Die allmähliche Verfertigung der Diagnose im Reden: Prädiagnostische Mitteilungen im Gespräch zwischen Arzt und Patient 9783110363296, 9783110363265

This book analyses the content of doctors’ statements uttered before the actual diagnosis as well as their linguistic an

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Die allmähliche Verfertigung der Diagnose im Reden: Prädiagnostische Mitteilungen im Gespräch zwischen Arzt und Patient
 9783110363296, 9783110363265

Table of contents :
1 Einleitung und Überblick
2 Forschungszusammenhang
2.1 Die Voraussetzungen – Individuen in unterschiedlichen Welten
2.2 Verstehen im ärztlichen Gespräch
2.3 Der Handlungsrahmen ärztlicher Gespräche
2.4 Forschung zu prädiagnostischen Mitteilungen und Gegenstandsbestimmungen
2.5 Die Daten
3 Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03)
4 Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen
4.1 Medizinische Inhalte prädiagnostischer Mitteilungen
4.1.1 Befunde
4.1.2 Ätiologische Zusammenhänge
4.1.3 Ausschlussdiagnosen
4.1.4 Vorläufige Diagnosen
4.2 Linguistische Eigenschaften prädiagnostischer Mitteilungen
4.2.1 Äußerungsmodus prädiagnostischer Mitteilungen
4.2.2 Pragmatische Funktionen prädiagnostischer Mitteilungen
4.2.3 Modalisierung von prädiagnostischen Mitteilungen
5 Kognitiva in prädiagnostischen Mitteilungen
5.1 Epistemische, Sinnes- und Performativausdrücke
5.2 Kognitive Kategorien, Konzepte und Operationen
6 Interaktiva prädiagnostischer Mitteilungen
6.1 Vorkommen, Initiative, Kombination
6.2 Patientenreaktionen auf prädiagnostische Mitteilungen
6.3 Ärztliche Folgehandlungen
7 Prädiagnostische Mitteilungen – Fallanalysen im Kontrast
7.1 Fallanalyse 2: Harnprobleme (UR_05)
7.1.1 Zusammenfassende Analyse
7.2 Fallanalyse 3: Heiserkeit (IA_03)
7.2.1 Zusammenfassende Analyse
7.3 Fallanalyse 4: Chlamydien (UR_13)
7.3.1 Zusammenfassende Analyse
7.4 Zusammenfassung und vergleichende Analyse
8 Schlussdiskussion
9 Literatur
Anhang: Transkriptionskonventionen

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Thomas Spranz-Fogasy Die allmähliche Verfertigung der Diagnose im Reden

Sprache und Wissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning Ingo H. Warnke und Martin Wengeler

Band 16

Thomas Spranz-Fogasy

Die allmähliche Verfertigung der Diagnose im Reden Prädiagnostische Mitteilungen im Gespräch zwischen Arzt und Patient editor_Herausgegeben von Max Mustermann

ISBN 978-3-11-036326-5 e-ISBN 978-3-11-036329-6 ISSN 1864-2284 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Medien Profis GmbH, Leipzig Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt 1

Einleitung und Überblick 

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

 5 Forschungszusammenhang  Die Voraussetzungen – Individuen in unterschiedlichen Welten   5 Verstehen im ärztlichen Gespräch   7 Der Handlungsrahmen ärztlicher Gespräche   16 Forschung zu prädiagnostischen Mitteilungen und Gegenstandsbestimmungen   24 Die Daten   29

3

Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03) 

4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen   38 Medizinische Inhalte prädiagnostischer Mitteilungen   38 Befunde   39 Ätiologische Zusammenhänge   40 Ausschlussdiagnosen   42 Vorläufige Diagnosen   43 Linguistische Eigenschaften prädiagnostischer Mitteilungen   45 Äußerungsmodus prädiagnostischer Mitteilungen   45 Pragmatische Funktionen prädiagnostischer Mitteilungen   48 Modalisierung von prädiagnostischen Mitteilungen   52

5 5.1 5.2

 61 Kognitiva in prädiagnostischen Mitteilungen  Epistemische, Sinnes- und Performativausdrücke   Kognitive Kategorien, Konzepte und Operationen 

6 6.1 6.2 6.3

 86 Interaktiva prädiagnostischer Mitteilungen  Vorkommen, Initiative, Kombination   86 Patientenreaktionen auf prädiagnostische Mitteilungen  Ärztliche Folgehandlungen   108

 1

 30

 64  71

 97

VI 

 Inhalt

7 7.1 7.1.1 7.2 7.2.1 7.3 7.3.1 7.4

Prädiagnostische Mitteilungen – Fallanalysen im Kontrast  Fallanalyse 2: Harnprobleme (UR_05)   115 Zusammenfassende Analyse   124 Fallanalyse 3: Heiserkeit (IA_03)   129 Zusammenfassende Analyse   140 Fallanalyse 4: Chlamydien (UR_13)   143 Zusammenfassende Analyse   153 Zusammenfassung und vergleichende Analyse   156

8

Schlussdiskussion 

9

Literatur 

 162

 167

Anhang: Transkriptionskonventionen 

 177

 114

1 Einleitung und Überblick1 Diese Untersuchung befasst sich mit Formen und Funktionen eines spezifischen Äußerungstyps, der in Gesprächen zwischen Arzt und Patient² eine eher unscheinbare Rolle³ zu spielen scheint, den prädiagnostischen Mitteilungen. Prädiagnostische Mitteilungen sind Äußerungen des Arztes während der Beschwerdenexploration, mit denen er explizit macht, was er bezüglich des Beschwerdenbildes aus den Schilderungen des Patienten verstanden hat und was er gerade selbst sieht, hört und fühlt oder denkt. Während Fragen, Mitteilungen von Diagnosen oder auch ärztliche Verordnungen von Gesprächsforschern bereits vielfach untersucht wurden,⁴ ist dieser Äußerungstyp bislang relativ wenig beachtet worden. Stivers (1998) hat prediagnostic commentaries im veterinärmedizinischen Zusammenhang untersucht und gezeigt, dass sie vor allem dazu dienen, die Bereitschaft von Tierhaltern zu ermitteln, in gegebenenfalls kostenträchtige Zusatzuntersuchungen und Behandlungen einzuwilligen. Und Heritage/Stivers (1999) weisen in Untersuchungen humanmedizinischer Gespräche nach, dass online commentaries, also ärztliche Kommentare während der körperlichen Untersuchung, die Erwartungen von Patienten oder Patienteneltern hinsichtlich der Therapiemaßnahmen beeinflussen (sollen) und Ärzte damit schon vorsorglich beispielsweise antibiotische Behandlungen abzuwehren suchen (dazu auch Mangione et al. 2003, Heritage et al. 2010). Neben solchen therapiebezogenen Funktionen lassen sich aber eine ganze Reihe weiterer Funktionen prädiagnostischer Mitteilungen herausarbeiten, die in Zusammenhängen der interaktiven Entwicklung von Diagnosen, des gegenseitigen Verstehens, der Herstellung von Vertrauen und Compliance oder auch

1 Die vorliegende Untersuchung steht im Zusammenhang eines umfassenden Forschungsprojekts zu „Verstehen in der verbalen Interaktion“, das am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) durchgeführt wurde und Verstehen in verschiedenen professionellen Handlungsfeldern untersucht (Informationen zum Forschungsprojekt unter http://www.ids-mannheim.de/ prag/verstehen/). Ich danke Arnulf Deppermann und den Kolleginnen und Kollegen des IDS für viele anregende und hilfreiche Diskussionen. Mein Dank gilt insbesondere Maria Becker für viele inhaltliche Hinweise und vor allem auch für die technische Aufbereitung des Manuskripts. 2 Ich verwende die Formen Arzt und Patient in dieser Arbeit geschlechtsneutral. In den Fallanalysen benutze ich jedoch immer die konkrete Geschlechtsbezeichnung. 3 Siehe auch Spranz-Fogasy 2014. 4 Im Überblick siehe Heritage/Maynard 2006a, Heritage/Clayman 2010, Spranz-Fogasy 2010, Deppermann/Spranz-Fogasy 2011; weitere Literatur findet sich bei der Darstellung des Forschungsstandes.

2 

 Einleitung und Überblick

der Konstitution ärztlicher Autorität stehen. Prädiagnostische Mitteilungen sind damit nicht nur funktional für das Vorantreiben der gemeinsamen Sachverhaltsentwicklung im Hinblick auf die Erfüllung des diagnostischen Handlungszusammenhangs, sondern auch für die Sicherung von Reziprozität und den Aufbau und Bestand der therapeutischen Beziehung. Die Untersuchung beginnt mit der Darstellung des Forschungszusammenhangs. Darin werden zunächst der institutionelle Rahmen und die damit verbundenen Rollen-, Wissens- und Einstellungsvoraussetzungen für die Handelnden in ärztlichen Gesprächen mit Patienten und die daraus entstehende Notwendigkeit zum Abgleich der unterschiedlichen „Welten“ diskutiert (Kap. 2.1). Dieser Abgleich macht für die Beteiligten besondere Anstrengungen der interaktiven Verstehensarbeit erforderlich, die in stetiger Dokumentation des Verstandenen, in mehr oder weniger expliziten Verstehensanweisungen oder in der Ausforschung des noch nicht Verstandenen bestehen. Diese Anstrengungen finden ihren sprachlich-interaktiven Ausdruck in für ärztliche Gespräche typischen Aktivitäten wie Fragen, Aufforderungen oder Mitteilungen (Kap. 2.2). Darüber hinaus dienen auch interaktionstypologisch konstituierte Eigenschaften wie Beteiligungskonstellation und damit verbundene Beteiligungsrechte und -pflichten oder die Handlungsrationale ärztlicher Gespräche auf Beschwerdenexploration, Diagnosestellung und Therapieplanung hin als organisatorische Rahmenbedingungen der Verstehensarbeit und als Orientierungspunkte des interaktiven Handelns. Und auch sequenzorganisatorische Eigenschaften beispielsweise im Frage-Antwort-Bewertungs-Muster dokumentieren (oder problematisieren) den Fortschritt gegenseitigen Verstehens. In diesem Kontext ist dann auch der Aktivitätstyp „prädiagnostisch Mitteilung“ zu verorten, mit dem der Arzt seinen aktuellen Wissens-, Verstehens- und Gewissheitsstatus anzeigt. Prädiagnostische Mitteilungen sind sprachliche Handlungen in einem bestimmten Abschnitt des Gesprächs, der Beschwerdenexploration. Sie verweisen aber qua Inhalt und anderen linguistischen Eigenschaften darauf, dass sie „dienende“ Funktionen im Blick auf die Diagnosestellung, auf die Therapieplanung, aber auch auf die Interaktionsbeziehung der Beteiligten besitzen. Um diesen Kontext für die Analyse prädiagnostischer Mitteilungen transparent zu machen, ist es erforderlich, den interaktiven Handlungszusammenhang zu skizzieren und insbesondere den teleologischen Zielpunkt prädiagnostischer Mitteilungen, die Diagnosestellung, zu explizieren (Kap. 2.3). Dabei wird deutlich, dass viele der bisher als Bestandteil einer Diagnosemitteilungssequenz⁵ behandelten Aktivitäten tatsächlich als prädiagnostische Mitteilungen anzusehen sind und

5 In Maynards (2003) Terminologie die news delivery sequence.

Einleitung und Überblick 

 3

weiter gehende interaktive Aufgaben bearbeiten, als bloße Diagnosemitteilungen zu sein. Solche Aufgaben wurden dann auch in den wenigen bisherigen Untersuchungen zu prädiagnostischen Mitteilungen identifiziert (Kap. 2.4). Darin wird deutlich, dass prädiagnostische Mitteilungen spezifische sprachlich-interaktive Eigenschaften aufweisen, die sie zu einem Aktivitätstyp sui generis machen. Diese Eigenschaften können vor allem hinsichtlich der gesprächslokalen Platzierung, der Inhalte und Formulierungsweise und des spezifischen Adressatenzuschnitts⁶ charakterisiert werden. Die eigene Untersuchung beginnt mit einer Einzelfallanalyse, anhand derer die wesentlichen Eigenschaften exemplarisch identifiziert werden können (Kap. 3). Auf dieser Basis wird dann ein Untersuchungsfahrplan entworfen, der die verschiedenen Aspekte prädiagnostischer Mitteilungen systematisch erfassbar macht. Die systematische Analyse wird dann in Kap. 4. begonnen. Darin geht es zunächst um die medizinischen Inhalte (4.1), daran anschließend werden spezifische linguistische Merkmale wie Äußerungsmodus, pragmatische Funktionen und Modalisierung beschrieben (Kap. 4.2). Die Analyse der linguistischen Eigenschaften macht darauf aufmerksam, dass prädiagnostische Mitteilungen viele Verweise auf kognitive Ausdrücke und Prozesse enthalten, wie die Verwendung epistemischer und Sinnesausdrücke oder Verweise auf Kategorien, Konzepte und logische Operationen. Dies wird dann in Kap. 5. untersucht. Schließlich werden dann auch noch interaktive Eigenschaften prädiagnostischer Mitteilungen in den Blick genommen und Platzierung und Initiative, wie auch Patientenreaktionen darauf und arztseitige Folgehandlungen analysiert (Kap. 6). Die systematischen Analysen bilden dann die Grundlage für die Untersuchung interaktiver Funktionen prädiagnostischer Mitteilungen (Kap. 7). Diese Untersuchung geschieht anhand ausgewählter Fallanalysen, bei denen gezeigt werden kann, welche Funktionen prädiagnostische Mitteilungen bei der Exploration komplexer und unklarer Beschwerdenbilder haben (Kap. 7.1), wie mit Hilfe prädiagnostischer Mitteilungen Patienten zu einem Perspektivenwechsel weg von einer somatischen hin zu einer psychosomatischen Perspektive bewegt werden (Kap. 7.2) und wie ein Arzt durch den Einsatz prädiagnostischer Mitteilungen möglicherweise verlorengegangenes Vertrauen wiederzugewinnen versucht (Kap. 7.3). Die verschieden gelagerten Fälle werden dann noch hinsichtlich der Funktionen prädiagnostischer Mitteilungen vergleichend untersucht (7.4). Die Schlussdiskussion (Kap. 8) bündelt die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal im Gesamtzusammenhang, entwirft auf dieser Basis Desiderata der

6 engl. recipient design; siehe dazu die Ausführungen in Kap. 2.2.

4 

 Einleitung und Überblick

weiteren Forschung und skizziert auch Forschungsbereiche, die über den Zusammenhang ärztlicher Gespräche mit Patienten hinausweisen. Noch ein Wort zu den verwendeten Gesprächen und Gesprächsausschnitten. Sie sind so gewählt, dass sie für den Leser immer auch den Gesprächszusammenhang erkennbar machen. Aus diesem Grund werden viele Gesprächsausschnitte mehrfach verwendet, wenn das jeweils interessierende Phänomen darin paradigmatisch erscheint. Insbesondere Ausschnitte aus dem in Kap. 3 analysierten Gespräch erscheinen häufig, weil darin eben viele Aspekte deutlich zutage treten und der Kontext dem Leser nach und nach vertrauter wird. Nichtsdestotrotz sind an der einen oder anderen Stelle auch singulär vorkommende Gesprächsausschnitte verwendet worden, wenn sie das jeweilige Phänomen besonders deutlich und verständlich machen.

2 Forschungszusammenhang 2.1 Die Voraussetzungen – Individuen in unterschiedlichen Welten In Gesprächen zwischen Arzt und Patient begegnen sich nicht nur zwei Individuen, sondern auch zwei „Welten“, die durch eine ganze Reihe von Unterschieden gekennzeichnet sind. Während der Patient, als Laie,⁷ im Allgemeinen über alltagsweltliche Erfahrungen und Kenntnisse verfügt, wird der Arzt von diesem als Experte aufgesucht, der qua beruflicher Sozialisation und institutioneller Anbindung⁸ zu professionellem Handeln legitimiert ist. Dieser soll dann die vom Patienten selbst mit alltagsweltlichen Mitteln nicht mehr bewältigbaren Beschwerden kompetent behandeln. Gespräche zwischen Arzt und Patient gelten demnach als Experten-Laien-Kommunikation mit komplementären Gesprächsrollen, die mit unterschiedlichen und einander ergänzenden interaktiven Handlungsaufgaben und -rechten verknüpft sind (Brünner 2005 und 2009, Brünner/Gülich 2001, Gülich 1999). Die Expertenrolle erzeugt dabei, jedenfalls im Bewusstsein von Patienten, häufig Verstehens- und Verständigungsprobleme, wenn beispielsweise Fachsprachlichkeit dem Patienten den gedanklichen Zugang erschwert oder gar verhindert (Lalouschek/Nowak 1989), oder wenn die Durchführung eines Gesprächs aus zeitökonomischen und praxisorganisatorischen Gründen beschränkt ist und Erläuterungen daher nicht in ausreichendem Maße gegeben werden können. Mit der Experten-Laien-Konstellation hängen dann auch Unterschiede der Wissens- und Wahrnehmungswelten zusammen. Während Patienten die voice of the life-world verkörpern, können Ärzte als Vertreter der voice of medicine charakterisiert werden (Mishler 1984; vgl. dazu auch Menz/Lalouschek 2008). Dabei trifft das subjektive und alltagsweltlich organisierte Wissen des Patienten über Körper, Krankheit und Gesundheit auf das professionelle, medizinisch-kategoriale Wissen des Arztes. Das so unterschiedlich organisierte und in Teilen oft auch

7 Ich sehe hier ab von professionellen oder semi-professionellen Patienten wie beispielsweise chronische Patienten, die selbst größere medizinische Kenntnisse mitbringen; siehe dazu aber Lalouschek 2005. 8 Zu den hier nur kurz dargestellten Merkmalen asymmetrischer Kommunikation in ärztlichen Gesprächen mit Patienten wie auch zu den sozialisatorischen und institutionellen Hintergründen und Einflüssen siehe ausführlich Spranz-Fogasy 2010.

6 

 Forschungszusammenhang

konkurrierende⁹ Wissen muss dann im Gespräch in für die medizinischen Handlungszwecke ausreichendem Maße abgeglichen werden. Teile der differierenden Wissensbestände müssen dafür verbalisiert und interaktiv und kognitiv bearbeitet werden. Der Wissenstransfer verläuft dabei in beide Richtungen: Der Patient stellt sein subjektives beschwerdenbezogenes Wissen dar und der Arzt wendet darauf sein medizin-systematisches Wissen an, um diagnostisch das Krankheitsbild zu ermitteln und therapeutisch handeln zu können, wobei er ihm relevant erscheinende Teile seines Expertenwissens bei der Beschwerdenexploration und der körperlichen Untersuchung sowie bei der Diagnosemitteilung und Therapieentwicklung an den Patienten vermittelt (Brünner 2005). Die Verständigung ist dabei abhängig davon, wie es Arzt und Patient gelingt, ihr jeweiliges Wissen angemessen zu strukturieren und zu formulieren. Ein weiterer Aspekt betrifft die Differenz in der affektiven Haltung zu den Beschwerden des Patienten. Die konkreten Krankheitserfahrungen des Patienten sind vielfach mit Einschränkung, Schmerz und Leid verbunden, die mit persönlicher Betroffenheit im Sinne emotionaler Belastung einhergehen und psychische, soziale und oft auch ökonomische Konsequenzen für ihn haben (Del Piccolo et al. 2000, Deppermann 2007, Fiehler 2005, Heritage/Lindström 2012). Hinzu kommt, dass viele Erkrankungen mit heiklen oder gar tabuisierten Themen verknüpft sind, die eine offene Schilderung oder die Akzeptanz ärztlicher Einschätzungen erschweren. Dem gegenüber steht die professionelle und professionell-distanzierte Haltung des Arztes, für den die subjektiv-emotionalen Aspekte des Krankheitsgeschehens auf Seiten des Patienten eher Bestandteil der medizinischkategorialen Verarbeitung sind bzw. sein können (Heritage/Lindström 2012, Menz/Lalouschek 2008, Spranz-Fogasy 2010). Insbesondere im Hinblick auf die konfligierenden Potenziale affektiver Haltungen ist die Herstellung von Vertrauen als Basis eines guten therapeutischen Bündnisses daher eine wichtige, aber stets gefährdete Gesprächsaufgabe. Hinzu kommen in diesem Zusammenhang auch Unterschiede in motivationaler Hinsicht: Der Patient sucht Heilung oder Linderung seiner Beschwerden, während der Arzt neben professioneller Hilfestellung auch ökonomische Interessen im Blick hat.¹⁰

9 Patienten bringen in Gespräche mit Ärzten explizite oder implizite Vorstellungen über die Genese ihrer Erkrankung mit, die oft zu einer subjektiven Krankheitstheorie verdichtet sind. Diese Vorstellungen prägen ihre Darstellungen, aber auch ihr Verständnis ärztlicher Äußerungen und des gemeinsam organisierten Interaktionsprozesses insgesamt, oft eben auch in Konkurrenz zu ätiologischen und diagnostischen Annahmen des Arztes. Zu Struktur und interaktiven Auswirkungen subjektiver Krankheitstheorien siehe Birkner 2006, Birkner/Burbaum 2013. 10 Den ökonomisch und effektivitätsorientierten Blick von Ärzten auf ihre Gesprächsführung zeigt die Untersuchung von Koch et al. 2007.

Verstehen im ärztlichen Gespräch 

 7

Schließlich ist noch eine weitere Asymmetrie im Gespräch zwischen Arzt und Patient von Bedeutung: Was für den Arzt ein Routinegeschehen seines beruflichen Alltags mit teilweise institutionell geregelten Anforderungen darstellt, ist für die meisten Patienten in Hinsicht auf interaktive Aufgaben, Erwartungen und Abläufe ein singuläres Ereignis. Nicht nur aus diesem Grund, sondern auch aus den oben ausgeführten asymmetrischen Konstellationsmerkmalen heraus, übernimmt der Arzt daher auch eine größere Verantwortung für die Durchführung des Gesprächs und beansprucht erhöhte Durchführungsrechte. Die unterschiedlichen Voraussetzungen von Arzt und Patient machen deutlich, dass eine zentrale Anforderung ihrer Kommunikation darin besteht, sich relevante Anteile der unterschiedlichen „Welten“ zu verdeutlichen, sich verständlich auszudrücken, sich gegenseitig zu verstehen suchen, Verstehen zu signalisieren und sich gegenseitig in diesem Prozess zu unterstützen (siehe u. a. Heritage 2009, 2010, Heritage/Maynard 2006 a, b, Maynard 2003, Neises et al. 2005, Spranz-Fogasy 2010). Diese Aufgabenstellungen bearbeiten prädiagnostische Mitteilungen in besonderer Weise: Sie sind Versprachlichungen von Verstehensleistungen und -prozessen bzgl. Schilderungen des Patienten wie auch von Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozessen des Arztes im Vollzug der Exploration. Mit ihrer Eigenschaft als „prä“-diagnostisch verweisen sie zugleich darauf, Mitteilungen im Verstehensprozess auf eine Diagnose hin zu sein. Ihre Analyse lässt demnach auch Aufklärung über ärztliche Hypothesenbildungsprozesse, ihre interaktive Herstellung sowie die interaktive Konstitution und Entwicklung von Verstehensprozessen selbst erwarten.

2.2 Verstehen im ärztlichen Gespräch Prozesse des Verstehens vollziehen sich in Gesprächen nicht nur still „in den Köpfen“ der Beteiligten, sondern werden von ihnen auch durch verbale und andere symbolische Ausdrucksmittel¹¹ aufgezeigt und im Interaktionsprozess abgestimmt. Praktiken der Verstehenssicherung, also Verstehensanweisungen und -dokumentation, sind breit gestreut und in allen Dimensionen und auf allen Ebenen von Interaktion virulent.¹² Sie bilden die Grundlage dafür, dass Gesprächsteilnehmer Themen und Handlungsaufgaben interaktiv etablieren

11 Untersuchungen zur interaktiven Verstehensarbeit mit multimodalen Ausdrucksmitteln finden sich u. a. in Deppermann 2013 a und b, Schmitt 2010. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich aufgrund der Datenlage auf die Analyse der verbalen Modalität (siehe Kap. 2.5). 12 Deppermann/Helmer 2013.

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 Forschungszusammenhang

und Handlungsziele gemeinsam verfolgen können. Neben semantischen Eigenschaften der Ausdruckswahl haben dabei auch sozialstrukturelle, interaktionstypologische und sequenzielle Aspekte wichtige Funktionen. So bestimmen in ärztlichen Gesprächen mit Patienten schon die räumlichen, zeitlichen und situativen Gegebenheiten wie auch die soziale Rolle des Arztberufs oder die Kassenzugehörigkeit des Patienten als institutionalisierte Vorbedingungen mit, welcher Aufwand zur gegenseitigen Verständigungssicherung betrieben wird bzw. hindern beispielsweise Patienten daran, Nachfragen zu stellen¹³ oder ausführlichere Erläuterungen einzufordern. Die institutionelle Vorsorge für die Vertraulichkeit ärztlicher Gespräche durch abgeschlossene Behandlungsräume oder durch die ärztliche Schweigepflicht ermöglicht maximale Offenheit der Beteiligten beispielsweise bei der Schilderung von Beschwerden oder bei der Mitteilung heikler Diagnosen und damit maximale Information für ein umfassenderes wechselseitiges Verstehen.¹⁴ Interaktionstypologische Einflüsse bestehen u. a. darin, der Handlungsrationale eines Gesprächstyps gemäß die schrittweise geforderten Verstehensvoraussetzungen zu schaffen, um beispielsweise im Arzt-Patient-Gespräch aus der Beschwerdenexploration die Diagnose zu entwickeln oder daraus dann eine gemeinsame Therapieentscheidung treffen zu können. Hier sind dann gerade auch prädiagnostische Mitteilungen als Verstehensanzeigen anzusehen, mit denen der Patient über den Stand der Erkenntnisermittlung informiert und eine Diagnose iterativ zu erreichen gesucht wird. Oder es ergeben sich schon durch bestimmte Beteiligungskonstellationen besondere Probleme, Verstehensvoraussetzungen zu schaffen, wenn z. B. in gedolmetschten oder in pädiatrischen Gesprächen unter Beteiligung von Dolmetschern oder Eltern epistemische Zuständigkeiten ermittelt werden müssen bzw. das Ausbleiben einer solchen Ermittlung fehlerhafte oder gar falsche Beschwerdendarstellungen erzeugt.¹⁵ Generell ist mit der Herstellung eines spezifischen Interaktionstyps ärztlicher Gespräche mit Patienten auch die Herstellung einer ganzen Reihe von Verstehensvoraussetzungen verbunden. So konstituiert die Rollenverteilung jeweils spezifische Aufgabenstellungen der Gesprächsorganisation wie die Verteilung der Rederechte, der Darstellung beschwerdenrelevanter Sachverhalte als subjek-

13 Praktiken der Verhinderung oder Förderung von Nachfragen beschreiben Heritage et al. 2007 für das Englische mit der Differenz von some und any. 14 Zur Diskussion sozialstruktureller Grundlagen ärztlicher Gespräche als Verstehensressourcen siehe ausführlich Spranz-Fogasy 2010. 15 Zu solchen und anderen Problemen in gedolmetschten Gesprächen siehe Menz 2013, Creeze 2013, Meyer 2004, zu pädiatrischen Gesprächen siehe Stivers 2007, Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013.

Verstehen im ärztlichen Gespräch 

 9

tives Beschwerdenwissen seitens des Patienten sowie als medizin-systematisches Wissen seitens des Arztes, oder Aufgaben des Handlungsvollzugs wie die der systematischen Exploration von Beschwerden durch den Arzt und die dazu komplementären Aktivitäten des Patienten. Das Wissen über diese Aufgabenstellungen macht die jeweils im Gespräch vollzogenen Aktivitäten für die Beteiligten vor eben diesem Hintergrund interpretierbar und damit im Zusammenhang verstehbar. Auch die Typisierung der zu verhandelnden Inhalte¹⁶ im ärztlichen Gespräch als krankheitswertige Beschwerden ermöglicht den Beteiligten eine dadurch gesteuerte Sammlung, Einordnung und Interpretation einzelner Sachverhalte und ihres Zusammenhangs, wie auch das Verstehen der Mitteilung einer Diagnose und nachfolgend der von Therapievorschlägen oder Verordnungen bereits vor dem Hintergrund typisierten Wissens erfolgt. Auch die Gesprächen inhärente Sequenzialität¹⁷ ist in wesentlichen Hinsichten mit Aufgaben der Verständigungssicherung verknüpft. Gesprächsteilnehmer formulieren ihre Beiträge mit Blick darauf, wie sie von ihren Gesprächspartnern am besten verstanden werden können,¹⁸ sie reagieren mit verstehensdokumentarischen Praktiken wie beispielsweise Rezeptionssignalen, komplementärer Äußerungstypik (wie Antworten auf Fragen) oder semantischer Passung zu Beiträgen anderer oder sie bewerten, jedoch meist implizit, Reaktionen ihrer Gesprächspartner auf ihre Initiativen in einem dritten Sequenzschritt (Schegloff 1997). Wie weit sequenzorganisatorische constraints in Gesprächen reichen können, demonstriert Schegloff (1990) in einer Untersuchung zu interaktiver Kohärenz. Er führt aus, wie der Bitte um einen Gefallen – die Ausleihe einer gun –, die sehr früh im Gespräch erfolgt, vom Gesprächspartner erst sehr viel später¹⁹ entsprochen wird – nachdem ausführlich Vorläuferereignisse der Bitte erörtert und Bedingungen der möglichen Ausleihe geklärt sind. Schegloff zeigt, dass die Bitte über den gesamten Zeitraum der Aushandlung wirksam bleibt und die darin realisierten Aktivitäten wie auch die verhandelten Sachverhalte dabei stets auch auf die Bitte bezogen bleiben. Die Sequenzstruktur dient während der gesamten Aushandlung als übergreifend wirksamer Orientierungspunkt jeweiliger interaktiver Handlun-

16 Zur Typisierung von Sachverhalten siehe allgemein Kallmeyer/Schütze 1977, für die Charakterisierung als „Problem“ im Zusammenhang von Beraten Nothdurft 1984. Für den Zusammenhang von Beschwerdenschilderungen siehe Nothdurft 1986. 17 Siehe dazu die Ausführungen zu Grundeigenschaften von Interaktion in Deppermann 1999. Zur sequenziellen Organisation von Interaktion allgemein siehe Gruber 2001, Schegloff 2007, Stivers 2013. 18 Zum recipient design von Äußerungen siehe u. a. Sacks/Schegloff 1979, Clark 1992, Maynard 1991a, Fischer 2011. 19 Nach ca. 80 Transkriptzeilen; Zeitangaben werden von Schegloff nicht genannt.

10 

 Forschungszusammenhang

gen und damit als Verstehensfolie, auch wenn einzelne thematische Abschnitte für sich stehen könnten, aber eben funktional für die Klärung von Vorbedingungen zur Erfüllung der Bitte sind.²⁰ Sequenzstruktur wie die damit verbundene Verstehens-„Arbeit“ der Beteiligten sind dabei den Handlungszwecken subsidiär, aber eben auch notwendig zu deren interaktiver Bearbeitung. Sequenzielle Einflüsse auf die interaktive Arbeit von Gesprächsteilnehmern zum gegenseitigen Verstehen sind jedoch zumeist lokaler organisiert. Initiative Aktivitäten konstituieren dabei einen sequenziellen Zusammenhang, der neben inhaltlichen Vorgaben auch Verstehensanweisungen beinhaltet und zugleich konditionelle Relevanzen und Präferenzen²¹ erkennbar macht (die ihrerseits auch schon Verstehensanweisungen sind). Nachfolgende, darauf bezogene Aktivitäten zeigen an, wie inhaltliche Vorgaben, Relevanzen und Präferenzen verstanden wurden und stellen damit selbst wiederum Vorgaben für die folgenden Beiträge her. So bilden auch beispielsweise Fragen einen sequenziellen Kontext aus, in dem Verstehen sichtbar gemacht wird und Antworten erwartbar werden. Dabei dokumentieren Fragen nicht nur, was noch nicht verstanden wurde, sondern auch, aber in unterschiedlichem Grad, was schon als bekannt gilt. Im ärztlichen Gespräch sind Fragen vor allem in der Phase der Beschwerdenexploration virulent (Heritage 2010). Hier muss der Arzt Schilderungen des Patienten nachvollziehen, Unklarheiten beseitigen, Elemente des Beschwerdengeschehens elizitieren und absichern. Fragen sind in dieser Phase das zentrale Arbeitsinstrument des Arztes. Fragen sind dabei aber nicht nur qua konditionellen Relevanzen und Präferenzen initiativ-projektiv, sondern enthalten auch wesentliche retrospektive Eigenschaften: Sie präsupponieren (Boyd/Heritage 2006) und dokumentieren bereits Verstandenes, kommentieren und bewerten es und sind damit Stellungnahmen zu ihren jeweiligen Bezugsäußerungen (Spranz-Fogasy 2010, Deppermann/Spranz-Fogasy 2011). In Bezug auf die zentralen syntaktisch definierten Fragetypen: w-Fragen, syntaktische Fragen (Verberststellungs-Fragen) und Deklarativsatzfragen lässt sich gar – in dieser Reihenfolge – ein stufenweise

20 Zu lang anhaltenden sequenziellen ‘constraints’ von ‘first pair parts’, die eine starke konditionelle Relevanz etablieren, siehe auch das Beispiel der Argumentationssequenz in Spranz-Fogasy 2003. 21 Zum Konzept der Präferenzorganisation siehe Pomerantz/Heritage 2013.

Verstehen im ärztlichen Gespräch 

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höheres Maß an Verstehen identifizieren.²² Bei w-Fragen, die mit Interrogativadverbien (z. B. warum, wohin) oder Interrogativpronomen (z. B. wer, was) eingeleitet werden, ist dem Fragesteller der Redegegenstand als solcher bekannt, er erfragt dann dazu kategoriales Wissen, das mit den w-Wörtern benannt ist.²³ Syntaktische Fragen setzen ebenfalls den Redegegenstand als bekannt und gegeben voraus und implizieren auch ausreichende Bekanntheit relevanten kategorialen Wissens. Sie formulieren dazu eine alternative Proposition, die der Gesprächspartner dann entscheiden soll. In ihrer Formulierung schwingt dabei aber auch schon, gemäß dem Progressivitätsprinzip von interaktiven Handlungen,²⁴ eine Präferenz des Fragestellers für die Antwort mit, z. B. je nachdem, ob die Frage positiv oder negativ formuliert wird (Raymond 2003, 2010, Heritage et al. 2007). w-Fragen und syntaktische Fragen liefern dabei dem Gesprächspartner durch w-Wort und Verberststellung schon mit ihrem Beginn die Verstehensanweisung, dass die Äußerung als Frage verstanden werden soll. Anders sieht dies aus bei Deklarativsatzfragen. Deklarativsatzfragen sind Fragen im Behauptungsmodus, die durch paraverbale, multimodale und/oder kontextuelle Einbettung als Fragen formatiert werden (Heritage 2010, SpranzFogasy 2010). In Deklarativsatzfragen werden dabei seitens des Fragenden Redegegenstand, kategoriales Wissen und eine affirmative Stellungnahme des Fragenden zur Proposition mitgeteilt. Damit sucht der Fragende dann von seinem Gesprächspartner eine Bestätigung seiner Einschätzung einzuholen und so sein Verständnis abzusichern. Während w-Fragen und syntaktische Fragen eine klare Handlungscharakteristik besitzen,²⁵ bestehen bei Deklarativsatzfragen fließende Übergänge zu Behauptungen resp. Mitteilungen. Dies macht es häufig auch für die Gesprächspartner schwer, den Handlungscharakter zu erkennen und entsprechend zu reagieren. Das folgende Beispiel zeigt eine solche kurze Konfusion:

22 Dazu ausführlicher Spranz-Fogasy 2010. Auch Heritage hat in verschiedenen Vorträgen und Publikationen den Anstieg des Wissens in diesen drei Fragetypen beschrieben; siehe Heritage 2010, 2012, auch Heritage/Clayman 2010. 23 w-Wörter dieser Art verweisen auf Kategorien im Aristotelischen Sinne (siehe Aristoteles 1998). 24 Das Prinzip der Progressivität behauptet eine Präferenz für den Vollzug interaktiver Handlungen, die dem gemeinsamen Handlungszweck dienen; siehe dazu Stivers/Robinson 2006, Heritage 2007, Schegloff 2007, Deppermann 2008. 25 Abgesehen von ihrer Verwendung in rhetorischen Fragen.

12 

 Forschungszusammenhang

#1 AA_BI_03 (00:45–00:51)²⁶ 1 2 3 4

AE: ja aber hoffentlich hängt das nicht damit zusammen [nich die hat ] zweimal hier reingehackt [nich] PA: [ja also sie hat] [nein] das (0.15) das bin ich gewesen

Die Patientin behandelt hier die Äußerung der Ärztin in Zeile 1 als Deklarativsatzfrage und beginnt mit einer Antwort (ja also sie hat; Zeile 3), während die Ärztin simultan fortfährt und ihre Äußerung dadurch als (prädiagnostische) Mitteilung ihrer Befürchtungen qualifiziert. An diese Äußerung schließt sie dann eine Deklarativsatzfrage an, die von beiden als solche behandelt wird: Die Ärztin überlässt der Patienten den Slot für eine Antwort, und die Patientin antwortet mit einem Widerspruch. In anderen Gesprächszusammenhängen zeigt sich auch, dass die Ambivalenz der Handlungscharakteristik von Deklarativsatz/-Fragen durchaus funktional genutzt werden kann, um es dem Gesprächspartner zu überlassen, ob er eine Äußerung als Frage oder als Behauptung/Mitteilung verstehen möchte. In ärztlichen Gesprächen können damit beispielsweise auf relativ unaufwändige Weise heikle Themen angesprochen werden, und der Patient entscheidet, wie er darauf eingehen möchte.²⁷ Auch in den späteren Analysen prädiagnostischer Mitteilungen wird sich zeigen, dass eine eindeutige Lesart nicht immer festgestellt werden kann und auch von den Gesprächsbeteiligten nicht festgelegt wird bzw. werden muss. In Antworten auf Fragen zeigen Gesprächsteilnehmer zunächst einmal an, dass die Bezugsäußerung als Frage verstanden wurde.²⁸ In einem weiteren Schritt entscheidet sich dann, ob der Antwortende Typ-konform reagiert, ob er also beispielsweise auf eine ja/nein-Frage eine entsprechende Antwort liefert (Raymond 2003, 2010).²⁹ Darüber hinaus zeigen aber viele Antworten, dass in ihnen weit mehr bearbeitet wird, als durch die jeweilige Frage im literalen Sinne gefordert

26 Die Gesprächsausschnitte wurden gemäß den Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems GAT2 verschriftlicht. Eine Tabelle der Konventionen befindet sich im Anhang. 27 Vergleiche dazu vor allem die Analysen explikativer Deklarativsatzfragen in Spranz-Fogasy 2010. 28 Wobei auch denkbar ist und in strategischer Verwendung so auch genutzt wird, dass andere Äußerungsformate retrospektiv in Fragen umdefiniert werden. 29 Dabei muss aber darauf hingewiesen werden, dass es nicht immer Sinn macht, Typ-konform zu antworten – so ist die Äußerung „Haben Sie eine Uhr?“ zwar der syntaktischen Struktur nach eine Frage, pragmatisch aber als Aufforderung, die Uhrzeit zu nennen, zu verstehen.

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wird. Gerade bei ja/nein-Fragen zeigt sich oft, dass zwar zunächst Typ-konform reagiert wird, dies aber vom Antwortenden nicht als ausreichend angesehen wird und er mit Expansionen fortfährt. Generell zeigen die meisten Antworten von Patienten in Arzt-Patient-Gesprächen, dass Patienten über den Rahmen der Frage hinaus antworten und schon antizipatorisch reagieren.³⁰ Der Antwortüberschuss, denn auch schon Stivers/Heritage (2001)³¹ festgestellt haben, ist dabei verschiedenen Verstehensebenen geschuldet. Das folgende Beispiel zeigt eine ganze Reihe Antwort-überschießender Elemente auf verschiedenen Ebenen: #2 AA_BI_03 (00:19–00:26) 1 2 3 4 5

PA: und das is als ob hier ein (0.1) ne nadel oder irgendwas drin wär (1.0) AE: ham se n unfall gehabt PA: n überhaupt nichts passiert PA: [in letzter zeit ]

Hier hatte die Patientin zuvor ihre Beschwerden geschildert, wobei sie deutlich gemacht hatte, dass sie in Bezug auf die Beschwerden ratlos sei, unter anderem durch Verwendung von Vergleichen (statt einer faktizistischen Darstellung) oder durch Indefinitpronomina wie in Zeilen 1 und 2 zu sehen. Die Ärztin stellt daraufhin eine (syntaktische) Frage, in der sie eine aus ihrer Sicht mögliche bzw. wahrscheinliche Ursache der Beschwerden erfragt. Die Antwort der Patientin darauf ist vielschichtig: Auf der inhaltlichen Ebene wird beispielsweise der Präsupposition eines externen Ursachenereignisses, die die Patientin wahrnimmt (oder ihrerseits selbst dem Arzt unterstellt), explizit widersprochen und zwar qua Expansion auf alle möglichen externen Geschehnisse: überhaupt nichts passiert (Zeile 4). Solche Expansionen (aber auch Präzisierungen resp. Verengungen) des Frageskopus sind auch sonst regelmäßige Bestandteile von Patientenantworten. Die auch in der Formulierungsweise überschießende Antwort ist dabei als extreme case formulation (Pomerantz 1986) anzusehen, mit der Gesprächsteilnehmer besondere Relevanzen markieren. Pomerantz betont unter anderem deren Funktion als „claim legitimizing“; im Beispielfall macht die Patientin – auf

30 In meiner Auswertung von Antworten auf 535 Fragen werden ca. 70% ausführlicher bearbeitet, als die Fragen im buchstäblichen Sinne erwartbar machten (Spranz-Fogasy 2010). 31 Stivers und Heritage machen darauf aufmerksam, dass Patienten in längeren Antworten life world narratives mitteilen, die sie aufgrund der ärztlichen Fragen für berichtenswert halten, die aber von Ärzten häufig als der Verbosität der Patienten geschuldet und daher wenig relevant behandelt werden. Sie fordern in ihrer Untersuchung, solche life world narratives stärker zu beachten, da sie wichtige krankheitsrelevante Informationen enthalten.

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der Ebene der Identitäts- und Beziehungskonstitution³² – deutlich, dass sie in ihrer Beschwerdenschilderung nicht versäumt hat, ein relevantes Ereignis zu berichten und weist die damit verbundene bzw. die ihrerseits der Ärztin unterstellte Kritik an ihrer voraufgegangenen Beschwerdenschilderung zurück. Die Patientin bearbeitet in ihrer Antwort zudem auch noch interaktionstypologische und sequenzorganisatorische Aspekte. Im zweiten Teil³³ ihrer Antwort, in letzter zeit (Zeile 5), berücksichtigt sie ärztliche Relevanzen, hier dann die Bedeutsamkeit von zeitlichen Aspekten von Beschwerdenereignissen (Auftreten, Verlauf). Und sie nimmt damit eine mögliche bzw. wahrscheinliche next-turn-question vorweg, die sie proaktiv und antizipatorisch schon beantwortet. In anderen Fällen antizipatorischer Antworten berücksichtigen Patienten auch oft einen weiteren retrograden Kontext und nutzen damit den sequenzorganisatorisch konstituierten Rahmen oder sie liefern accounts³⁴ für ihre dispräferierten Antworten (Spranz-Fogasy 2010). Die Fülle an überschießenden, oft antizipatorischen Antworten zeigt, dass es eine Default-Erwartung für elaborierte Antworten im Sinne des Kooperationsprinzips (Grice 1993) gibt. Insbesondere Patienten beziehungsweise Rat- und Hilfesuchende generell sind in höherem Maße kooperativ, da sie ja Hilfestellung suchen, und umgekehrt erwarten auch Ärzte und andere professionelle Helfer gerade diese Kooperationsbereitschaft.³⁵ Unter Gesichtspunkten der Verstehensorganisation sind aber auch die deutlich selteneren knappen Antworten interessant (Spranz-Fogasy 2010). So reflektieren solche knappen Antworten durchaus auch ein Verständnis situativer Bedingungen, wenn Patienten beispielsweise erkennen, dass der Arzt einen Interview-Leitfaden abarbeitet und deshalb kurze Antworten präferiert. Andere knappe Reaktionen auf seine Fragen kann der Arzt dann seinerseits diagnostisch nutzen, wenn Patienten z. B. heikle Themen mit Kritikpotenzial (wie Alkoholoder Drogenkonsum) meiden. Im (bio-)medizinischen Kontext finden sich kurze Antworten beispielsweise auch oft bei Versuchen des Arztes, mit Fragen psychosomatische Hintergründe zu ermitteln. Hier ziehen sich Patienten dann oft auf Antworten im Sinne Typ-konformer Reaktionen zurück (Raymond 2003, 2010).

32 Mit der Ebenendifferenzierung folge ich dem Modell der Interaktionskonstitutionstheorie sensu Kallmeyer und Schütze; siehe Kallmeyer 2005. 33 Eigentlich der dritte: Hier nicht behandelt habe ich den Ansatz zu einer Typ-konformen Antwort mit n (= „nein“) in Zeile 4. Dies macht deutlich, dass Gesprächsteilnehmer eine Orientierung am Fragetyp selbst haben, diese aber zugunsten eigener Relevanzen auch suspendieren, in diesem Falle sogar korrigieren können. 34 Zum ethnomethodologischen Konzept von accounts siehe Garfinkel 1967, Antaki 1994. 35 Siehe dazu Graf et al. (i.Dr.).

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Die hier nur kursorisch darstellbaren verstehensbezogenen Leistungen interaktiver Handlungen dokumentieren nicht nur die Vielfalt von Verstehensphänomenen. Sie machen auch deutlich, dass es sich bei Verstehen um ein ubiquitäres Interaktionsphänomen handelt, das auf allen Ebenen, in allen Modalitäten und in allen interaktiven Handlungen relevant ist.³⁶ Verstehen kann daher nicht mehr nur – wenn überhaupt – als psychisches Phänomen erfassbar gemacht werden, sondern ist empirisch in der Art und Weise greifbar, wie Gesprächsteilnehmer anzeigen, wie sie eigene Beiträge verstanden wissen wollen, wie sie Beiträge anderer verstehen und wie dies „in sozialen und linguistischen Prozessen der Verstehensdokumentation, -bearbeitung und -absicherung“ (Deppermann/ Schmitt 2009:222) interaktiv sichtbar gemacht wird. Verstehen ist dabei zentral für die Herausbildung von Intersubjektivität, die für die Verfolgung gemeinsamer Handlungsziele und die Koordination³⁷ interaktiven Handelns notwendig ist. Im ärztlichen Gespräch ist die Bearbeitung von Aufgaben der Verstehensdokumentation und -sicherung in besonderem Maße bedeutsam, da unterschiedliche Wissenswelten der voice of the life-world und der voice of medicine (vgl. Kap. 2.1) abgeglichen werden müssen. Der dazu notwendige, permanente und enge Verstehensabgleich wird im ärztlichen Gespräch mit typischen Aktivitäten des Fragens, Antwortens und später mit Vorschlägen oder Verordnungen des Arztes und entsprechenden Reaktionen seitens der Patienten (wie Prüfung oder Akzeptanz) geleistet. Im Verlauf des Explorationsprozesses muss der Arzt aber nicht nur aktiv Informationen erheben, sondern dann auch festhalten, was er verstanden hat, weiterführende Aktivitäten danach ausrichten, dem Patienten Hinweise geben, was er tut, ihn gegebenenfalls über Befunde und Beobachtungen informieren und Zusammenhänge zwischen verschiedenen Beschwerdenaspekten herstellen. Diese Aufgabenstellungen werden dann mit prädiagnostischen Mitteilungen bearbeitet. Um deren Inhalte, Formen und Funktionen im Kontext ärztlicher Gespräche bestimmen zu können, soll zunächst der allgemeine Handlungsrahmen solcher Gespräche und der gegenwärtige Forschungsstand zu prädiagnostischen Äußerungen dargestellt werden.

36 Zur Vielfalt von Verstehensphänomenen siehe die Arbeiten aus dem Forschungsprojekt „Verstehen im Gespräch“ des Instituts für Deutsche Sprache (Mannheim); siehe http://www1. ids-mannheim.de/prag/verstehen.html 37 Siehe Schmitt 2007.

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2.3 Der Handlungsrahmen ärztlicher Gespräche So gut wie alle Untersuchungen zu sprachlich-interaktiven Aspekten von ArztPatient-Gesprächen nehmen explizit oder implizit Bezug zu einem Phasenmodell des ärztlichen Erstgesprächs, um einen Handlungsrahmen aufzuspannen, in dem die jeweils interessierenden Phänomene verortet und in ihrer Funktionalität bestimmt werden können.³⁸ Ein Bezugspunkt dafür ist das medizinische Standardmodell der Konsultation, das in medizinischer Terminologie den typischen vierstufigen Ablauf mit den Komponenten Beschwerdenexploration, (körperliche) Untersuchung, Diagnose und Therapie/Behandlung beschreibt.³⁹ Byrne und Long (1976) haben dann auf der Basis der Untersuchung von 2500 ärztlichen Gesprächen ein Ablaufmodell chronologisch funktionaler Gesprächsphasen entwickelt. Dafür haben sie Modelle allgemeiner Beratungsgespräche einbezogen, die neben der Aufgabenorganisation auch gesprächs- und beziehungsorganisatorische Aspekte berücksichtigen. Die Vermischung verschiedener Ebenen aus unterschiedlichen theoretischen Modellierungen mit ihren eigenen empirischen Ergebnissen führt jedoch zu einer eher heterogenen und nicht spezifisch interaktionsanalytisch fundierten Modellbildung. Dennoch knüpfen praktisch alle Untersuchungen aus dem angelsächsischen Raum fraglos an dieses Modell an.⁴⁰ Auch die im deutschsprachigen Raum entwickelten Modelle ärztlicher Gespräche fokussieren als drei Kernelemente die Beschwerdenexploration (inklusive körperlicher Untersuchung), die Diagnosestellung resp. -mitteilung und die Therapieplanung.⁴¹ Die nachfolgenden Untersuchungen zu prädiag-

38 Zu den vielfältigen Untersuchungsgegenständen der Analyse ärztlicher Gespräche mit Patienten siehe auch die Bibliografien von ten Have (http://www.paultenhave.nl/medbib.htm; 545 Einträge, Stand: 9. 2. 2013) sowie von Spranz-Fogasy/Becker/Menz/Nowak (http://hypermedia.ids-mannheim.de/pragdb/Literatur_zur_Medizinischen_Kommunikation_Version2014. pdf; 5220 Einträge, Stand: 10. 2. 2014). 39 Siehe Byrne/Long 1976:21; dort lauten die Komponenten history taking, examination, diagnosis und treatment. 40 So orientiert sich die Reihenfolge der Beiträge im state of the art-Band von Heritage und Maynard (2006) expressis verbis am Modell von Byrne und Long. 41 Dies gilt im Wesentlichen auch für die Modellierung als „Hyperpragmem Diagnose/Therapie“, wie sie von Meyer (2004) für anästhesiologische Aufklärungsgespräche im Krankenhaus entwickelt wurde. Ein Hyperpragmem fasst in der Konzeption der funktionalen Pragmatik sensu Ehlich/Rehbein (1972) verschiedene geschachtelte oder gereihte Pragmeme – i. e. über ihre Funktion definierte Handlungseinheiten – eines Handlungsablaufs zusammen. Im genannten Hyperpragmem sind dies die Einheiten ‚Anamnese‘, ‚Verdacht‘, ‚Untersuchung‘, ‚Befund‘, ‚Diagnose‘, ‚Therapievorschlag‘, ‚Therapie‘ und ‚Erfolgskontrolle‘. Die klinische Situation, auf die sich Meyer bezieht, sorgt jedoch dafür, dass die genannten Einheiten oft in einzelnen Gesprächen bearbeitet

Der Handlungsrahmen ärztlicher Gespräche 

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nostischen Mitteilungen beziehen sich auf die Konzeption des handlungsschemaanalytischen Ansatzes (Kallmeyer 1985, 2001, 2005, Kallmeyer/Schütze 1976), um die Untersuchungsphänomene immer auch im Gesamtkontext ärztlicher Gespräche verorten und damit deren jeweilige funktionale Leistungen bestimmen zu können. Bei der Handlungsschemaanalyse werden durch die Analyse systematisch vorkommender Aktivitäten Handlungsschemata ermittelt, die von den Gesprächsteilnehmern selbst in Kraft gesetzt werden. Sie ermöglichen es den Gesprächsteilnehmern (wie auch dem Gesprächsanalytiker), sich im Gespräch zu orientieren und die einzelnen Äußerungen im übergreifenden Handlungszusammenhang zu verorten (Spiegel/Spranz-Fogasy 2001). Ein solches Handlungsschema enthält Vorstellungen – – –

über die konstitutiven Bestandteile (Handlungsschemakomponenten), deren Aufeinanderfolge (Abfolgelogik) und der Zuordnung zu Beteiligungsrollen (Beteiligungsaufgaben).

Es stellt eine komplexe Hierarchie von Aufgaben dar, die von den Gesprächspartnern gemeinsam, nacheinander und im Wechsel zu bewältigen sind. Die Ermittlung eines Handlungsschemas ermöglicht dann die genaue Beschreibung der Variation und Funktion des kommunikativen Handelns auch ganz unterschiedlicher Gespräche eines Interaktionstyps. Für den Grundtyp⁴² eines ärztlichen Gesprächs mit Patienten ergibt sich dann ein Handlungsschema mit fünf zentralen Komponenten: – – – – –

Gesprächseröffnung Beschwerdenexploration Diagnosestellung Therapieplanung Gesprächsbeendigung und Verabschiedung

werden und praktisch nie in einem einzigen Gespräch. Zu einer handlungsschemaanalytischen Konzeption anästhesiologischer Aufklärungsgespräche siehe Klüber et al. 2012, Spranz-Fogasy et al. 2012. 42 Zu Kommunikationstypologien des Handlungsbereichs Medizin allgemein siehe Menz/Sator (2011).

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 Forschungszusammenhang

Die Darstellung des Handlungsschemas erfolgt dabei idealtypisch. Das meint nicht, dass dies der ideale Ablauf eines ärztlichen Gesprächs wäre, sondern bezieht sich auf die Häufigkeit und die Handlungslogik des Gesprächstyps. Einzelne Aufgaben des Handlungsschemas können dabei von den Teilnehmern in mehreren Anläufen oder Runden bearbeitet werden, oder es werden bestimmte Teilaufgaben vorgezogen oder zu einem späteren Zeitpunkt in einer anderen Handlungsphase nachgeholt.⁴³ In seiner Metastudie zu Untersuchungen ärztlicher Gespräch ermittelte Nowak (2010) zwar insgesamt neun Gesprächskomponenten. Seine Ergebnisse sind jedoch Resultat einer Abstraktion über viele unterschiedliche Forschungsarbeiten. Die neun Komponenten lassen sich zudem problemlos in das o. a. Handlungsschema integrieren (so ist z. B. die zusätzliche Komponente „körperliche Untersuchung“ aus handlungslogischer Perspektive Bestandteil der Beschwerdenexploration), oder sie stellen Aktivitätstypen dar, die in verschiedenen Abschnitten eines ärztlichen Gesprächs realisiert werden können (beispielsweise die Komponente „Orientierung im Gespräch geben“). Forschungsarbeiten zur ärztlichen Kommunikation mit Patienten sind Legion.⁴⁴ Ein Forschungsüberblick kann daher hier nicht geleistet werden.⁴⁵ Stattdessen soll versucht werden, die für die Untersuchung von prädiagnostischen Mitteilungen bedeutsamen Phänomene und Aspekte darzustellen. Zentral sind dabei, schon entsprechend dem Begriff, die Handlungsschemakomponenten Beschwerdenexploration und Diagnosestellung. Allerdings finden sich auch im Zusammenhang mit der Therapieplanung wichtige Bezugspunkte, für die prädiagnostische Mitteilungen funktional sind, beispielsweise wenn Allergien festgestellt werden, die gängige Therapiemaßnahmen ausschließen. Der Explorationsprozess im ärztlichen Gespräch beginnt in der Regel mit der Aufforderung zur Beschwerdenschilderung (Heath 1981, Spranz-Fogasy 1987, Robinson 2006). Diese Aufforderung kann sehr unterschiedlich explizit sein und mehr oder weniger direktiv realisiert werden, was Auswirkungen auf die Strukturierung und die Tiefe der nachfolgenden Beschwerdenschilderung hat (Spranz-Fogasy 1987). Hier schon kann der Arzt also die Weichen stellen für eine informationsreiche bzw. -arme Schilderung, die nicht nur den Umfang

43 Für eine ausführliche Darstellung des Handlungsschemas ärztlicher Gespräche siehe SpranzFogasy 2005, 2010. 44 Siehe Anmerkung 38. 45 Siehe dazu für den angelsächsischen Raum Heritage/Clayman 2010, Gill/Roberts 2013; unter Einbezug deutschsprachiger Forschung auch Sator/Spranz-Fogasy 2011, Reineke/Spranz-Fogasy 2013, Menz 2011.

Der Handlungsrahmen ärztlicher Gespräche 

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bzw. die Differenziertheit der berichteten Sachverhalte betrifft, sondern auch das Beschwerdenwissen des Patienten, seine Relevanzen (Sator 2003, Sator et al. 2008) und darüber hinaus seine epistemische Einstellung dazu wie auch seine kognitive Konstruktion des Krankheitsgeschehens insgesamt in einer subjektiven Krankheitstheorie (Beach 2001, Frankel 2001, Have 2001, Pomerantz 2003, Birkner 2006, Birkner/Burbaum 2013, Gill/Maynard 2006). Die verbalen Schilderungen wie auch paraverbale und andere Ausdrucksmodi bilden die wesentliche Grundlage für die begleitende und nachfolgende aktive Exploration durch den Arzt und entsprechend auch für die Möglichkeit, diagnostisch relevante Sachverhalte dingfest zu machen bzw. weitere zu elizitieren. Der Patient seinerseits hat bei seiner Beschwerdenschilderung die Verpflichtung, beschwerdenrelevante Sachverhalte darzustellen und dabei seinen Arztbesuch zu legitimieren, ihn doctorable zu machen (Halkowski 2006, Heritage/Robinson 2006, Heritage 2009). Dies ist dann für den Arzt der Anknüpfungspunkt, sein medizinisches Wissen aufzurufen, die Darstellungen des Patienten damit zu prüfen und einzuordnen sowie selbst initiativ weitere Beschwerdensachverhalte zu ermitteln. In dieser Phase der Beschwerdenexploration dominieren dann auf Seiten des Arztes, neben rezeptiven Handlungsformen des Zuhörens und ratifikativer Rückmeldung (Spranz-Fogasy 2005) vor allem Fragen das interaktive Geschehen. Im Wechselspiel von Fragen und Antworten entwickelt sich für ihn ein Beschwerdenbild, das schließlich in einer Diagnose zusammengefasst werden kann bzw. soll. Hinzu kommen meist noch Verfahren der körperlichen Untersuchung⁴⁶ und gegebenenfalls die Durchführung, oft aber auch nur die Anordnung, apparativer und labortechnischer Untersuchungen (Heath 1986, 2006, Robinson/Stivers 2001, Stivers 2007). In seinen initiativen Aktivitäten dokumentiert der Arzt, wie oben in Kap. 2.2 im Zusammenhang ärztlicher Fragen, ihrer Präsuppositionen und Verstehensanzeigen dargestellt, sein jeweils lokales und partikuläres Verständnis des Beschwerdenbildes. Seine Aktivitäten dienen dabei der Ermittlung, Fixierung, Sammlung, Ordnung sowie der Relationierung diagnostisch relevanter Beschwerdensachverhalte mit Blick auf eine spätere Integration in eine Diagnose. Explizite Verfahren zur Bewältigung dieser Organisationsaufgaben sind dann vor allem Äußerungen des Arztes, die in deklarativem Modus seinen gegenwärtigen Verstehens-, Wissens- und Gewissheitsstatus bezüglich der Beschwerdensachverhalte widerspiegeln, selbst aber noch keine integrierende Diagnose

46 Zentrale medizinische Verfahren darin sind visuelle Inspektion, Palpation (Abtasten), Perkussion (Abklopfen), Auskultation (Abhören) und Funktionsprüfungen (z. B. von Bewegungsabläufen).

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 Forschungszusammenhang

darstellen – eben prädiagnostische Mitteilungen. Die Diagnosestellung selbst ist dann das teleologische Ziel der explorativen Aktivitäten und prädiagnostische Mitteilungen sind vom Arzt expressis verbis festgestellte Zwischenschritte auf dem Weg dahin. Diagnosemitteilungen und die Reaktionen von Patienten darauf sind Gegenstand vieler gesprächsforscherischer Untersuchungen,⁴⁷ insbesondere aus dem Bereich der Conversation Analysis.⁴⁸ Dabei sind es oft aber spezifische Interaktionsphänomene, die im Zusammenhang von Diagnosemitteilungen untersucht werden, wie Fragen der Asymmetrie zwischen Arzt und Patient (Heath 1989, 1992), Fragen der Konstitution ärztlicher Autorität (Peräkylä 1998, 2002) oder die schon vorsorgliche Abwehr einfacher und unproblematischer Diagnosen durch Patienten gegenüber ihren Ärzten (Gill et al. 2010). Maynard 2003 rückt dann Diagnosemitteilungen selbst in den Untersuchungsfokus und ermittelt unter sequenzanalytischer Perspektive eine für Diagnosemitteilung spezifische Sequenzorganisation (news delivery sequence) als Basis seiner Untersuchung ihrer Variation in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise der Schwere der Diagnose.⁴⁹ Dabei ist zu beachten, dass alle Autoren, die sich mit Diagnosemitteilungen befassen, unter Bezugnahme auf das Modell ärztlicher Gespräche sensu Byrne/Long (1976) davon ausgehen, dass der Diagnose im ärztlichen Gespräch eine eigene Handlungsphase zukomme.⁵⁰ Die Gründe dafür sind vielfältig: Da ist zum einen die besondere Exponiertheit dieser kommunikativen Handlung in Voraussetzungen und Folgen – als Kulminationspunkt eines oft umfangreichen Diagnoseprozesses bzw. als Ausgangspunkt der Therapieplanung. Zum anderen spielt eine Rolle, dass in Diagnosemitteilungen oft medizinische und (für beide Seiten) persönlich hoch problematische Sachverhalte verhandelt werden müssen. Und schließlich sind auch die medizinischen und medizinökonomischen Aspekte von Bedeutung, da Diagnosemitteilungen die Voraussetzung für die Therapieent-

47 Über den medizinischen Kontext hinaus wird Diagnose in einem von Duchan/Kovarsky (2005) herausgegebenen Band als cultural practice charakterisiert. Ihre Formen und Funktionen werden darin in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Domänen beschrieben. 48 Eine aktuelle Bestandsaufnahme zum Ansatz und zu den Untersuchungsgegenständen der Conversation Analysis findet sich in Sidnell/Stivers 2013. 49 Maynard behandelt Diagnosemitteilungen in vielen weiteren Arbeiten und mit unterschiedlichen Fragestellungen; siehe Maynards Arbeiten von 1989 bis 2005 sowie Maynard/Frankel 2003, 2006. 50 Byrne/Long (1976) selbst sprechen von einem event im Rahmen der logical sequence ärztlicher Gespräche und kennzeichnen sie so als eigenen Sequenzschritt; Heath 1992 spricht von einer distinct action, Stivers 1998 bezeichnet sie als discrete event.

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wicklung und komplementäre Kostenplanung bilden.⁵¹ Interaktionsanalytisch stehen dagegen interaktionsstrukturelle Eigenschaften der Diagnosemitteilung und ihres sequenziellen Kontextes im Vordergrund der Untersuchungen. Maynards Normalform der news delivery sequence besteht aus den vier Schritten: (1) announcement, (2) announcement response,(3) elaboration, (4) assessment, wobei die Schritte 1 und 3 vom Arzt, die Schritte 2 und 4 vom Patienten ausgeführt werden (Maynard/Frankel, 2006:250). Die Durchführung dieser Sequenz ist im Falle einer eher unproblematischen Diagnose durch flüssige Formulierungsweise und einen semantisch positiven Wortschatz gekennzeichnet, der oft auch durchaus plakativ vorgebracht wird. Dagegen ist die Mitteilung einer schlechten Diagnose markant aufwändiger. Der Arzt schickt der Mitteilung selbst dann zumeist eine perspective display sequence voraus, in der er für den Patienten einzelne Aspekte der vorangegangenen Untersuchung rekapituliert, um ihm vorab den Zusammenhang der eigentlichen Diagnose noch einmal zu vergegenwärtigen. Als grundlegendes Ziel dieser vorangestellten Rekapitulation sieht Maynard die Herstellung eines höheren Maßes an Intersubjektivität, die dem Patienten die Möglichkeit gibt, die nachfolgende Diagnose besser einzuordnen. Im Unterschied zur Mitteilung unproblematischer(er) Diagnosen sind die Ausführungen des Arztes dabei komplexer und semantisch neutral. Die problematische Valenz der Diagnose wird also nicht expressis verbis mitgeteilt, sondern vor allem über eine stockende Formulierungsweise mit Zögern, Heckenausdrücken oder Pausen vermittelt – der Patient soll gewissermaßen „von selbst“ die Problematik der Diagnose wahrnehmen. Hinzu kommen in beiden Fällen von Diagnosen auch multimodale Unterschiede zwischen den Beteiligten: Bei guten Nachrichten zeigen die Gesprächspartner Konvergenz, Harmonisierung und Übereinstimmung, während bei schlechten Nachrichten z. B. Augenkontakt eher vermieden wird und auch Mimik und Gestik weitgehend divergieren. Auch im Falle schlechter Diagnosen und ohnedies bei guten zeichnet sich das Interaktionsverhalten in der von Maynard beschriebenen Diagnosemittei-

51 Im Mittelpunkt vieler Publikationen stehen bad news im Zusammenhang mit Krebserkrankungen. Dabei wird deutlich, dass Diagnosemitteilungen gerade bei Krebserkrankungen in einem komplexen Diskursgefüge von Gesprächen, Untersuchungen, Befundgesprächen etc. einen eigenen Schwerpunkt darstellen. So wird verständlich, dass Diagnosemitteilungen zu einem eigenen Gesprächstyp ausgebildet wurden, für den Ärzte und Psychologen oft auch eigens ausgebildet werden. Aus medizinischer Sicht werden als besonders wichtige Elemente bei Diagnosemitteilungen eine effektive Information, verständliche und klare Sprache sowie die einfühlsame Mitteilung als vertrauensbildend und als Voraussetzung für gelingende Compliance und bessere Heilungserfolge hervorgehoben (Ditz 2005, 2006, Kerr et al. 2003).

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lungssequenz durch Ordnung und eine klare Aufbaustruktur aus. Auf Seiten des Arztes ist zu erkennen, dass er sich bemüht, die Diagnose durch evidenzbasierte Aussagen intersubjektiv nachvollziehbar zu machen, und der Diskurs ist in dieser Phase insgesamt durch ein hohes Maß an Rationalität gekennzeichnet. In verschiedenen Arbeiten hat sich auch Peräkylä mit Diagnosemitteilungen befasst (Peräkylä 1997, 1998, 2002, 2006). Er bezeichnet sie als “’core’ of the overall activity of diagnostic information giving” (Peräkylä 1998:304). Er unterscheidet zunächst zwei Formen der Diagnoseübermittlung: die straight factual assertion und das evidence formulating pattern (Peräkylä 1997). Straight factual assertions⁵² gelten als direkte Beschreibung der Realität und werden geäußert, wenn eine Diagnose entweder durch die körperliche Untersuchung oder durch medizinische Dokumente wie Röntgenbilder offensichtlich ist. Das evidence formulating pattern wird als Beweisformulierungsmodell gesehen, in dem der Arzt eigene Wahrnehmungen beschreibt und diese als Beweis behandelt, bevor eine diagnostische Mitteilung verkündet wird (vgl. Peräkylä 1997). Im nachfolgenden, 1998 erschienenen Artikel differenziert er das evidence formulating pattern dann noch in die zwei Formen des nicht weiter erklärten inkorporierten Augenscheins (incorporated inexplicated reference to evidence, z. B. “no bacterial infections seems to be there”; Peräkylä 1998:305) und des erklärenden Beweises (explication of evidence, z. B. “as tapping on the vertebrae didn’t cause any pain and there aren't yet any actual reflection symptoms in your legs it suggests a muscle complication”; Peräkylä 1998:306). Wie an den aufgeführten Beispielen leicht zu sehen ist, handelt es sich zwar jeweils um diagnostische Informationen, allerdings nicht um Diagnosen im Sinne einer Zusammenschau von Befunden und Ursachen.⁵³ Im ersten Fall handelt es sich um eine Ausschlussdiagnose, die ja per

52 1998 dann als plain assertion bezeichnet. 53 Das medizinische Konzept der Diagnose ist in der Praxis zentral für die ärztliche Vorgehensweise sowohl bei der Exploration, wie für die aus der Diagnose abzuleitenden therapeutischen Maßnahmen. Es ist jedoch in der medizintheoretischen Literatur überraschend unterbestimmt und vage. So beschreibt das einschlägige klinische Wörterbuch „Diagnose“ als „ Schlussfolgerung aus der Symptomkonstellation des Pat. im Sinne einer Zuordnung zu bekannten Krankheitsbildern“ (Pschyrembel 2011) oder das Roche Lexikon Medizin (2006) als „nosologischsystematische Benennung eines Krankheitsbildes, in der Praxis die Summe der Erkenntnisse, auf denen das ärztliche Handeln beruht“. In ergänzenden Ausführungen wird zwar noch auf konstitutive Bestandteile einer Diagnose wie Symptome, Befunde oder Ursachen sowie auf Vorgehensschritte wie Anamnese, körperliche Untersuchung oder Labordiagnostik hingewiesen. Wie aber deren Integration zu einer Diagnose geschieht, bleibt offen. Eine differenzierte Diskussion aus psychosomatischer Perspektive führen Uexküll/Wesiack (2008), die eine Integration von diagnostischen „Spuren“ auf personaler Ebene (Begegnung zwischen Arzt und Patient) und (biomedizinischen) Sub- und Suprasystemen einfordern.

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se keine positive Diagnose sein kann, und im zweiten Fall handelt es sich lediglich um eine – prädiagnostische – Schlussfolgerung aus zwei Negativbefunden; eine positive Diagnose steht noch aus.⁵⁴ Peräkyläs Analysen zielen allerdings nicht in erster Linie auf die Typisierung von Diagnosemitteilungen, sondern auf deren Funktion für die Verknüpfung von authority und accountability. Er zeigt, dass Ärzte sich mit der Platzierung und Formulierungsweise (placement und design) von Diagnosemitteilungen als verantwortlich für die sachliche Grundlage ihrer Diagnose (accountable for the evidential basis) präsentieren, statt einfach nur Autorität in Anspruch zu nehmen, wie Parsons oder Freidson dies noch annehmen (Peräkylä 1998:301). Sein zentrales Anliegen ist, Potenziale der Conversation Analysis aufzuzeigen und dabei soziale Phänomene wie eben Autorität oder auch Asymmetrie als interaktiv hergestellt und strukturell beschreibbar zu analysieren. Peräkylä wie Maynard legen ihre Untersuchung gemäß der Methodologie der Conversation Analysis sequenzanalytisch an.⁵⁵ Sie identifizieren diagnostische Mitteilungen und untersuchen deren Kontext und sequenzielle Anbindungen. Viele ihrer Beispielfälle sind jedoch in einem strengen Sinne keine Diagnosen, sondern enthalten lediglich diagnostisch relevante (Einzel-)Sachverhalte. Zwar nehmen beide Autoren Bezug auf das Phasenmodell von Byrne/Long (1976), schlagen dann aber Darstellungen einzelner Diagnosesachverhalte (wie beispielsweise Ausschlussdiagnosen oder Einzelbefunde) der Phase der Diagnosemitteilung zu, statt sie als Bestandteil der Beschwerdenexploration zu betrachten. Damit geraten ihnen dann prädiagnostische Mitteilungen als Aktivitätstyp sui generis aus dem Blick und werden deshalb nicht in Bezug auf ihre konstitutiven Eigenschaften wie z. B. Vorläufigkeit, Partialität und Inkrementqualität untersucht. Hinsichtlich der von ihnen fokussierten Fragen des Zusammenhangs von Diagnose vorbereitenden Aktivitäten und dem Aufbau von Intersubjektivität, Mutualität und Verstehen sowie der Herstellung einverständigen Handelns beim Umgang mit der Diagnose und der späteren Therapieentwicklung sind ihre Arbeiten jedenfalls aber wichtige Bausteine der Verstehensforschung.

54 Allerdings muss gesagt werden, dass eine positive Diagnose in vielen Arzt-Patient-Gesprächen tatsächlich gar nicht mitgeteilt wird, sondern vom Patienten allenfalls, z. B. aus Therapievorschlägen, erschlossen werden kann. Ähnlich wie bei Problem- und Konfliktgesprächen ist eine Sachverhaltsdefinition zwar handlungslogisch notwendig, aber nicht zwangsläufig auch realisiert. Zur Problematik einer unterlassenen Problemdefinition im handlungsschemaanalytisch mit dem ärztlichen Gespräch vergleichbaren Beratungsgespräch siehe Nothdurft/Reitemeier/ Schröder 1994. 55 Siehe dazu Schegloff 2007.

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 Forschungszusammenhang

2.4 Forschung zu prädiagnostischen Mitteilungen und Gegenstandsbestimmungen Wie Heritage/Stivers (1999) konstatieren, gibt es bis Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts keine nennenswerte Forschung zu prädiagnostischen Mitteilungen. Dieser Äußerungstyp wird von Byrne und Long lediglich einmal erwähnt, wenn sie schreiben, dass nur „few doctors actually explain what they are doing when they examine patients physically“ (1976:24) und als Beispiel dafür anführen: „Now I‘m listening to your lungs. They sound clear“ (ibid. 25; Hervorh. i. Original). Und Roter und Hall führen unter der Kategorie positive talk ebenfalls nur eine prädiagnostische Äußerung an: „Your blood pressure is great“ (Roter and Hall 1992:83f). Untersuchungen, die sich ausdrücklich mit prädiagnostischen Mitteilungen befassen, haben dann aber Stivers (1998), Heritage/Stivers (1999), MangioneSmith et al. (2003) und Heritage et al. (2010) vorgenommen. Die Untersuchungen wurden dabei in sehr verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Fragestellungen durchgeführt. Während Stivers (1998) prediagnostic commentaries im veterinärmedizinischen Zusammenhang diskutiert, analysieren Heritage/Stivers (1999) online commentaries während der körperlichen Untersuchung und vergleichen pädiatrische Gespräche mit Erstgesprächen mit erwachsenen Patienten in niedergelassenen Praxen, wobei sie eine scharfe Trennung von online commentaries, prediagnostic commentaries und Diagnosemitteilungen vornehmen. Mangione-Smith et al. (2003) und Heritage et al. (2010) befassen sich ebenfalls, aber ausschließlich, mit (klinischen) pädiatrischen Gesprächen, an denen dann Eltern von Kindern mit Infektionen des oberen Respirationstraktes beteiligt sind. Die unterschiedlichen Gesprächskontexte wirken sich zwangsläufig auch auf die verfolgten Fragestellungen aus, wenn, wie bei Stivers (1998), Tierhalter die Gesprächspartner des Veterinärmediziners sind, Kinder und Eltern sich in unterschiedlichen Maßen an ärztlichen Untersuchungshandlungen, aber auch an der Planung von Therapiemaßnahmen beteiligen können (Mangione et al. 2003, Heritage et al. 2010) oder pädiatrische Gespräche mit denen von Ärzten mit erwachsenen Patienten verglichen werden (Heritage/Stivers 1999). Dabei gibt es dann entsprechend große Unterschiede hinsichtlich der epistemischen Autorität⁵⁶ der Patienten und Begleitpersonen, der Nachvollziehbarkeit von Untersuchungshandlungen oder der Verantwortung für Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen.⁵⁷

56 Zum Konzept der epistemischen Autorität siehe Heritage/Raymond 2005. 57 Für den Fall pädiatrischer Gespräche wird dies diskutiert in Spranz-Fogasy/Winterscheid 2013 und Winterscheid i. V.

Forschung zu prädiagnostischen Mitteilungen und Gegenstandsbestimmungen 

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Stivers' Formulierung ist – trotz ihrer veterinärmedizinischen Verankerung – Ausgangspunkt der definitorischen Bestimmungen prädiagnostischer Mitteilungen; ihr zufolge sind prediagnostic commentaries „diagnostically relevant statements that describe what the physician is seeing or feeling, anticipate or speculate on diagnosis“, die schon die spätere Diagnose andeuten („foreshadow the later diagnosis“ (Stivers 1998:241)). Prediagnostic commentaries unterscheiden sich dabei von „offiziellen“ Diagnosemitteilungen insofern, als sie keine eigenständige Handlung darstellen, sondern Kommentare zu einer laufenden Explorations- bzw. Untersuchungshandlung sind und dieser untergeordnet bzw. in diese eingebettet sind. Daraus folge dann auch, dass prediagnostic commentaries sich oft nicht an den Klienten, den Tierhalter, richten und auch nicht so rezipiert würden. Heritage und Stivers (1999), die online commentaries in humanmedizinischen Kontexten untersuchen, differenzieren diese dann explizit noch einmal von prediagnostic commentaries. Erstere sind definiert als Kommentare zu einer laufenden körperlichen Untersuchung,⁵⁸ während letztere überall vor einer eigentlichen Diagnosemitteilung vorkommen können. Online commentaries beschränken sich dabei auf die Darstellung von Wahrnehmungen des Arztes, während prediagnostic commentaries auch antizipatorische Inferenzen zu möglichen diagnostischen Schlussfolgerungen enthalten. Diesen Bestimmungen schließen sich auch die späteren Arbeiten von Mangione et al. (2003) und Heritage et al. (2010) an. Die Platzierung prädiagnostischer Äußerungen vor der eigentlichen Diagnosemitteilung, ob nun online commentaries oder prediagnostic commentaries, gilt als ein zentrales Kriterium zu ihrer definitorischen Bestimmung. Diagnosemitteilungen selbst sind meist räumlich⁵⁹ und zeitlich von der Exploration getrennt und werden als deren Abschluss angeboten; sie werden typischer Weise als eigenständige Handlung produziert und konstituieren einen abgesonderten Handlungsschritt im ärztlichen Gespräch (im Sinne einer eigenen Handlungskomponente; s. o.). Als weitere Unterscheidungsmerkmale zur eigentlichen Diagnosemitteilung führen die verschiedenen Arbeiten dann für prädiagnostische Äußerungen auch noch Inhalt, Design und Rezeption an. So gilt bzgl. des Inhaltes für online commentaries, dass sie keine Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Diagnose enthalten, sondern eher nur Beobachtungen des Arztes im Verlauf der körperlichen

58 “Online commentary is talk that describes what the physician is seeing, feeling or hearing during physical examination of the patient” (Heritage/Stivers 1999:1501). 59 Damit ist gemeint, dass sich Ärzte beispielsweise vor der abschließenden Diagnosemitteilung oft von der Untersuchung abwenden oder sich auf andere Weise räumlich distinkt positionieren.

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 Forschungszusammenhang

Untersuchung formulieren oder auch erklären, was vom Arzt gerade untersucht bzw. wie dabei vorgegangen wird. Prediagnostic commentaries dagegen enthalten bereits Hinweise, die eine diagnostische Schlussfolgerung antizipieren.⁶⁰ Inhaltlich werden dabei vor allem milde Symptome erwähnt, oder es werden auch vom Patienten vorgebrachte Krankheitszeichen als inexistent erklärt; problematische Krankheitszeichen werden dagegen grundsätzlich nicht erwähnt.⁶¹ Hinsichtlich der Formulierungsweise (i. e. design) werden prädiagnostische Äußerungen von Ärzten als vorläufige Aussagen charakterisiert. Sie kennzeichnen dies mittels Unsicherheitsmarkierungen wie relativierenden epistemischen und sensorischen Ausdrücken, Modalverben oder Modalpartikeln, durch Betonung, Vagheit, Indirektheit oder Generalisierung und stufen damit ihren Gewissheitsstatus herunter. Dies geschieht in enger Abstimmung mit dem (oft nur nicht-verbalen) Rezeptionsverhalten der Patienten (resp. Klienten). Platzierung (beispielsweise während der körperlichen Untersuchung) und Formulierungsweise prädiagnostischer Äußerungen machen dabei deutlich, dass sie sich eher nicht an den Gesprächspartner richten („unclear whether it is being directed to a recipient“, Stivers 1998:243), sondern in erster Linie der Selbstverständigung des Arztes dienen, als „vocalization of his thoughts“ (Stivers 1998:249). Dabei fordern sie vom Gesprächspartner keine Antwortreaktion ein, lassen sie aber zu.⁶² Entsprechend zurückhaltend sind dann auch die Reaktionen von Patienten, die sich gar nicht oder nur mit knappen Rezeptionssignalen melden. Die nicht nur inhaltliche, sondern auch interaktionsorganisatorische Vagheit macht prädiagnostische Mitteilungen zu einem wichtigen und hochflexiblen Instrument der Gesprächs- und Partnersteuerung. Zum einen erlauben sie es ihm, diagnostisch relevante Sachverhalte zu benennen, ohne sich dabei schon zu stark festzulegen, zum anderen lässt er den Patienten mithören⁶³ und überlässt es diesem, sich aktiv(er) einzuschalten. Die Nennung diagnostisch relevanter Sachverhalte geschieht dabei immer im Blick auf eine spätere Diagnose und bereitet diese vor („to forecast the official diagnosis“, Stivers 1998:257); dies geschieht vor allem hinsichtlich einer Perspektivierung als gute oder schlechte Diagnose. Und sie erlaubt mit dem iterativen Einsatz prädiagnostischer Mitteilungen eine (gewissermaßen vorsichtige) gemeinsame Aushandlung von Diagnose und Behandlung. Im speziellen veterinärmedizinischen Kontext zeigt Stivers (1998), wie der Tier-

60 Siehe dazu auch Have (2006). 61 “When serious or significant signs are encountered, they are generally not the subject of online commentary.” (Heritage/Stivers 1999:1503). 62 Siehe dazu Goffmans Diskussion von „outloud“-Äußerungen (Goffman 1978). 63 Als overhearer im Sinne Goffmans 1979.

Forschung zu prädiagnostischen Mitteilungen und Gegenstandsbestimmungen 

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arzt damit die Bereitschaft des Tierhalters austestet, spezielle (und gegebenenfalls teure) Untersuchungsmaßnahmen und Behandlungen zu gestatten bzw. sie auch zu finanzieren. Prädiagnostische Mitteilungen operieren dabei als „staging posts on the way to a conclusion [...] build up evidence incrementally, rather than [...] conclusively“ (Heritage/Stivers 1999:1510), wobei ihnen durch ihr recipient design⁶⁴ und ihre Stückelung nur schwer zu widersprechen ist („extremly difficult to contradict“, Heritage/Stivers 1999:1511). Genau dadurch eignen sie sich dann auch dazu, die Erwartungen der Patienten um- bzw. mitzugestalten („shaping patient expectations“, Heritage/Stivers 1999:1501), wie auch insbesondere zur Abwehr unangemessener Behandlungswünsche (Mangione et al. 2003, Heritage et al. 2010). Ausgangspunkt der Analysen von Heritage und Stivers (1999) ist die Feststellung, dass Patienten bei ihren Beschwerdenschilderungen ihren Arztbesuch legitimieren müssen und dabei auch bereits mehr oder weniger explizit Erwartungen an die spätere Behandlung deutlich machen. Online commentaries eignen sich dann gut dazu, die Besorgtheit des Patienten hinsichtlich seiner Erkrankung zu mildern, indem z. B. no problem-Kommentare zu den genannten bzw. beobachteten Symptomen abgegeben werden. Damit werden die Erwartungen von Patienten hinsichtlich ihres Krankheitsbildes kalibriert, und es können so bereits vorbeugend mögliche Widerstände seitens der Patienten gegenüber der späteren Diagnose und den Therapievorschlägen abgebaut werden. Mangione et al. 2003 schlagen dementsprechend vor, in geeigneten Fällen verstärkt no problem-Kommentare zu äußern und Heritage et al. 2010 raten umgekehrt explizit zur Vermeidung von problem-Kommentaren. Dass diese Funktion von online commentaries keine nur akademische Bedeutung im Sinne einer besseren Gesprächsführung hat, sondern durchaus auch von gesellschaftlicher und ökonomischer Relevanz ist, machen dann die Untersuchungen von Mangione et al. (2003) und Heritage et al. (2010) deutlich. Sie zeigen, wie online commentaries in pädiatrischen Gesprächen dazu beitragen, unangebrachte Antibiotikabehandlungen zu vermeiden. Ärzte reagieren statistischen Untersuchungen zufolge stark auf den Erwartungsdruck von Eltern und verschreiben den kindlichen Patienten deutlich mehr Antibiotika, wenn Eltern dies zu erwarten scheinen (Mangione et al. 2003). Mangione et al. (2003:314) verweisen darauf, dass in den USA der 1990er Jahre 38 % der Kinder, die nur einen einfachen Erkältungsinfekt hatten, mit Antibiotika behandelt wurden und insgesamt 40 Mio. Dollar für solche medizinisch unangemessenen Behandlungen

64 Zum Konzept des recipient design siehe Sacks/Schegloff 1979, Clark 1992, Maynard 1991 a, b, Fischer 2011.

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 Forschungszusammenhang

ausgegeben wurden. Neben diesem verschreibungsbezogenen, ökonomischen Effekt zeigen sich auch medizinische Folgen in der Steigerung von – ebenfalls kostenträchtig zu behandelnden – Antibiotika-Resistenzen wie auch in der damit verknüpften Steigerung der Mortalitätsrate bei Erwachsenen. Online commentaries dienen, den Arbeiten der beiden Autorengruppen zufolge, dazu, den Erwartungsdruck seitens der Eltern, aber auch seitens erwachsener Patienten abzusenken und entsprechend auf antibiotische Behandlungen verzichten zu können. Insbesondere no problem-Kommentare sind so schon prospektiv ein probates Mittel gegen unangemessene Behandlungen. Gerade die letztgenannten Untersuchungen verdeutlichen, dass die bisherigen Arbeiten zu prädiagnostischen Äußerungen vor allem funktional ausgerichtet sind. Prädiagnostische Äußerungen sind zum einen Mittel zur Vorbereitung von Diagnosemitteilungen wie auch zur Aushandlung von Diagnosen, Untersuchungsschritten und Therapiemaßnahmen (Stivers 1998). Sie dienen zum anderen dazu, Patientenerwartungen zu begegnen und zu verändern und schon prophylaktisch Widerstände abzubauen (Heritage/Stivers 1999). Und schließlich können sie genutzt werden, medizinisch unangemessene Verschreibungswünsche, wie die von Antibiotika, abzuwehren (Mangione et al. 2003, Heritage et al. 2010). Prädiagnostische Äußerungen sind dazu vor allem aufgrund von interaktionsorganisatorischen und formulatorischen Eigenschaften, wie Platzierung, Formulierungsweise und Adressatenzuschnitt geeignet. Die formalen Eigenschaften prädiagnostischer Äußerungen werden aber in den bisherigen Arbeiten nur soweit untersucht, wie es jeweils zur Charakterisierung der fokussierten interaktiven und medizinisch-therapeutischen Funktionen erforderlich ist. Eine systematische Analyse hinsichtlich inhaltlicher, linguistischer und interaktiver Phänomene und Merkmale soll daher nun in dieser Arbeit vorgenommen werden. Darauf aufbauend soll dann gezeigt werden, wie Ärzte mit Hilfe prädiagnostischer Äußerungen diagnoserelevante Informationen fixieren, sammeln und (ein-)ordnen und damit die Integration in eine abschließende Diagnose vorbereiten und steuern bzw. weitere Untersuchungsschritte planen. Schließlich soll, unter verallgemeinernder Fortführung der bisherigen Untersuchungen, gezeigt werden, wie prädiagnostische Äußerungen eingesetzt werden, um Patienten zu einer Änderung ihrer Perspektive bzw. ihrer subjektiven Krankheitstheorie, zu bewegen und wie sie dazu dienen können, Vertrauen beim Patienten zu erzeugen und die für eine Behandlung notwendige Compliance zu sichern. In die Untersuchung einbezogen werden dazu alle Äußerungen, mit denen der Arzt im Vorfeld einer Diagnosestellung Beschwerdensachverhalte explizit und deklarativ konstatiert und dem Patienten so zugänglich macht. Diese Bestimmungen umfassen sowohl online commentaries im Zuge der körperlichen Untersuchung, wie auch prediagnostic commentaries im Verlauf der verbalen

Die Daten 

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Beschwerdenexploration. Ich bezeichne den Gegenstand im Unterschied zu den bisherigen Arbeiten nicht als Kommentare, sondern neutraler als „prädiagnostische Mitteilungen“, zum einen, um die relationale und evaluative Konnotation der Bezeichnung zu verringern und zum anderen, um auch Befundmitteilungen einbeziehen zu können, die oft vor den Gesprächen mit Patienten erhoben werden, also keine online-Äußerungen zu Gesprächsereignissen darstellen. Nicht einbezogen werden Darstellungen von ärztlichen Handlungen (etwa im Sinne „ich untersuche jetzt x“), soweit sie keine krankheitsbezogenen Erläuterungen beinhalten sowie direkte Anweisungen des Arztes zur Vorbereitung von Untersuchungshandlungen. Nach einer kurzen Darstellung der dieser Arbeit zugrundeliegenden Daten soll anhand einer Einzelfallanalyse der Untersuchungsgegenstand genauer bestimmt und die Analyse allgemeiner und systematischer Aspekte prädiagnostischer Mitteilungen vorbereitet werden.

2.5 Die Daten Der Untersuchung prädiagnostischer Mitteilungen liegt ein Kernkorpus von 29 audiotechnisch aufgezeichneten Gesprächen mit Gesprächen in vier Praxen niedergelassener Ärzte unterschiedlicher Fachrichtung zugrunde (zwei Allgemeinärzte, ein Internist, ein Urologe). Ca. 30 weitere Gespräche aus ärztlichen Praxen und Kliniken wurden zur Ergänzung und Überprüfung einbezogen. 14 Gespräche des Kernkorpus werden von biomedizinisch orientierten Ärzten geführt, die anderen 15 von psychosomatisch/psychotherapeutisch ausgebildeten Ärzten. Die Gesamtdauer der Gespräche des Kernkorpus beträgt 4 h 55 min, die von psychosomatisch/psychotherapeutisch orientierten Ärzte dauerten 3 h 15 min (Ø ca. 13 min), die der biomedizinisch orientierten Ärzte 1 h 40 min (Ø ca. 7 min). Die Dauer der Gespräche variiert von 1 min 13 s bis 35 min 12 s mit einer Durchschnittsdauer von 9 min 45 s. Die überwiegende Anzahl der Gespräche sind Erstgespräche, d. h. Gespräche bei erstmaligem Auftreten der Beschwerden, bei den anderen Gesprächen handelt es sich um Folgegespräche (im Kernkorpus 21:8). Das Themenspektrum der Gespräche ist breit gestreut, besprochen werden: Erkältung, Magenschmerzen, Kreislaufprobleme, Stresssymptome, bakterielle Infekte oder urologische Probleme nach Polio. Die Ärzte des Kernkorpus formulierten insgesamt 138 prädiagnostische Mitteilungen, 72 (51,9 %) davon wurden von biomedizinisch orientierten Ärzten, 66 (48,1 %) von psychosomatisch/psychotherapeutisch orientierten Ärzten geäußert.

3 Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03) Die nachfolgende Einzelfallanalyse befasst sich mit einem im Zusammenhang mit der Analyse von Fragen und Antworten schon mehrfach diskutierten Fall (siehe Lindtner/Spranz-Fogasy 2009, Spranz-Fogasy 2010). Er eignet sich auch für die Analyse prädiagnostischer Mitteilungen aufgrund der relativen Kürze und Übersichtlichkeit der Beschwerdenexploration von der Eröffnungsfrage (Z. 5) bis zur Diagnosestellung (Z. 57f) und der leicht nachvollziehbaren Schritte dahin. Zwar ist die Diagnoseformulierung: is ein ein sicher ein weichteilinfekt den sie da haben eher allgemein gehalten und wird – deutlich später (8:29 min)⁶⁵ – noch spezifiziert als mögliche Vorstufe der katzenkratzkrankheit,⁶⁶ jedoch zeigt die Ärztin mit sonst sind sie immer gesund gewesen (Z. 64) deutlich an, dass die Beschwerdenexploration für sie abgeschlossen ist und sie, aufgrund der Erstvorstellung der Patientin in ihrer Praxis, zu einer allgemeinen hausärztlichen Anamnese übergehen kann. #3 AA_BI_03 (00:06–01:45) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

AE: na weswegen kommen sie denn her PA: ja ich habe seit drei tagen einen äh (0.2) finger wo ich nicht weiß (0.1) was ich damit machen soll (0.8) also ich wenn ich (0.2) gestern abend hab ich n brief geschrieben da is er also ganz dick geworden (0.5) AE: hm PA: und das is als ob hier ein (0.1) ne nadel oder irgendwas drin wär (1.0) AE: ham se n unfall gehabt PA: n überhaupt nichts passiert PA: [in letzter zeit ] AE: [nich erinnerlich](0.1) was is n das hier für n kleines loch (0.2) PA: ja das heißt (0.3) da hat mich glaub ich eine katze (1.0) gehakt

65 In der Zwischenzeit erfolgt eine breite allgemeine Anamnese, da die Patientin zum ersten Mal bei dieser Ärztin ist. 66 Die Katzenkratzkrankheit ist eine durch Kratzverletzungen von Katzen übertragene Infektionskrankheit, die am Ort der Infektion durch „Rötung mit nachfolgender schmerzhafter Schwellung der regionären Lymphknoten“ festgestellt werden kann (Pschyrembel 2011); sie verläuft in der Regel gutartig.

Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03) 

18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

AE: wann warn [das ] PA: [das is] och (0.1) des is (1.2) moment ich bin (0.2) ich komm nämlich jetzt von australien und äh (1.2) meine güte des müsste vielleicht am (0.7) letzte woche (0.2) donnerstag gewesen sein (0.8) AE: ja aber hoffentlich hängt das nicht damit zusammen [nich die hat ] zweimal hier reingehackt [nich] PA: [ja also sie hat] [nein] das (0.15) das bin ich gewesen das is [also] [die] AE: [ja ] [und] hier hat ne katze gekratzt (0.4) und da tuts auch weh (.) an der stelle PA: nein also (0.4) hier sticht es (0.4) AE: da (0.4) PA: ja (0.2) da (0.15) ziemlich (0.7) AE: das is wohl der grund (1.6) an den andern fingern ist nichts PA: überhaupt nichts nein AE: und die wird das wird ganz dick hier PA: zum beispiel gestern abend hab ich n brief geschrieben also da hab ich n gar nich mehr grade gekriegt AE: ja ja (0.5) und über nacht klingt das dann wieder ab PA: ja also da is AE: an andern gelen[ken oder so haben sie gar nichts PA: [nein überhaupt nichts über PA: haupt nichts] AE: nich ] (0.5) hmhm (3.9) katzen haben manchmal AE: (0.3) allerhand dreck unter den PA: ja (0.25) [ja.] [hmhm ] AE: [fin]gern nich [unter den] AE: krallen PA: ja AE: nich wahr da kann schon mal was passier[n ] PA: [ja] PA: (1.0) also tollwütig is sie nich weil des is ene AE: ne das [glaub ich] PA: [ne eigene] katze gewesen nich AE: [ja das das glaub ich auch nich] PA: [und ] AE: das hat mit tollwut nix zu [tun] PA: [ja ] das is ein ein sicher ein weichteilinfekt PA: hm AE: den se da haben [ne] PA: [hm] AE: sonst sind sie immer gesund gewesen (0.4)

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 Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03)

Neben vielen Fragen und Antworten, die den Gang der Exploration bestimmen, enthält dieser Gesprächsausschnitt auch eine Reihe von Äußerungen der Ärztin im Deklarativsatzmodus (im Transkript fett gedruckt), die ohne erkennbare prosodische oder andere Interrogativ-Markierungen realisiert werden oder von den Beteiligten als Frage behandelt würden. Eine Ausnahme bildet die Äußerung ja aber hoffentlich hängt das nicht damit zusammen (Z. 24), die von der Patientin zunächst als Deklarativsatzfrage zu bearbeiten begonnen wird (ja also sie hat, Z. 26), von der Ärztin selbst dann aber qua Fortführung ihres Beitrags als deklarativer Vorlauf einer nachfolgenden Frage behandelt wird (die hat zweimal hier reingehackt, Z. 25), wobei letztere erneut im deklarativen Modus geäußert wird; die Patientin zieht ihren Beitrag jedenfalls zurück. Andere – hier nicht markierte – Äußerungen der Ärztin, die ebenfalls im Deklarativsatzmodus stehen, wie beispielsweise in den Zeilen 29, 30, 35, 37 etc., werden von beiden Beteiligten als Fragen behandelt: qua Antwortauskunft seitens der Patientin bzw. qua (meist impliziter) Auskunftsbestätigung der Ärztin an der dritten Beitragsposition.⁶⁷ Die hier in unmittelbarer Abfolge ausgeschnittenen Äußerungen der Ärztin haben gemeinsam, dass sie von den Beteiligten nicht bzw. nicht weiter als Fragen behandelt werden: – – – – – – –

nich erinnerlich ja aber hoffentlich hängt das nicht damit zusammen das is wohl der grund katzen haben manchmal allerhand dreck unter den fingern nich unter den krallen da kann schon mal was passiern ne das glaub ich ja das das glaub ich auch nich das hat mit tollwut nix zu tun

Diese Äußerungen sollen im Folgenden im Rahmen einer Einzelfallanalyse in exploratorischer Absicht untersucht werden. Die Analyse sucht dabei typische Muster und Strukturen prädiagnostischer Mitteilungen zu entdecken, um Vorgaben für deren systematische Untersuchung zu entwickeln.⁶⁸ Mit ihrer Eingangsfrage: na weswegen kommen sie denn her (Z. 1) dokumentiert die Ärztin, dass sie das Erscheinen der Patientin in ihrer Praxis als begründete und legitimierbare Handlung versteht, in deren Folge sie selbst aufgerufen ist,

67 Zur Funktion der third position als Bewertung der second position siehe Schegloff 1997, und 2007; siehe auch die Analysen zu Deklarativsatzfragen in Spranz-Fogasy 2010. 68 Zum Konzept der Einzelfallstudie siehe Lamnek 2010, Schnell et al. 2011.

Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03) 

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zweckorientiert tätig zu sein. Die Patientin schildert in ihrer Antwort die Gründe ihres Besuchs und macht dabei vor allem geltend, die geschilderten Beschwerden nicht selbst behandeln zu können bzw. sie auch nicht einordnen zu können (wo ich nicht weiß (0.1) was ich damit machen soll, Z. 3). Die Patientin kommt also der Aufforderung der Ärztin nach und legitimiert ihr Kommen.⁶⁹ Nach zunächst scheiternden Versuchen der Redeübergabe qua Prosodie und Pausen (Zeilen 4 und 6) übernimmt die Ärztin das Rederecht und fragt nach einem Unfall als mögliche Ursache der Beschwerden. Dies impliziert, dass sie zu diesem Zeitpunkt zunächst eine exogene Verursachung annimmt, ist aber zugleich eine latente Kritik an einer möglicherweise unvollständigen Beschwerdenschilderung. Die Frage selbst, aber auch die latente Kritik, wird von der Patientin in ihrer hyperbolisch formulierten Antwort bearbeitet und verneint bzw. zurückgewiesen: n überhaupt nichts passiert in letzter zeit (Z. 11f).⁷⁰ Die Ärztin kommentiert die Antwort mit einer Feststellung: nich erinnerlich (Z. 13). Diese Äußerung konzediert zwar den Inhalt der Antwort, hält aber die Frage nach einem unfall selbst noch offen. Tatsächlich wird hier die epistemische Autorität der Patientin in Frage gestellt, indem ein exogenes Geschehen nicht ausgeschlossen, sondern lediglich als „nicht erinnerbar“ charakterisiert wird. Die Feststellung der Ärztin ist ein erster Befund, der den bisher verhandelten Stand der Beschwerdenexploration dokumentiert, ihn aber zugleich als nicht ausreichend qualifiziert. Dies macht dann weitere Exploration erforderlich, die die Ärztin sogleich mit einer weiteren w-Frage, die offensichtlich auf einer eigenen Beobachtung basiert, fortsetzt (was is n das hier für n kleines loch, Z. 14). Die Äußerung nich erinnerlich dient hier also als Angelpunkt der Exploration, mit der ein nur negativ bestimmbarer (Beschwerden-)Sachverhalt fixiert, zugleich aber auch dessen Mangelhaftigkeit festgestellt wird, was zwangsläufig weitere Aktivitäten notwendig macht. Die nachfolgende Frage (was is n das hier für n kleines loch, Z. 14), die auf einer eigenen Beobachtung der Ärztin beruht, führt dann zu der Information, dass die Patientin sehr wohl eine Verletzung durch eine Katze erlitten hat und dies auch in einem relativ nahen Zeitraum zum Auftreten der Beschwerden.⁷¹ Dies führt die Ärztin dazu, einen möglichen Zusammenhang zwischen beidem

69 Solche Legitimation in ärztlichen Gesprächen behandeln englischsprachige Untersuchungen als doctorability; siehe dazu Halkowski 2006, Heritage/Robinson 2006, Heritage 2009. 70 siehe dazu ausführlich Spranz-Fogasy 2010. 71 An der Frage der Ärztin wann warn das (Z. 18) ist erkennbar, dass der Zeitfaktor eine relevante Orientierungsgröße für die Beschwerdenexploration ist, was die Patientin in ihrer vorangegangenen Antwort in letzter zeit durchaus antizipativ berücksichtigt hat. Zu antizipativen Reaktionen siehe Spranz-Fogasy 2010.

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 Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03)

zu befürchten bzw. diesen nicht zu wünschen: ja aber hoffentlich hängt das nicht damit zusammen nich (Z. 24f). Mit dieser Äußerung indiziert die Ärztin einen weiteren diagnostischen Aspekt, einen möglichen ätiologischen Zusammenhang zwischen der Verletzung und den Beschwerden. Auch hier bleibt es nicht bei der bloßen Feststellung, denn die Ärztin geht unmittelbar dazu über, diesen Zusammenhang mittels weiterer Fragen zu prüfen bzw. dingfest zu machen. Sie erfragt dabei die Anzahl der Verletzungen, ihren genauen Ort und die spezifische Kollokation zwischen Verletzungs- und Beschwerdenort. In Verbindung mit den Antworten der Patientin, die zusätzlich antizipativ Informationen einfließen lässt, kommt die Ärztin dann mit das is wohl der grund (Z. 34) zu einer stärkeren These: Der befürchtete „Zusammenhang“ wird, wenn auch qua wohl leicht relativiert, zu einer wahrscheinlichen „Ursache“. Diese Äußerung realisiert die Ärztin, wie am Audioausschnitt hörbar ist, sehr leise und gewissermaßen zu sich selbst im Sinne lauten Denkens – ist aber nichtsdestotrotz eben auch für die Patientin hörbar und damit interaktiv öffentlich.⁷² Die Ursachenhypothese ist also das Ergebnis einer Reihe gezielter Fragen und Antworten und eine Zusammenfassung dieser Aushandlungssequenz. Die Exploration ist damit aber nicht abgeschlossen. Hatte die Ärztin bis dato ein sehr enges Untersuchungsfeld fokussiert, folgen nun, nach einer kurzen Pause von 1.6 sec, weitere Fragen, die die Umgebung des Beschwerdenortes (an andern fingern, Z. 35), zeitliche Beschwerdenabläufe (über nacht, Z. 40) und mögliche innere Beschwerdenwahrnehmungen (andern gelenken, Z. 42) betreffen. Nach einer längeren Pause von 3.9 sec beginnt sie dann mit einer zweischrittigen, allgemein gehaltenen Erklärung darüber, wie ein Zusammenhang der Beschwerden mit der Verletzung denkbar sei: (1) katzen haben manchmal allerhand dreck unter den [fin]gern nich [unter den] krallen (Z. 45f) und (2) da kann schon mal was passier[n] (Z. 51). Diese Erklärung indiziert, dass die Beschwerdenexploration für die Ärztin an dieser Stelle abgeschlossen scheint: Weitere Fragen stellt sie nicht mehr, die Erklärung kommt relativ unvermittelt und fungiert als Vorab-Plausibilisierung einer möglichen nachfolgenden Diagnosemitteilung. Ein ursächlicher Zusammenhang wird – wenn auch vorsichtig qua modalisierender und unspezifischerer Ausdrücke wie manchmal, allerhand […] kann, schon mal, was, passier[n] – präsupponiert. Ein solcher ursächlicher Zusammenhang liefert eine szientistisch starke Grundlage für eine Diagnosestellung, die selbst aber (noch) nicht mitgeteilt wird und als solche auch noch nicht vorhanden sein muss.⁷³

72 Zu interaktiven Funktionen lauten Denkens bzw. des thinking aloud siehe Stivers 1998 und Goffman 1978. 73 „Ursache“ ist eine wichtige Komponente des Konzepts der Diagnose; siehe Kap. 2.3.

Die Daten 

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Die Patientin ratifiziert zunächst mehrfach die Erklärung (Z. 47/50/52), erhebt dann aber nach einer einsekündigen Pause Widerspruch. Dieser Widerspruch richtet sich jedoch nicht gegen die Erklärung als solche, sondern gegen eine von der Patientin nur vermutete Hypothese hinter der Erklärung der Ärztin, die Katze sei tollwütig (Z. 53). Die Ärztin bestätigt umgehend die vermeintlich widersprechende Behauptung der Patientin (ja das das glaub ich auch nicht, Z. 56) und damit die darin angesprochene Ausschlussdiagnose, die sie für sich selbst übernimmt und noch einmal dezidiert und expressis verbis äußert: das hat mit tollwut nix zu tun (Z. 58). In unmittelbarem Anschluss daran formuliert sie dann eine – eher allgemein gehaltene – Positivdiagnose, die sie qua Selbstkorrektur noch als dezidierte, sichere Diagnose modalisiert: das is ein ein sicher ein weichteilinfekt (Z. 60). In ihrer Abfolge dokumentieren die deklarativen Äußerungen dieses Gesprächsausschnitts, wenn auch mit recht unterschiedlichen kontextuellen Funktionen, eine zunehmende Erkenntnisgewissheit von der Feststellung des Fehlens einer Erinnerung über die Vermutung bzw. Befürchtung eines Zusammenhangs der Beschwerden der Patientin mit der Verletzung durch die Katze, einer vorbehaltlichen Kausalitätsannahme und späteren Erläuterungen dazu sowie die, einen Patienteneinwand bestätigende, Ausschlussdiagnose tollwut bis hin zur dann endgültigen Diagnose. Die intrinsische Funktion dieser Äußerungen ist dabei keine explorative mehr im Sinne der Erheischung einer Ergänzungs- oder Bestätigungsreaktion, aber auch noch keine abschließend bzw. zusammenfassend diagnostische. Vielmehr dokumentieren sie den je lokalen Erkenntnisstand der Ärztin zum Beschwerdengeschehen und fixieren ihn als Bestandteil der gemeinsamen Interaktion (dies gilt auch für die im Modus lauten Denkens geäußerte, sehr leise gesprochene, Ursachenvermutung das ist wohl der grund (Z. 34)). Sie enthalten aber Aussagen zu einzelnen diagnostischen Aspekten des Beschwerdengeschehens und werden vor der abschließenden Diagnose geäußert und können daher als prädiagnostische Mitteilungen bezeichnet werden. Im gesamten zitierten Ausschnitt kann ein Wechsel von prädiagnostischen Mitteilungen und explorativen Aktivitäten (Fragen, visuelle körperliche Untersuchung) beobachtet werden. Prädiagnostische Mitteilungen zeichnen sich dabei durch verschiedene gesprächsanalytisch auffällige Merkmale der Platzierung und Sequenzierung, der Formulierung oder Kontextualisierung wie auch durch ihre unterschiedlichen pragmatischen Funktionen (Befürchtung, Vermutung, Erklärung) aus. Neben dem deklarativen Modus und der Positionierung vor einer abschließenden Diagnose sind im Ausschnitt folgende weitere Merkmale zu beobachten:

36  –













 Fallanalyse 1: „Finger“ (BI_03)

Prädiagnostische Mitteilungen besitzen gemeinsame linguistische Merkmale wie den deklarativen Äußerungsmodus oder die Modifikation der Gewissheit qua modalisierender und epistemischer Verben (kann, glaube) sowie Gradund Modalpartikeln (manchmal, schon). Prädiagnostische Mitteilungen sind als vorläufige und partielle Feststellungen formuliert und bieten daher Anlass zu weiterer Exploration bzw. zu fortführenden Aktivitäten (was im Falle der Erklärungen und der Ausschlussdiagnose auch die Mitteilung einer Positivdiagnose ist bzw. sein könnte). Prädiagnostische Mitteilungen enthalten Kognitionsausdrücke wie medizinische Konzepte (tollwut), Kategorien (grund) und kognitive Operationen (wie die Inferenzprozedur in Z. 24). Prädiagnostische Mitteilungen sind im untersuchten Ausschnitt selbstinitiiert durch die Ärztin und nicht als Reaktionen auf Aufforderungen durch die Patientin geäußert. Prädiagnostische Mitteilungen werden von der Patientin zumeist nur gering bearbeitet; lediglich die Erklärungen in Z. 45ff führen dazu, dass die Patientin einen Einwand formuliert, der jedoch auf einer weit reichenden Inferenz, die nur mittelbar erschließbar ist, basiert: Die Patientin unterstellt, dass die Ärztin mit ihren Erklärungen auf die Diagnose Tollwut zielt. Prädiagnostische Mitteilungen erscheinen qua Zusammenfassung, Erklärung oder Ausschluss als Etappen des Explorationsprozesses⁷⁴ mit zunehmender diagnostischer Dichte. Prädiagnostische Mitteilungen dokumentieren qua Modalisierung den je lokalen Erkenntnis- und Gewissheitsstatus der Ärztin.

In den nachfolgenden Untersuchungen werden diese Beobachtungen hinsichtlich dreier fundamentaler Dimensionen: ihrer linguistischen, kognitiven und interaktiven Eigenschaften genauer analysiert und systematisiert. Übergeordnetes Ziel ist die Rekonstruktion des Form-Funktions-Zusammenhangs von prädiagnostischen Mitteilungen mit Blick auf ihre verstehensorganisatorischen Leistungen. Im Einzelnen sollen dabei folgende Fragen bearbeitet werden: – – –

Welche Inhalte werden in prädiagnostischen Mitteilungen kommuniziert? Wie lassen sich prädiagnostische Mitteilungen linguistisch beschreiben und abgrenzen? Wie verhalten sich prädiagnostische Mitteilungen im Hinblick auf das teleologische Handlungsziel der Beschwerdenexploration, die Diagnose?

74 stage post im Sinne Heritage/Stivers 1999:1510.

Die Daten 

– – – – –

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Wie dokumentieren prädiagnostische Mitteilungen Verstehen? Welches – patienten- oder krankheitsbezogene – Verstehen dokumentieren sie? Welche kognitiven Elemente und Operationen werden sichtbar gemacht und wie sind sie aufeinander bezogen? Wann werden prädiagnostische Mitteilungen interaktiv relevant? Welche interaktiven Folgen haben sie? Wie spielen prädiagnostische Mitteilungen mit anderen Äußerungs- und Handlungstypen in der Beschwerdenexploration zusammen? Welche übergreifenden interaktiven und diagnostischen Funktionen können prädiagnostische Mitteilungen erfüllen?

4 Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen 4.1 Medizinische Inhalte prädiagnostischer Mitteilungen Im Mittelpunkt der Beschwerdenexploration in ärztlichen Gesprächen steht die Schilderung von Patienten bzgl. ihrer Beschwerden, Krankheitszeichen und -symptome (Hamilton 2004, Heritage/Clayman 2010, Spranz-Fogasy 2010). Die dominanten Äußerungstypen bei der Elizitierung entsprechender Informationen sind Fragen des Arztes und Antworten des Patienten. Iterativ finden sich aber auch deklarative Äußerungen auf Seiten des Arztes, in denen diagnostische Elemente erwähnt werden, die selbst aber nicht schon eine Diagnose darstellen. Inhaltlich beziehen sich solche Äußerungen auf unterschiedliche medizinischdiagnostische Aspekte: Befunde, ätiologische Zusammenhänge bzw. Ursachen, Ausschlussdiagnosen oder vorläufige Diagnosen. Diese inhaltliche Differenzierung weist auf zwei wichtige Bestimmungsmerkmale von prädiagnostischen Mitteilungen hin. Zum einen enthalten prädiagnostische Mitteilungen offensichtlich jeweils nur einzelne diagnostische Informationen, sind also partielle Informationen. Zum anderen werden sie als Elemente eines noch nicht erreichten, aber angezielten übergreifenden, die Elemente integrierenden kognitiven Konstrukts dargestellt, eben der Diagnose und sind damit als vorläufige Information charakterisiert. Daraus ergeben sich auch noch weitere Bestimmungen prädiagnostischer Mitteilungen in Bezug auf die gegebene Handlungsaufgabe der Beschwerdenexploration und des Handlungsziels der Diagnosestellung. Prädiagnostische Mitteilungen halten einzelne Informationen fest und bewahren sie damit für den weiteren Explorationsprozess auf. Prädiagnostische Mitteilungen dienen in ihrer Abfolge dann auch der Sammlung verschiedener Teilinformationen und deren Aufordnung mit Blick auf die Diagnose. Und schließlich zeigen prädiagnostische Mitteilungen, jedenfalls bis zu einem bestimmten Punkt der Beschwerdenexploration, an, dass jeweils noch weitere explorative Aktivitäten folgen. Diese Eigenschaften spielen, wie sich in den folgenden Untersuchungen zu medizinisch-inhaltlichen linguistischen, kognitiven und interaktiven Aspekten von prädiagnostischen Mitteilungen zeigt, stets als konstitutive Eigenschaften eine wichtige Rolle.

Medizinische Inhalte prädiagnostischer Mitteilungen 

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4.1.1 Befunde Die meisten prädiagnostischen Mitteilungen beziehen sich auf Feststellungen medizinisch einschlägiger Sachverhalte, die durch verbale Darstellungen der Patienten, ärztliche Beobachtungen oder Messungen erhoben wurden. Die Erhebung erfolgt meist während der Exploration, es finden sich aber auch Mitteilungen vorab erhobener Befunde wie beispielsweise Blutdruck, Urinstatus oder auch Informationen, die der Arzt von einem überweisenden Kollegen erhalten hat. Mitteilungen vorab erhobener Befunde stehen nicht zwangsläufig am Beginn der Exploration, sie können auch im laufenden Explorationsprozess an relevanter Position eingebracht werden. #4 IA_02 (01:21–01:36) 1 2 3 4 5

A: (8.1) hundertfünfzig zu fünfumachzig (.) sehr schön P: (besser wieder) hm (-) [mh] A: [mh] joa nicht nur besser der ist richtig gut jetzt

In diesem Ausschnitt misst der Arzt im schon etwas andauernden Gespräch den Blutdruck, wobei die letzten 8.1 sec der Messung ohne verbale Äußerungen der Beteiligten erfolgen. Er teilt dann dem Patienten zunächst nur die Messwerte mit, bewertet sie dann aber umgehend noch mit einer weiteren Befundmitteilung als sehr schön. Die wenig emphatische Kommentierung durch den Patienten korrigiert er seinerseits wieder mit einer hochstufenden Befundbewertung der ist richtig gut jetzt. In diesem Ausschnitt ist das Zusammenspiel von quantitativen und qualitativen Befundmitteilungen zu erkennen, wobei es hier dann um die reine positiv/negativ-Bewertung des quantitativen Befundes geht, nicht um eine krankheitsbezogene weitere Ausdeutung wie im folgenden Ausschnitt. #5 UR_13 (00:18–00:32) 1 2 3 4 5 6 7 8 9

A: (---) ja sie hatten jetzt noch mal (--) (...) gepinkelt [zu deutsch] (n harnfluss) gemacht P: [mhm ] (--) ja A: [oder] produziert P: [ja ] A: und au noch mal s ejakulat vorbei gebracht P: ja

40  10 11 A: 12 13 14 P: 15 A:

 Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen

(--) zum einen (.) im ejakulat (.) sind zu viele weiße blutkörperchen drin (.) [das heißt] also (--) auch [mhm ] die zeichen der entzündung

In diesem Fall teilt der Arzt dem Patienten gleich zu Beginn des Gesprächs verschiedene Befunde mit (harnfluss, urinkultur (nach dem wiedergegebenen Ausschnitt), ejakulat). Das Ergebnis der labortechnisch-quantitativen Auswertung wird in diesem Fall gleich bewertet dargestellt (zu viele), also ohne Angabe der Werte selbst. Im Anschluss daran wird schlussfolgernd (das heißt also) die Krankheitszeichenhaftigkeit und -wertigkeit mitgeteilt (die zeichen der entzündung), nicht aber eine Diagnose selbst. Mit Befundmitteilungen wird der Patient über einzelne, empirisch erhobene Sachverhalte seines Gesundheits- bzw. Krankheitszustandes informiert, wobei die Informationen quantitative, qualitative und bewertende Angaben enthalten. Befunde werden, wenn sie nicht selbst schon auf eindeutige Diagnosen schließen lassen, im Verlauf der Beschwerdenexploration sukzessive ermittelt und gegebenenfalls auch kommuniziert und als empirische Basis einer Diagnose genutzt.

4.1.2 Ätiologische Zusammenhänge Die Ermittlung ätiologischer Zusammenhänge ist eine zentrale Zielgröße ärztlicher Exploration. Damit verbunden ist die Erwartung einer möglichen ursächlichen Behandlung der Beschwerden gegenüber einer rein symptomatischen. Ätiologische Zusammenhänge werden in prädiagnostischen Mitteilungen in unterschiedlichen Gewissheitsgraden formuliert und sind regelmäßig wichtiger Bestandteil der späteren Diagnose. Sie werden zum einen aus dem Abgleich von Befunden und Darstellungen gewonnen, zum anderen verweisen viele Befunde selbst im Rahmen der medizinischen Systematik auf ätiologische Zusammenhänge. So ist beispielsweise der labortechnisch erhobene positive Befund von Erregern oft unmittelbar mit bestimmten Beschwerden verknüpft und über diesen Zusammenhang auch schon eine Diagnose stellbar. Im oben ausführlich analysierten Fallbeispiel des geschwollenen Fingers (Kap. 3) formuliert die Ärztin gleich mehrere Male und in unterschiedlicher Gewissheit und Funktion ätiologische Aspekte. Spricht sie zunächst lose von einem zu befürchtenden Zusammenhang (aber hoffentlich hängt das nich damit zusammen), ist sie sich kurz darauf fast sicher, eine Ursache bestimmen zu können (das ist wohl der grund) und wendet sich kurz darauf mit einer allgemei-

Medizinische Inhalte prädiagnostischer Mitteilungen 

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neren Erklärung des Zusammenhangs an die Patientin (katzen haben manchmal allerhand dreck unter den fingern nich unter den krallen da kann schon mal was passiern). Alle diese Darstellungen beruhen dabei auf der jeweils vorausliegenden verbalen Exploration mit systematischen Fragen zur Abklärung und den entsprechenden Antworten der Patientin. Im folgenden Gesprächsausschnitt, der eine unmittelbare Fortsetzung des zweiten eben bei Befunden behandelten Beispielfalles enthält, folgert der Arzt einen ätiologischen Zusammenhang aus den Befunden selbst. #6 UR_13 (00:26–00:37) 1 2 3 4 5 6 7 8 9

A: zum (.) (.) P: A: die (-) P: ja A: das (-)

einen im ejakulat (.) sind zu viele weiße blutkörperchen drin [das heißt] also (--) auch [mhm ] zeichen der entzündung

heißt eine beteiligung der prostatasamenblasen (.) is so anzunehmen

Der Arzt schließt hier aus dem Befund einer Entzündung, dass der Entstehungsort des Ejakulats mit den vorfindlichen Krankheitszeichen zusammenhängen müsse. In drei Schritten prädiagnostischer Mitteilungen entwickelt der Arzt hier vor dem Patienten ganz explizit aus dem quantitativen Befund dessen Krankheitswertbestimmung und schließlich einen ätiologischen Zusammenhang. Die Ermittlung ätiologischer Zusammenhänge erlaubt es, eine Erkrankung „an der Wurzel“ zu behandeln. Dies ist dann die medizinisch sicherste Basis, eine Krankheit vollständig zu heilen (soweit sie überhaupt heilbar ist). Aus diesem Grund ist zwar die Suche danach eine vordringliche ärztliche Aufgabe, die jedoch bei vielen Beschwerdenbildern aufgrund der multifaktoriellen Verursachung uneinlösbar ist; dies gilt vor allem auch im Zusammenhang psychosomatischer Erkrankungen, bei denen die somatischen Anteile das Ergebnis vielfältiger und lang andauernder schädigender Einflüsse sind, die im Einzelnen gar nicht mehr identifiziert werden können bzw. deren Identifikation keinen direkten Weg zu einer Therapie eröffnen.

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 Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen

4.1.3 Ausschlussdiagnosen Zwar ist die positive Diagnose stets das Ziel der Beschwerdenexploration, ein Zwischenschritt auf dem Weg dahin kann aber auch der Ausschluss anderer Krankheitsbilder sein. Solche Ausschlüsse werden ebenfalls in unterschiedlichen Gewissheitsgraden formuliert und stehen oft im Zusammenhang mit dem Beschwerdenvortrag von Patienten, in denen diese eine eigene Diagnose äußern.⁷⁵ Im folgenden Beispielfall hatte der Patient eine Lebensmittelvergiftung vermutet. Der Arzt zweifelt diese Diagnose jedoch an und schließt zumindest aus, dass die Beschwerden primär und ausschließlich mit dem Verzehr von fehlerhaften Lebensmitteln verknüpft seien. #7 HD_04 (07:13–07:26) 1 2 3 4 5 6

A: (.) der letzte tropfen (.) war der das fass zum überlaufen brachte (sozusagen) mh aber (.) die ursache allein kanns net sein weil (-) schlechte lebensmittel machen ne radikale zustandsbildung brechen und durchfall (innerhalb) ein zwei tagen wieder völlig vorbei ne

Der Arzt konzediert hier zwar zunächst, dass Lebensmittel eine akute Verschlimmerung herbeigeführt haben könnten, weist aber die Diagnose einer alleinigen Ursache zurück und formuliert das Szenario einer Lebensmittelvergiftung, das mit den geschilderten Beschwerden nicht kompatibel sei. Stattdessen äußert er kurz darauf den Verdacht, dass das so ne (-) schleichende magengeschichte schon so is, dem er dann weiter nachgeht. Im obigen Fallbeispiel des geschwollenen Fingers (Kap. 3) unterstellt die Patientin der Ärztin, mit ihrer Erklärung: katzen haben manchmal (0.3) allerhand dreck unter den [...] krallen (Z. 45ff) in Richtung einer Tollwutdiagnose zu denken. Hier bestätigt die Ärztin die Patientin und formuliert sehr dezidiert die Ausschlussdiagnose: das hat mit tollwut nix zu [tun] (Z. 58). Ausschlussdiagnosen dienen zum einen dazu, das Spektrum möglicher Diagnosen einzuengen und andere Optionen zu fokussieren. Im Zusammenhang mit Selbstdiagnosen von Patienten⁷⁶ operieren sie auch als Fremdkorrektur

75 Zu Eigendiagnosen von Patienten und der Reaktion von Ärzten darauf siehe Beach 2001, Frankel 2001, Have 2001, Tautz 2002, Gill/Maynard 2006, Becker 2012. 76 Zu solchen Selbstdiagnosen siehe Beach 2001 und Pomerantz 2003.

Medizinische Inhalte prädiagnostischer Mitteilungen 

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(Schegloff 2007, Egbert 2004, Kitzinger 2013) und dabei häufig auch als Reaktion auf die damit verbundene Kompetenzbeanspruchung. In Fällen potenziell schwerwiegender Diagnosen, wie im angeführten Beispiel der Tollwut-Unterstellung, kann eine Ausschlussdiagnose auch zur Beruhigung des Patienten eingesetzt werden.

4.1.4 Vorläufige Diagnosen Vor einer abschließenden Diagnose oder auch, wenn eine solche gar nicht gestellt werden kann, äußern Ärzte gelegentlich diagnostische Überlegungen, die sie selbst in ihrem Geltungsbereich einschränken und damit (noch) nicht als endgültige Diagnosen verstanden wissen wollen. Solche vorläufigen Diagnosen kommen in weniger als der Hälfte des dieser Untersuchung zugrunde liegenden Gesprächskorpus vor und überwiegend in Zusammenhang mit vom Arzt selbst als unklar gekennzeichneten Beschwerdenbildern oder in Reaktion auf Eigendiagnosen von Patienten. Im Gespräch mit einer Patientin mit juveniler Polio und aktuell aufgetretener nächtlicher Harninkontinenz in den Wechseljahren spricht der Arzt wiederholt und spekulativ vorläufige Diagnosen an: #8 UR_05 (03:33–03:38, 05:35–05:40, 06:13–06:19) 1 2 3 4 5 6 7 8

A: wenn sie wenn lähmungserscheinungen waren (.) kanns au mal nervenstörungen der blase sein [...] es kann sicherlich ne gewisse reizblase dadurch bedingt sein (.) durch die oh gewisse hormonabhängigkeit [...] es können durch äh hormonabhängige veränderungen da sein das heißt verengung der harnröhre zum beispiel

Die unterschiedlichen Diagnosen nervenstörungen, reizblase und verengung der harnröhre zielen alle auf das von der Patientin geschilderte Beschwerdenbild, sind aber differenzialdiagnostisch eher alternativ. Auffällig sind die vielen Modalisierungen durch die Satzkonstruktion (Konditionalsatz), durch Modalverben und Modalpartikel etc. Der Arzt dokumentiert damit seine Explorationsrichtung, zugleich aber auch den jeweiligen Stand seiner Überlegungen. Viele der vorläufigen Diagnosen finden sich in Gesprächen mit Patienten, die eine somatische Eigendiagnose vorbringen, die vom Arzt im Verlauf der Exploration aber auf mögliche psychosomatische Zusammenhänge aufmerksam

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 Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen

gemacht werden (s. Burbaum/Stresing 2012), wie in den beiden nachfolgenden Gesprächsausschnitten. –



ich hab so n bisschen doch auch den eindruck dass das äh so auch vielleicht so funktionelle störungen sein könnten die also gar nich wo man so gar nicht groß was findet (IA_03, Z. 150–154)⁷⁷ für mich hört sich das so wie so ne stresssymptomatik an (HD_01, Z. 302f)

In beiden Fällen wird deutlich, dass der Arzt den Gewissheitsstatus seiner vorläufigen Diagnose vor allem qua epistemischer Ausdrücke („den Eindruck haben“, „sich anhören wie“) relativiert. Dies ist weniger seinem tatsächlichen Gewissheitsstatus geschuldet, als einem angemessenen recipient design Patienten gegenüber, die bis dato deutlichen Widerstand gegen einen nicht-somatischen Beschwerdenhintergrund deutlich gemacht haben.⁷⁸ Die interaktiven Funktionen vorläufiger Diagnosen sind vielfältig und erforderten eine eigene Untersuchung, die hier nicht geleistet werden kann. Wichtig ist vor allem, dass solche prädiagnostischen Mitteilungen das ärztliche Bemühen, vor allem in schwierigeren Fällen, dokumentieren und den Patienten am diagnostischen Prozess beteiligen, auch, um dessen Einsicht in weitere Explorationsverfahren, möglicherweise unerwartete Diagnosen oder spätere Therapieentscheidungen vorzubereiten.⁷⁹ Abzugrenzen ist die hier charakterisierte Form der Mitteilung einer vorläufigen Diagnose von der Verdachts- resp. Arbeitsdiagnose, die bis auf Weiteres bereits als Grundlage therapeutischen Handelns gilt und weitere Exploration entweder vorläufig suspendiert oder gänzlich unterlässt.⁸⁰

77 Kurze Transkriptausschnitte werden nicht mit Zeitangabe, sondern mit der Zeilenangabe der mir vorliegenden Transkripte (Stand 2013) angegeben. 78 Zur Funktion von prädiagnostischen Mitteilungen als Mittel zur Umlenkung patientenseitiger Einstellungen und Vorannahmen siehe Kap. 7.2. 79 Stivers 1998 und 2007 zeigt zum einen, wie online commentaries genutzt werden, um die Bereitschaft des Tierhalters, kostenpflichtige Untersuchungen durchführen zu lassen, zum anderen, wie prediagnostic commentaries elterlichen Druck abwehren sollen, Antibiotika verschreiben zu sollen. 80 Dies geschieht beispielsweise in der Notfallmedizin aus Gründen der Notwendigkeit schneller Erstversorgung oder in der medizinischen Praxis aus Kostengründen, wenn z. B. bei wenig problematischen Beschwerdenbildern nur unangemessen aufwändige Untersuchungen eine abschließende Diagnose sichern könnte (z. B. eine virologische Untersuchung bei einem grippalen Infekt).

Linguistische Eigenschaften prädiagnostischer Mitteilungen  

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4.2 Linguistische Eigenschaften prädiagnostischer Mitteilungen Die inhaltlichen Aspekte von prädiagnostischen Mitteilungen sind nach medizinisch-diagnostischen Kriterien bestimmt. In linguistischer Hinsicht sind einige weitere Bestimmungen für die Beschreibung prädiagnostischer Mitteilungen und die Analyse ihrer interaktiven Funktionen von Bedeutung. Dies betrifft zunächst ihren Äußerungsmodus, auch in Abgrenzung von anderen Äußerungstypen im Rahmen der Beschwerdenexploration. Weitere linguistisch relevante Aspekte betreffen die pragmatischen Funktionen von prädiagnostischen Mitteilungen sowie die Relativierung ihres Gewissheits- und Geltungsanspruchs qua Modalisierung.

4.2.1 Äußerungsmodus prädiagnostischer Mitteilungen Prädiagnostische Mitteilungen stehen im Deklarativmodus, d. h., sie behaupten einen Sachverhalt als möglich oder tatsächlich gegeben. Äußerungen wie – –

stuhlprobleme haben se auch wie s ausschaut (UR_02, Z. 263) zum after hin is sie gar net arg vergrößert die prostata (UR_02, Z. 268f)

geben unmittelbar gemachte Beobachtungen während der körperlichen Untersuchung wieder. Dabei ist die erste Mitteilung als Nebenbefund der Untersuchung charakterisiert (haben se auch), während die zweite deren eigentlichen Zweck, die Untersuchung der Prostata, zum Thema hat. Schwierigkeiten der Modusbestimmung ergeben sich im Zusammenhang der Beschwerdenexploration bei der Abgrenzung zu Deklarativsatzfragen. Diese Schwierigkeiten ergeben sich aber nicht nur für den Analytiker, sondern auch für die Gesprächsteilnehmer selbst. In der oben vorgestellten Fallanalyse (Kap. 3) formuliert die Ärztin im Anschluss an die Information, dass die Patientin doch eine Verletzung durch eine Katze erlitten hatte, die Äußerung: ja aber hoffentlich hängt das nicht damit zusammen nich (Z. 24). Sie selbst schließt dann unmittelbar mit der weiteren Nachfrage an die hat zweimal hier reingehackt (Z. 25). Gleichzeitig mit der Nachfrage äußert die Patientin aber ja also sie hat, was einem Antwortformat entspricht, mit dem Erläuterungen zur ärztlichen Äußerung begonnen werden. Sie zieht ihren Beitrag dann zwar sofort zugunsten des Beitrags der Ärztin zurück und reagiert auf die weitere Nachfrage, womit beide den vorhergehenden Beitrag der Ärztin als Mitteilung behandeln. Dennoch ist erkennbar, dass die Patientin diesen Beitrag zunächst als Frage versteht.

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 Medizinische Inhalte und Linguistika von prädiagnostischen Mitteilungen

Das kurze Missverständnis beruht auf der strukturellen Vagheit von deklarativen Äußerungen im Rahmen eines explorativen Handlungsrahmens. Die strukturelle Vagheit ist in einem solchen Rahmen aber nicht per se (nur) als Dilemma zu sehen, sondern ermöglicht es den Interaktionspartnern, flexibel mit der von ihnen konstituierten Handlungsaufgabe der Exploration umzugehen: Ärzte können Patienten so entscheiden lassen, ob sie eine Äußerung als Mitteilung oder als Frage verstehen, und Patienten haben die Möglichkeit zu verschiedenen Reaktionsformaten. Insbesondere explikative Deklarativsatzfragen (Spranz-Fogasy 2010), die vielfach einen Wechsel „von der Sachebene auf die Ebene des psychischen Erlebens der Patienten“ darstellen (ebda. Anm. 61), werden von Patienten oft gar nicht type conform (Raymond 2003) mit „ja“ oder „nein“ bearbeitet, oder sie geben nur eine kurze – eher ratifikative denn akzeptierende – Antwort darauf, fahren dann aber mit Beiträgen fort, die einer Fortsetzung ihrer bisherigen Darstellungen entsprechen und die ärztliche Intervention geradezu ignorieren: #9 HD_01 (02:20–02:59) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26

P: °h und zwar ich komm weil s mir im moment also (-) seit drei tagen (.) total komisch geht (--) dass ich nämlich ähm (2.2) so die stimme so weiter weg höre und selber so (1.8) A: hmhm P: also °h ähm wie wenn ich schlafe A: [mhm] P: [und] und so am aufwachen bin (--) (dann) hört man ja auch so=n so=n hall s gibt wie jemand redet im raum das hört man (dann/ja) so °h im unterbewusstsein noch so n bisschen oder kurz vorm einschlafen °h und irgendwie so hua (---) A: das [macht dir angst] P: [schrecklich ] A: dann P: ja A: ne (1.6) ((Schreibgeräusche)) P: un jetzt (-) ähm

Linguistische Eigenschaften prädiagnostischer Mitteilungen  

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(---) am freitagabend hat s angefangen (-)