang auszeichneten (Meryon, Travels, Bd.  1, S.  158, wie Anm. 15). Bei James Augustus St. Johns Audienz von 1832 ist nicht klar, aus welchem Grund der Vizekönig den Besuchern entgegentrat; der Autor, der zusammen mit einem Mr. Harris und dem Neffen des US-Konsuls empfangen wurde, macht keinen Kommentar zur Begrüßungsart (St. John, Egypt, S. 50f., wie Anm. 15). D’Estourmel, Journal, Bd. 2, S. 465 (wie Anm. 15). Barker, Syria and Egypt, Bd. 2, S. 91f. (wie Anm. 22). Für eine Biographie siehe L. Louvet, Marmont (Auguste-Frédéric-Louis Viesse de), in: Nouvelle biographie générale depuis les temps les plus reculés jusqu’à nos jours, Bd. 33, Paris 1863, S. 867–899. Viesse de Marmont, Voyages, Bd. 3, S. 213 (wie Anm. 15).

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Ludwig Heinrich Pückler-Muskau (1785–1871)46 auf den stehenden Empfang und damit auf die egalitäre Interaktion zwischen ihm und Meh.med ʿAlī hin. Zu seinem ersten Besuch bei Meh.med ʿAlī in Kairo im Winter 1837/38 notiert er: „Seine Hoheit empfing mich in einem untern Saale des Pallastes, der mit einer ehrerbietigen Menge seiner Hof- und Staatsdiener angefüllt war. Erst als ich durch diese hindurchgedrungen, sah ich den Vicekönig, von den Uebrigen getrennt, auf der Estrade vor seiner Ottomane stehen, nur Artim Bey, den Dragoman, an seiner Seite. [...] Nach der ersten Begrüßung setzte sich der Vicekönig, und winkte auch mir, mich neben ihm auf der Ottomane niederzulassen, worauf für ihn und mich Pfeifen und Kaffee gebracht wurden.“47

Die stehende Begrüßung eines Gastes, die Platzanweisung direkt neben dem Gastgeber wie auch die Verwendung von gleichermaßen wertvollem Kaffeegeschirr und Pfeifen für beide waren rituelle Handlungen, denen eine hohe symbolische Bedeutung zukam. Sie kommunizierten die Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit zwischen Gast und Gastgeber. Auch wenn Kaffeegeschirr und Pfeifen die Gleichrangigkeit auf „orientalische“ Art und Weise verdeutlichten, war dies den Besuchern ebenso verständlich wie der stehende Empfang, das Entgegenkommen bei der Begrüßung und die räumliche Positionierung beim Sitzen, die als Ehrbezeugungen fester Bestandteil des europäischen zeremoniellen Vokabulars waren.48 Dass sich Meh.med ʿAlī bei Privataudienzen vor französischen Herzögen und vor einem preußischen Fürsten erhob, muss aber auch im Kontext seiner Politik gegenüber dem osmanischen Sultanat interpretiert werden: Wenn er sich vor Europäern als gleichrangig mit Herzögen und Fürsten präsentierte, brachte er damit auch zum Ausdruck, dass er keine Souveränität und völlige Unabhängigkeit beanspruchte, sondern sich mit dem Status eines dem Sultan nachgeordneten Herrschers begnügte. In Bezug auf Ägypten selbst stellte sich der Vizekönig aber als unangefochtenen Machthaber und als Spitze der gesell46 Für Kurzbiographien siehe J. Mähly, Pückler-Muskau, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 26, München u.a. 1888, S. 692–695, und Thomas Diecks, Pückler-Muskau, Hermann Ludwig Heinrich Fürst von, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 20, München 2001, S. 759–761. 47 Pückler-Muskau, Mehemed Ali’s Reich, Bd. 1, S. 175–178 (wie Anm. 15). 48 Vgl. die Ausführungen über das Empfangszeremoniell beim Zusammentreffen von europäischen Monarchen im 19. Jh. in Paulmann, Pomp und Politik, S. 219– 231 (wie Anm. 8).

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schaftlichen Hierarchie dar. Diese Position legitimierte er in den Privataudienzen auf zwei Arten: Einerseits waren diese Begegnungen durchkomponierte Ereignisse der symbolischen Kommunikation, die dazu angelegt waren, die Besucher durch Zeremoniell und Ritual in den Bann zu schlagen. Andererseits war das zeremonielle Gepräge im dīvān die Kulisse, vor der er sich im Gespräch als progressiver Erneuerer Ägyptens präsentieren konnte, der in seinem Reich europäische Standards und Werte umsetze. So gelang es ihm, für seine Herrschaft Anerkennung in der europäischen Öffentlichkeit zu gewinnen: Obwohl sein Hof und sein Auftreten als „etwas Orientalisches“ beschrieben wurden, brachte man ihm in Europa – und vor allem in Frankreich – große Sympathie als „Erneuerer Ägyptens“ entgegen, der im Orient „Fortschritt“ und „Zivilisation“ verbreite. Die kulturelle Selbstmarkierung von Besuchern und Besuchtem als „aufgeklärt“ und „zivilisiert“ konnte also mühelos im gegenseitigen Einverständnis etabliert werden. Dabei erwies sich die nonverbale Kommunikation in Form von demonstrativen symbolischen Handlungen als wahrscheinlich ebenso wichtig wie die verbale.

Feierliche Empfänge von Generalkonsuln bei ʿAbba-s Pas¸a ʿAbbās Paşa ist es nie gelungen, seinen Besuchern ein derart positives Bild seiner selbst und seiner Herrschaft zu vermitteln. Dies ist auf zwei Faktoren zurückzuführen. Erstens verzichtete ʿAbbās auf einen Teil der staatlichen Institutionen, die sein Großvater nach europäischem Vorbild hatte einrichten lassen. Dazu zählten die Schulen, in denen Meh.med ʿAlī Personal für seinen expandierenden Staats- und Militärapparat ausgebildet hatte und die von Europäern als wesentliche zivilisatorische Leistung gelobt worden waren.49 Zudem entließ ʿAbbās zahlreiche europäische – vor allem französische – Berater und Beamte, die Meh.med ʿAlī in Dienst genommen hatte. Dies brachte ihm in Europa bald das Image eines konservativen Herrschers, gar eines Reaktionärs ein, der den europäischen Einfluss ablehne und das Werk seines Großvaters zerstöre.50 49 Tatsächlich hatte schon Meh.med ʿAlī ab 1841 damit begonnen, Schulen zu schließen. 50 Das Negativbild ʿAbbās Paşas wurde zusätzlich durch Konflikte innerhalb der Dynastie und der osmanisch-ägyptischen Elite geprägt. Für die Analyse dieses „demon-image“ siehe Toledano, State and Society, S. 108–148 (wie Anm. 9).

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Zweitens war der Vizekönig ʿAbbās bei weitem nicht so zugänglich wie Meh. med ʿAlī. Er pflegte einen gänzlich anderen Herrschaftsstil und schottete sich im Laufe seiner Regierung zunehmend in seinem Palast ab.51 Anders als der Dynastiegründer suchte er nicht den Kontakt mit Europäern, sondern nahm ihnen gegenüber eine sehr reservierte Haltung ein. Zu seinem Gefolgsmann Nubar soll er gesagt haben: „Je ne veux pas, comme au temps de mon grand-père ou comme chez Saïd [Meh.med Saʿīd Paşa, Nachfolger ʿAbbās’], que mon palais soit une sorte de café, un lieu de réunion où l’on entre pour causer, faute d’occupations.“52 Für Kaufleute öffnete ʿAbbās seinen dīvān nur dann, wenn es um wichtige Angelegenheiten ging;53 zudem grenzte er sich von ihnen klar ab: „Je suis vizir, fils de vizir, petit-fils de vizir, se plaisait-il à répéter; je ne suis pas négociant comme mon grand-père et mon oncle [Meh.med Saʿīd], et s’il m’appartient de protéger les commerçants, je ne suis pas tenu de les imiter.“54 ʿAbbās legte also großen Wert auf Distanz, auf seine Abstammung und seinen hohen Status innerhalb der osmanischen Hierarchie. Sein Beharren auf Distanz und Status äußerte sich auch in den zahlreichen und detaillierten Vorschriften über Zeremoniell und Auftreten von Staatsdienern bei Festanlässen.55 Selbst außerhalb von Festlichkeiten hatten sich Besucher seiner Würde als Vizekönig entsprechend formell zu kleiden.56 Die eingeschränkte Zugänglichkeit ʿAbbās’, seine strenger reglementierte Hofhaltung und seine Zurückgezogenheit beeinflussten die Wahrnehmung seiner Person negativ. Die europäische Vorstellung, dass man es mit einem Reaktionär zu tun habe, wurde durch die Vorstellung komplementiert, dass er aus dem Innern seines Palastes heraus despotisch herrsche.57 Die kulturelle Selbstmarkierung der in Ägypten weilenden Europäer erfolgte so zunehmend in Abgrenzung zum neuen Vizekönig, mit dem sie nicht mehr ohne weiteres in Privataudienzen kommunizieren konnten. Europäer konnten aber – direkt oder indirekt – mit ʿAbbās in Interaktion treten, wenn sie zu feierlichen Audienzen von Generalkonsuln zugelassen wur51 Nubar, Mémoires, S. 78, 113 (wie Anm. 15). Vgl. Toledano, State and Society, S.  2 (wie Anm. 9). 52 Nubar, Mémoires, S. 67 (wie Anm. 15). 53 Ebd., S. 66 (wie Anm. 15). 54 Ebd., S. 79 (wie Anm. 15). 55 Für Zeremonialvorschriften siehe Konrad, Hof der Khediven, S. 301–306 (wie Anm. 5). 56 Nubar, Mémoires, S. 67 (wie Anm. 15). 57 Vgl. ebd., S. 78 (wie Anm. 15).

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den, die an seinem Hofe ihr Akkreditierungsschreiben überbrachten. Diese in der diplomatischen Sprache audiences solennelles genannten Ereignisse sollen im Folgenden unter dem Gesichtspunkt der symbolischen Kommunikation erörtert werden. Auch wenn diese Ereignisse eine primär politische Bedeutung hatten, standen sie doch in enger Beziehung zur Symbolsprache der Privataudienzen und wahrscheinlich fanden sie auch in demselben dīvān statt, in dem Meh.med ʿAlī Privataudienzen gegeben hatte. Neu ernannte Generalkonsuln der europäischen Mächte überbrachten dem Vizekönig jeweils kurz nach ihrem Amtsantritt ihr Akkreditiv und wurden aus diesem Anlass vom Vizekönig mit zeremoniellem Pomp empfangen. Das Empfangszeremoniell veränderte sich in der Zeit von den zwanziger bis in die fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts zwar nicht grundlegend, es gab jedoch Modifikationen. Dem eigentlichen Empfang des Konsuls im dīvān ging eine Prozession voran, die ihren Ausgang vor dem Konsulat oder dem Domizil des Konsuls nahm und in seinem feierlichen Einzug in der Herrscherresidenz (Zitadelle in Kairo bzw. Raʾs at-Tīn in Alexandria) endete. Dabei ließen sich die Konsuln stets von einer Delegation ihrer Landsleute begleiten, die entweder in der Stadt ansässig waren oder zum gegebenen Zeitpunkt Ägypten bereisten. Im frühen 19. Jahrhundert legten die Konsuln den Prozessionsweg zu Pferde zurück, ab den 1840er Jahren fuhren sie in Kutschen, wenn auch einige ihrer Landsleute nach wie vor ritten. Wagen und Reitpferde wurden der Delegation von der ägyptischen Regierung gestellt. Anfänglich wurde die Delegation von Infanterieabteilungen geleitet, ab den 1840er Jahren wurde die Eskorte durch Kavalleristen ergänzt.58 Neben der militärischen Begleitung wurde ihnen jeweils auch eine Militärkapelle sowie ein Kontingent ḳavaṣān (wörtlich „Bogenschützen“) beigegeben, Angehörige eines Korps des Herrscherhaushaltes, das für Wachaufgaben zuständig war. Bei der Antrittsaudienz des französischen Generalkonsuls Le Moyne am 29. Januar 1850 modifizierte ʿAbbās Paşa die hergebrachte Zusammensetzung der Prozession. Dieses Ereignis ist besonders dicht überliefert: Der Konsul 58 Für feierliche Empfänge von Generalkonsuln siehe St. John, Egypt, Bd. 2, S. 531– 534 (wie Anm. 15) (britischer Generalkonsul Campbell, Alexandria, 1832); Paton, Egyptian Revolution, Bd. 2, S. 165–167 (wie Anm. 35) (britischer Generalkonsul Hodges, Alexandria, 1839); MAE/CP Egypte 16 fol. 49f., de la Valette an Guizot, 28.10.1843 (französischer Generalkonsul de la Valette, Kairo, 1843), dazu auch Jean-Jacques Luthi, Egypte et Egyptiens au temps des vice-rois. 1801–1863, Paris 2003, S. 256; J[esse] A[mes] Spencer, The East. Sketches of Travels in Egypt and the Holy Land, London 1850, S. 218–220 (US-Generalkonsul Macauley, Kairo, 1849).

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selbst berichtete darüber außergewöhnlich ausführlich nach Paris,59 und auch zwei seiner Landsleute – Gustave Flaubert und Maxime Du Camp –, die damals Ägypten bereisten und im Gefolge des Konsuls an der Audienz teilnahmen, schrieben ihre Eindrücke nieder, wenn auch in knapper Form.60 ʿAbbās entsandte im Januar 1850 weder Truppen noch eine Militärkapelle, um Generalkonsul Le Moyne abzuholen, sondern eine größere Anzahl ḳavaṣān, die vom ḳavaṣ başı, dem Chef des Korps, angeführt wurden.61 Was ʿAbbās dazu bewogen hat, die Prozessionsordnung zu ändern, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Da er sein Auftreten und seine Hofhaltung stark nach dem Istanbuler Vorbild ausrichtete (vgl. Abb. 2), scheint es plausibel, dass er mit der Entsendung der ḳavaṣān eine stärkere Angleichung an das osmanische Protokoll im Sinn hatte.62 Jedenfalls brachte die Veränderung der Eskorte ʿAbbās in Erklärungsnotstand, denn er hatte es unterlassen, das französische Konsulat von der Neuerung in Kenntnis zu setzen. Entsprechend konsterniert zeigten sich Generalkonsul Le Moyne und sein Gefolge: Er glaubte, nicht ohne Militäreskorte losfahren zu können. Erst als man ihm glaubhaft versichern konnte, dass die Soldaten durch eine größere Anzahl ḳavaṣān ersetzt worden waren, weil man ihm und damit Frankreich größere Ehren erweisen wolle, war der Generalkonsul bereit, ohne militärische Begleitung auf die Zitadelle zu ziehen. In seinem Bericht an seinen Vorgesetzten in Paris schildert der Konsul die Vorgänge folgendermaßen: „L’autorité avait encore envoyé environ Soixante Cawas en grande tenue, dont Vingt à cheval et quarante à pied ayant à leur tête le Cawas bâchi autrement dit le chef des 59 MAE/CP Egypte 21, fol. 226–231, Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850. 60 Maxime Du Camp, Souvenirs littéraires, [Paris] 1994, S. 299; Gustave Flaubert, Voyage en Egypte, hg. von Pierre-Marc de Biasi, Paris 1991, S. 250. 61 Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850, fol. 227 (wie Anm. 59). 62 Die Prozessionen der Generalkonsuln in Ägypten entsprachen bereits vor 1850 weitgehend dem Empfangsprotokoll von Botschaftern in Istanbul. Auch diese wurden in einer Prozession zur Hohen Pforte geleitet, wobei die Prozession zum Teil zu Pferde, zum Teil per Boot stattfand. Durch die ḳavaṣān-Eskorte erzielte ʿAbbās möglicherweise eine weitere Angleichung an die Praktiken in Istanbul, wo Botschafter ebenfalls von Männern des Sultanshaushalts eskortiert wurden (çavuşān: „Adjutanten“/„Herolde“). Für die Prozessionen von Botschaftern in Istanbul siehe Karateke, Padişahım Çok Yaşa!, S. 130–143 (wie Anm. 5); Karateke, Protocol Register, S. 15–24 (wie Anm. 6). Für die Vorbildfunktion des Istanbuler Hofes siehe Konrad, Hof der Khediven, S. 57–74, 98–100, 128–130, 300–306 (wie Anm. 5). Für eine zeitgenössische Schilderung einer Audienz bei Sultan ʿAbdülmecīd (1852) siehe James E.P. Boulden, An American among the Orientals: Including an Audience with the Sultan, and a Visit to the Interior of a Turkish Harem, Philadelphia 1855, S. 70–83.

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Cawas de S.A. Jusqu’alors les quarante Cawas à pied n’avaient jamais figuré dans l’escorte donnée aux Consuls Généraux. J’apprenais indirectement, presqu’au moment du départ, que c’était une innovation et que ces 40 Cawas devaient remplacer un bataillon de Soldats qui, musique en tête, fesait d’habitude partie du Cortège, remarquant par les commentaires de mes nationnaux que cette innovation paraissait prise en mauvaise part et que quelques uns même la présentaient comme de nature à m’empêcher de passer outre, je me décidai, persuadé que je l’étais qu’il ne pouvait y avoir aucune intention malveillante de la part du Gouvernement Egyptien, à adopter, dans mes démarches, un terme moyen propre à ménager la susceptibilité de ce Gouvernement et celle de mes nationnaux. En conséquence je donnai immédiatement l’ordre à Mr Bélin, chancelier drogman du Consulat du Caire, de se rendre, en toute hâte, à la citadelle pour sans entrer en discussion ni exprimer aucune plainte, faire connaître à Mr Khosrew-bey, qui se trouvait auprès du Vice Roi, que je n’attendais, pour me mettre en marche que le bataillon et la Musique dont je ne m’expliquais pas bien le retard. Mr Bélin, après une heure d’absence, revint me dire que Khosrew-bey allait arriver, en personne, expédié par le Vice Roi pour me donner des explications. En effet, le 1er Secrétaire Interprète apparut presqu’aussitôt m’apporter de la part d’Abbas Pacha, l’assurance qu’en ordonnant des modifications au cérémonial, S.A. loin d’avoir voulu diminuer en rien les honneurs à rendre au représentant de la France, avait au contraire eu l’intention de les augmenter par l’envoi inaccoutumé des 40 Cawas à pied; […]“63

Aus Le Moynes Ausführungen wird klar, dass er die Auflösung dieses Missverständnisses auch dazu nutzte, um gegenüber seinen Vorgesetzten sein diplomatisches Geschick darzustellen. Er distanziert sich von der Einschätzung seiner Landsleute, die – vermutlich aufgrund des kursierenden Negativbildes – dem Vizekönig die unlautere Absicht unterstellten, den Empfang verhindern zu wollen, und schlug einen Weg ein, der beiden Seiten erlaubte, das Gesicht zu wahren. Le Moyne begnügte sich aber nicht damit, die Modifikationen in der Eskorte, das Missverständnis und dessen Auflösung nach Paris zu berichten. Er schildert auch ausführlich die Anordnung der einzelnen Teilnehmer in der Prozession, deren Einzug im Hof der Zitadelle und die dort aufgestellten Truppen sowie den ganzen weiteren Verlauf des Ereignisses: Als er mit seinem Gefolge von etwa sechzig Franzosen angekommen war, wurde er sogleich vom Zeremonienmeister und vom Chefübersetzer Ḫüsrev Bey in den Audienzsaal geführt, wo ihn ʿAbbās erwartete: „[…] je me rendais, suivi de mes nationaux dans la magnifique salle où le Vice Roi était assis au fond sur un Divan dans l’angle de droite ; au moment où j’entrai, S.A. 63 Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850, fol. 227a–228a (wie Anm. 59).

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se leva et fit plusieurs pas au devant de moi en me rendant gracieusement mon salut.“64

Der Umstand, dass sich ʿAbbās beim Eintritt des Generalkonsuls erhob und auf ihn zuging, wird im Bericht umgehend interpretierend kommentiert. Le Moyne schreibt, dass ʿAbbās im Raum herumzugehen pflege, wenn er Generalkonsuln oder andere vornehme Besucher erwarte, um es zu vermeiden, sich vor ihnen vom Sofa erheben zu müssen. Indem er aber aufstand, habe er Meh.med ʿAlī nachgeahmt: „[…] en apportant cette fois pour moi un changement à ses usages, il aurait imité ce que Méhémet Ali, son grand-père, avait fait seulement, en de rares occasions, pour de hauts personnages entr’autres pour le Duc de Montpensier.“65

Le Moyne nennt also als Präzedenzfall den bereits erwähnten Duc de Montpensier. Hätte er jedoch die feierlichen Empfänge anderer Generalkonsuln zum Vergleich herangezogen, wäre sein eigener Fall weniger außergewöhnlich erschienen, denn im Jahr zuvor war sein Kollege aus den USA in gleicher Weise von ʿAbbās empfangen worden.66 Der weitere Bericht des Generalkonsuls zeigt, dass er alles, was im Audienzsaal vor sich ging, sehr sensibel registrierte und genau auf den symbolischen Gehalt von Handlungen achtete. Le Moyne thematisiert vier zentrale Vorgänge im Audienzsaal: Der erste ist die Übergabe des Akkreditierungsschreibens und seine darauffolgende Ansprache. Hier ist ihm die verbale Kommunikation, bestehend aus seiner eigenen Rede (der Text ist dem Bericht beigelegt) und der Antwort des Vizekönigs („bien qu’en termes généraux, d’une manière plaine d’à propos et toute affectueuse“67), genauso wichtig wie die symbolische, denn er betont, dass ʿAbbās ihm stehend gelauscht habe. Der zweite wichtige Vorgang ist das Kaffee- und Pfeifenritual und – damit verbunden – die Sitzordnung:

64 Ebd., fol. 229a (wie Anm. 59). 65 Ebd., fol. 229b (wie Anm. 59). 66 Spencer, East, S. 220 (wie Anm. 58). Mitte der 1820er Jahre war diese Art der Begrüßung bei Akkreditierungsempfängen noch nicht die Regel. 1826 habe sich Meh.med ʿAlī beim britischen Konsul John Barker als „a mark of distinction“ erhoben, obwohl er dies nicht hätte tun müssen und kurz vorher bei der Akkreditierung der Generalkonsuln von Österreich bzw. Sardinien auch nicht getan habe (Barker, Syria and Egypt, Bd. 2, S. 46, wie Anm. 22). 67 Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850, fol. 229b (wie Anm. 59).

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„Il me fit ensuite asseoir à coté de lui et l’on remarqua comme une chose encore nouvelle et surtout comme un témoignage d’une haute considération pour moi, que S.A. se tint elle même assise à l’Européenne sur le bord du divan au lieu de monter et de s’accroupir sur le tapis qui y distingue sa place dans l’angle. Deux premières pipes semblables furent apportées en même temps dont l’une pour le Pacha et l’autre pour moi, trois autres furent, quelques moments après, données à Mess. Bénédetti, Delaporte et Fresnel [hohe Konsulatsbeamte]; vint ensuite le café qui fut servi, après le Vice Roi et moi, à tous les français qui m’avaient accompagné et qui étaient rangés à une certaine distance sur les Divans.“68

Dass sich Le Moyne und ʿAbbās in derselben Art und Weise nebeneinander setzten und dass sie gleichzeitig gleiche Pfeifen und als Erste Kaffee gereicht bekamen, wird im Bericht nicht kommentiert. Der Generalkonsul muss also davon ausgegangen sein, dass dem Empfänger des Berichts klar war, dass diese symbolischen Handlungen Gleichrangigkeit abbildeten. Der dritte bedeutsame Vorgang, den Le Moyne aus dem Audienzsaal rapportiert, ist die Unterhaltung, die er bei Kaffee und Pfeife mit ʿAbbās führte. Er berichtet vage über den Austausch von Komplimenten und vor allem darüber, dass in dem kurzen Zwiegespräch ein für Frankreich und Ägypten ersprießliches Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Männern entstanden sei. Schließlich habe ihn ʿAbbās „sozusagen im Vertrauen“ zu einem Tête-à-Tête in seinem Privatpalast Qaysūn eingeladen.69 Als letzten Vorgang im Audienzsaal schildert Le Moyne die Verabschiedung, bei der ihm der vizekönigliche Zeremonienmeister einen wertvollen Säbel umhängte. Zusätzlich wurde dem Generalkonsul ein edles Araberpferd mit kostbarem Saumzeug und Sattel geschenkt, als er aus dem Palast heraustrat.70 Dann begab er sich in derselben Prozessionsordnung wie bei der Ankunft zu seinem Domizil zurück, wobei die Kanonen der Zitadelle Salut schossen. 68 Ebd., fol. 229b–230a (wie Anm. 59). 69 Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850, fol. 230b (wie Anm. 59): „[…] il me dit à voix presque basse et pour ainsi dire en confiance, qu’il verrait avec plaisir que je vinsse le voir le surlendemain, à midi, dans son palais privé de Kaysoun où il m’attendrait pour causer en tête à tête.“ 70 Ebd., fol. 230b–231a (wie Anm. 59). Das Geschenk eines Säbels und eines Pferdes nach der Antrittsaudienz war eine gängige Praxis, vgl. Spencer, East, S. 220 (wie Anm. 58), Edwin de Leon, Thirty Years of My Life on Three Continents, 2 Bde., London 1890, Bd. 1, S. 143, die auch um 1880 noch gepflegt wurde (Alfred J. Butler, Court Live in Egypt, London 1888, S. 168f.; [ Jules Alexis] baron des Michels, Souvenirs de carrière. 1855–1886, Paris 1901, S. 132f.; Edward Malet, Egypt. 1879–1883, hg. von Lord Sanderson, London 1909, S. 39).

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Warum berichtete Le Moyne so ausführlich nach Paris? Eine naheliegende Motivation war sicher die Neuerung in der Prozessionsordnung und die daraus resultierende Irritation. Dies lässt sich aus dem letzten Abschnitt seines Briefes herleiten. Dort schreibt er, dass er dem Außenminister die ganzen Details, „von denen einige kindisch erscheinen könnten“, auseinandersetze, um künftigen Vertretern Frankreichs „eine Art Protokoll“ („une espèce de procès verbal“) für analoge Situationen an die Hand zu geben.71 Es ist durchaus möglich, dass Raymond Sabatier, der Le Moyne 1852 ablöste, dieses „Protokoll“ vor sich hatte, als er nach Paris schrieb, dass seine eigene sowie die Antrittsaudienzen seines britischen und amerikanischen Kollegen in der „üblichen Form“ stattgefunden hätten.72 In demselben Abschnitt nennt Le Moyne einen zweiten Grund für seine Ausführlichkeit: „[...] parceque les moindres actes officiels étant dans les pays turcs, minutieusement examinés et pesés y acquièrent une importance qu’on serait loin de leur accorder dans des pays d’Europe.“73 Es ist also die kulturelle Distanz, die ihn zu seinem Detailreichtum angetrieben hat, und damit auch das Bestreben, eine fremde Symbolsprache richtig zu lesen. Dies erlaubt ihm aber nicht zuletzt, seine Kenntnisse und Fähigkeiten ins rechte Licht zu rücken. Obwohl er zum ersten Mal im „Orient“ Dienst tat,74 erwies er sich nicht nur in der Lage, ein Problem, das das Potential für Missstimmigkeiten hatte, zu lösen, sondern auch als fähig, beim ersten Zusammentreffen ein gutes Verhältnis zu einem Herrscher zu etablieren, der nicht nur als schwierig, sondern auch als nicht besonders frankreichfreundlich galt. 71 Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850, fol. 231b (wie Anm. 59). 72 MAE/CP Egypte 24, fol. 226–238, Sabatier an Außenminister, 2.11.1852, hier fol. 226b–230b. MAE/CP Egypte 25, fol. 169f., Sabatier an Drouyn de Lhuys, 16.12.1853, hier fol. 169a (Antrittsaudienz Edwin de Leons, USA); für die Darstellung dieser Audienz durch Edwin de Leon selbst siehe Edwin de Leon, Abbas Pacha of Egypt, in: Harper’s New Monthly Magazine 38/224 ( Jan. 1869), S.  264f., und ders., Thirty Years, Bd. 1, S. 142–144 (wie Anm. 70). MAE/CP Egypte 25, fol. 183–186, Sabatier an Drouyn de Lhuys, 31.12.1853, hier fol. 183a (Antrittsaudienz Frederick W.A. Bruces, Großbritannien). Allerdings hatte Sabatier bei seiner eigenen Antrittsaudienz selbst eine Modifikation im Prozedere vorgenommen, indem er auf die Begleitung durch seine Landsleute verzichtete. Dies stellte er als ein Entgegenkommen gegenüber ʿAbbās dar, dem die Forderungen, die Kaufleute und Staatsdiener französischer Herkunft ständig an ihn stellten, zuwider gewesen seien (Sabatier an Außenminister, 2.11.1852, hier fol. 228a–230b). 73 Le Moyne an Außenminister, 30.1.1850, fol. 231b (wie Anm. 59). 74 Ebd., fol. 226a (wie Anm. 59).

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Ein weiteres mögliches Motiv für Le Moynes Interesse an zeremoniellen Details gilt es zu bedenken: Frankreich war seit der Februarrevolution 1848 eine Republik, also ein Außenseiter in der von Monarchien dominierten Staatenwelt, und musste auf diplomatischer Ebene wenn nicht mit Ablehnung, so doch mit Vorbehalten rechnen.75 Dies dürfte nicht nur Le Moynes Sensibilität für protokollarische und zeremonielle Feinheiten geschärft haben, sondern auch jene des französischen Außenministeriums. Le Moynes Augenmerk richtete sich also auf die symbolische Anerkennung, die ihm als Vertreter einer jungen Republik entgegengebracht wurde.76 In diesem Licht hat auch die Nennung des Duc de Montpensier als Präzedenzfall Sinn: Le Moyne wurde vom neuen Herrscher über Ägypten genauso begrüßt wie Montpensier, der Vertreter des alten Regimes, durch den verstorbenen Vizekönig. Alles in allem kann Le Moyne also nach Paris berichten, dass er als Vertreter Frankreichs mit allen gebührenden Ehren bedacht wurde. In Bezug auf die symbolische Anerkennung der Republik war die Antrittsaudienz also ein voller Erfolg. Auch ʿAbbās wird die Audienz als Erfolg betrachtet haben, da es ihm offenbar gelungen war, den französischen Repräsentanten für sich einzunehmen. Wenn man nun aber die Eindrücke von Le Moynes Begleitern in den Blick nimmt, zeigt sich, dass die Audienz nicht bei allen Franzosen einen positiven Eindruck hinterließ. Ganz im Gegenteil: Maxime Du Camp baut seinen kurzen Audienzbericht in längere Ausführungen über Meh.med ʿAlī ein. Seine Aussagen über ʿAbbās und die Audienz erzeugen dabei einen schroffen Gegensatz zu dem vorangehenden positiven Bild Meh.med ʿAlīs: „J’ai vu Abbas-Pacha, pendant une audience solennelle [...] C’était un gros homme ventripotent, blafard, maladroit dans ses gestes, dont les jambes arquées semblaient trembler sous lui et dont la paupière retombait sur un œil vitreux. On s’empressait autour de lui, on se prosternait, on baisait le bas de sa tunique. Cette masse de chair était écroulée dans le coin du divan et parfois il s’en échappait un rire saccadé qui ne déridait même pas le visage tuméfié par la débauche.“77

75 Eine solche Außenseiterrolle hatte auch noch die Dritte Französische Republik inne. Siehe Paulmann, Pomp und Politik, S. 22 (wie Anm. 8). 76 Zu Spannungen zwischen Ansprüchen auf und Vorbehalten gegenüber der symbolischen Anerkennung von republikanischen Repräsentanten siehe die Ausführungen über den Besuch des französischen Präsidenten Félix Faure bei Königin Viktoria 1898 in Paulmann, Pomp und Politik, S. 229–231 (wie Anm. 8). 77 Du Camp, Souvenirs, S. 299 (wie Anm. 60).

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Die Eindrücke von Du Camps Freund Gustave Flaubert waren nicht besser. Er sah im Audienzsaal „traurigen Luxus“ und „beklagenswerte Mamluken, die an geliehene Dienstboten erinnerten“.78 Es gelang ʿAbbās also offensichtlich nicht, mit der Inszenierung der Audienz auch den hinteren Rängen, das heißt den Vertretern der Öffentlichkeit, die die Audienz als Zeugen beobachteten, einen guten Eindruck zu vermitteln. Dies mag durchaus darauf zurückzuführen sein, dass die beiden Reisenden einem Ereignis beiwohnten, dessen Sinn sie spontan nicht erfassen konnten. Dass Beobachter aus dem Hintergrund mit der Symbolsprache des ʿAbbās’schen Hofes nicht viel anfangen konnten, bestätigt sich im Bericht des amerikanischen Reisenden Jesse Spencer, der im März 1849 seinen Generalkonsul Macauley zu ʿAbbās begleitet hatte. Erstens findet Spencer gerade das berichtenswert, was bei dem Ereignis offenbar nicht richtig lief: Er schreibt von einem Durcheinander und Rempeleien vor dem Audienzraum, so dass es den Besuchern erst nach einigem „Stoßen und Umsichschlagen“ gelungen sei, hineinzukommen.79 Zweitens beschreibt er ʿAbbās – ähnlich wie es Flaubert und Du Camp tun – in wenig schmeichelhaften Worten: Zur Begrüßung habe er „eine Art linkische Verbeugung“ gemacht und nach der Ansprache des Generalkonsuls habe er es lediglich „geschafft, ein oder zwei Komplimente von sich zu geben“. Schließlich ironisiert er das Geschehen, indem er die Stille, die nach ʿAbbās’ Komplimenten eintrat, „als ziemlich lächerlich“ einstuft.80 Mit seiner Einschätzung, einem lächerlichen oder zumindest seltsamen Ereignis beigewohnt zu haben, scheint er nicht allein gewesen zu sein, denn zum Abschluss schreibt er: „[…] we took our leave, partly vexed, but more inclined to be amused, at the way in which the thing had gone off.“81 Bemerkenswerterweise änderte auch Generalkonsul Le Moyne bald seine positive Meinung über ʿAbbās’. Kaum vier Monate nach seiner Antrittsaudienz war er frustriert über die eingeschränkten Zugangsmöglichkeiten und die Vorbehalte des Vizekönigs gegenüber französischem Einfluss und sandte kritische

78 Flaubert, Voyage, S. 250 (wie Anm. 60). 79 Spencer, East, S. 219 (wie Anm. 58): „On arriving at the palace, there was a strange scene of confusion, crowding and jostling, to get into the reception room, and for a time, I was not sure but that the consul-general and his countrymen would be completely excluded from the presence of the Pasha. But by pushing and knocking about for a while, however, we all succeeded in getting in.“ 80 Ebd., S. 220 (wie Anm. 58). 81 Ebd.

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Berichte nach Paris, die weitgehend dem vorherrschenden Negativbild entsprachen.82

Fazit Meh.med ʿAlī Paşas Privataudienzen und ʿAbbās Paşas feierliche Empfänge von Generalkonsuln konstituierten transkulturelle Begegnungsräume, in denen die Akteure durch symbolische wie durch verbale Kommunikation miteinander interagierten und sich zueinander in Beziehung setzten. Als außeralltägliche Ereignisse von repräsentativem Charakter ist beiden Begegnungsarten eine große Dichte symbolischer Handlungen eigen, die vor allem – aber nicht nur – den Empfangenen ein hohes Maß an Übersetzungs- und Interpretationsleistung abforderte. Sieht man von der Prozession und dem feierlichen Einzug der Generalkonsuln ab, unterscheiden sich die beiden Audienztypen in ihren Handlungsmustern nicht grundlegend: Auf der Ebene der symbolischen Kommunikation erfüllten die Codes des Begrüßungsrituals, der Sitzplatzzuweisung und des Kaffee- und Pfeifenrituals die gleichen Funktionen. Dies weist beide Audienztypen als gleichermaßen repräsentative Geschehnisse aus, obwohl die Konsulnempfänge durch den Vollzug dieser Rituale vor einem beobachtenden und interpretierenden Publikum eine höhere repräsentativ-zeremonielle Funktion erhielten. Die Männer, die von den Vizekönigen empfangen wurden, waren mit einem Set symbolischer Handlungen konfrontiert, deren Code es zu entschlüsseln und zu interpretieren galt. Da diese Codes nicht allen Besuchern gleichermaßen vertraut und selbstverständlich waren, ließen sie einen gewissen Spielraum offen für individuelle Deutungen einzelner Rituale und Zeremonien oder gar des Gesamtgeschehens. Dabei spielten immer auch Erwartungshaltungen und feststehende Einstellungen mit hinein. So werfen die trotz individueller Züge sehr einheitlichen Schilderungen der Privataudienzen bei Meh.med ʿAlī die Frage auf, ob die Reiseschriftsteller nicht vorgegebenen Narrationsmustern folgten oder in welchem Maß ihr Vorwissen und die Erwartungshaltung ihrer Leser ihre Narration vorstrukturierte. Wenn es tatsächlich zum Programm eines schriftstellerisch tätigen Ägyptenreisenden gehörte, Meh.med ʿAlī zu treffen, sollte er dann nicht auch – wie seine Vorgänger – in besonderem Maße auf 82 Toledano, State and Society, S. 117 (wie Anm. 9).

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Würde, Haltung und Augen seines Gegenübers achten? Dass die in Privataudienz empfangenen Reiseschriftsteller das in ihrer Heimat vorherrschende Bild von Meh.med ʿAlī als progressivem und aufgeklärtem Erneuerer Ägyptens bestätigten, mag – zum Teil wenigstens – ebenfalls vorhandenem Wissen und Erwartungshaltungen geschuldet sein. Auf der anderen Seite bot Meh. med ʿAlī seinen Besuchern in der Audienz eine Bühne, auf der sie sich problemlos über ihre gemeinsame – aufgeklärte und moderne – kulturelle Identität verständigen konnten. Obwohl die Symbolsprache seines Hofes und seines Auftretens den Besuchern stets als etwas „Orientalisches“ und damit als etwas Fremdes erschien, schuf sie keine unüberbrückbare Distanz, da durch die verbale Kommunikation ein Konsens über die Gegenwart und Zukunft Ägyptens hergestellt wurde, der der Einschätzung der Reisenden über Fortschritt und Regeneration des Landes entsprach. Im Gegensatz dazu verweisen die konkurrierenden Berichte über den Empfang des französischen Generalkonsuls Le Moyne auf das Fehlen eines solchen Konsenses bei ʿAbbās. Zwar interpretierte Le Moyne das Ereignis als einen Erfolg für sich und für Frankreich. Seine Begleiter aber sahen sich von den performativen Handlungen bei der Audienz nicht veranlasst, das Negativbild des neuen Vizekönigs zu hinterfragen oder zu korrigieren, vielmehr fügten sie ihre Beobachtungen in das bestehende Bild ein und nutzten sie zu ihrer eigenen, sich von ʿAbbās abgrenzenden Selbstvergewisserung. Die Wahrnehmung der Audienzen und Empfänge lässt auch Rückschlüsse auf die Funktion zu, die sie für die Vizekönige erfüllten. Meh.med ʿAlī Paşa nutzte die Privataudienzen gezielt – und auch erfolgreich –, um über seine Besucher die europäische Öffentlichkeit zu beeinflussen. Die symbolische Kommunikation mit ihren elaborierten Ritualen und dem sorgfältig inszenierten Auftreten des Herrschers waren dabei ebenso wichtig wie die verbale. ʿAbbās Paşa hingegen zog eine Art der Hofhaltung vor, die seinen Status und sein Prestige durch eingeschränkte Zugänglichkeit und verschärfte protokollarische Reglementierung abbilden sollte. Er verzichtete weitgehend darauf, europäischen Reisenden Privataudienzen zu gewähren, und beschränkte ihre Möglichkeit, ihn zu sehen, auf die hochgradig standardisierten offiziellen Empfangszeremonien. Die Formalisierung dieser stark als außeralltägliche Ereignisse markierten Empfänge ließen eine flexible und situationsbedingte Anpassung von Ritual und Zeremoniell, wie sie Meh. med ʿAlī bei seinen Privataudienzen praktiziert hatte, kaum zu. Dies leistete Missverständnissen und Fehlinterpretationen Vorschub und trug mit dazu bei, dass ʿAbbās in der europäischen Öffentlichkeit kaum auf Anerkennung für seine Herrschaft stieß.

Der dı-va-n des Vizekönigs von Ägypten  |

Abb. 1  David Roberts, Interview with The Viceroy of Egypt, at His palace at Alexandria. May 12th, 1839, handkolorierte Lithographie (35 x 49 cm). Quelle: William Brockedon, Egypt & Nubia. From Drawings Made on the Spot by David Roberts, with Historical Descriptions by William Brockedon, lithographed by Louis Haghe, London 1846–1849, Bd. 3, S. 1 (http://digitalgallery.nypl.org).

Abb. 2  ʿAbba-s Pas¸a in osmanischer Zeremonialuniform; Portrait von ca. 1851. Quelle: Amı-n Sa-mı- Ba-sˇa- (Hg.), Taqwı-m anNı-l wa-asma-ʾ man tawallaw amr Mis¸r wa-muddat h.ukmihim ʿalayha- wamula-h.az.a-t ta-rı-h-ıya ʿan ah.wa-l al-halı-fa al-ʿa-mma wa-sˇ˘uʾu-n Mis.r al-ha- s.s˘. a ʿan ˘ as-sana al-mudda al-munh.as.ira bayna al-u-la- wa-1333 al-higˇrı-ya, Bd. 2, Kairo 1928, Tafel nach S. 492.

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Autorinnen und Autoren Christina Brauner, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Peter Burschel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Antje Flüchter, Department of Culture Studies and Oriental Languages, University of Oslo Claudia Garnier, Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften (Fach Geschichte), Universität Vechta Tetiana Grygorieva, History Department, National University of Kyiv-MohylaAcademy Stefan Hanß, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin Felix Konrad, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Florian Kühnel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Ruth Schilling, Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité - Universitätsmedizin Berlin Christine Vogel, Institut für Geistes- und Kulturwissenschaften (Fach Geschichte), Universität Vechta Michał Wasiucionek, Department of History and Civilization, European University Institute Firenze

CLAUDIA ULBRICH, HANS MEDICK, ANGELIKA SCHASER (HG.)

SELBSTZEUGNIS UND PERSON TRANSKULTURELLE PERSPEKTIVEN (SELBSTZEUGNISSE DER NEUZEIT, BAND 20)

In diesem Band werden neue Ansätze der Selbstzeugnisforschung vorgestellt. Mit der Untersuchung europäischer, osmanischer, japanischer und lateinamerikanischer Selbstzeugnisse werden Ähnlichkeiten und Unterschiede herausgearbeitet und globale Perspektiven eröffnet. Das Buch liefert einen Beitrag zu einer historisch begründeten Kritik an überlieferten westlichen Konzepten von Person, Individuum, Modernisierung und Globalisierung. 2012. XII, 431 S. 6 S/W-ABB. GB. | ISBN 978-3-412-20853-0

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EXTERNA GESCHICHTE DER AUSSEN BEZIEHUNGEN IN NEUEN PERSPEKTIVEN HERAUSGEGEBEN VON ANDRÉ KRISCHER, BARBARA STOLLBERG-RILINGER, HILLARD VON THIESSEN UND CHRISTIAN WINDLER BISHER ERSCHIENEN

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