Der Rechtsmittelgegenstand im Zivilprozeß: Die Rechtsmittel zwischen Kassation und Verfahrensfortsetzung [1 ed.] 9783428474448, 9783428074440

148 20 16MB

German Pages 143 Year 1992

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Rechtsmittelgegenstand im Zivilprozeß: Die Rechtsmittel zwischen Kassation und Verfahrensfortsetzung [1 ed.]
 9783428474448, 9783428074440

Citation preview

PANAGIOTlS KOLOTOUROS

Der Rechtsmittelgegenstand im Zivilprozeß

Schriften zum Prozessrecht Band 104

Der Rechtsmittelgegenstand im Zivilprozeß Die Rechtsmittel zwischen Kassation und Verfahrensfortsetzung

Von Dr. Panagiotis Kolotouros

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Kolotouros, Panagiotis:

Der Rechtsmittelgegenstand im Zivilprozeß : die Rechtsmittel zwischen Kassation und Verfahrensfortsetzung / von Panagiotis Kolotouros. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Schriften zum Prozessrecht ; Bd. 104) Zugl.: München, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07444-0 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 3-428-07444-0

Dem Andenken meines Vaters

Vorwort Die vorliegende Schrift lag im Frühjahr 1990 der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München als Dissertation vor. Das Manuskript wurde Ende 1988 abgeschlossen und ging in den Druck nahezu unverändert. Herrn Prof. Dr. Peter Schlosser herzlichsten Dank für die fachliche und menschliche Betreuung, Herrn Prof. Dr. Bruno Rimmelspacher, dem Zweitvotanden, für Kritik und Ratschläge. Dankeswort gebührt ebenfalls Herrn Prof. Norbert Simon, Herrn Prof. Dr. KonstantinBeys, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Georg Mitsopoulos sowie Herrn Rechtsanwalt Gregor Logothetis. Dank auch an Lina für ihre Geduld mit mir. München, im Frühjahr 1990

Panagiotis Kolotouros

Inhaltsverzeichnis Einleitung

Von der rechtstheoretischen Grundlage einer allgemeinen Rechtsmittellehre

11

Erstes Kapitel

Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

14

A. Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung oder Urteilskontrolle ..................

14

B. Fremdpolitisch bestimmte Rechtsmittel - noch heute? ....................... a) Hergebrachte politische Fremdbestimmung des Instanzenwesens ......... b) Aktueller politischer Diskussionsstand und Reformvorschläge ............

20 20 24

Zweites Kapitel

Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

28

A. Rechtsmittelsysteme in rechtsvergleichender Sicht ............................. a) Das sogenannte eingeschränkte Rechtsmittelsystem ....................... b) Das sogenannte volle Rechtsmittelsystem .................................. c) Relative Rechtsmittelsysteme ................................................

28 29 31 34

B. Legitimationsschwächen des als voll attestierten geltenden Rechtsmittelsystems a) Vom vollen zum eingeschränkten Novenrecht .................... ......... b) Funktionsdefizite der sogenannten Allzuständigkeit der Rechtsmittelinstanz .. ................. ......... .... ................. ........ .... ........... aa) Neuverhandlungsprinzip contra Kontrollkompetenzen? ...... ......... bb) Begrenzte Nachprüfungskompetenz der Rechtsmittelinstanz ... ...... c) Der konforme Prozeßausgang ............................................... aa) Die Zurückweisung des Rechtsmittels nach § 563 .................... bb) Die Aufrechterhaltung des Anfechtungsobjekts nach §§ 343,92511 ....

36 36 41 41 43 48 48 52

C. Die Natur der "Rechtsmittelsache" .............................................. a) Historische Vorläufer und gesetzgeberische Intentionen................... b) Rechtsmittel und funktionsanalytische Verfahrenslehre ....................

55 56 61

Drittes Kapitel Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung A. Funktionale Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen a) Die Bewertung der Wiederaufnahme als Klage ............................ b) Der Suspensiveffekt als Kausalfaktor für die Bewertung der Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzungsmittel und die vermeintliche Antinomie ,,Rechtsmittel-Klage" .................................................................

68 68 69 75

10

Inhaltsverzeichnis

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens .................................. a) Kassatorisches Rechtsmittelverfahren und kassatorischer Rechtsmittelgegenstand .................................................................... b) Reformatorischer Rechtsmittelgegenstand und sein Verhältnis zur Kassation ...... ......... ................. ............. ................ ........... .... aa) Stufenf"ormiger Verfahrens aufbau unter funktionalem Vorrang der Kassation ................................................................ bb) Das reformatorische Verfahren als funktionaler Bestandteil des Rechtsmittelprozesses. ..........................................................

C. Ansätze zu einer funktionalen KlassifIkation der zivilprozessualen Anfechtungsformen .......................................................................

82 82 91 92 96 100

Viertes Kapitel

Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum A. Erweiterung der Urteils grundlage durch nova reperta ..........................

103 103

B. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova producta .............. .......... 106 a) Die landläufige Identifizierung des für die Klage- und Rechtsmittelbegründetheit maßgebenden Zeitpunkts .... ..... .......... .................. .... ... 106 b) Prozessuale Komplikationen der Identifizierung ........................... 107 aa) Die Schadensersatzanspruche aus ungerechtfertigter Vollstreckung 108 bb) Die Prozeßkostenlast .................................................... 112 cc) Weitere Implikationen: Rechtskraftwirkungen, Pfandungspfandrecht, periodische Leistungen .................................................. 114 c) Interne Prozeßvergleichung .................................................. 115 aa) Die zeitliche Fixierung des materiellen Anspruchs im verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsprozeß ....................................... 115 bb) Die zeitliche Fixierung des materiellen Anspruchs im Anfechtungsprozeß des Entmündigungsverfahrens .................................. 119 cc) Die zeitliche Fixierung des materiellen Anspruchs im Anfechtungsprozeß des Arrestverfahrens ............................................ 120 d) Abweichende Fixierung des für die Klage- und Rechtsmittelbegründetheit maßgebenden Zeitpunkts ........ ............ ................ ............ .... 121 aa) Nova producta als Anfechtungsgründe - Urteilskorrektur mit zeitlich beschränkter Wirkung - ,,Abänderungsberufung" ... ................ 121 bb) Nova producta als Verteidigungsmittel- Keine Rechtsmittelzuruckweisung ..... ..... ............ .......... ....... ............. ... ........... 125 cc) Praxisnah orientierte Alternativen...................................... 127 dd) Nova, welche die materielle Rechtslage nicht beeinflussen .......... 128 Schlußbetrachtung

Der funktionale Rechtsmittelbegriff der allgemeinen Prozeßlehre

130

Literaturverzeichnis

133

Einleitung

Von der rechtstheoretischen Grundlage einer allgemeinen Rechtsmittellehre § 1 Unter dem rechtspolitischen Aspekt der sozialen Funktionstüchtigkeit und dem rechtsdogmatischen einer in sich widerspruchsfreien Gesetzessystematik sieht sich das zivilprozessuale Rechtsmittelwesen zunehmend kritischen Anmerkungen ausgesetzt. Mag die aktuelle Rechtsmittelrefonndebatte, in der Tenninologie der Organisationswissenschaft gesprochen, von der Knappheit der Rechtsfindungsressourcen diktiert sein und sich deshalb den Vorwurf einer ,,Rechtspolitik der leeren Kassen" gefallen lassen [so in der Tat Koch, AnwBI 83, 351], so hat sie aber doch die Wirkung eines wachsenden Zweifelns am überkommenen Verständnis des Rechtsmittelverfahrens als eines verlängerten erstinstanzlichen Erkenntnisprozesses um Leistung, Feststellung oder Gestaltung gehabt. Würde die drückende Last der sog. Instanzenmentalität den Rechtsmittelsektor von einer Theorie entlasten, für die die in der Gleichung ,,höheres Gericht = besseres Recht" implizierte rechtspolitische Motivation des Gesetzgebers unter Zuhilfenahme eines als Aufschub der fonnellen Rechtskraft und damit auch der" Veifahrensbeendigung" mißverstandenen Suspensiveffekts dogmatisiert wurde? Vielleicht. Es wirkt jedenfalls gequält, wissen zu müssen, daß die Betrachtung der Rechtsmittel als Mittel zur " VeifahrensJortsetzung ", die Bewertung des Rechtsmittelverfahrens als eines "funktional unselbständigen Anhängsels des Prozesses in der Vorinstanz " auf die untergeordnete und dazu auch noch pervertierte Konstruktionsvariante des Suspensiveffekts aufbaut.

§ 2 Gegen diese allgemeine Rechtsmittel- und Verfahrenslehre im Westentaschenfonnat hatte sich allerdings vor fast zwei Jahrzehnten Peter Gilles gewendet und ein diametral entgegengesetztes Rechtsmittelmodell entworfen, das manchem noch immer vorzugsweise als eine abzulehnende monistische Sondenneinung anmutet [exemplarisch Bettermann. Anfechtung und Kassation ZZP 88,365 f.]. Dies beruht wohl weder darauf, daß Gilles mit dem erklärten Willen des Gesetzgebers bricht, dem seinen Ambitionen zum Trotz eine stringende Rechtsmittelkonzeption ohnehin nicht nachzusagen war, noch darauf, daß er Fakten konstatiert, die keine nonnativen Maßstäbe wiedergeben. Vielmehr hatte Gilles einen mit generationenlangem Traditionsdenken belasteten Sektor zu enttabuisieren, ohne daß es ihm gelungen wäre, einen konsequent durchdachten Entwurf zu liefern; denn dies zum letzteren: Ungeachtet einer vom positiven Recht nicht tolerierten

12

Einleitung

Überbetonung des kassatorischen auf Kosten des refonnatorischen Rechtsmittelelements wird zwar der Rechtsmittelprozeß mit Recht als "selbständiges Kontrollverfahren " aufgefaßt, der Kontrollgedanke aber dann gleich aufgegeben, sofern im Falle der Erweiterung der Entscheidungsgrundlage des Rechtsmittelgerichts durch Gebrauch VOn einem allflilligen Jus Novorum und insbesondere durch nova producta VOn einer "hic et nunc Urteilskontrolle" ausgegangen und der aufhebenden oder konfinnierenden Rechtsmittelentscheidung Rückwirkung beigelegt wird. Mit dieser Identifizierung des für die "Klage-" und "Rechtsmittelbegründetheit" maßgebenden Zeitpunktes geht einher, daß die auf die sonst strikte Trennung zwischen Klage- und Rechtsmittelbegründetheit aufgebaute funktionale Verselbständigung des Anfechtungsprozesses ein übriges tut. Was also in erster Linie nottut, ist den Kontrollgedanken auch dort zu verifizieren, wo sich hinter dem durch das Urteil der Vorinstanz fixierten Sachverhalt die Möglichkeit eines neuen Sachverhaltsbildes erhebt, zumal man im Wege der Systembildung dem Rechtsmittel nach Art der Rechtsbeschwerde ein solches gegenüberstellt, das zu einer Neufonnung des Tatsachenstoffs führen kann und an dem man von vornherein das Etikett der Verfahrensfortsetzung anzukleben pflegt. § 3 Wenn es zutrifft, daß der Rechtsmittelbegriff ein solcher der allgemeinen Verfahrenslehre ist [Pollak, System des österreichischen Zivilprozeßrechts mit Einschluß des Exekutionsrechts, 558], dann haftet der trivialen Annahme, daß er flexibel, für jede Prozeßordnung nach der positiven Nonnierung zu bestimmen sei [so etwa Walsmann, Die Anschlußberufung, 44, 45], insofern etwas Anstößiges an, als die Begriffe und Tennini der allgemeinen Verfahrenslehre von Haus aus eine gewisse Abstraktionshöhe und die Lösung vom positiven Material verlangen [Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre und verfassungsgerichtliches Verfahren, 10]. Darüber hinwegtäuschen kann nicht, daß der Rechtsmittelbegriff in internationaler Ebene durch Zusammenstellung jeweils diverser Behelfe enger oder weiter detenniniert wird [siehe etwa § 527 französische NCPC, § 323 italienische CPC, § 495 griechische ZPO]; denn ungeachtet der allgemeinen Unverbindlichkeit von Definitionen als bloße "linguistic recommendations" [Dennis Lloyd, Introduction to jurisprudence (1969), 29] bleibt dem von einer groben Konzeption ausgehenden Gesetzgeber unbenommen, um der äußeren Gesetzessystematik willen einzelne Anfechtungsfonnen zusammenzustellen, ohne daß es sich dabei auch um funktional gleichgeartete Institute handeln müßte. Noch weniger besagt der Umstand, daß die etwaigen Rechtsmittel nicht immer suspensiv bzw. devolutiv, mitunter rein kassatorisch und häufiger zusätzlich refonnatorisch konzipiert sind, eine Wiederholung des gesamten Prozeßmaterials oder eine anband einzelner inkriminierter AnfechtungsgrüDde beschränkte Urteilskontrolle desselben bewirken; denn, wie es noch gezeigt wird, sind derartige Abweichungen nicht auf den fraglichen Kern des Rechtsmittelbegriffs, sondern auf dessen Umfang bezogen. Man stößt also mit Fragen um "Begriff", allgemeinen" Charakter", " Wesen" oder "Funktion" der Rechtsmittel in ihrer grundSätzlichen Abgrenzung

Einleitung

13

gegenüber anderen affinitiven Verfahrenseinrichtungen auf eine den geltenden Prozeßordnungen vorgegebene Art von Natur der Sache. Sobald diese in faßbare Bestimmungsgründe aufgelöst wird, wird sich auch zeigen, daß die institutionelle Anfechtungszwecksetzung tangierende Alternative einer" VerfahrensJortsetzung oder Urteilskontrolle " in Wirklichkeit gar keine ist [entgegen etwa Schmidt JuS 74, 544].

Erstes Kapitel

Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik A. Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung oder Urteilskontrolle § 4 Als Modell der Verfahrensfortsetzung läßt sich ein Zuschnitt des Rechts~ mittels umschreiben, der das Verfahren in der Oberinstanz mit denselben inhaltlichen Möglichkeiten und vor allem mit derselben institutionellen Zwecksetzung wie in der Vorinstanz ablaufen läßt. Ein solches Modell hat denn die vorherrschende Doktrin vor Augen. Fixiert auf die nach wie vor zu Wesensmerkmalen des prozessualen Rechtsmittelbegriffs hochstilisierten Konstruktionsvarianten des Suspensiv- und Devolutiveffekts 1 sieht sie die Hauptfunktion der als schlichte Verfahrensanträge 2 begriffenen Rechtsmittel darin, die formelle Rechtskraft des Anfechtungsobjekts aufzuschieben, das vorinstanzliche Verfahren also andauern zu lassen 3 ood dieses unter gleichzeitigem Anfall der Streitsache beim iudex ad quem in die Oberinstanz überzuleiten. Das Rechtsmittelverfahren stelle mithin einen" unselbständigen Abschnitt eines einheitlichen Erkenntnisprozesses " 4 dar, der sich mit dem nämlichen Verhandlungs- und EntscheidungsgegenstandS und den nämlichen prozessualen wie materiellen Erfolgsvoraussetzungen, 6 zu denen 1 Vgl. exemplarisch Schwab, FS-Carl Heymanns Verlag, 207; R / Schwab, § 135 I 1 a, b; Behre, Streitgegenstand, 92; Kion, Eventualverhältnisse, 127; Schiedermair, FSDölle, 329 (332); Schiller, Handbuch, 326; Schönke / Kuchinke, § 76 I; B / L / Albers, Grundz § 511 lA, B, C; S / JI Grunsky, Allg. Ein1.l2 vor § 511; T / Putzo, vor § 511 I 1,2; Z / Schneider, vor § 511 I; Zeiss, § 81 I 2; Nikisch, § 117 I 2, 3. 2 Vgl. exemplarisch v. Kries, Rechtsmittel, 150, 169, 204; Fenn, Anschlußbeschwerde, 192; HabscheidNIW 74, 635 (636); Schönke / Kuchinke, § 77 I 2. Näheres unten zu §§ 69 f. 3 Der Suspensivffekt wird allgemein als Hemmung derformellen Rechtskraft definiert [siehe vorläufig Bruns, § 52 Rdn 263] und mit dem Aufschub der "Prozeßbeendigung" identifiziert [siehe vorläufigJ. Blomeyer, Erinnerungsbefugnis, 21 f.]. Daß die Rechtsmittel infolge dieses Effekts eine "Fortsetzung" des Rechtsstreits bewirkten, betonen insbesondere Nikisch, § 117 I 1 und R / Schwab, § 135 I 1 a. Zu den folgenschweren Mißverständnissen bezüglich des Suspensiveffekts, auf die letztendlich die gesamte Rechtsmittellehre bis heute autbaut, siehe unten zu §§ 65 f. 4 Vgl. grundlegend Schoetensack, FS-Burckhard, 251 (260 f.); Bettermann DVB153, 163, 202 (203); Pfeifer, Gestaltungsklagen, 36; Kisch, Beiträge zur Urteilslehre, 161; Walsmann, Anschlußberufung, 48; Schmidt RheinZ 14, 115 (138). 5 Behre ,Streitgegenstand, 33 f.; Mettenheim,Prozeßökonomie, 90; Habscheid / Lindacher NIW 64, 2395; Bettermann ZZP 88, 365 f.; Leipold, Rechtsmittel, 285 (290 f.); R / Schwab, § 140 11 1; Nikisch, § 12211 1; S IJ / Grunsky, vor § 511 Rdn 4.

A. Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung oder Urteilskontrolle

15

lediglich noch als Rechtsmittelzulässigkeitsvoraussetzungen einige besondere ., VerjahrensJortsetzungsbedingungen" 7 hinzukämen, innerhalb des Instanzenzuges treppenförmig fortentwickle und ungeachtet des .,provisorischen" 8 Aktes der Vorinstanz stufenweise auf die noch zu fällende eigentliche, endgültige Streitentscheidung zubewege. 9 Von einem solchen Rechtsmittelverständnis aus sind dann allerdings die Wiederaufnahmeklagen von den Rechtsmitteln fundamental verschieden und funktional anders geartet, 10 setzen sie doch umgekehrt einen .,endgültigen" Akt voraus. Während also die Rechtsmittel dazu geschaffen seien, die defInitive, prozeßbeendigende Entscheidung überhaupt erst noch zu treffen, verfolge die Wiederaufnahme das konträre Ziel, die prozeßbeendigende Entscheidung wieder aufzuheben, weswegen sie auch., außerhalb der Prozeßeinheil" liege und als .,selbständige Klage" mit eigenem Prozeßgegenstand ll konstruiert sei. Die Diskussion um dieses "antinomische Verhältnis" 12 zwischen den beiden, ehemals als funktionsgleiche Einrichtungen begriffenen und abgehandelten Anfechtungsformen \3, gipfelt endlich in diversen, stichwortartig artikulierten Begriffsgegensätzen, von denen das Klischee., VerjahrensJortsetzung hin, VerJahrensneubeginn her" 14 wohl am prägnantesten ist. Die Schöpfer dieses Rechtsmittelverständnisses, das sich ansatzweise in der letzten großen Darstellung des gemeinen Prozesses abgezeichnet hat, 15 waren erst die Schöpfer der CPO von 1877. 15. Überzeugt davon, daß "der Begriff eines 6 Der herrschenden Ansicht ist eine eigenständige Rechtsmittelbegründetheit fremd; sie identifiziert diese einfach mit der emeuten Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit der erstinstanzlichen Klage. Siehe etwa Bettermann (Fn.5) 375 f., 386; Blomeyer, § 101 11 5; Schumann, Berufung, § 20 Rdn 470; J. Blomeyer ZZP 81, 20 (21). Näheres unten zu §§ 79 f. 7 Wieczorek, § 519 Alb; Ratte, Beschwerde, 69; Seil, Rechtsmittelbegründung, 5. 8 Habscheid (Fn. 2) 636; Kisch (Fn. 4) 161, 181; Ratte (Fn. 7) 71; Pfeifer (Fn. 4) 95. 9 Nach der prägnanten Formulierung Steins, Grundriß, 307 gelte "als Ziel der Rechtsmittel, das erste Urteil [ungeachtet seiner Berechtigung bzw. Richtigkeit] durch ein zweites zu ersetzen ". Ähnlich Hellwig, System I, 842 und R I Schwab, § 135 I 3 a: "Eine völlig neue Entscheidung des Rechtsstreits durch Fortsetzung und Erneuerung der Verhandlung." Kissel, Gerichtsaufbau, 69. 10 So Schoetensack (Fn. 4) 260 f.; Pfeifer (Fn. 4) 95; Arens, § 38 Rdn 428; Bettermann (Fn.4) 168. Näheres unten zu §§ 56 f. 11 Siehe vorläufig Schoetensack (Fn. 4) 259 und näheres unten zu §§ 57 f. 12 Pfeifer (Fn.4) 34 f., 95 f.; J. Blomeyer, Erinnerungsbefugnis, 21 f. 13 Siehe vorläufig Gönner, Handbuch, 158 f. und näheres unten zu § 65. 14 Statt aller vgl. J. Blomeyer (Fn. 12) 21 f. 15 Wetzell, System, 664 f., 669 f. 15a Zu beachten ist indessen, daß der französische c. pr. c. von 1806 von "double degre de jurisdiction" sprach, womit wohl auch die Neuaufrollung des Prozesses im zweiten Rechtszug gemeint war. Den darin niedergelegten Sinn kann man gleichwohl objektiv so interpretieren [wie § 12 I griechische ZPO zeigt, der ebenfalls von einer "doppelten Jurisdiktion" ausgeht], daß andersartige Rechtspflegefunktionen in derselben Sache an verschiedene Rechtspflegeorgane verteilt, die Aufgaben namentlich der Eingangsgerichte von denen der in derselben Sache tätig werdenden Rechtsmittelinstanz funktionell unterschieden und abgegrenzt werden [so Kerameus, Zivilprozeßrecht, Allgemeiner Teil (1986) 17,447].

16

1. Kap.: Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

Rechtsmittels kein historisch gegebener" sei, weshalb er "in verschiedenem Sinne genommen werden" könne, 16 stellten sie sich ein Rechtsmittelrecht vor, das ,,kein Recht auf Kritik, ... Nachprüfung und Berichtigung des untergerichtlichen Urtheils ... , sondern das Recht auf Gewährung eines neuen Judizium, auf Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreits" vor einem anderen Gericht sei, "das seiner ganzen Anlage nach eine größere Gewähr für eine gründliche Rechtsprechung" darbiete. 17 Insbesondere mit der Berufung gewähre der Staat den Parteien die Möglichkeit, "ihren Rechtsstreit in einem wohl geordneten Verfahren zweimal zu verhandeln und die Entscheidung wohlbesetzter Gerichte zu erwirken".18 Dieser Erneuerung und Wiederholung des alten Streites seien allerdings "zur Aufrechterhaltung des im öffentlichen Interesse festgesetzten Instanzenzuges" gewisse Zulässigkeitsbedingungen vorgeschaltet, die das Gericht "als Vorfrage" vorab zu prüfen habe, 19 ehe der Gegenstand des Rechtsmittels, namentlich "die rechtliche und die tatsächliche Seite des Rechtsstreites", 20 "von Neuern" 21 verhandelt und entschieden werde. Die dadurch bewirkte Neuformung des [durch Gebrauch von einem allfälligen Jus Novorum eventuell erweiterten] Tatsachenstoffs wurde später als typisch für ein sog. .. volles" Rechtsmittelsystem angesehen, bei dem es - im Gegensatz zum .. eingeschränkten" - angeblich allein um eine neuerliche oder reformatorische Verhandlung und Entscheidung der alten Sache gehen soll. 22 Mit solch einer pro'zeßtypologischen Systematisierung geriet jedoch in Vergessenheit, daß für diese Rechtsmittelbewertung nicht etwa die Neuformung des Tatsachenstoffs oder das Novenrecht,23 sondern der Suspensiveffekt kausal war: Sah der Gesetzgeber in den Rechtsmitteln eine unselbständige Fortsetzung des noch unbeendeten Eingangsverfahrens mit dem Ziel, die definitive Entscheidung überhaupt erst noch zu treffen, so nur deshalb, weil "ein Urtheil, welches einem von außerordentlichen Umständen unabhängigen Angriffe unter16 Hahn, 139. Eine Lektüre der alles in allem mehr verwirrenden denn erläuternden Motivierung der neuen Behelfe und ihres Systems [siehe unten zu § 50] entlarvt indes, daß der Gesetzgeber bei den einzelnen Bestimmungen doch wieder auf hergebrachte Einrichtungen zurückgriff. So gelangten in den neuen Instituten vielfach völlig andere Gedanken und Prinzipien zum Durchbruch, als sie dem Gesetzgeber vorschwebten, so daß sich dann auch das Rechtsbehelfssystem in vieler Hinsicht anders ausnimmt als geplant [siehe unten zu §§ 26 f., 31 f., 37 f.]. 17 Hahn, 139, 141. 18 Hahn, 141. 19 Hahn, 357 f. 20 Hahn, 140. 21 Hahn, 141. 22 Siehe vorläufig Faschin/:, FS-Rammos, 263 und näheres unten zu §§ 15 f. 23 Es sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß auch bei der Anfechtungsklage nach § 664 oder der verwaltungsgerichtlichen Anfechtungsklage die Partei vom Novenrecht Gebrauch machen kann [hierzu siehe unten zu § 92 b], ohne daß diese Anfechtungsformen "Verfahrensfortsetzungsmittel" wären. Umgekehrt ist das Revisionsgericht auf das Blickfeld der Vorinstanz fixiert; gleichwohl soll diese "frei gestaltete revisio in iure" (Hahn, 141) ebenfalls ein Mittel zur Verfahrensfortsetzung sein.

A. Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung oder Urteilskontrolle

17

liegt", "ohne unnatürliche Fiktion" noch gar nicht als "definitive Entscheidung" der Sache angesehen werden könne. 24 § 5 Animiert von den politischen, mit dem Pauschalbegriff der "Instanzenmentalität" angeprangerten Implikationen des Verfahrensfortsetzungsmodells 2S und ausgehend von der gültigen Annahme, daß jedes prozessuale Erkenntnisverfahren darauf angelegt ist, optimalen Rechtsschutz in einer einzigen und deshalb bereits in der ersten Instanz zu gewähren,26 betont hingegen die zweite Modellvorstellung die Eigenwertigkeit und Eigenständigkeit eines jeden Rechtszuges, wobei sie im Prozeß eine "aufgabengliedrige Organisation" bzw. "Funktionsteilung im Sinne einer objektivierten Aufgabenteilung "27 sieht und dem Eingangsverfahren "Entscheidungsschöpfungsfunktionen", dem Rechtsmittelverfahren "Entscheidungskontrollfunktionen " zuspricht. 28 Letzteres dient demnach nicht einer apriorischen, um der maximalen Urteilsqualität der Obergerichte willen vorzunehmenden Ersetzung des Anfechtungsobjekts, sondern einer Ersetzung nur für den Fall der Erschütterung oder Zerstörung 29 der dem angefochtenen Akt innewohnenden Richtigkeitsvermutung. 30 Der Rechtsmittelprozeß bildet mithin keinen notwendigen Anhang des Prozesses in unterer Instanz, 31 sondern ein eigenständiges Veifahren mit eigenem kassatorischen Verfahrensziel, eigenem kassatorischen Veifahrensgegenstand 32 und eigenen prozessualen [Rechtsmittelzulässigkeitsvoraussetzungen] wie sachlichen [Rechtsmittelbegründetheitsvoraussetzungen] Erfolgsbedingungen,33 womit es denn auch das "Rechtsmittel" vom vorinstanzlichen Rechtsstreit bzw. Streitgegenstand, der "Sache", trotz ihrer

Hahn, 425. Siehe hierfür auch Wach, Vorträge, 244. Siehe vorläufig Zeidler DRiZ 83, 249 (253) und näheres unten zu §§ 7 f. 26 Vgl. Gilles JuS 85, 253 (254); ders. Referat zur BJM-Arbeitstagung, 11 (14). 27 Siehe Hagen, Elemente, 113. 28 Hagen (Fn. 27) 113, 114; Ertl ÖJZ 74, 418; auch Röhl, Effektivität und Funktionen der Berufung, 251 (265); Zeidler (Fn. 25) 255; Pohle, Revision, 11. 29 Gilles, Humane Justiz, 147 (157). 30 Zum Problemkreis der Richtigkeitsvermutung von Gerichtsakten vgl. besonders Meder, Das Prinzip der Rechtmäßigkeitsvermutung, dargestellt für die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen (1970) 32 f. Siehe auch Gaul AcP 168, 27 (61); Gilles, FS-Schiedermair, 183 (198 f.). 31 Gilles AcP 177, 189 f. 32 Vgl. Sartorius AcP 31, 313 (346); Menger, System, 163; Gernhuber, Zwischenurteil, 42; Heintzmann ZZP 87, 199 (211); Gilles, Rechtsmittel im Zivilprozeß, 13 f., 36 f., 49 f.. Offen läßt Jauernig, FS-Schiedermair, 289 (297 Fn. 36) und Al( -ZPOAnkermann, vor § 511 Rdn. 8. 33 Anders als bei der herrschenden Auffassung [siehe oben zu Fn. 6] wird hier zwischen "Rechtsmittelbegründetheit" und "Klagebegründetheit" trotz derer faktischen Verknüpfung funktional deutlich unterschieden [vgl. Gilles (Fn. 32) 66], was letztendlich für die funktionale Verselbständigung des Rechtsmittelprozesses das Entscheidendste ist. Gleichwohl vermag Gilles diese Unterscheidung nicht durchzuhalten, vor allem dort, wo die Urteils grundlage des Rechtsmittelgerichtes durch nova producta erweitert wird; hierzu eingehend unten zu §§ 90 f., 93 f. 24 25

2 Kolotouros

18

1. Kap.: Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

komplexen faktischen Verknüpfung funktional zu unterschieden gilt. 34 Für diese Modellvorstellung ist es auch gleichgültig, ob das konkrete Rechtsmittel nach dem Leitbild des vollen oder eingeschränkten Rechtsmittelsystems konstruiert ist,35 verzichtet sie doch auf Etikette bezüglich der institutionellen Anfechtungszwecksetzung. Und es versteht sich von selbst, daß für eine Lehre, rur die Kontroll- und Anfechtungsaufgaben funktional verankert sind, äußere Ordnungskriterien wie die des Suspensiv- und Devolutiveffekts völlig irrelevant sind. 36 Diesen Rechtsmittelbegriff hat sich in etwa auch die funktionsanalytische Verfahrenslehre zu eigen gemacht. 37 § 6 Solange die Gesetzgebungsvorgeschichte noch in guter Erinnerung war, konnte man sich teilweise mit der neuen Rechtsbehelfsordnung nicht recht abfmden; 38 aus der Bestrebung heraus, die alten Formen und Begriffe mit den neuen Instituten irgendwie zu versöhnen, ergaben sich bald Behelfe in "Doppelgestalt",39 Verfahrenseinrichtungen mit "Doppelnatur", 40 "Zwittercharakter", 41 "eigentümlichem Mischcharakter"42 oder "Mischerzeugnisse verschiedenster Gestaltungs/orm".43 So macht denn die herrschende Auffassung manche Konzessionen an ihre Gegenspielerin, wenn sie im Ganzen auch das Schwergewicht auf die Fortsetzung des Verfahrens legt; immerhin wird die kassatorische Wirkung der aufhebenden Rechtsmittelentscheidung überwiegend anerkannt,44 das Erfor34

Vgl. GiJl8s zn> 91, 128 (155 f.).

35 Vgl. Matscher, FS-Kralik, 259 (260 f.); Hagen, (Fn. 27) 114 f.; auch Pohle (Fn. 28)

11.

36 Dies betonen insbesondere Klamaris, Anschlußberufung, 77 f.; Matscher (Fn. 35) 260; Sprung, Konkurrenz, 23, 25; Ertl (Fn. 28) 418; Weitzel, Appellation, 285 f.; ders. DuR 75,353 (362); Gilles (Fn. 32) 158 f.; AK -ZPO-Ankermann, vor § 511 Rdn 7. Gegen die Relevanz des Devolutiveffekts, aber für die der Suspension Baur, FS-Rammos, 359 (366); genau umgekehrt v. Kries (Fn. 2) 5 und Bohnenberg, Rechtsmittel 8. Vgl. in diesem Zusammenhang noch Schlosser, Gestaltungsklagen, 114, der von verschiedenen Anfechtungsformen zwischen Rechtsmitteln und Rechtsmittelklagen ausgehend ausführt, es handle sich um eine ,,rein gesetzestechnische Einkleidung des gesetzgeberischen Willens, einem sonst den Rechtsmitteln gleichstehenden Rechtsbehelf den Suspensivund manchmal auch den Devolutiveffekt zu nehmen". 37 Hagen (Fn. 27) 113 f. Den rechtspolitischen Wert dieser Modellvorstellung heben besonders hervor Baur (Fn. 36) 371 f.; E. Schumann JA 74-ZR S. 97 - 283 (ZR S. 193 575 f.); Röhl (Fn. 28) 251; Kissel (Fn. 9) 76; siehe auch hierzu die zu Fn. 91 f. zitierten. 38 Zu den anfanglichen, aber alsbald wieder verstummten Kontroversen um den "neuen" Rechtsmittelbegriff vgl. besonders Bolgiano ZZP 2, 101 (110 f.); ders. ZZP 3, 196 (199 f.); Hinschius ZZP 1, 7 f.; Barazetti, Die Rechtsmittel der Berufung und der Beschwerde 3 f.; v. Kries (Fn. 2) 6 f.; Schoetensack (Fn. 4) 252 f. 39 Siehe Wach (Fn.24) 247. 40 Arens AcP 173, 473 (474,478). 41 Wach (Fn.24) 279. 42 Arens AcP 161, 177 (184). 43 Duske, Die Aufgaben der Revision (1960) 81. Siehe auch Ritter JZ 75,360 f. 44 Exemplarisch Schlosser (Fn.36) 114; Münzberg,Einspruch, 79 Fn. 130; Hellwig(Fn. 9) 555, 558; TI Putzo,Vorbem. V 4 a vor § 511; BI L I Albers, § 5372 B. Anders die zu Fn. 492 zitierten.

A. Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung oder Urteilskontrolle

19

demis der Beschwer steht als Grundsatz außer Zweifel, wenngleich auch noch immer im Anschluß an die Kompromißfonnel des Reichsgerichts 45 zum Teil an einer lediglich "fonnellen" Beschwer festgehalten wird,46 es wird ferner nicht verkannt, daß das Verbot einer refonnatio in peius der Vorstellung eines bloßen Fort- bzw. Neuprozessierens ebenso widerstreitet,47 wie die Versäumnisregelung nach §§ 542, 566,48 um nur wenige Punkte zu nennen. In erster Linie spielt man jedoch mit der Doppelnatur auf die Erweiterung des Verfahrensfortsetzungssystems durch Kontrollaufgaben an,49 ohne daß man sich über den Widerspruch dieser Anleihe Rechenschaft ablegt; denn wenn es die alte Sache weiter zu verhandeln und erneut oder besser überhaupt erst noch zu entscheiden gälte, könnte es nicht Aufgabe der Rechtsmittelinstanz sein, die Richtigkeit des Anfechtungsobjekts zu prüfen. so In der Tat liegt "in der Doppelgestalt, welche einerseits in der Nachprüfung des Urteils, andererseits in der Neuherstellung der Urteilsgrundlage und deshalb in völlig neuer Aburteilung sich darstellt" etwas "Prinziploses, etwas Unbejriedigendes".51 Aus funktionaler Sicht sind beide ,,Rechtsmittelnaturen" miteinander unvereinbar. Aus dem sich hier andeutenden Dilemma hilft nur die strikte Unterscheidung zwischen den Rechtsmitteln als "Kontroll- und Anfechtungsmittel" auf der einen und dem "fortgesetzten Rechtsstreit" auf der anderen Seite. Manch auffällige Anklänge an jene erste Alternative weist bemerkenswerterweise die neuerliche Rechtsmittelrefonndebatte auf.

4S

RGZ 13, 391 (393, 395).

46 Es sei darauf hingewiesen, daß die "mindestens" formelle Beschwer, wie sie vom

Reichsgericht mit der Begründung befürwortet wurde, die Berufungsinstanz könne ,,nicht lediglich die Fortsetzung der ersten Instanz" sein, sowie die gesamte Theorie von der formellen Beschwer letztlich auf einem verfehlten Komprorniß zwischen dem Erfordernis einer rein materiellen Beschwer, wie sie die historischen Rechts- und Anfechtungsmiuel immer verlangten [vgl.Wetzell (Fn. 15) 664, 667, 742; hierzu auch Brox ZZP 81, 379 (380 f., 402 f.)] und einem völligen Verzicht auf eine Beschwer überhaupt basiert, den man früher aus der Bewertung der Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzung herleiten wollte [so wenigstens konsequent v. Kries (Fn. 2) 52; Wurzer GruchBeitr. 64, 68 f.; Struckmann / Koch, § 489 2]. Beachtenswert ist, daß die CPO-Redaktoren auch den Gedanken einer Beschwerdesumme als "willkürlich", ,,irrationell", "prinzipwidrig" und ,jeder inneren Rechtfertigung" entbehrend verworfen haben (Hahn, 140 f.). 47 Vgl. dazu insbesondere Baur (Fn. 36) 373; Wach (Fn. 24) 249; Gilles (Fn. 34) 159 sowie die Nachweise bei Kapsa, Reformatio, 58 Fn. 1 und dessen gegenteilige Meinung (58 f.). 48 Siehe dazu einerseits Wach (Fn. 24) 279 f. und andererseits v. Kries (pn. 2) 203 f. 49 Vgl.R / Schwab, § 135 11 c; Schiller(pn. I) 326 f.; Seil (Fn. 7) 1; Walsmann(Fn. 4) 53. so So vom Standpunkt einer Verfahrensfortsetzung aus konsequent v. Kries (pn.2) 52, 158 und Schneider NJW 66, 1367 (1368) zur Beschwerde. 51 Wach (Fn. 24) 247. 2*

20

1. Kap.: Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

B. Fremdpolitisch bestimmte Rechtsmittel - noch heute? § 7 Unter dem ökonomischen Druck justizieller Verhältnisse und anschwellender Prozeßfluten ist auch der Rechtsmittelsektor in den Sog rechtspolitischer Debatten und Reformüberlegungen geraten. Mangels hinreichender sozialwissenschaftlich-empirischer pilot studies 52 kann man zwar über die Motive einer wachsenden Rechtsmittelinanspruchnahme 53 weithin nur spekulieren; schwindende Entscheidungsakzeptanz, 54 Prestigefragen auf Partei- und Anwaltsseite, 55 anwaltliches Gebührenrecht, 56 Anstieg von Rechtsschutzversicherungen 57 werden trivial als Ursachenquellen vermutet. Eines betont man jedoch ziemlich einhellig, daß der als bloße Verfahrensfortsetzung verstandene Rechtsmittelzug die sog. "Instanzenmentalität" oder gar "Instanzenseligkeit" fördert,58 die Grundhaltung also, die Eingangsgerichte nicht emstzunehmen und nach dem Motto "höheres Gericht = besseres Recht" den Prozeß in die jeweils nächste Instanz zu treiben. Ein derart tiefverwurzeltes Instanzenverständnis geht indes über die Vorstellungen des Gesetzgebers 59 hinaus auf politische Autoritäts- und Administrationsstrukturen der Vergangenheit zurück.

a) Hergebrachte politische Fremdbestimmung des Instanzenwesens § 8 Während der germanische Rechtsgang und damit die gesamte Gerichtsverfassung vom Verfahrenseinstufigkeitsgrundsatz geprägt war,60 was die Ent-

52 Vgl. dazu immerhin Blankenburg / Morasch, Tatsachenforschung in der Justiz (Bender Hrsg., 1972) Bd. I, 81 f.; Wax / Bender / Schade, Tatsachenforschung in der Justiz (Bender Hrsg. 1972) Bd. I, 57 f.; Röhl (Fn. 28) 251 f.; Blankenburg, Rechtsmittel, 25 f.; Klages DRiZ 83, 395 f. 53 Vgl. die statistischen Angaben bei Gottwald, Bewältigung, 141 (147 f., 149 f.); Blankenburg / Morasch, DRiZ 79, 197 f.; Rieß DRiZ 82, 201 f.; Kotsch DRiZ 83, 170 f. Eingehend zum Thema "Rechtsmittelstatistik" vgl. Schuster / Siebert, Rechtsmittel im Zivilprozeß (Hrsg. BJM) 333 f. 54 Vgl. GilIes, Referat zur BJM Arbeitstagung, 11 (18); ders. JZ 85, 253 (256); Schultz MDR 83, 897 (899). 55 Wax / Bender / Schade (Fn. 52) 79. 56 Winters AnwBl84, 388; siehe auch Ziege, Die Rechtsmittel im Zivilprozeß, in 25 Jahre Bundesrechtsanwaltskammer (1984) 99 f. 57 Gottwald (Fn. 53) 155; Blankenburg / Morasch (Fn. 52) 81 f.; Winters AnwBl82, 288 (299). 58 Vgl. exemplarisch Zeidler (Fn. 25) 253; Sendler DRiZ 82, 157 (164); Röhl (Fn. 28) 256; Gottwald (Fn.53) 155; Havliza, Rechtsmittelpraxis, 51 (52); Gilles JZ 85, 253 (254); ders. (Fn. 29) 153; Weitzel DuR 75,353 (364); Schiller (Fn. 1) 331; Brügemann, Die Rechtssprechende Gewalt, 156; Schultz (Fn. 54) 897 f.; siehe auch Wach (Fn. 24) 243. 59 Siehe oben zu Fn. 17. 60 Vgl. Schlosser, Spätmittelalterlicher Zivilprozeß nach bayerischen Quellen (1971) 436 f.; Broß, Untersuchungen zu den Appellationsbestimmungen 18 f.; Lieberich, FSHellbling, 419 (438); Brunner / Schwerin, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II (1928) 471 f., 476; Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter, Bd. I (1879) 280 f., 297 f.; Weitzel, Appellation, 103,298.

B. Fremdpolitisch bestimmte Rechtsmittel -

noch heute?

21

scheidung nach Urteilsschelte 61 nie zum Instanzurteil im heutigen Sinn werden ließ,62 brachte erst die Rezeption und die Romanisierung des Rechtsmittelrechts mit dem endgültigen Durchbruch der appellatio 63 um 1450 das Instanzenwesen nach Deutschland. 64 Unterstützt durch die Kirche und ihre hierarchische Verwaltung, die sich die Organisationsprinzipien des römischen Staates und auch sein Rechts- und Rechtsmittelsystem zum Vorbild nahm 65 und entsprechend ihrer römischen Ausformung als Instrument zur Gewinnung, Ausübung und Sicherung politisch-kaiserlicher Herrschaft 66 wurde alsbald die Instanzvorstellung in dem von vielen miteinander ringenden Gewalten geprägten Reich zum vorformulierten Ausdruck politischer Über- und Unterordnung und zum Angelpunkt der politischen Auseinandersetzung der Territorien untereinander und der Territorien mit dem Reich. 67 Als nämlich mit der Reorganisation des Reichskammergerichts und Reichshofrats 1495 das Reich neben erstinstanzlichen Kompetenzen auch die Zuständigkeit für Appellationen gewann,68 hatten die Landesherren über Jahrhunderte hin nichts anderes im Sinn, als das Erfinden immer neuer Formen zur Beeinträchtigung der Rechtsmittelkompetenz der Reichsgerichte und damit auch der Oberhoheit des Reichs, um ihre eigene Länderhoheit zu behaupten. 69 Eine Skala von Einzelrnaßnahmen gegen die Appellation ans Reichsgericht,70 die Ausbildung und Verbreitung auf Landesebene immer neuer appellationsähnlicher Rechtsmittel 71 und allen voran die Vermehrung der dem Reichsgericht vorge61 Zum altgermanischen Rechtsmittel der Urteilsschelte siehe Brunner / Schwerin (Fn. 60) 435 f., 471 f.; Planck (Fn. 60) 155 f., 248 f. sowie unten zu Fn. 187. 62 Vgl. Mertz, Der Frankfurter Oberhof (1954) 18 f., 87 f., 126; Weitzel (Fn. 60) 107. 63 Siehe dazu sehr anschaulich Weitzel (Fn. 60) 110 f. mwN. 64 Vgl. Leiser, Der gemeine Zivilprozeß in den badischen Markgrafschaften (1964) 19, 49 f.; Gudian, Handbuch der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. I, 401 (411); Buchda, Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte 1,196 (197); Weitzel, (Fn. 58) 357. 65 Vgl. dazu besonders Feine, Kirchliche Rechtsgeschichte (1964) 3 f., 65 f., 336 f.; Hülle ZRG GA 90, 194 (196 f.). 66 Vgl. Kaser, Römisches Zivilprozeßrecht, 349. Die Rechtsmittelkompetenz des Prinzeps entsprang also ganz allgemein gesprochen den verfassungsrechtlichen und politischen Machtverhältnissen des Prinzipats [siehe Linde, Lehrbuch, 72 f., 74; WetzeIl (Fn. 15) 703 Fn. 4] und nicht etwa der Idee, daß der ,,höhere" Richter auch der "bessere" sei [vgl. dazu die Quellenangaben bei Kleinjeller, Lehrbuch, 460 Fn. 4]. 67 Vgl. Weitzel (Fn. 58) 357. 68 Vgl. RKGO 1495, §§ 13, 24, 28, RKGO 1555 n Tit. 28 ff. und hierzu Buchda (Fn.64) 196 f.; Broß (Fn. 60) 10 f. 69 Dies erschien deshalb als unumgänglich, weil die Verfassung des Reichs und der Länder gleichbedeutend mit ihrer Rechtsverfassung war; vgl. dazu besonders Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967) 99. 70 Hierzu sind insbesondere zu zählen das einseitige Einführen und Berechnen der Appellationssumme, das einseitige Einführen von Appellationssolemnien und Geldstrajen, die Verweigerung der Herausgabe von Akten ans Obergericht oder die überhöhten Kosten für die Abschrift der Akten sowie die Vollstreckung trotz Rechtshängigkeit am Reichsgericht; vgl. dazu ausführlicher Weitzel (Fn. 58) 358. 71 Vgl. dazu im einzelnen Weitzel (Fn.60) 270 f., 283 f.; auch ders. (Fn.58) 359. Siehe auch unten zu Fn. 328.

22

1. Kap.: Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

schalteten Instanzen 72 sind im politischen Bereich anzusiedeln. Der Kampf um die Territorialhoheit bestimmte weiterhin die Ausbildung von Instanzenzügen, wobei sowohl die Anzahl der Instanzen bis zum Reich wie die Entscheidungskompetenz über die Zulässigkeit von Rechtsmittelprozessen aus politischen Gründen einer abschließenden Regelung nicht zugänglich waren. § 9 Die so entstandene politische Fremdbestimmung des Instanzen- und Rechtsmittelwesens wurde in der folgenden Zeit mangels einer konsequenten Ablösung der Rechtssprechung von der Administration, ihren Strukturen und Mentalitäten 73 weiter vertieft. Auf der unteren Ebene waren nämlich vielfach Funktionen der Verwaltung und Rechtspflege nicht deutlich getrennt, die örtliche Obrigkeit konnte zugleich als Verwaltungsinstanz und Untergericht tätig werden,74 so daß es vor allem an der richterlichen Unabhängigkeit fehlte. 75 Konsequenzen in bezug auf Ämterorganisation und Funktionsteilung taten ein übriges, und im Gegensatz zum altgermanischen Rechtskreis, wo das Recht eine Sache des Volkes in Gestalt der Geschworenen war,76 wurde es allmählich zur Sache der beamteten FÜTstendiener und in geheimen Kollegien gestaltet. 77 Nur die obersten Gerichtsinstanzen waren personell und fachlich den hohen Rechtsfmdungsebenen hinreichend ebenbürtig, und folglich konnte auch nur von den obersten Instanzen eine qualitativvolle Rechtssprechung erwartet werden. 78 Bezeichnend dabei ist, daß der gesellschaftliche Adel das Privileg eines erstinstanzlichen Gerichtsstandes vor dem Obergericht hatte. 79 Die gesetzgeberische Überzeugung, daß das Instanzverfahren "seiner ganzen Anlage nach eine größere Gewähr für eine gründlichere Rechtssprechung" darbiete, dürfte nur in dieser ihrer historischen Befangenheit verstanden werden. 80 Vgl. Weitzel (Fn. 60) 42,298 f. 73 Vgl. exemplarisch Pötter, Richterstand, 9 f.; Tsatsos, Zur Geschichte und Kritik

72

der Lehre von der Gewaltenteilung (1968) 51 f. 74 Siehe Pötter (Fn. 73) 13 f. 75 Siehe Brüggemann (Fn. 58) 79 f.; Antoniolli, Herrschaft durch Gewaltentrennung, 21 f., 26 f. 76 Weitzel (Fn. 58) 354; Ratte (Fn. 7) 52 f. mwN sowie die zu Fn. 187 zitierten. Zum Charakter des alten Rechts siehe zuletzt Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 11 (1973) 122 f.; ders. FS-Heimpel (1972) 498 f. 77 Pötter (Fn. 73) 13 f.; Zeidler (Fn. 25) 253. 78 Zeidler (Fn. 25) 253. 79 So hatte der bayerische Adel einschließlich des Ritterstandes nach der Ottonischen Handfeste von 1311 und deren Nachfolgern seinen erstinstanzlichen Gerichtsstand vor dem Hofgericht [vgl. Schlosser (Fn. 60) 80 f., 451; Lieberich (Fn. 60) 435]. In Kurpjalz war für die Prälaten, die Gemeinden und die Ritterschaft das Hofgericht in erster Instanz zuständig [vgl. Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps für die Pfalzgrafschaft bei Rhein (1967) 37 f.]. Zum privilegierten anfänglichen Gerichtsstand vor dem Hofgericht in Hessen vgl. Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richterturns in den deutschen Territorien (Neudruck Aalen, 1964) Bd. 11, 427. 80 Neuzeitlichen Äußerungen, etwa daß "dem höheren Gericht ... höhere Objektivität innewohnt" [so Sauer, Allgemeine Prozeßrechtslehre (1951) 262], ist jedoch zu entneh-

B. Fremdpolitisch bestimmte Rechtsmittel -

noch heute?

23

§ 10 Doch mit der bislang unbewiesenen und letztlich wohl auch unbeweisbaren besseren Erkenntnisqualität der Obergerichte läßt sich die heutige hierarchische Oerichtsorganisation gewiß nicht mehr legitimieren. 81 Ob sie im Interesse einer einheitlichen Entscheidungsjindung und Rechtsfortbildung (§ 137 OVO) beizubehalten ist, mag auf sich beruhen. 82 Jedenfalls prägt sie nachhaltig die gesamte justizielle Stellen- und Beförderungspolitik, 83 richterliches Karrieredenken 84 und richterliches Dienst- und Besoldungsrecht,8' das gerichtliche und anwaltliehe Gebührenrecht 86 und genauso die Rechtsmittelpraxis, soweit Gerichte etwa allein um der Rechtsmittelfestigkeit der eigenen Entscheidung willen prognostizierte Obergerichtsmeinungen antizipieren; 87 alles Symptome einer mangelnden Ablösung der Rechtssprechung von den herkömmlichen Maßstäben des behördlichen Beamtenturns. 88 In diesem Sinne schlug der italienische Consiglio Superiore della Magistratura vor, die "vertikal" gegliederte Oerichtsorganisation men, wie leicht sich inhaltlos gewordenes Traditionsdenken gedankenlos fortschleppt. Weitergegeben sei auch die Mitteilung Zeidlers (Fn. 25) 253, daß manche Gerichte heute noch die Worte "von Rechts wegen" unter ihren Tenor setzen, wie einst die örtliche Obrigkeit die Worte "von Rechts wegen" oder "von Amts wegen", je nach dem ob sie als Rechtssprechungs- oder Verwaltungsorgan handelte. 81 Ebenso E. Schumann, Rechtsmittel, 271; Weitzel (Fn. 58) 364; Gilles (Fn. 30) 153, 155; Schiller (Fn. 1) 331; Sendler DRiZ 82, 157 (164); AK -ZPO -Ankermann, vor § 511 Rdn 5; abweichend das ältere Schrifttum, Wach (Fn. 24) 243; Sauer (Fn. 80) 262 sowie Leipold (Fn. 5) 287 f. Beachtenswert ist auch, daß der Massenanfall von Rechtsmitteln in auff.älliger Diskrepanz zu den Erfolgsquoten derselben steht; für die Jahre 7881 lag die Anderungsrate bei weniger als einem Viertel aller Berufungen [nähere statistische Angaben bei Schuster I Siebert (Fn. 53); Röhl, Effiziente Rechtsverfolg~ng (Gilles Hrsg. 1987) 33, 54 f.], wobei hier auch die kleinsten Korrekturen sowie Anderungen infolge neuen Vorbringens oder eines Vergleichs zusammengezählt sind [über die Gründe von Urteilsänderungen vgl. die statistische Zusammenstellung bei Baumgärteil Hohmann, Rechtstatsachen zur Dauer des Zivilprozesses (1972) 166]. Ob darüber hinaus die abändernden obergerichtlichen Urteile auch richtiger als die abgeänderten sind, bleibt freilich entgegen der Überzeugung Leipolds (Fn. 5) 288 eine offene Frage. 82 Zu diesem Gesichtspunkt vgl. Röhl (Fn. 28) 254; Gilles (Fn. 30) 155; ders. (Fn. 32) 183 sowie die Ansichten zum Zwecke der Revision, anschaulich zusammengestellt bei Kissel (Fn. 9) 85 f. 83 Vgl. dazu Werle, Justizorganisation und Selbstverständnis der Richter (1977) besonders S. 182; Brüggemann (Fn. 58) 165; van Husen AöR 78, 49 (55). 84 Zu dem hiermit angesprochenen Problemkreis seien nicht die allseits bekannten neueren Untersuchungen zur Richtersoziologie zitiert, sondern Kübler AcP 162, 104 f.; ders. DRiZ 69, 379 f.; Kötz DRiZ 74, 146 f., 183 f.; Lisken DRiZ 74, 354 f. 85 Ansätze zu einem angleichenden Besoldungssystem sind im Richterbund zwar vorhanden [vgl. Petersen DRiZ 74, 340 f.], kommen jedoch in den offiziellen Erklärungen des Bundes zu Reformvorhaben weit weniger als Aussagen zu fmanziellen Tagesinteressen zum Ausdruck; vgl. etwa die Stellungnahme des Richterbundes zum Reformgesetz der Rechtspflege vom 31.1. 74 in DRiZ 74, 103 f. sowie zur Neuordnung des öffentlichen Dienstrechts in DRiZ 74, 32 f. 86 Statt vieier vgl. Röhl (Fn. 28) 260 f. mit Zahlenangaben. 87 So Schiller (Fn. 1) 329 f.; Weitzel (Fn. 58) 364; Röhl (Fn. 28) 258. 88 Entsprechende "Thesen zur Interessenstruktur im Bereich der Justizpolitik" formuliert Blankenburg ZRP 74,273 f. Vgl. auch besonders Brüggemann (Fn. 58) 155 f. und van Husen (Fn. 83) 49 f.

24

1. Kap.: Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

durch eine ,,horizontale" zu ersetzen, da, wie es dort hieß, auch ein gleichgeordnetes Gericht Rechtsmittelaufgaben ebenso gut wahrnehmen könnte 89 und fand damit viel Anklang. 90 Wie dem auch immer sei, ist hier daran festzuhalten, daß der vertikal gegliederte Instanzenaufbau und die überkommene Instanzvorstellung nicht zeitgemäßen Rechtsmittelfunktionsanalysen oder einer zweckorientierten legislativen Gesamtkonzeption entstammen, sondern vielmehr historischpolitischen Machtverhältnissen und Administrationsstrukturen. b) Aktueller politischer Diskussionsstand und Reformvorschläge § 11 Nachdem E. Benda auf dem deutschen Richtertag 1979 das Wort von der ,,Rechtsgewährung als knappem Gut" gesprochen und zur Justizentlastung unter anderem empfohlen hatte, "die Rechtsmittel im wesentlichen zu beschränken"91, mahnte H. Sendler in seinem vielbeachteten Beitrag aus dem Jahre 1982 nachdrücklich davor, "den Eindruck zu erwecken, als ob das deutsche Rechtsmittelsystem ... nur in all seiner Kompliziertheit und Instanzenseligkeit rechtsstaatlichen Anforderungen genüge", zumal ja nur "idealtypisch gesehen die nächste Instanz klüger als die vorherige sei" und ,,richtiger als jene" entscheide. 92 Kurz zuvor forderte G. Pfeifer, den Rechtsmittelsektor "nicht mehr länger zu tabuisieren",93 und in die nämlichen Kerben postulierte W. Zeidler in seinem Festvortrag auf dem deutschen Richtertag 1983 ein ,,nach bisherigen Maßstäben neuartiges Verständnis von Wesen und Funktion der Rechtsmittel", möge dies auch "einen Abschied bedeuten von einem Herzstück deutscher Prozeßrechtsgeschichte". 94 Abzubauen gelte es vor allem das "für Atmosphäre und Mentalität" sorgende "typisch deutsche Traditionsdenken" , wonach "sich Rechtsfindung gewissermaßen stufenweise in den genau abgemessenen Schritten eines Fortschreitens von Instanz zu Instanz vollzieht", eine Einstellung, deren "verursachende und begründende Faktoren seit langem im Dunkel der Geschichte verschwunden sind". 95 Dagegen sei "die Hauptaufgabe des Rechtsmittelrichters, ... nämlich die Ausübung der Kontrollfunktion " hervorzuheben, "die Kontrollintensität des Rechtsmittelzuges" zu stärken, was zu einer "erheblichen Aufwertung der ersten Instanz" führe, welche ,,nicht Durchgangsstation auf den Weg zu den heiligen Hallen der Obergerichte, sondern in aller Regel Endstation" sein solle. 96 89 Consiglio Superiore delta Magistratura, Societa italiana e tutela giudiziaria dei cittadini, Relazione annuale sullo stato della giustizia (Roma 1971) 231 f., zitiert hier nach Trocker ZZP 91,237 (264 Fn. 57). 90 Vgl. Trocker (Fn.89) 264; ders. Landesbericht Italien, 177 (183); Pizzorusso, Rivista di diritto processuale (1978) 48 f.; Kritisch dazu Tarzia, ebenda, 87 f. 91 Benda DRiZ 79,357 (362). 92 Sendler (Fn. 81) 164. 93 Pfeifer ZRP 81, 121 (125). 94 Zeidler (Fn. 25) 255; siehe auch Schultz (Fn. 54) 899 und besonders Brüggemann (Fn. 58) 158. 95 Zeidler (Fn. 25) 253.

B. Fremdpolitisch bestimmte Rechtsmittel -

noch heute?

25

§ 12 Diese Töne aus den Kreisen der höchsten Richterschaft bewegten Ministerialbürokratie und manche politische Instanzen gleichermaßen. 1981 beschloß die Konferenz der Justizminister und -senatoren,97 daß "eine Überprüfung der Rechtsmittelsysteme nicht ausgeklammert werden" dürfe, und in Ausführung dieses Beschlusses wurde anschließend vom Bundesjustizministerium eine Reihe von einzelnen Reformvorschlägen erarbeitet; 98 auch hier wurde "die herkömmliche Vorstellung" angeprangert, "das Rechtsmittelverfahren sei nichts weiter als eine bloße Fortsetzung des in die höhere Instanz übergeleiteten erstinstanzlichen Rechtsstreits", eine Vorstellung, die ihre Wurzeln "in den politisch-sozialen Verhältnissen und Rahmenbedingungen hat, die sich bei Vorbereitung und Erlaß der Reichsjustizgesetze im 19. Jahrhundert vorfanden", und die "zu einer Entwertung des erstinstanzlichen Verfahrens" führe, "zur Ausbildung der sog./nstanzenmentalität" beitrage, "die Neigung zur Einlegung von Rechtsmitteln" verstärke und "das Verfahren insgesamt verlängert und erheblich verteuert". Die beiden nachfolgenden Entwürfe eines Gesetzes "zur Entlastung der Gerichte in Zivilsachen"99 und "zur Änderung der Zivilprozeßordnung und anderer Gesetze" \00 enthielten punktuelle Reformvorshläge des Berufungs- und Beschwerdewegs, während sich die SPD-Bundestagsfraktion 1984 in einer an die Bundesregierung gerichteten Großen Anfrage zur "Geschäftsbelastung der ordentlichen Gerichtsbarkeit" angesichts möglicher Rechtsmittelreformen dafür aussprach, "erst alle Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung der vorhandenen Kapazitäten auszuloten". 10\ Sie trug damit dem wirtschaftlichen Interesse der Anwaltschaft Rechnung, die bereits auf dem deutschen Anwaltstag 1981\02 die ,,Rechtspolitik der 80er Jahre und die allgemeine Zeitströmung" kritisierte, welche das "Rechtsmittelsystem nur unter dem Gesichtspunkt der Kosten und der Knappheit der Rechtsfindungsressourcen 103 neu ausrichten" wolle, womit sie sich leicht "als Politik des

96

Zeidler (Fn. 25) 255.

97 Dazu vgl. Schuster, Bundesjustizministerium, Bericht über aktuelle Vorhaben aus

dem Bereich des Zivilprozeßrechts, vvM vom 11.4.1984. 98 Vgl. Bundesjustizministerium, Maßnahmen zur Entlastung der Zivilgerichtsbarkeit: Vorschlag zur Änderung der Vorschriften über die Einlegung von Berufung und Revision beim judex ad quem, vvM (ohne Datum); Vorschlag zur Neuregelung des Zugangs zu den Berufungsgerichten, vvM (ohne Datum); Vorschlag zur Einführung der ausschließlichen Zulassungsrevision, vvM (ohne Datum). 99 Hierzu Schuster (Fn. 97). \00 Hierzu vgl. näheres in DRiZ 85, 25 f. 10\ Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion vom 13.7.1984 [BT-Drucks. 10 / 1739 - DRiZ 84, 415], zitiert hier nach Gilles (Fn. 54) 17. Über die darauf vorgelegte Antwort der Bundesregierung [BT-Drucks. 10 / 5317] siehe in DRiZ 86,265 f. 102 Siehe dazu Podiumsdiskussion, ,,Bewirtschaftung durch Rechtsgewährung" in AnwB181, 417 f. \03 Zum Thema "Ressourcenknappheit und Rechtsgewährung " vgl. besonders Hendel DRiZ 80,326 f.; ders. Recht und Politik, 77, 155 f.; Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 177 f.; Kotsch DRiZ 83, 170 f. und dazu Lisken DRiZ 83, 234; Blankenburg DRiZ 86, 207 f.; Benda, (Fn. 91); Pfeifer (Fn. 93).

26

1. Kap.: Rechtsmittelmodelle im Lichte aktueller Rechtspolitik

Ausverkaufs rechtsstaatlicher Garantien" entpuppen könne. 104 Daß jedoch hinreichender Anlaß zum ,,Handlungsbedarf' besteht, wurde wiederum in einer im Dezember 1984 vom Bundesjustizministerium initiierten Arbeitstagung zum Spezialthema ,,Rechtsmittel im Zivilprozeß" lOS festgestellt. Nachhaltig moniert wurde die hergebrachte "dogmatisch kultivierte Geringschätzung der ersten Instanz", 106 welche die untergerichtliche Praxis beim rechtssuchenden Publikum in Mißkredit bringe und durch eine "funktionale Unterscheidung der Rechtsmittelinstanz von den Eingangsgerichten" und Hervorhebung "des Hauptzwecks der Rechtsmittel, der Korrektur des Verfahrens und der Entscheidung der unteren Instanz" vermeidbar wäre. 107 Und eingehend diskutiert wurde eine Reihe von Rationalisierungsvorschlägen [stichwortartig: Verschärfung der Präklusionsvorschriften für verspätetes Vorbringen bzw. Abschaffung des Novenrechts, 108 BegrüDdungszwang bereits für Rechtsmitteleinlegung und Verschärfung der Begründungsanforderungen, 109 erleichterte Erledigung offensichtlich unbegründeter Rechtsmittel, 110 Angleichung der für die einzelnen Instanzen unterschiedlichen Gerichts- und Anwaltsgebühren bzw. Abschaffung des Anwaltszwangs im Bereich der Tatsacheninstanzen 111], wobei in weiteren Reformüberlegungen ein noch viel härterer Reformkurs gesteuert wurde [exemplarisch: Umgestaltung der Berufung oder auch anderer Rechtsmittel in reine Zulassungs-, Annahme-, Zugriffs-, Grundsatz- oder Divergenzrechtsmittel, 112 Umwandlung der Berufung und Beschwerde als derzeitige Tatsachen- in reine Rechtskontrollinstanzen bzw. Verkürzung des dreistufigen Instanzenzuges auf einen prizipiell zweistufigen, 113 Erhöhung der Rechtsmittel-

104 So Rabe AnwBI 82, 269 (271); vgl. auch Leonardy DRiZ 83, 377 (379); Winters AnwB183, 289 (301); Koch AnwB183, 351 f. lOS Dazu vgl. die Referate und Diskussionsbeiträge der Tagungsteilnehmer in Gilles I Röhll Strempell Schuster (Hrsg.), Rechtsmittel im Zivilprozeß unter besonderer Berücksichtigung der Berufung, Bundesanzeiger-Verlag 1985. 106 So Gilles (Fn. 54) 13 unter Berufung auf Weitzel (Fn. 58) 365; Trocker, Landesbericht Italien, 177 (180 f.); Havliza (Fn. 58). Siehe auch bereits Philippi Judicium 4, Sp. 1; Kissel (Fn. 9) 75 f. 107 Siehe Röhl (Fn. 28) 251, 265. 108 Siehe dazu besonders Gottwald, Rechtsmittelbeschränkung, 295 (305 f.); Leipold (Fn. 5) 292. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von Präklusionsvorschriften vgl. Wolf ZZP 94, 310 (311 f.). 109 Gilles JZ 85,253 (257); dazu bereits Brüggemann (Fn.58) 157. 110 Leipold (Fn. 5) 294; Gottwald (Fn. 108) 308; Kotsch (Fn.53) 173. 111 Gilles (Fn. 109) 257. 112 Gottwald (Fn. 108) 298 f.; Winters AnwB182, 273. Vgl. aber bereits Adickes, Grundlinien durchgreifender Justizreform (1906) 138 und Mendelssohn-Bartholdy JW 21, 259, 260. Zur historischen Entwicklung im einzelnen Prütting, Revision, 26 f. 113 Weychardt DRiZ 81, 342; Winters (Fn. 104) 301; Schultz (Fn. 54) 898. Zu demselben Problemkreis vgl. bereits Bender ZZP 89, 110 f.; Kissel (Fn. 9) passim; Franzki DRiZ 72,81 f. und besonders Kopp, Gutachten für den 54. deutschen Juristentag 1982, 843 f.

B. Fremdpolitisch bestimmte Rechtsmittel -

noch heute?

27

wertgrenzen 114 oder Rechtsmittelgerichtskosten, 1IS Abschaffung von Rechtsmitteln gegen Bagatellentscheidungen 116 und anderes mehr I17 ].

114 Gottwald (Fn. 108) 296 f.; hierfür bereits Blomeyer I Leipold, Tatsachen zur Reform der Zivilgerichtsbarkeit (1974) 173 und Kissel (Fn. 9) 73 f. 1IS Gottwald (Fn. 108) 306 f.; hierfür bereits Preiser JW 31, 2439 und dazu Kraemer ZZP 57,395,404. 116 Gottwald (Fn. 108) 296,304; ders. (Fn.53) 142 f. 117 Siehe die Zusammenstellung der Reformvorschläge bzw. -überlegungen bei Gilles (Fn.54) 20 f.; ders. (Fn. 109) 256 f.

Zweites Kapitel

Rechtsmittel in struktureller Betrachtung § 13 So sehr es indessen die rechtspolitische Motivation im Rahmen eines funktionsanalytischen Verfahrensansatzes 118 mitzuberücksichtigen gilt,118. so sehr muß der Nachweis einer damit korrespondierenden Handhabe des geltenden Rechts erbracht werden. Bei diesem Vorgehen mögen die sog. typischen Rechtsmittelsysteme brauchbare Einsichten vermitteln. Bei allem Vorbehalt gegenüber prozeßtypologischen Denkformen 119 soll es also zunächst im Sinne Luhmanns darum gehen, die "Komplexität" des positiv aufgefacherten Materials anband eines Systems zu reduzieren. 120

A. Rechtsmittelsysteme in rechtsvergleichender Sicht § 14 Aus der Vielfalt der entwickelten Rechtsmittelsysteme 121 sind hier nur jene von Belang, die man [etwas voreilig?] in Beziehung zu der institutionellen Anfechtungszwecksetzung zu bringen pflegt. Seine Verwirklichung soll also das Modell der Verfahrensfortsetzung in einem" vollen", das Modell der Urteilskontrolle in einem" eingeschränkten" Rechtsmittel finden, 122 wobei ersteres mit dem Streben nach unbedingter Richtigkeit der Entscheidung, letzteres mit dem Streben nach dem konkret Möglichen und mit dem nach tunlichst effektiven Rechtsschutz durch Raschheit des Rechtsmittelverfahrens motiviert sein soll. 123

118 Vgl. dazu vorläufig Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre, 12 f., 38 f., 46 f. Näheres unten zu §§ 53 f. 118. Vgl. unten zu Fn. 414. 119 Allgemein zur Denkfonn des Typus siehe vorläufig Larenz, Methodenlehre, 443 f. und näheres unten zu § 45 und Fn. 321. 120 Luhmann, Positivität des Rechts als Voraussetzung einer modemen Gesellschaft. Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie (1970) 186 f. 121 Einen Überblick vennittelt Guldener, ZPR, 452 f. und Fasching, ZPR, Kap. 37 Rdn.1670f. 122 Statt vieler vgl. Fasching (Fn.22) 264; Ratte (Fn.7) 38; Pollak ZZP 54, 178 (186 f.); ders. System, 581, 586 f. 123 Bemerkt sei, daß das jeweilige Rechtsmittelsystem zu einem besonderen Indikator für die Leitvorstellungen einer Rechts- und Gesellschaftsordnung über Aufgaben und Zwecke des Zivilprozesses geworden ist; siehe dazu besonders Fasching (Fn. 22) 265; ders. ÖJZ 63, 533; Senjt, Neues Vorbringen, 4.

A. Rechtsmittelsysteme in rechtsvergleichender Sicht

29

§ 15 Die Gestaltung des Jus Novorum ist für die Bewertung eines Rechtsmittelsystems eines, aber entgegen Usus nicht das einzige Ordnungskriterium; ebenso mitentscheidend sind die Funktion der Rechtsmittelschrift bzw. Rechtsmittelbegrundungsschrift, die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit und allen voran die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts beim konformen Prozeßausgang.

a) Das sogenannte eingeschränkte Rechtsmittelsystem

§ 16 Auf die kürzeste Formel gebracht fungiert das eingeschränkte Rechtsmittel als "Gerichtsrügemittel" oder "Richterschelte"; kontrolliert wird nicht die materielle Rechtslage, sondern lediglich das gerichtliche Handeln und Entscheiden. 124 Das setzt eine Fixierung des dem iudex a quo unterbreiteten Prozeßmaterials voraus, und zwar sowohl in bezug auf den Prozeß- und Urteils gegenstand als auf den ihm zugrundeliegenden Streitstoff; der geläufige Ausdruck "Novenverbot" umfaßt somit den Ausschluß sachverändernder Parteihandlungen sowie den Ausschluß neuer Angriffs- und Verteidigungsmittel. l25 Dieses Verbot der Verbesserung der Parteiprozeßführung in zweiter Instanz rechtfertigt das Gebot einer straff ausgebauten richterlichen Prozeßleitungsbejugnis im ersten Rechtszug, die einerseits eine erschöpfende Sachverhaltsermittlung gewährleistet und andererseits ausschließt, daß das Kontrollobjekt auf unvollständiger Basis entsteht. 126 § 17 Das klassische und neben der spanischen Prozeßordnung von 1831 127 und manchem schweizer kantonalen Verfahrensgesetz 128 auf dem Kontinent wohl einzige Beispiel hierfür bildet die österreichische Berufung, 129 die dadurch legitimiert wird, 130 daß die Beschaffenheit des Verfahrens erster Instanz eine möglichst komplette Sachaufklärung garantieren kann. 131 Ihre Einlegung erfolgt durch Ein124 Klein I Engel, Der Zivilprozeß Österreichs, 403; Sperl, Lehrbuch der bürgerlichen Rechtspflege, Bd. I (1930) 584. 125 Vgl. Lorenz ZZP 65, 169 (170 f.); Fehr, Novenrecht, 19 f., 25 f. 126 Vgl. Fehr (Fn. 125) 53 f. mwN; Moeller, Berufungsverfahren, 60 f., 69 f., sowie unten zu Fn. 130. 127 Vgl. Rosenberg ZZP 64, 6 (27). 128 Dazu im einzelnen vgl. Guldener (Fn. 121) 509 Fn. 18; Heusler, Der Zivilprozeß der Schweiz (1923) 174. 129 Die der österreichischen folgende liechtensteinische ZPO von 1912 wurde durch das Gesetz vom 7.4.1922 abgeändert und damit auch die beschränkte Berufung abgeschafft (vgl. Lindt RheinZ 13, 253 f.). Unter der Geltung der jugoslawischen ZPO von 1929 vermutete Satter ZZP60, 272 (313 Fn. 125a) im Gegensatz zu Sperl, FS-Dolenc (1936) 445 f. ein Novenverbot, was unter der Geltung des neuen Gesetzes vom 8. 12. 1956 [vgl. ZPO der förderativen Volksrepublik Jugoslawien, Berichte des Osteuropa Instituts an der Freien Universität Berlin, Bd. 33, 1957] sicherlich nicht mehr der Fall ist (§§ 341 I, 351 V). 130 Vgl. Klein I Engel (Fn. 124) 273 f., 413 f.; Pollak (Fn. 130) 187 f.; Neuwirth, Deutsche Rechtspflege 1938, 295.

30

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

reichung eines Schriftsatzes, dessen zwingender Inhalt (§ 467) den Erfordernissen der § § 518, 519 dZPO in etwa entspricht, 132 beim Prozeßgericht erster Instanz (§ 465 I), das die Berufungsschrift nach Prüfung ihrer Rechtzeitigkeit (§§ 464, 468 I) dem Gegner zur schriftlichen Berufungserwiderung zustellt (§ 468).133 Berufungsschrift, -erwiderung und Akte des erstinstanzlichen Verfahrens werden dem Berufungsgericht vorgelegt (§ 469 I), welches in einem Vorverfahren (§ 470) durch Beschluß (§ 473 I) über die Zulässigkeit der Berufung entscheidet (§§ 471, 472,474) und bei positivem Ergebnis eine Tagsatzung zur mündlichen Hauptverhandlung anordnet (§ 480).134 Das hier geltende Novenverbot verbietet sowohl eine Änderung des vorinstanzlichen Prozeßgegenstandes, etwa durch Klagänderung oder Klagerweiterung (§ 483 IV), durch Erhebung neuer Ansprüche oder Widerklage (§ 482 I) 13S als auch eine Änderung der vorhandenen Entscheidungsgrundlage durch den Vortrag neuer Tatsachen, Beweismittel oder Einreden (§ 482 11).136 Darüber hinaus ist das Streitprogramm durch die BerufungsbegrüDdung derart fixiert, daß das Gericht mit Ausnahme der in § 477 aufgezählten Nichtigkeitstatbestände 137 an die geltend gemachten Anfechtungsgründe gebunden ist (Arg. §§ 497 11, 498 1).138

131 Dies wird vornehmlich durch §§ 178, 180 m, 182 I, 183, 189 gewährleistet, die eine tiefgreifende richterliche Prozeßleitungsbefugnis statuieren und den §§ 138 I, 136 Irr, 139, 141 bis 144 und 146 der deutschen ZPO in etwa entsprechen; unterstützend wirkt auch, daß das tatsächliche Vorbringen nicht durch eine Eventualmaxime beschränkt ist (§ 179 I). Allgemein gesprochen muß also das Verfahren erster Instanz all das gewinnen, was die Rechtsmittel durch das Novenverbot verlieren; dazu im einzelnen siehe Pollak ZZP 54, 178 (186 f.); Moeller (Fn. 126) 2 f. 132 Zu den Einzelheiten hierzu vgl. Holzhammer, ZPR, 265 f.; Fasching, ZPR, Kap. 38, Rdn.1780f. 133 Eingehend zur Einbringung, Vorprüfung und Zustellung der Berufungsschrift sowie zur Berufungsbeantwortung siehe Fasching (pn. 132) Kap. 38, Rdn. 1782 f. 134 Zum Gegenstand des Vorverfahrens im einzelnen siehe Petschek / Stagei. ZPR, 374 f.; Holzhammer (pn. 132) 266 f. Zum Ablauf der mündlichen Hauptverhandlung vgl. Fasching (pn. 132) Kap. 38, Rdn. 1803 f. 13S Fasching (Fn. 132) Kap. 38, Rdn. 1727. 136 Pollak, System, 580 f., 590 f.; Petschek / Stagei. (pn. 134) 382 f. Über die Behandlung des Neuerungsverbots in der Rechtssprechung vgl. Fasching ÖJZ 63, 533 (537 f.). Eine grundlegend andere Verfahrensgestaltung weist das arbeitsgerichtliche Verfahren auf, in dem eine Neuerungserlaubnis gilt (§ 25 ArbGG), genauso wie beim Ehenichtigkeits- und Abstammungsprozeß und vor der Novelle 1983 beim Ehescheidungs- und Eheaufhebungsverfahren (§ 483 a n, § 631 FamRAngIV, Art. V 5 UeKG); hierzu Grimm, Landesbericht Österreich, 215 (218). 137 Hierzu im einzelnen siehe Fasching (Fn. 132) Kap.38, Rdn. 1753 f. Pollak (pn. 136) 592 zählt zu den von Amts wegen zu berücksichtigenden Mängeln auch noch die Verletzung sonstiger zwingender Prozeßnormen, die Verletzung zwingender Normen des Privatrechts, Mängel der Urteilsspruchreife sowie die in erster Instanz unerledigt gebliebenen Sachanträge. 138 Vgl. Holzhammer (Fn. 132) 259; Grimm (Fn. 136) 217 f.; Pollak (pn. 136) 588; abweichend Fasching (Fn. 132) Kap. 37, Rdn. 1740 in bezug auf Urteilsmängel, die die Rechtsfrage tangieren.

A. Rechtsmittelsysteme in rechtsvergleichender Sicht

31

b) Das sogenannte volle Rechtsmittelsystem § 18 Vorwiegend von liberalistischem Gedankengut geprägt ist hingegen das volle Rechtsmittelsystem. Präklusionsregeln, die das Jus Novorum der Parteien in irgendeiner Form einschränken, sind nicht vorhanden,139 auch die gerichtliche Nachprüfungskompetenz ist nicht durch die im Rechtsmittelantrag enthaltenen Anfechtungsgrunde begrenzt. 1-40 Denn dieser hat nicht die funktionelle Bedeutung eines das Kontrollprogramm absteckenden Antrags, der einem Begründungszwang im Sinne einer Rechtsmittelzulässigkeitsvoraussetzung unterliegt,141 sondern eines Antrags nach Ruhen oder Unterbrechung des Verfahrens,142 dessen Ziel die Erzwingung eines erneuten Sachurteils ist. Kennzeichen eines [angeblich?] nicht auf Urteilskontrolle gerichteten Rechtsmittelsystems ist daher die Entscheidung im Falle des konformen Prozeßausgangs; sie lautet nicht auf Zurückweisung des Behelfs als unbegründet, sondern die angefochtene Entscheidung ist zu wiederholen, allenfalls zu bestätigen. 143 Und da dem Anfechtungsobjekt eine mindere Bestandskraft wegen des schrankenlosen Novenrechts zukommt, ist die vorläufige Vollstreckbarkeit noch anfechtbarer Urteile entweder unbekannt oder im begrenzten Umfang zulässig. 144 § 19 Vollausgebildet ist die Berufung der zürcherischen ZPO vom 13.6.76. 14S Eingelegt wird sie durch schlichte schriftliche Erklärung beim iudex a quo, die keinem Begrundungszwang im Sinne eines Zulässigkeitserfordernisses unterliegt. 146 Unbeschränktes Jus Novorum gewährt § 267 I, wonach in der Begründung und Beantwortung der Berufung neue Tatsachenbehauptungen, Bestreitungen und Einreden erhoben und neue Beweismittel bezeichnet werden können. 147 Sachverändernde Parteidispositionen wie Klagänderung, -erweiterung oder Erhebung neuer Ansprüche durch Klagehäufung und Widerklage sind ebenfalls zulässig. 148 Die Berufungsentscheidung ist, wie es in § 270 Hs 1 heißt, ein ganz" neuer Endentscheid" , der sich selbst bei duae conformes nicht über das Rechtsmittel, etwa als Rechtsmittelzurückweisung, sondern abermals über den Klageanspruch

139 Statt vieler siehe Rosenberg (Fn. 127) 19. 140 Für alle Lorenz (Fn. 125) 170. 141 Lorenz (Fn. 125) 170. 142 v. Kries (Fn. 2) 204. 143 Zutreffend Kummer, ZPR, 202; Fasching (Fn. 132) Kap. 37, Rdn. 1741 a. E.; siehe auch Bettermann, FS-Bötticher, 13 (22, 24). 144 Siehe Trocker, Landesbericht Italien, 177 (181). 14S Dazu und im folgenden vgl. eingehend Walder-Bohner, ZPR, 472 f. 146 Sträuli I Messmer, ZPO, § 264, Rdn. 7; Walder-Bohner (Fn. 145) 475. Wenn eine Rechtsmittelbegründung unterbleibt, wird lediglich aufgrund der Akten entschieden (§ 264 ll). 147 Zum Novenrecht vgl. neuerdings insbesondere Schärer, Das Novenrecht im Berufungsverfahren nach zürcherischem Zivilprozeß (1984) 47 f., 75 f. 148 Sträuli I Messmer (Fn. 146) § 200; Walder-Bohner (Fn. 145) 472; Guldener (Nr. 121) 489.

32

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

befindet. 149 Vorläufige Vollstreckbarkeit ist dem zürcherischen Prozeßrecht völlig fremd. ISO § 20 Konstruktiv ist die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit des italienischen codice di proccedura civile. Zwar ist der Gegenstand der Berufungsin-

stanz idW fixiert, daß keine neuen Klaganträge gestellt bzw. die bereits rechtshängigen geändert werden können (§ 345 I); 151 § 34511 1 ermöglicht jedoch den Parteien, unbeschränkt neue Verteidigungs- und Beweismittel vorzubringen, 152 mit der praktisch bedeutungslosen Sanktion 153 der Auferlegung von durch schuldhafte Verzögerung verursachten Mehrkosten (§ 345112). Im Gegensatz dazu beschränkte die Novelle 1973 154 das Novenrecht für den Bereich des Arbeitsund Sozialversicherungsrechts ISS in einschneidender Weise, denn nach § 437 11 "non sono ammesse nuove domande ed eccezioni; non sono ammessi nuovi mezzi di prova, tranne il giuramento estimatorio, salvo che il collegio, anche d'ufficio, li ritenga indispensabili ai fini della decisione della causa". 156 Die unterschiedliche Ausgestaltung des Jus Novorum wirkt demnach auch unterschiedlich auf die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit; während nämlich nach § 337 I "l'esecuzione delle sentenze ... rimane sospesa se e proposto appello", lS7 sind gemäß § 431 I erstinstanzliche Urteile, die eine Verurteilung zugunsten des Arbeitnehmers aufgrund von Forderungen aus Individualarbeitsverhältnissen aussprechen, unmittelbar vollstreckbar. 158 § 21 Die funktionelle Bedeutung der Rechtsmittelschrift bzw. R~mittel­ begründungsschrlft sei an Hand der Berufung des französischen nouveau code de procedure civile gezeigt. Ihre Einlegung erfolgt durch Einreichung einer Berufungserklärung beim cours d'appel, die von Amts wegen der Gegenpartei 149 Vgl. Walder-Bohner(pn. 145) 474; Kummer (Fn. 143)202zurbernischenAppellation: ,,Erweist sich die Appellation als unbegründet, so lautet das Urteil nicht einfach auf Abweisung derselben, sondern äußert sich zum Rechtsbegehren wie ein erstinstanzliches Urteil, bloß daß es hier mit dem erstinstanzlichen inhaltsgleich sein wird." 150 Vgl. Sträuli / Messmer (Fn. 146) § 302 Rdn. 9. 151 Vgl. Cappelletti RabelsZ 66,254 (282 f.); Trocker ZZP 91, 23 (263). 152 Eingehend dazu Andriolli, Commentario al codice di proccedura civile (Napoli 1960) § 345 1 f.; Satta, Commentario Bd. 11 1 (Milano 1962) § 345 1 f. 153 Trocker (Fn. 144) 178. 154 Dazu Trocker (Fn. 144) 180 f.; ders. (pn. 151) 263. ISS Anzumerken ist, daß es in Italien keine selbständige Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit gibt; Arbeits- und Sozialversicherungssachen fallen in die Kompetenz der ordentlichen Zivilgerichte. [Andrioli, Diritto processuale civile (Napoli 1979) 37 f.; Tarzia, ZZP 100, 272 f.]. 156 Vgl. Andriolli (Fn. 155); auch Tarzia (pn. 155) 284. 157 Von dieser grundSätzlichen Suspension der Vollstreckbarkeit macht § 282 etliche Ausnahmen, wenn nämlich der Anspruch auf einer öffentlichen Urkunde, einer anerkannten Privaturkunden, einem rechtskräftigen Urteil beruht oder wenn Unterhaltsleistungen oder vorläufige Zahlungen gemäß § 278 geschuldet sind; ausführlicher hierzu siehe Satta, (Fn. 152) § 282 1 f. 158 Ausführlicher Trocker (Fn. 144) 181, 182.

A. Rechtsmittelsysteme in rechtsvergleichender Sicht

33

durch einfachen Brief mitgeteilt wird. 159 Die Einlegung gilt allerdings erst dann als vollendet, wenn eine der Parteien binnen zwei Monaten ab Einreichung der Berufungserklärung die Sache beim Gericht anhängig macht [placer]. 160 Innerhalb einer vom conseiller de la mise en etat gesetzten Frist soll die Berufung begründet werden. Das Ausbleiben einer Berufungsbegründung ist jedoch nicht für die Zulässigkeitsjrage des Rechtsmittels, sondern insbesondere für die in den §§ 910 iVm 780, 781 vorgeschriebenen Sanktionen relevant, insbesondere für die Schließung des Vorverfahrens, die sog. clöture. 161 Die Anordnung der clöture hat den Verlust des beneficium novorum in der nachfolgenden Hauptverhandlung [audience de plaidoirie] zur Folge. 162 Denn das Novenrecht ist schrankenlos konstruiert, da gemäß § 563 "les parties peuvent invoquer des moyens nouveaux, produire de nouvelles pieces ou proposer de nouvelles preuves". 163 Darüber hinaus sind sachverändernde Parteihandlungen wie Klageerweiterungen (§ 566) oder gar neue Anträge seitens des Klägers, die sich durch die Entdeckung neuer Tatsachen oder den Beitritt neuer Parteien rechtfertigen (§ 564) sowie die Geltendmachung von Gegenansprüchen durch Aufrechnung oder Widerklage (§§ 567, 70) seitens des Beklagten unbegrenzt zulässig. 164 Gleichwohl kennt der französische Zivilprozeß eine execution provisoire, die aber weitgehend vom gerichtlichen Ermessen abhängt und nur mit Zurückhaltung gewährt wird (§§ 514 f.) 165 § 22 Die Darstellung der Berufung durch die DDR-ZPO vom 1.1.76 gewinnt endlich schon deshalb an Relevanz, weil sie nicht als Verfahrensfortsetzungsmittel, sondern ausgerechnet als Kontrollinstrument verstanden und behandelt wird, 166 obwohl sie eindeutig dem vollen System zuzuordnen ist. Für ihre Einle159 §§ 926 -930 kennen zudem die Einlegung der Berufung durch gemeinsamen Antrag der Parteien an das Berufungsgericht [requere conjointe]. Die gemeinsame Einlegung ist für Fälle gedacht, in denen die Parteien einverständlich auf eine schnelle Entscheidung Wert legen, etwa um den Weg für den pourvoi en cassation freizumachen, oder in denen sie auf einen Vergleich hinsteuern. 160 Ausführlich über die Einreichung, Zustellung und Vorprüfung der Berufungserklärung vgl. Blanc I Viatte, NCPC commente dans l'ordre des articles (Paris 1978) §§ 901 f., p. 599 f. 161 § 910 ,,L'affaire est instruite sous le controle d'un magistrat de la chambre a laquelle elle est distribuee, dans les conditions prevues par les articles 763 a 787 et par les dispositions qui suivent". [Siehe auch die nachfolgenden Artikel.] § 780 "Si l'un des avocats n'a pas accompli les actes de la procedure dans le delai imparti, le renvoi devant le tribunal et la doture de l'instruction peuvent etre decides par le juge, doffice ou a la demande d'une autre partie, sauf, en ce demier cas, la possibilite pour le juge de refuser par ordonnance motivee non susceptible des recours." § 781 "Si les avocats s'abstiennent d'accomplir les actes de la procedure dans les delais impartis, le juge de la mise en etat peut, d'office, apres avis donne aux avocats, prendre une ordonnance de rediation motivee non susceptible de recours." 162 Näheres bei Mezger, Landesbericht Frankreich, 141 (146). 163 Einzelheiten hierzu bei Blanc I Viatte (Fn. 160) § 563 p. 381 f. 164 Blanc I Viatte (pn. 160) § 564 p. 382 f., § 567 p. 385 f. 165 Blanc I Viatte (Fn. 160) Introd. § 514 p. 349 f.

3 Kolotouros

34

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

gung genügt ein einfaches Schreiben der Partei, die auch die Hilfe der Rechtsantragstelle in Anspruch nehmen kann (§ 151 Hs 2); auch die telegrafische Einlegung ist zulässig. 167 Eine Berufungsbegründung ist zwar in § 152 I vorgesehen, dennoch nicht zwingend gefordert; 168 damit zusammenhängende Unzulänglichkeiten führen nicht zur Verwerfung als unzulässig, sondern erfordern eine entsprechende Ergänzung (§ 15211).169 § 15411 statuiert unbeschränktes Jus Novorum 170 und § 154 I Hs 1 räumt dem Bezirksgericht unbeschränkte SachpTÜfungskompetenz in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht ein; erwähnenswert ist dabei die Ermächtigung des Bezirksrichters, auch auf abgewiesene erstinstanzliehe Sachanträge einzJ,lgehen, gegen die die beschwerte Partei keine Berufung eingelegt hat (§ 154 I Hs 2).171 Sachverändernden Parteidispositionen steht nichts im Wege, 172 die vorläufige Vollstreckbarkeit ist völlig unbekannt. 173 Doch trotz dieser vollen Ausgestaltung läßt die Eingangsvorschrift des § 147 I kaum einen Zweifel an der institutionellen Berufungszwecksetzung: ,,Berufung und Protest 174 führen zur Überprüfung der Entscheidung durch das Bezirksgericht."

c) Relative Rechtsmittelsysteme § 23 Um dem Anreiz zur Prozeßverschleppung vorzubeugen und das Schwergewicht des Prozesses in die erste Instanz zuruckzuintegrieren, drängen modeme Verfahtensordnungen oder Reformnovellen älterer ProzeBgesetze auf den Abbau der Hypertrophien der vollen Systeme, 175 ohne freilich die Sterilität des einge166 Einhellige Ansicht, vgl. exemplarisch Krüger NJ 76, 675, 677; Kellner, ZPR, 390 f.; Kommentar zur ZPO Zivilprozeßrecht der DDR, Vorbem. § 147 f.; Schultze I Hagen, Berichte des Osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin (Heft 130, Berlin 1983) 123. 167 Zu den Einzelheiten der Berufungseinlegung vgl. Kommentar (Fn. 166) § 1511 f.; Kellner (Fn. 166) 398 f. 168 Eine Konsequenz des fehlenden Anwaltzwangs [Kellner (Fn. 166) 398]. 169 Über Einzelheiten siehe Kommentar (Fn. 166) §§ 1522 f., 157. 170 Kommentar (Fn. 166) § 1542. 171 Daraus erklärt sich auch, weshalb das Anschließungsinstitut der DDR-ZPO fremd ist [Kellner (Fn. 166) 403]. 172 Lediglich in den Fällen, in denen der Staatsanwalt das Berufungsverfahren eingeleitet hat oder es selbständig neben den Parteien betreibt, unterliegt die Dispositionsbefugnis der Parteien manchen Einschränkw1gen; dazu siehe Kellner (Fn. 166) 405 f. 173 Kellner (Fn. 166) 437. Vorläufig vollstreckt werden kann nur aus einstweiligen Anordnungen (§ 90 I 2). 174 Der Protest ist eine Form der Mitwirkung des Staatsanwalts in Zivil-, Familienund Arbeitsrechtsverfahren; auf den Protest sind nach § 149 n die Bestimmungen über die Berufung entsprechend anwendbar. Zu den Einzelheiten hierzu vgl. Kommentar (Fn. 166) § 149 1 f. 175 Über die Vor- und Nachteile voller und eingeschränkter Systeme vgl. besonders Lorenz (Fn. 125) 171 f.; Weiß ZZP 50, 1 (4 f.); v. StaJf ZZP 50, 69 f.; Braun ZZP 50, 296 f.; Pollak (Fn. 122) 186 f.; Satter ZZP 58, 1 f. sowie die zu Fn. 203 zitierten.

A. Rechtsmittelsysteme in rechtsvergleichender Sicht

35

schränkten Modells zu beneiden, das, wenngleich vom Effizienzgedanken determiniert, ihm zuweilen diametrale Dienste erweist. 176 Das hier so benannte relative Rechtsmittelsystem zeichnet sich durch beschränktes Novenrecht, beschränkte vorläufige Vollstreckbarkeit und durch die konfmnatorische Entscheidung in Form der Rechtsmittelzurückweisung aus. § 24 Gekennzeichnet durch beschränktes Novenrecht ist die griechische Berufung. 177 Eine Klagänderung ist nur für den Fall der nachträglichen Unmöglichkeit der Herausgabe des geforderten Gegenstandes zulässig (§ 526), die Erhebung neuer Anträge nur flir nachträglich entstandene Nebenansprüche (§ 525 III), die Einlegung einer Widerklage stets ausgeschlossen (§ 525 ll).178 Eine Änderung der Entscheidungsgrundlage ist nur in bezug auf nachträglich entstandene Tatsachen gestattet (§ 527 Nr. 2), auf Tatsachen, die durch Urkunden oder gerichtliches Geständnis sofort beweisbar sind oder deren verspätetes Vorbringen genügend entschuldigt wird (§§ 527 Nr. 2 iVm 269) und auf solche, die der insoweit privilegierte Berufungsbeklagte zur Unterstützung der Richtigkeit des angefochtenen Aktes vorbringt (§ 527 Nr. 1); die Nichtzulassung verspäteter Beweismittel hängt mit der dilatorischen Absicht oder grober Fahrlässigkeit der Partei zusammen (§ 529 ll).179 Den Umfang der Prüfungskompetenz des Rechtsmittelgerichts bestimmt die Berufungsschrift, die eine genaue Angabe der Anfechtungsrügen enthalten muß (§ 518 I), woran das Gericht gebunden ist (Arg. § 535 I). Der konforme Prozeßausgang führt zur Zurückweisung des Rechtsmittels (§ 534), vorläufige Vollstreckbarkeit ist weitgehend anerkannt (§§ 907 f.).

§ 25 In gleicher Weise steckt die zwingend erforderliche Rechtsmittelbegründung das Streitprogramm des niederländischen 180 Berufungsverfahrens ab, indem das Gericht nur dem nachgehen kann, was als Mangel in der Berufungsschrift 176 Es sei angemerkt, daß das österreichische Recht der Partei das Recht einräumt, schon vor Einlegung der Berufung und auch während des Berufungsverfahrens die Wiederaufnahmeklage zu erheben, wenn sie "in Kenntnis von neuen Tatsachen gelangt oder Beweismittel auffmdet oder zu benützen in den Stand gesetzt wird ..." [§ 530 I Nr. 7 öZPO und dazu vgl. Fasching (Fn. 132) Kap. 41, Rdn. 2061 f.]. Statt also derartige neue Tatsachen und Beweismittel in der Berufungsinstanz vorbringen zu dürfen, ist die Partei gezwungen, eine neue Klage zu erheben, die wiederum vor zwei oder drei Instanzen verhandelt werden muß; hierzu kritisch auch Rosenberg (pn. 127) 10. 177 Die deutsche Übersetzung der griechischen ZPO von Baumgärteil Rammos, Das griechische Zivilprozeß-Gesetzbuch mit Einführungsgesetz (1969) ist durch das Gesetzesdekret 958/71 teilweise überholt worden. Der Rechtsmitelaufsatz Rammos' in ZZP 74, 241 f. gibt nicht geltendes Recht wieder; dagegen berichtet Kerameus, Landesbericht Griechenland, 153 f. über die aktuelle Rechtslage. Rechtsmittelrelevante Beiträge griechischen Rechts in deutscher Sprache von Fasching, (Fn.22) insb.271 f.; Baur (Fn. 36) 371 f.; Rammos, FS-Baur (1981) 561 f.; auch Baumgärtel ZZP 81,6 f. 178 Kerameus (pn. 177) 159; Baur (pn. 36) 371. 179 Kerameus (Fn. 177) 160; Fasching (Fn. 22) 271, 272. 180 Zum niederländischen Rechtsmittelvefahren vgl. eingehend Wedekind, Landesbericht Niederlande, 185 f. In englischer Sprache liegt bereits vor ein detaillierter Bericht von lolowicz, in Towards a justice with a human face; the first international congress on the law of civil procedure (Cent 1977) 127 f.

3*

36

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

gerügt wird. 181 Dagegen reicht die Prüfungsbefugnis im schwedischen 182 und japanischen 183 Berufungsprozeß über die mitgeteilten Anfechtungsgründe hinaus, eine Konsequenz davon, daß in Schweden der Unmittelbarkeitsgrundsatz die Berücksichtigung früherer Verhandlungsergebnisse - und sei es auch bezüglich einzelner Streitfragen - verbietet, 184 und in Japan der fehlende Anwaltszwang nach einer resoluten Mitwirkung des Richters verlangt. 185 Absichtliche oder grobfahrlässige Verspätung und Prozeßverzögerung sind Schranken des Novenrechts beider Verfahren [§§ 378 iVm 139 I jap. ZPO, Kap. 50 § 25 11 schwed. ZPO]. Konfirmatorische Rechtsmittelentscheidung in Form der Zurückweisung [§ 384 jap. ZPO, Kap. 50 § 21 I schwed. ZPO] und vorläufige Vollstreckbarkeit [§ 196 jap. ZPO] vollenden das Bild beider relativ begrenzten Berufungsverfahren.

B. Legitimationsschwächen des als voll attestierten geltenden Rechtsmittelsystems § 26 Mit der Gewährung unbeschränkten Novenrechts [§ 491 I aF], unbeschränkter Prüfungskompetenz der Rechtsmittelinstanz über die - ohnehin nicht geforderten - mitgeteilten Anfechtungsrügen [§§ 479,480 aF] und Wiederholung der angefochtenen Entscheidung beim konformen Berufungsausgang [Hahn, 144, 383] hat der historische Gesetzgeber nach heutigen Maßstäben in der Tat ein volles Rechtsmittelsystem konstruiert. Indessen, wie E. Schumann pointiert anmerkt, ist "die Reformgeschichte der ZPO des 20. Jahrhunderts eine Chronologie des Abbaus des überlieferten Rechtsmittelmodells ".186

a) Vom vollen zum eingeschränkten Novenrecht § 27 Während sich nach germanischem Recht die Urteilskontrolle auf eine fixierte Sachlage beschränkte, 187 versetzte die appellatio des römischen und älteVgl. Wedekind (Pn. 180) 188, 191. Übersetzung der schwedischen ZPO in Simson, Das Zivil- und Strafprozeßrecht Schwedens (1953); die einschlägigen Berufungsschriften in Kap. 50 § 1 f. und dazu Cosmo, Landesbericht Schweden, 225 f. 183 Vgl.Nakamura / Huber, DiejapanischeZPO in deutscher Sprache (1978) §§ 360 f. und dazu Kigawa, Grundprobleme des Zivilprozesses, jap. Recht 1(1976) 61 f. 184 Allgemein zum schwedischen Unmittelbarkeitsgrundsatz vgl. Rehfeldt ZZP 82, 173 f. und speziell zu dessen Zusammenhang mit der Rechtsmittelkontrollkompetenz Cosmo (Pn. 182) 225, 226; dazu siehe auch Kap. 50 §§ 1611, 1711, 18 schwed. ZPO. 185 Vgl. Kigawa (Pn. 183) 65, 79; auch Wedekind (Pn. 180) 190. 186 E. Schumann (Pn. 81) 270; vgl. auch die zu Pn. 196 zitierten. Dennoch wird das geltende Rechtsmittelsystem immer noch als voll bewertet: Ratte (Pn.7) 67 f.; Fenn ZZP 90, 111 (112); Kissel (pn.9) 69; Holzhammer (Pn. 132) 262; Fasching (Pn.22) 266, alle mit der ausdrücklichen Schlußfolgerung, daß "sich daran bis heute nichts geändert" habe(!) 181

182

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

37

ren gemeinen Prozesses den Rechtsstreit in die zur Zeit der litis contestatio ISS gegebene Rechtslage zurück, 1S9 was die unbeschränkte Gewährung des Jus Novorum zur Folge hatte. 190 Der spätere gemeine Prozeß schränkte das Novenrecht ein, das man aber entgegen früher jetzt zumeist als ein "beneficium" ansah; 191 wollte die Partei nach dem jüngsten Reichstagsabschied neuen Streitstoff vortragen, hatte sie den Appellationseid zu schwören, wonach sie "ihres angegebenen neuen An- und Vorbringens in erster Instanz nicht Wissenschaft gehabt ... oder einzubringen nicht für dienlich oder nötig erachtet" hatte. 192 Die CPO von 1877 gestaltete wiederum das Novenrecht materiell unbegrenzt aus; in § 491 I stand fest, daß "die Parteien ... Angriffs- und Verteidigungsmittel, die in erster Instanz nicht geltend gemacht sind, insbesondere neue Tatsachen und Beweismittel, vorbringen" können, ohne Schranken und Ausnahmen. 193 Hier ist der Anhaltspunkt zu suchen, weshalb "die Berufung ihrem Charakter nach mit der römischrechtlichen Appellation" übereinstimme und ,,kein Recht auf ... Nachprüfung und Berichtigung des untergerichtlichen Urteils" sei. 194

1S7 Eine Konsequenz davon, daß das Rechtsmittel der Urteilsschelte, wie es sich im fränkischen Reich ausbildete [vgl. hierzu Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. I (1962) 44, 508; Broß (Fn. 60) 39 f.], die "beleidigende Anschuldigung einer Rechtsbeugung" gegen den Finder des gescholtenen Urteils enthielt [vgl. Amira / Eckhardt, Germanisches Recht, Bd. 11 (1967) 153, 157]. Erwähnenswert ist dabei, daß die Urteile nicht von Richtern, sondern von den Gemeinde- und Rechtsgenossen der Kontrahenten, den Schöffen, getroffen wurden, während die richterliche Aufgabe bloß darin bestand, das Urteil mit staatlicher Macht, sog. "Urteil-Ausgaben", zu versehen; der Scheltende konnte das Urteil nur bis zur Ausgabe durch den Richter anfechten, während es gegen den bereits verkündeten Akt keine Schelte gab [vgl. Mitteis / Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte (1960) 28. Über weitere Einzelheiten des Scheltenverfahrens vgl. Amira / Eckhardt, aaO]. Die sächsische Gerichtsordnung 1622 hing nach dem altdeutschen Grundsatz des Novenverbots in der Appellationsinstanz an [vgl. Osterloh, Der ordentliche bürgerliche Prozeß nach königlich sächsischem Recht (1860) 479, 482, 494 f.], ebenso wie die hannoveranische ABPO 1897 [im Gegensatz zur nachfolgenden BPO 1850, die nahezu jede Novenbeschränkung fallen ließ; siehe Leonhardt, Die bürgerliche Prozeßordnung und deren Nebengesetze (1861) § 48 Fn. 2] und der Codex Bavarici 1753, der allerdings nur die Kontrolle der rechtlichen Urteilsgrundlage gestattete [vgl. Schwartz, 400 Jahre deutsche Civilprozeßgesetzgebung (1898) 567]. ISS Zum Begriff und Inhalt der litis contestatio vgl. Kaser (Fn. 66) 215 f., 224 f.; Wenger, Institutionen, 165 f., 276 f. 1S9 Vgl. Fehr (Fn. 125) 45 mwFn. 190 Zum römischen Recht vgl. Kaser (Fn.66) 403, 509; Litewski RIDA 1966, 231 (310 f.); ders. RIDA 1967, 302 (382, 385). Zum älteren gemeinen Recht Linde (Fn. 66) 587 f. 191 Der Begriff ist eine Schöpfung dieser Epoche, in der das Nachschieben von Anfechtungsgründen nicht selbstverständlich war und als Wohltat verstanden wurde; siehe WetzeIl (Fn. 15) 754; Endemann, ZPR, 908. 192 Dazu vgl. WetzeIl (Fn. 15) 753 f.; Endemann (Fn. 191) 915 f. Zu den einschlägigen Bestimmungen der jüngsten RTA siehe bei Ratte (Fn. 7) 54 Fn. 14 vollständig angeführt. 193 Aus der älteren (vor 1924) Kommentarliteratur siehe zu §§ 491 I und 529 I besonders Gaupp / Stein, 3. Auf!. (1897, 1898) und 10. Auf!. (1911, 1913). 194 Hahn, 139, 141.

38

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

§ 28 Ungeachtet dessen, daß die volle römische appellatio alles andere als ein Verfahrensfortsetzungsmittel im Sinne des Gesetzgebers war,195 kann man heute anders als vor hundert Jahren nicht mehr von einem unbeschränkten Berufungsrecht sprechen. 196 Die Emminger-Verordnung 1924 197 sowie die Novellen 1933 197 • und 1977 198 ermöglichten in jeweils zunehmendem Maße den Ausschluß von nova und suchten mit ihren verschärften Konzentrations- und Präklusionsvorschriften der Tendenz der stofflichen Schwerpunktverlagerung des Prozesses in die Oberinstanz entgegenzusteuem. So räumte die Verordnung 1924 erstmals die Möglichkeit des Ausschlusses der auf Verschleppungsabsicht oder grober Nachlässigkeit zurückzuführenden Neuerungen ein (§ 529 TI, 1lI aF).I99 Mit der Novelle 1933 bedurfte die Zulassung neuen Vorbringens eines gerichtlichen Beschlusses, während früher umgekehrt dessen Ausschluß einen Beschluß erfordert hatte (§ 529 11 aF); die Kannvorschrift des bisherigen Rechts wurde in eine Mußvorschrift umgewandelt. 200 Mit der Novelle 1977 wurde zunächst das alte allgemeine Bekenntnis zum Novenrecht des § 529 I aF gänzlich gestrichen; und entscheidend für die Nichtzulassung ist nunmehr sowohl das überkommene subjektive Kriterium der Verschleppungsabsicht oder Nachlässigkeit wie auch das objektive Moment der Verfahrensverzögerung (§§ 527,528 uF).201

§ 29 Ob nun angesichts der ohnehin bereits sehr strengen Präklusionsnormen mit einem derzeit wiederum zur Debatte stehenden Novenverbot 202 noch viel zu holen wäre, erscheint zweifelhaft und sei dahingestellt; 203 denn immerhin fungiert ein beschränktes Novenrecht als ideales Regulativ 204 zwischen den im Prozeß konfligierenden Individual- und Allgemeininteressen an möglichst richtigen Er-

195 Hierzu unten zu § 48. 196 So zutreffend E. Schumann (Fn. 81) 270; auch Baumgärtei, FS-Reinhard, 37 f.; Braun, Restitution 11, 78 Fn. 9; Hagen (Fn. 27) 144; Fehr (Fn. 125) 52; Lorenz (Fn. 125) 193. 197 ROBI I, 135. 197. ROBI I, 780. 198 BOBI I, 3281. 199 Über die Neuerungen der Verordnung in bezug auf das Novenrecht vgl. eingehend Pagenstecher, Berufung, 22 f.; Fehr (Fn. 125) 49 f.; Schmidt (Fn. 4) 137 f., 140 f. 200 Dazu vgl. Rosenberg (Fn. 127) 15, 19 f.; ders. ZZP 58,283 f.; Kissel (Fn. 9) 75 f.; Fehr (Fn. 125) 51 f. 201 Zum heutigen Novenrecht siehe besonders Woif(Fn. 108) 312 f.; LeipoldZZP 97, 395 f.; Weth, Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens im Zivilprozeß (1988); Fuhrmann, Die Zurückweisung schuldhaft verspäteter und verzögernder Angriffs- und Verteidigungsmittel im Zivilprozeß (1987). 202 Nachweise oben zu Fn. 108. 203 Verwiesen sei auf die dazu genügend Material liefernden rechtsvergleichenden Beiträge, insbesondere aus österreichischer Sicht; vgl. exemplarisch Fasching (Fn.22) 269 f.; Grimm (Fn. 136) 223 f.; Petschek Judicium 1, 182 (228 f.); Sperl Judicium 4, 181 f.; Satter (Fn. 175); Moeller (Fn. 126) 60 f., 69 f. 204 In diesem Sinne Fasching (Fn. 22) 268, 274, der das beschränkte Novenrecht als "Optimum" bezeichnet; Hahn, Neues Vorbringen in der Berufungsinstanz (1940) 82. Vgl. auch Leipold (Fn. 5) 292; Gottwald (Fn. 108) 305 f. Anders Lorenz (Fn. 125) 193.

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

39

kenntnissen einerseits,20s. die nach einer unbegrenzten Novenzulassung verlangten 20Sb, und dem Streben nach Geringhaltung der Verfahrensdauer, der sozialen, materiellen und immateriellen Kosten des gesamten Rechtspflegeapparats andererseits,206a die ein Rechtsmittelverfahren letztlich ganz verböten. 206b Eines sei jedoch bereits an dieser Stelle vorausgeschickt, daß die Rechtsmittelkontrollfunktion nicht nur dort verifizierbar ist, wo der iudex ad quem auf das Blickfeld der Vorinstanz fixiert ist, daß also Jus Novorum und Rechtsmittelkontrollfunktion keineswegs sich als ausschließende Größen darstellen.7J1/ Im Gegenteil, für ein Rechtsmittel, welches sich nicht als ,,Richterschelte" oder "Gerichtsrügemittel" versteht und dessen Zweck nicht die Korrektur subjektiver Fehler des Vorderrichters, sondern die Prüfung der objektiven Richtigkeit des Anfechtungsobjekts ist,208 ist die Zulassung von nova reperta selbstevident und umgekehrt deren Ausschluß ein besonders zu legitimierendes" malefieium novorum " ; 209 die Zulassung von nova producta ist hingegen weniger ein Thema des Kontrollmoments als vielmehr eine Frage des Einflusses derselben auf Bestand und Wirkungen des angefochtenen Aktes. 210 § 30 Nicht weniger verkehrt und irrestiftend wäre es, von der grundsätzlichen Zulässigkeit sachverändernder Parteidispositionen - sei es in Form der Klagänderung (§§ 523, 263), Klagerweiterung (§§ 523, 264), nachträglichen Klaghäufung (§§ 523, 260) oder Erhebung einer Widerklage (§ 530 I) - auf die Untauglichkeit der Rechtsmittelinstanz als Kontrollinstanz schließen zu wollen. 211 Es lOS. Zu den im Prozeß konfligierenden Werten und zweckrationalen Entscheidungen vgl. besonders Dorndorj, Handlexikon, 301. 20Sb Siehe Fasching ÖJZ 63, 533. 206. Siehe oben zu Fn. 205a. 206b Siehe oben zu Fn. 205b. 7J1/ Ohne nähere Begründung ebenso Wach (Fn. 24) 248. 208 Dazu vorläufig Planek, Lehrbuch, 454 und näheres unten zu §§ 91 f. 209 Die Materialien zu den neuen österreichischen Zivilprozeßgesetzen (hrsg. vom K. K. Justizministerium 1897) I, 346 f. und ihr Verfasser Klein, Vorlesungen über die Praxis des Civilprozesses (1900) 253 f., begründen das eingeführte Novenverbot mit dem "gesellschaftlichen Interesse am schleunigen und ökonomischen Verfahrensablaur'. Man darf aber auch den wirtschaftlichen und politischen Hintergrund nicht vergessen, daß also die österreichische ZPO von 1895 für ein großes Reich erlassen wurde, zu dem damals wirtschaftlich zurückgebliebene ,,reine Schuldenländer" [v. Staff (Fn. 175) 70] mit einer übermäßigen Anwaltschaft und einer gesteigerten Prozeßsucht zur möglichsten Hinausschiebung der Erfüllung von Zahlungsverpflichtungen gehörten. Auf diese Gebiete mußte der Gesetzgeber Rücksicht nehmen und ihre Bewohner durch die Beschränkung der Berufung ni?~gen, allen Prozeßstoff im ersten Rechtszug vorzubringen [vgl. Weiß (Fn. 175) 1 f.]. Uberdies stellte das Novenverbot alte Tradition dar, da es seit langem im größten Teil des Habsburger Reiches geltendes Recht war [siehe auch Pol/ak RheinZ 14, 180 f.]. 210 Dazu aber unten zu §§ 93 f. 211 So aber Ratte (Fn. 7) 40 f. Der Umstand, daß die Zulassung der in Frage stehenden Parteihandlungen von der Vorstellung einer Verfahrensfortsetzung aus keinerlei prinzipiellen Bedenken begegnet [vgl. v. Kries (Fn.2) 52; Hel/wig (Fn.9) 836], gestattet

40

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

ist zwar so, daß, wenn ein ausgetauschter, weiterer oder auch bloß erweiterter Prozeßgegenstand verhandelt und entschieden wird, keine Richtigkeitskontrolle mehr stattfindet. Doch im gleichen Maße wie jeder zivilprozessuale Erkenntnisprozeß, der nicht nur am Richtigkeitsideal ausgerichtet, sondern ebenfalls vom Effizienz- und Rationalisierungspostulat determiniert ist, konfligierende Werte in eine kohärente Präferenzordnung einbringen muß, muß auch ein Kontrollbzw. Rechtsmittelverfahren eine kompromißhafte Optimierungsentscheidung treffen können. 212 Eine solche würde aber fehlen, sollte die Partei mit ihrem Rest-, Zusatz- oder Austauschbegehren stets auf die Durchführung eines neuen Klagevefahrens verwiesen werden,213 zumal man inzwischen die Zulässigkeit der genannten Dispositionen durch die üblichen rechtsmittelspezifischen Restriktionen relativiert hat. Den Parteien ist namentlich verwehrt, sich nur zum Zwecke der Vornahme solcher Parteihandlungen der äußeren Form eines Rechtsmittels zu bedienen bzw. hier ein Rechtsmittel nur pro forma einzulegen, ohne damit inhaltlich die vorhandene Entscheidung überhaupt anzufechten, ohne insbesondere durch sie beschwert zu sein 214 und sie als unrichtig zu bekämpfen. 215 Gewisse Vorbehalte gegen eine weitherzige Zulassung sachverändernder Parteidispositionen und eine allzu extensive Handhabe der sie regelnden Normen 216 wären jedoch keine Rückschlüsse auf die Funktion des Rechtsmittelverfahrens; dazu sogleich im Text. 212 Angemerkt sei, daß es Gesichtspunkte der Prozeßökonomie und des effizienten Rechtsschutzes waren, die das ursprüngliche Verbot von sachveränderten Dispositionen [vgl. §§ 489, 491 n CPO aF und dazu Hahn, 355 f.; Planck, Lehrbuch, 456; Wach (Fn.24) 262 f.; Gilles (Fn. 32) 68; ders. (Fn.34) 168 f.] nach und nach abschwächen und endlich abschaffen ließen; hierzu vgl. besonders Nikisch, § 122 1lI 2; Volkmar JW 33,2427 (2430); auch Fenn FamRZ 76,259 (262) und SI J I Grunsky, § 530 I. 213 So bezüglich der Klagänderung BGH NJW 77, 49;B I LI Albers, § 5282A. Bezüglich der Klagerweiterung vgl. v. Mettenheim (Fn. 5) 48 und der Widerklage Z I Schneider, § 53011 2. 214 Hinsichtlich der Klagänderung vgl. Wieczorek, § 529 BI 64; Baur, FS-Lent, 1 (10 f.); R I Schwab, § 137113 a mwN. Hinsichtlich der Klagerweiterung SI J I Grunsky, vor § 511 V 2a, 4b; Zeiss, § 81 III 7 a, d; RGZ 13, 390 (393); BGH NJW 55, 545 f. Hinsichtlich einer nachträglichen Klagehäufung oder Widerklage RGZ 130, 101 f.; RG JW 28, 2132; Gilles (Fn. 32) 70. 215 Da also die Rechtsmittelzulässigkeit nicht nur objektiv das Vorliegen einer Beschwer voraussetzt, sondern darüber hinaus auch noch die Geltendmachung dieser Beschwer, wird davon ausgegangen, daß deshalb jeder Anfechtender "die Beseitigung dieses Nachteils anstreben muß"; daran fehlt es aber, "wenn der unterlegene Kläger in der Rechtsmittelinstanz lediglich die Klage erweitern und nur den neuen Streitgegenstand entschieden haben will" und auch dann, "wenn der unterlegene Beklagte nur zum Zwecke der Widerklage ein Rechtsmittel" einlegt; so SI J I Grunsky, vor § 511 V 1b mwFn. 216 Insbesondere durch strikte Einhaltung und restriktive Auslegung des Erfordernisses der Sachdienlichkeit bei der Klagänderung (§§ 523,263) und Widerklage (§ 530). Die Rechtssprechung verneint die Sachdienlichkeit, wenn eine Beweisaufnahme nötig wäre [BGHZ 17, 124 (126); OLG DüsseldorfVersR 76, 151], oder der Prozeß auf eine ganz neue Grundlage gestellt werden müßte (BHG LM § 523 Nr. 1), nicht dagegen wegen höherer Kosten [RG JW 36,928 (929)] oder des Verlustes einer Instanz [BGHZ 1, 65 (70 f.)]; Sachdienlichkeit wird bejaht, wenn ein anderenfalls zu erwartender weiterer

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

41

allerdings vonnöten und dem rechtspolitischen Bestreben der Vereinfachungsnovelle 1977 nach einer weitestmöglichen Konzentration des Prozeßstoffs auf die erste Instanz durchaus entgegenkommend. 217 b) Funktionsdefizite der sogenannten Allzuständigkeit der Rechtsmittelinstanz

aa) Neuverhandlungsprinzip contra Kontrollkompetenzen? § 31 Vornehmlich durch den § 466 des Entwurfs [heute § 525], wonach vor dem Berufungsgericht der Rechtsstreit in den "durch die Klage und die bei der mündlichen Verhandlung gestellen Anträge" abgesteckten Rahmen" von Neuem verhandelt" werde,218 glaubten die Gesetzesverfasser, den "Charakter der Berufung als eines novum iudicium",219 eines "erneuten Rechtsstreites" bzw. einer zweiten erstinstanzlichen Klage 220 zweifelsfrei verwirklicht zu haben. Diese [soll man sagen naive?] Einschätzung umschreibt die herrschende Auffassung mit der Allzuständigkeit 221 des iudex ad quem. Diese wird angesichts der Tatsache, daß die oberinstanzliche Prüfungskompetenz grundsätzlich 222 über die in der Begründungsschrift mitgeteilten Anfechtungsgründe hinausreicht und sich auf alle erdenklichen tatsächlichen wie rechtlichen Streitpunkte erstreckt (Arg. § 537), zum Nachweis dessen erbracht, daß Gegenstand des Berufungsprozesses nicht die Nachprüfung des Urteils, sondern die des Klageanspruchs sei; 223 oder um in der Sprache der Motive zu verbleiben, die ,,Erneuerung und Wiederholung des Rechtsstreites" soll den Charakter der Berufung als "eines Rechtes auf Kritik ... , Nachprüfung und Berichtigung des untergerichtlichen Urtheils" nehmen. 224 Prozeß vermieden wird und der neue mit dem alten Anspruch in einem rechtlichen Zusammenhang steht, so daß das Ergebnis der bisherigen Prozeßführung verwertet werden kann (BGH Rspr BauZ 2, 10; Johannsen, LM § 529 Nr. 19). 217 Bemerkt sei, daß den genannten Dispositionsakten in der Revisionsinstanz § 561 entgegenstehen kann, aber nicht muß. Im Zuge des sich wandelnden Verständnisses der Revision von einer Rechts- zur Tatsacheninstanz [siehe Schlosser, Die Nachprüfung von Tatsachenfeststellungen durch die Revisionsinstanz 17 f.] werden in zunehmendem Maße Klagänderungen, -erweiterungen oder neue Ansprüche für zulässig erachtet [vgl. hierzu besonders Gottwald, Revisionsinstanz, 360 f., 369 f.]. 218 Hahn, 355, 358. 219 Hahn, 355. 220 Hahn, 141. Siehe auch Baur (Fn. 36) 372; Kapsa (Fn.47) 36. 221 Zur Terminologie vgl. Seil (Fn. 7) 5 f.; Grunsky ZZP 84, 129 (136); Ratte (Fn. 7) 48; Gilles (pn. 31) 205. 222 Dazu unten zu §§ 33 f. 223 Siehe besonders Bettermann (Fn.5) 369, 386; Leipold (Fn.5) 291; Fasching (Fn.22) 264; R / Schwab, § 13511 1; Blomeyer, § 103 ill; Ratte (Fn.7) 41, 68, 71; Gottwald (Fn. 217) 264; Senft (Fn. 123) 1,2. Danach wäre umgekehrt das Rechtsmittel nur dann ein Kontrollverfahren, wenn "das Gericht nur einzelne Elemente des angefochtenen Urteils entsprechend den erhobenen Rügen überprüft" (so ausdrücklich Ratte, 68). 224 Hahn, 139 f.

42

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

§ 32 Ob jedoch die Nachprüfungsbefugnis nach allen Richtungen hin oder nur anband einzelner inkriminierter Streitstoffpunkte zu erfolgen hat, sagt über Funktion und institutionelle Zwecksetzung der Rechtsmittel so gut wie nichts aus. Denn ersichtlich handelt es sich hier nicht um eine Frage des Kontrollgegenstandes, sondern um eine des Kontrollumfanges,22S wie dies insbesondere im Zuge der Vorarbeiten zur letzten DDR-ZPO vom 1.1.76 zur Sprache gebracht wurde. 226 "Das sog. Neuverhandlungsprinzip " werde "als Gegensatz zum Überprüfungsprinzip verstanden ... und schafft einen Widerspruch zwischen dem gegenwärtigen Berufungsverfahren und den beabsichtigten 227 Kontroll- und Überprüfungsaufgaben, ohne daß dieser Widerspruch in Wirklichkeit besteht."228 Insbesondere besagten §§ 525, 537 nicht, "daß die Berufungsverhandlung eine einfache Wiederholung der Verhandlung erster Instanz wäre"; 229 möge "die zweite Instanz im gleichen Umfang wie die erste das Prozeßmateriai überprüfen", so geschehe es "mit einer anderen, sich aus den unterschiedlichen Funktionen der beiden Instanzen ergebenden Zielsetzung". 230 "Das Ausmaß der Überprüfung" täusche nicht darüber hinweg, "daß hier eine Kontrolle des Urteils durch Neuverhandlung des Rechtsstreites" stattfmde. 231 Derartige Überlegungen, die das Rechtsmittelwesen in einem anderen Licht erscheinen ließen, fanden dagegen im Westen kaum Widerhall; Pohle lediglich bemerkte einmal, man könne "weder von einem neuen Verfahren noch von einer schlichten Wiederholung des Prozesses in der unteren Instanz sprechen; der Gedanke einer Kontrolle steht praktisch im Vordergrund"232, und suchte damit wie Planck die angebliche Antithese einer Verfahrens wiederholung zur Kontrollfunktion abzubauen: ,,Die Prüfung der Richtigkeit des angefochtenen Urteils soll erfolgen auf Grund der Wiedereröffnung der in erster Instanz geschlossenen mündlichen Verhandlung des Rechts-

22S Zutreffend Planck (pn. 212) 453; siehe auch Ratte (Fn.7) 42, der, wenngleich überzeugter Anhänger der hA, nicht umhin kann, einzuräumen, daß es dadurch "selbstverständlich auch zu einer mittelbaren Nachprüfung der Richtigkeit des vorinstanzlichen Urteils" komme. 226 Vgl. insbesondere Fiedler / Richter NJ 67, 471 f.; Rohde NJ 59, 373 f.; Kietz / Mühlmann NJ 63,740 f.; dies. NJ 64,203 f.; auch Brunner NJW 77, 177 (180). 227 Beabsichtigt deshalb, weil "das die Leitung des gesamten Staatsapparats bestimmende Prinzip des demokratischen Zentralismus gebieterisch eine Gestaltung des Rechtsmittelverfahrens fordert, die dem Rechtsmittelgericht eine wirkungsvolle Kontrolle, Aufsicht und Anleitung der unteren Gerichte ermöglicht" [Rohde (Fn. 226) 373], "die sozialistische Gesetzlichkeit bewahrt ... und den sozialistischen Umwälzungsprozeß fördert" [Krüger (Fn. 166) 675, 676]. 228 So Kietz / Mühlmann (pn. 226) 204; zustimmend Fiedler / Richter (Fn. 226) 471; Kellner (Fn. 166) 392. 229 Kellner (Fn. 166) 402; ebenfalls Krüger (pn. 166) 675. 230 Rohde (Fn. 226) 376; Kellner (Fn. 166) 402. 231 Rohde (pn. 226) 375; Kellner (pn. 166) 402, 405; Fiedler / Richter (pn. 226) 472. Erwähnenswert ist, daß die neue ZPO in § 154 I die Allzuständigkeit der Rechtsmittelinstanz einerseits konstatiert [,,Das Berufungsgericht überprüft das Urteil in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ... "] und andererseits in der Eingangsvorschrift des § 147 I den Kontrollcharakter des Rechtsmittelprozesses manifestiert [siehe dazu oben zu § 22]. 232 Pohle (pn. 28) 11.

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

43

streites".233 Daß dies dem Willen des Gesetzgebers zum Trotz auch der Wille des Gesetzes ist, beweist eine ineinandergreifende Lektüre der §§ 525, 526 I; denn, "wird der Rechtsstreit in den durch die Anträge bestimmten Grenzen von neuem verhandelt" [§ 525], so erfolge es insoweit, "als dies ... zur Prüfung der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung erforderlich ist" [§ 526 1].234 Nicht zu Unrecht führte daher Wach aus, "übertrieben und irreführend nennt man die Berufung ein novum iudicium". 235

bb) Begrenzte Nachprüfungskompetenz der Rechtsmittelinstanz § 33 Obgleich §§ 525,537,559 eine umfassende Prüfungspflicht der Rechtsmittelinstanz statuieren, ist das Gesetz nach der Neufassung der §§ 519, 554 236 nicht mehr so angelegt, als müßte unbedingt die Kontrolle des Anfechtungsobjekts bezüglich aller Anspruchselemente erfolgen. 237 Gemessen am Gesichtspunkt der Zulässigkeit einer qualitativen Unterteilung des Streitgegenstandes ist die Frage nach einer begrenzten NachpTÜfungskompetenz auf Kosten der tradierten Allzuständigkeit unter verschiedenen Aspekten erörtert worden. 233 Planck (pn. 212) 458; ebenso Walsmann (Fn. 4) 52: ,,Die zweite Instanz soll das gesamte Prozeßmaterial in voller Freiheit nachprüfen, aber nicht zu dem Zweck, um von sich aus zu einer selbständigen Entscheidung zu gelangen, sondern um in der Hauptsache nachzuprüfen, ob die erste Instanz richtig entschieden hat." 234 Daß § 526 I ins gesetzgeberische Rechtsmittelbild überhaupt nicht paßt, wird bei einer Lektüre der einschlägigen amtlichen Begründung noch deutlicher. "Der Rechtsstreit", heißt es zu § 467 (§ 526) des Entwurfs, solle ,,nicht derart von Neuem verhandelt werden, als wäre das Urteil ... nicht vorhanden; es bleibe vielmehr immer die Richtigkeit des Urteils zu prüfen" [Hahn, 355], sei doch "das vorhandene Urteil als Gegenstand des Angriffs auch Gegenstand der Verhandlung" [Hahn, 373]. Dafür, daß dem Gesetzgeber eine stringende Rechtsmittelkonzeption ohnehin nicht nachzusagen war, siehe oben zu Fn. 16 und unten zu § 50. 235 Wach (Fn. 24) 298. 236 Die CPO von 1877 sah nur die Erklärung des Beschwerdewillens, die Einlegung des Rechtsmittels als wesentlich an; weder Anträge noch Begründung zählten zu den Rechtsmittelessentialien [vgl. Wach, Gutachten zum 26. deutschen Juristentag (1902) 23; Hellwig (Fn. 9) 839]. Durch die Novelle 1905 erhielt die fristgerechte Begründung eine eigene Bedeutung zunächst nur für Revisionszulässigkeit [dazu Seuffert ZZP 35, 65 f.; Scheele JW 1905,355]. Für die Berufung brachte die Novelle 1924 einen begrenzten, sich in der Angabe der Berufungsanträge erschöpfenden Begründungszwang [vgl. Walsmann (Fn. 4) 108; Pagenstecher (Fn. 199) 15; Kritik bei Baumbach DJZ 25, 1615 (1619)], und erst die Novelle 1933 führte die zwingende Angabe der BerufungsgrüDde ein [vgl. earl JW 1935, 2233 f.; Körting AcP 142, 92 f.; Bohnenberg (Fn. 36) 10). Eingehend zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Rechtsmittelbegründungsnormen vgl. Seil (Fn. 7) 27 f. mwN. 237 Vergegenwärtigt man sich, daß eine zur Zulässigkeitsfrage gehörende Rechtsmittelbegründungsschrift die funktionelle Bedeutung eines das künftige Streitprogramm absteckenden Schriftsatzes hat, so besteht in der Tat ein "Spannungsverhältnis" [Grunsky (pn.221) 136; Seil (Fn.7) 6; Gilles (Fn. 31) 209] zwischen der Allzuständigkeit und der strengen Begründungspflicht, genügt doch die Erhebung einer x-beliebigen Rüge, damit das Rechtsmittelgericht auf die Fehlersuche geschickt wird. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Schmidt (Fn. 4) 138 f.

44

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

§ 34 Da ist zunächst das Thema einer begrenzten Nachprüfungskompetenz kraft gerichtlicher Anordnung, das die Fragen einer beschränkten Revisionszulassung sowie einer beschränkten Urteilsaufhebung und Zurückverweisung auf ein-

zelne Streitpunkte des Prozeßstoffs umfaßt. Angesprochen sind hier freilich nicht die Fälle einer teilweisen Zulassung bzw. Zurückverweisung bei mehreren Streitgegenständen,238 Klage und Widerklage,239 Berufung und Anschlußberufung 240 oder bei einfacher Streitgenossenschaft, 241 welche allesamt eine quantitative (teilurteilsfahige) Aufspaltung des Prozeßstoffs betreffen und daher unproblematisch sind; von Belang ist vielmehr der Rechtsprechungstrend, beim unteilbaren Streitgegenstand einzelne Anspruchs- und Urteilselemente, Angriffs- und Verteidigungsmittel auszunehmen und in derart begrenztem Umfang die weitere Kontrolle freizugeben. In Abkehr von früheren Thesen, die eigentlich nicht mehr gemeint hätten, als daß eine solche Beschränkung nicht praktikabel sei und geltendem Recht widerspreche, 242 läßt also heute der BGH die Revision auf solche Anspruchsteile begrenzt zu, die Gegenstand eines Grund- oder Betragsverfahrens sein können, wobei darauf abgestellt wird, daß eine entsprechende Aufspaltung des Streitstoffs auch durch den Erlaß eines Grundurteils nach § 304 herbeigeführt werden könne. 243 Die Zulässigkeit einer beschränkten Revisionszulassung wird auch im Falle der Aufrechnung und eines möglichen Vorbehaltsurteils nach § 302 befürwortet. 244 Einigkeit besteht ferner wohl darin, daß bei der Zurückverweisung dergestalt aufgespalten werden kann, daß ein Teil abgetrennt wird, über den ein Zwischenurteil [und sei es eines nach § 303, das also nicht selbständig anfechtbar gewesen wäre] hätte ergehen können. 245 Darüber hinaus hat der BGH anerkannt, daß die Zurückverweisung auf die Frage nach dem Bestehen eines Zurückbehaltungsrechts beschränkt werden kann, während die Bejahung der Leistungspflicht im angefochtenen Urteil bestehen bleibt. 246 § 35 Von der Beschränkung des Kontrollumfanges durch gerichtliche Anordnung schloß Grunsky auf eine begrenzte Nachprüfungskompetenz kraft Parteiini238 BGHZ 48, 134 (136); BGH NJW 68, 1476 (1477); BGH MDR 69, 39; BGH VersR 73, 1028; S I J I Grunsky, § 546 VI 2 a; Lässig, Rechtsmittelzulassung, 57; Prütting (Fn. 112) 230; anders Müller, FS-Herschel, 173. 239 BSGE 3, 135 (139); Prütting (Fn. 112) 230; Lässig (Fn. 238) 58. 240 BAGE 2, 325 (327); R I Schwab, § 143 14 c. 241 BGH NJW 52, 786; Prütting (Fn. 112) 230 mwN. 242 SoRAGJW 30,670 f.;BAGE 5,193 (196);BGHNJW 53, 1104; Auffarth NJW 57, 484 (486); heute so Lässig (Fn. 238) 54 f. 243 Vgl. BGHZ 7, 62 f.; BGH LM § 546 Nr. 38 a; BGH NJW 80, 1579 f.; 81, 287; 82,2379 (2380); 83,218 (219) jeweils mwN; SI J I Grunsky, § 546 VI 2 a; R I Schwab, § 143 I 4 c; Lässig (Fn. 238) 58; Prütting (Fn. 112) 230; Rennecke, Beschränkung, 11. 244 Vgl. BGHZ 53, 152 (155) = JZ 70, 504 f. m. zust. Anm. Pawlowski; Prütting (Fn. 112) 239 f.; Lässig (Fn. 238) 58; Rennecke (Fn. 243) 13; Prütting (Fn. 112) 239; Seil (Fn. 7) 143. 245 Vgl. Reinicke NJW 67,513 f.; Grunsky (Fn. 221) 140; Rennecke (Fn. 243) 12. 246 BGHZ 45, 287 = NJW 66, 1755; offen läßt BGH NJW 66, 2356.

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

45

tiative i. S. einer auf einzelne Anspruchselemente begrenzten Rechtsmitteleinlegung. 247 Sein Vorgehen kommt einer im Schrifttum zunehmend vertretenen Ansicht von der Dispositionsfreiheit entgegen, die den Parteien das Recht einräumt, die Grenzen der tatsächlichen und rechtlichen Würdigung des Streitstoffs dem Gericht bindend vorzuschreiben. 248 Während aber Grunsky die beschränkte Einlegung allemal für zulässig erachtet,249 macht sie die überwiegende Auffassung von der Möglichkeit einer Auflösung der angefochtenen Entscheidung in zwischenurteilsfähige Teile abhängig. 250 § 36 Bei einer Stellungnahme hierzu ist vorerst ein Mangel zu brandmarken, welcher der Gesamtproblematik einer begrenzten Prüfungskompetenz anlastet; die Identifizierung nämlich der Tragweite der Anhängigkeit des Streitstoffs und damit auch der Rechtshängigkeit des Prozeßgegenstandes in der betreffenden Instanz mit dem Umfang der Kontrollbefugnis derselben. Man ist instinktiv geneigt zu sagen, bei begrenzter Zulassung, Rückverweisung oder Einlegung würden nicht "die Sache", sondern die "isolierten Tatbestandsmerkmale" Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens, also nur in diesem qualitativen Umfang gelange die Sache in die Rechtsmittelinstanz. 251 Aber die Weite der Anfallwirkung muß in jedem Fall breiter als die der Prüfungsbefugnis sein und den gesamten Streitgegenstand erfassen; denn selbst wenn die Kontrolle auf die isolierten Streitfragen beschränkt bleibt, ergeht das Endurteil über den gesamten Prozeßgegenstand und nicht bloß über die einzelnen Tatbestandselemente. Mit Recht weist daher Gilles darauf hin, daß die Anfallwirkung nur nach quantitativen Kriterien zu messen ist, d. h. nach der Zerlegbarkeit der Streitsache in teilurteilsfähige Abschnitte. 252 247 Grunsky (Fn.221) 129 f.; ders. ZZP 88, 49 (60 f.); ebenso Rennecke (Fn.243) 64 f.; Klamaris (Fn.36) 95 f.; Nassal ZZP 98, 313 (319). Siehe auch OLG Bamberg NJW 79, 2316; KG NJW 83, 291. 248 Dazu vgl. Schlosser, Einverständliches Parteihandeln im Zivilprozeß (1968) 33 f.; Baur, FS-Bötticher, 1 f. (6, 10); Wolf, Das Anerkenntnis im Prozeßrecht (1969) 57 f.; Häsemeyer ZZP 85, 207 f.; Henckel Prozeßrecht, 136; Grunsky, § 3 n 3; Seil (Fn. 7) 147 f. 249 Siehe oben zu Fn. 247. 250 Für alle Seil (Fn. 7) 144, 155. 251 Vgl. etwa Rennecke (Fn. 243) 60 f.; Grunsky (Fn. 221) 139, 145; Klamaris (Fn. 36) 95,96. 252 Gilles (Fn. 31) 237 f.; ders. ZZP 78, 466 (481, 482, 485); Mettenheim (Fn. 5) 76 f., 85 f. Verbreitet ist jedoch die Ansicht, daß die Anfallwirkung bei Anfechtung eines Prozeß-, Vorbehalts- oder Grundurteils nur den damit erledigten Streitstoff erfasse, während der Rest in der Vorinstanz anhängig bleibe [für alle siehe Mattem, JZ 60, 385 f. mwN]. Gleichwohl räumt das Gesetz dem Obergericht das Recht ein, die Sache selbst abschließend zu entscheiden (§§ 540, 565 In), so daß die Frage auftaucht, wie denn eine solche Sachentscheidung zu treffen wäre, wenn man von einer beschränkten Sachdevolution und einer teilweise Anhängigkeit des Streitstoffs vor dem Rechtsmittelgericht ausgeht. Das Gesetz kennt lediglich eine Sachdevolvierung, aber gewiß keine richterliche Herautholung [insoweit treffend Bettermann ZZP 88, 365 (901)]. Andererseits ist es nicht zu übersehen, daß §§ 280 11,302 IV, 304 11 auch dann eine weitere Verhandlung über den Rest in der Vorinstanz ermöglichen, wenn ein Rechtsmittelverfahren inzwischen

46

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

Gilles irrt sich jedoch, wenn er daraus auch die Unzulässigkeit einer qualitativen Kontrollbefugnis herleitet. 253 Es ist durchaus nicht so, daß die Sache so weit geprüft werden soll, wie sie vor der Instanz anfällt. § 590 I, wonach der Rechtsstreit im Wiederaufnahmeverfahren insoweit von neuem verhandelt wird, wie er vom Anfechtungsgrund betroffen ist, zeigt, daß die ZPO eine Streitstoffaufspaltung in bestandsfeste und kontrollbedürftige Teile sehr wohl kennt. Der Blickwinkel konzentriert sich mithin auf die Frage, ob eine qualitative Nachprüfungskompetenz nur im Falle einer Auflösung des Anfechtungsobjekts in zwischenurteilsfahige Teile in Betracht kommt, was die hA mit der Begründung annimmt, daß "es sich dabei um einen tatsächlich und rechtlich selbständigen und abtrennbaren Teil des Gesamtstreitstoffs handelt".2S4 Vergegenwärtigt man sich dennoch, daß Zwischenurteile vor Erlaß der Prozeßbeschleunigungszwecken dienenden Emminger Verordnung, die in § 303 die Worte "oder über ein selbständiges Angriffs- und Verteidigungsmittel" strich, auch über materiellrechtlichen Vorfragen zulässig waren,2S5 so erscheint kaum akzeptabel, einen Unterschied zwischen einem ,,rechtlich selbständigen Teil des Streitstoffs" und "einem einzelnen Angriffs- und Verteidigungsmittel" zu sehen; denn jedes Tatbestandselement ist ein i.d.S. rechtlich selbständiger Streitstoffteil. 2S6 Im Gegenteil, der Rechtsgedanke aus § 303 nF harmonisiert mit einer ebenfalls zur Entlastung und Beschleunigung des Rechtsmittelverfahrens beitragenden Zerlegung des Prozeßstoffes. 257 Der vom BGH artiIwlierte Satz, es sei ohne Bedeutung. daß über die Zurückbehaltungseinrede kein Zwischenurteil nach § 303 hätte ergehen können, weil kein anerkennenswertes Bedürfnis dafür bestehe, einen im übrigen entscheidungsreifen Rechtsstreit nochmals in vollem Umfang neuzuverhandeln,258 ist uneingeschränkt zu unterstreichen. Der Erwähnung bedarf zuletzt ein Punkt, der speziell die beschränkte Rechtsmitteleinlegung betrifft. Hier ist es nicht mit einem Hinweis auf die §§ 525,537, 559, 563 getan; mag sich aus diesen Vorschriften ergeben, daß im Grunde alle Anspruchselemente in der Oberinstanz nachzuprüfen sind, so besagt dies in unserem Zusammenhang deswegen nicht viel, weil es ja denkbar ist, daß die genannten Bestimmungen nur den Regelfall eines unbeschränkten Rechtsmittels im Auge haben, ohne es verhindern zu wollen, daß ein Rechtsmittel nur auf eröffnet wurde. Der Fall soll jedoch nicht überbewertet werden; er ist typisch für die Arbeit eines pragmatisch orientierten Gesetzgebers, der sich von Fall zu Fall weitertastet und wenig darum kümmert, wie sich seine Lösung ins Gesamtsystem einbauen läßt. 253 Gilles (Fn. 31) 241 f.; ebenso verkehrt Lässig (Fn.238) 108. 2S4 BGHZ 53, 152 (155); zustimmend Pawlowski JZ 70, 506; w. N. bei Rennecke (Fn.243) 18. 255 Vgl. dazu besonders Bettermann z:zP 79,392 f.; Tiedke z:zP 89,64 (65). 256 So schon Grunsky (Fn. 221) 139, 143 f.; Prütting (Fn. 112) 236; Reinicke (Fn. 245) 516. 257 Ebenso Prütting (Fn. 112) 236. 258 BGHZ 45,287,289 f.

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

47

einzelne Streitpunkte eingelegt wird. Sell hat immerhin geltendgemacht, eine solche Restriktion bedeute immer eine unzulässige Verfügung über das Verfahren, die §§ 525, 537, 559, 563 außer Kraft setze, und stellte dort eine unzumutbare Verfügung zu Lasten des Anfechtungsgegners dar, wo der Anfechtende die zu seinen Gunsten beantworteten Vorfragen aus dem Verkehr ziehen wolle. 259 Die Einwände sind zwar deshalb nicht nachvollziehbar, weil einerseits jede sonstige Parteidisposition Verfahrensnormen außer Kraft setzt, die ohne den Verfügungsakt einzuhalten gewesen wären,260 und andererseits dem Rechtsmittelbeklagten unbenommen bleibt, durch seine schriftliche Rechtsmittelerwiderung 261 eine Prüfung der für ihn ungünstigen und vom Anfechtenden ausgenommenen Urteilsfeststellungen aufzuzwingen; so könnte der Beklagte zum Beispiel nicht nur die von seinem Gegner angeschnittene Verjährungsfrage, sondern auch die des Vertragsabschlusses verhandelt sehen. Gleichwohl muß berücksichtigt werden, daß die für den abgewiesenen und anfechtenden Kläger positiven Urteilsaussagen angesichts des Verfahrensausgangs in der Vorinstanz nur obiter dicta sind, welche die Entscheidung nicht tragen und erfahrungsgemäß unüberlegter als die tragenden Urteilsgründe sein können. 262 Ob solche Urteilselemente durch eine beschränkte Einlegung bestandsfest zu machen sind, hängt offenkundig mit der Frage nach der Teilnahme gewisser obiter dicta an der materiellen Rechtskraft zusammen und muß hier dahingestellt bleiben. 263 Zur Klarstellung sei aber bemerkt, daß, wer die obiter dicta für verbindlich erachtet, kaum Bedenken haben sollte, durch Beschränkung des Rechtsmittels auf eine Einzelfrage das Gericht im übrigen zu binden. 264 § 36a Um einen weiteren Fall begrenzter Rechtsmitteleinlegung handelt es sich nach hier eingenommenem Standpunkt bei bloßer Geltendmachung von nova producta, wenn also das Rechtsmittel nur mit Neutatsachen begründet wird. Wie es noch zu zeigen ist, stellen das kassatorische Begehren wegen ursprünglicher Unrichtigkeit und jenes auf Aufhebung wegen nachträglicher Änderungen jeweils unterschiedliche Rechtsmittelgegenstände dar, und zwar ein auf Aufhe259 Seil (pn. 7) 147, 154. 260 Vgl. Grunsky (pn. 247) 62; Prütting (pn. 112) 236. 261 Grunsky (Fn. 221) 148 f.; ders. (pn. 247) 62; Rennecke (Fn. 243) 109 f. und Klamaris (pn. 36) 96 verlangen dagegen die Einlegung eines Anschlußrechtsmittels, da sie irrtümlich annehmen, mit der begrenzten Hauptrechtsmitteleinlegung werde die Sache ebenfalls beschränkt devolviert (siehe oben Fn. 252), weshalb denn überhaupt der Anschließung bedürfe, damit der ,,Rest" in die Oberinstanz gelange. Daß eine Anschließung darüber hinaus das Verfahren unnötig verteuert, liegt auf der Hand (völlig daneben in diesem Punkt Rennecke, 124 f.). 262 Beispiele bei Grunsky (pn. 247) 61 f.; Seil (pn. 7) 154. 263 Für die Teilnahme vgl. Grunsky, § 47 V 1 c; ders. Zll' 76, 165 (170); S / J / Schumann-Leipold, § 322 X 4. Gegen die Teilnahme vgl. besonders Rimmelspacher, Streitgegenstandsprobleme, 257 f.; Kion, (Fn. 1) 114 f.; Ohndorj. Beschwer, 132 f.; Mettenheim (Fn. 5) 47 Fn. 106; Baumann AcP 169, 317 (343); Dietrich Zll' 83,201 (210 f.). 264 So auch Grunsky (pn. 221) 134; ders. (Fn. 247) 63.

48

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

bung ex tunc und ein auf Aufhebung ex nunc prozessuales Gestaltungsrecht 264a • Bei einer Beschränkung des Rechtsmittelantrags in dem skizzierten Sinn, so daß nur ein mit Wirkung ex nunc Kassationsbegehren rechtshängig wird, ist die Oberinstanz an das Begehren des Rechtsmittelklägers gebunden und kann das Urteil auch dann nicht rückwirkend beseitigen, wenn sie die Entscheidung von Anfang an für unrichtig hält. c) Der konforme Prozeßausgang § 37 Von der Allzuständigkeit der Rechtsmittelinstanz könnte man auf eine im Sinne des Verfahrensfortsetzungsmodells institutionelle Anfechtungszwecksetzung mit einiger Berechtigung schließen, wenn die Sache nicht nur neuverhandelt, sondern auch neuentschieden würde. Beim difformen Prozeßausgang wird sie freilich auch neuentschieden. Die Konfirmation des Anfechtungsobjekts könnte indessen in verschiedenen Formen erfolgen; durch Wiederholung des angefochtenen Aktes [so bei der Wiederaufnahme 264b], durch dessen Aufrechterhaltung [§ 343] bzw. förmliche Bestätigung [§ 925 11] oder durch Zurückweisung des Rechtsbehelfs [so bei den Rechtsmitteln, § 563].

aa) Die Zurückweisung des Rechtsmittels nach § 563 § 38 Es ist nicht von ungefähr, daß das Berufungsrecht in seiner ursprünglichen Fassung nirgends expressis verbis "Berufungsgründe", ,,Begründung" oder "Begründetheit" des Rechtsmittels erwähnt, und auch nicht zufällig, daß es im Falle eines mit dem angefochtenen konformen Verfahrensausgangs die Zurückweisung der Berufung als unbegründet nicht anordnet, wie dies die Revisionsregelung in § 563 gerade tut. 265.266 Sollte "die Berufung als unbegründet zurückgewieVgl. unten zu §§ 71,117, 177a. Die ZPO sieht hierfür weder eine Zurückweisung der Wiederaufnahmeklage entsprechend § 563 noch eine Aufrechterhaltung des Anfechtungsobjekts entsprechend § 343 vor. Für eine generelle Aufhebung ohne Rücksicht auf den Ausgang des refonnatorischen Verfahrens vgl. RGZ 75, 53 (57); Münzberg (Fn.44) 84 Fn. 146; Rüßmann, AcP 167,410 (423 Fn. 65); Jauernig, Zivilurteil, 133; Nikisch, § 130 m 1; Stein (Fn. 9) 322; Hellwig (Fn. 9) 864 Fn. 2, 875 Fn. 59; Zeiss, § 75 IV 3 b. Für eine ausnahmsweise oder gar generelle Aufrechterhaltung des angefochtenen Akts beim konfonnen Ausgang des refonnatorischen Verfahrens vgl. Zeuner, MDR 60, 85 (88); Wieczorek, § 590 D lI c 1; T / Putzo, § 5903; Z / Schneider, § 590 n 4; S / J / Grunsky, § 590 IV 1, mit der Einschränkung, "an sich korrekt" sei eine Aufhebung und Ersetzung. 265 Schon aus Gründen der äußeren Gesetzessystematik [dazu Heck, Begriffsbildung und Interessenjurispondenz (1932) 139 f.; Engisch, Beiträge, 101, 103, 126 f.] umso merkwürdiger, als die Prozeßordnung, die keine gemeinsamen Rechtsmittelvorschriften zusammengefaßt hat, eine eingehende Regelung der Berufung enthält und auf diese bei der Revision verweist (§ 566). 266 Die Rechtsmittelzurückweisung erfaßt sowohl den Fall, daß das Anfechtungsobjekt weder an den vom Rechtsmittelführer gerügten noch an anderen Mängeln leidet, wie 2640 264 b

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

49

sen werden", weisen die Motive aus, so bliebe "die der Rechtskraft fähige Entscheidung des Urtheils erster Instanz maßgebend und sachlich erkennend", '}Jj7 was denn mit den Worten Steins dort fehl am Platz wäre, wo "als Verfahrensziel gilt, das erste Urteil durch ein zweites zu ersetzen".268 Dagegen konnte im Revisionsverfahren, das aufgrund seiner auf die Rechtsfrage begrenzten Nachprüfungskompetenz ohnehin ,,keine Entscheidung in der Sache selbst in demselben Maße wie die Berufung zu geben" vermöge,269 das Rechtsmittel zurückgewiesen werden; "auch wenn die Revision aus sachlichen Gründen zurückgewiesen wird", den Fall, daß es mit solchen Fehlern zwar behaftet, im Ergebnis aber richtig ist. Gerade diesen Fall "mangelnder Kausalität" [so Hahn, 365; BGHZ 4,58 (60); BGH LM § 554 Nr. 23; Bruns § 54 Rdn. 276 b, 285; Jauernig, § 74 VIII 1; Zeiss, § 83 VII B 3; B / L / Albers, § 5492 A; T / Putzo, § 549 5; AK - ZPO - Ankermann, § 563 Rdn 1. Abweichend RGZ 167, 274 (280) und Bettermann DVBI61, 65 (74), die § 563 für einen Fall ,,mangelnder Beschwer" halten. Anders wiederum Bettermann in ZZP 88, 365 (372), wo die Dinge deshalb so konsequent auf den Kopf gestellt sind, da Bettermann mittlererweile eingesehen hat, daß sich das Kausalitätserfordernis als Element der Urteilsunrichtigkeit in ein Rechtsmittelsystem nicht hineindeuten läßt, das nicht auf Richtigkeitskontrolle gerichtet ist] regelt § 563, der von der Gleichwertigkeit und Austauschbarkeit der Urteilsgründe ausgeht [zutreffend Grunsky ZZP 76, 165 (178) und Schwab, FS-Bötticher, 321 (337)], welche nach gesetzgeberischer Absicht an der materiellen Rechtskraft nicht teilhaben sollten [Hahn, 292]. Inzwischen ist diese Auffassung nicht unerheblich modifiziert worden [Eine absolute Rechtskraftwirkung kraft Sinnzusammenhangs hat Zeuner, Grenzen, passim. nachgewiesen; kritisch dazu Peters ZZP 76, 229 f. und Schwab JZ 59 786 f. Relative Rechtskraftwirkung äußert die Sachabweisung (vgl. etwa Dietrich ZZP 83, 201 f. und Kion (Fn. 1) 116; anders J. Blomeyer NJW 69, 587 f.), die Prozeßabweisung (für alle Blomeyer, FS-Fragistas, 472) und für viele auch die rechtliche Qualifikation (vgl. Lent ZZP 65, 325 f., 344; Grunsky, § 47 IV 2; anders Jauernig, Zivilurteil, 115 f. jeweils mwN)]; dies beschwört die Frage herauf. ob das Rechtsmittel auch bei einem qualifizierten Begründungswechsel zurückzuweisen ist. Die Praxis [vgl. exemplarisch OLG Bamberg NJW 56,227; BGHZ 7, 174 (183 f.); 12,308 f.] hat unter Zustimmung des Schrifttums [siehe etwa Blomeyer, §§ 102 I 2,103 IV 1, 104 VII 1; Z/ Schneider, § 563 V; Gilles (Fn. 32) 82 f.] den Weg der sog. "begründungsersetzenden Zurückweisung" eingeschlagen, d. h. das Rechtsmittel wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß der qualifizierte, bindungsfähige Inhalt des im Ergebnis bestätigten Anfechtungsobjekts an Hand der Gründe der RechtsmittelzUlÜckweisung auszulegen ist. Dieser Weg ist entgegen Jauernig, aaO, 107 f. und FS-Schiedermair, 294 f. gewiß gangbar, wie Beispiele aus anderen Prozeßordnungen zeigen [§§ 534, 578 griechische ZPO, § 384 11 italienische ZPO]; Einwände sind gleichwohl gegen die häufig praktizierte Auswechselung von Sach- und Prozeßabweisung im Wege des § 563 [vgl. zuletzt BGH NJW 78, 2031; WM 78, 470] zu erheben. Hier ist nämlich nicht der Umfang, sondern gerade der Gegenstand der materiellen Rechtskraft jeweils verschieden [zutreffend Jauernig JZ 55, 235; Blomeyer, § 89 II 2]; das Urteil muß also insoweit kassiert und ersetzt werden [ebenso BGH JR 54,182 m. zust. Amn. Lent; R / Schwab, § 141 ill; Bettermann (Fn. 5) 379]. 267 Hahn, 144. 26S Stein (Fn. 9) 307. Ähnlich führt v. Kries (Fn. 2) 191 aus, "besondere Vorschriften über das Berufungsurteil wären gar nicht notwendig"; denn "was die Tätigkeit des Berufungsgerichts betrifft, so ... ist sie genau die gleiche, wie die des Gerichts erster Instanz". 269 Hahn, 364. Bei der Revision ist auch die herrschende Ansicht eher geneigt, den Anfechtungs- und Kontrollcharakter des Rechtsbehelfs zu bejahen; vgl. zuletzt Bettermann (Fn. 5) 369. 4 Kolotouros

50

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

führen die Motive aus, "ist neben dem Revisionsurtheile das vorausgegangene, nicht aufgehobene Urtheil zweiter Instanz dasjenige, welches rechtskräftig wird ... , und nur, wenn das Revisionsurtheil eine anderweitige Entscheidung in der Sache selbst gibt, ist es für sich allein das rechtskräftige Endurtheil" . 270 Die Rechtsmittelzurückweisung stellte also für den Gesetzgeber keine Entscheidung in der Sache selbst dar, womit sie auch kein geeigneter Abschluß eines nicht auf Kontrolle, sondern auf Gewinnung eines neuen Sachurteils gerichteten Berufungsverfahrens sein könnte;271 "das Berufungsurtheil" habe sich daher "auch formell über den ganzen Streigegenstand auszusprechen ...".272 § 39 Hinter dieser Differenz zwischen Berufungs- und Revisionsregelung bezüglich der Rechtsmittelzurückweisung wurde dennoch eher ein Redaktionsversehen vennutet, 273 weshalb man sich bereits von Anfang an für eine Berufungszurückweisung einsetzte,274 welche dann allerdings als erneute sachliche Entscheidung aufgefaßt werden mußte, die den angefochtenen Akt konsumiere und ersetze. 275 Für diese Umdeutung der Rechtsmittelzurückweisung wird freilich eine umfangreiche 276 und doch völlig neben der Sache liegende Beweisführung geboten. Am naivsten mutet die übliche Argumentation an, daß sich im zulässigen Berufungsverfahren der Streit über die Unrichtigkeit des Anfechtungsobjekts hinweg auf die Klage verlagere; 277 denn die konfmnatorische Rechtsmittelentscheidung stellt nicht auf die Klage, sondern darauf ab, ob das Ergebnis der Klagenachprüfung mit dem angefochtenen Urteil übereinstimmt, der Bezugspunkt nämlich von Verfahren und Entscheidung ist offenkundig verschieden. 278 270 Hahn, 383. 271 Daß die Rechtsmittelzurückweisung kein Sachurteil ist, betonen mit Recht Jauernig (Fn. 266) 108 N 35, 110; ders. (Fn. 32) 295 f.; Arens AcP 161, 177 (200); Gilles (pn. 32) 43, 67; ders. (Fn. 34) 141, 150; ders. (Fn. 31) 206 Fn. 46; R I Schwab, § 137 I; Tiedke ZZP 89,64 (71); Walsmann (pn.4) 55; Kellner (Fn. 166 f.) 408. 272 Hahn, 383. 273 Bettermann (pn. 5) 373 meint sogar, daß der Gesetzgeber im Berufungsrecht eine dem § 563 entsprechende Regelung als "selbstverständlich" unterlassen habe, während sie im Revisionsrecht deshalb "notwendig" gewesen sei, da sie eine Zurückverweisung erspare. Der Gedanke ist nicht nachvollziehbar. Soweit Spruchreife in der Sache besteht, wird das Revisionsgericht bereits durch § 565 m ermächtigt und verpflichtet, die Sache abschließend zu entscheiden; des § 563 bedürfte es sicherlich nicht, damit die Zurückverweisung erspart würde. 274 Ohne freilich zu erahnen, daß in der Berujungszurückweisung gleich die Preisgabe des überlieferten Verfahrensfortsetzungsmodells liegt. Siehe etwa Bettermann DVBI61, 65 (74), der die ,,fehlende Vorschrift" des Berufungsrechts dem § 563 entsprechend formuliert; auch Arens, § 35 Rdn. 402. 275 Damit das Verfahrensfortsetzungsmodell wenigstens der Form nach gerettet wird. Vgl. exemplarisch Bettermann (Fn.5) 372 f., 386; ders. ZZP 77,3 (28); Ratte (pn.7) 72 f.; Fenn ZZP 90,111 (112); HenckeZZP 81,321 (343); Rimmelspacher ZZP 84, 41 (61); Bötticher AcP 158, 262 (268); Gottwald (Fn. 217) 117; Kapsa (Fn. 47) 36 Fn. 28; Moeller (Fn. 126) 55; Blomeyer, § 102 I 2; SI J I Grunsky, § 563 I 1. 276 Siehe etwa Ratte (pn. 7) 70 bis 80. 277 Vgl. BGHZ 2,324 (328); Gottwald (pn. 217) 117 f.; Rimmelspacher (Fn. 275) 61, 62; Blomeyer, § 101 n 5.

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

51

Ebenso nichtssagend ist der Hinweis auf die Verlagerung der für die Präklusionswirkung relevanten zeitlichen Rechtskraftgrenze auf die letzte Tatsachenverhandlung, so daß die Berufungszurückweisung immer eine Entscheidung mit verschiedener Rechtskraftwirkung sei. 279 Denn keineswegs braucht der für die Präklusionswirkung maßgebende Zeitpunkt mit dem Zeitpunkt zusammenzufallen, auf den sich die Beurteilung des strittigen Rechts bezieht; 280 so erfaßt beispielsweise der Präklusionseffekt nicht nur die zur Zeit des Erlasses eines Versäumnisurteils vorhandenen Tatsachen, sondern darüber hinaus auch solche, die innerhalb der abgelaufenen Einspruchsfrist entstanden sind (§ 767 11). Nichts besagt schließlich der Umstand, daß bei einer nach Berufungszurückweisung unternommenen Anfechtung des erstinstanzlichen Urteils im Wege der Wiederaufnahme immer die zweite Instanz zuständig ist. 281 Denn sollte die Zuständigkeitsnorm des § 584 auf dem Gedanken beruhen, die Wiederaufnahmeklage werde dort erhoben, wo das Urteil überhaupt noch existiere, so müßte bei Anfechtung eines abändernden Revisionsurteils nur die Revisionsinstanz zuständig sein; dennoch wird die Wiederaufnahme nach § 580 Nr. 1- 3, 6, 7 beim Berufungsgericht eingelegt (§ 584 I 2), obwohl seine Entscheidung doch gerade aufgehoben ist. 282 Hält man dagegen an der Vorstellung des an Stelle des angefochtenen Aktes tretenden Sachurteils fest, so muß man vieles übersehen. Zunächst, daß eine Aufhebung des bestätigenden Berufungsurteils in der Revisionsinstanz unter Zurückverweisung der Sache nicht zugleich die Beseitigung des bestätigten Erkenntnisses erster Instanz bedeutet 283 - merkwürdig genug, sollte letzteres durch die Berufungszurückweisung ersetzt worden sein. Ferner, daß im Beschwerdeverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit 284 der oft unübersehbare Kreis der Beschwerdeberechtigten unabhängig voneinander anfechten kann,285 ohne daß spätere Beschwerden nach vorheriger Zurückweisung wegen "Verbrauchs" der angefochtenen Verfügung ge278 So schon Jauernig (Fn. 32) 297 Fn. 36. Dazu siehe auch unten zu § 106. 279 Besonderen Wert darauf legen Blomeyer, FS-Fragistas, 463 (476); ders. §§ 101 11 5, 102 I 2; Bötticher (Fn. 275) 268. . 280 Ebenso Jauernig (Fn. 32) 297. 281 Entgegen Ratte (Fn.7) 76 f. und Fenn (Fn. 186) 112; siehe auch RGZ 15, 388 (389) und Z / Schneider § 584 I 1a, 3 c. 282 Die zweitinstanzliche Kompetenz im Falle der Berufungszurückweisung hat eine andere Bewandtnis; wollte man wieder in der Vorinstanz ansetzen, so könnte die Partei nach Abschluß der Wiederaufnahme die Sache zur erneuten Verhandlung in die zweite Instanz bringen und damit eine mehrfache Nachprüfung des strittigen Rechs erzwingen [ebenso für den insoweit ähnlichen Fall des Widerrufs der Berufungsrücknahme mittels Restitutionsklage Gaul ZZP 74, 49 (76)]. Zu beachten ist auch, daß der Gesetzgeber "die unbedingte Verweisung der Klagen in die erste Instanz" nach preußischem Vorbild mit der Begründung ablehnte, dies würde "den Wiederaufnahmekläger in höherem Maße begünstigen" {Hahn, 382]. 283 Was für die Vollstreckungsfrage relevant ist; siehe BGH MDR 59,122 (123) und dazu Z / Scherübl, § 717 I. 284 Funktional entspricht das Beschwerdeverfahren der FGG dem Berufungsprozeß der ZPO. 285 Siehe Jansen, § 57 Rdn. 41; Keidel/ Winckler / Kuntze, § 19 Rdn. 77. 4*

52

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

genstandslos werden. 286 Und wichtig ist endlich der Hinweis auf § 5 des EntlG der Gerichte der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit, 287 der eine einstimmige Zurückweisung von Berufungen durch Beschluß vorsieht, ohne daß es einer mündlichen Verhandlung bedarf;288 es kann wohl nicht ernsthaft behauptet werden, daß dieser Beschluß eine Entscheidung über die Klage sei, die den bestätigten Akt konsumiere und ersetze. 289 § 40 Wenn es für die Unvereinbarkeit noch eines Beweises bedürfte, so liefert ihn ein Vergleich der RechtsmittelzUfÜckweisung mit den konflffilatorisehen Urteilsmodalitäten, die die ZPO anderen Anfechtungsformen vorbehalten hat (§§ 343, 92511). Die Divergenz liegt an den unterschiedlichen Funktionen, die diese Behelfe den Rechtsmitteln gegenüber ausüben. 2890 Stellvertretend für sie sei hier der Einspruch im Versäumnisverfahren behandelt.

bb) Die Aufrechterhaltung des Anfechtungsobjekts nach §§ 343,925 II § 41 Nach herrschender Auffassung leite der Einspruch kein Kontrollverfahren ein, welches ..die Richtigkeit der im Versäumnisurteil enthaltenen Entscheidung bekämpft", 290 ja er enthalte ..überhaupt keine Anfechtung", sondern die schlichte Parteierklärung, ..daß sie nunmehr in die Verhandlung eintreten wolle",291 weswegen sich sein Wesen in der ..automatischen und radikalen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 342)" erschöpfe. 292 Nach anderer Version sei der Einspruch ein den Rechtsmitteln ..funktions gleicher Behelf', der ebenfalls einen Kontrollprozeß um die Richtigkeit des Versäumnisurteils eröffne. 293

286 Darauf hat Kunz, Erinnerung, 254 Pn. 1 bereits hingewiesen. 287 Vom 31.3.78 (BGBl 1,446) geändert durch Gesetz vom 22.12.83 (BGBI I, 1515 - Verlängerung der Geltungsdauer bis 31.12.85). 288 Diese Regelung sollte nach dem Referentenentwurf eines Entlastungsgesetzes in Zivilsachen 1982 für den Zivilprozeß übernommen werden [E § 519 c. Hierfür bereits ASJ-Leitsätze RuP 68, 107, 109], was jedoch das Interesse des Berufungsanwalts an der Verhandlungsgebühr beeinträchtigte und deshalb auf Ablehnung der Anwaltschaft stieß [siehe besonders Winters AnwBl 84, 388, 389]. 289 Gleichwohl wurde neuerdings dieses irrige Verständnis der Rechtsmittelzurückweisung zum Deduktionszusammenhang für die alte Streitfrage um die Zulässigkeit einer Beschwerdewiederholung. Die Wiederholung einer zurückgewiesenen Beschwerde scheide deshalb aus, da jede sachliche Beschwerdeentscheidung an die Stelle des angefochtenen Beschlusses trete; mangels Angriffsobjekts sei daher eine Wiederholung unstatthaft [so OLG Hamm JR 75, 25 f.; OLG Bremen JurBüro 78, 601 f.; Ratte (Pn.7) 85 f.; Fenn (Pn.186) 113]. Kritisch dazu mit Recht Kunz (Pn.286) 253 Pn. 1; siehe dazu unten zu § 76. 289. Hierzu siehe abschließend unten zu §§ 88, 89. 290 So RGZ 176, 293 (296) m. zust. Anm. Bötticher in DR 42, 346. Ebenfalls RGWarn 16 Pn. 259; Bötticher AP 52, 186 (188); Schima, Versäumnis, 210; Krammer NJW 77,1657 (1659); Bettermann (Pn. 5) 423; T / Putzo, § 338 1; R / Schwab, § 108 V. 291 RGZ 13, 327 (329); Wach (Pn.24) 190 f.; Wilmowski-Levy, § 3071; Bötticher (Pn.290) 347; Fasching, PS-Baur, 387 (399); S / J / Schumann- Leipold, § 338 1. 292 Bötticher (Pn. 290) 347; auch Planck (Pn. 212) 388.

B. Legitimationsschwächen des geltenden Rechtsmittelsystems

53

§ 42 Die Behauptung, der Einspruchsprozeß stelle keine Art Anfechtungsverfahren dar, geht zurück auf die von Wach geprägte Formulierung, bereits die Einlegung des Einspruchs wirke "materiell den Fortfall des Versäumnisurteils" , während es "formell [hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit] als fortbestehend" gelte 294, und diese wiederum auf die Aussage der Motive, die Einspruchseinlegung habe zur Folge, daß "das Versäumnisurtheil verschwindet".295 Und vom automatischen HinflHligwerden bis zur Ansicht, der Einspruch sei ein bloßer Wiedereinsetzungsantrag, lag nicht allzu fern. Ohne auf inzwischen Geklärtem lange verweilen zu wollen, sei lediglich bemerkt, daß das Versäumnis urteil nicht "provisorischer" als ein rechtsmittelfähiges Endurteil wirkt 296 und als autoritativer Staatsakt nur durch konstitutiven contrarius actus, nicht aber durch die Parteihandlung selbst vernichtet werden kann,297 was zur allgemeinen Anerkennung des kassatorischen Finalcharakters des Einspruchsverfahrens geführt hat. 298 § 43 Gewiß kann schwerlich geleugnet werden, daß der Einspruchsführer, der zwar die Rechtmäßigkeit des Anfechtungsobjekts nicht bezweifelt,299 sich aber mit einer ftktiven, aus den Verzichts- und Geständnisftktionen der §§ 330, 331 entsprungenen Rechtmäßigkeit auch nicht zufriedengibt, die Behauptung aufstellt, der neuen Entscheidung sei ein Sachverhalt zugrundezulegen, der von dem nach §§ 330, 331 ftngierten abweiche und der wirklichen Sachlage entspreehe. 300 Von einer indirekten Urteilskontrolle kann somit allemal die Rede sein. 301 Aber eben nur indirekt. Deshalb ist der Einspruch nicht an bestimmte Gründe gebunden,302 er kennt keinen den Rechtsmitteln entsprechenden Begründungszwang, 303 er wird nicht nach den prozessualen Wertkategorien der Begründetheit 293 Gilles (Fn. 32) 129 f.; zuneigend Münzberg (Fn.44) 23 f., 81 f. Anzumerken ist, daß die französische (§§ 527, 571 f.), griechische (§§ 495, 501 f.) und niederländische (§§ 75 f.) ZPO den Einspruch zu den Rechtsmitteln zählen und ihn - mit zweifelhafter Berechtigung - als solches behandeln. 294 Wach (Fn.22) 41, 193. Dagegen bereits Hellwig (Fn.9) 653 Fn. 15; Münzberg (Fn. 44) 20 f. 295 Hahn, 131. 296 Vgl. Schima (Fn.290) 211; Münzberg (Fn. 44) 92; Gilles (Fn. 32) 136; insoweit auch Wach (Fn.22) 193. Anders verständlicherweise die Motive (Hahn, 293) und S / J / Schumann-Leipold, vor § 330 I. 297 Münzberg (Fn. 44) 79 f., 97 f.; B / L / Hartmann, § 343 1 A; Gilles (Fn. 32) 133 f.; Taeger NJW 66, 584 (585) jeweils mwN. Die Urteilsbeseitigung als Folge einer Klagerücknahme, Erledigung der Hauptsache oder eines Prozeßvergleichs [hierzu im einzelnen vgl. Jauernig (Fn. 266) 138 f.] soll hier nicht weiter interessieren. 298 Vgl. etwa Bettermann (Fn.5) 418 f.; Jauernig (Fn.266) 106 und dort Fn. 25 a sowie die unter Fn. 297 zitierten. 299 Das Urteil ist doch "in gesetzlicher Weise ergangen" (Arg. § 344). 300 So Münzberg (Fn. 44) 24, 94; Prütting ZZP 91,197 (199 f.); Schima (Fn. 290) 208. 301 Ähnlich Münzberg (Fn.44) 81 f.; Taeger (Fn. 297) 585. 302 Denn "Anjechtungsgründe" bedeuten "Unrichtigkeitsgründe"; vgl. RGZ 167, 293 (296); Wach (Fn. 24) 192, 194; Troll, Das Versäumnisurteil nach der Reichscivilprozeßordnung (1887) 215; nur im Ansatz zutreffend Gilles (Fn. 32) 130.

54

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

bzw. Unbegrundetheit beurteilt. 304 Unter funktionalem Aspekt stellt vielmehr der Einspruch ein Mittel dar, mit dem sich die Partei das rechtliche Gehör verschafft, das infolge einer ihr zurechenbaren oder auch nicht zurechenbaren Situation 30s versagt blieb. 306 Durch die restituierende Wirkung des zulässigen Einspruchs, die Zurückversetzung des Prozesses in die Lage vor Eintritt der Versäumnis (§ 342), wird der Übergang von der einseitigen zur kontradiktorischen Verhandlung erzwungen und damit die Beschaffung einer qualitativ völlig andersartigen Entscheidungsgrundlage ermöglicht. 307 Die gleiche meritorische Funktion, der gleiche meritorische Effekt 308 kommt auch dem Einspruch gegen Vollstreckungsbescheide (§ 700 III),309 dem Widerspruch des Arrestprozesses (§ 924)310 und dem Widerspruch gegen die Vollstreckbarerklärung von Schiedssprüchen (§ 1042c)311 zu. Auch hier geht es um eine Anfechtung zwecks Verschaffung (vollen) rechtlichen Gehörs, wobei die Durchführung einer Streitverhandlung oder die Überleitung von Beschluß- zum Urteilsverfahren erzwungen wird. Diese Überführung ins kontradiktorische Verfahren, die Erzwingung (erneuter) mit allen Rechtmäßigkeitskautalen ausgestatteter mündlicher Verhandlung erfaßt die funktionale Eigenart all dieser Behelfe, 312 "Behelfe in Sondersituation ", wie man sie pointiert bezeichnet. 3\3 § 44 Allein aus dieser meritorischen Funktion läßt sich die konfrrmatorische Urteilsmodalität des § 343 Hs 1 erklären. Bewirkt der Wiedereinsetzungseffekt des § 342 die Überflihruna vom einseitiaen zum kontradiktorischen Verfahren, ermöglicht § 343 Hs 1 die Überleitung zum kontradiktorischen Urteil. Bei der Aufrechterhaltung der im Versäumnisurteil enthaltenen Entscheidung handelt es sich also um ein Sachurteil über den Klageanspruch, 314 welches das Versäumnis303 Daran hat die zu Fehlschlüssen Anstoß leistende Neufassung des § 340 III nichts geändert; vgl. hierzu Krammer NJW 77, 1657 (1659); Hartmann NJW 78,1457 (1462); Fasching (Fn.291) 397; Putzo NJW 77, 1 (6) spricht vom ,,indirekten Begründunszwang". 304 Denn die Frage nach der "Begründetheit oder Unbegründetheit" der Anfechtungsform entspricht der Frage nach der" Unrichtigkeit oder Richtigkeit" des Anfechtungsobjekts; vgl. für alle Bettermann (Fn. 5) 422. 30S Auf der Zurechenbarkeit der Versäumnis fußt die Unterscheidung zwischen den Einspruchssystemen, nämlich dem Oppositions- und Restitutionssystem; dazu vgl. eingehend Schima (pn. 290) 209 f.; auch Fasching (Fn. 291) 388 f. 306 Vgl. Bettermann (Fn. 5) 421; Fasching (Fn. 291) 387. 307 Bettermann (pn. 5) 423. 308 Zu dieser den Österreichem geläufigen Terminologie vgl. besonders Ress, Die Entscheidungsbefugnis in der Verwaltungsgerichtsbarkeit (1968) 153 f. sowie Bettermann, FS-Bötticher, 13 f. 309 Siehe R / Schwab, § 165 IV 5; S / J / Schlosser, § 700 III 1. 310 Mädrich, Rechtsbehelfe, 17 f.; Bettermann (pn. 5) 428 f. 311 Wieczorek § 1042c BI, B III c. 1. 312 Vgl. Bettermann (pn. 5) 420 f. 313 Schlosser, § 13 Rdn. 406 f. 314 Münzberg (Fn. 44) 89, 91, 106; Furtner NJW 62, 1900 (1901); Bettermann (Fn. 5) 421,423; B / L / Hartmann § 343 1 A; Bruns, § 47 Rdn. 252 b; R / Schwab, § 108 V 4 c.

C. Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

55

urteil außer Kraft setzt und deshalb sowohl die Beseitigung der vorausgegangenen wie den Erlaß einer im Tenor gleichlautenden, ersetzenden Sachentscheidung enthält. 31S Es handelt sich um eine "konfirmatorische Rejormation",316 eine Bestätigung ex nunc wie rur die Zukunft. 317 Die Aufrechterhaltung des Versäumnisurteils ist also keine verkappte Zurückweisung des Einspruchs. Dieser ist auch in diesem Falle nicht erfolglos; .denn er hat den gesetzlich bezweckten Erfolg der Wiedereinsetzung und kontradiktorischen Verhandlung und Entscheidung erzielt. 318 Erfolglos ist der Einspruch nur, wenn er als unzulässig verworfen wird. Wer dagegen mit Gilles Einspruch und Rechtsmittel in ihrer Funktion kurzerhand identifiziert und im Einspruch- nichts anderes als ein Kontrollverfahren sieht, der hat es schwer, die konfrrmatorische Einspruchsentscheidung in den Griff zu bekommen; der muß sie dann als "systemwidrig und atypisch" ablehnen, sie lasse sich "letztlich überhaupt nicht exakt umschreiben". 319

c. Die Natur der "Rechtsmittelsache" § 45 Die Relevanz der Rechtsmittelsysteme für die Sinnermittlung des Anfechtungswesens darf allerdings nicht überbewertet werden. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung typischer prozessualer Regelungen [Novenrecht, Begründungszwang- Prüfungsbefugnis, konfrrmatorischer Prozeßausgang), aus denen im Wege der Abstrahierung allgemeine Aussagen über die institutionelle Rechtsmittelzwecksetzung gezogen werden. 320 Aber offenbar ist es doch so, daß eine Prozeßtypologie nach den Ursachen von Regelungsübereinstimmungen und -differenzen nicht fragt, als dekriptive Betrachtung also an der Oberfläche bleibt, ihr fehlt es letztendlich an verläßlichen Maßstäben, um beurteilen zu können, wann eine Regelung typisch oder atypisch sei. 321 Was hier vielmehr mit der Systemdarstellung gezeigt werden sollte, war nur soviel, daß der Gesetzeswortlaut 3IS Vor der Neufassung des § 709 und unter dem Einfluß der Ansicht, daß bei Aufrechterhaltung eines Versäumnisurteils auch im kontradiktorischen Urteil seine Vollstreckbarkeit von einer Sicherheitsleistung abhänge [Taeger NJW 66, 584 (585); Kretschmer NJW 62, 1283 (1284)], war die Vorschrift des § 343 I wenig transparent. Daß das Versäumnisurteil ersetzt wird, zeigt sich nunmehr darin, "daß die Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil nur gegen Leistung der Sicherheit fortgesetzt werden darf' (§ 709). 316 Zur Terminologie vgl. Bettermann (Fn. 5) 375, der sie jedoch zu Unrecht auch auf die Rechtsmittelzurückweisung anwendet. 317 Siehe Münzberg (Fn. 44) 82 f. 318 Zutreffend Bettermann (Fn. 5) 423. 319 So nämlich Gilles (pn. 32) 146. 320 Siehe oben zu Fn. 122. 321 Treffend Hagen (Fn.27) 24. Allgemein zur begrenzten methodologischen Leistungsfähigkeit des "Typus" vgl. Bydlinski, Methodenlehre 543 f.; Kuhlen, Die Denkform des Typus und die juristische Methodenlehre, in Koch (Hrsg), Juristische Methodenlehre und analytische Philosophie (1976) 53 f.; ders. Typuskonzeptionen in der Rechtstheorie (1977) passim.

56

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

die Version einer Verfahrensfortsetzung nicht bestätigt,322 jedenfalls daß er die Erfassung der Rechtsmittel als Kontrollinstrumente nicht ausschließt und damit den Weg für eine unvoreingenommene, objektive Auslegung eröffnet. 323 § 46 Die Institutionen, lautet nun eine fast schon legendäre Aussage, "tragen wenn auch mehr oder weniger entwickelt, ihr Maß und ihre Ordnung in sich; diese den Dingen innewohnende Ordnung nennt man die Natur der Sache ". 324 Aus der zutreffenden Beobachtung heraus, daß die Rechtsmittel keine primäre Rechtsverfolgung, sondern sekundären Rechtsschutz gewähren, Rechtsschutz also, der sich nicht mehr unmittelbar auf das strittige materielle Recht, sondern auf die Entscheidung bezieht, welche sich über dieses Recht bereits befand, ist Franz Klein 325 zu der vielzitierten Feststellung gelangt, "das Rechtsmittelverfahren ist von anderer Natur als der Prozeß in erster Instanz, es ist naturgemäß nicht kreativ sondern kontrollierend". Betrachtet man die Rechtsmittel in ihrer geschichtlichen Dimension, läßt sich diese These nachhaltig bekräftigen 326; um so mehr als auch die funktionsanalytische Verfahrenslehre sich diesen Rechtsmittelbegriff zu eigen gemacht hat.

a) Historische Vorläufer und gesetzgeberische Intentionen § 47 Allerdings waren die Gesetzesredaktoren anderer Meinung, wie der lapidare Satz, "der Begriff eines Rechtsmittels ist kein historisch gegebener; in

der Prozeßtheorie wie in den Gesetzgebungen wird in verschiedenem Sinne genommen" , 327 aus den Materialien zeigt. Dies mag zwar angesichts des partikula-

ristischen Rechtsbehelfswirrwarrs des 19. Jahrhunderts 328 verständlich erscheinen

322 So auch manch ein exponierter Anhang der herrschenden Ansicht wie Ratte (Fn. 7) 39, der offen zugibt, daß "eine grammatische Auslegung zu keinem klaren Ergebnis" führe, weshalb ,,man die Entstehungsgeschichte der Rechtsmittel hinzuziehen" habe. Doch gerade die geschichtliche Dimension der Rechtsmittel entlarvt ein diametrales von seinem eigenen Verständnis; dazu sogleich unten zu §§ 47 f. Siehe auch unten zu Fn. 520. 323 Insoweit treffend und ohne Vorurteile Arens (Fn.40) 475. 324 Dernburg, Pandekten 1,82 f. (87), zitiert hier nach Bydlinski (Fn. 321) 52 Fn. 147. Allgemein zur Bedeutung der ,,Natur der Sache" als Orientierungshilfe für die Gesetzesauslegung vgl. Radbrueh, FS-Laun (1948) 155 f.; Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der Natur der Sache (1957); Larenz, FS-Nikisch (1958) 275 (281 f.); Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz (1983) 118 f. mwN. 325 Klein / Engel (Fn. 124) 403. In diesem Sinne Waeh (Fn. 22) 143; Hellwig (Fn. 9) 835 Fn. 8; Fehr (Fn. 125) 19,31; Planek (Fn. 212) 453; Pohle (Fn. 28) 11. 326 Intensive Bestrebungen, die Rechtsmittel mit ihrem historischen Ursprung zurückzuintegrieren, sind somit nur zu gerechtfertigt; vgl. hierfür Gilles (Fn. 32) 188 f.; 200 f.; Weitzel (Fn. 58) 353 f.; ders. (Fn.60) 285 f.; Klamaris (Fn. 36) 19 f. 327 Hahn, 139. 328 Hervorgerufen durch die politisch bedingte Ausbildung und Verbreitung immer neuer Anfechtungsformen [siehe oben zu § 8 und Fn. 71] gab es in ihren vielgestaltigen Konstruktionen und unübersichtlichen Konkurrenzverhältnissen die Appellation, die Leu-

C. Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

57

- umso verständlicher natürlich, als der Gesetzgeber mit den schon bestehenden Strukturen "vollständig brechen"329 und eine neue Rechtsbeheifsordnung 330 herstellen wollte - , richtig war diese epochale Feststellung jedoch nicht. Ohne den Anspruch auf eine vollständige historische Analyse erheben zu wollen,331 suchen folgende, auf die Anfange der Berufung zurückgreifende Anmerkungen ihre Berechtigung darin, daß der Gesetzgeber wie manch ein Verfechter der herrschenden Ansicht 332 dazu neigt, die heute gängige Auffassung zum Grundcharakter der Rechtsmittel auch in deren geschichtlichen Vorläufer hineinzulesen.

§ 48 "Die Berufung der CPO von 1877", stellen die Motive fest,333 "stimmt ihrem Charakter nach mit der römisch-rechtlichen Appellation überein", eine Auffassung, die lediglich mit dem den Parteien eingeräumten Recht begründet wurde, 333 a von einem allfälligen ius novorum Gebrauch zu machen. 334 Eines war jedoch die ursprünglich nur im Bereich der cognitio extra ordinem 335 erschienene,336 mit dem Absterben des Formularverfahrens 337 und der Alleinherrschaft des Kognitionsprozesses 338 zum allgemeinen Rechtsmittel der ordentlichen Gerichtsterung, Supplication und Revision, die Oberappellation, Oberleuterung, Oberrevision und den Kassationsrecurs, eine Restitution in der Bedeutung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand [restitutio in integruml und eine solche in der Bedeutung einer Restitutionsklage [restitutio contra rem indicatuml, den Einspruch, die Opposition oder die Wiederherstellung gegen Versäumniserkenntnisse, Nichtigkeitsbeschwerden und Nichtigkeitsklagen in Form der querela nullitatis sanabilis und solche in Form der querela nullitatis insanabilis, die einfache Beschwerde oder querela simplex und anderes mehr. Siehe hierzu im einzelnen die Übersichten bei Gönner (Fn. 13) 107 f.; Linde (Fn. 66) 472 f.; Wetzell(Fn. 15) 663 f.; Hellwig (Fn.9) 834 f. 329 Hahn, 139. 330 Hahn, 113, 139. 331 Was nach den ausführlichen Beiträgen Weitzels, Gilles' und Klamaris' [oben zu Fn. 326] ohnehin überflüssig wäre. 332 Siehe zuletzt Ratte (Fn. 7) 39 f. 333 Hahn, 139. 333. Siehe oben zu § 27 a. E. 334 So beschränkt sich auch Rattes (Fn. 7) 47 f. historischer Abstecher im wesentlichen auf die deskriptive Darstellung, welche Rechtsmittelrechte der Vergangenheit mit Novenrecht ausgestattet waren und welche nicht. Daß Ratte nach fast ,,20 Seiten - Geschichte" nichts anderes als dies einfällt, man sollte nicht "den Verfassern der CPO-BegrüDdungen völlige Unkenntnis hinsichtlich der behandelten Materie bescheinigen" (S. 62), dürfte für den Wert seiner Ausführungen bezeichnend sein. 335 Zum Geltungsbereich des vorerst nur außerordentlichen Kognitionsverfahrens vgl. Wenger (Fn. 188) 246 f.; Rein, Privatrecht und Zivilprozeß der Römer, 939 f.; Sammler, Nichtförmliches Gerichtsverfahren (1911) und dazu Berger, GrünhZ 40, 311 f.; Hartmann - Ubbelohde, Der ordo extraordinaria und die iudicia extraordinaria der Römer (1886); Kaser (Fn. 66) 4 f., 341 f., 354 f. 336 Über die Anfänge der appellatio vgl. Litewski RIDA 1965, 347 (356 f., 364 f.); Merkei, Über die Geschichte der klassischen Appellation (1883) 74 f. 337 Dieser bildete den ordentlichen Zivilprozeß der vorklassischen und klassischen Periode, hierzu Kaser (Fn. 66) 107 f., 162 f., 235 f., 268 f. 338 Im nachklassischen Recht; zur allmählichen Ablösung des Formular- durch den Kognitionsprozeß vgl. Kaser (Fn. 66) 410 f.

58

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

barkeit gewordene römische appellati0 339 ganz gewiß nicht, nämlich eine nach heutiger Tenninologie bloße ,,Erneuerung und Wiederholung" des Rechtsstreits. Die appellatio war als Klage [querela appellationis} 340 konstruiert und galt als adäquates Korrelat zur prinzipiellen Gültigkeit von beschwerenden 341 Fehlsentenzen. 342 Der Appellant, der stets die Rolle des Klägers hatte [qui appellat prior, agit},343 wendete sich an den Prinzeps oder einen seiner Delegierten 344 mit der Bitte, das Urteil zu überprüfen und gegebenenfalls abzuändern. 345 Die appellatio hatte somit ein doppeltes Ziel, ein - in Anlehnung an das im römischen Privatrecht bekannte Institut der Anfechtung - kassatorisches [rescindere, revocare} und ein reformatorisches [reformare , emendare}. 346 So allerdings nicht von Anfang an; denn die sich als Konsequenz aus der Kassation ergebende Notwendigkeit 347 einer neuen Sachentscheidung war zunächst einem neuen Prozeß überlassen; 348 dies rückte die Appellation in die Nähe der republikanischen intercessio,349 welche ebenfalls rein kassatorisch wirkte. 350 Erst später gestaltete sich das kassatorische Appellationsverfahren zu einem zusätzlich refonnatorischen um, genauso wie sich auch die restitutio contra rem iudicatam verfahrensmäßig entwickelt hat. 351 Die Appellationseinlegung erfolgte beim iudex a quo, der in einem 339 Über die Appellations(un)fähigkeit von Entscheidungen im einzelnen vgl. Kaser (Fn.66) 401, 506 f. 340 Siehe Litewski, RIDA 1968, 143 (225 Fn.336); Klamaris (Fn.66) 32; Gilles (Fn. 32) 2fY1. 341 Zum Beschwererfordemis siehe Kaser (Fn. 66) 401 f. mit Quellenangaben unter Fn. 35,36. 342 Dagegen hielt der Formular- und zuvor der Legisactionenprozeß [dazu Krüger, Geschichte der capitis deminutio (1887); Kipp SZ 9, 165 f.; Mitteis, GrünhZ 15, 433 f.] an der unumstößlichen Bestandskraft von fehlerhaften Sentenzen im Grundsatz fest [für alle Wenger (Fn. 188) 201]. Bei besonders krassen Verstößen konnte allerdings die Einrede der sententia nulla entgegengesetzt werden, und später tauchte daneben eine eigens hierfür querela nullitatis auf. Zur Entwicklung der Nullitätslehre, den Nullitätstatbeständen und der Nullitätsgeltendmachung vgl. eingehend Appelt, Die Urteilsnichtigkeit im römischen Prozeß, 19 f., 89 f., 114 f., 149 f. 343 Siehe Kaser (Fn. 66) 404 mit Quellenangaben unter Fn. 80. 344 Zur Zuständigkeit des prätor urbanus, der viris consulares, des Senats; des praefectus urbi und praefectus praetorio im einzelnen vgl. Kaser (Fn. 66) 399 f., 506 f. 34S Vgl. Kaser (Fn. 66) 349, 506; Bethmann-Hollweg, Römischer ZP m, 325 f. 346 Vgl. Kaser (Fn. 66) 398; Littewski (pn. 336) 304 f., 417; ders. (Fn.340) 285 f. 347 ) So Littewski (Fn. 336) 401. 348 So nach Kassation von Geschworenenurteilen; siehe Kaser (Fn. 66) 350, 400 mit Quellenangabnen unter Fn. 16, 17, 18; Gilles (Fn.32) 209; Klamaris (Fn. 36) 20. Zu der ursprünglich nur kassatorisch wirkenden appellatio vgl. insbesondere Rein (Fn. 335)

960

349 Dazu Kaser(Fn. 66) 27, 125 f, 398; Linde (Fn. 66) 74 Fn. 12,497; Gilles (Fn. 32) 204. 350 Bemerkenswert ist, daß die Anrufung des Magistrats, um sein intercedere zu erbitten, in den Quellen [Nachweise bei Kaser (Fn.66) 398 Fn.2, 3] gleichfalls als appellare bezeichnet wird, was auf die anfängliche Funktionsgleichartigkeit von appellatio und intercessio hindeutet. Anders Littewski (Fn. 336) 369, nach dessen Ansicht die appellatio von Anfang an auch reformatorisch fungierte.

C. Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

59

Vorverfahren über die Zulässigkeit und grundsätzliche Begründetheit des Gesuches entschied. 352 Nahm er sie an [appellationem recipere], so verfaßte er eine schriftliche, für den iudex ad quem bestimmte Stellungnahme [litterae dimissoriae, apostoli]. 353 Mit deren Einreichung beim iudex ad quem begann das eigentli.che Rechtsmittelverfahren,354 welches als Verhandlungs- und Entscheidungsgegenstand von der Frage ausging, ob die "sententia iniusta vel iusta und demgemäß die "appellatio iusta vel iniusta" war. 355 U

§ 49 An der allgemeinen Zielrichtung und Grundstruktur hat sich mindestens aus der Sicht der Prozeßtheorie der Mitte des 19. lahrhunderts 355 • auch bei der Appellation des gemeinen Prozesses kaum etwas geändert. Sie galt ebenfalls als "neues Verfahren", "neuer Streit" oder selbständige "Klage",356 womit der Querulant einen besonderen vom Klagerecht verschiedenen "processualischen Anspruch"357 geltend machte, um der "Rechtswidrigkeit" des Aktes in seiner bis zur Nullität 358 reichenden "Iniquität" entgegenzuwirken. Kernfrage und Ver351 Vgl. Kaser (Fn. 66) 400 Fn. 16 mit Quellenangaben; Gilles (Fn. 32) 206 und dort Fn.23. 352 Eingelegt wird die appellatio mündlich oder schriftlich (libelli appellatorii). Über die Frist, Form und den Inhalt der Appellationserklärung vgl. Wenger (Fn. 188) 296; Kaser (Fn. 66) 402 f., 507; Bethmann-Hollweg (Fn. 345) 329 f. 353 Einzelheiten hierzu bei Bethmann-Hollweg (Fn. 345) 328 f. 354 Fraglich und bestritten bleibt, ob mit der Appellationseinlegung neben der Vollstreckungswirkung auch die materielle Rechtskraft aufgeschoben wurde [so Hellwig (Fn. 9) 764]; denn auch nachdem in der Kaiserzeit Urteile allgemein appellabel waren, galt den Römern eine Streitsache nach wie vor mit Erlaß der Entscheidung als materiell rechtskräftig abgeurteilt (res iudicata). Vgl. Kaser (Fn. 66) 396 Fn. 42, 43, 388 Fn. 50, 478 Fn. 17, 502 f. Obgleich man im kanonischen und gemeinen Recht, wo die appellatio zweifelsohne auch hinsichtlich der materiellen Rechtskraft suspensiv wirkte, schon sehr genau zwischen "formellen" und ,,materiellen" Rechtskraft zu unterscheiden wußte [siehe etwa Linde (Fn. 66) 229 f], sprach man innerhalb der Rechtsmittelerörtungen meist nur recht ungenau von der Suspension der ,,Rechtskraft" schlechthin, womit freilich zweifellos wie eh und je an die ,,materielle" gedacht war [vgl. Gönner (Fn. 13) 151, 153 f., 245]. Die ZPO-Redaktoren [Hahn, 425] faßten jedoch die diesbezüglichen Äußerungen irrtümlich so auf, daß die Rechtsmittel die ,,formelle" Rechtskraft [was dann in § 705 seinen Niederschlag fand] und damit auch die Prozeßbeendigung hemmten, weshalb also die Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzungsmittel verstanden wurden (unten zu §§ 65 f.). 355 Bethmann-Hollweg (Fn. 345) 337; Kaser (Fn.66) 405 Fn. 84, 509; Littewski (Fn.340) 286 f., 287 Fn. 14; Walsmann(Fn.4) 9; Kapsa (Fn.220) 26; Gilles (Fn.32) 208 f. Soweit sich Ratte (Fn. 7) 46 Fn. 26 weigert, angeblich wegen fehlender Quellen an die Echtheit dieser Formel zu glauben, muß er auf Orestano, L'appello civile (2 Edizione, Corso 1953) 426 f. verwiesen werden. 355. Siehe hierfür unten zu § 65. 356 Vgl. Gönner (Fn. 13) 158 f., 287; auch Linde (Fn.66) 480 f. und Endemann (Fn. 191) 887, 912. 357 Vgl. Gönner (Fn. 13) 158 f.; WetzeIl (Fn. 15) 664, 668. 358 Anders als im römischen Recht wurde jedoch eine ipso iure Nichtigkeit nicht mehr angenommen [vgl. WetzeIl (Fn. 15) 783; Endemann (Fn. 191) 949; insb. preußische AGO I Tit XVI § 10]. Neu war ferner die Unterscheidung der Nullität in heilbare und

60

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

fahrensgegenstand der Appellation war also nicht etwa die "von neuem abgeurtheilte alte Sache",359 sondern "der Rechtsbestand des Erkannten"360, die Frage also - um in der Sprache der gemeinrechtlichen Doktrin zu bleiben - , ob "übel geurtheilt und wohl appellirt", oder" wohl geurtheilt und übel appelLirt" 361.36\a. § 50 Genau diese genetische Rechtsmittelnatur ist es freilich, die den Ambitionen der CPO-Redaktoren zum Trotz im Gesetz selbst [allen voran in §§ 526 1,549 I, 563, 564] wiederum zum Durchbruch gelangte; und auf diese Rechtsmittelnatur griff zuweilen der Gesetzgeber zurück, um überhaupt eine plausible Begründung der Einzelvorschriften geben zu können. Dazu nur einige Ausschnitte aus den Materialien: Während Gegenstand des Berufungsverfahrens der alte "Rechtsstreit in thatsächlicher und rechtlicher Beziehung" sei 362, heißt es zu § 483 11 des Entwurfs, sei im Versäumnisfalle in der Berufungsinstanz eben der Gesichtspunkt maßgebend, daß "das vorhandene Urtheil als Gegenstand des Angriffs auch Gegenstand der Verhandlung" seP63. Oder man liest zu §§ 466, 47011 hinsichtlich des Verbots einer Klagänderung und des Verbots, neue Ansprüche im Rechtsmittelzug zu erheben, daß "der Gegenstand der Berufung durch die erste Instanz fixiert sein" müsse,364 daß es um die "Anfechtung eines Urtheils" 365 gehe und "das Rechtsmittel sich gegen dieses Urtheil" richte; 366 hier klingt deutlich an, daß die Berufung eben keine ,,Fortsetzung" des Rechtsstreites ist, sondern vielmehr ihre Natur als Kontrollinstrument im Grunde verbietet, einen anderen oder zusätzlichen Streitgegenstand in die Berufungsinstanz einzuführen. Ganz klar tritt dies wiederum innerhalb der Erläuterungen zu § 467 des Entwurfs zutage: "Der Rechtsstreit" solle "nicht derart von Neuem verhandelt werden, als wäre das Urtheil ... nicht vorhanden"; ausgerechnet "die Natur des auf Aufhebung eines Urtheils gerichteten Rechtsmittels" bringe es mit sich, daß "immer die Richtigkeit des Urtheils zu prüfen" sei und diese Prüfung sich "an

unheilbare [dazu Endemann (Fn. 191) 945 f.; Renaud, Lehrbuch, 582 f.] und dementsprechend die Aufspaltung der Nullitätsklage in querela nullitatis sanabilis [dazu WetzeIl (Fn. 15) 782 f., 803 f.] und querela nullitatis insartabilis [dazu Gönner (Fn. 13) 392 f.; Linde (Fn.66) 529 f.]. Mit Ausnahme des preußischen Prozesses [siehe Koch, Der Preußische ZP, 694] wurde aber die Einrede der sententia nulla aufrechterhalten [für alle Renaud, a. a. 0, 572 f.]. Zu den einzelnen Nullitätsgrüflden vgl. Wetzell(Fn. 15) 665 f., 806 f. 359 Siehe Endemann (Fn. 191) 908 f. 360 Siehe Gönner (Fn. 13) 155,245 f., 287. 361 So WetzeIl (Fn. 15) 738, 742, 745; ebenso Gönner (Fn. 13) 120 f., 148 f., 158 f., 287; Planek (Fn. 212) 453 und dort Fn. 1. 361a Zum gemeinen Recht siehe auch unten zu § 65. 362 Hahn, 140, 355. 363 Hahn, 373. 364 Hahn, 356. 365 Hahn, 355. 366 Hahn, 356.

C. Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

61

das dem Gericht vorliegende Urtheil anschließt". 367 Solchen Zugeständnissen ist eigentlich nichts hinzuzufügen. § 51 Bei aller Vorsicht gegenüber definitorischen Begriffsverkürzungen können nach alldem die überkommenen Rechtsmittelverfahren durchaus als "eigenständige Kontrollprozesse " umschrieben werden 368, wozu sich trotz gegenteiliger Beteuerungen punktuell weder das Gesetz noch der Gesetzgeber, aufzuraffen vermochte. Doch es war vor allem Schoetensack, der mit Vehemenz und nachhaltigem Erfolg den propagierten Kurswechsel bei der institutionellen Rechtsmittelzwecksetzung verteidigte, alle anfängliche Kontroversen um den Rechtsmittelbegriff369 zum Stocken brachte und zu einer "Theorie der Zweckeinheit des Verfahrens" gelangte, welches "zwischen der Klagezustellung als dem Anfangs- und dem rechtskräftigen Endurteil als dem Schlußpunkt beschlossen liegt". 370 Man kann eben nicht genügend betonen, daß zu einer solchen "Verfahrenslehre", in der zwangsläufig auch die Rechtsmittel gefangen wurden, ein mißverstandener Suspensiveffekt allen Anstoß gab. 370.

b) Rechtsmittel und funktionsanalytische Verfahrenslehre

§ 52 Schoetensacks Vorgehen kam indessen dem uralten Wunsch der Prozessualistik nur zu gut entgegen, einen einheitlichen Prozeßzweck als ideellen Bezugspunkt für sämtliche Verfahrenseinrichtungen 371 - Rechtsmittel inklusive 372 - zu defmieren. Die Erkenntnis des Prozeßzwecks soll einen methodischen Ansatz abgeben,373 der generell eine teleologische Betrachtungsweise rechtfertigt. 374 Doch nicht zuletzt durch die Vielfalt des hierzu Vorgetragenen tritt die Utopie des Erkenntnisanspruchs zutage; klassifikatorisch reduziert stehen absolute Verfahrenszwecke relativen, subjektive objektiven und ideale empirischen Prozeßzielen gegenüber.

367

Hahn, 355.

368 Ebenso die unter Pn. 326 zitierten. 369 Nachweise oben zu Pn. 38. 370 Schoetensack (Pn. 4) 259 f.; ebenso Schmidt (Pn. 4) 138. 370. Dazu aber unten §§ 65 f. 371 Vgl. exemplarisch Schönke AcP 150, 214 (216); Bernhardt ZZP 63,93; Bericht der Kommission zur Vorbereitung einer Refonn der Zivilgerichtsbarkeit, herausg. Bun-

desjustizministerium 1961, 166. 372 Siehe Pawlowski ZZP 80, 345 (358, 369). 373 Siehe Sax ZZP 67, 21 (26); Niese, Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 31 f., 44; Grunsky, § 1 I und besonders Hegler, Tübinger Pestgabe (1931) 216, 231, 234 f. 374 Siehe Hegler, PS-Heck (1931) 216 f.; Weber, Studium Generale 1960, 183 (193); Schönke, Rechtsschutzbedürfnis, 12; Niese (Pn. 373) 27; Rimmelspacher, Amtsprüfung, 10; Gaul, Grundlagen, 45 f. Zweifelnd an der Effizienz und Legitimität der teleologischen Betrachtungsweise Hagen (pn. 118) 42.

62

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

Stellt man den Prozeß in den Dienst von Wahrheit und Gerechtigkeit,375 so erscheint dies als Rückfall in eine metaphysische 376 Betrachtung, um nicht davon ganz zu schweigen, daß solch absolute Zielsetzungen nahezu jeden Verfahrensaufwand an Kosten und Zeit rechtfertigten. 377 Subjektive 378 und objektive 379 Verfahrensziele, 380 die das Prozeßrecht als dienendes Durchsetzungsrecht einstufen,381 sind noch der klassisch-positivistischen Vorstellung der gerichtlichen Prärogative verhaftet, das Recht wie etwas Vorgegebenes und jederzeit Gewisses zu verwirklichen. 382 Mit den Erkenntnissen der modemen Rechtstheorie und soziologie, daß die gerichtliche Aufgal1e in einer Zeit der sich ständig wandelnden Wirtschafts- und Sozialstrukturen,lnteressen und Wertkonflikte, in der kybernetischen Terminologie gesprochen, zwangsläufig feed-forward und nicht feedback 383 ist, und selten reproduktives, aus vermeintlich fertigen und stets vorhandenen rationes legis logisch-deduktives, sondern produktives, aus dem konkreten Streitfall heraus induktives Tun einschließt,384 haben diese Prozeßzwecksetzun375 So Sauer (pn.80) 1 f.; Bötticher, Die Gleichheit vor dem Richter (1954) 13; Henckel, Vom Gerechtigkeitswert des Begriffspaars ..formelle-materielle Wahrheit" vgl. einerseits Gaul (Fn. 374) 53 f. und Schmidt, Der Zweck, 34 f.; andererseits Braun (Fn. 196) 48 und Rödig, Die Theorie, 152 f. 376 Die Bezeichnung stammt von Wach, Handbuch, 7 Fn. 7 unter Berufung auf Sigwart, Logik, Bd. 11 (1904), 324 f. und diente Goldschmidt, Rechtslage, 150 zur Charakterisierung der Lehre vom Rechtsschutzanspruch; vgl. dagegen auch die Polemik Kohlers ZZP 32,214 f. und Bülows ZZP 31,191 (227 Fn. 2). InjüogererZeit wurde dennoch argumentiert [Henckel (pn. 375) 12], die Ablehnung der metaphysischen Prozeßbetrachtung fIlhre zur Verweisung des Prozeßrechts aus der Rechtsordnung und zur Ersetzung einer rechtlichen Wertung durch eine wertfreie soziologische Betrachtung. 377 Gegen jede absolute Prozeßzwecksetzung vgl. besonders Luhmann, Legitimation, 22: Was nottue, sei "eine Theorie, die das Wahrheitsproblem, wie es in Verfahren auftritt, hinterfragen kann und nicht apriori schon annimmt, daß Verfahren der Wahrheit dienen". Siehe auch Binder, Prozeß und Recht (Neudruck Aalen, 1969) 146 f., 295; Braun, (Fn. 196) 46 f.; Jauernig JuS 71, 329 (330). 378 Im Sinne des Schutzes subjektiver Privatrechte: BVerfGE 52, 131 (153); 54, 227; Mes, Rechtsschutzanspruch (1971) 98 f.; Rimmelspacher (Fn. 374) 11 f., 23; Grunsky, § lIla. E.; Raiser JZ 61, 465 (470, 472 f.); Vollkommer ZZP 81, 102 (105); Pohle (Fn.28) 10; Baur, Summum ius summa iniuria, 97 (103 f.). 379 Im Sinne der Bewährung des objektiven Rechts: BGHZ 10, 333 (336); 10, 350 (359); 60, 392 (397); Gaul (Fn. 374) 52 f.; Sax (Fn. 373) 27; Bley, Klagerecht, 8 f.; Schönke (Fn. 371) 216; ders. (pn.374) 12; Bülow ZZP 28, 201 (221). 380 Kumulativ: Arens, Humane Justiz, 1 (5); Dorndorf(Fn. 205) 301; Rödig (Fn. 375) 43 f.; Mettenheim (Fn.5) 19 f., 25 f.; Jauernig (Fn. 377) 331. 381 RGZ 141, 347 (350); BGHZ 34, 53 (64); BVerfGE 42, 64 (73); 49, 220 (226); Schumann ZZP 96, 137 (153); Bernhardt ZZP 66, 67 (78). 382 Siehe dazu die fundierte Kritik Brauns (Fn. 196) 45 f., 49 f.; Arndts NJW 59, 6 (7 f.); Binders (Fn. 377) 166 f.; Pawlowskis (Fn. 372) 350 f., 360 f.; Gilles' JuS 81,402 (407 f.); Dorndorfs, Rechtsbeständigkeit, 36 f. (vgl. jedoch auch 40 f., wo er die von ihm selbst kritisierte Prozeßzweckvorstellung als "durchaus brauchbares Modell" dann doch beibehalten will). 383 Vgl. Simitis AcP 172, 131 (141); Rödig (Fn. 375) 303 f. 384 Vgl. Kaufmann JuS 65, 1 (4,6 f., 8); Coing JuS 75, 277 f.; Larenz, FS-Schima (1969) 247; ders. NJW 65, 1 f.; Meyer-Ladewig AcP 161,97 (99, 105); Redeker NJW 72,409 f.; Esser, Vorverständnis, 209 f.; ders. FS-v. Hippel, 95 f.; Meier-Hayoz JZ 81,

C. Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

63

gen nicht Schritt gehalten. Lediglich wird hin und wieder die Rechtsfortbildung als selbständiger Verfahrenszweck angegeben,385 ohne daß man sich über den inneren Widerspruch dieser Anleihe Rechenschaft ablegt; denn solange man am vorgegebenen Recht festhält, kann man die Rechtsfortbildung nicht als legitime Prozeßaufgabe ausweisen. 386 Endlich geht es den idealen Zwecksetzungen um nichts anderes als darum, durch Überdehnung des Prozeßzwecks eine eigens auf das Fehlurteil ausgerichtete, die Rechtsverwirklichung allerdings absorbierende 387 Verfahrensaufgabe ins Recht zu integrieren; mit der Rechtsfrledensherstellung 388 füllt man zudem den Prozeßzweck mit dem Sinngehalt der Rechtskraft 389 auf,390 ohne insoweit über die Identifizierung von Rechtskraft und Prozeßzweck der empirischen Verfahrensbetrachtung 391 hinauszugelangen. Allgemein gilt jedoch, daß die vorgestellten Prozeßzwecke das Ausmaß prozessualer Normierung weder erklären noch rechtfertigen können, insbesondere daß sich kein den Gesamtkomplex verfahrensmäßiger Anordnungen tragender und durchdringender einheitlicher Prozeßzweck angeben läßt,392 ohne daß der Boden positiver Wissenschaftlichkeit zugunsten scholastischer"vires occultae" 393 verlassen werden müßte.

§ 53 Dem trägt mittlererweile die modeme Verfahrenslehre Rechnung; sie berücksichtigt auch, daß eine rein teleologische Prozeßbetrachtung zwar dem [malen 394 Prozeßcharakter gerecht wird, ohne jedoch den dynamischen 395 Charak417 (419, 422); Fischer, Die Weiterbildung des Rechts durch die Rechtssprechung (1971), passim. Für weitere Nachweise vgI. die Literatur unter dem Stichwort "Richterrecht". 385 Siehe etwa S I J I Schumann-Leipold, Allg. EinI. C V. 386 So richtig Pawlowski (Fn. 372) 348 f. Fn. 18. 387 Zutreffend Gaul AcP 168,27 (59); Sax (Fn. 373) 33. Besonders kritisch hierzu Luhmann (Fn.377) 17,21 f. 388 VgI. RGZ 151, 82 (85 f.); BGH LM § 518 Nr. 3; Schönke (Fn.374) 11, 13, 19; ders. (Fn. 371) 216, 218, 222; Schumann, FS-Bötticher (1969) 289, 319 f.; Götz, Bindungswirkung, 41; Degengolb, Beiträge zum Zivilprozeß (1905) 25; Rimmelspacher (Fn.374) 19 f.; Walsmann RheinZ 12,414 f. Kritisch dazu Mes (Fn. 378) 95; Schmidt (Fn.375) 12 f.; Braun (Fn. 196) 59 f. 389 Dm erblickt man nach dem Vorbild des § 65 preußische AGO darin, daß die ,,Ruhe und Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft" es nicht gestatten, "daß die Prozesse verewigt ... werden"; vgI. dazu auch RGZ 42, 372 (375 f.); Jauernig ZZP 64, 285 (303 f.); Braun (Fn. 196) 37 f. 390 Zutreffend Gaul (Fn. 374) 61; ders. (Fn. 387) 58. 391 Hierfür Goldsmidt (Fn. 376) 151; Kohler, Badische Zeitschrift 1873,41; Mendelssohn-Bartholdy, FS-Klein, 153 f. Contra Sax (Fn. 373) 26 f.; Henckel, Prozeßrecht, 48 f.; Schönke (Fn. 371) 217; Jauernig (Fn. 377) 329 f.; Rimmelspacher (Fn. 374) 12; zurückhaltender Braun (Fn. 196) 40. 392 VgI. besonders v. Hippel, Wahrheitspflicht und Aufklärungspflicht (1939) 170 f.; ders. ZZP 65, 424 (432); Braun (Fn. 196) 65; Hagen (Fn. 118) 23; ders. (Fn.27) 84; zurückhaltender Henckel (Fn. 391) 47; Gaul (Fn. 387) 62. 393 Hartmann, Teleologisches Denken (1966) 83. 394 Der finale Charakter der Verfahrensnormen, der meistens auch nur indirekt als Forderung nach einer teleologischen Interpretation behauptet wird [siehe zuletzt Hassold,

64

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

ter des Verfahrens zureichend zu erfassen. Sie verzichtet also auf institutionelle Zwecksetzungen und unergiebige Prozeßeinheitsdogmen und faßt das Verfahren als Resultante heterogener Funktionen auf. Was heißt aber Funktion, was bringt die funktionale Prozeßbetrachtung und welche sind die Determinanten der prozessualen Funktionen?396 In der Kategorienlehre entspricht der Funktionsbegriff der dynamischen Relation, die auf Prinzip und Concretum reduzierbar ist; Prinzip und Concretum stehen im Verhältnis der Determination zueinander, anders ausgedrückt, die Determination des Concretums ist die Funktion des Prinzips.397 Der Begriff des Concretums ist durch den des Substrats ersetzbar; Prinzipien lassen sich wiederum als Determinanten fassen. Die Funktionselemente sind somit Substrat, Relation und Determinanten. 398 Die Übertragung dieser Kategorialbegriffsbestimmungen auf den prozessualen Bereich und die Auffassung der Prozeßnormen als Funktionen ermöglicht zunächst, den angeblich unversöhnlichen Gegensatz von Finalität und Dynamik, oder wie es Luhmann nennt, von Handlung und Situation,399 in einem theoretischen Ansatz zu erfassen; denn Funktion ist dynamische Relation, wodurch einerseits der dynamische, auf menschliches Verhalten berechnete Aspekt und andererseits die Normfinalität zum Vorschein treten. 400 Die Funktionen bestehen also nach Hagens Formulierung in der Determinierung des "procedural behaviour" durch die finale Normativität der Prozeßordnung. 401 Damit geht es einher, daß sich der Zusammenhang zwischen "faktischem Verfahren" und "normativem Prozeß"402 herstellen und die übliche Charakterisierung des Prozesses als soziale Institution 403 durch die Interdepedenz von Recht und Gesellschaft 404

Die Voraussetzungen der besonderen Streitgenossenschaft (1970) 16], ist selbstevident; nach Rimmelspacher (Fn. 374) 10 bedarf er ,,keiner besonderen Rechtfertigung mehr". 395 Bezüglich des dynamischen Charakters der Verfahrensnormen sei auf die Arbeiten Goldschmidts (Fn. 376) und Nieses (Fn. 373) verwiesen. Hierzu vgl. auch Rödig (Fn. 375) 23 f., 106 f., dessen kritischen Anmerkungen nur punktuell beizupflichten sind. 396 Die funktionsanalytische Verfahrenslehre ist inzwischen so weit gediehen, daß man nach einer kurzen Skizzierung darauf einfach verweisen kann; folgende Darstellung stützt sich im wesentlichen auf die Ausführungen Hagens (Fn. 118) 12 f. und (Fn. 27) passim, unter Berücksichtigung der "funktionalen Methode", die Esser, 346 f. bei der Rechtsvergleichung und Larenz, Methodenlehre, 463 f. bei der Aufzeigung rechtlicher Funktionszusammenhänge des inneren Systems des Rechts einsetzen. 397 Hartmann, Aufbau der realen Welt, 38 f., 282. 398 Hagen (Fn. 118) 43 f. 399 Luhmann (Fn. 377) 38; auch Rödig (Fn. 375) 31. 400 Hagen (Fn. 118) 26. 401 Hagen (Fn. 118) 27. 402 Terminologisch und begrifflich siehe Hagen (Fn. 27) 19,27. 403 Vgl. etwa Wassermann, Der soziale Zivilprozeß, 129; Hagen ZZP 84, 385 f.; Baur (Fn. 378) 102. 404 Dazu grundlegend Geiger, Vorstudien zu einer Soziologie des Rechts (1947) 13; siehe auch unten zu Fn. 411.

c. Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

65

nach beiden Richtungen ausleuchten läßt: die Wirkungsweise von Verfahrenseinrichtungen [Concretum-Substrat] durch Darstellung der sie bestimmenden heterogenen Faktoren [Prinzip-Determinanten] und ihr Einfluß auf deren Ausformung. 405 Die für die prozessuale Ausgestaltung bestimmenden Faktoren sind dem Verfahrensrecht vorgegeben und ihr heterogener Charakter entspricht gerade dem Konnex vom Recht und Gesellschaft; die an überhöhten und wissenschaftlich unüberprüfbaren rechtphilosophischen Modellen orientierten Verfahrensziele 406 können demnach durch eine Reihe eng umrissener VerJahrensdeterminanten ersetzt werden, denen die Prozeßfunktionen zuzuordnen sind. Die wesentlichen Determinanten der prozessualen Funktionen entstammen verfassungsrechtlichen, 407 organisatorischen 408 oder materiellrechtlichen 409 Kategorien oder sind bedingt durch die Anwendung ökonomischer,410 sozialer,411 psychologischer, 412

Hagen (Fn. 118) 44. Dazu siehe besonders kritisch Braun (Fn. 196) 46 f., 52 f. 407 Sie betreffen Fragen, die dem Problemkreis" Prozeßrecht als angewandtes Veifassungsrecht" [zur Terminologie Gaul (Fn. 387) 32 mwN] zuzuordnen sind. Zu diesem Themenbereich vgl. etwa Habscheid JR 58, 361 f.; Stürner NJW 79, 2334 f. sowie die zahllosen Beiträge zum verfassungsrechtlichen Teilaspekt des Anspruchs auf rechtliches Gehör. 408 Über Teilaspekte der mannigfachen Berührungen zwischen "Justizverwaltung und Veifahrensrecht" siehe etwa Baur, Justizaufsicht und richterliche Unabhängigkeit (1954); Schneider DRiZ 70, 318 f. Zum Prozeß als Gegenstand einer Organisationstheorie vgl. Hagen (Fn. 27) 37 f. 409 Stellvertretend für die wechselseitigen Beziehungen zwischen "Prozeßrecht und materiellem Recht" vgl. den nämlichen Beitrag Henckels (Fn. 391); auch Arens (Fn. 380). 410 Im Gegensatz zur Zivilistik hat die deutsche Prozessualistik von der schon vor gut einem Jahrzehnt aus den USA importierten "Economik analysis o/law" [vgl. besonders Posner, Economic analysis of law (Boston, Toronto 1977) bes. 129 f.] nicht viel Notiz gemacht [siehe immerhin Adams, Ökonomische Analyse des Zivilprozesses (1982)]. Selbst die längst anerkannte Prozeßökonomiemaxime wird als ,,rechtsethisches Prinzip" begriffen oder "undogmatisches Versteck" für ungelöste "dogmatische" Streitfragen abgetan [siehe etwa Schmidt (Fn. 375); Mettenheim (Fn. 5)]. 411 Von den inzwischen zahlreichen Beiträgen zur " Veifahrenssoziologie" vgl. besonders den systemtheoretischen Ansatz Luhmanns (Fn. 377) und hierzu die meist kritischen Stellungnahmen Essers (Fn. 384) 202 f.; Simitis' (Fn. 383) 139 f.; Zippelius' FS-Larenz (1973) 293 f.; Dubischars' ZZP 86, 88 f. Vgl. ferner den rollentheoretischen Ansatz Lautmanns, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie I, Bielefeld 1970, 381 f.; ders. Justiz - die stille Gewalt (1972) 26 f. Ansätze zu einer "Theorie kommunikativer Kompetenz" bei Rottleuchtner, Rechtswissenschaft als Sozialwissenschaft (1973) 158 f. Wichtige Akzente setzen auch Kieninger, Theorie und Soziologie des zivilgerichtlichen Verfahrens (1980); Gessner, Recht und Konflikt (1976) und besonders auch Zitscher, Rechtssoziologische und organisationssoziologische Fragen der Justizreform (1969). Speziell zu einer "Soziologie der Rechtsmittel" vgl. Blankenburg (Fn. 52) 25 f.; Röhl (Fn. 28) 251 f. 412 Sie betreffen Fragen, die dem Problemkreis "Prozeßrecht als angewandte Psychologie" [zur Terminologie Gaul (Fn. 387) 51] angehören. Vgl. dazu Schima, Psychologische Erwägungen, 273 f.; Weimar, Psychologische Strukturen richterlicher Entscheidung (1969). 405

406

5 Kolotouros

66

2. Kap.: Rechtsmittel in struktureller Betrachtung

ideologischer 413 und rechtspolitischer 414 Faktoren. Spätestens hiermit zeigt sich, daß der Prozeß unter verschiedenen Gesichtspunkten zum Gegenstand wissenschaftlicher Fragestellungen gemacht werden kann und muß. 415 § 54 Die Frage ist nun, wie sich die Rechtsmittel im Rahmen der hier kurz skizzierten funktionalen Prozeßbetrachtung ausnehmen. E. Schumann, der in seiner Grundbegriffsanalyse des Gerichtsverfassungsrechts ebenfalls eine funktionale Prozeßmethode einsetzt,416 sieht das Rechtsmittelinstitut als "Funktion des Rechtsstaatsgedankens " .. der Rechtsstaatsgedanke könne aber "vom Kontrollgedanken nicht getrennt" werden, gehe doch "der moderne Verfassungsstaat mit seiner Gewaltenteilungslehre vom Prinzip der Kontrolle der Staatswillensbildung" aus. Schumann erscheinen somit die Rechtsmittel nicht "als bloße Anhängsel des Prozesses in der unteren Instanz", nicht als in einen einheitlichen Erkenntnisprozeß irgendwie eingebaute "Sicherheitsvorkehrungen", welche die "Richtigkeitsgarantie" einer und der überhaupt erst noch zu treffenden bestandskräftigen Entscheidung noch zu "steigern" oder zu "bestärken" hätten, sondern mit einem Wort gesagt als ,,Remedien", Behelfe also, welche dort Abhilfe schaffen sollen, wo der Vorprozeß zu einem autoritativen Gerichtsakt geführt habe, der dem Postulat größtmöglicher Rechtmäßigkeit nicht entspreche. Das Rechtsmittel nehme sich mithin "wie Intrakontrolle innerhalb der Dritten Gewalt" aus. 416 • Kontrollinstrumente sind die Rechtsmittel auch für J. J. Hagen, der sich allerdings organisatorischer Faktoren als Rechtsmitteldetenninanten bedient. 417 Er geht vom Zenralbegriff der Organisationswissenschaft, nämlich der "organisatorischen Aufgabe" aus und erkennt im Verfahren eine "aufgabengliedrige Organisation"; der Gegenüberstellung von erstinstanzlichem und Rechtsmittelprozeß liege "eine Funktionsteilung im Sinne einer objektivierten Aufgabenteilung" zugrunde. "Während der primäre Verfahrensabschnitt der EntscheidungsschöpJung dient, erfüllt das Rechtsmittelverfahren eine Kontrollfunktion. "418 Für dieses

413 Zum Thema "Zivilprozeß und Ideologie" siehe zuletzt den nämlichen Beitrag Leipolds JZ 82, 441 f.; vgl. ferner Dütz ZZP 87, 361 f.; Bettermann ZZP 91, 365 f.; Wassermann (Fn. 403) 13 f., 17 f., 27 f., 49 f. Zum Thema "Richter und Prozeßpolitik" vgl. etwa Wassermann, Der politische Richter (1972) 11 f.; Mayer-Maly DRiZ 71, 325 f.; Säcker ZRP 71, 149 f.; gegen die politische richterliche Tätigkeit Wolf, FS-Bruns, 221 (234). 414 Wie schwer es freilich manch einem Dogmatiker noch immer fällt, die rechtpolitischen Motive in die Theorie miteinzubeziehen, zeigt der jüngste Disput zwischen Prütting NJW 80, 361 f. und Schneider DRiZ 80, 220 f., der dem von Schwab JuS 76, 69 f. und Putt/arken JuS 77, 493 folgte. 415 Vgl. Lautmann, Handlexikon der Rechtswissenschaft (Hrsg. Görlitz, 1972) 379; Dorndorf (pn. 205) 301. Allgemein zum Recht als Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen siehe Bydlinsky (Fn. 21) 8 f. mwN. 416 Schumann (Fn. 37) ZRS 97, 283. 416a Schumann (Fn. 37) ZRS 193, 575. Jetzt auch Gilles JZ 85, 253 (259 f.) und AK - ZPO - Ankermann, vor § 511 Rdn 2. 417 Hagen (Fn. 27) 39. Siehe auch Blankenburg (Fn. 52) 30 f. 418 Hagen (pn. 27) 113 f..

c.

Die Natur der ,,Rechtsmittelsache"

67

von Haus aus Kontrollverfahren sei es gleichgültig, wie es näher ausgestattet sein möge: Ob voll oder beschränkt konstruiert, ob die Kontrolle durch Wiederholung des gesamten Prozeßmaterials oder nur anband einzelner inkriminierter Anfechtungsgründe stattfmde, ob sie die Rechts- oder auch die Tatfrage betreffe, ob dazu eine mündliche Verhandlung erforderlich oder entbehrlich sei, ob mit dem kassatorischen auch ein reformatorisches Verfahren verbunden sei oder nicht; Hagen spricht zu Recht von" verschiedenen Kontrollarten " oder Abstufungen der Kontrollfunktion", die den funktionalen Charakter des Rechtsmittelprozesses nicht verändern. 419 § 55 Ob die Rechtsmittel von rechtsstaatlichen 420 oder organisatorischen Faktoren bestimmt sind oder ob sie vielmehr im Kontext mehrerer Determinanten stehen, mag vorerst auf sich beruhen. Festgehalten sei hier daran, daß die Prozeßgliederung in Rechtszügen nicht die Bedeutung einer bloß zeitlichen Verfahrenseinteilung haben kann; 421 angesichts der Tatsache, daß die Rechtsmittelinstanz eine von der Natur der Sache diktierte und gegenüber dem Eingangsverfahren andersartige Kompetenz innehat, bildet jeder Rechtszug für sich eine funktional selbständige Einheit.

Hagen (Fn. 27) 114 f.; ebenso Matscher (Fn. 35) 260, 261. Im Hinblick auf mögliche Beschneidungen oder Erschwerungen des Rechtsmittelzugangs [siehe oben zu Fn. 108 f.] sind im Rahmen der gegenwärtigen Reformdebatte auch die verjassungsrechtlichen Aspekte des Rechtsmittelrechts tangiert worden. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht [BVerfGE 4,74 (94); 40, 272 (274); 49, 329 (340 f.)] unter Zustimmung des verfassungs- [Maunz / Dürig / Herzog, Kommentar zum GG (Bd. n 1983) Art. 19 IV Rdn. 45, 46; Schmidt / Bleibtreu, Grundgesetz (1983) Art. 19 Rdn. 19] und prozeßrechtlichen Schrifttums [Schwab / Gottwald, Verfassung und Zivilprozeßrecht (1984) 29 f.; E. Schumann (Fn. 81) 267 f.] weder eine "staatliche Verpflichtung zur Rechtsmittelgewährung" noch ein hiermit korrespondierendes "Grundrecht" des Einzelnen auf Rechtsmittel anerkannt, jedoch immer von der These aus, daß Eingangsund Rechtsmittelverfahren funktional gleichgeartete Institute verkörpern, womit denn auch letztere als verzichtbarer staatlicher Luxus erscheinen. Ganz anders nimmt sich freilich die Problematik aus der Sicht des durch den rechtsstaatlichen Gedanken determinierten Kontrollverfahrens aus. Ebenso unter ausdrücklicher Anerkennung eines "Justizgewährungsanspruchs und Grundrechts auf Rechtsmittel" Gilles (Fn. 109) 260 mwN; Ballon ZZP 96, 409 (453). Zu der Frage der Rechtsstaatlichkeit gegen radikale Rechtsmittel-beschränkungen vgl. Leonardy (Fn. 104) 379; Rabe (Fn. 104) 271. 421 Stellvertretend für die herrschende Auffassung siehe aber Blomeyer, § 23 I 1. 419

420

5'

Drittes Kapitel

Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung § 56 Der funktionalen Verselbständigung des Rechtsmittelprozesses kann als Vorbild oder jedenfalls als Orientierungshilfe das Wiederaufnahmeverfahren dienen, das allgemein als eigenständiges Kontrollverfahren aufgefaßt wird.

A. Funktionale Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen § 57 Davon überzeugt, daß hinter den diversen Namen im Gesetz auch diverse Inhalte stecken müssen, nahm indessen die Prozessualistik bereits von Anfang an 422 eine fundamentale Andersartigkeit zwischen Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen an 423 , wobei jede durch historisches Empfinden 424 veranlaßte Bestrebung zu einer Parallelbetrachtung und Entwicldung eines ordentliche wie außerordentliche Behelfe umfassenden Rechtsmittelkollektivbegriffs 425 auf Ablehnung stieß 426. Rechtsmittel und Wiederaufnahme stünden "in Antithese"427, 422 Vgl. insbesondere Hinschius (Fn. 38) 7 f.; Schoetensack (Fn. 4) 251 f. 423 Insoweit in völliger Kongruenz mit den gesetzgeberischen Vorstellungen. Siehe Hahn, 378, wonach ..die Wiederaufnahme ... prozessualisch ... nicht als ein Rechtsmittel betrachtet werden" könne; an anderer Stelle heißt freilich, daß ..der Charakter eines Rechtsmittels ... der Wiederaufnahmeklage in gewissem Maße beiwohnt" (S. 385). Siehe auch unten zu Fn. 434. 424 Siehe unten zu § 65. 425 Vgl. Bolgiano ZZP 2, 110 f.; ders. ZZP 3, 196 f.; ders. AcP 57, 420 f.; v. Kries (Fn.2) 9 f.; Wurzer JheringsJ. 70, 187 (192); Hellwig, Anspruch und Klagerecht, 485; Heintzheimer ZZP 38, 1 (43 Fn.37); Kohler ZZP 29, 1 (21 f.). Aus neuer Zeit siehe besonders Weitzel (Fn.60) 285 f., 355 f.; ders. (Fn.58) 361 f.; Gilles (Fn.32) 13 f., 106 f.; Sauer (Fn. 80) 262 f., 268 f.; Matscher (Fn. 35) 260 f.; Schlosser (pn. 36) 114. 426 Siehe vor allem Schoetensack (Fn. 4) 252: ..Sagt das Gesetz, was unter Rechtsmitteln zu verstehen ist, so hat, wer das Gesetz handhabt, sich dieses Gesetzeswortlaut zu beugen, gleichviel zu welchen Resultaten ihm Untersuchungen über den materiellen Rechtsmittelbegriff geführt hätten". In diesem Sinne auch Flechtheim ZZP 25, 405(430 f.); Schünemann, Wiederaufnahme, 74; Hinschius (Fn. 38) 7. Aus neuer Zeit vgl. Pfeifer (Fn. 4) 34 f., 95 f.; Oberndörjer, Rückwirkung, 40 sowie die unter Fn. 427 f. zitierten. Bemerkt sei, daß die inzwischen gegenstandslos gewordenen §§ 18, 19, 20 EGZPO immerhin ordentliche wie außerordentliche Rechtsmittel kannten; unter Berufung auf die ..bloß transitorische Natur" [so etwa Hinschius (Fn. 38) 10] des Einführungsgesetzes sorgte jedoch die Rechtsmitteldogmatik, den Blick auf die funktionalen Gemeinsamkeiten zu verbauen und die mehr oder minder deutliche Absage der Gesetzesverfasser an das hergebrachte Rechtsmittelsystem um jeden Preis zu verteidigen. Die immer wieder

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

69

sie seien "wesensverschieden und völlig unterschiedlich konstruiert", weshalb sich auf beide ,,keine gemeinsamen Maßstäbe verwenden" ließen 428. Seien die Rechtsmittel dazu bestimmt, den Prozeß über die vorausgegangene "vorläufige" Entscheidung hinaus bis zu seinem endgültigen Abschluß fortzuführen, verfolge die Wiederaufnahme das konträre Ziel, eine bereits "definitive" Entscheidung zu Fall zu bringen 429. Folglich handle es sich hier um einen "Prozeßneubeginn"430, ein "neues, eigenes, selbständiges Verfahren"431, kurz um ,,Klagen" und zwar "prozessuale Gestaltungsklagen"432 mit neuem oder zweitem kassatorischem Prozeßgegenstand, den es von demjenigen des Erstprozesses zu unterscheiden gelte 433 . a) Die Bewertung der Wiederaufnahme als Klage § 58 Von einer Reihe diffusser Äußerungen der Motive 434 abgesehen, die der Wiederaufnahmeklagenatur gerade widerstreiten, nimmt sich die Wiederaufnahmeklage gemessen an einer Vielzahl von Verfahrenserscheinungen wahrlich alles andere denn als "Klage" i. S. des § 253 aus. § 59 Brauchbare Einsichten vermittelt zunächst die Prozeßführungsbefugnis im Falle einer nach Urteilsrechtskraft erfolgten Singularsukzession 435 . Findet die Regelung des § 265 11 Anwendung, oder ist die Wiederaufnahme wie jede Klage gegen den und von dem jeweiligen Rechtsinhaber zu erheben? Die diesbezügliche Diskussion war lange Zeit wenig transparent, weil man die Entscheidung ausgerechnet mit dem Verhältnis von Wiederaufnahme und Vorprozeß verquickte,

in Rechtssprechung [exemplarisch BGH NJW 52, 1095; FamRZ 82, 789 (790)] und Rechtslehre {Lent ZZP 61,279 (294); Braun (Fn. 196) 35; Blomeyer, § 10621] vorkommende Altterminologie wird so nebenbei und ohne weitere Konsequenzen gebraucht. Erwähnenswert ist auch, daß § 839 m BGB von einem "extensiven" Rechtsmittelbegriff ausgeht. 427 So Pfeifer (Fn. 4) 35 f.; J. Blomeyer (Fn. 12) 21 f.; Schultzenstein ZZP 31, 1(30). 428 Pfeifer (Fn. 4) 95; Habscheid (Fn. 2) 636; Arens, § 38 Rdn. 428. 429 So die sich bis heute behauptete Formulierung Schoetensacks (Fn.4) 260 f. 430 J. Blomeyer (Fn. 12) 23; Schünemann (Fn. 426) 70; Johannsen, FS-45. Deutscher Juristentag, 81 (89). 431 Pfeifer (Fn. 4) 36. 432 Für alle vgl. Gaul ZZP 74, 49 (50). 433 Zur sog. Zweistreitgegenstandslehre vgl. Gaul, Grundlagen, 109; Dorndorf (Fn. 382) 75; Nikisch, § 129 V 1; Schiedermair (Fn. 1) 351; Gosch, Wiederaufnahme, 38,39; Gilles ZZP 78, 466 (470); ders. Umfang, 41; Braun (Fn. 196) 117; Rüßmann AcP 167,410 (413); Hellwig (Fn. 425) 489 f.; Bley (Fn. 379) 46 Fn. 1; Rosenberg, ZPR (9. Aufl) 771 f.; grundSätzlich auch Schünemann (Fn.426) 75 f. Abweichend die sog. Einstreitgegenstandlehre, die der Wiederaufnahme nur den Gegenstand des Erstprozesses zugrundelegt; dazu Behre (Fn.5) passim; ihm folgend R / Schwab, § 160 II 3; SI J I Grunsky, vor § 578 II Rdn 20; Sauer DÖV 71, 150 (157); wohl Mes MDR 70, 628. 434 Siehe Hahn, 378 f. und dazu Gilles (Fn. 32) 196 f. 435 Unproblematisch ist hingegen der Fall der Gesamtrechtsnachfolge, in dem die Prozeßführungsbefugnis des Nachfolgers nie streitig wurde; statt vieler siehe Blomeyer, § 106 IV 1 und RGZ 118, 73 (75 f.).

70

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

und von da aus auf die Legitimation hier des Zedenten 436 und dort des Zessionars 437 schloß. Erst Schiedermair erkannte den methodischen Argumentationsmangel und zog umgekehrt aus dem Schutzgedanken des § 265 11 und seiner Analogiefähigkeit Konsequenzen für das Wiederaufnahmewesen 438. Tatsächlich beruht § 265 11 auf einer Abwägung des Interesses des Zessionars einerseits, am Prozeß vollwertig, d. h. als Partei beteiligt zu sein, um dadurch den Prozeßausgang entscheidend beeinflussen zu können und nicht nach negativem Verfahrensabschluß auf mögliche Schadensersatzansprüche angewiesen zu sein, und dem Interesse der alten Parteien andererseits, das Verfahren zwischeneinander fortzuführen 439. Des Zedenten gerade wegen der drohenden Ersatzansprüche; seines Gegners deshalb, damit er nicht mit einem neuen Kostenschuldner 440, nicht einer das Prozeßrisiko erhöhenden nunmehr möglichen Zeugenstellung des Veräußerers 441 und nicht mit den Fragen der Sukzession insbesondere deren Wirksamkeit und der Eventualität einer Vervielfältigung durch Teilzessionen belastet wird 442. Diesen Interessengegensatz hat der Gesetzgeber in § 265 11 zugunsten der Altparteien entschieden und die dort vorgenommene Interessenbewertung trifft augenscheinlich auch für das Wiederaufnahmeverfahren ZU 443 • Nach heute ganz hA 444 sind also Parteien der Wiederaufnahme diejenigen des Vorprozesses, was freilich mit einem durch sie eingeleiteten neuen Prozeß nicht im Einklang steht 44s • Eine ähnliche Konstellation liegt ferner bei der Frage vor, ob ein Dritter als Nebenintervenient selbst die Wiederaufnahmeklage erheben kann, wenn es die Hauptpartei unterläßt, sie geltendzumachen, genauso wie der Nebenintervenient Rechtsmittel einlegen kann. Vom § 66 11, wonach eine Nebenintervention nur "bis zur rechtskräftigen Entscheidung" möglich ist, schloß das Reichsgericht auf die Unzulässigkeit des Vorgehens 446 und fand damit wenig Anklang 447 • Die hM 436 Mit der Begründung "des engen Zusammenhangs zwischen Erstprozeß und Wiederaufnahmeverfahrens" so RGZ 168,225 (228); 168,257 (260); Hellwig (Fn. 9) § 241 12, II 2; Seuffert / Walsmann, § 578 1; Wurzer GruchBeitr. 65, 48 (54); Pagenstecher ZAKDR 43, 166 f.; heute ganz hM, siehe Nachweise zu Fn.444. 437 Mit der Begründung "eines neuen Prozesses" so RGZ 57,285 (286 f.); Schoetensack (Fn. 4) 274 f.; wohl auch Skonietzki / Ernsthausen z:zP 63, 128 und Förster / Kann, § 5782 an. 438 Schiedermair (Fn. 1) 335, 350 f.; ebenso Braun (Fn. 196) 457. 439 Zur Interessenabwägung siehe eingehend Grunsky, Die Veräußerung der streitbefangenen Sache (1968) 15 f. 440 Vgl. Braun (Fn. 196) 457; Schiedermair (Fn. 1) 339; Behre (Fn. 5) 63. 441 RGZ 168, 225 (228); Schiedermair (Fn. 1) 399; Grunsky, § 26 IV. 442 So die amtliche Begründung (Hahn, 190) und Behre (Fn. 5) 63. 443 Vgl. RGZ 168, 225 (227 f.); BGHZ 29, 329(331) = LM § 578 Nr. 3 m. Anm. Johannsen; Blomeyer, § 106 IV 1; Schiedermair (Fn. 1) 339; Behre (Fn. 5) 63; Braun (Fn. 196) 457 jeweils mwN. Anders nur Calavros (Fn. 437) 95. 444 S / J / Grunsky, § 578 ll; B / L / Hartmann, § 578 1 B; Wieczorek, § 578 C II b 2; T / Putzo, § 578 2;Z / Schneider, § 578 ID 2; Nikisch, § 1301 I;R / Schwab, § 106 IV 1. 44S Ebenso im Ergebnis Schiedermair (Fn. 1) 350 f. 446 RGZ89, 424 (425 f.). Ebenso Förster/Kann, § 578 3; Seujfert/Walsmann, § 578 3.

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

71

geht hingegen dahin, daß ein Dritter, jedenfalls dann, wenn es sich um den Erwerber der streitbefangenen Sache handelt 448 , dem Verfahren auch noch durch die Erhebung der Wiederaufnahme in analoger Anwendung des § 265113 beitreten kann; allgemein gilt es aber, daß jeder Dritte, der die Voraussetzungen der Nebenintervention überhaupt erfüllt, das Verfahren in Gang setzen kann 449 • Auch hier zeigt sich mithin, daß sich der Vorprozeß mit seiner die Intervenientenstellung bestimmenden Einwirkung im Wiederaufnahmeverfahren fortwirkt, von den Rechtsmitteln nur in der äußeren Form verschieden 450 • § 60 Unvereinbar mit der Bewertung der Wiederaufnahme als Klage ist auch die Anwendbarkeit der Regeln der besonderen Prozeßarten, insbesondere des Ehe- und Kindschaftsprozesses im gesamten Wiederaufnahmeverfahren, also auch im iudicium rescidens. Denn wenn dieser Verfahrensteil ein gegenüber dem Vorprozeß und dem iudicium rescissorium eigenständiger Abschnitt sein sollte, so müßten hier die Normen des ordentlichen Prozesses anwendbar sein 451 • Das war in der Tat teilweise der Standpunkt der älteren Lehre 452 , der mittlererweile jedoch aufgegeben wurde 453 • Man erwog, daß die zur Schaffung der besonderen Verfahrensnormen ausschlaggebende Interessenlage auch im iudicium rescidens vorliegt, und daß die starke Ähnlichkeit von Wiederaufnahme und Rechtsmitteln eine abweichende Behandlung nicht gestattete; können nämlich Wiederaufnahmegründe ebensogut in der Rechtsmittelinstanz und damit in der besonderen Prozeßart gerügt werden, so ist die Anwendung des besonderen Verfahrensrechts auch auf die gesamte Wiederaufnahme geboten 454. Nichts spricht beispielsweise dafür, daß nur das Verfahren im iudicium rescissorium unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet, das im iudicium rescidens hingegen nicht 455 •

447 Siehe besonders Hellwig, Wesen und subjektive Begrenzung der Rechtskraft (Neudruck Aalen 1967) 181. 448 Zu den sonstigen Fällen vgl. Schiederrnair (Fn. 1) 349 mwN. 449 VgI.BayObiG NJW 74, 1147 f.; Wieczorek,§ 578 C II a 2; SI J I Grunsky, § 578 II, Z I Schneider, § 578 III 3; BI L I Hartmann, § 66 3; Nikisch, § 130 I 1; R I Schwab, § 162 Ii 1; Bruns, § 56 Rdn 294; Hellwig (pn.9) 181. 450 Ebenso im Ergebnis Schiedermair (pn. 1) 350 f. 451 So folgerichtig BGH NJW 82, 2449 f. mwN; Behre(Fn. 5)50 f.; R I Schwab, § 160 II 3. 452 Vgl. Schoetensack (Fn.4) 274: Wende sich die Wiederaufnahme gegen Urteile im Eheprozeß, spiele sich zwar das iudicium rescissorium, das iudicium rescidens aber nicht in den Formen dieser besonderen Prozeßart ab. Ebenso Bülow MDR 56, 223 (224); BI L I Hartmann, § 590 1 B bis zur 23. Auflage; OLG Celle MDR 53, 6; neuerdings OLG Köln FamRZ 78, 359 (360); Gilles, Umfang, 96; unentschieden dagegen in ZZP 80, 391 (408). 453 Vgl. OLG Hamburg.JW 35, 3055; KG JW 37, 1425; OLG Celle MDR 53, 304 (306); OLG Braunschweig Rpfleger 56, 43; OLG Stuttgart FamRZ 80, 379; BGH NJW 55, 1879; 65, 1274 (1275); 82, 2449 f.; BI L I Hartmann, § 590 1 B; R I Schwab, § 160 n 2, Jauernig FamRZ 61, 98 (100); Oberndörfer, Rückwirkung, 47; Behre (Fn. 5) 53 f. 454 Treffend Behre (Fn. 5) 54.

72

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

§ 61 Zur Bestätigung der Klagenatur der Wiederaufnahme wird geltendgemacht, sie unterliege den allgemeinen Klagezulässigkeitsbedingungen 456 • Doch ausgerechnet die Erprobung der Wiederaufnahme an den üblichen Prozeßvoraussetzungen ergibt, daß sich ihre Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht mit denen einer Klage, sondern gerade eines Rechtsmittels decken. So ist es in bezug auf die die Parteien betreffenden Voraussetzungen nachgerade unbestritten, daß die Nichtigkeitsklage gestützt auf mangelnde Prozeß- oder Parteifähigkeit 457 im Vorprozeß nicht wegen Fehlens derselben verworfen werden kann 458 • Auch hinsichtlich der den Streitgegenstand tangierenden Prozeßbedingungen tritt eine abweichende Behandlung des Rechtsschutzbedürfnisses zutage; denn während bei den Gestaltungsklagen zu einer besonderen Prüfung desselben nicht kommt 459 , setzt die Wiederaufnahmezulässigkeit das Vorliegen der rechtsmittelspezifischen Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses 460 , also einer Beschwer voraus 461 • Irrelevant sind schließlich die das Gericht angehenden Zulässigkeitsschranken der örtlichen, sachlichen und funktionalen 462 Zuständigkeit; die Kompetenz ist durch § 584 bestimmt worden 463 •

§ 62 Nicht unerwähnt sollte auch § 578 II bleiben, der für den Fall der Konkurrenz von Nichtigkeits- und Restitutionsklage 464 die Aussetzung der Ver455 An diesem Ergebnis ändert die Nichtanwendbarkeit der Regeln des Urkundenprozesses (insoweit ganz hM: SI J I Grunsky, § 585 5; Z I Schneider, § 585 n 11; Bülow (Fn.452) 224; Fürst JW 30, 2996; OLG Köln JW 30, 2996; BGH NJW 55, 1879] allerdings nichts. Die im Urkundenprozeß geltende Beweismittelbeschränkung steht mit dem das iudicium rescidens beherrschende Amtsprinzip im Widerspruch. Die Gründe also der Nichtanwendbarkeit sind unabhängig von der Frage der Wiederaufnahmeklagenatur, da es sich nur um die Realisierung einer der Regelung des Urkundenprozesses immanenten Schranke handelt {ebenso Behre (Fn. 5) 52 f.]. 456 BGH LM § 580 7b Nr 4; Schoetensack (Fn. 4) 272; Gilles (Fn. 32) 116 f.; Nikisch, § 130 m 1; Schönke I Schröder, § 91 V 1; B /L I Hartmann, § 589 1; S /J I Grunsky, vor § 578 m1. 457 In analoger Anwendung des § 579 I Nr.4; vgl. BGH NJW 59, 291 (292); OLG Koblenz NJW 77,55 (57); Leipold ZZP 81, 69 (70); ZI Schneider, § 579 n 4 d. 458 Einhellige Meinung: RGZ 118, 109 (112); BGH NJW 79, 427 (428); BGH LM § 579 Nr 5 mit Anm. Johannsen; Blomeyer, § 30 m 2,3; Jauernig, § 20 IV 2e. Streitig ist nur, ob die Klage aus § 579 I Nr 4 auch dem Gegner des Prozeßunfähigen zusteht; vgl. dazu einerseits R I Schwab, § 161 I 16; OLG Schleswig NJW 59, 200 und andererseits BGHZ 63, 78 (79 f.). 459 Für alle Grunsky, § 39 m. 460 So RGZ 160, 204(213); Schönke (Fn. 374) 52; Baur, FS-Lent, 6. 461 Für alle Wieczorek, § 578 CIIa. 462 Daß die Bewertung der Wiederaufnahme als Klage mit einer oberinstanzlichen Kompetenz unvereinbar ist, erkennen auch die Motive an (Hahn, 382), die das System anderer Gesetzgebungen erwähnen, welche die unbedingte Verweisung der Klage in die erste Instanz anordnen. Dazu vgl. insbesondere v. Kries (Fn. 2) 9, 490. 463 Eingehend zur Behandlung der Prozeßvoraussetzungen im Wiederaufnahmeverfahren vgl. Behre (Fn. 5) 55 f. 464 Seit gut einem Jahrhundert lebt das Wiederaufnahmerecht mit dieser zweispurigen Verfahrensemeuerung, eine Lösung, die sich ausweislich der Motive (Hahn, 378) auf

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

73

handlung und Entscheidung über die Restitution bis zur rechtskräftigen Aburteilung der Nichtigkeit vorsieht. Bereits deshalb ist dies eine mit der Klagenatur kollidierende Regelung 465 , weil bei mehrfacher Rechtshängigkeit im allgemeinen Verfahren keine Aussetzung nach § 148, sondern eine Prozeßabweisung der zuletzt anhängig gewordenen Klage nach § 261 III 1 erfolgt. § 578 11 korrespondiert dagegen mit der Behandlung einer wiederholten Rechtsmitteleinlegung wegen etwa bestehender Bedenken gegen die Ordnungsmäßigkeit des ersten Rechtsmittels 466 ; hier wäre das eine Rechtsmittel entsprechend § 148 auszusetzen 467 oder aber von einer aufschiebend bedingten Wirksamkeit bzw. auflösend bedingten Wirkungslosigkeit der zweiten Einlegung auszugehen 468 , auf jeden Fall muß die Entscheidung über die Zulässigkeit des zweiten Rechtsmittels solange ausgesetzt werden, bis über die Zulässigkeit des ersten entschieden worden ist 469 • § 63 Endlich enthält die Bezeichnung des Wiederaufnahmeantrags als "Klage" keinen ausreichenden Anhaltspunkt dafür, daß es sich um eine Klage i. S. des § 253 handelt. Bereits aus dem unterschiedlichen notwendigen Inhalt beider Parteihandlungen (§§ 587, 253 11) ergibt sich, daß sie andersartige Funktionen erfüllen 470. Der zwingende Inhalt der Wiederaufnahmeschrift gleicht dagegen den Unterschied zwischen sententia nulla und sententia iniqua bezieht und welche die dem gemeinen Prozeß bekannten querela nullitatis insanabilis und in integrum restitio zum Vorbild hat [vgl. hierzu aus dem älteren Schrifttum besonders Wilmowsky / Levy, vor § 541; Struckmann / Koch, vor § 578 1; Gaupp / Stein, Vorb. I § 578; Siebenhaar, vor § 541; Reincke, vor § 578 1. Siehe auch oben zu Fn. 358]. Im gleichen Augenblick jedoch, in dem das überkommene Nichtigkeits- durch das Anfechtungsprinzip abgelöst wurde [vgl. dazu grundlegend Rimmelspacher (Fn. 374) 82 f mwN] ging der Sinn jener Zweiteilung der Wiederaufnahmetatbestände verloren [so schon Schwalbach AcP 63, 122 f.; v. Kries (Fn. 2) 466 f.; Hellwig (Fn. 9) 556]. An sich läge es nahe, Nichtigkeitsund Restitutionsfälle als gleichwertige Anfechtungsgründe eines innerlich einheitlichen Instituts gemeinsam abzuhandeln und die trennenden Begriffe der Nichtigkeits- und Restitutionsklage als dem Verständnis der Sache nicht mehr dienlich, ja irreführend aufzugeben, genauso wie andere neue Prozeßordnungen verfahren haben [so etwa die griechische (§§ 538 f, 544),japanische(§ 420), ostdeutsche (§ 163),jugoslawische ZPO (§ 361)]. Hingewiesen sei noch darauf, daß Gauls Wiederaufnahmetheorie, welche die Restitutions- und Nichtigkeitstatbestände auf verschiedene Prinzipien zurückgeführt hat [siehe zum sog. ,,Restitutionsprinzip der Beweissicherheit" Grundlagen, 66 f., 83 f., 210 f., 216 f.; zum ,,Nichtigkeitsprinzip" FS-Kralik, 157 f.], neuerdings Braun in meisterhaften Ausführungen überzeugend widerlegt hat [vgl. Restitution I, 247 f.; Restitution 11, 120 f., 223 f.; ZZP 97, 71 f. Vorbehalte sind lediglich insoweit anzumelden, als Braun, Restitution 11, 241 f., 293 f. die Urkundenrestituton nach § 580 Nr. 7b auf Urteile mit Dauerfolgen, wie z. B. auf Unterhaltsurteile beschränken will]. 465 Vgl. bereits Behre (Fn. 5) 46 f.; auch R / Schwab, § 16011 3. 466 So nämlich Reinberger JR 25, 569 (573). 467 Dazu Kion (Fn. 1) 127 f.; Baumgärtei, Prozeßhandlung, 131 f.; Klamaris (Fn. 36) 252f. mwN. 468 So RGZ 102,364 (365); 120,243 (247); BGH NJW 57, 990; 68,49 (50); BGHZ 24, 179 (180); BAGE I, 82 (84). 469 Vgl. Z / Schneider, § 518 I 3; B / L / Albers, § 518 1 C. 470 So schon Behre (Fn. 5) 34; R / Schwab, § 160 11 3.

74

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

völlig dem eines Rechtsmittels (§§ 587, 518 11, 553 I). Erkennt man zudem eine Wiederaufnahme in gewissem Umfang gegen Beschlüsse an 471, so kommt auch noch überhaupt kein Klage- sondern ein Beschlußverfahren zur Anwendung 472. So bleibt als Argument lediglich eine "leere äußere Form"473 übrig und diese auch nur für den Regelfall. Noch weniger besagt, daß sich die Wiederaufnahme grundsätzlich nach den allgemeinen Vorschriften richtet (§ 585)474; genauso ist es auch bei den Rechtsmitteln (§§ 523, 557), geschweige denn daß die Regelung der Prozeßvollmacht in § 81 kaum einen Zweifel an der Identität des Rechtsstreites läßt 475 . § 64 Daß es zu solchen Diskrepanzen zwischen einer als Klage qualifizierten Wiederaufnahme und einzelnen Verfahrenseinrichtungen käme, war vielleicht von vornherein voraussehbar 476; denn wenn die formelle Rechtskraft noch keine unumstößliche Bestandssicherung des Angriffsobjekts bedeutet, so kann die durch sie innerhalb des Erkenntnisverfahrens bewirkte Zäsur auch nicht das Gewicht haben, den Prozeß in zwei völlig autonome Subprozesse zu zerlegen 477. Vielmehr spricht gerade der Mangel der Endgültigkeit des rechtskräftigen Urteils in besonderem Maße dafür, daß das Verhältnis vom Erst- und Wiederaufnahmeprozeß kein anderes als das zwischen angefochtenem und mit Berufung und Revision eingeleitetem Verfahren sein kann 478 . Nach einer prägnanten Formulierung handelt es sich bei der Wiederaufnahmeklage lediglich "um eine gesetzestechnische Einkleidung des gesetzgeberischen Willens, einem sonst den Rechtsmitteln gleichstehenden Rechtsbehelf den Suspensiveffekt zu nehmen"479. Ist aber auch die Wiederaufnahme ein funktionell unselbständiges Anhängsel des einheitlichen Prozesses, genauso wie es die Rechtsmittel angeblich sind? Man kann es kaum glauben, daß zu diesem .. späten" Rechtsmittelverständnis der Suspensiveffekt allen Anstoß gab.

471 Vgl. RGZ 61, 139 (144);BGHZ 61, 95 (100); OLG Karlsruhe NJW 65, 1023 (1024); Blomeyer, § 106 11 2; Bruns,§ 56 ReIn 292b; Obernöifer (Fn. 453) 43 f.; B / L / Hartmann, Vorbem § 578 2D. 472 Treffend LG Stuttgart ZZP 69, 178 (179); LG Berlin JR 57, 344; BFH BB 79, 1705 R / Schwab, § 160 m 3. Anders Wieczorek, § 578 D illc; Oberndöifer (Fn.453)

44, die ein Klagverfahren einhalten wollen. 473 So wörtlich Schiedermair (Fn. 1) 331. 474 Besonderen Wert darauf legt anscheinend Schoetensack (Fn. 4) 271. 475 Die Wiederaufnahme wird nämlich dort (§ 81) als eine "den Rechtsstreit betreffende Prozeßhandlung" behandelt. 476 Vgl. hierzu die vergeblichen Bemühungen Schoetensacks (Fn. 4)264 f., 271 f., die Einzelerscheinungen des Wiederaufnahmerechts mit der Klagevorstellung irgendwie in Einklang zu brigen. 477 So schon Schiedermair (Fn. 1) 356; auch Gaul ZZP 74, 49 (80). 478 Vgl. insoweit Planck (Fn. 212) 561; Weismann, Lehrbuch, 456; Balog GrünhZ 34, 140 f. sowie die zu Fn. 425 zitierten. 479 Schlosser (Fn. 36) 114.

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

75

b) Der SuspensivetTekt als Kausalfaktor für die Bewertung der Rechtsmittel als Verfahrensfortsetzungsmittel und die vermeintliche Antinomie "Rechtsmittel-Klage" § 65 Während die Prozeßtheorie der Mitte des 19. Jahrhunderts in einer konsequenten Zusammenschau sämtliche Behelfe, suspensive wie nicht suspensive, ordentliche wie außerordentliche einheitlich erfaßte und im Hinblick auf ihr gemeinsames Prozeßziel samt und sonders als "neue Verfahren" um die Richtigkeit und den Fortbestand des Anfechtungsobjekts betrachtete 480, schlich sich zum Ende der gemeinrechtlichen Epoche die uneingestandene Vorstellung ein, die ordentlichen Rechtsmittel suspendierten "das untergerichtliche Urtheil gleichsam als solches" und hinderten "den noch in statu nascendi befindlichen Akt an seiner Entstehung"481, weswegen sie nicht "die Bedeutung rescidierenden Rechtshülfen" hätten 482 und folglich keinen ,,neuen Rechtsstreit", sondern lediglich einen "integrierenden Abschnitt eines einheitlichen Processes"483 bildeten, im Gegensatz zu den nicht suspensiven, die "als Anjangspuncte einer neuen Verfahrenseinheit"484 erschienen. Nimmt man nun hinzu die Aussage der Motive, daß ein noch anfechtbares "Urtheil ohne unnatürliche Fiktion noch gar nicht als definitive Entscheidung" anzusehen sei 485, so leuchtet es ein, weshalb die Gesetzesverfasser in den Rechtsmitteln eine unselbständige Fortsetzung des Eingangsverfahrens mit dem Ziel sahen, die definitive Entscheidung überhaupt erst noch zu treffen. Alsdann wurden die Akzente massiv auf eine Identifizierung des Suspensiveffekts mit dem Aufschub der Prozeßbeendigung gesetzt 486. Daraus ergab sich die Abwertung des Anfechtungsobjekts als ein erster "unverbindlicher Versuch"487 einer noch zu fallenden Entscheidung, der als "selbständige Erkenntnis noch gar keinen Wert"488 habe und "im Prinzip noch gar nicht wirksam"489 sei, also ein "vorläufiges"49O Urteil, ein schlichtes "Gutachten"491, das deshalb auch keiner ,,konstitutiven" Beseitigung bedarf 492. So ist es denn gekommen, daß nicht in der Aufhebung,

480 Nachweise oben zu Fn. 356 f. 481 Vgl. WetzeIl (Fn. 15) 731. 482 WetzeIl Fn. 15) 664. 483 Endemann (Fn. 191) 887. 484 WetzeIl (Fn. 15) 670. 485 Hahn, 425; siehe auch S. 430. 486 Vgl. insbesondere Schoetensack (Fn. 4) 260 f., 280 f.; Schultzenstein (Fn. 427) 30; Hinschius (Fn. 38) 7 f. Aus neuer Zeit J. Blomeyer (Fn. 12) 21 f.; Pfeifer (Fn.4) 34 f., 93 f.; Nikisch, § 117 I 2; R I Schwab, § 135 I 1 a. 487 So etwa Kisch (Fn. 4) 161, 181; Ratte (Fn. 7) 71; Lorenz (Fn. 125) 172. 488 Kisch (Fn.4) 161, 181; BI L I Hartmann, § 717 2 A. 489 Schmidt, ZPR, 764; Schwab (Fn. 1) 213. 490 Habscheid (Fn. 2) 636; Pfeifer (Fn. 4) 95. 491 Baumbach DJZ 25, 1615 (1618); v. Salis, Suspensiveffekt, 9. 492 Bettermann (Fn.5) 369; Ratte (Fn.7) 48, 67, 73; Pfeifer (Fn.4) 36, 39; Kunz (Fn. 286) 259; Wurzer, Nichturteil und nichtiges Urteil (1927) 112; Kisch (Fn. 4) 161, 181; Bötticher (Fn. 275) 268. Sie sprechen der "aufhebenden" (§ 564 I) oder "abändem-

76

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

sondern in der Ersetzung, in der "sententia de novo" sich "die Natur eines wahren Rechtsmittels"493 zeige, das sich funktionell nicht vom Eingangsprozeß unterscheide. Und schließlich ist der Suspensiveffekt daran schuld, daß die Gegenüberstellung von Wiederaufnahme- und Rechtsmittelverfahren der angeblichen Antithese vom wirksamen zum unwirksamen Akt, Kassation hin Kassation her, 494 Prozeßbeendigung dort Prozeßneubeginn hier, folgt 494 •. § 66 Daß Suspensiveffekt und Prozeßfortführung in begriffliche Abhängigkeit zueinander gebracht wurden, ist vermutlich auf die mißglückte inhaltliche Bestimmung der Suspension zurückzuführen. Für den Gesetzgeber stand in § 705 fraglos die formelle Rechtskraft in Frage 495 , und so faßt man noch heute den Suspensiveffekt als die Hemmung des Eintritts der formellen Rechtskraft auf 496. Diese ist bekanntlich eine Urteilseigenschaft 497, die einen bestimmten Grad der Unangreifbarkeit des Erkenntnisses determiniert, welches von der ordentlichen Anfechtbarkeit zwar gesichert ist, die Grenze jedoch einer absoluten Bestandssicherheit noch nicht erreicht hat 498 . Läßt sich aber die formelle Rechtskraft als beschränkte Unanfechtbarkeit definieren, so kann ein in jenem Sinne begriffener Suspensiveffekt kein besonderer Effekt der Rechtsmittel sein; denn damit wird nicht mehr gesagt, als daß Rechtsmittel Behelfe seien, um Urteile anzufechten, die durch Rechtsmittel noch anfechtbar sind. Mit Recht wird also gelegentlich diese Begriffsbestimmung als "bloße Tautologie" und "inhaltsleere Begriffsspielerei" angeprangert 499 . Demgegenüber erlangt die Suspension erst dann einen vernünftigen Inhalt, wenn man darunter den Aufschub jener Urteilswirkungen versteht, die gerade vom Eintritt der formellen Rechtskraft abhängen 500. Doch

den" (§ 536) Rechtsmittelentscheidung jede gestaldende Kraft ab; insoweit anders die hA, siehe oben zu Fn. 44. 493 Baur (Fn. 36) 366; BI L I Hartmann, § 563 1 B. 494 Siehe auch unten zu Fn. 152. 494. Statt aller Pfeifer (Fn. 4) 36, 95 f. 495 Siehe Hahn, 425 und oben zu Fn. 354. 496 Vgl. exemplarisch Bruns, § 52 Rdn. 263; Jauernig, § 72 I; Arens, § 34 Rdn. 380; Z I Schneider, vor § 511 I; TI Putzo, Vorb. 11 vor § 511; Kummer (Fn. 143) 196 Schwab (Fn. 1) 209; Blomeyer, § 95 I; Grunsky, § 47 I. 497 Vgl. Bötticher, Beiträge, 30 f.; Jauernig (Fn. 266) 104; Nikisch, § 103 12. Anders Henckel (Fn. 391) 89: Keine Eigenschaft, sondern Wirkung. 498 Vgl. Tiedemann z:zP 93,23 (30); Schiedermair JuS 62, 212 (215); v. SaUs Suspensiveffekt, 6; Schlosser, § 8 Rdn 247. 499 v. Kries (Fn. 2) 5; Gilles (Fn.32) 160; ders. (Fn.34) 151, 152; Weitzel (Fn. 58) 362; ders. (Fn. 60) 286 N 86; Klamaris (Fn. 36) 83; v. SaUs (Fn. 498) 7 f., 79 f.; tendenziell auch Schlosser, § 13 Rdn 410. 500 So Planck (Fn. 212) 474 f.; Klamaris (Fn. 36) 81 f.; v. SaUs (Fn. 498) 3, 10 Fn. 3, 78,94. Gilles (Fn. 32) 158 f. Der rechte Standort der so interpretierten Norm des § 705 wäre dann allerdings im Anschluß an § 322, der bestimmt, welche Urteile in welchem Umfang der materiellen Rechtskraft fähig sind; siehe hierzu Hellwig (Fn. 9) 764 Fn. 4. Vgl. in diesem Zusammenhang die viel deutlichere Normierung der österreichischen ZPO, die zunächst in § 411 regelt, inwieweit "durch Rechtsmittel nicht mehr anfechtbare Urteile der (materiellen) Rechtskraft teilhaft" sind, und dann innerhalb der Rechtsmittel-

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

77

die Gründe dieser Hinausschiebung haben weder mit der Natur des Anfechtungsprozesses noch mit der rechtlichen Existenz des Anfechtungsobjekts etwas zu tun. § 67 Bereits die Stellung 501 des § 705 innerhalb der Vollstreckungsnormen veranschaulicht den ihm zugedachten Sinn. Offenbar ging der Gesetzgeber davon aus, daß die Zwangsvollstreckung als besonders harter Eingriff in das Vermögen des Schuldners nur schwer zu ersetzende Nachteile mit sich bringt und daher solange gehemmt werden soll, wie die Gefahr einer Titelbeseitigung relativ hoch ist. Im Interesse des Gläubigers an einer raschen Realisierung des Leistungsbefehls sah er andererseits nicht nur davon ab, daß auch rechtskräftige Urteile zusammenbrechen können und ließ die Vollstreckung nicht erst im Anschluß an die letzte Urteilsgültigkeit zu, sondern erklärte sie "in wenigen AusnahmefaIlen"502 schon mit ihrer Verlautbarung für zulässig. Hierzu zählten vor allem Urteile, deren Grundlage so verfestigt war (z. B. Anerkenntnisurteile, § 648 Z. 1 aF), daß ihre nachträgliche Vernichtung kaum realistisch erschien, oder Urteile, aus denen sich ein höher zu bewertendes Befriedigungsinteresse des Gläubigers ergeben konnte (z. B. Unterhaltsurteile). Gesichtspunkte der Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit waren somit dafür entscheidend, in welchem Verfahrens stadium die erreichte Urteilsbestandskraft vollstreckungsrelevant sein sollte. Indem aber heute der Anwendungsbereich des § 705 sehr begrenzt ist 503 , behält der Suspensionszustand seine eigentliche Bedeutung für Gestaltungs- und Feststellungsurteile. Wieder Zweckmäßigkeitserwägungen sprechen dafür, den Eintritt der Gestaltungswirkung aufzuschieben, um der Eventualität einer mehrfachen Um- und Rückgestaltung der Rechtslage möglichst vorzubeugen 504, und ausnahmsweise die Suspension zu versagen, falls ein schutzwürdiges Interesse der unmittelbaren Rechtsänderung bedarf505 . Ebenfalls wäre es der Rechtssicherheit abträglich, die der Verhütung von Entscheidungskollisionen dienende materielle Rechtskraft bereits mit dem Entscheidungserlaß eintreten zu lassen 506. In bezug auf die

normen (§§ 466 I, 505 III) anordnet, daß durch die rechtzeitige Rechtsrnitteleinlegung der Eintritt der (materiellen) Rechtskraft und Vollstreckbarkeit gehemmt wird. Ebenso die Regelung der griechischen (§§ 321- 506,521) und ähnlich derfranzösischen (§§ 539, 579) ZPO. 501 Zur sog. äußeren Gesetzessystematik siehe oben die zu Fn. 265 zitierten. 502 Hahn, 421, 425. 503 Mit Ausnahme von Urteilen in Ehe- und Kindschaftssachen (§ 704 11) sind nach der Novelle 1924 alle Leistungsurteile für vorläufig vollstreckbar zu erklären; für alle vgl. Furtner NJW 62, 1900 (1901). 504 So Gilles (Fn. 32) 168; v. SaUs (Fn.498) 32. 505 Das Interesse eines Geisteskranken verlangt beispielsweise die unmittelbare Änderung seines rechtlichen Status; daher ist der Aufschub der Gestaltungswirkung der Entmündigung nach § 661 I versagt worden. Zum Thema einer "vorläufigen Vollstreckbarkeit von Gestaltungsurteilen" vgl. Schlosser (Fn. 36) 242 f. 506 So Gilles (Fn. 32) 166 f.; v. SaUs (Fn. 498) 32. Gleichwohl zeigt uns das vergleichende Recht etliche Abweichungen. Die autorite de la chose jugee tritt nach französischem Recht sogleich mit Urteilserlaß ein und ist von einer Unanfechtbarkeit nicht

78

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

materielle Rechtskraft sei besonders hervorgehoben, daß entgegen üblicher Gleichstellung im deutschen Schrifttum S06a die Feststellungswirkung und ihre Unabänderlichkeit zweierlei Sachen sind. Nach zutreffenden Erkenntnissen insbesondere der italienischen Prozessualistik bildet die Maßgeblichkeit einen zusammengesetzten Begriff, welcher in seine Komponenten, nämlich die Feststellungswirkung und ihre Unabänderlichkeit aufzulösen gilt. S06b. Schon bevor es rechtskräftig wird, besitzt das Urteil die Feststellungswirkung. s06c Weder die formelle noch die materielle Rechtskraft beeinträchtigen die Feststellungswirkung, die vom Moment an, in welchem der Entscheidungsakt perfekt ist, ihre Wirksamkeit erlangt; wenn sich folglich die Rechtskraft entfaltet, gewinnt diese Wirksamkeit eine bis dahin noch nicht besessene Kraft und wird unanfechtbar und unwiderruflich. Gerade jene Feststellungswirkung "in ihrem natürlichen Zustand, vor und unabhängig von ihrem Übergang in die Rechtskraft, ist die Wirkung, welche neben den anderen möglichen Urteilswirkungen der Vollstreckbarkeit und Gestaltungswirkung eingestuft werden kann". S06d § 68 Zweifelsohne erfahrt ein Urteil von seinem Erlaß an fortlaufende Sicherungsverdichtungen; je begrenzter die Anfechtungsmöglichkeiten, je ungewöhnlicher die Anfechtungsgründe, desto geringer die Anfechtungschancen des Unterlegenen. Hat die Entscheidung die Eigenschaft der ordentlichen Unangreifbarkeit erlangt und mithin einen relativ hohen Grad an Bestandssicherheit erreicht, wandeln sich die vorerst aufschiebend bedingten Urteilswirkungen in auflösend bedingte um, der Suspensionszustand fmdet ein Ende S07 • Doch dieser von Rechtssiabhängig; vgl. Vincent, Procedure civile (1974) Nr. 77; Perrot, Cours de droit judiciaire prive (1972-3) II 546; auch Martiny, Nichtstreitiges Verfahren in Frankreich (1976) 189. Materielle Rechtskraftwirkung besitzt das Urteil nach amerikanischem Recht, sobald es erlassen ist; sie wird vom Schweben eines Rechtsmittelsverfahrens in keiner Weise berührt. Vgl. Engelmann-Pilger, Die Grenzen der Rechtskraft des Zivilurteils im Recht der Vereinigten Staaten (1974) 32 mwN aufFn. 4,5. Siehe ferner Fenge, FS-Wassermann (1984) 659 Fn. 5. Zum römischen Recht, wonach die Sache schon mit Urteilsverkündung als materiell rechtskräftig abgeurteilt galt, vgl. Kaser (Fn. 66) 396 Fn. 42,43,478 Fn. 17, 202 f. und oben zu Fn. 354. 506. Vgl. etwaSchwab (Fn. 1) 21O;R / Schwab, 15012; Michelakis, FS-Schima 303 f., 305. S06b Vgl. Liebmann, Efficacia ed autorita della sentenza (1935) passim; dens. Ancora sulla sentenza e sulla cosa giudicata, in Rivista di diritto processuale civile (1936) 237 f.; Ferri, Profili dell'accertamento costitutivo (1970) 209 f., 233 f., 235 f.; Proto Pisani, Oppositione di terzo ordinaria (1965) 45 Fn. 75. Heftig dagegen Carnelutti, Bilancio di una polemica, in Rivista di diritto processuale civile (1937) 78 f. S06c So bereits Liebmann ZZP 91, 449 (451 f.). S06d Liebmann (Fn. 506c) 451. S07 Anzumerken ist, daß dem jeweiligen Gesetzgeber letztendlich unbenommen bleibt, zu bestimmen, ob überhaupt und in welchem Prozeßstadium die Urteilswirkungen im Suspensionszustand verharren sollen. So fassen beispielsweise die französische (§ 579) und die griechische (§ 565 I) ZPO die Revision nicht als suspensives Behelf auf, die italienische (§ 324) dagegen mißt auch der Wiederaufnahmeklage wegen eines aus den Akten des Rechtsstreites hervorgehenden Tatsachenirrtums (§ 395 Nr. 4) oder wegen eines in derselben Sache früher rechtskräftig gewordenen Urteils (§ 395 Nr. 5) Suspensionswirkungen bei.

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

79

cherheits- und Zweckmäßigkeitserwägungen diktierte Suspensiveffekt S08 ist ersichtlich weder mit einem Aufschub der Prozeßbeendigung oder einer ihr nahegesetzten Fortsetzung des alten Streites gleichbedeutend, noch läßt er den Rückschluß zu, das Rechtsmittel sei folglich nichts weiter als Mittel zur Fortsetzung des alten Streites bzw. nur "unselbständiges Zubehör"S09 des Eingangsverfahrens. Die Dinge ganz und gar auf den Kopf stellen hieße es ferner, vom Fehlen der Suspension auf einen Prozeßneubeginn bei der Wiederaufnahme schließen und dann Rechtsmittel und Wiederaufnahmeverfahren als funktionsdiverse Institute auseinanderhalten zu wollen 5IO. Auch diese Divergenz ist das Derivat eines mißverstandenen Suspensiveffekts in Form des Aufschubs der formellen Rechtskraft und damit der Verfahrensbeendigung; vom ProzeßzieIS lo • her gesehen sind die Rechtsmittel oder ,,Rechtsmittelklagen"510b ebenso neue, nicht mehr und nicht minder selbständige Verfahren wie die Wiederaufnahmeklagen auch. Um so weniger vermag der Suspensiveffekt den Eigenwert einer jeden Instanz herabzusetzen, ihre Entscheidung als "vorläufigen Versuch"5100 und dergleichen zu diskreditieren; infolgedessen läßt die Lehre vom fehlerhaften Staatsund Gerichtsakt mit ihrer Unterscheidung zwischen wirkungslosen und mangelhaften, gleichwohl aber existenten und wirksamen Urteilen 511 eine Beseitigung der letztgenannten Entscheidungen in ihrem Bestand wie in ihren eingetretenen oder noch in Entstehung begriffenen Wirkungen nur durch einen rechts gestaltenden kassatorischen contrarius actus zu 512. Überhaupt geht es aber nicht an, den

508 Vgl. Gilles (Fn. 32) 173; v. Salis (Fn. 498) 32; insoweit auch Schwab (Fn. 1) 212, der den Suspensiveffekt als ,,Postulat der Rechtssicherheit" bezeichnet und sein Fehlen ,,mit rechts staatlichen Gesichtspunkten" und dem "Wesen der Rechtssicherheit" für unvereinbar hält. 509 So wörtlich RGZ 57,285 f. in vergleichenden Ausführungen zum Wiederaufnahmeprozeß. 5IO Die Pauschalbetrachtung und -behandlung beider Anfechtungsformen unter Stichwörtern wie "ordentliche - außerordentliche Rechtsmittel", "Rechtsmittel in Klageform ", "Rechtsmittelklagen "und dergleichen [siehe oben die zu Fn. 425 zitierten] verhilft dazu, die Wiederaufnahme wieder in den Kreis der Rechtsmittel formell wie materiell aufzunehmen. 510. Siehe unten zu § 70. 510b Zu dieser früher üblichen Terminologie vgl. etwa Planck (Fn. 212) 429, 507, 561 (,,Berufungsklage", ,,Revisionsklage"); Wach (Fn. 24) 249. 5100 Siehe oben zu Fn. 487 f. 511 Vgl. dazu grundlegend Jauernig (Fn. 266)3 f.; auch Lent ZZP 61, 279 (287 f.). 512 Immerhin wird heute die kassatorische Rechtsmittelentscheidung überwiegend akzeptiert (siehe oben zu Fn.44), im Hinblick auf das Verfahrensfortsetzungsmodell allerdings inkonsequent( so wenigstens folgerichtig die zu Fn. 492 zitierten). Gerade in diesem Punkt zeigen sich deshalb besonders eklatante Widersprüche; siehe etwa Bettermann (Fn. 5) 369 f. gegenüber DVBI61, 65 und Bötticher, Beiträge 6 f. gegenüber AcP 158, 262 (268). Die kassatorische Urteilswirkung im Wiederaufnahmeprozeß wurde hingegen nie in Zweifel gezogen; vgl. etwa SI J I Grunsky, vor § 578 n 2. Abweichend nur Schoetensack (Fn.4) 278 f., der davon ausgeht, die sententia rescidens bewirke lediglich eine "Suspension des Urteils"; das "Endziel der Wiederaufnahmeklage" werde dagegen "erst mit der Rechtskraft der Klage stattgebenden sententia rescissoria erreicht".

80

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

rechtverstandenen Suspensiveffekt der Rechtsmittel zu bejahen, den konstitutiven Charakter der aufhebenden Rechtsmittelentscheidung dennoch zu verneinen; denn die Wirkungen des noch nicht formell rechtskräftigen Urteils sind ja gerade mit Rücksicht auf dessen eventuelle Kassation suspendiert 513. Von daher und ebenso wie man den Verfahrensablauf der Wiederaufnahme als zweiaktig 513 • auffaßt, zerfällt auch der Rechtsmittelprozeß in eine rescindierende und rescissorisehe Phase. § 68a Noch ein letzter Punkt sei lediglich angesprochen. Auf die irrige begriffliche Verklammerung des Suspensiveffekts mit der Hinausschiebung der Prozeßbeendigung baut womöglich die einstimmige Ansicht auf, die Rechtshängigkeit dauere bis zur Prozeßbeendigung, d. h. - von sonstigen Beendigungsmöglichkeiten abgesehen, wie durch Vergleich, Klagerücknahme usw. - bis zur Urteilsrechtskraft513b. Man weist gewöhnlich hierfür auf die parallele Aufgabenstellung der Rechtshängigkeit und materiellen Rechtskraft hin, sowie deren zeitliches Aufeinanderfolgen, widersprechenden Entscheidungen in ein und derselben Sache vorzubeugen, und zwar die Rechtshängigkeit für die Dauer eines Rechtsstreites, die Rechtskraft für die Zeit nach dessen Abschluß513c. Auch die ZPO tendiert in §§ 66 11, 269 III, ohne den Schlußpunkt der Rechtshängigkeit

513 Folgerichtig spricht Gilles (pn.34) 142 f. N 50 vom "inneren Zusammenhang zwischen der Wirksamkeit des Anfechtungsobjekts, der Suspension und der konstitutiven Aufhebung", der darin bestehe, daß "gerade der Suspensiveffekt die prinzipielle Wirksamkeit der anfechtbaren Entscheidung und ihre mögliche spätere konstitutive Vernichtung gedanklich voraussetzt". 513. Die Ablösung der überkommenen Zweiteilung (Hahn, 385) und die Aufspaltung des iudicium rescidens in zwei weitere Abschnitte war solange einleuchtend, wie die Frage nach der Zulässigkeit der Klage dem Amtsprinzip, die nach dem Vorliegen eines Wiederaufnahmegrundes dagegen der Parteidisposition unterstellt war. Über den Wiederaufnahmegrund durften die Parteien verfügen (vgl. Hahn, 381; Bunsen, Lehrbuch, 466 f.), er mußte also nur dann nachgewiesen werden, wenn er bestritten war (vgl. Freudenthai, § 589 5), er konnte anerkannt oder zugestanden werden und bei Säumnis des Beklgten galt als zugestanden (Fitting, Reichcivilprozeß 4. Aufl., 305; Schmidt, ZPR, 813). An sich ergab sich dies alles daraus, daß die Rechtskraft damals nicht von Amtswegen, sondern nur auf Einrede hin zu beachten war (zur diesbezüglichen Diskussion vgl. Bülow AcP 83, 1 f.). Als sich jedoch die entgegengesetzte Ansicht durchsetzte (heute einhellige Meinung, für alle Grunsky, § 34 11 2) und damit das gesamte iudicium rescidens der Offizialprüfung unterstellt wurde [für alle Johannsen (pn.430) 93 f.], bemerkte man konsequenterweise, daß die Verteilung von Grund und Zulässigkeit auf verschiedene Verfahrensabschnitte nicht mehr stichhaltig ist, indem der Grund prozessual gleich wie die Zulässigkeitsvoraussetzungen zu behandeln sei [so erstmals Förster / Kann, vor § 578 3; jetzt auch Braun (Fn. 196) 115 f.]. Solche Hinweise fruchteten aber wenig; die Lehre von der Dreiteilung hielt sich auch unter der neuen Auffassung, nach der sie an sich überholt war, und die vielfältige Wiederholung immer derselben Behauptung führte schließlich dazu, daß man die Dreiteilung wie ein unantastbares Dogma auch heute noch nahezu fraglos akzeptiert [vgl. exemplarisch BGHZ 2,245 (247); Gilles, Umfang, 10]. Von einer Zweiteilung gehen wie hier aus Wieczorek, § 578 BIIc; Blomeyer, § 106 I 3; Braun ZZP 97, 71 (78). 513b Vgl. für alle Blomeyer, § 45 I 2; R / Schwab, § 101 11 2. 513c Vgl. etwa Habscheid, FS-Fragistas I, 540; Bötticher (Fn 497) 223, 237 f.; Mittenzwei, Aussetzung, 66 f., 72.

A. Äquivalenz von Rechtsmitteln und Wiederaufnahmeklagen

81

ausdrücklich zu bestimmen, wohl dahin, die Streitsache auch nach Urteilserlaß und vor Rechtsmitteleinlegung weiterhin als "anhängig" anzusehen. Im Gegensatz dazu geben moderne Verfahrensordnungen den Ausschlag für eine differenzierte Handhabung der zeitlichen Rechtshängigkeitsgrenze: Daß nicht die Urteilsrechtskraft, sondern bereits die Urteilsverkündung in der Vorinstanz die Rechtshängigkeit beendet, entspricht etwa der festen Überzeugung der griechischen Prozessualistik 514; streitig ist nur, wie der Gefahr einer Entscheidungskollision für den Zeitraum zwischen Urteilserlaß und formellem Rechtskrafteintritt bzw. Rechtsmitteleinlegung begegnet werden soll. Da die Verknüpfung des Eintritts der formellen und materiellen Rechtskraft keineswegs begriffsnotwendig ist 514 ., so daß die Rechtshängigkeit nach Urteilserlaß mitunter als "vorverlagerte Rechtskraft" bezeichnet wird 514b, gehen manche davon aus, die materielle Rechtskraft trete in ihrer Funktionsweise als (un-)widerlegliche Fiktion oder Vermutung der Urteilsrichtigkeit und -rechtmäßigkeit zwar mit der formellen Rechtskraft ein, als negative Prozeßvoraussetzung jedoch mit der Urteilsverkündung in der Vorinstanz zum Vorschein 514c. Nach anderer Auffassung entfalte das nicht rechtskräftige Endurteil keine bloße innerprozessuale, sondern eine weitergehende Bindungswirkung, die sowohl das erkennende wie jedes andere Gericht daran hindere, eine diesem Urteil widersprechende Entscheidung zu treffen 514d. All diese Ansichten beruhen offenbar auf der bewußten Aufwertung des Verfahrens und Urteils erster Instanz, auf die Erkenntnis, daß die als Verfahrensziel angesehene materielle Rechtskraft nicht anders als die Wirksamkeit eines einmal erlassenen Urteils schlechthin ihre Legitimation schon aus derjenigen Rechtmäßigkeitsgewähr erfährt, welche der eigenständige Vorprozeß bietet, und schlagen somit neue Perspektiven für die Verfahrenslehre überhaupt ein. Wege zur Ersetzung der präventiven Schutzfunktion einer ,,Rechtshängigkeit nach Urteilserlaß" lassen sich sicherlich finden; hier soll lediglich daran festgehalten werden, daß eine Theorie, welche den Prozeß nicht als eine zwischen Klageerhebung und formeller Rechtskraft beschlossene Einheit auffaßt, die funktionelle Eigenständigkeit jedes Rechtszuges in den Vordergrund stellt und dementsprechend dem Urteil des Erstprozesses eine die Hauptsache beendende Wirkung beilegt, die Streitsache nicht mehr als rechtshängig zu behandeln vermag, wenn sie bereits rechtskraftfähig entschieden ist.

Statt aller Rammos, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts I (1978) § 177 ill. Vgl. etwa Peetz, Die materiellrechtliche Einordnung der Rechtsfolge und die materielle Rechtskraft der Sachentscheidung im Zivilprozeß (1976) 18; Gilles (Fn. 32) 167 sowie die zu Fn. 506 rechtsvergleichenden Anmerkungen. 514b So Gilles(Fn. 32) 175 Fn.61. 514c Panagopoulos, Die Bindungswirkung des gerichtlichen Endurteils (1989) 123 f., 129 f., 137, 139. 514d Beys, Beiträge zum Prozeßrecht I, 267; Delikostopoulos / Sinaniotis, ZPO, § 309 12; Botsaris, Die Klagerücknahme (1986) 177. 514

514.

6 Kolotouros

82

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens a) Kassatorisches Rechtsmittelverfahren und kassatorischer Rechtsmittelgegenstand § 69 Seit v. Kries anläßlich der vom Gesetzgeber propagierten institutionellen Anfechtungszwecksetzung das Rechtsmittel "in seinem processualen Bedeutung einem Schriftsatz" gleichsetzte,,, mit weIchem eine Partei die andere zur mündlichen Verhandlung ladet, wenn das Verfahren unterbrochen war oder geruht hat"515, werden die Rechtsmittel als "unmittelbar das Verfahren gestaltende Parteihandlungen im Sinne schlichter Prozeßanträge"516 verstanden. Was indessen die Finalität dieser Parteihandlungen anlangt, liest man allenthalben diametrale Aussagen. Der Rechtsmittelantrag, führt Blomeyer aus, erstrebe mit der Aufhebung ein prozessuales Gestaltungsurteil und mit der Sachentscheidung eine bessere Entscheidung über den vorinstanzlichen Gegenstand 517. Ein iudicium rescidens und ein iudicium rescissorium seien die Rechtsmittel letztendlich, meint Schwab 518 . Unrichtig sei es, räumt Schlosser ein, den Gedanken der Gestaltung aus dem ordentlichen Rechtsmittelverfahren zu verbannen; denn auch die Rechtsmittel bezweckten mit der Aufhebung des vorinstanzlichen Aktes eine prozessuale Gestaltung 5l9• Ebenfalls unzweideutig tritt die Zielrichtung im Gesetz zum Vorschein 520; Rechtsmittel fmden "gegen" Gerichtsentscheidungen statt (§§ 511, 545,567), die "beschwerend" wirken (§ 575), mit dem Ziel, sie "abzuändun" (§ 536), dh "aufzuheben" und damit eine neue Aburteilung der "Sache" zu ermöglichen (§ 565). Das kassatorische Rechtsmittelziel, und zwar als "nächstes" 521 Prozeßziel springt sofort überall ins Auge.

§ 70 Nun weiß längst die Streitgegenstandslehre, so unversöhnlich die gegenüberstehenden Einzeltheorien sein mögen, daß das erstrebte Prozeßziel bzw: die Zielrichtung des jeweiligen Verfahrens auf den Prozeßgegenstand bestimmend einwirken, daß also Rechtsschutzziel und Rechtsschutzform streitgegenstandskonstituierend in Erscheinung treten 522. Von daher mag der unbefangene Betrach-

515 v. Kries (Fn. 2) 204. Siehe auch S. 169, wo das Rechtsmittel "zum Zwecke einer Tenninbestimmung eingereicht" werde, sowie S. 150, wo die Bedeutung des Rechtsmittel nicht über "einen vorbereitenden Schriftsatz" hinausreiche. 516 So namentlich Schönke I Kuchinke, § 77 12; Fenn, (pn. 2). 132; Habscheid (Fn. 2) 636; Schoetensack (Fn.4) 260. 517 Blomeyer, § 101 11 5. 518 R I Schwab, § 141 11. 519 Schlosser (Fn. 36) 114. 520 Den Gesetzeswortlaut, den Schoetensack (Fn. 4) 260 Fn. 1 und Walsmann (Fn.4) 49 als "inkorrekt" bezeichnen, und von dem Arens (Fn. 40) 475 bemerkt, daß er ,,nicht in jeder Hinsicht mit den Intentionen des Gesetzgebers übereinstimmt", hebt hervor und verwertet besonders Gilles (Fn. 32) 29 f., 72 f. 521 So Planck (Fn. 212) 453; Ritter (Fn. 43) 362; Arens (Fn. 40) 478; Behre (Fn. 5) 34. 522 Vgl. exemplarisch Arens, Streitgegenstand und Rechtskraft 20; Mittenzwei, Die Aussetzung des Prozesses zur Klärung von Vorfragen 46; Rödig (Fn. 375) 184 f., 222 f.;

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

83

ter etwas Anstößiges in der Annahme finden, Rechtsmittel hätten zwar zwei Prozeßziele, aber nur einen Prozeßgegenstand 523 , zumal man dem außerordentlichen Rechtsmitteläquivalent des Wiederaufnahmeverfahrens [seiner Zielrichtung entsprechend 524] neben dem alten Streitgegenstand ein selbständiges, dem Gegenstand einer Gestaltungsklage adäquates Kassationsbegehren zuordnet 52S • Gewiß können derartige Zäsuren nicht länger aus der sie verursachenden 526 Korrelation: wirksamer Akt - konstitutive Aufhebung bzw. unwirksamer Akt - deklarative Beseitigung, und dieser folgenden Differenzierung: Gestaltungsrecht hin - Gestaltungsrecht her legitimiert werden. Ebensowenig lassen sich Indizien gegen die Annahme eines kassatorischen Rechtsmittelgegenstandes aus dem Umstand herleiten, daß Passivsubjekt des Rechtsmittelverfahrens nicht der Staat als Träger der Gerichtsbarkeit, sondern die Gegenpartei ist 527 ; denn selbst bei den sonstigen prozessualen Gestaltungsklagen ist es kaum anders 528 • Aber auch die Parteirollen sind im Rechtsmittelprozeß entgegen Anschein anders als im Eingangsverfahren verteilt 529• Dies zeigt sich in nichts besser als im Falle der Säumnis des Klägers und Rechtsmittelbeklagten; hier bedeutet das Ausbleiben nicht etwa Anspruchsverlust, wie es § 330 für den säumigen Kläger anordnet, sondern vielmehr Geständnisflktionen, wie sie in § 331 für den säumigen Beklagten vorgeschrieben sind 530. Ja, es trifft nicht einmal zu, daß im Rechtsmittelprozeß keine Umkehr R / Schwab, § 96 UI 1; Bruns, § 26 Rdn 139; Schlosser, § 14 Rdn 422; grundlegend und neuerdings Böhm, FS-Kralile, 83 (109 f.). 523 Nachweise oben zu Fn. 5. 524 Daß Rechtsmittel und Wiederaufnahme dasselbe Prozeßziel [Aufhebung + Neuentscheidung] verfolgen, wird erstaunlicherweise von niemandem bestritten; siehe etwa Pfeifer (Fn. 4) 35, 36. 52S Nachweise oben zu Fn. 433. 526 Es sei darauf hingewiesen, daß die unterschiedliche Bewertung von Rechtsmitteln und Wiederaufnahme in bezug auf die Streitgegenstandsfrage auf der Konstitutivität der aufhebenden Entscheidung beruhte, also darauf, daß im Gegensatz zur Wiederaufnahmedie Rechtsmittelentscheidung angeblich nicht rechtsgestaltend, sondern lediglich feststellend wirke [vgl. etwa Pfeifer (Fn.4) 36, 37 Fn. 31, 96, 97; Kisch (Fn.4) 161; Ratte (Fn. 7) 73], und dies deshalb, weil das Anfechtungsobjekt ein provisorisches Gutachten sei, das der Kassation nicht bedürfe. Daß hinter all diesen fortgesetzten Fehleinschätzungen ein gründlich mißverstandener Suspensiveffekt steckt, ist bereits moniert worden (§§ 65 f., 68). 527 Anders Schlosser, § 13 Rdn 372; Ritter (Fn. 43) 362 Fn. 36; Bettermann DVBI 53,203. 528 Erst recht nicht im Wiederaufnahmeprozeß. Stein, Über die bindende Kraft der richterlichen Entscheidungen (1897) 16; Balog, GrünhZ 34,123 (139) und Pfeifer (Fn. 4) 88, 105, begründen die Passivlegitimation der Gegenpartei damit, daß der Beklagte einer prozessualen Gestaltungsklage an der Aufrechterhaltung der bestehenden prozessualen Rechtslage interessiert sei und deshalb der beste Kontradiktor sein werde. 529 Anders Schlosser, § 13 Rdn 373; v. Kries (Fn. 2) 204. Dagegen mit Recht Kellner (Fn. 166) 396. 530 Vom Säurnnisfalle ausgehend erklärte Wach (Fn. 24) 205 f. den "Satz der Einheit und Unteilbarkeit der mündlichen Verhandlung ... für das Verhältnis der ersten und zweiten Instanz als undurchführbar". Vgl. demgegenüber völlig konfus v. Kries (Fn. 2) 204f. 6"

84

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

der Beweislast erfolgt531. Gelingt dem Beklagten und Rechtsmittelkläger der Nachweis des Nichtbestehens der in der Vorinstanz für gegeben erachteten Tatbestandsvoraussetzungen nicht, so wird sein Rechtsmittel als unbegründet zurückgewiesen; er trägt m. a. W. die ,,Last des Angriffs" 532 und damit auch des Nichtrekonstruierens des klägerischen Tatsachenvorbringens. § 71 Vom kassatorischen Prozeßziel her betrachtet läßt sich somit die Prozeßgegenstandsfrage im Rechtsmittelverfahren kaum anders als im Wiederaufnahmeprozeß beantworten. Hier wie dort macht der Anfechtende ein auf Kassation des wirksamen, bindenden und sonstwie unwiderruflichen Hoheitsaktes gerichtetes Gestaltungsrecht geltend, das man in den Fällen der Änderung eines prozessualen Rechtszustandes prozessuales Widerspruchsrecht nennt und überwiegend dem Kreis der subjektiv-öffentlichen Rechten zuordnet 533. Diese Rechtsschutzbitte und kein schlichter Antrag ,,nach Unterbrechung oder Ruhen des Verfahrens" wird mit der Rechtsmitteleinlegung rechtshängig 534. Mit der genauen Bezeichnung des Anfechtungsobjekts (§§ 518 n 1, 553 I 1), der Anfechtungserklärung und der Angabe der adäquaten Rechtsschutzform (§§ 518 11 2, 553 I 2) wird der Rechtsmittelgegenstand formalisiert, objektiviert und gegenüber anderen Kassa-

531 Entgegen v. Kries (Fn. 2) 146. 532 So Braun (Fn. 196) 368 hinsichtlich des Wiederaufnahmeantrags. Angemerkt sei, daß v. Kries (Pn. 2) 146, der den Gesichtspunkt der Beweislast in Erwägung zog, noch davon ausging, daß die Berufung trotz konformen Prozeßausgangs nicht als unbegründet zurückgewiesen wird. Von diesem Standpunkt aus führt er konsequenterweise aus, "läge eine Anfechtungsklage vor, so hätte der Berufungskläger den Beweis für diese zu liefem und actore non probante reus absolvitur; d. h. wenn er nicht den Beweis der Unrichtigkeit des ergangenen Urteils führt, so wird dasselbe aufrechterhalten." Gehe es aber nicht darum, das Urteil zu überprüfen, "so kann sich natürlich weder die Parteistellung noch die Beweislast ändern, sondern es bleibt alles, wie es gewesen". 533 Vgl. Hellwig (Fn. 9) 277 f., 279; ders. (pn. 425) 485 f.; Balog (Fn. 528) 140; Gilles ZZP83,61 (103 f.); Rosenberg, ZPR 9. Aufl,411;Pfeifer(pn. 4) 87 f., 98 f.jeweilsmwN. 534 Einen kassatorischen Rechtsmittelgegenstand nehmen wie hier an: Menger (Fn. 32) 163; Gernhuber (Fn. 32) 42; Sartorius AcP 31, 345 f.; Heintzheimer (Fn. 32) 211; Gilles (Fn. 32) 13 f., 36 f., 49 f. Siehe auch Münzberg (Fn. 44) 80, der ein Aufhebungsbegehren "als selbstverständlichen und auch notwendigen Bestandteil" des Anfechtungsantrags erachtet. Angemerkt sei auch, daß selbst bei den exponierten Anhängern der h. A. der sonst ausdrücklich abgelehnte eigene Rechtsmittelgegenstand deutlich anklingt; siehe etwa Behre (Fn. 5) 33 f., der ausführt: "Der alte Streitgegenstand ist der eigentliche Gegenstand, über den eine Entscheidung des Rechtsmittelgerichts ergehen soll, und der hinter dem durch die Prozeßsituation bedingten formellen Begehren steht, das in der Berufungsinstanz auf eine Abänderung ... und in der Revisionsinstanz auf eine Aufhebung des angegriffenen Urteils ... gerichtet ist. Der alte Streitgegenstand steht hinter dem formellen Begehren in der Berufungsinstanz als zweite und in der Revisionsinstanz nach dem formellen Berufungsbegehren als dritte Schicht"(?). Ausdrücklich unterscheidet schließlich Blomeyer, § 101 I n, den "prozessualen" vom "sachlichen Rechtsmittelgegenstand" . Den sachlichen setzt er nur in Fragen der Rechtshängigkeit, Klagänderung, Widerklage, Rechtsmittelzurückweisung und der reformatorischen Entscheidung mit dem erstinstanzlichen Streitgegenstand gleich. Den prozessualen im Gewande eines Kassationsbegehrens sieht er als Gegenstand der Rechtsmittelverwerfung oder -zurückverweisung; zum letzteren siehe unten zu §§ 72, 73.

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

85

tionsbegehren der ZPO ausreichend abgegrenzt 535 • Insbesondere kommt den dem zwingenden Inhalt der Rechtsmittelschrift ohnehin nicht zugehörigen Anfechtungsgründen grundsätzlich keine eigenständige Bedeutung zu, und schon deshalb nicht, weil die gerügten Urteilsmängel weder die Prüfungskompetenz noch die Entscheidungsbefugnis der Oberinstanz prinzipiell einschränken. Gleichwohl muß ein Vorbehalt hinsichtlich der Geltendmachung von Rechtsmittelgründen in Form von nova producta schon hier gemacht werden; vorausgesetzt, daß ein auf Neutatsachen gestütztes Rechtsmittel im Gegensatz zu einem mit sonstigen Urteilsrügen begründeten Rechtsmittel einen mit Wirkung ex nunc kassatorischen Anspruch enthält, und angesichts der Tatsache, daß kaum je ein Anfechtungsantrag ausdrücklich ex nunc oder ex tune gestellt wird, mögen die Anfechtungsgründe mittelbar insofern streitgegenstandskonstituierend sein, als sie zur Auslegung der Anfechtungserklärung beitragen: Bei Geltendmachung von Anfechtungsgründen in Form von nova producta steht die Anfechtungserklärung einem auf Beseitigung ex nunc gerichteten Kassationsbegehren gleich; andernfalls ist aus ihr ein mit Wirkung ex tune datiertes Gestaltungsrecht herauszulesen s3sa• Dieses oder jenes Kassationsbegehren bildet dann den Urteils- und Verhandlungsgegenstand einer Reihe von Gerichts- und Parteihandlungen, die sich mit einer im Sinne der herrschenden Auffassung Identifizierung von Rechtsmittel und Sache überhaupt nicht erklären lassen. Der Erwähnung bedürfen dabei im einzelnen folgende Punkte. § 72 Es bleibt zunächst unerklärt und unerklärlich, was von der These aus, Gegenstand des Rechtsmittelprozesses sei einzig und allein das alte Klagebegehren, denn dann eigentlich Urteilsgegenstand der Rechtsmittelverwerfung ist, die man als Endurteil qUalifiziert S36 und der man auch materielle Rechtskraft beimißt S37 • Nur Blomeyer gibt offen zu, hier sei "ausnahmsweise ein anderer Rechtsmittelgegenstand" anzuerkennen 538, wobei dann freilich der RechtsmittelgegenS3S Umstritten ist die Substantiierung des Kassationsbegehrens im Wiederaufnahmeverfahren. Eine Individualisierung durch den jeweiligen Anfechtungsgrund [so Hellwig (Fn. 425) 487, 489, 490; Nikisch, § 129 V 1; Rosenberg (Fn. 533) 420; Bley (Fn. 379) 46 N 1] steht im Widerspruch dazu, daß beim Auswechseln sowie Nachschieben von Wiederaufnahmegründen innerhalb derselben Klageart keine Klagänderung bzw. -häufung vorliegt [statt vieler BI L I Hartmann, § 588 2 A; SI J I Grunsky, § 588 I 1]. Keine zusätzliche Individualisierung des Authebunsantrags [so Gaul (Fn.374) 109; Gosch (Fn. 433) 38 f.; Rüßmann (Fn. 433) 418] löst insoweit Diskrepanzen aus, als der Übergang von Nichtigkeits- zur Restitutionsklage sowie das Nachschieben von Gründen in der jeweils anderen Klageart eine Klagänderung bzw. -häufung darstellen [statt vieler Z I Schneider, § 587 IIl]. Hingegen mutet eine Individualisierung durch die eingeschlagene Klageart [so Gilles ZZP 78, 466 (468); ders. Umfang, 41 in Widerspruch jedoch zur S.74 N 220] unproblematisch durchführbar an. 53S a Vgl. unten zu § 117 a. S36 Vgl. etwa TIPutzo, §519b 2b, 3b; ZISchneider, §519b 11 2; BILl Albers, § 519 b 2 A. Die Rechtsmittelverwerfung durch Beschluß soll hier nicht weiter interessieren. S37 Vgl. etwa S I J I Grunsky, § 519 b; Blomeyer, § 102 I 1; Reinberger (Fn. 466) 573. S38 Blomeyer, § 101 I 2 und 11 6; auch Arens (Fn. 40) 475.

86

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

stand nicht von vornherein fixiert ist, sondern sich am zufälligen Ausgang des Rechtsmittelprozesses orientiert 539• Dagegen hat man es leichter, in der Rechtsmittelzurückweisung ein Sachurteil zu attestieren, da sie eine umfassende Kontrolle des Klaganspruchs voraussetzt 540; die Verschiedenheit des Bezugspunkts von Verfahren und Entscheidung nimmt man jedoch ruhigen Gewissens in Kauf. Ungleich schwieriger ist es aber, das sachlich zurückweisende Versäumnisurteil zu klassifizieren; daß sich diese sachliche Zurückweisung auf den Klaganspruch beziehen könnte, auf den Gedanken kommt selbstverständlich keiner 541 • § 73 Es fragt sich ferner, was es denn mit einem aufhebenden und die Sache an die Vorinstanz zurückverweisenden Urteil auf sich hat. Da man einerseits nur solche Entscheidungen als Endurteile ansieht, die in vollem Umfang oder quantitativ teilweise über den Streitgegenstand entscheiden, und andererseits keinen eigenen Rechtsmittelgegenstand kennt, reicht das im Detail breite Feld des hierzu Vorgetragenen von einem Zwischenurteil 542 über einen "atypischen" Endurteil 543 bis hin zu einem Endurteil über die Hauptsache selbst 544• Doch bei dieser Zurückverweisung handelt es sich um zwei nach Gegenstand und Wirkung völlig diverse Aussprüche 545 : um die das Rechtsmittelbegehren bejahende kassatorische Rechtsmittelentscheidung und um eine prozeßleitende Verfügung, welche die Sache mit prozeßgestaltender Wirkung 546 in die Vorinstanz revolviert und dieser wieder die funktionelle Kompetenz zur anderweitigen Entscheidung überträgt. Ebenso um zwei uno acto ergehende selbstiindige Aussprüche handelt es sich ferner bei der Urteilsabänderung, wie sie das Berufungsrecht kennt (§ 536), und wie es auch die herrschende Ansicht annimmt 547; worüber aber der selbständige kassatorische Ausspruch befinden soll, bleibt verborgen. 539 Schreibt doch Blomeyer selbst (§ 101 11 7 und § 104 V 2): Der Rechtsmittelgegenstand sei danach verschieden, ob das Gericht zu einer Sachentscheidung kommen könne oder nicht. Kritisch dazu auch Lindacher FamRZ 73, 279 (280) und Gilles (Fn. 32) 37 Fn.44. 540 Nachweise oben zu Fn. 275. 541 Für alle vgl. R I Schwab, § 142 m 1. 542 So Seuffert ZZP 7, 1 (25); Bötticher MDR 61,805 f.; Götz, Urteilsmängel, 17 f.; ders. JZ 59,681 f. Seines formellen Endurteilscharakters wegen [Bötticher, 807; Götz, 18] sei aber dieses Zwischenurteil ausnahmsweise selbständig anfechtbar (?). 543 So die ganz h. M.: RGZ 6,335 (336); 7, 421 (427); 102, 217 (218); BGHZ 18, 107 f.; Bettermann ZZP 79, 392 (393); R I Schwab, § 147 m 2; Blomeyer, § 102 11; Zeiss, § 70 IV 1; Tiedke ZZP 89, 64 f. mwN. 544 So die Materialien (Hahn, 372) und Klein/eUer, 479, obgleich diese Hauptsache doch gerade zum Zwecke ihrer Entscheidung zurückverwiesen wird. 545 So bereits Schultzenstein ZZP 48,63 (89); siehe auch Arens, § 35 Rdn 403 und Bettermann DVBI. 61, 65. 546 Was die prozessuale Gestaltungswirkung anlangt, so auch Schlosser (Fn. 36) 93 unter Verweis auf Blomeyer, ZPR (1. Aufl), 418. 547 Vgl. etwa TI Putzo, Vorb. V 4 vor § 511; BI L I Albers, § 537 2 B; Münzberg (Fn. 44) 79 N 130; R I Schwab, § 141 12. Abweichend nur Jauernig (Fn. 266) 106, der von einer ,,rechtlichen Einheit" des Abänderungsurteils ausgeht und in der Aufhebung bloß "die Kehrseite der Verbesserung" sieht.

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

87

§ 74 Ähnlich konfus sehen die Dinge aus bei der Frage nach dem Gegenstand des Rechtsmittelverzichts. Die Palette enthält hier ein mit einem subjektiv-öffentlichen Klagerecht vergleichbares Rechtsmittelklagerecht S48 , ferner eine besondere Erscheinungsform des Rechtsschutzanspruchs S49 , auch ein Recht im Sinne eines abstrakten Justizgewährungsanspruchs auf Rechtsmittel 5SO, oder eine recht farblose prozessuale Anfechtungsbefugnis im Wege der Rechtsmittel 551. Mit der Annahme eines eigenen Rechtsmittelgegenstandes reduziert sich dagegen der Streit um den Rechtsrnittelverzicht auf eine Parteidisposition über das erhobene Kassationsbegehren. Das eingelegte Rechtsmittel ist durch ein der materiellen Rechtskraft fähiges sachliches Verzichtsurteil als unbegründet zurückzuweisen 552; wird die Verzichtserklärung vor Rechtsmitteleinlegung oder gar vor Urteilserlaß abgegeben, so disponiert die Partei über ihr künftiges prozessuales Gestaltungsrecht 553, was zu einer Rechtsmittelverwerfung durch Prozeßurteil führen muß5S4. § 75 Gegen die Zulässigkeit der Rechtsmittelerledigung wurde von Habscheid geltendgemacht, der Beklagte, der als Rechtsmittelkläger das Rechtsmittel für erledigt erkläre, sei über den Prozeßgegenstand nicht dispositionsbefugt und daher nicht in der Lage, als Rechtsmittelkläger das Rechtsmittel für erledigt zu erklären 555. Die Ablehnung beruht also auf der Vorstellung, der Streitgegenstand sei in allen Instanzen derselbe, weshalb sich überhaupt nur dieser erledigen könne. Inzwischnen hat sich dennoch die Ansicht durchgesetzt, daß im Interesse des Beklagten, eine angemessene Kostenentscheidung zu erwirken 556, § 91 a auch im Rechtsmittelverfahren analog anwendbar sei 557. Was bildet aber hier den

548 Vgl. Planck (Fn. 212) 429; Plosz, Beiträge zur Theorie des Klagerechts (1880) 109; heute so Schumann (Fn.6) § 27 Rdn 617. 549 Vgl. Schmidt GruchBeitr. 58, 350 (356). 5SO Walsmann (Fn. 4) 56 f.; Bley (Fn. 379) 45 f.; Blomeyer, § 98 I iVm 98 n. 551 Siehe RGZ 161, 350 (355); Habscheid NJW 65, 2369 (2370); R / Schwab, § 137 11 5; Zeiss, § 81 III 6; ders. NJW 69, 166 (170); auch S / J / Grunsky, § 514 I, 11 bezüglich eines vor Rechtsmitteleinlegung erfolgten Verzichts. Der Verzicht nach Einlegung des Rechtsmittels soll dagegen als Rechtsmittelzurücknahme unter Verzicht auf eine erneute Einlegung zu verstehen sein. 552 Anders freilich die hA, die im Gegensatz zur Parallelerscheinung des'Klageverzichts nach § 306 eine Rechtsmittelverwerfung durch Prozeßurteil fordert;,vgl. RGZ 110, 228 (230); 150, 392 (395); BGHZ 28, 45 (52); BGH FamRZ 54, 208; Bruns, § 52 Rdn 266 f. Wie hier dagegen Gilles (pn. 31) 231 f.; ders. ZZP 92, 152 (170 Fn. 77). 553 Siehe Habscheid (Fn. 551), der die Frage antizipierter Dispositionen über künftiges Recht treffend anschneidet. 5S4 Ebenso Gilles (Fn. 31) 231 f. 555 Habscheid NJW 60, 2132 (2133); ders. FS-Lent, 153 (171). Gegen die Zulässigkeit auch Göppinger, Die Erledigung des Rechtsstreites in der Hauptsache (1958) 299 f.; T / Putzo, § 9la 3b; Z/ Vollkommer, § 91a 11 5b; KG FamRZ 77, 562; Schneider MDR 79,499. 556 Zur praktischen Relevanz der Rechtsmittelerledigung vgl. besonders Heintzmann (Fn. 32) 206 f. 557 Vgl. OLG Frankfurt JW 26, 1036; OLG Hamburg NJW 60, 215 f.;OLG Bremen ZZP 75, (370); OLG Saarbrücken NJW 71,386; BGH GRUR 59, 102; B / L / Hartmann,

88

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

Gegenstand der Rechtsmittelerledigung? Die Hauptsache sicherlich nicht, sonst müßte auch das vorinstanzliche Erkenntnis wegfallen; wiederum mit dem abstrakten Justizrechtsmittelanspruch oder der abstrakten Anfechtungsbefugnis zu helfen, wäre angesichts der Tatsache unangebracht, daß die Erledigung stets das konkrete Rechtsmittel betrifft. Zwangsläufig mußte daher ein "anderer" Rechtsmittelgegenstand gefunden werden; mit der Rechtsmittelerledigung, führt Heintzmann aus, verfüge der Beklagte als Rechtsmittelkläger nicht über den alten, sondern den kassatorischen Rechtsmittelgegenstand, wozu er als Kläger befugt seP58. § 76 Um eine in praxi häufige Rechtsmittelwiederholung [sei es als Eventualeinlegung 559, sei es als Beschwerdewiederholung 560] nach sachlicher Abweisung des ersten Rechtsmittels auszuschließen, argumentiert man teilweise damit, daß das zurückweisende Erkenntnis den angefochtenen Akt konsumiere und ersetze, weshalb mangels Anfechtungsobjekts einer Rechtsmittelwiederholung der Boden entzogen seP61. Überwiegend operiert man aber auch hier mit jenem abstrakten Justizrechtsmittelanspruch, der mit der ersten Einlegung bereits verbraucht sei 562. Letzteres müßte wohl aber auch dann der Fall sein, wenn das erste Rechtsmittel durch Prozeßurteil verworfen wird 563; dennoch steht die Verwerfung einer Wiederholung nicht entgegen, sofern die Rechtsmittelfrist noch nicht abgelaufen ist 564. Erkennt man hingegen einen eigenen Rechtsmittelgegenstand an, so greifen hier die allgemeinen Grundsätze über die materielle Rechtskraft von Prozeß- und Sachabweisungsurteilen durch, wie sie unter dem Stichwort ,,Rechstkraft und neue Tatsachen" abgehandelt werden. Bei Verwerfung oder Zurückweisung steht demnach dem zweiten bedingten wie unbedingten Rechtsmittel die materielle Rechtskraft nur dann und deshalb nicht entgegen, wenn und weil der ausschlaggebende Grund für die Unzulässigkeit oder Unbegrundetheit des ersten Rechtsmittels hinsichtlich des zweiten nunmehr weggefallen ist 565 . § 91a 4; Donau NJW 55, 197 f.; Furtner MDR 61, 188 (189); Heintzmann (Fn.32) 209 f; Gilles (Fn. 31) 234; ders. 'Zll' 92,152 (169); R I Schwab, § 148 III 6b; Gottwald (Fn. 217) 395 f. zurückhaltender Blomeyer, § 98 III. 558 Heintzmann (Fn. 32) 211, 212. 559 Siehe dazu Kion (Fn. 1) 127 f.; auch Reinberger (Fn. 466) 569 f.; Habscheid NJW

65,388 f. S60 Dazu Baumgärtel JZ 59, 437 f.; Schneider DRiZ 65, 288 f.; Ratte (pn. 7) passim. 561 So OLG Hamm JR 75, 25 f.; Ratte (Fn. 7) 87; Fenn (Fn. 275) 113. Die Unzulänglichkeit dieser Argumentation wurde bereits gezeigt, oben § 38 f. 562 So OLG München MDR 54, 237; OLG Stuttgart JZ 59, 445 (448); OLG Bamberg NJW 65, 2407 (2408); Baumgärtel (pn. 560); Schneider (pn. 560); R I Schwab, § 148 ll4. 563 So zwar unzutreffend aber folgerichtig RArbG JW 36, 2587 (2588). 564 Ganz hM: RGZ 158, 53 (54 f.); BGH ZZP 71,358 (359); NJW 81,1962 f.; BAGE 23,209 (211); Jauernig MDR 82, 286; Zeiss; § 82 m 3; SI J I Grunsky, § 519b III; Z I Schneider, § 519b VII 1 mwN. 56S Ebenso Gilles (Fn. 32) 40 f. Fn. 51 a. Eine Beschwerdewiederholung aufgrund neuer Tatsachen ist also zulässig; so im Ergebnis Baumgärtel (Fn. 560); Z I Schneider,

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

89

§ 77 Ein letztes noch sei kurz erwähnt. Die Altkontroverse um Sach- oder Anfechtungsanschließung ist nicht etwa durch die normative Anschlußausgestaltung verursacht, die ungeachtet mancher akzessorietätsbedingten Verfahrensmodifizierungen 566 kaum Zweifel an der funktionalen Kohärenz von Rechtsmitteln und Anschlußrechtsmittelläßt, sondern durch die tradierte Bewertung des Rechtsmittels als Fortsetzungsmittel. Sei der Rechtsmittelprozeß einmal eröffnet, meint die herrschende Ansicht, so könne der Anfechtungsbeklagte im Wege eines "Offensivantrags" und ohne Rücksicht auf eine Beschwer S67 , Beschwerdesumme 568 oder der Rechtsmittelfähigkeit des Anfechtungsobjekts 569 zum Zwecke der Klagänderung, Klagerweiterung oder zur Geltendmachung neuer Ansprüche durch nachträgliche Klagehäufung oder Widerklage das Hauptrechtsmittel anschließen 570. Mit der Loslösung des Beschwererfordernisses zugunsten dieser sachbezogenen Parteidispositionen mußte indes nicht nur mit der geschichtlichen Dimension des beneficium adhaesionis gebrochen 571 , über Sinn und Zweck der Anschließung hinweggesetzt S72 und dem Anschließenden Privilegien zugesprochen werden, welche die Rechtsstellung des potentiellen Rechtsmittelklägers weit übertreffen 573; mangels theoretischer Gesamtkonzeption tauchen vielmehr para§ 567 vrn 1 jeweils mwN. Abweichend verständlicherweise Ratte (Fn.7); offen läßt BayObLG MDR 81, 942. 566 Also die Anschlußzulässigkeit trotz Rechtsmittelverzichts oder Fristversäumung (§ 521 I), sowie das Unwirksamwerden der unselbständigen Anschließung nach Wegfall des Hauptrechtsmittels (§ 522 I). Daß diese akzessorietätsbedingten Besonderheiten entgegen Fenn [(Fn. 2) 77 f.; zurückhaltender in FamRZ 76, 259 (261 Fn. 9)] den Rechtsmittelcharakter der Anschließung nicht nehmen, haben Klamaris (Fn.36) 152 f., Baur (Fn. 36) 367 f. und Gi/les ZZP 92, 152 (163 f.) überzeugend dargelegt. 567 Vgl. exemplarisch RG JW 28, 3042 (3043); BGHZ 4, 229 (234); BVerwGE 29, 261 (264); BSGE 24, 247 (249); BAG NJW 76, 2413; Habscheid NJW 64, 2395 (2396); Bohnenberg (Fn. 36) 12; Schumann (Fn. 6) § 16 Rdn 346; Wieczorek, § 521 B rn a; Schlosser, § 13 Rdn 387. A. A. Baur (Fn. 36) 369; Klamaris (Fn. 36) 235 f.; Grunsky ZZP 84, 129 (132 Fn. 5); SI J I Grunsky, § 521 I 1; Gi/les (Fn. 566) 185 f.; Merle ZZP 83,436 (451). 568 Vgl. etwa RGZ 137, 232 (233); BGH NJW 62, 797 / 798); Fenn (Fn. 2) 229; BI LI Albers, § 521 1 B; SI J I Grunsky, § 521 I 1 entgegen der Vorauflage. 569 Zur Zulässigkeit der Rechtsmittelanschließung wegen des Kostenausspruchs vgl. RGZ 41, 381 (383); BGHZ 17, 392 (397); Furtner NJW 62, 138 (140); Walsmann (Fn.4) 134; Z I Schneider, § 521 IX 5 mwN. 570 Vgl. RGZ 148, 131 (134); 156,291 (294); BGH NJW 57, 1279; BGH LM§ 522 a Nr. 3; Fenn (Fn. 2) 117; ders. FamRZ 76,259 (262 f); Blomeyer, § 100 I; Bruns, § 53 Rdn 268; Jauernig, § 72 VI; Zeiss, § 82 VI. A. A diejenigen, die die Anschlußrechtsmittel für beschwerbedingt erachten; siehe dazu zu Fn. 567. 571 Dazu sehr anschaulich Klamaris (Fn. 36) 19 f.; auch Baur (Fn. 36) 363 f. sn Die Friedfertigkeit nämlich der Partei nicht zu bestrafen und ihr die gleichen Anfechtungschancen wie dem potentiellen Rechtsmittelkläger zu gewähren; zu diesem Punkt siehe besonders Gi/les (Fn. 566) 165 f. 573 Ihm ist nämlich ein Rechtsmittel nur zum Zweck sachveränderter Dispositionen versagt bzw. nur unter der Voraussetzung einer Beschwer gestattet (dazu unter zu Fn. 583). Daß die Zulassung eines Anschlußrechtsmittels nur zum Zwecke solcher Dispositionen einen "flagranten Verstoß gegen die Gleichbehandlung der Parteien im Prozeß" bedeuten würde [so wörtlich Baur (Fn. 36) 370], dürfte selbstevident sein [ebenso Gi/les

90

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

digmatische Diskrepanzen auf. So soll beispielsweise eine Anschließung zum Zwecke der Korrektur und Verbesserung der Urteilsgründe unzulässig sein 574, obwohl es doch gerade das Zulässigkeitserfordernis der Beschwer ist, das eine Rechtsmittelanfechtung wegen der Urteilsgründe verhindert S7S • Die Anschlußrevision, die insoweit angeblich eine andere Natur als die Anschlußberufung habe, soll ferner deshalb beschwerbedingt sein, weil hier die die Tatfrage tangierenden sachbezogenen Parteidispositionen ohnehin nicht in Betracht kämen 576. Noch kurioser aber erscheint, daß dem wesensverschiedenen Anschlußrechtsmittel all jene Begriffsmerkmale des Hauptrechtsmittels zuwachsen sollen, soweit letzteres bei selbständiger Anschließung nach § 522 11 verworfen oder zurückgenommen wird; erst jetzt, einzig und allein wegen des Wegfalls des Hauptrechtsmittels und im Zeitpunkt dieses Wegfalls wird aus jenem Offensivantrag ein normales Rechtsmittel herbeigezaubert, das dann doch einer Beschwer bedürfe und weshalb auch die vorerst zulässige Anschließung zwecks Klagänderung usw. plötzlich unzulässig werde S77 • Wesensverwandlungen, denen typisch Juristisches anhaftet 578 • Wenn Baur die Frage aufwirft, ob "es sich denn bei der Anschließung um ein Rechtsinstitut handelt, das nach seiner Zielsetzung von Anfang an nicht richtig durchdacht war" 579, so ist diese Frage vorbehaltlos zu bejahen; auch diese Anschließung bedeutet soviel wie "Anfechtung" des Urteils "durch Anschließung", bedeutet also Kassationsbegebren im Wege der besonders geregelten Anschlußverfahren. Doch die Vorstellungen oder besser Fehlvorstellungen über das Wesen des ,,Hauptrechtsmittelverfahrens" selbst sind es, die das Anschließungsverständ(Fn. 566) 207 f.; Klamaris (Fn. 36) 244 Fn. 287]. Paradoxerweise beruft sich jedoch die hA ausgerechnet auf den Waffengleichheitsgrundsatz, um ihre These zu untermauern [vgl. etwa BGH ZZP 89, 199 (201); Fenn (Fn. 2) 69; 116; ders. ZZP 89, 121 (127)]. 574 So die ganz hM: BGH NJW 58, 868; MDR 58, 491; LM § 561 Nr. 12; R / Schwab, § 139 IV 5; Blomeyer, § 100 I; B / L / Albers, § 521 1 Ba; Klamaris (Fn. 36) 214 mwN; A. A. S / J / Grunsky, § 521 I 1 aufgrund anderer Anforderungen an die Beschwer allgemein. 575 Angenommen wird namentlich, daß die Urteilsgründe, da sie grundSätzlich an der Rechtskraft nicht teilhaben, die Partei auch nicht beschweren können [vgl. J. Blomeyer NJW 69; 587 (591 f.); Schwab, FS-Bötticher, 321 (335 f.); Brox ZZP 81, 379 (389); Bettermann ZZP 82, 24 (56 f.)]. Soweit Fenn (Fn.2) 120 dieser Inkonsequenz damit auszuweichen glaubt, daß die Anschließung hier nicht wegen fehlender Beschwer, sondern fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig sei, so verkennt er, daß die Beschwer nichts anderes als die rechtsmittelspezifische Ausprägung des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses ist [statt aller siehe Schönke (Fn. 374) 52]. 576 Mit dieser, jeder Kritik entbehrenden Begründung R / Schwab, § 145114; Wieczorek, § 556 A 11 2 b; weitere Nachweise bei Klamaris (Fn. 36) 237 Fn. 265. m So in der Tat Fenn (Fn. 2) 131 f., 135 f.; ders. FamRZ 76,259 (264); Walsmann (Fn. 4) 211; T / Putzo, § 5222; Blomeyer, § 100 11; B / L / Albers, § 521 1 B; R / Schwab, § 139 11 2. 578 Vgl. hierzu die fundierte Kritik Baurs (Fn.36) 362; Klamaris' (Fn.36) 161 f., 164 f.; Gilles' (Fn.566) 175 f. 579 Baur (Fn. 36) 364.

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

91

nis von Anfang an mitgeprägt und seine Fehlsteuerung in die zuvor skizzierte Richtung gelenkt haben. b) Reformatorischer Rechtsmittelgegenstand und sein Verhältnis zur Kassation § 78 Wenn die Rechtsmittelregelung von der "Sache" spricht (§§ 538, 539, 565, 566a), so kann hierunter nichts anderes als der Gegenstand des Erstprozesses verstanden werden. Um an eine nochmalige Rechtshängigkeitsbegründung des alten Prozessgegenstandes im Wege anfänglicher kumulativer oder eventueller Anspruchshäufung zu denken 580, fehlt es jedoch bereits am notwendigen Inhalt der Rechtsmittelschrift; denn aus ihr (§§ 518 H, 533 I) kann man tatsächlich nicht mehr als ein Kassationsbegehren herauslesen S81. Überdies ist nicht einzusehen, weshalb es einer erneuten Rechtshängigkeit der Sache durch Parteiakt bedarf, wenn sie nach h. A. ohnehin rechtshängig ist und mittels des Devolutiveffekts in die Oberinstanz gleichsam automatisch gelangt, oder nach hier eingenommenem Standpunkt, wonach das angefochtene Endurteil bereits mit seinem Erlaß die Rechtshängigkeit der Streitsache beendigt hat, wenn die Sache im Wege des Devolutiveffekts als wahrer Neben- und Bestandswirkung der Rechtsmitteleinlegung dem iudex ad quem einfach anfällt und seiner Kompetenz zur Sachentscheidung eröffnet. Die Fortexistenz der Sache erlangt dann Bedeutung als Urteilsgegenstand der reformatorischen Entscheidung sowie als Verfügungsobjekt bestimmter höherinstanzlicher Parteidispositionen, namentlich der Klagerücknahme 582, der übereinstimmenden Erledigungserklärung 582 oder eines Vergleichs 582, 580 Davon gehen offenbar Menger (Fn. 32) 163 und Gernhuber (Fn. 32) 42 aus. Eine anfängliche kumulative Anspruchshäufung im Wiederaufnahmeverfahren nimmt Kleinfeller, § 129 IV 1 Fn.9 an; der dortigen Fonnulierung nach ebenso TI Putzo, Vorb 1 vor § 578. Anders die zu Recht hA, die von der Rechtshängigkeit der Sache erst nach Beseitigung des rechtskräftigen Urteils ausgeht; statt aller siehe dazu Gaul ZZP 74, 49 (76 f.). 581 Vgl. Gilles (Fn. 32) 42 Fn. 54, 98. 582 Da diese Dispositionsakte zu einem ipso jure Wegfall des bereits erlassenen Urteils führen [§ 269 m 1 direkt oder analog anwendbar; hierzu vgl. Jauernig (Fn. 266) 139 f.], weshalb es auch einer Kassation des Anfechtungsobjekts nicht bedarf [Jauernig (Fn. 266) 138 f.], erledigt sich hier nicht nur die "Sache", sondern zugleich das ,,Rechtsmittel" selbst. Aus diesem Grund sind jene Parteihandlungen auch in der Zeit zwischen den Instanzen zulässig [statt aller B I L I Hartmann, § 269 2 C mwN], wäre es doch sinnlos, die Einlegung eines Rechtsmittels allein zum Zwecke der Abgabe dieser Erklärungen zu verlangen [vgl. Grunsky, § 1211 4; Z I Vollkommer, § 91 all 6]. Die Parteien können auch noch nach Urteilserlaß beim erkennenden Gericht einen neuen Tennin zur Vornahme der nämlichen Dispositionsakte beantragen [Schwab, FS-Schnorr v. Carolsfeld, 445 (451 f.)]. Umstritten ist, ob derjenige, der gleichwohl im Wege der Rechtsmitteleinlegung streitbeendigende Erklärungen abgeben will, auch beschwert sein muß [ so BGHZ 50, 197 (198); Blomeyer, § 64 11 2], oder ob es genügt, daß das Rechtsmittel an sich statthaft ist [ so Gilles (Fn. 34) 163], bzw. ob überhaupt die Rechtsmittelzulässigkeitsfrage irrelevant wäre [so Grunsky, § 8 m 2 Fn. 25; ders. JZ 72, 168 f.]. Ganz anders nimmt sich

92

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

des Klageverzichts, 583 der Klageanerkenntnis 583 oder der einseitigen Erledigungserklärung 583, ferner einer Klageänderung 584 oder Klageerweiterung 584•

aa) Stufenförmiger Verfahrensaufbau unter funktionalem Vorrang der Kassation § 79 Nun stellt die Sache für die vorherrschende Doktrin den alleinigen Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens dar, weshalb denn für sie eine jedoch die Gesamtproblematik "eines Verfahrens zwischen den Instanzen" aus, wenn man wie hier den Rechtsstreit nach Erlaß des Endurteils und vor Rechtsmitteleinlegung nicht mehr als rechtshängig bzw. -anhängig behandelt. 583 Da diese Parteihandlungen von selbst das Verfahren nicht beenden, sondern einen sacherledigenden Gerichtsausspruch ennöglichen, läßt sich hingegen hier eine Rechtsmitteleinlegung nicht umgehen, da die Abgabe solcher Erklärungen außerhalb eines Gerichtsverfahrens den erwünschten Erfolg nicht erwirken können [vgl. Schwab (Fn. 582) 449, 453; R I Schwab, § 130 II 2; anders Levis ZZP 55, 285 (288)]. Das heißt aber nicht, daß die Rechtsmittelzulässigkeitsfrage irrelevant ist, daß also das Rechtsmittel nur zum Zwecke der diesbezüglichen Dispositionsakte eingereicht werden kann [vgl. BGHZ 57, 224 (227 f.); TI Putzo, § 91 a 7 a d § 3073 b. Ausnahme der Klageverzicht im Scheidungsprozeß; dazu BGHZ 41, 3 (4)]. 584 Zur Klageänderung oder -erweiterung siehe oben zu § 30. Streitig ist, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Rechtsmittelerweiterung zulässig ist. Manche räumen dem Rechtsmittelkläger unbegrenzte Erweiterungsmöglichkeiten ein [so RGZ 66, 203 (205 f.); 71,16 (l9);GilIes(Fn. 31) 213 f. 216 f. im Widerspruch zu (Fn. 32) 33 Fn. 48), Grunsky NJW 66,1393 f. und ZZP 88, 49 (51 f.) spricht ihm jede Erweiterungsmöglichkeit ab, andere machen sie von der besonderen Entscheidungsstruktur des Anfechtungsobjekts derart abhängig, daß bei einer Mehrheit von Streitgegenständen die Ausdehnung auf weitere zunächst nicht angefochtene Urteilsteile. ablehnen [so Seil (Fn. 7) 56 f., 66, 71,73; R. Schwab, § 138 II 2b), und die herrschende Ansicht läßt sie nur im Rahmen der Rechtsmittelbegründung zu, also nur soweit die zunächst vorgebrachten Anfechtungsgründe auch den erweiterten Antrag decken [vgl. BGHZ 12,52 (57 f.); BGH NJW 61, 1115, weitere Nachweise bei Seil (Fn. 7)18 f.]. Zu diesem Problem sei folgendes gesagt: Eine Rechtsmittelerweiterung soll angeblich deshalb durchführbar sein, weil sich die Hemmung des Rechtskrafteintritts auch auf die nicht beanstandeten Urteilsteile erstrecke [sog. "Totalsuspensivejfekt" trotz Teilanfechtung; für alle siehe Gilles, aaO, 213]. Einen solchen Totalsuspensiveffekt gibt es jedoch gar nicht. Die Rechtskrafthemmung ist die Folge davon, daß die Sache durch Rechtsmitteleinlegung (§ 705 Hs. 2) in der Oberinstanz anhängig wurde; wenn die Rechtskraft gleichwohl auch hinsichtlich nicht angefochtener Urteilsteile nicht eintritt, so kann dies allein daran liegen, daß diese Urteilsteile trotz Ablaufs der (Haupt)-rechtsmittelfrist durch Einlegung einer Anschließung seitens des Rechtsmittelbeklagten immer noch wirksam angefochten werden können (§ 705 HS 1). Wie Klamaris (Fn. 36) 103 als einziger zutreffend erkennt, ist es die ,,Anschlußanfechtungsfrist", die eine Suspension über den Umfang der Teilanfechtung ennöglicht. Sind also beide Parteien beschwert und steht damit jedem von ihnen ein Rechtsmittel zu, so ist es interessengerecht, jeder Partei die Möglichkeit eines Gegenangriffs auch dann einzuräumen, wenn sie ihrerseits nicht angreifen wollte; daraus folgt dann, daß eine Bindung an den zunächst gestellten Antrag nicht sinnvoll wäre. Gänzlich anders stellt sich die Lage dar, wenn nur eine Partei beschwert ist. Hier droht kein Anschlußrechtsmittel und damit keine rechtskrafthemmende Anschlußfrist, weswegen eine Rechtsmittelerweiterung unzulässig ist. Etwas anderes gält nur dann, wenn man mit der hA eine Beschwer für entbehrlich erachtet; bei dieser Sicht der Dinge, die unzutreffend ist [siehe oben zu § 77], bestünde immer die Möglichkeit eines Anschlußrechtsmittels, womit es keinen Fall mehr gäbe, in dem der Rechtsmittelantrag nicht erweitert werden könnte.

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

93

Gliederung desselben in zwei Abschnitte, wie sie das Wiederaufnahmerecht kennt und wie es einer - trotz mancher mit der Sachbeurteilung bestehender faktischer Wechselbeziehungen - funktional selbständigen Begründetheitsprüfung des kassatorischen Rechtsmittelgegenstandes entspräche, nicht in Frage kommt. 585 Vielmehr wird der Rechtsmittelbegründetheit jede eigenständige Bedeutung abgesprochen, in ihr nichts weiter als die fortgesetzte Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit des Klaganspruchs gesehen. Nach Bejahung bestimmter Prozeßfortsetzungsbedingungen 586 verlagere sich der Streit über die Unrichtigkeit des Urteils hinweg auf die Klage selbst. 587 Die These ist freilich auf die Berufungsinstanz zugeschnitten, die angesichts der Tatsache, daß sie sich grundsätzlich 588 nicht auf die Überprüfung einzelner inkriminierter Streitstoffpunkte beschränkt und eventuell auch neue tatsächliche wie rechtliche Gesichtspunkte mitzuberücksichtigen hat,589 es weder auf eine bloße Vertretbarkeitszensur des Anfechtungsobjekts beläßt noch den Erkenntnisvorgang des Vorderrichters schrittweise nachvollzieht, sondern die Sache noch einmal entscheidet und das so gefundene Ergebnis mit dem angegriffenen Prozeßausgang vergleicht. 590 Sie hängt ferner damit zusammen, daß Element der Urteilsunrichtigkeit nicht die bloße Existenz eines Mangels im Erkenntnisvorgang ist, sondern das Durchgreifen eines kausalen Mangels (Arg. § 563); und wo es positiv 591 festzustellen gilt, ob eine Entscheidung 585 Statt aller vgl. Behre (Fn.5) 107 f. 586 Siehe oben zu Fn. 7, 19. 587 Vgl. Blomeyer, § 101 11 5; J. Blomeyer (Fn. 12) 22; ders. ZZP 81, 20 (21); Schumann (Fn. 6) § 20 Rdn 470. 588 Siehe oben zu §§ 33 f. 589 Im Gegensatz zu dieser umfassenden Prüfungskompetenz der Berufungsinstanz wird das Urteil im Wiederaufnahmeverfahren anband der in den §§ 579,580 enumerativ aufgezählten Anfechtungsgründe kontrolliert. [Die These von v. Kries' (pn. 2) 508, das Gericht habe nicht nur die vom Kläger behaupteten Wiederaufnahmegründe zu prüfen, sondern darüber hinaus selbständig zu untersuchen, ob irgendeiner der gesetzlichen Anfechtungsgründe vorliege, hat sich nicht durchgesetzt; siehe dagegen bereits Schoetensack (Fn. 4) 266]. Von daher aber auch deshalb, weil die einzelnen Wiederaufnahmetatbestände nicht mit den Sachurteilsvoraussetzungen der ursprünglichen Klage identisch sind [die Nichtigkeitsgründe sind die Prozeßbedingungen tangierende Verfahrensmängel, die Restitutionsgründe ergeben sich erst aus anderen Urkunden (Strafurteile usw.)] macht sich die zwingende Stufenfolge von Wiederaufnahme- und Klagebegründetheit auch äußerlich bemerkbar. Gerade diese Möglichkeit einer äußeren Trennung ermöglicht übrigens die Zulässigkeit des Zwischenurteils nach § 590 11. 590 Siehe Bettermann (Fn. 5); Leipold (Fn. 5) 291. 591 Bei der Verfahrensrevision reicht hingegen eine "negative" Kausalitätsprüfung aus, d. h. die Revision ist bereits dann begründet, wenn es nicht ausgeschlossen werden kann, daß die Entscheidung bei Vermeidung des Verfahrensmangels anders ausgefallen wäre [statt vieler vgl. BAGE 19,285 (287 f.); S / J / Grunsky, § 549 Rdn 74]. Ebenfalls eine negative Kausalitätsprüfung wird bei den Restitutionsgründen des § 580 Nr. 1-5 für ausreichend erachtet [dazu grundlegend Braun (Fn. 196) 208 f., 213 f., 373 f.], während für den Restitutionstatbestand der § 580 Nr. 7 der positive Nachweis der Kausalität verlangt wird [vgl. Braun (Fn. 196) 375; Gaul (Fn. 374) 131 f.], weshalb es hier einer erneuten Sachbeurteilung bedarf [siehe unten zu Fn.600]. Absolute Revisionsgründe und Nichtigkeitstatbestände sind endlich nicht einmal kausalbedingt [für alle siehe Gaul, FS-Kralik, 157].

94

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

auf dem Mangel "beruht" (Arg. § 549 I), oder auf ihn "gegründet" ist (Arg. § 580 Nr. 1- 3, 6), ob also die mangelfreie Rechtsfmdung eine "andere Entscheidung herbeigeführt haben würde" (Arg. § 580 Nr. 7b), dort muß im Wege einer erneuten Beurteilung des maßgeblichen Sachverhalts ermittelt werden, wie denn jene andere Entscheidung ausgefallen wäre. 592 Verallgemeinernd mag man sogar mit Braun davon sprechen, daß, was als Fehler eines Urteils angesehen werden kann, erst das Ergebnis einer nochmaligen Beurteilung veranschaulicht, sind doch Urteilsfehler keine Erkenntnisobjekte wie die Dinge der Körperwelt. 593 § 80 Sind wir aber mit und wegen dieser Verlagerung des Erkennens auf die Tatbestandsmerkmale des Klageanspruchs schon beim Rechtsmittelmodell einer Verfahrenswiederholung, 594 oder haben wir es vielmehr mit einer "Erkenntnismethode " zu tun, anband derer die Rechtfertigung des kassatorischen Rechtsmittelbegehrens beurteilt wird? Das ist nun gerade der Punkt; es kommt eben darauf an, mit welcher vorgefaßten Meinung über die institutionelle Anfechtungszwecksetzung man an diese Fragen herangeht. 595 Wer die Aufgabe eines Rechtsmittels weiterhin darin erblickt, das "provisorische", "vorläufige" oder sonstwie diskreditierte vorinstanzliche "Gutachten" durch das "bessere" Urteil der Rechtsmittelinstanz in jedem Fall zu ersetzen, der wird sich für eine originäre Urteils gewinnung entscheiden. Ist man dagegen wie hier entschlossen zur Betrachtung des Rechtsmittels als Kontrollinstrument, so ist das von anderen Anfechtungsprozessen bekannte und von Gilles auch für die Rechtsmittel eingeschlagene Verfahren hypothetischer Neuentscheidung 596 mit anschließendem Entscheidungsvergleich sicher das einzig praktizierbare: Die Entscheidung über den alten Gegenstand ist nicht Selbstzweck, sie erfolgt nur inzidenter und mittelbar, um eine Aussage über die Berechtigung des Anfechtungsobjekts und damit die eigene Rechtsmittelbegründetheit treffen zu können. 597 Die Frage nach der Begründetheit des Klageanspruchs ist m. a. W. für die nach der Begründetheit des Rechtsmittels von durchaus präjudizieller Bedeutung. Es mag nun sein, daß bereits die Rechtsmittelbegründetheitsprüfung jede selbständige, auf ein iudicium rescissorium über die Sache selbst abzielende Neuverhandlung entbehrlich macht, so daß mit Bejahung der Rechtsmittelbegründetheit zugleich feststeht, welches richtige Urteil an Stelle des früheren unrichtigen zu setzen ist, wie es sich normalerweise im Berufungsprozeß verhält. Doch unter funktionalem Aspekt ist die RechtsmitBraun (Fn. 196) 374. Braun (Fn. 196) 28. 594 Wie es insbesondere Bettermann (Fn. 5) 386 wahrhaben will. Sie auch oben zu §§ 31,32. 595 So richtig und unvoreingenommen Arens (Fn. 40) 476; siehe auch Lindacher (Fn. 539) 280. 596 Allgemein zu den "hypothetischen Inzidentprozessen" vgl. den nämlichen Aufsatz Baurs in FS-Larenz (1981) 1063 f. Über den Sinn des "hypothetischen juristischen Urteils" vgl. den nämlichen Aufsatz von Engisch, in Beträge zur Rechtstheorie, 196 f.; auch Braun ZZP 96, 89 f. 597 Gilles (Fn. 32) 61, 66 f., 103; ders. (Fn. 34) 155. 592 593

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

95

telbegründetheitsprüfung mit der Beurteilung der Zulässigkeit und Begründetheit der Sache nicht identisch; sie hat trotz mancherlei streitstoffmäßiger oder faktischer Überlagerungen ihre eigenen Voraussetzungen und eine eigenständige Bedeutung. S98 WO dagegen die neue Sachentscheidung - etwa aufgrund einer ex lege eingeschränkten Richtigkeitskontrolle (Arg. § 561) oder der Beschaffenheit des Anfechtungsgrundes (Arg. §§ 539, 51) - noch eine" weitere" (§ 538 I) Sachverhandlung erfordert, dort hat das Rechtsmittelgericht regelmäßig "die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung" (§ 565 I) wieder an das erkennende oder ein sonstiges Gericht der Vorinstanz zurückzuverweisen. Nicht einmal dem äußeren Anschein nach stellt sich dabei die Rechtsmittelbegründetheit so dar, als wäre sie mit der Klagebegründetheit identisch. § 81 Nicht anders als ein Wiederaufnahmeverfahren zerfallt also der Rechtsmittelprozeß in zwei Spezialbereiche mit jeweils eigenem Funktionsapparat; zum einen in die Zulässigkeit und Begründetheit des Rechtsmittels, zum anderen in die Sache selbst. Rescidentia und rescissoria stellen die beiden Verfahrensziele des Rechtsmittelprozesses dar und helfen einer funktionskonformen Einordnung der ausnormierten Einzelphänomene des Rechtsmittelrechts in ihre jeweiligen Sinnzusammenhänge. S99 Verfahrensmäßig besteht zwar eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen beiden Gesamtkomplexen. Aber selbst bei der Restitutionsklage ist es kaum anders; insbesondere wird im Falle des § 580 Nr. 7b die Grenze zwischen iudiciuum rescidens und rescissorium nicht erst im Anschluß an die Prüfung des Restitutionsgrundes, sondern bereits durch die Prüfung desselben überschritten. 600 Was schließlich das urteilsmäßige Verhältnis beider Komplexe S98 So zwar auch Gilles (Fn. 32) 66, der jedoch nicht hält, was er zunächst verspricht. Insbesondere im Falle der Erweiterung der Entscheidungsgrundlage durch nova producta geht er von einer "hic et nunc Urteilskontrolle" aus, womit er nicht nur (mehr oder minder bewußt) Klage- und Rechtsmittelbegründetheit identifiziert, sondern vielmehr den Kontrollgedanken überhaupt illusorisch macht (dazu unten zu § 94 f.). Die hiergegen gerichtete Kritik der herrschenden Lehre [siehe etwa Bettermann (pn. 5) 370 f.; Ritter (Fn. 43) 362; Arens (Fn. 40) 476] ist durchaus gerechtfertigt. S99 Die strikte Trennung von "Rechtsmittel" und "Sache" ist für das Verständnis und die rechte Einordnung der rechtsmittelbezogenen [Rechtsmitteleinlegung, Rechtsmittelbegründung, Rechtsmittelanträge, Beschwer, Suspension, Kassation, Rechtsmittelverwerfung, Rechtsmittelzurückweisung, Rechtsmittelverzicht, Rechtsmittelzurücknahme, Rechtsmittelerledigung, Rechtsmittelversäumnis, Rechtsmittelerweiterung, Rechtsmittelbeschränkung, Rechtsmittelanschließung] oder aber sachbezogenen [Sachanträge, Zurückverweisung, Devolution, reformatio in peius, Reformation oberinstanzlicher Klageverzicht, Klagerücknahme, Klageanerkenntnis, Vergleich, Sacherledigung, Klageerweiterung, Klageänderung] Phänomene unentbehrlich. 600 So schon Braun (Fn. 196) 210, 251, 375. Aufschlußreich ist dabei die Begründung der Gesetzesverfasser dafür, daß § 580 Nr. 7b keinen Grund für die Aufhebung eines Schiedsspruchs darstellt (Hahn, 496): " ... der Anfechtungsgrund § 519 Nr. 7 (= 580 Nr. 7) konnte nicht berücksichtigt werden, da die Aufhebung des Schiedsspruchs wegen aufgefundener Urkunden eine Beurteilung der streitig gewesenen Rechtssache, mithin eine Wiederholung des Rechtsstreits vor den Staatsgerichten erfordern würde, ein Ergebnis, welches mit dem Willen der Parteien, daß ihre Differenz durch Schiedsrichter entschieden werden solle, in unlösbaren Widerspruch treten müßte."

96

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

betrifft, läßt bereits der Gesetzeswortlaut ein zeitliches Nacheinander von Kassation und Reformation (bzw. Revolvierung) erkennen,601 wie dies auch im Wiederaufnahmeverfahren der Fall ist, man mittlererweile überwiegend in Erwägung zieht 602 und Gilles mit dem Ausdruck "funktionaler Vorrang der Kassation" treffend artikulierte. 603 Im Ergebnis läuft der hier eingenommene Standpunkt insoweit also auf die Meinung hinaus, durch die Rechtsmitteleinlegung werde prinzipaliter das Aufhebungsbegehren und eventualiter das Neuentscheidungsbegehren i. S. des alten Klagebegehrens zur Entscheidung der Oberinstanz gestellt; mit Ausnahme des im § 538 geregelten Falles, der noch unten zu besprechen sein wird, ist bei dieser unechten Eventualstellung 603a die Rechtshängigkeit des reformatorischen durch den Erfolg des kassatorischen Rechtsmittelgegenstandes auflösend bedingt.

bb) Das reformatorische Verfahren als funktionaler Bestandteil des Rechtsmittelprozesses § 82 Eine andere Frage nun ist, ob die Reformation überhaupt Bestandteil des Rechtsmiuelprozesses ist, oder ob dieser sich funktional in der Kassation des Anfechtungsobjekts erschöpft. Letzteres entspricht der Überzeugung Gilles'; das reformatorische Verfahren gehöre nicht dem "eigentlichen" Rechtsmiuelprozeß an, habe mit ihm "sogar nichts gemein" und sei nur "zufälligerweise oder aus Gründen der Prozeßökonomie und -konzentration" zusammengefaßt. 604

§ 83 Gilles hält es zunächst "für teleologisch widersinnig, würde ein Prozeß seiner Natur nach einerseits auf die Beseitigung einer Entscheidung und andererseits auf die Gewinung einer neuen" hinzielen. 605 Doch gerade aus teleologischer Sicht kann keine Diskrepanz entdeckt werden; denn Kassation und Reformation verfolgen nicht genau entgegengesetzte Ziele, sondern können nur als sinnvolle Zwecksequenzen gesehen werden. 606 Gilles' erklärtes Ziel ist allerdings ein hoch601 Eine Ersetzung erfolgt nur "unter Aufhebung" (§ 539), "im Falle der Aufhebung" (§ 565 I) oder wenn "die Aufhebng des Urteils . .. erfolgt" (§ 565 m). Nur unter dieser

Voraussetzung ist das Gericht befugt, entweder "in der Sache selbst zu entscheiden" (§ 565 m, 540) oder sie zum Zwecke anderweiter Entscheidung in die Vorinstanz "zurückzuverweisen" (§§ 538 I, 539, 565 I). 602 Vgl. exemplarisch BGHZ 27, 15 (27) zur Zurückverweisung; Arens (Fn. 40) 478 und B I L I Albers, § 537 2 B zur Ersetzung. 603 Gilles (Fn. 32) 91. 603. In bezug auf echte oder unechte bzw. uneigentliche Eventualverhältnisse wird in Lehre und Rechtsprechung danach unterschieden, ob der bedingte Eventualantrag von der Ablehnung oder Stattgabe des unbedingten Hauptanspruchs abhängig gemacht wird; vgl. Lent JR 51, 375 (376); Mühl JuS 64, 108 (110 f.); BAG NJW 65, 1042. Anders Kion (pn. 1) 35. 604 Gilles (Fn. 32) 87 f., 97 f.; ders. (Fn. 34) 160 f. 605 Gilles (Fn. 32) 91. 606 So zutreffend Ritter (pn. 43) 362, der anmerkt, daß es sich bei der Kassation und Reformation um eine von den für das materielle und prozessuale Zivilrecht typischen

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

97

berechtigtes. Unter dem Aspekt eines rein kassatorischen Verfahrens will er Anhaltspunkte für eine vereinheitlichende Systematisierung aller Anfechtungsformen herstellen 607 und so die wiederholt beklagte ..Vielfalt und Hypertrophie" der bestehenden Rechtsbehelfsordnung 608 eindämmen. Als feste Orientierungsgröße für seine Messungen bieten sich also verständlicherweise die prozessualen Gestaltungsklagen an, die allein kassatorisch, nicht zugleich oder anschließend reformatorisch fungieren. 609 Da er nun weiß, daß die Klagen auch nicht devolutiv wirken, denn die Sachdevolution mutet überhaupt erst sinnvoll an, wenn das Gericht, dem die Sache anfällt, befugt ist, über sie reformatorisch zu entscheiden,610 spricht er dem Devolutiveffekt einen anderen Inhalt zu, um die Sache vom ..eigentlichen" Rechtsmittelprozeß irgendwie abzukoppeln und den Vorgang der Kassation als einziges Prozeßziel der Rechtsmittel auszuweisen. Es sei also falsch, daß die Rechtsmitteleinlegung die Überleitung der in der Vorinstanz anhängigen Streitsache an das Obergericht ermögliche und seine funktionelle Kompetenz zur Sachentscheidung begründe. 611 Durch die Rechtsmitteleinlegung sei die Sache der Oberinstanz noch nicht angefallen, sondern lediglich die Rechtshängigkeit des Rechtsmittelgegenstandes begründet; eine Sachdevolution erfolge erst und nur für den Fall der Bejahung des Kassationsbegehrens. Daraus folge nicht nur, daß sich die Grenze der Devolution nach dem Umfang der Kassation richte, sondern vielmehr, daß die oberinstanzliehe Kompetenz zur Sachentscheidung den erfolgreichen Abschluß des Kassationsverfahrens voraussetze. Diese Kompetenz sei also nicht von vornherein gegeben und liege daher außerhalb des ..eigentlichen" Rechtsmittelverfahrens. 612 Zweckreihungen handle, in denen verschiedene Zwecke aufeinander hin gestaffelt werden. An seiner eigenen Grundthese scheint aber Gilles selbst nicht so recht zu glauben, da er wenig später (S. 106) die "Kassation als Mittel zum Zwecke der Reformation" begreift, was im Klartext heißt, daß Mittel und Zweck nur an einer und derselben teleologischen Sinneinheit teilhaben können. Ebenso unzweideutig wird an anderer Stelle vorgetragen (S. 187), für den ,,Funktionsbegriff eines Rechtsmittels" sei es gleichgültig, ob "das Rechtsmittel rein kassatorisch oder auch reformatisch" normiert sei. 607 Siehe besonders (N 29) 148 f.; (Fn. 109) 254; (Fn.54) 14. 608 Vgl. etwa E. Schumann (Fn. 37) 193; Sendler (pn. 81) 164; Zeidler (Fn. 25) 252; Brüggemann (pn. 58) 156. 609 Die Wiederaufnahmeklage ist eben keine prozessuale Gestaltungsklage, wie man unter Isolierung des iudicium rescidens weitgehend annimmt [Nachweise oben zu Fn. 432], sondern ein (außerordentliches) Rechtsmittel; dazu auch unten zu § 88. Gegen die landläufige Isolierung des iudicium rescidens vgl. besonders Schiedermair (Fn. 1) 351 f. 610 Reine Kassationsmittel wirken nicht devolutiv, gleichgültig ob sie nun in den Kompetenzbereich eines Obergerichts fallen oder nicht. Dort, wo die Sache devolviert wird, gibt es stets ein höheres Gericht; dort aber, wo es ein höheres Gericht gibt, wird die Sache nicht immer devolviert [vgl. Bettermann, FS-Bötticher, 19; Guldener (Fn. 121) 484, 487; Gilles (Fn. 34) 162]. Anders Schlosser (Fn. 36) 113 Fn. 9 und Wieczorek, § 511 AI b 2, welche die rein kassatorische Anfechtungsklage nach § 664 für ein devolutiv wirkendes Rechtsbehelf erachten. 611 So namentlich die allgemeine Definierung des Devolutiveffekts; für alle siehe Klamaris (Fn. 36) 79 mwN. 7 Kolotouros

98

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

§ 84 Kann die Anfallwirkung kein ,,Effekt" des Rechtsmittels, sondern nur die Folge einer Gestaltung sein? Denkbar ist es schon, praktisch relevant auch, der Vorgang potenziert sich noch dadurch, daß die Reformation mit kassatorischen Verfahren zwar verbunden sein kann, aber keineswegs verbunden sein muß613. Die Kardinalfrage ist jedoch eine andere; soll man bereit sein, um der Vereinheitlichung des Systems willen eine gewisse Inkongruenz des Konzepts vom positiven Recht 614 in Kauf zu nehmen? Einen solchen Preis muß nämlich Gilles zunächst dort zahlen, wo die Rechtsmittelinstanz die Sache abschließend entscheidet, ohne zuvor den angefochtenen Akt aufzuheben.

Das Berufungsrecht sieht in § 538 fünf Fälle vor, in denen das Berufungsgericht die Sache an die Erstinstanz zurückzuverweisen hat, sofern es eine weitere Sachaufklärung für erforderlich und eine eigene Entscheidung nicht für sachdienlich erachtet (§ 540): 615 wenn der Einspruch als unzulässig verworfen (§ 538 I Nr. 1) oder nur über die Klagezulässigkeitsfrage entschieden wurde (Nr. 2), wenn ein Grund-, Vorbehalts- oder Versäumnisurteil angefochten wird (Nr. 3 bis 5). Angenommen mit der Berufung wird eine Vorabentscheidung über den Anspruchsgrund angefochten; die Berufungsinstanz hält das Grundurteil für richtig, sie bestätigt es also und anstatt die Sache an die Erstinstanz zurückzuverweisen, entscheidet es abschließend, weil etwa die Frage der Anspruchshöhe entscheidungsreif ist. 616 Legt man hier das Konzept Gilles' zugrunde, so müßte dem Berufunasaericht die eiaene Sachentscheiduna manaels Devolution insofern verwehrt sein, als das Grundurteil nicht aufgehoben worden ist. Ebenso verhält es sich, wenn ein Vorbehaltsurteil angefochten und in der Berufungsinstanz unter Bestätigung des Klageanspruchs über den Aufrechnungstatbestand entschieden wird,617 ferner dann, wenn die Erstinstanz durch Zwischenurteil prozeßhindernde Einreden zurückwies und das Berufungsgericht ebenfalls nach Bejahung der Zulässigkeitsfrage die Klage selber erledigt. 618 Weitere Diskrepanzen ergeben 612 613 risch 614

Vgl. Gilles (Fn. 32) 99 f.; ders. (Fn. 34) 60 f. Vgl. Guldener (Fn. 121) mit Beispielen von Rechtsmitteln, die lediglich kassatowirken. Und Gilles bezieht seine Ausführungen ausdrücklich auf geltendes Recht [(Fn. 109) 254; (Fn. 54) 14]. 615 Aus den vielen Definitionsversuchen der "Sachdienlichkeit" vgl. am glücklichsten Schumann (Fn. 6) § 21 Rdn 490 f. iVm 496 f. 616 Vgl. ad hoc RGZ 113, 261 (263); 132, 103 f.; R I Schwab, § 141 IV 1c; Z I Schneider, § 538 VI 3; SI J I Grunsky, § 538 Rdn 20, 21. A. A. Bettermann (Fn. 5) 391, 395, der die abschließende Entscheidung deshalb für unmöglich hält, weil der Streit über die Anspruchshöhe nicht devolviert worden sei; dazu siehe oben zu Fn. 252; mit Einschränkungen Mattern (Fn. 252) 385 f. 617 Vgl. ad hoc BGH LM § 302 Nr. 4; Z I Vollkommer, § 302 V; Mettenheim (pn. 5) 77,78. A. A. R I Schwab § 538 IV 1d, der die Zurückverweisung deshalb für erforderlich hält, da der Streit über den Aufrechnungstatbestand in der Vorinstanz verblieben sei; dazu oben zu Fn. 252. Einschränkend Mattern (Fn. 252) 385 f. 618 Siehe Göfz (Fn. 542) 32; Mettenheim (Fn. 5) 85 zur Revisionsinstanz. Verbreitet ist jedoch die Ansicht, daß hier das Berufungsgericht keine Sachentscheidung treffen

B. Prozeßgegenstand des Rechtsmittelverfahrens

99

sich zudem, macht man den Umfang der Devolution von der Tragweite der Aufhebung abhängig; wurde etwa die Klage als unzulässig verworfen und entscheidet das Berufungsgericht nach Aufhebung des Prozeßurteils in der Sache abschließend, so überschreitet hier augenscheinlich der Umfang der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis die Grenze der Kassation, die sich bloß auf den im Sinne Blomeyers prozessualen Streitgegenstand 619 beschränkte. 620 Ebenfalls reicht im Falle der Anfechtung eines den Einspruch verwerfenden Urteils oder eines Versäumnisurteils die SachurteilskompeteDZ der Rechtsmittelinstanz viel weiter als sie die Kassation ermöglichen könnte. § 85 Besonders der Fall des § 538 zeigt mithin, daß weder die Sachdevolution noch ihre Tragweite von der Kassation des Anfechtungsobjekts und ihrer Grenze abhängen können. 621 Vielmehr deutet er daraufhin, daß die Anfallwirkung in der Tat ein "Effekt" der Rechtsmitteleinlegung ist, welche die Sache unmittelbar in die Oberinstanz befördert und ihre funktionelle Kompetenz zur Sachentscheidung begründet. 621. Hinzu kommt, daß die sachbezogenen Parteidispositionen nicht einmal zulässig wären, wenn die Sache der Oberinstanz nicht von Anfang an angefallen wäre; damit nämlich eine Klageverzichts-, KlageTÜcknahrne-, Klageerledigungs- oder Klageanerkenntniserklärung vor dem Rechtsmittelgericht als Adressaten abgegeben werden kann, muß die Sache überhaupt erst anhängig vor dem Rechtsmittelgericht sein. 622 Auch hier zeigt sich, daß die Sache nicht in Verbindung mit einer erfolgreichen Anfechtung in die Oberinstanz gelangt; sie ist von vornherein Bestandteil des Rechtsmittelprozesses.

könne und deswegen zurückverweisen müsse; siehe etwaB / L / Albers, § 538 2 B. Ungeachtet dessen, daß die übliche Begründung einer teilweise Anhängigkeit des Streitstoffs vor dem Rechtsmittelgericht nicht zutrifft (oben zu Fn. 252), ist § 540 seinem Wortlaut gemäß in allen Fällen des § 538, 539 anwendbar; für die zu Recht hA vgl. exemplarisch Jauernig, § 73 VI 3. 619 Blomeyer, § 40 III. 620 Ebenso Bettermann (Fn. 5) 387, 388. 621 Es ist sicherlich nicht besonders glücklich, wenn Gilles (Fn. 32) 94 an die Fallkonstellationen des § 538 mit dem knappen Satz vorbeizieht, daß es sich hier ,,fraglos um systemwidrige Ausnahmeerscheinungen" handle, die keine allgemeinen Rückschlüsse auf die Grundstruktur eines Rechtsmittels" zuließen (?). 621 a Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei gesagt, daß die oberinstanzliehe Kompetenz zur Sachentscheidung in der Tat den erfolgreichen Abschluß des Kassationsverfahrens voraussetzt, soweit das Gericht ersetzend entscheidet, d. h. an Stelle des angefochtenen Akts der Vorinstanz und im Falle seiner Unrichtigkeit ein neues Urteil setzt; siehe oben zu § 81 a. E. Soweit hingegen im Falle des § 538 das Gericht abschließend entscheidet, wird das Anfechtungsobjekt nicht nur nicht aufgehoben, sondern geradezu bestätigt. 622 Ebenso Gottwald (Fn. 217) 315; R / Schwab, § 135 I 2; Ritter (Fn. 43) 361 Fn. 27. Diese Klippe weiß Gilles (pn. 34) 167 Fn. 117 wiederum damit zu umschiffen, daß "der Einwand nur nebensächliche Konstruktionsprobleme des Devolutiveffektes" betreffe, ,,nicht aber die hier vertretene Struktur des Rechtsmittelverfahrens" (?). 7"

100

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

c. Ansätze zur einer funktionalen Klassifikation der zivil prozessualen Anfechtungsformen

§ 86 Die Rechtsbehelfsordnung der schon abschätzig als "Rechtsmittelstaat" titulierten Bundesrepublik Deutschland 623 [neben den ordentlichen Rechtsmitteln der "Berufung" (§§ 511 f.), "Revision" (§§ 545 f.) einschließlich "Sprungrevision" (§ 566a) und der in "einfache", "sofortige" (§ 577) und" weitere" (§ 568 11) unterschiedenen "Beschwerde" (§§ 567 f.) mit den Sonderformen der "Anschlußberufung" (§ 521 f.), "Anschlußrevision" (§ 556) und "Anschlußbeschwerde ", die außerordentliche Rechtsbehelfe der "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" (§§ 233 f.) und der in "Nichtigkeits-" und "Restitutionsklage" unterteilten" Wiederaufnahmeverfahren" (§§ 578 f.), der "Einspruch" gegen Versäumnisurteile (§ 338 f.) und derjenige gegen Vollstreckungsbescheide (§ 7(0), der" Widerspruch" gegen Mahnbescheide (§§ 694 f.), gegen Arrest und einstweilige Verfügung §§ 924, 936) und gegen Vollstreckbarkeitserklärungen von Schiedssprüchen (§ 104 2c 11), die "Erinnerung" gegen Kostenfestsetzungsbeschlüsse (§§ 323,642 f., 643 a), "Anfechtungs-" (§ 664,684,957) und "Aufhebungsklagen" (§§ 679,686,1041,1043) und anderes mehr (etwa §§ 320,927)]624 ist zweifellos das Symptom bewußt oder unbewußt mitgeschleppter Bruchstücke des partikularistischen Rechtsbehelfswirrwars des 19. Iahrunderts 625 und wenig durchdachter Neubildungen des historischen Gesetzgebers 626. Bei einer reduzierenden KlassifIkation 627 der einzelnen Anfechtungsformen kann zwar das kassatorische Element im Sinne Gilles' die Rolle einer Konstante spielen; dennoch sind weder alle Behelfe kassatorisch konzipiert - der Widerspruch des Mahnverfahrens wirkt also ebensowenig kassatorisch 628 , wie die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die lediglich eine ,,zusatzfunktion" erfüllt und auf eine deklaratorische Feststellungsentscheidung hinzielt 629 - noch erschöpft sich die funktionale

623 So E. Schumann (Fn. 37); Blankenburg DRiZ 86, 207; Gilles (Fn. 54) 14. Noch radikaler wendet sich Zeidler (Fn. 25) 252 gegen das "im internationalen Vergleich mit Rechtsmittelmöglichkeiten geradezu extravagant ausgestattete Land ... , das sich in dem selbst geschaffenen Irrgarten zu verlaufen droht." (!). 624 Die Anfechtungsformen des Vollstreckungsrechts bleiben hier außer Betracht. Dazu vgl. besonders die systematischen Darstellungen Gauls ZZP 85, 251 f. und Renkes JuS 81, 514, 588, 666. 625 Siehe oben zu Fn. 328. 626 So schon E. Schumann (Fn.37) 575; Weitzel (Fn.58) 357; Gilles (Fn.29) 149; ders. (Fn. 32) 188. 627 Zur Terminologie Engisch, Beiträge, 126 f. 628 Zutreffend Bettermann (Fn.5) 429. Bezeichnend ist, daß Gilles selbst (Fn.32) 146 f. den Widerspruch nach § 694 in seinen Katalog der "prozessualen Gestaltungsklagen" nicht aufnimmt. 629 Vgl. Planck (Fn. 212) 589; Klein/eller (Fn. ) 512; T / Putzo, §§ 233 1,238 4a und besonders Gilles selbst (Fn. 32) 149 f. Dagegen bewirkt die Erteilung der Wiedereinsetzung keine "konstitutive Umgestaltung" [a. A Schultzenstein (Fn. 427) 3; Lüderitz ZZP 78, 131 (134)] der jetzigen Prozeßsituation bzw. keine rückwirkende Hemmung oder

c. KlassifIkation der zivilprozessualen Anfechtungsfonnen

101

Eigenart des Restes in der Kassation. So läßt sich zwar als dessen gemeinsamer Nenner anführen, daß die konstitutive Umgestaltung einer prozessualen Rechtslage durch gerichtlichen contrarius actus angestrebt wird 630, weshalb denn auch Pauschalbegriffe wie "Widerspruchs- "631 "Anhang- "632 oder "Prozeßprozesse"633 berechtigt sind; aus den unterschiedlichen Prozeßzielen der einzelnen Anfechtungsverfahren resultieren dennoch auch die unterschiedlichen Funktionen derselben, nach denen sie grundsätzlich in drei Gruppen einzuordnen sind. § 87 Zu den auf "kassatorische Kontrollfunktion" gerichteten Behelfen, Behelfen also, die lediglich auf Kassation des angefochtenen Aktes im Falle seiner inhaltlichen Unrichtigkeit gerichtet sind, gehören die Anfechtungs- und Aufhebungsklagen der §§ 664, 684, 957, 679, 686,1041,1043, wobei die Bezeichnung "Klage" alles andere als unbedenklich ist, denn sie schafft einen Unterschied zu den sonstigen Anfechtungsmitteln, der so nicht besteht. § 88 Die auf" reformatorische Kontrollfunktion " konzipierten Behelfe, nämlich die ordentlichen Rechtsmittel 634 , das außerordentliche Rechtsmittel des Wiederaufnahmeverfahrens und die Abänderungsklage nach § 323 zeichnen sich gegenüber den bloß kassatorischen Mitteln dadurch aus, daß sie den als unrichtig erwiesenen Akt zusätzlich reformieren. So ist gegen den Entmündigungsbeschluß die kassatorische Anfechtungsklage (§ 664), gegen den Ablehnungsbeschluß, der möglicherweise nicht nur der Kassation, sondern auch der Reformation bedarf, das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde gegeben (§ 663). § 89 Mit den Namen Einspruch (§§ 338, 700) und Widerspruch (§§ 924, 1042c) sind im Gesetz jene Behelfe bezeichnet, die eine" meritorische Funktion" ausüben. Sie unterscheiden sich von den reformatorischen Mitteln dadurch, daß

Aufhebung der fonnellen Rechtskraft [entgegen der hA: stellvertretend BI L I Hartmann, § 705 2 A; zutreffend Zeuner MDR 60, 85 f.]. 630 Ysl. die "allgemeine Defmiton des Rechtsbehelfs" von Sprung (Fn.36) 21 und Kralik OJZ 68, 414. 631 Hellwig (Fn. 425) 486. 632 Pfeifer (Fn. 4) 93. 633 Stein (Fn. 528) 15. 634 Mögen Suspensiv- und Devolutiveffekt als Mittel zur schnellen Orientierung ihren pädagogischen Wert haben, ein notwendiges Kriterium für den prozessualen Rechtsmittelbegriff sind sie jedoch keineswegs [vgl. dazu auch die unter Fn. 36 zitierten]. Hinzu kommt, daß die einfache Beschwerde weder suspensiv [zutreffend Wieczorek, § 511 Ala 3; Barazetti (Fn.38) 193 f.; Bohnenberg (Fn.36) 15 und der Gesetzgeber selbst (Hahn, 374 f., 425) trotz seiner allgemeiner RechtsmitteldefInition: "Im Entwurf werden unter Rechtsmittel prozessualische Rechtsbehelfe verstanden, wodurch Entscheidungen, welche die Rechtskraft noch nicht bestritten haben, vor einem höheren Richter angefochten werden" (193)] noch devolutiv wirkt [Wieczorek, § 511 Alb 3; Münzberg (Fn. 44) 81; Gilles (Fn.32) 183 f.], ohne daß sie aufhört, ein Rechtsmittel zu sein. Wie wenig Beachtung der Gesetzgeber dem Prozeßziel und der Funktion der einzelnen Behelfe dagegen schenkt, zeigt sich schon darin, daß er selbst die Wiedereinsetzung nach § 233 aus dem Kreis der Rechtsmittel mit der Begründung ausscheidet, ihr fehle der Suspensivund Devolutiveffekt [Hahn, 139,246 f., 426].

102

3. Kap.: Rechtsmittel in funktionaler Prozeßbetrachtung

sie zu einer Ersetzung des Anfechtungsobjekts nicht nur im Falle seiner Unrichtigkeit, sondern in jedem Fall führen. Während etwa das Arresturteil den Rechtsmitteln unterliegt, wird der Arrestbeschluß mit dem Widerspruch nach § 924 angefochten. Um Mißverständnissen vorzubeugen sei allerdings wiederholt, daß ein Restbestand von Kassation auch in dieser letzteren Kategorie verborgen liegt; auch ein Urteil, das den Einspruch als unzulässig verwirft, muß einen Prozeßgegenstand gehabt haben.

Viertes Kapitel

Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum § 90 Fassen wir nun die genetisch verschüttete Kontrollfunktion des Rechtsmittelprozesses unter dem Gesichtspunkt ins Auge, daß die Entscheidungsgrundlage des Rechtsmittelgerichts von der der Vorinstanz sehr wohl divergieren kann, so mutet es problematisch an, die Kontrollfunktion als legitime Aufgabe des iudex ad quem auszuweisen. Dem naheliegenden Gedanken, der möglicherweise Lindacher vorschwebt 635 , einen Graben zwischen dem Rechtsmittel nach Art der Rechtsbeschwerde und dem Rechtsmittel mit einem Jus Novorum zu ziehen, haftet die Schwäche an, daß es sich immer erst ex post sagen läßt, ob das konkrete Rechtsmittel Verfahrensfortsetzungs- oder Kontrollinstrument war. Hier soll also versucht werden, die Rechtsmittelkontrollfunktion auch bei einer Neuformung des Tatsachenstoffs durch Gebrauch von einem allfalligen Jus Novorum zu verifizieren; eine Unterscheidung zwischen nova reperta und nova producta 636 ist zunächst geboten.

A. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova reperta § 91 Als prozessualer Vorgang unterliegt das gerichtliche Urteil der prozessualen Betrachtungsweise, nach der sich Fortgang und Ergebnisse des Verfahrens bestimmen. Es ist richtig oder falsch nach Maßgabe der prozessualen Voraussetzungen seines Erlasses; der methodisch allein auf die Prozeßaufgaben bezogene Sinn der Tatbestands- und Rechtsfolgebegriffe dieser nicht auf Darstellung des ideal richtigen, sondern des prozessual evidenten Rechts und nicht auf Rechtszuweisung, sondern auf Streitentscheidung gerichteten Rechtsbetrachtung 637 kann Einsichten in die dem Prozeßgeschehen zugrundeliegenden materiellrechtlichen

Lindacher (pn. 539) 280. Zur Tenninologie vgl. Fasching (Fn. 132) Kap. 38 Rdn 1722, 1723. 637 Von der materiellen Rechtsordnung her ist der Prozeß nur unter einer seiner Aufgaben erfaßbar, nämlich der, die richtige Erkenntnis der zwischen den Parteien streitigen Rechtsbeziehungen zu erbringen; jene Prozeßaufgaben hingegen, die sich aus dem Bedürfnis ergeben, mit Hilfe notwendig unvollkommener Erkenntnisgrundlagen Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu schaffen, finden ihren Ausdruck weder in dem Inhalt materieller Rechtsordnungen noch in der Methode der Anwendung einer materiellen Nonn, sondern allein in den Verfahrensregeln für die Gewinnung der Urteilsgrundlage. Dazu vgl. etwa Dorndorf (Fn. 382) 35 f.; dens. (Fn. 205) 303 f. 635

636

104

4. Kap.: Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum

Zuweisungstatbestände nicht vennitteln. 638 Sofern aber das Urteil materiellrechtliche Zuweisungssätze zum Gegenstand der Rechtserkenntnis macht, ist es auch Träger eines über den bloßen Prozeßtatbestand hinausreichenden rechtlichen Sinnes. Es ist also richtig oder falsch auch nach Maßgabe der wirklichen außerprozessualen Rechtslage; dieser Sinnbezug des Urteils zu den materiellrechtlichen Verhältnissen der Parteien wird vennittelt durch die den Ausspruch als Grunde rechtfertigenden Verurteilungsvoraussetzungen, hier aber nicht verstanden als prozessual evidente, sondern als wirkliche, materiellrechtlich existente, unabhängig von dem Verfahren der Rechtserkenntnis bestehende Rechtstatbestände. 639 Die landläufigen Begriffspaare der "prozessualen Rechtmäßigkeit" und "außerprozessualen Richtigkeit"64O oder schlicht der ,,Rechtmäßigkeit" und ,,Richtigkeit",641 gerade noch auch als "Wahrheit" bezeichnet,642 veranschaulichen nichts anderes als den unterschiedlichen Standort der prozessualen und der materiellrechtlichen Betrachtungsweise. 643 Maßstab für die Urteilskontrolle können somit entweder die prozessuale Evidenz des Entscheidungstatbestandes oder die materiellrechtlichen Beziehungen zwischen den Parteien in ihrer außerprozessualen, die Rechtszuweisung begründenden und für den Richter stets nur hypothetischen idealen Gestalt sein. 644 § 92 Nun kennt die ZPO den prozessualen Rechtmäßigkeitsbegriff durchaus; beim Nebenintervenienten, der mit der Behauptung nicht gehört wird, "daß der Rechtsstreit, wie er dem Richter vorgelegen habe, unrichtig entschieden sei" (§ 68), bei den Versäumniskosten, die der säumigen Patei aufzuerlegen sind, soweit "das Versäumnisurteil in gesetzlicher Weise ergangen ist" (§ 344), oder beim Vollstreckungs urteil für ausländische Entscheidungen, welches "ohne Prüfung der Gesetzmäßigkeit der Enscheidung zu erlassen ist" (§ 723 I), spielt sie offenbar auf die prozessuale Evidenz des Urteilstatbestandes an. 64S Auf sie aller-

638 Sinnflilligster Ausdruck des heutigen methodischen Verständnisses von Prozeß und Recht ist die prozessuale Rechtskrafttheorie. Vgl. ferner Rödig (Fn.375) 104 f.; Braun (Fn. 196) 22; Michelakis, FS-Schima, 303 (306); J. Blomeyer JR 71, 142 (144). 639 Goldschmidt (Fn. 376) 212 f. sprach bezeichnenderweise von eine ..doppelten Rechtsordnung", der materiellrechtlichen und der der ..Urteilsrechtssätze", und Sauer, Grundlagen des Prozeßrechts (1929) 20 f., 202 f., 236 sowie Niese (Fn. 373) 29, 76 wiesen auf die verschiedenen Arten der ,,Betrachtungsweise" hin - also auf die ..abstrakte materiellrechtliche" und die ,,konkrete prozessuale" -, die nicht vermengt werden dürfen. Siehe auch E. Schumann (Fn. 388) 318, welcher zwischen das prozessrechtlich richtige vom materiell rechtlich unrichtige Urteil differenziert; ebenso Rimmelspacher, ZZP 84, 41 (48); Dorndoif(Fn. 382) 39 Fn. 25; Sax (Fn. 373) 26; Lent ZZP 61, 279 (296). 640 Vgl. etwa Gilles (Fn. 32) 51 f.; dens. ZZP 83,61 (85) m. w. Angaben. 641 Vgl. etwa Bettermann (Fn. 5) 371. 642 So Wolf (Fn. 413) 223, 225; Rödig (Fn. 375) 105. 643 Vgl. Niese (Fn. 639); Sauer (Fn. 639); Engisch, Beitrage, 286 f.; Hagen (Fn. 118) 27,35; Pawlowski (Fn. 372) 362 f. 644 So richtig Plank (Fn. 212) 454 f.; (Fn. 212) 454 f.; Walsmann (Fn. 4) 52 f. Allgemein zur Funktion der Kontrolle vgl. Luhmann, Zweckbegriff und Systernrationalität (1968) 221 f. 645 Vgl. Gilles (Fn. 32) 57 mwN; Rosenberg, ZPR (9. Aufl.) 335.

A. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova reperta

105

dings nicht die Rechtsmittelvorschriften. 646 Denn wenn es für die Rechtsmittelentscheidung nicht darauf ankommt, ob das Anfechtungsobjekt mit einem wie immer gearteten Mangel behaftet ist,647 sondern darauf, ob der Mangel dem Entscheidungsergebnis derart anlastet, daß bei Vermeidung desselben die Entscheidung anders ausgefallen wäre (§ 563), so ergibt sich der Richtigkeitswert des angefochtenen Aktes nicht aus dem prozessualen Vorgang seines Erlasses; das angefochtene Verfahren und sein Ausgang beurteilen sich nur noch nach materiellrechtlichen Zuweisungssätzen, in deren Tatbestand die zurückliegende Prozeßgestaltung naturgemäß keine Aufnahme findet. Die Entscheidungergebniskontrolle dient mit- , hin nicht der Überprüfung einer subjektiv zurechenbaren Rechtsverletzung, also dem Zweck, gerichtliche Erkenntnismängel aufzudecken und durch die Kassation des Aktes gleichsam zu tadeln, sondern der Beseitigung der objektiven Inkongruenz des Prozeßergebnisses mit der materiellen Rechtslage. 648 Von daher ist es für die Entscheidungsergebniskontrolle irrelevant, ob die Nachprüfung des Anfechtungsobjekts auf der Grundlage des vorhandenen Prozeßstoffs oder auch anband nachgeschobener Alttatsachen stattfindet, ob das Rechtsmittel nicht nur eine Abhilfe gegen die in der Vorinstanz unterlaufenen Gerichts- sondern auch Parteifehler bieten will. 649 Daß die Rechtsmittelkontrollfunktion keinerlei Störungen aus einer durch nova reperta erweiterten Entscheidungsgrundlage erleidet, beweisen wiederum Parallelen aus anderen Rechtsbehelfen, deren Kontrollcharakter nie in Zweifel gezogen wurde. So kommt es für die verwaltungsgerichtliche Anfechtungsklage auf die im Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes objektiv gegebenen Sachlage an, wobei das Nachbringen von zur Zeit des Verwaltungsverfahrens noch nicht bekannten, oder zwar bekannten aber nicht vorgebrachten Tatsachen gestattet ist. 650 Gleiches gilt für die Anfechtungsklage des Entmündigungsprozesses, mit der erstinstanzlich nicht verwertete Tatsachen nachgeschoben werden können; 651 auch hier bildet die objektive Sachlage den Gegenstand der Anfechtungskontrolle. Für alle siehe Sauer (Fn. 80) 259, 261; Bruns, § 54 Rdn 273 b. 647 Mit Ausnahme der absoluten Revisionsgründe (§ 551), welche die unwiderlegliche Vermutung der Unrichtigkeit des Anfechtungsobjekts nach sich ziehen. Versuche zur Rechtfertigung der absoluten Revisibilität bei Rimmelspacher ZZP 84,41 (53 f.); Henckel ZZP 77,321 (345 f.); Schwinge, FS-Jung (1937) 212 f.; Teske, Verahrensrevision, 36 f., 65,93 f. 648 Ganz hM, vgl. Michelakis (pn. 638) 307; Walsmann (Fn.4) 53, 55; Planck (pn. 212) 454; Gilles (pn. 32) 55 f. 649 Vgl. Wach (Fn. 24) 183; Röhl (N 43) 251 sowie Planck (Fn. 212) 454. Unrichtig dagegen Leipold (Fn. 5) 291, der den Kontrollbegriff auf subjektive Fehler begrenzt, die das Untergericht begangen haben kann. Die Entscheidungsergebniskontrolle erfaßt ebenfalls objektive Urteilsmängel, welche in der Prozeßführung der Parteien liegen; für sie ist die "Zurechenbarkeit oder Vorwerjbarkeit" des Mangels ohne Belang. 650 Vgl. etwa BSG NJW 59, 1607; Schweiger DVBI64, 205 (212, 214); Eyermann I Fröhler, § 113 Rdn 15 f.; Redeker I Dertzen, § 108 Rdn 29; a. A nur Kopp VerwArch 61, 129 (156). 651 Für alle vgl. R I Schwab, § 171 I 3 g; Z I Philippi, § 664 I 1 jeweils mwN. 646

4. Kap.: Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum

106

B. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova producta § 93 Ungleich schwieriger ist hingegen der Fall von nova producta, also von Tatsachen, die nach Schluß der vorinstanzlichen mündlichen Verhandlung entstanden sind.

a) Die landläufige Identifizierung des für die Klage- und Rechtsmittelbegründetheit maßgebenden Zeitpunkts § 94 Es ist heute allgemein anerkannt, nach Überwindung älterer wohl auf fehlerhafter Tradierung römischrechtlicher Prozeßinstitute beruhender Ansichten,652 daß für die Entscheidung eines Prozesses stets auf die Sachlage im Augenblick der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung abzustellen und das bei Urteilsfällung geltende Recht anzuwenden ist; 653 neu während des Prozesses eintretende Umstände können somit dazu führen, daß einer zunächst unbegründeten Klage doch noch stattzugeben, und umgekehrt eine zunächst begründete Klage letztendlich abzuweisen ist. 654 Der Klaganspruch ist aber neben dem prozessualen Widerspruchsrecht auch Gegenstand des Rechtsmittelprozesses; was liegt also näher, als dies anzunehmen, daß der maßgebliche Zeitpunkt der Rechtsmittelbegründetheit mit dem der Klagebegründetheit identisch ist, daß also maßgebend für die Begrllndetheit der Anfechtung und damit auch für den Bestand des Anfechtungsobjekts gleichfalls die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Rechtsmittelgericht ist. So mag es scheinen, so wird es auch einhellig gelehrt: Ohne Rücksicht darauf, ob der angefochtene Akt zur Zeit seines Zustandekommens einmal richtig oder unrichtig gewesen sei, habe der iudex ad quem zu prüfen, ob die hic et nunc objektiv beachtliche Sach- und Rechtslage eine Entscheidung wie die getroffene trage, mit der Folge, daß eine ursprünglich richtige Entscheidung jetzt kassiert, oder eine anfangs unrichtige Entscheidung unter Zurückweisung des Rechtsmittels jetzt konfmniert werden müsse, falls ihre sachlichen Voraussetzungen nachträglich fortgefallen

652 Im Anschluß an gemeinrechtliche Ansichten [siehe WetzeIl (Fn. 15) 130; Bähr, Urteile des Reichsgerichts, 153] unterschied ursprünglich das Reichsgericht zwischen Tatsachen, die zur Entstehung des Klageanspruchs ,,im eigentlichen Sinne" führen, und solchen, deren Vorhandensein ,,lediglich" Voraussetzung für die Ausübung eines an sich bereits existenten Anspruchs ist; erstere mußten bereits bei Klagerhebung vorliegen, letztere konnten auch noch im Laufe des Prozesses nachgeschoben werden. Dagegen konnte der Beklagte neu entstehende Einwendungen schrankenlos nachbringen [vgl. hierzu RGZ 1, 425 (426 f.); 38, 87; 41, 87; 57, 46 (47); 90, 430 (433)]. Endgültig aufgehoben wurde diese Rechtssprechung in RGZ 149, 137 (147); siehe schon vorher RGZ 43, 15 (18); 67, 349 (353); 97, 162 (164). 653 Grundlegend Rosenberg Judicium I, 46 f.; Stein JW 20, 398 f.; siehe ferner Blomeyer, § 90 m; Grunsky, § 47 IV 1c; Schlosser, § 5 Rdn 142; B I L I Hartmann, Grundz. § 253 1 B. 6S4

R I Schwab, § 134 m 2; Pinckernelle BB 50, 767 f.; Schweiger NJW 66, 1899 f.

B. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova producta

107

bzw. eingetreten seien. 655 Diese Abstellung auf den Boden der Gegenwart ist für die Berufung nie in Frage gestellt worden; inzwischen hat sich auch die Ansicht durchgesetzt,656 die Revisionsinstanz habe auch eine nach Erlaß des Berufungsurteils in Kraft getretene Gesetzesänderung zu berücksichtigen. 657

§ 95 Etwas anderes als die Aufgabe des Kontrollgedankens ist diese Identifizierung des für die Rechtsmittel- und Klagebegründetheit relevanten Zeitpunkts ganz gewiß nicht. Denn es ist nicht nur begriffsmäßig und denknotwendig, daß jede "Richtigkeitsprüfung" und jedes "Kontrollverfahren" auf den Zeitpunkt des Zustandekommens des Anfechtungsobjekts abstellen muß, kaum mehr als tröstende Illusion ist, wie Gilles mit einem "extensiven" Kontrollbegriff 658 helfen zu wollen; die auf die sonst strikte Trennung zwischen Rechtsmittel- und Klagebegründetheit aufgebaute funktionale Verselbständigung des Anfechtungsprozesses tut vielmehr ein übriges. Im folgenden wird zunächst vorausgesetzt, daß eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten ist.

b) Prozessuale Komplikationen der Identifizierung § 96 Die Reduzierung der Komplexität, zu der eine Koppelung des für die Rechtsmittel- und Klagebegründetheit maßgeblichen Zeitpunkts scheinbar führt, wird indessen nur zu teuer erkauft. Man geht zwar expressis verbis von der praktischen Irrelevanz einer abweichenden Fixierung der maßgebenden Sachlage aus,659 ohne jedoch eingesehen zu haben, daß die Kontinuität des einmal geschaffenen Rechtszustandes durch Bestätigung einer unrichtigen Erkenntnis mit dem Interesse des Anfechtungsführers in Konflikt geraten kann, und ebenso das interesse des Anfechtungsbeklagten mit einer Inkaufnahme der Berechtigung des Anfechtungsobjekts im Augenblick seines Zustandekommens.

6S5 Vgl. Gilles (Fn. 32) 57 f., 62 f.; ders. (Fn. 34) 140 f. Fn. 46, 149 f.; ders. (Fn. 31) 206 f.; ders. ZZP 83, 61 (86); ders. (pn. 29) 165; Bettermann (pn. 5) 370 f.; ders. DVBl 53, 202; Pfeifer (Fn.4) 97; Moeller (Fn. 126) 55; Pawlowski (pn.372) 369; Bähr, Beurteilung, 81; Mädrich (Fn. 310) 25; Schlosser, § 13 Rdn 372; Ritter (Fn. 43) 362 in Text und Fn. 36; Habscheid ZZP 78, 401 (404); R / Schwab, § 141 I. 656 Vgl. BGHZ 9, 101 f.; 10,268 (282 f.); 24, 159 f.; 36, 348 (349 f.); BGH NJW 51, 922 (923); 73,417 f.; BGH MDR 58, 406; BGH ZZP 69,189 f.; Schwinge, Grundlagen, 72 f.; Meiss ZZP 65; 114 f.; Rimmelspacher ZZP 84, 41 (43); ders. (Fn. 374) 226 f.; R / Schwab, § 144 Vill. Anders unter Berufung auf den Wortlaut der §§ 549, 550 zB RGZ 45, 95 (98); 45, 418 (421); Kisch JR 26, 454 f. 657 Streitig, hier aber nicht weiter bedeutsam, ist nur noch die Frage, ob mit Rücksicht auf die inzwischen eingetretene Rechtsänderung ausnahmsweise auch noch in der Revisionsinstanz die bisher als unerheblich angesehenen Alttatsachen vorgetragen werden können. Ablehnend BAG AP § 9 Nr. 9 MuSchG; mit Einschränkungen Blomeyer, § 104 VI 2d; bejahend OGH MDR 49,103 (104) m. Anm. Beitzke; Rietschel ZZP 66, 299 f.; R / Schwab § 146 II 3b. Für die Berücksichtigung auch von Neutatsachen Martens JZ 63, 649 (651). 658 Gilles (Fn. 32) 64 Fn. 124; auch (pn. 34) 140 Fn. 46. 659 Gilles (Fn. 32) 62, 64 Fn. 124.

108

4. Kap.: Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum aa) Die Schadensersatzansprüche aus ungerechtfertigter Vollstreckung

§ 97 Mangelnde theoretische Einsicht in die Ursachen des Streites um die Rechtsfolgen ungerechtfertigter Vollstreckung behindert die Praxis schon, solange das Prozeßrecht die vorläufige Vollstreckbarkeit noch anfechtbarer Entscheidungen kennt. Anspruchsbegründender Tatbestand für die Schadenszurechnung ist nach § 71711 erst die Aufhebung oder Abänderung des erwirkten Vollstrekkungstitels; so klar aber der Gesetzeswortlaut ist, so kontrovers gerät seine dogmatische Deutung. Während die wohl herrschende Ansicht unter Zuhilfenahme materiellrechtlicher Kategorien den Haftungsgrund im Widerspruch des Vollstreckungszugriffs zur materiellen Rechtslage sieht und darauf abstellt, ob das zuerkannte Recht des Gläubigers auch wirklich besteht,660 faßt ihre Gegenspielerin die Ersatzrechte als Neben- oder Tatbestandswirkung der kassatorischen Rechtsmittelentscheidung auf und hält am äußeren Bestand des Vollstreckungstitels fest. 661 Ein Rechtsprechungsrückblick entlarvt indes die Kausalfaktoren dieses Streits. Wiederholt hatte das Reichsgericht ausgeführt, "nicht die fehlende innere Berechtigung, sondern lediglich die Tatsache der Aufhebung" sei für die Haftungszuweisung entscheidend,662 bis das Problem einer erst nach Vollstrekkung des Anfechtungsobjekts entstandenen Klageunbegründetheit auftauchte und sich das Reichsgericht von seinen eigenen prozessualen Wertkategorien distanzierte. 663 Dessen Formel, ,,§ 717 beruht auf dem Gedanken, daß der Kläger den Vollstreckungserfolg zwar prozeßrechtlich zulässig, aber im Widerspruch zur materiellen Rechtslage herbeigeführt hat", hat sich dann der Bundesgerichtshof zu eigen gemacht. 664 § 98 Daß jedoch § 717 11 tatsächlich auf diesem Gedanken beruht, der sich angeblich in der "verfehlten und unglücklichen Fassung" der Vorschrift verwische,665 ist zu bezweifeln. Vielmehr zeigt die Fassung des § 945, der die Haftung

660 Vgl. Hellwig, Klagerecht und Klagmöglichkeit (1905) 23 f.; dens. (Fn. 9) 667; de Boor, Rechtsstreit einschließlich Zwangsvollstreckung (1940) 218; Bernhardt, Vollstrekkungsgewalt und Amtsbetrieb (1935) 38, 43; Larenz JuS 65, 373 (374 f.); Baur, Studien, 114, 119, 120; Baurl Stürner, Zwangsvollstreckungsrecht, § 13 Rdn 205; Henckel (Fn. 391) 257 f.; Pecher, Schadensersatzansprüche, passim; Lent NJW 56, 1762; S / J I Münzberg § 717 11. 661 Vgl. Schlosser (Fn. 36) 21; siehe aber auchdens. inZivilprozeßrecht 11, § 4 Rdn 61; Kuttner, Nebenwirkungen, 18 f, 241 f., Häsemeyer, Schadenshaftung, 81 f.; Walsmann ZZP 41, 234 (237); Bruns I Peters, Zwangsvollstreckungsrecht, § 6 IV; Pagenstecher, Zur Lehre von der materiellen Rechtskraft (1905) 377 N 885; Blomeyer ZZP 75, 1 (6) in Widerspruch zu Zwangsvollstreckungsrecht, § 13 I; Stein, Grenzen und Beziehungen zwischen Justiz und Verwaltung (1912) 94 f. in Widerspruch zu Grundfragen der Zwangsvollstreckung (1913) 19 f.; Breit, Die Vollstreckung nicht endgültiger Titel als rechtsmäßige, aber zum Schadenersatz verpflichtende Handlung (1933) 58. 662 RGZ 58,236 (238); ebenso RG JW 1902 Nr. 19; JW 1906 Nr. 20; JW 1907 Nr. 24 = SeuffBl 73, 407; RGZ 63, 330 (332); 64, 278 (280 f., 282); 103, 352 (353). 663 Vgl. RGZ 67, 365 (372); 121, 180 (182); 145, 328 (332). 664 Siehe zuletzt BGH NJW 80, 2527 (2528).

B. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova producta

109

des Arrestgläubigers nicht von der bloßen Aufhebung des Arresttitels, sondern davon abhängig macht, ob sich "die Anordnung des Arrestes als von Anfang an ungerechtfertigt" erweist, daß sich der Gesetzgeber der Schadensersatzproblematik im Falle einer nachträglich veränderten Sachlage bewußt war, eine ähnliche Regelung beim § 717 aber nicht treffen wollte. 666 Denn einerseits stellte das Hereinziehen von nachträglich entstandenen anspruchsbegründenden Tatsachen eine unzulässige Klagänderung 667 dar, indem neue Entstehungstatsachen als neue KlagegrüDde galten,668 wobei eine Berufungszuruckweisung, wohlgemerkt, überhaupt nicht konzipiert wurde; 669 zum anderen erschien dem Gesetzgeber ein noch anfechtbares Urteil als Akt minderen Bestandschutzes 670 und daher legitim, dem Gläubiger auch dann dem Haftungsrisiko auszusetzen, wenn der Vollstreckungstitel erst durch spätere anspruchsvernichtende Tatsachen beseitigt wird. 671 Gleichwohl ist die herrschende Ansicht im Ergebnis insoweit zu billigen, als sie den Gläubiger, der eine ihm gebührende Leistung verlangte, von der Haftungspflicht befreit; 672 die Frage ist nur, ob man zu diesem Ergebnis über eine materiellrechtliche Bewertung des Vollstreckungszugrlffs gelangen kann.

§ 99 Nach beinahe einhelliger Ansicht ist der Gläubiger auch dann zum Schadensersatz verpflichtet, wenn sein Titel durch Prozeßurteil aufgehoben, die Klage beispielsweise als unzulässig verworfen wird. 673 Soll sich die Vollstrek665 So namentlich Blomeyer, Zwangsvollstreckungsrecht, § 13 I; Pecher (Fn. 660) 5, 162; Fischer, Die Rechtswidrigkeit mit besonderer Berücksichtigung des Privatrechts (1911) 129. 666 So auch wohl Walsmann (Fn. 661) 236; Hirsch, Die Übertragung der Rechtsausübung, VervielfaItigung der Rechte (1910) 117 f., 121, 125. Angemerkt sei auch, daß beide Vorschriften gemeinsam durch die Novelle 1898 (RGBl, 256) in die ZPO eingeführt wurden. Die ursprüngliche Fassung kannte nur Ansprüche auf Rückerstattung des Beigetriebenen; Schadensersatzansprüche unterlagen den allgemeinen Vorschriften des Zivilrechts [vgl. hierzu Gaupp, 3. Aufl. § 87 IV; Falkmann / Mugdan, die Zwangsvollstrekkung mit Ausschluß der Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen, 2. Aufl., 47 Fn. 37]. 667 Daß die CPO in ihrer ursprünglichen Fassung eine Klagänderung völlig ausgeschlossen hatte, wurde bereits dargelegt; siehe oben zu Fn. 212 und § 50. 668 Vgl. etwa RGZ 29,361 (365); Planck (Fn. 212) 457; v. Kries (Fn. 2) 172. 669 Siehe oben zu § 38. 670 Siehe oben zu Fn. 17, 24 und §§ 8 f., 65. 671 Der Satz des Reichsgerichts (RG JW 1909 Nr. 15 = SeuffA 65 Nr. 59), die vorläufige Vollstreckbarkeit sei eine "zweischneidige Waffe" in der Hand des Gläubigers, bringt dies auf den Begriff. 672 Im Gegensatz zu ihrer Gegenspielerin, die auch hier Schadensersatzansprüche verlangt. Siehe ausdrücklich RGZ 63,330 (332), RG JW 1902 Nr. 19; Kuttner (Fn. 661) 23; Förster / Kann, § 7173 c,cc; Seuffert / Walsmann, § 717 2c; Sydow / Busch, § 717 5; Breit (pn. 661) 62; Raydt, Die vorläufige Vollstreckbarkeit (1904) 43. 673 Vg. RGZ 64,278 (281); 113, 125 (134), OLG DüsseldorjNJW 74, 1714 (1715); OLG Köln JMB1 NRW 64, 184 f.; Baur / Stürner (Fn. 660) § 13 Rdn; Kuttner (Fn. 661) 18; Blomeyer (Fn. 665) § 13 12; S / J / Münzberg, § 717 11 1; B / LI Hartmann § 717 2 B; Z / Scherübl, § 717 11 1; Bruns / Peters (Fn. 661) § 6 IV 4d; abweichend nur Pecher, vgl. sogleich im Text und unten zu Fn. 675 ..

110

4. Kap.: Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum

kungshaftung nicht an prozessualer Maßgeblichkeit, sondern materieller Rechtswidrigkeit orientieren, so bleibt hier ein materiellrechtlich verstandener Zuweisungsgrund unauffindbar, der Titelbeseitigung fehlt jeder Sinnbezug auf die materielle Rechtslage. 674 Wird etwa das Urteil wegen Prozeßunfahigkeit des Gläubigers kassiert, so könnte von einer materiell ungerechtgertigten Vermögensverschiebung nicht ernsthaft gesprochen werden; denn die abgenötigte Leistung mag durchaus geschuldet sein. Es wäre denn hier allein folgerichtig, die - wenn auch womöglich vorläufige - Haftung nach der Titelbeseitigung auszuschließen, sollte man wirklich ein Rechtswidrigkeitsurteil für die Haftung verlangen, dann freilich mit der Konsequenz, daß der Vollstreckungsgläubiger auch die abgezwungene Leistung - vorläufig - behalten dürfte; die von Pecher empfohlene auf die Leistung selbst beschränkte "prozessuale Rückerstattungsmaßregel"675 wäre ebenfalls unberechtigt, weil auch der Schuldner seine Leistung zunächst zurückhalten dürfte, ohne einen seine Auffassung stützenden Titel vorweisen zu müssen. Nicht anders verhält es sich ferner, wenn das aufhebende Prozeßurteil den Rechtsstreit an das zuständige Gericht verweist (§ 281)676, oder die Sache in die Unterinstanz zurückverweist (§ 539).677 Wie ein materiellrechtlich orientiertes Rechtswidrigkeitsurteil in all diesen Fällen schon irgendwelche Vorwirkungen äußern könnte, vermag man nicht plausibel darzulegen. Eine eigenständige haftungszuweisende Bedeutung, wie es Goldschmidt voschwebte,678 soll die prozessuale Ordnungsmäßigkeit ohnehin nicht gewinnen, denn sonst müßte der Gläubiger auch dann haften, wenn ihm die beigetriebene Leistung endlich zugesprochen wird. 679 Auf die prozessuale Ordnungswidrigkeit läßt sich entgegen Henckel gewiß auch keine "Vermutung der materiellen Rechtswidrigkeit"680 stützen; denn aus dem Fehlen von Prozeßvoraussetzungen kann ebensowenig auf das Nichtbestehen des Anspruchs geschlossen werden, wie umgekehrt aus deren Vorliegen auf die Begründetheit des strittigen Rechts. 681 Und selbst wenn sich ein Prozeßurteil als konstituierendes Element in ein Rechtswidrigkeitsurteil irgendwie hinein674 Treffend Häsemeyer (Fn. 661) 81; Kuttner (Fn. 661) 25. Pecher (Fn. 660) 194 f., 197 f., wonach der Kläger nur das Erlangte zu erstatten habe. 676 Vgl. RG WarnRspr 1909, Nr. 259; BAG JZ 62, 286 (287); Kuttner (Fn. 661) 18; B I LI Hartmann, § 7172 B. Anders früher Goldschmidt, Ungerechtfertigter Vollstrekkungsbetrieb (1910) 6, mit der Begründung, daß damit noch nicht entschieden sei, ob die Klage letztendlich abgewiesen werde. 677 Vgl. RG JW 1893, 486, Nr. 6; OLG Düsseldorj NJW 74, 1714 (1715); OLG Nürnberg OLGZ 73, 46 mwN; Wieczorek, § 717 BI, Bille; Baur/ Stürner (Fn.660); Bruns I Peters (Fn. 661) § 6 IV 4 d. Anders früher OLG Braunschweig DJZ 1907, Sp. 720; Schneider DJZ 1907, Sp. 1122. 678 Goldschmidt (pn. 676) 5 f.; siehe auch Henckel (pn. 391) 262. 679 Insoweit auch Pecher (Fn. 660) 163 f.; Häsemeyer (Fn. 661) 82. Siehe auch Schlosser, Zivilprozeßrecht n, § 4 Rdn 64. 680 Henckel (Fn. 391) 265; auch SI J I Münzberg, § 717 11 1; Blomeyer (Fn. 665) § 13 12. 681 So zutreffend Häsemeyer (Fn. 661) 82 f. 675

B. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova producta

111

deuten ließe, bliebe es endlich offen, wie eine Haftungszuweisung nach materiellrechtlichen Kategorien zu ermessen wäre, wenn der Rechtsstreit ohne gerichtliche Entscheidung endet, so bei Klagerücknahme oder beiderseitiger Erledigungserklärung . Dem Schuldner wird nämlich auch hier ein Schadensersatzanspruch unabhängig davon gewährt, ob er nicht doch die abgenötigte Leistung schuldet; 682 das Schadensersatzurteil klammert diese Frage einfach aus. § 100 Für die materiellrechtliche Deutung läßt sich darüber hinaus eine gewisse Inkongruenz des von ihr für die Ersatzpflicht geforderten Tatbestandes und der gesetzlich formulierten Tatbestandsbeschreibung nicht leugnen 683 . Um den Abstand zu vermindern und zu einer möglichst wortgetreuen Gesetzesauslegung zu gelangen, verwendet sie daher die förmliche Aufhebung des angegriffenen Urteils als prozessuale Voraussetzung, das Fehlen der materiellen Berechtigung des Vollstreckungszugriffs hingegen als sachliche Voraussetzung des Schadensersatzanspruchs 684; die im Gesetz erforderte Urteilsaufhebung erlange somit "insofern Bedeutung, als sie mit dem Vollstreckungstitel ein prozessuales Hemmnis beseitigt und dem geschädigten Beklagten erst die Möglichkeit eröffnet, mit seiner Rechtsbehauptung Gehör zu finden"685. Doch auf diese Weise gelingt ihr zwar, den unbilligen Haftungsfolgen im Falle einer nachträglichen Unbegründetheit des Klaganspruchs auszuweichen; die Verfolgbarkeit von Ersatzrechten versagt jedoch, wenn der Vollstreckungstitel des Klägers unter Zurückweisung des Rechtsmittels des Beklagten deshalb aufrechterhalten bleibt, weil sich der Klaganspruch erst nachträglich als begründet erweist 686. Der Widerspruch ist eklatant; einerseits verwehrt die materielle Rechtslage dem Beklagten, aus einer rechtmäßigen Vollstreckung Ersatzansprüche durchzusetzen, und andererseits schneidet sie ihm die Möglichkeit ab, aus einem rechtswidrigen Zwangszugriff Entschädigung zu verlangen. § 101 Aus all dem erhellt: Mit Hilfe einer materiellrechtlichen Deutung kann die Vollstreckungshaftung in § 717 11 nicht erklärt werden, sondern wird auf diesem Weg allenfalls verfälscht 687 . Behalten wir also weiterhin vor Augen, daß sich die Haftungszuweisung nicht an die Beschreibung eines spezifischen Schädigungshergangs, sondern an eine an den prozessualen Erkenntnisstand gebundenen

682 Vgl. Pecher (Fn. 660) 207 mwN; insoweit wohl anders die hM: Z I Scherübl, § 717 ll4mwN. 683 Für alle siehe Pecher (N 660) 81 f. 684 Vgl. etwa Henckel (Fn. 391) 250, 255, 272; Pecher (Fn. 660) 79, 80, 191, 206; auch Hellwig (N 9) 667 N 18. 685 So wörtlich Pecher (Fn. 660) 82; siehe ferner SI J I Münzberg, § 717 IV 2. 686 So unausweichlich und resignierend Pagenstecher (Fn.661) 377 N 885; Baur (pn.660) 117. Demgegenüber wollen Pecher (Fn.660) 207 und Wieczorek, § 717 B illb 1 dem Schuldner auch hier Ersatzrechte zusprechen; wie dies machbar wäre, wenn ..die Beseitigung des Vollstreclrungstitels prozessuale Voraussetzung der Schadensersatzklage ist" [so ausdrücklich Pecher selbst, 206], bleibt unerklärt und unerklärlich. 687 Ebenso folgerichtig Häsemeyer (Fn. 661) 83.

112

4. Kap.: Rechtsmittelkontrollfunktion und Jus Novorum

Urteilsanweisung bzw. an das Vorhandensein eines Urteils bestimmten Inhalts anknüpft. bb) Die Prozeßkostenlast

§ 102 Die Beträge, die der Beklagte aufgrund des Vollstreckungstitels an den Kläger zu zahlen hat, sind aber nicht Prozeßkosten, die im Sinne des § 91 zur Führung des Rechtsstreites aufgewendet wurden 688, und der Anspruch auf Rückerstattung ist nicht der auf die prozessuale Kostenentscheidung gestützte Kostenerstattungsanspruch nach § 103 689 . Bei der Frage der Prozeßkostenlast ist die methodische Unterscheidung zwischen materieller Zuweisung und prozessualer Zuerkennung, die uns beim § 717 begegnete, der dogmatischen Auswertung entzogen 69O. Hier macht bereits die bloße Tatsache des Unterliegens kostenpflichtig, was ohne Rücksicht darauf gilt, aus welchem Grunde die Partei unterlegen ist, ob sie ein Verschulden trifft usf. 691 Die Prozeßkosten trägt also nicht derjenige, der "Unrecht hat", sondern der, der "Unrecht behält". § 103 Zu den "Kosten des Rechtsstreits" (Arg. § 91 I) gehören die Aufwendungen aller Instanzen, die ungeachtet der jeweils in den einzelnen Rechtszügen gefällten Entscheidungen letztlich der Partei zufallen, die im Gesamtrechtsstreit unterlegen ist; obsiegt etwa der Kläger am Ende des Verfahrens, so hat der Beklagte auch die Kosten der Instanzen zu tragen. in denen ihm Recht gegeben worden ist 692. Das hat dann einen vernünftigen Sinn, wenn die strittige Rechtsfolge irrtümlich ab- oder zugesprochen wurde und das Rechtsmittelgericht unter Feststellung der Rechtswidrigkeit zu einer abweichenden Aburteilung gelangt693. Paradox erscheint hingegen die Konsequenz, daß die Kosten einer Instanz zu Lasten des Beklagten fallen müssen, gegen deren Entscheidung er zu Recht beschwert ist, wenn der Klaganspruch erst nach Zustandekommen der ausgesprochenen Verurteilung begründet wurde, oder umgekehrt zu Lasten des Klägers, wenn die ursprünglich begründete und dennoch abgewiesene Klage nachträglich unbegründet wird. Soll das Rechtsmittel zurückgewiesen werden, so hat die Partei in der Tat nicht nur die Aufwendungen der oberen, sondern auch der unteren Instanz zu tragen 694. Dieses absurde Ergebnis hat man zwar eingesehen, sich aber damit beruhigt, daß der Beklagte die Möglichkeit hat, den Klageanspruch

688 Vgl. Schneider, Kostenentscheidung, 52 f.; Z I Schneider, § 91 III 2. 689 Vgl. Z I Schneider, § 103 I 3. GleichwohllassenKG MDR 73, (508) und Oldenburg MDR 80, (850) eine Kostenfestsetzung nach § 103 zu. 690 Allgemein zur Funktion der Prozeßkosten vgl. Pawlowski JZ 75, 197 f.; Kissel, FS-Schiedermair (1976) 313 f.; Fechner JZ 69,349 f. 691 Ganz hM: B I L I Hartmann, Übers § 91 3 A; Wieczorek, § 91 BII; Blomeyer, § 129 11 1; Schneider (Fn. 688) 71 f. 692 Für alle siehe Schneider (Fn. 688) 71 f.; SI J I Schumann-Leipold, § 91 V 1. 693 Hierfür vgl. die unter Fn. 690 zitierten. 694 Vgl. B I LI Hartmann, § 97 2a; ZI Schneider, § 97 11,3.

B. Erweiterung der Urteilsgrundlage durch nova producta

113

in der auf den Zeitpunkt der "venneintlichen" Begründetheit folgenden Verhandlung "sofort anzuerkennen", und sich in entsprechender Anwendung des § 93 von der Kostenlast zu befreien 695, oder andererseits daß der Kläger die Sache für erledigt erklären kann und in analoger Anwendung des § 91 a den Prozeß ohne Kostenrisiko beendet 696 • Im Klartext heißt es, daß die Partei wegen der Kosten einen Anspruch anerkennen bzw. fallenlassen muß, von dem sie im Grunde gar nicht weiß, ob er besteht oder nicht. Ebenso großzügig räumt man dem Kläger die Befugnis ein, seinen in der ersten Instanz zu Recht zugesprochenen Anspruch für erledigt zu erklären, falls im Laufe des Rechtsmittelverfahrens Tatsachen eintreten, die möglicherweise seinem Begehren nun entgegenstehen 697, und dem Beklagten, eine zutreffende erstinstanzliehe Klagabweisung durch Anerkenntnis des mittlerweile eventuell begründeten Anspruchs aufzugeben 698. Die Frage lautet auch hier ähnlich; Rechtsverlust wegen der Kostendrohung? § 104 Daß solche Ausweichmanöver nicht zu befriedigen vennögen, liegt auf der Hand; vereinzelt hierzu unternommene abweichende Lösungsversuche sind mindestens fragwürdig. So will Schumann im Falle einer zunächst zu Recht als unbegründet verworfenen bzw. als begründet stattgegebenen Klage den Beklagten bzw. den Kläger zum Anerkenntnis des Rechtsmittelanspruchs veranlassen 699; wo aber hier ein Unterschied im Hinblick auf das Interesse und die Rechtsposition des Anerkennenden liegen soll, bleibt dunkel. Bei irrtümlicher Klagabweisung bzw. Klagestattgabe verlangt er dagegen vom Kläger bzw. Beklagten, daß sie auf den Rechtsmittelanspruch verzichten 700. Ungeachtet dessen, daß sich im Ergebnis auch hier nichts ändert, und daß die entsprechende Anwendbarkeit des § 93 beim Verzicht umstritten ist 70I , führt der Rechtsmittelverzicht die Rechtskraft des Anfechtungobjekts herbei 702; der Verzichtende soll also überdies eine zeitlich vorgezogene und falsche rechtskräftige Aburteilung in Kauf nehmen. Das gleiche gilt endlich für Heintzmann, der sich im Falle der nachträglichen Unbegründetheit eines vom Beklagten eingelegten Rechtsmittels für eine Rechtsmittelerledigungserklärung einsetzt 703 ; mit der Rechtsmittelerledigung wird der angefochtene Akt rechtskräftig 704, und zwar für einen Zeitpunkt, für den die in ihm festgestellte Rechtsfolge gar nicht bestand. 695 Vgl. etwa Schneider (Fn. 688) 262; BI L I Hartmann, § 91 1 A; SI J / SchumannLeipold, § 91 a V 2. 696 Vgl. etwa ZI Schneider, § 9la m 3a; TI Putzo, § 9la 6b.

Siehe zu Fn. 696. Siehe zu Fn. 695. 699 Schumann (Fn. 6) § 28 Rdn 618, 621. 700 Schumann (Fn. 6) Rdn 619, 620. 70\ Bejahend B I L I Hartmann, § 93 4; verneinen