Dialektischer Materialismus und Geschichte der Philosophie: Philosophiehistorische Studien [Reprint 2021 ed.] 9783112528181, 9783112528174

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Dialektischer Materialismus und Geschichte der Philosophie: Philosophiehistorische Studien [Reprint 2021 ed.]
 9783112528181, 9783112528174

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T. I. Oiserman Dialektischer Materialismus und Geschichte der Philosophie

T. I. Oiserman

Dialektischer Materialismus und Geschichte der Philosophie Philosophiehistorische Studien

Akademie-Verlag • Berlin 1982

Russischer Originaltitel: JJiiajieKTiroecKiifi MaTepnajin8M H H c r o p u a I|»HJIOCO? Die Notwendigkeit der Unterscheidung von wissenschaftlichen, philosophischen und Alltagsvorstellungen wurde schon im Altertum erkannt, wovon Demokrits Forderung zeugt, das Wahre von dem nur in der Meinung Existierenden abzugrenzen. Bacons Lehre von den Idolen enthält ebenfalls eine Kritik des Alltagsbewußtseins und, was nicht weniger wichtig ist, eine Kritik der G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zweiter Band, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, Stuttgart 1959, S. 36. 104 W. I. Lenin, Philosophische Hefte. Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 260. 105 Vgl. W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 261. 103

G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zweiter Band, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, a. a. O., S. 474. 1 0 7 W. I. Lenin, Philosophische Hefte. Konspekt zu Hegels „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie", in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 279/280.

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Alltagssprache. Aber diese Kritik ist keine Negation der Bedeutung des Alltagsbewußtseins für die Erkenntnis, sondern der Versuch, es zu reinigen, seine Vorstellungen zu berichtigen, die in ihm enthaltene Wahrheit zu berücksichtigen und weiterzugehen. Indem er die materialistische Tradition schöpferisch weiterentwickelte, bewies der dialektische Materialismus, daß der Widerspruch zwischen den theoretischen Kenntnissen und den sinnlichen Gegebenheiten die Bedeutung letzterer in keiner Weise schmälert und folglich die sensualistische These von der sinnlichen Entstehung der abstrakten Begriffe nicht widerlegt. Dieser dialektische Widerspruch zwischen Rationalem und Sinnlichem bleibt dem Alltagsbewußtsein in der Regel unverständlich, da es nur das Sinnlich-Glaubwürdige anerkennt. Eben deshalb können die Vorstellungen, die Normen des gesunden Menschenverstandes, die bestimmte Seiten der Wirklichkeit mehr oder weniger richtig widerspiegeln, keine Anleitung zur wissenschaftlichen Forschung sein. Deren Sphäre ist ungleich breiter und bedeutender als jene, mit der es das Alltagsbewußtsein zu tun hat. Wissenschaftliche Thesen, die mit dem gesunden Menschenverstand in Konflikt geraten, sind dadurch noch nicht widerlegt: nur die Wissenschaft selbst und die Praxis können Thesen, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen, widerlegen (oder aber beweisen). Deshalb schrieb Engels: „Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald er sich in die weite Welt der Forschung wagt." 108 Die Argumente des gesunden Menschenverstandes, die gegen das heliozentrische System, die nichteuklidische Geometrie, die Relativitätstheorie vorgebracht wurden, sind allgemein bekannt. Doch nicht nur das Alltagsbewußtsein, sondern auch die Wissenschaft zur Zeit von Kopernikus, Lobatschewski und Einstein konnte sich in Gestalt ihrer konservativen Vertreter lange Zeit mit der Anerkennung der Existenz von Antipoden und den, wie es damals schien, paradoxen Thesen der Geometrie Lobatschewskis und der Theorie Einsteins nicht abfinden. Die Konservativen in der Wissenschaft erhoben sich in dieser Hinsicht nicht über den Standpunkt des gesunden Menschenverstandes, der da lautete: das kann nicht sein, weil es völlig unmöglich ist. Das Alltagsbewußtsein dem wissenschaftlichen Bewußtsein entgegensetzen heißt jedoch nicht die Vielfalt des Alltagsbewußtseins ignorieren. Dieses akkumuliert nicht nur gewöhnliche Wahrnehmungen und Vorstellungen, die nicht über die Grenzen der persönlichen Lebensverhältnisse des Menschen hinausgehen, sondern auch die vielseitigen Erfahrungen, besonders die Produktionserfahrung der Menschen, die als Grundlage auch der wissenschaftlichen Schlußfolgerung dienen. A. N. Kolmogorov hebt hervor, daß die Axiome der euklidischen Geometrie Fakten widerspiegeln, die Inhalt der täglichen Erfahrung 108 F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring"), Einleitung, in: MEW, Bd. 20, a. a. O., S. 21.

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der Menschen sind: „Die Überzeugung von der Übereinstimmung der Axiome mit der Wirklichkeit beruht letztlich immer auf der Erfahrung. Wenn die Erfahrung, auf die sich diese Überzeugung stützt, eine der ganzen Menschheit gemeinsame vorwissenschaftliche Erfahrung ist, die bereits zur unmittelbaren, sich auf keine bestimmten Einzelbeobachtungen stützenden Überzeugung wurde, haben wir es mit Offensichtlichkeit zu tun. So verhält es sich mit den Axiomen der elementaren Geometrie." 1 0 9 Bekanntlich hat der Begründer der elementaren Geometrie Euklid die Axiome Alltagsvorstellungen genannt. Die Menschen erlernten das Kultivieren von Getreide, das Bauen von Häusern, das Schmelzen von Metallen, lange bevor die Wissenschaft diese Produktionsprozesse zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machte. Sowohl die Agronomie wie auch die Baukunst und die Metallurgie haben die alltägliche Produktionserfahrung der Menschen, d. h. die Alltags Vorstellungen, von denen sie sich in ihrer Arbeitstätigkeit leiten lassen, vollständig berücksichtigt. Was die Vorurteile betrifft, so sind sie nicht nur dem Alltagsbewußtsein eigen: die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß auch in den wissenschaftlichen (oder Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebenden) Theorien nicht wenige enthalten sind. Hegel, der die Gegensätzlichkeit von dialektischer und metaphysischer Denkweise aufdeckte, hat das Alltagsbewußtsein (nach seiner Terminologie: das verstandesmäßige Bewußtsein) völlig mit der metaphysischen Weltauffassung identifiziert. Er charakterisierte die Einwände des Alltagsbewußtseins gegen die Lehre der altgriechischen Sophisten als „Geschrei des gesunden Menschenverstandes, der sich nicht anders zu helfen weiß" 1 1 0 , und behauptete, daß der Alltagsverstand unvermeidlich in Sophistik verfällt, da er die Wahrheiten und die Maximen, von denen er sich leiten läßt, verabsolutiert. Hegel hat charakteristische Besonderheiten einer historisch bestimmten Form des Alltagsbewußtseins richtig bemerkt. Indem er aber annahm, daß die metaphysische Begrenztheit des Alltagsbewußtseins etwas Unhistorisches, nicht zu Überwindendes sei, machte er jenen Fehler, den er selbst aufgezeigt hatte. In dieser negativen Bewertung des Alltagsbewußtseins zeigt sich der rationalistisch-idealistische Charakter der Hegeischen Lehre, wonach die sinnlich wahrnehmbare Außenwelt nicht mehr ist als ein bloßer (wenn auch objektiver) Schein, auf den sich eben das Alltagsbewußtsein bezieht. Die Philosophie, so behauptet Hegel, unterscheidet sich jedoch dadurch vom Alltagsbewußtsein, daß sie dasjenige, dem das Alltagsbewußtsein ein wirkliches Sein zuschreibt, nur als Erscheinung betrachtet. Die konkret-historische Analyse des Alltagsbewußtseins erlaubt eine Schlußfolgerung, die der Hegeischen Philosophie trotz des ihr eigenen Historismus 109

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A. N. Kolmogorov, Matematika, in: Bolsaja sovetskaja enciklopedija, 1. Ausgabe, Bd. 38, Sp. 393. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Zweiter Band, in: Sämtliche Werke, Bd. 18, a. a. O., S. 7.

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fremd ist: die metaphysischen Merkmale des Alltagsbewußtseins sind durch jene Epoche hervorgerufen, die auch die metaphysische Denkweise in der Wissenschaft hervorbrachte. 111 E s gibt keinen absoluten Gegensatz von alltäglichem und nichtalltäglichem (wissenschaftlichem, philosophischem) Bewußtsein. Das Alltagsbewußtsein existiert nicht isoliert, und in unserer Zeit ist es schon nicht mehr so alltäglich wie hundert Jahre zuvor. Kurz, es entwickelt sich. Aber verschwindet es in diesem Falle nicht? Wir meinen nein. E s wird in einem gewissen Maße intellektualisiert, denn Kultur, Erziehung und Ausbildung beeinflussen und wissenschaftliche Vorstellungen durchdringen es. Aber trotzdem bleibt es Alltagsbewußtsein. Das gleiche muß auch von der Alltagserfahrung gesagt werden, die im Vergleich zur speziellen Erfahrung der Wissenschaft begrenzt ist. Das Alltagsbewußtsein assimiliert Erfahrung und Wissen, eignet sich Vorstellungen und einige Begriffe der Wissenschaft an, doch es zeigt keine Selbständigkeit in der Bewertung ihres erkenntnistheoretischen Wertes. Die Menschen wenden dieses Wissen als bestimmte Stereotype zur Orientierung in der Sphäre ihrer alltäglichen, außerberuflichen Beschäftigungen und Interessen an. In der modernen Gesellschaft nutzt der Mensch Telefon, Radio, Fernsehen, Auto, Kino und andere Errungenschaften von Wissenschaft und Technik und hat dabei in der Regel keine klare Vorstellung von den Gesetzmäßigkeiten, nach denen diese Dinge funktionieren. Das Individuum gibt sich damit zufrieden, daß es ihren Verwendungszweck kennt, daß es aus ihnen Nutzen ziehen kann und sie ihm Vergnügen bereiten, und weiß, wohin es sich im Falle ihrer Beschädigung zu wenden hat. Und natürlich ist es für den Menschen unmöglich und auch nicht notwendig, all das zu verstehen, was ihm bekannt wird und was anderen, Physikern, Mechanikern, Elektrotechnikern, Radiotechnikern usw., verständlich ist. Auch die Wissenschaftler selbst haben infolge der Spezialisierung eine weitgehend unklare Vorstellung von den wissenschaftlichtechnischen Errungenschaften, derer sie sich bedienen — wenn diese Errungenschaften nicht mehr oder weniger unmittelbar mit ihren wissenschaftlichen Interessen verbunden sind. Folglich ist auch in diesem Falle der Gegensatz von Alltags- und wissenschaftlichem Bewußtsein nicht absolut. Es gibt keine Menschen, die nur ein wissenschaftliches Bewußtsein besitzen, und in unseren Tagen gibt es auch keinen mehr, der nur Alltagsbewußtsein besitzt. Diese beiden Formen des menschlichen Bewußtseins sind nicht voneinander zu trennen. Bestimmend für die marxistische Auffassung vom Alltagsbewußtsein ist somit die Anerkennung der Vielfalt von Beziehungen des Menschen zur ob111

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Engels weist auf die metaphysische Begrenztheit des bürgerlichen gesunden Menschenverstandes hin. „Der steife Karrengaul des bürgerlichen Alltagsverstandes stockt natürlich verlegen vor dem Graben, der Wesen von Erscheinung, Ursache von Wirkung trennt; wenn man aber auf das sehr kupierte Terrain des abstrakten Denkens par force jagen geht, so muß man eben keine Karrengäule reiten." (vgl. F. Engels, Karl Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie. [Rezension], in: MEW, Bd. 13, Berlin 1978, S. 473).

jektiven — natürlichen und sozialen — Realität. Als aktives Wesen, das die Unendlichkeit des Universums entdeckt, dessen Gesetze erkennt, sie beherrscht, eine „zweite Natur" und damit sich selbst schafft, bildet der Mensch sein wissenschaftliches Bewußtsein aus und entwickelt es. Doch als Wesen, das sich nur in seiner unmittelbaren Umgebung zurechtfindet und sich, bereits gebahntem Weg folgend, ihr anpaßt, ist der Mensch Träger des Alltagsbewußtseins, in dem sich Verstand und Vorurteil, wirkliches Wissen und Illusionen in sehr sonderbarer, widersprüchlicher Weise vereinen. Sofern es auf dem Boden der Alltagserfahrung bleibt, hat das Alltagsbewußtsein empirischen Charakter und ist dem Idealismus zweifellos feindlich gesinnt. Diese Tatsache spiegelt sich in der spekulativ-idealistischen Kritik des Alltagsbewußtseins wider. Letzteres stützt sich jedoch, wie bereits gesagt, nicht immer und nicht in jeder Hinsicht auf die Alltagserfahrung, die Alltagspraxis. Wie die antike Philosophie (die sich vor der Entstehung der Wissenschaft herausbildete und die Alltagserfahrung der Menschen interpretierte) zeigt, sind im Alltagsbewußtsein die Prototypen sowohl der materialistischen als auch der idealistischen Weltauffassung enthalten. In diesem Sinne stützt sich nicht nur der Materialismus, sondern auch der Idealismus auf die Vorstellungen des Alltagsbewußtseins. Aber nicht nur Idealisten, auch Materialisten kritisieren es. Der Materialismus stützt sich auf den „naiven Realismus" des Alltagsbewußtseins, der Idealismus aber auf die dem Alltagsbewußtsein eigenen subjektivistischen Vorstellungen. Der Materialismus kritisiert das Alltagsbewußtsein von links, der Idealismus von rechts. Der Materialismus wendet sich gegen die Vorurteile des Alltagsbewußtseins; Gegenstand der idealistischen Kritik ist gewöhnlich (aber nicht immer) der gesunde Menschenverstand. Als klassisches Beispiel für die idealistische Kritik des gesunden Menschenverstandes kann Tertulians Äußerung gelten, daß der religiöse Glaube das Absurde, d. h. das, was für den gesunden Menschenverstand nicht annehmbar ist, nicht fürchten solle. Die Geschichte des Christentums und der mit ihm verbundenen philosophischen Lehren zeigt jedoch überzeugend, daß die christliche Theologie und die sie unterstützenden idealistischen Strömungen ihr Ziel sowohl durch Kritik des gesunden Menschenverstandes (Protestantismus, protestantistische Neoorthodoxie) als auch durch Berufung auf das gesunde Alltagsdenken (Katholizismus, Neothomismus) zu erreichen suchen. Thomas von Aquino, der die These von der Harmonie der Religion und der Vernunft verkündete, versuchte zu beweisen, daß der gesunde Menschenverstand, ausgehend von den täglich zu beobachtenden Fakten, logisch notwendig zur Schlußfolgerung von der Existenz Gottes gelangt. So konstatiert die gewöhnliche Beobachtung beispielsweise, daß ein Körper sich deswegen bewegt, weil ihm Bewegung übertragen wurde. Davon ausgehend, so meinte Thomas, folgert der gesunde Menschenverstand logisch, daß ein Bewegtes ohne das Bewegende nicht möglich ist. Wenn sich das Bewegende jedoch selbst in Bewegung befinde, erweise es sich als bewegt und setze damit das Vorhanden89

sein eines Bewegers voraus. Diese Reihe könne nicht unendlich sein, da sonst keinerlei Bewegung einen Anfang in der Zeit hätte; folglich müsse es etwas Bewegendes, aber Ruhendes geben, d. h. eine erste Ursache. Ihre Hinwendung zum gesunden Menschenverstand als unbestreitbarer Autorität begründeten Thomas von Aquino und seine mittelalterlichen Anhänger, indem sie diese menschlichen Fähigkeiten mystifizierten: selbige sei bei allen Menschen völlig gleich, von ihren Lebensbedingungen und ihrem Wissen unabhängig, d. h. von Gott hervorgebracht und in die menschliche Seele eingepflanzt. So wird in dem im 17. Jahrhundert veröffentlichten thomistischen „Wörterbuch der philosophischen Wissenschaften" behauptet, der gesunde Menschenverstand sei „ein und derselbe bei allen Menschen und in allen Epochen ; er bewegt sich nicht vorwärts und weicht nicht zurück. E r ist, wenn man das so sagen kann, die Vernunft in ihrem ursprünglichen Zustand (l'état brut), Vernunft ohne Reflexion und ohne Wissenschaft." 1 1 2 Es ist unschwer zu begreifen, daß eine solche „Urvernunft", die durch Reflexion und Bildung noch nicht „verdorben" ist, ohne besondere Schwierigkeiten zur Anerkennung der logischen Beweisbarkeit der Existenz Gottes gelangt. Und es ist verständlich, warum die modernen Thomisten die Ansichten ihrer mittelalterlichen Vorgänger über die (angeblich durch die unveränderliche Natur des Menschen bedingte) Unveränderlichkeit der Alltagserfahrung völlig teilen. Von diesem Standpunkt aus entspricht die Philosophie nur dann ihrem Begriff, d. h. ist authentische philosophische Erkenntnis, wenn sie allein mit der Alltagserfahrung, deren Inhalt sie interpretiert, verbunden ist. In diesem Fall ist die Philosophie von der Wissenschaft unabhängig und kann in ihren Grundthesen von der Wissenschaft, die sich mit der speziellen, d. h. wissenschaftlichen Erfahrung befaßt, weder widerlegt noch bestätigt werden. Alle Philosophen sind nach der Lehre des Neothomismus Zeitgenossen, da sie sich mit der Interpretation ein und derselben, immer gleichen Alltagserfahrung beschäftigen. Diese Erfahrung beinhaltet weder Bestätigungen noch Verneinungen. Sie ist weder wahr noch falsch. Sie ist die Gesamtheit der unmittelbaren Erlebnisse der Umwelt und des eigenen Lebens. Die neothomistische Apologie des Alltagsbewußtseins, der Alltagserfahrung, hat ebenso wie der Versuch, die Unabhängigkeit ihres grundlegenden Inhalts von Zeit und Raum, von der Wissenschaft und der speziellen wissenschaftlichen Erfahrung zu beweisen, die Rechtfertigung der theologischen Philosophie des Thomas von Aquino zum Ziel. Danach ist dieser unser Zeitgenosse, denn die Alltagserfahrung kann ja nicht veralten. Der Thomismus, so beteuern die Neothomisten, folgt unmittelbar aus dem reinen, durch Klügelei nicht getrübten Ursprung des gesunden Menschenverstandes, der wegen seiner prinzipiellen Unveränderlichkeit als außerhistorisches, uns von oben geschenktes geistiges menschliches Wesen verstanden werden muß. G . Bachelard, der diese thomisti112

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Zit. nach: A. Lalande, Vocabulaire technique et critique de la philosophie, Paris 1962, S. 972.

sehe Vorstellung von einer neutralen, stummen Alltagserfahrung der Menschen, mit deren Deutung sich die Philosophie begnügen müsse, ablehnt, bemerkt sehr treffend: „Nach einem so viele Jahrhunderte andauernden Dialog zwischen der Welt und dem Geist kann man schon nicht mehr von einer stummen Erfahrung sprechen." l l ; i Die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts entlarvten unermüdlich die Versuche der katholischen Theologen und Philosophen, phantastische religiöse Vorstellungen durch die Autorität des gesunden Menschenverstandes zu untermauern. Holbach behauptete, daß der gesunde Menschenverstand dem Menschen nur dann eigen ist, „wenn man gesund ist; dann, wenn die Seele weder durch Furcht verwirrt noch durch Krankheit beeinträchtigt oder durch Leidenschaften bedrängt wird" 1 1 4 . Dieser normale, gesunde Menschenverstand ist, wie Holbach erklärte, völlig unvereinbar mit der Religion, die fordert, daß die Menschen an unbeweisbare Dinge und an Thesen glauben, die unwahrscheinlich sind und der Vernunft zutiefst widersprechen. 115 Wenn die französischen Materialisten die Unvereinbarkeit von gesundem Menschenverstand und Religion bewiesen, so sah die schottische „Philosophie des gesunden Menschenverstandes" ihre Hauptaufgabe im Beweis der gegenteiligen These. Der Hauptvertreter dieser Schule T. Reid behauptete 1764 in der „Untersuchung über den menschlichen Geist auf der Grundlage des gesunden Menschenverstandes", die Anerkennung der Realität der Außenwelt könne sich nicht auf die Zeugnisse der Sinnesorgane gründen, da diese Zeugnisse nur insoweit Wert besäßen, als wir ihnen Glauben schenken. Der gesunde Menschenverstand sei eben diese ursprüngliche, den sinnlichen Wahrnehmungen und der Reflexion vorausgehende Fähigkeit des Glaubens; dieser entspringe die Anerkennung sowohl der Außenwelt als auch Gottes. Von diesem Standpunkt aus widerspricht der Unglaube an Gott ebenso dem gesunden Menschenverstand wie der Unglaube an die Realität der Gegenstände, von denen die Sinne Zeugnis geben. Deshalb ist nach Reids Lehre die Abkehr vom religiösen Glauben gleichbedeutend mit der Abkehr von der Anerkennung der Realität der Außenwelt. Materialismus und Idealismus sind also in der Geschichte nicht selten im Namen des gesunden Menschenverstandes aufgetreten. Und obwohl das Alltagsbewußtsein infolge der ihm eigenen Widersprüche zweifellos gegensätzliche philosophische Ansichten nährt, muß erneut hervorgehoben werden, daß die in diesem Bewußtsein widergespiegelte alltägliche menschliche Erfahrung, die ständig durch die gesellschaftliche Praxis bereichert und bestätigt wird, dem Idealismus widerspricht und als einer der Ausgangspunkte der ma113 114

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G. Bachelard, Le nouvel esprit scientifique, a. a. O., S. 8. P. T. d'Holbach, Briefe an Eugénie, in: P. T. d'Holbach, Religionskritische Schriften, Berlin-Weimar 1970, S. 454. Vgl. P. T. d'Holbach, Das entschleierte Christentum, in: P. T. d'Holbach, Religionskritische Schriften, Berlin-Weimar 1970, S. 59.

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terialistischen Weltauffassung dient. Diese wichtigste Seite der Frage nach dem Verhältnis des Alltagsbewußtseins zur Philosophie wurde ständig von Lenin hervorgehoben. Er kritisierte den Versuch bestimmter Idealisten, den „naiven Realismus" des Alltagsbewußtseins zur Begründung der eigenen antimaterialistischen Position zu nutzen. Einer dieser Philosophen war Berkeley. Er erklärte zur Begründung der extravaganten Thesen des subjektiven Idealismus, er versuche, „dem gesunden Menschenverstand sein Recht zu wahren" 116 . Diese auf den ersten Blick im Rahmen eines subjektiv-idealistischen Systems völlig paradoxe Behauptung wird verständlich, wenn wir berücksichtigen, daß Berkeley den Empirismus, der sich auf die Alltagserfahrung der Menschen stützt, idealistisch deutet. Der idealistische Empirismus erklärt auch in der Gegenwart nicht selten seine Ergebenheit dem gesunden Menschenverstand gegenüber. So behauptet Popper bei der Begründung der subjektivistisch-agnostizistischen Epistemologie: „Ich war immer ein Philosoph des Alltagsverstands und ein Realist des Alltagsverstandes . . ., ich lehnte jeden Idealismus, Positivismus und sogar Naturalismus . . . ab." 117 Charakteristisch ist, daß die den modernen bürgerlichen idealistischen Philosophen eigene scheinbare Ablehnung des Idealismus als Einverständnis mit der Alltagserfahrung auftritt. Dies ist eine indirekte Bestätigung dessen, daß der Grundgehalt der Alltagserfahrung für den Materialismus spricht. J. K. Melvil bemerkt in seiner Monographie über den Begründer des amerikanischen Pragmatismus, daß Ch. Peirce seine Lehre als Philosophie des „kritischen gesunden Menschenverstandes" charakterisiere. Aus dieser Sicht beinhaltet der gesunde Menschenverstand Ideen und Religionen, die „Resultat der von Generation zu Generation übermittelten Erfahrung der Menschheit sind" 118 . Lenin kritisierte die machistischen Versuche, den Empirismus subjektividealistischer Spielart als Standpunkt des unvoreingenommenen Alltagsbewußtseins auszugeben, das nur Empfindungen und Empfindungskomplexe kennt und sich weigert, etwas anderes Empfindbares, das keine Empfindung ist, anzuerkennen. „Die Berufung auf den .naiven Realismus', den eine solche Philosophie angeblich verteidigt, ist ein Sophismus billigster Sorte", bemerkte W. I. Lenin. „Der ,naive Realismus* eines jeden gesunden Menschen, der nicht im Irrenhaus oder bei den idealistischen Philosophen in der Lehre war, besteht in der Annahme, daß die Dinge, die Umgebung, die Welt unabhängig von unserer Empfindung, von unserem Bewußtsein, von unserem Ich und dem Menschen überhaupt existieren . . . Die ,naive' Überzeugung der Menschheit wird vom Materialismus bewußt zur Grundlage seiner Erkenntnistheorie gemacht." 119 1 1 6 G. Berkeley, Drei Dialoge zwischen Hylas und Philonous, Berlin 1955, S. 162. "7 K . Popper, Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 350/351. «8 J. K . Melvil, Carlz Pirs i pragmatizm, Moskva 1968, S. 382. 1 1 9 W . I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a . a . O . , S. 61/62. W . I. Lenin unterstreicht in den „Philosophischen Heften", daß die logischen Formen mit der Alltagspraxis verbunden sind: „ . . . die Praxis des Menschen, milliardenmal wieder-

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Der Materialismus geht (sogar in seiner unentwickelten Form) bedeutend weiter als der naive Realismus und unterzieht nicht nur die Vorurteile, sondern auch den empirischen Inhalt des Alltagsbewußtseins einer kritischen Analyse. In seiner entwickelten, modernen Form erforscht er die Dialektik der Widerspiegelung der objektiven Realität in der Erkenntnis und in der Forschung und berichtigt somit die naive Vorstellung vom unmittelbaren Charakter der sinnlichen Widerspiegelung der Außenwelt, von der Identität des Inhalts des Abbildes mit dem widergespiegelten Objekt. Dieser Standpunkt ist die dialektische Negation des naiven Realismus, die Bewahrung und Weiterentwicklung der in ihm enthaltenen Wahrheit. Daraus folgt, daß die Thesen der materialistischen, insbesondere der dialektisch-materialistischen Philosophie nicht bloß über die Grenzen des Alltagsbewußtseins und der für dasselbe charakteristischen empirischen Vorstellungen hinausgehen, sondern auch in Widerspruch zu letzteren geraten. Das Alltagsbewußtsein ist, da es nicht von den entsprechenden wissenschaftlichen Vorstellungen durchdrungen ist, nicht in der Lage, die Selbstbewegung der Materie, die Einheit der einander bedingenden und ausschließenden Gegensätze usw. zu begreifen. Aber das geschieht nicht deshalb, weil das Alltagsbewußtsein metaphysisch ist (wie Hegel annahm), sondern einfach deshalb, weil der Inhalt des dialektischen Denkens sehr vielseitig ist und nicht in den Rahmen der begrenzten Alltagserfahrung der Individuen hineinpaßt. Der moderne Positivismus, der sich vom Machismus durch die Ablehnung der empirischen Entstehung mathematischer und logischer Sätze unterscheidet, solidarisiert sich in der Regel nicht mit dem „naiven Realismus", sondern betrachtet ihn im Gegenteil als eine der Wissenschaft fremde Wahrnehmung der Welt. Der Neopositivist, der sich zur Aufgabe macht, die spontan-materialistischen Vorstellungen des gesunden Menschenverstandes zu überwinden, schreibt letzterem fast immer einen Hang zur Theologie zu und lehnt eine Abgrenzung von Verstand und Vorurteil, eine Analyse der Widersprüche des Alltagsbewußtseins prinzipiell ab. So schlägt Ph. Frank vor, Begriffe, mit denen eine Abgrenzung von Materialismus und Idealismus verbunden ist, aus dem philosophischen Lexikon zu streichen, und zwar mit der Begründung, daß diese Begriffe historisch in den Vorstellungen des Alltagsbewußtseins wurzelten. Er schreibt: „Die Begriffe .Materie', .Bewußtsein', .Ursache und Wirkung' und ähnliche sind heute nur Termini des gesunden Menschenverstandes und haben in streng wissenschaftlichen Erörterungen keinen Platz." 120 An einer anderen Stelle seines Buches „Philosophie der Wissenschaft" behauptet Frank: „Das zentrale Problem der Philosophie der Wissenschaft ist die Frage, wie wir holt, prägt sich dem Bewußtsein des Menschen als Figuren der Logik ein. Diese Figuren haben die Festigkeit eines Vorurteils, ihren axiomatischen Charakter gerade (und nur) kraft dieser milliardenfachen Wiederholung." (Philosophische Hefte, Konspekt zur Wissenschaft der Logik, in: Werke, Bd. 38, a. a. O., S. 208). Die Alltagserfahrung der Menschen ist unlösbarer Bestandteil der menschlichen Alltagspraxis. **> Ph. Frank, Philosophy of Science, Prentice-Hall 1957, S. 45/46.

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von den Behauptungen des gesunden Menschenverstandes zu allgemeinen wissenschaftlichen Prinzipien gelangen." 1 2 1 Diese These hebt richtig ein wichtiges epistemologisches Problem hervor, das der Neopositivismus jedoch nicht zu lösen vermag, da er die Wissenschaft der Alltagserfahrung der Menschen unvermittelt gegenüberstellt. Der Neopositivismus behauptet, die Wissenschaft verbleibe, sofern sie die Existenz der Materie, des Bewußtseins, des Determinismus anerkennt, auf dem Niveau des Alltagsbewußtseins und der ihm eigenen Sprache. Diese Behauptung entstellt subjektivistisch die Errungenschaften der Wissenschaft, die die nichtstofflichen Formen der Materie aufdeckte, den komplizierten physiologischen Mechanismus psychischer Vorgänge erschloß, die mechanistischen Konzeptionen des Determinismus verwarf. Doch aus diesen Entdeckungen und auch aus den entsprechenden theoretischen Schlußfolgerungen folgt in keiner Weise, daß sich der den Begriff „Materie" benutzende Wissenschaftler nicht über die Ansichten einer Hausfrau erhebt. Unter der Flagge des Kampfes gegen die Identifikation von wissenschaftlicher und gewöhnlicher Wortbenutzung versucht Frank im wesentlichen, eine Aufgabe zu lösen, die schon Berkeley gestellt hatte: die Verbannung der Materie. „Das einzige, dessen Existenz wir in Abrede stellen", schrieb Berkeley, „ist das, was die Philosophen Materie oder körperliche Substanz nennen." 1 2 2 Frank ist jedoch noch konsequenter als Berkeley. Er leugnet sowohl die Realität des Bewußtseins (dessen Begriff mit dem Materiebegriff kontrastiert) als auch der Kausalität, d. h. der Kategorien, die in unmittelbarer Beziehung zur Lösung der Grundfrage der Philosophie, der Frage nach der Kausalbeziehung von Materie und Bewußtsein, stehen. Letztlich bedeutet die neopositivistische „Revolution in der Philosophie" die Ablehnung der vorangegangenen Philosophie mit ihrer ganzen im Verlauf von Jahrtausenden entstandenen Problematik als Anhäufung nicht verifizierbarer, nicht beweisbarer Ansichten, die sich prinzipiell nicht über das Alltagsbewußtsein erheben. Dieses gebe sich mit kindlicher Vertrauensseligkeit Fragen hin, auf die es keine Antwort gibt, denn diese Fragen seien nur scheinbare und entbehrten eines realen Inhalts. Genau in diesem Sinne ist der berühmte Ausspruch Wittgensteins zu dechiffrieren: „ . . . wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen."! 2 3 Das bedeutet, Menschen, die keine wirkliche (im „modernen", d. h. neopositivistischen Sinne des Wortes) philosophische 122

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Ebenda, S. 2. G. Berkeley, Eine Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Hamburg 1957, S. 43. L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Frankfurt/M. 1960, Vorwort. Dieser Satz Wittgensteins stimmt offenkundig mit dem Ausspruch Nietzsches überein: „ . . . zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprichwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt, daß man — schweigt" (F. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, Bd. 1, Naunhof bei Leipzig 1939, S. 16). Das ist nicht der einzige Fall, wo der positivistische Szientismus irrationalistische Thesen auf seine Art reproduziert.

Bildung erhalten haben, streiten darüber, ob die Welt unendlich oder endlich sei, ob sie erkennbar sei oder nicht usw. Der Philosoph jedoch (d. h. der Neopositivist) schweigt, weil man auf diese Fragen keine Antwort geben darf, da es sich um Scheinprobleme handelt. Die Neopositivisten, die das im Verlaufe von Jahrhunderten entstandene philosophische Bewußtsein als Alltagsbewußtsein ausgeben, bemerken nicht, daß ihre Lossagung von der sogenannten Metaphysik, d. h. der eigentlich philosophischen Problematik, eine Position darstellt, die für den gesunden Menschenverstand sehr charakteristisch ist. Dieser hält sich von philosophischen Fragen fern und erklärt deren Erörterung zu leerem, für ernsthafte Menschen gegenstandslosem Geschwätz. Das Alltagsbewußtsein stellt sich als idyllisch-ruhig, friedlich und sogar sorglos dar, wenn es unter erkenntnistheoretischem Aspekt betrachtet wird, d. h. als empirisches Selbstbewußtsein, als Begreifen der Außenwelt, das, sich auf den Verstand stützend, behauptet: Ich bin Ich, folglich bin ich keine Wolke, kein Stein, kein Esel usw. Wenn wir es aber unter anderem Aspekt betrachten, und zwar als Gesamtheit von Alltagserlebnissen, d. h. als Gesamtheit des Kummers und der Freuden, der Hoffnungen und Enttäuschungen, aus denen das Leben besteht, so erweist sich das Alltagsbewußtsein als überaus unruhig. Damit verglichen, ist das wissenschaftliche und philosophische Bewußtsein der Ataraxie der Denker der hellenistischen Epoche ähnlich. Diese Seite des Alltagsbewußtseins war in der Vergangenheit Gegenstand der philosophischen Lehre von den Affekten, die sowohl von Materialisten als auch von Idealisten ausgearbeitet wurde. Heute ist sie fast vollständig vom Existentialismus annektiert. Dieser belebt auf neue Art die Gegenüberstellung von Philosophie und „positiven" Wissenschaften wieder, indem er letztere als praktisch, utilitaristisch, nur das Nützliche erreichend und deshalb nicht in das Sein eindringend und sich folglich nicht über die Vorstellungen des Alltagsbewußtseins erhebend betrachtet. Der Existentialismus stellt den naturwissenschaftlichen Beschreibungen der objektiven Realität die hermeneutische Beschreibung der menschlichen Existenz — er definiert sie als Sorge, Angst, In-der-Welt-sein, Freiheit usw. — entgegen. Im wesentlichen sind die Erlebnisse gemeint, mit denen die alltägliche Existenz der menschlichen Individuen ausgefüllt ist. Der Existentialismus interpretiert diese Erlebnisse im Geiste der Phänomenologie Husserls; er löst sie von ihrem empirischen Ursprung ab und erklärt sie zu existentialistischen, d. h. dem menschlichen Wesen apriori eigenen Erscheinungen. Von dieser Position aus grenzen Heidegger und Sartre im Gefolge von Kierkegaard die Furcht (franz. la peur), die durch äußere empirische Ursachen hervorgerufen ist und angeblich keine wesentliche Bedeutung für die „Existenz" hat, von der Angst (franz. l'angoisse) ab, die vom „Existieren" selbst hervorgerufen und deshalb unüberwindlich ist. Das existentielle Bewußtsein stellt sich dem Existentialisten als vom Gewöhnlichen und vom philisterhaften Konformismus gesäubert dar, da es Angst nicht auf Grund einer bestimmten, gegenständlichen Gefahr verspürt, sondern

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auf Grund der als gefährlich, zerbrechlich, unbeständig erkannten Existenz selbst, oder einfacher gesagt, deshalb, weil sie (die Existenz) sich selbst fürchtet. Die Existentialisten geißeln die „vulgäre" (gewöhnliche) Angst vor dem Tode, die ganz reale empirische Ursachen hat, und stellen ihr die existentielle Angst vor der letzten Möglichkeit entgegen — der Möglichkeit, nicht zu sein. Nach ihrer Ansicht steht diese in keinerlei Beziehung zur alltäglichen Existenz der menschlichen Individuen inmitten anderer Individuen, die leben und sterben, wodurch die vorübergehend am Leben Bleibenden eine rein empirische Vorstellung zuerst von der Sterblichkeit der anderen, dann von der eigenen Sterblichkeit erlangen. Der gesamte Existentialismus ist eine zornige Polemik gegen die Alltagsexistenz— er bezeichnet sie als unpersönlich, gespensterhaft, inhaltlos —, gegen das alltägliche, spontan-materialistische Bewußtsein, das er als Widerspiegelung nicht der realen Wirklichkeit, sondern einer pseudorealen, pseudokonkreten Alltäglichkeit bestimmt. Der Existentialist charakterisiert das Alltagsbewußtsein als entfremdet (obwohl man das nur von einigen seiner Formen sagen kann) und behauptet, daß nur das von allem Gewöhnlichen losgelöste existentielle Selbstbewußtsein der Existenz die Entfremdung überwindet. Die „ontologische Einsamkeit" des existentiellen Selbstbewußtseins ist aber die mystifizierte Widerspiegelung der wirklichen Entfremdung der Persönlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft, und das existentielle Bewußtsein erweist sich dem Wesen nach als geläutertes Alltagsbewußtsein. Dem Existentialismus zufolge hat das Alltagsbewußtsein nichts mit dem Erfassen des Wesens des Seins zu tun. Nach Heidegger begeht die Philosophie ein Verbrechen gegen sich selbst, wenn sie die Einwände des gesunden Menschenverstandes beachtet, und zwar deshalb, weil letzterer das nicht sieht, wogegen er sich wendet. Die Philosophie jedoch, so schreibt Heidegger, „kann den gemeinen Verstand nie widerlegen, weil er für ihre Sprache taub ist".124 Allerdings beschränkt der Existentialismus, der das Gewöhnliche bekämpft (und in gewissem Maße den entpersönlichenden Einfluß der bürgerlichen Verhältnisse richtig aufzeigt), selbst die Problematik der Philosophie auf die minutiöse Beschreibung des gewöhnlichen Selbstbewußtseins, der alltäglichen Erlebnisse und Vorstellungen. Zwar werden diese in der subjektiv-idealistischen Retorte der Phänomenologie Husserls destilliert und substantialisiert, doch zeigt der Existentialismus bei all seinem Kritizismus äußerst wenig Interesse für das, was über die Grenzen jenes Alltagsbewußtseins und jener alltäglichen (zudem noch negativ gedeuteten) Erlebnisse hinausgeht, die er einer vernichtenden Kritik unterzieht. Er sieht im Alltag des menschlichen Lebens, besonders im sozialen Umgang der Menschen, nichts Bedeutsames, weil sowohl die Arbeit als auch die Liebe und die Erkenntnis keinen Platz in der existentialistischen misanthropischen Konzeption der Existenz finden. 125 Selbst 124 M. Heidegger, V o m Wesen der Wahrheit, Frankfurt/M. 1967, S. 6. 125

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Wir lassen hier die „optimistische" Variante des Existentialismus (N. Abbagnano, O. F. Bollnow u. a.) unberücksichtigt, die (übrigens unserer Meinung nach erfolglos) versucht, die dem „klassischen" Existentialismus eigene pessimistische Deutung der positiven Emo-

die Lehre von den „Grenzsituationen" (kritischen Situationen), die das Individuum über die prosaische Alltäglichkeit erheben, schöpft die existentialistische Philosophie aus eben den gleichen Alltagsvorstellungen vom nahen Tode, von einer nicht wieder gut zu machenden Schuld usw. Es ist paradox, daß eine Philosophie, die sich selbst als kompromißlosen Gegner alles Alltäglichen bezeichnet, nicht fähig ist (infolge äußerster individualistischer Begrenztheit), sich aus dem sie verschlingenden Sumpf der bürgerlichen Alltäglichkeit zu befreien. Im Gegensatz zum Existentialismus analysiert die marxistische Philosophie die Alltagsexistenz und die ihr entsprechenden Alltagsvorstellungen und Erlebnisse kritisch als historisch bestimmte soziale Phänomene, die im Laufe der Geschichte nicht unverändert bleiben, sondern sich im Gegenteil im Prozeß der kommunistischen Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens wandeln. Wenn die mittelalterlichen Scholastiker behaupteten, daß der gesunde Menschenverstand das von den Umständen, von Zeit und Raum unabhängige, bei allen Menschen gleiche Bewußtsein der Wahrheit einiger Grundprinzipien sei, so besteht jetzt schon keine Notwendigkeit mehr zu beweisen, daß der gesunde Menschenverstand wie das Alltagsbewußtsein schlechthin die soziale Umgebung widerspiegelt und sich mit ihr verändert. Noch vor hundert Jahren kam den Menschen kaum der Gedanke, daß die Zeit nicht allzu fern sei, da man Musikwerke hören kann, die tausende Kilometer vom Hörer entfernt aufgeführt werden, mehr noch, daß man den Musiker, der sich am anderen Ende des Planeten befindet, sehen, auf Magnetband Musik und Sprache aufzeichnen kann, den Mond photographieren und die Photographien durch den kosmischen Raum zur Erde senden kann, daß man mit Hilfe der in wenigen Kilogramm stofflicher Materie enthaltenen Energie lange Zeit ein großes Schiff bewegen, von einem Himmelskörper zum anderen fliegen kann, daß man automatische Geräte schaffen kann, die sich nicht nur bewegen, sondern auch einige Funktionen des Intellekts ausüben. Hätte sich irgendein Prophet (wissenschaftlicher Phantast) gefunden, der den Menschen gesagt hätte, dies alles würde einmal sein, man hätte ihn für einen Geistesgestörten oder vielleicht Mystiker gehalten. Und wirklich: nicht nur für den gesunden Menschenverstand, sondern auch für die Wissenschaft und Philosophie (auch die materialistische) beispielsweise des 18. Jahrhunderts und des beginnenden 19. Jahrhunderts schien selbst der Gedanke daran, daß in einem Kubikzentimeter Stoff eine kolossale Energiemenge enthalten sei, nicht nur absurd, sondern auch im höchsten Grade mystisch, den Unterschied zwischen Übernatürlichem (Irrealem) und Natürlichem (wirklich Existierendem oder Möglichem) verwischend. Heute deuten Wissenschaft und Philosophie den Begriff des Unmöglichen mit tionen, Familienfreuden, Feiertage, Sitten und Gebräuche usw. zu überwinden, da det wirklich positive, bedeutsame, echte Inhalt des menschlichen Lebens mit der existentialistischen Geistesrichtung unveteinbai ist. Eine gründliche wissenschaftliche Analyse dieser neuesten Spielart des Existentialismus wurde von A. 9. Bogomolov vorgenommen. (Vgl. A. S. Bogomolov, Burzuaznaja filosofija SSA XX. veka, a. a. O.) 7 Oiscrman

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größerer Vorsicht. Was das Alltagsbewußtsein anbelangt, so hat es sich schon an alle vom menschlichen Genius geschaffenen Wunder gewöhnt und ist bereit, mehr oder weniger ruhig auch noch frappierendere wissenschaftlich-technische Höchstleistungen hinzunehmen: es scheint, daß man es durch nichts mehr in Erstaunen versetzen kann. Obwohl es noch nicht verlernt hat, sich zu begeistern, ist es bereits fest davon überzeugt, daß zumindest in der Sphäre von Wissenschaft und Technik keine Wunder vorkommen. Auch das religiöse Alltagsbewußtsein hat sich (dort, wo es überhaupt erhalten blieb) verändert. Es glaubt wohl kaum noch jemand daran, daß Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat, und sei es nur deshalb, weil bereits allen bekannt ist, daß die Tage (wie auch die Nächte) nach der Entstehung der Erde infolge ihrer Drehung um die eigene Achse entstanden. Und man kann die echte Verzweiflung von N. Berdjajew verstehen, der mit Erschrecken davon sprach, daß die Mehrzahl der Menschen, darunter auch der Christen, zu Materialisten wurde, weil sie nicht an die Macht des Geistes, sondern nur an die materielle, militärische oder ökonomische Macht glaubt. Bekanntlich hat die protestantische Kirche diesen Umstand vollauf berücksichtigt und fordert bereits nicht mehr von ihren Gläubigen die Anerkennung aller Dogmen: Glaubt nur an das Sein Gottes und seines Sohnes Christus! In der Arbeit „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" schrieb Engels über das Leben und das geistige Antlitz der englischen Arbeiter am Vorabend der industriellen Revolution: „Sie konnten selten lesen und noch viel weniger schreiben, gingen regelmäßig in die Kirche, politisierten nicht, konspirierten nicht, dachten nicht, ergötzten sich an körperlichen Übungen, hörten die Bibel mit angestammter Andacht vorlesen und vertrugen sich bei ihrer anspruchslosen Demut mit den angeseheneren Klassen der Gesellschaft ganz vortrefflich . . . Sie fühlten sich behaglich in ihrem stillen Pflanzenleben und wären ohne die industrielle Revolution nie herausgetreten aus dieser allerdings sehr romantisch-gemütlichen, aber doch eines Menschen unwürdigen Existenz." 126 Es erübrigt sich, darüber zu sprechen, welche bedeutenden Veränderungen im Bewußtsein der Arbeiterklasse und aller Werktätigen die nachfolgende historische Entwicklung hervorrief, in deren Verlauf die neue, sozialistische Gesellschaft zuerst in der UdSSR und danach in einigen anderen Ländern der Erde triumphierte. Der Sieg des Sozialismus bedeutete die qualitative Umgestaltung des Alltagsbewußtseins der Menschen. Selbstverständlich hat sich auch in den kapitalistischen Ländern das Bewußtsein der Massen wesentlich verändert; „niemand in Asien, Afrika und Europa ist bereit, für den Kapitalismus zu sterben"127, konstatiert der bekannte katholische Philosoph J. Maritain. Dieses erzwungene Eingeständnis eines Gegners des Marxismus zeigt in überzeugender Weise: die ausgebeuteten Massen erkennen 126

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F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Einleitung, in: MEW, Bd. 2, Berlin 1957, S. 239. J. Maritain, Amerika — Land der Hoffnung, Mainz 1959, S. 75.

immer mehr, daß nur die Beseitigung des Kapitalismus zu ihrer sozialen Befreiung führt. Die Betrachtung der Entwicklung des Alltagsbewußtseins der Menschen unter dem Einfluß des sozialökonomischen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist nicht unsere Aufgabe. Wir verweisen lediglich darauf, daß die Verdrängung irrationaler Vorstellungen und anderer unbegründeter Annahmen aus dem Alltagsbewußtsein, die Annäherung von Alltags- und wissenschaftlichem Bewußtsein (die jedoch nicht den wesentlichen Unterschied zwischen beiden aufhebt) die Grundtendenzen dieses historischen Prozesses sind. Das Alltagsbewußtsein, das immer vernünftiger, sittlicher, anspruchsvoller, ästhetisch fordernder, selbständiger, kritischer wird, paßt sich nicht mehr einfach den vorhandenen Bedingungen an, sondern beteiligt sich immer aktiver an der schöpferischen Tätigkeit des Menschen. All dies bedeutet eine wesentliche Veränderung des Verhältnisses zwischen Philosophie und Alltagsbewußtsein bzw. Alltagserfahrung. Diese ist ein integraler Bestandteil der gesellschaftlichen Praxis, der Grundlage der Erkenntnis in all ihren Formen.

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1. Kant und der philosophische Rationalismus des 17. Jahrhunderts

Der Begründer der klassischen deutschen Philosophie ist sowohl Fortsetzer als auch Kritiker des Rationalismus des 17. Jahrhunderts. Philosophischer Rationalismus und philosophischer Empirismus charakterisieren das bürgerliche Selbstbewußtsein in der Epoche der Entstehung der kapitalistischen Produktionsweise. Der ausgeprägt antifeudale Charakter des Rationalismus zeigt sich deutlich in der rationalistischen Auffassung, daß „das natürliche Licht der Vernunft" (lumen naturale) jedem Menschen unabhängig von seiner intellektuellen Begabung und Bildung gegeben sei. So ist nach Descartes „die Fähigkeit, richtige Urteile zu fällen, und das Wahre vom Falschen zu unterscheiden — eigentlich das, was man den gesunden Menschenverstand oder die Vernunft nennt —, von Natur in allen Menschen gleich" 1 . Diese These ist nicht einfach eine theoretische Behauptung, sie ist die ideologische Deklaration der antifeudalen bürgerlichen revolutionären Bewegung. Die Rationalisten waren unversöhnliche Gegner der Scholastik, ungeachtet dessen, daß letztere im Unterschied zur mittelalterlichen Mystik auch an die Vernunft, an die Logik appellierte. Sie bewiesen die Haltlosigkeit der scholastischen Dogmen, nach denen die Theologie in der Hierarchie des Wissens den höchsten Rang, die Wissenschaft den niedrigsten und die Philosophie eine mittlere Position einnimmt. Sie proklamierten die Wissenschaft als die höchste Form des theoretischen Wissens und die Vernunft als die höchste wissenschaftliche Instanz. Sich dem „großen Buch der Welt", d. h. der Natur, zuwendend, sah Descartes die Schaffung einer Philosophie, die zur Beherrschung der spontanen Naturkräfte beiträgt, als vorrangige Notwendigkeit an. Der Kampf der Rationalisten gegen das scholastische Philosophieren ging weit über den Rahmen jener konkreten historischen Situation hinaus, die ihn unmittelbar hervorgebracht, bedingt und angeregt hatte. E s war ein Kampf gegen all das, was sich unkritisch auf den Glauben stützte, d. h. gegen das dogmatische Denken, welches die Notwendigkeit der Analyse, der Überprüfung, der Begründung seiner Behauptungen, Annahmen und Voraussetzungen vernachlässigte. 2 1

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R. Descartes, Abhandlung über die Methode, in: Philosophische Wecke, Bd. 1, Leipzig 1922, S. 2. In diesem Zusammenhang ist zu unterstreichen, daß der Kult der Vernunft (im weitesten Sinne des Wortes) nicht nur den Rationalisten, sondern allen Ideologen der progressiven

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Kant betrachtete genau wie die Rationalisten die Kritik des Dogmatismus als die wichtigste Aufgabe der Philosophie. „Unser Zeitalter", schrieb er, „ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können." 3 Mit seiner Forderung nach einer folgerichtigen, vor nichts haltmachenden kritischen Analyse geht Kant wesentlich weiter als die Rationalisten des 17. Jahrhunderts, weil er die Auffassung vertritt, daß es notwendig sei, die Vernunft selbst einer kritischen Analyse zu unterziehen. Die Rationalisten begründeten die Notwendigkeit der bürgerlichen Umgestaltungen als Aufgabe, die sozialen Institutionen mit der vernünftigen Natur des Menschen, mit den Forderungen der menschlichen Vernunft in Übereinstimmung zu bringen. Diese Gleichsetzung der bürgerlichen Umgestaltungen mit der Verwirklichung der Ideale der Vernunft ist die unkritische Seite der rationalistischen Konzeption der Vernunft. Dieselbe wurde verstanden als autonome, nicht nur von der Sinnlichkeit, sondern auch von den sozialen Bedingungen unabhängige absolute Fähigkeit zu erkennen, zu verstehen, zu urteilen und Normen festzulegen. Die Vernunft, so behaupteten die Rationalisten, irrt niemals. Die Ursache der Irrtümer ist nach Descartes der Wille, der das Gewünschte als Wahrheit anerkennt. Spinoza und Leibniz suchten die Ursachen für die Irrtümer in den sinnlichen Wahrnehmungen, die angeblich dem Wesen nach verworrenen Charakter haben und zu fehlerhaften Schlußfolgerungen führen, sobald sie zur Grundlage von Urteilen werden. Die Rationalisten arbeiteten den Begriff der reinen Vernunft, d. h. des von der Sinnlichkeit unabhängigen Denkens, aus. Sie schrieben ihm die Fähigkeit zu, die unvermeidliche Begrenztheit des sinnlich Gegebenen, dessen Bedeutung sie klar unterschätzten, zu überwinden. Kant, der den Begriff der reinen Vernunft aufnimmt, lehnt diese rationalistische Vorstellung ab. Nach seiner Lehre ist der Anspruch der Vernunft auf übersinnliches Wissen, ist das Überschreiten der Grenzen der Erfahrung einer der wesentlichsten theoretischen Irrtümer der Menschheit. Kant korrigiert die rationalistische Lehre über die Ursachen der Irrtümer, indem er beweist, daß die Empfindungen, sinnlichen Wahrnehmungen, Affekte uns nicht betrügen, da sie keine Urteile sind. Nur der Verstand und die Vernunft irren

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bürgerlichen Philosophie des 17. Jahrhunderts, darunter auch den Vertretern des philosophischen Empirismus, eigen war. „Die Vernunft", schrieb Locke, „muß unser oberster Richter und Führer in allen Dingen sein." (J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. 2, Berlin 1962, S. 415). Diese Tatsache ist noch kein Grund, die rationalistische der empiristischen Konzeption der Vernunft gleichzusetzen. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Vorrede zur 1. Aufl., in: Kant's gesammelte Schriften, Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften (im folgenden Kant's Werke), Bd. IV, Berlin 1911, S. 9, Anmerkung.

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sich, aber nicht weil sie von der Erfahrung ausgehen, sondern weil sie versuchen, Schlußfolgerungen unabhängig von der Erfahrung zu ziehen und sich damit selbst ihrer einzigen Grundlage berauben. Der rationalistische Kult der Vernunft (und die ihm entsprechende Konzeption des reinen Denkens) war eine einseitige (nicht selten zu idealistischen Schlußfolgerungen führende) Interpretation der mathematischen Erkenntnis, die die Rationalisten als apriorisch, auf rein logische Folgerung bestimmter Thesen aus Axiomen gegründet betrachteten. Die Rationalisten waren davon überzeugt, daß die Philosophie als mathematisches System von Schlußfolgerungen aufgebaut werden kann und daß dann der philosophische Meinungsstreit beendet und die Erkenntnis des Absoluten auf allen Gebieten der Forschung möglich ist. E s müßten nur die grundlegenden philosophischen Axiome und die ihnen entsprechenden Definitionen aufgestellt werden. Diesen Versuch hat bekanntlich Spinoza in seiner Ethik unternommen. Im Unterschied zu den Rationalisten bewies Kant, daß es in der Philosophie weder Axiome noch Definitionen im mathematischen Sinne geben kann. In der Philosophie, so zeigte er, „wird . . . kein Grundsatz anzutreffen sein, der den Namen eines Axioms verdiene". 4 Philosophische Definitionen besitzen nach Kant im Unterschied zu mathematischen keine unbedingte Zuverlässigkeit, sie stellen eher eine Exposition vorhandener Begriffe dar, während mathematische Definitionen durch die Konstruktion von Begriffen gebildet werden. Deshalb müsse „in der Philosophie die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen als anfangen . . . Dagegen haben wir in der Mathematik gar keinen Begriff vor der Definition, als durch welche der Begriff allererst gegeben wird, sie muß also und kann auch jederzeit davon anfangen." 5 Die Rationalisten betrachteten die Axiome als offensichtliche Wahrheiten und gelangten so zu der Schlußfolgerung, daß intellektuelle (d. h. von den sinnlichen Gegebenheiten unabhängige) intuitive Wahrheiten, die das unerschütterliche Fundament der philosophischen Wissenschaften bilden, die Ausgangsthesen der Philosophie sein können und müssen. Die Lehre über die intellektuelle Intuition ist eine zentrale These des Rationalismus. 6 Auf sie gründet sich die rationalistische Überzeugung von der Möglichkeit, die Grenzen der Erfahrung zu überwinden. Die Mathematik hat nach der Auffassung der Rationalisten diese Aufgabe bereits gelöst; nunmehr sei die Philosophie an der Reihe. Kant lehnte die rationalistische Lehre von der intellektuellen Intuition ab und « I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant's Werke, Bd. III, Berlin 1904, S. 480. 5 Ebenda, S. 479. 6 Man muß beachten, daß Locke und andere Vertteter des philosophischen Empirismus die intellektuelle Intuition als entscheidende Instanz des Erkenntnisprozesses anerkannten. Doch im Unterschied zu den Rationalisten verbanden die empiristischen Philosophen den Begriff der intellektuellen Intuition mit der sensualistischen Erkenntnistheorie, wonach alles menschliche Wissen, sogar das abstrakte (darunter auch das mathematische), erfahrungsbedingt ist und sinnlichen Ursprung hat.

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stellte ihr ein neues Verständnis der „offensichtlichen" mathematischen Thesen, die Kant als besondere Art von sinnlichen (doch zugleich auch apriorischen) Anschauungen definierte, gegenüber. Was die Vernunft und den Verstand betrifft, so haben sie nach Kant nicht die Fähigkeit zur unmittelbaren Wahrnehmung und Betrachtung, sie gelangen diskursiv zu ihren Schlußfolgerungen. Die Unhaltbarkeit der Lehre von der intellektuellen Intuition sah Kant folglich in der Trennung des Denkens von den empirischen Gegebenheiten, in den Versuchen, durch das reine Denken die Grenzen jeder möglichen Erfahrung zu überschreiten. Solche Versuche führten nicht selten zu theologischen Schlußfolgerungen, deren theoretische Unhaltbarkeit Kant bewies. Im 17. Jahrhundert waren die Mathematik und die Mechanik die am weitesten entwickelten Wissenschaften. Die Mechanik beschäftigte sich mit der Untersuchung der Ortsveränderung der Körper und der damit verbundenen Prozesse. Dabei stützte sie sich vor allem auf die Mathematik. Die Chemie, Biologie und andere Naturwissenschaften waren erst im Entstehen begriffen und besaßen vorwiegend empirischen Charakter, d. h., sie beschrieben hauptsächlich die beobachteten Erscheinungen. Wenn sich die Rationalisten auf die Mathematik beriefen, so stützte sich der philosophische Empirismus vorwiegend auf die Naturwissenschaft. Der Gegensatz von Rationalismus und Empirismus widerspiegelt so den realen Gegensatz zwischen der theoretischen Erkenntnis der Wissenschaft jener historischen Epoche und der empirischen Naturkunde. Kants historisches Verdienst besteht darin, daß er die Begrenztheit sowohl des Rationalismus als auch des Empirismus seiner Epoche kritisierte (und sie in gewissem Maße überwand). Im Gegensatz zu den Rationalisten bewies er, daß jedes Wissen bestimmte sinnliche Anschauungen zur Voraussetzung hat. Den Grundmangel des philosophischen Empirismus sah Kant in der Leugnung der Möglichkeit theoretisch begründeter Urteile, die strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit besitzen. So schrieb Locke, „daß das Allgemeine und das Universale nicht zur realen Existenz der Dinge gehören. Sie sind vielmehr nur Erfindungen und Schöpfungen des Verstandes, die dieser für seinen eigenen Gebrauch gebildet hat." 7 Kant zeigte demgegenüber, daß solche apodiktischen Urteile den wichtigsten Inhalt der Mathematik und der Mechanik ausmachen. Folglich bestehe die Aufgabe darin, sich dieser Tatsache (ohne die nach Kant Wissenschaft überhaupt nicht möglich ist) bewußt zu werden und zu erklären, wie Wahrheiten von unbegrenzter Allgemeinheit und Notwendigkeit möglich sind. Übrigens bringen weder Kant noch Locke das Allgemeine und Notwendige mit der von der Erkenntnis unabhängigen Realität in Verbindung. Die rationalistische Weltauffassung zeichnete sich durch Dualismus und Kompromißcharakter aus, weil in ihr die historische Epoche des Übergangs zur bürgerlichen Gesellschaft ihren philosophischen Ausdruck fand. Mit Hilfe von Kompromissen wurde die Bourgeoisie unter den Bedingungen der Feudalgesellschaft zur 7

J. Locke, Über den menschlichen Verstand, Bd. 2, a. a. O., S. 16.

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ökonomisch herrschenden Klasse. Auch die bürgerliche Philosophie dieser Epoche, die am heftigsten gegen die Scholastik und in bestimmtem Maße auch gegen die Theologie kämpfte, zog einen Kompromiß mit der Religion, der herrschenden Ideologie des Feudalismus, vor. Dies sind die ideologischen Intentionen der metaphysischen Systeme, die von den Rationalisten des 17. Jahrhunderts geschaffen wurden. In der Philosophie von Descartes tritt dieser Kompromiß als dualistische Gegenüberstellung von Physik und Metaphysik auf. Während die cartesianische Physik (oder Naturphilosophie) die reale sinnlich-wahrnehmbare Wirklichkeit zum Gegenstand hat, erhebt die Metaphysik Anspruch auf die Erkenntnis des Übersinnlichen. Da aber die Erfahrung keine Grundlage für die Anerkennung einer solcher Art Überrealität gibt, läßt Descartes im menschlichen Intellekt angeborene Ideen, ein angeborenes Wissen zu und glaubt, daß man daraus alle Merkmale der metaphysischen Realität logisch ableiten könne. Es wäre eine Vereinfachung, den ganzen Inhalt der Metaphysik auf die rationalistische Interpretation theologischer (oder mit der Theologie zusammenhängender) Fragen zurückzuführen. In den metaphysischen Systemen von Descartes und Leibniz nimmt die philosophische Betrachtung der Probleme der Mathematik und der Naturwissenschaft einen bedeutenden Platz ein. Die Metaphysik Spinozas ist ein materialistisches System von Anschauungen, das aber im Geiste das Pantheismus, der Gott und Natur gleichsetzt, dargelegt ist. von hier aus wird der Hinweis von Marx und Engels auf den verhältnismäßig positiven irdischen Inhalt der Metaphysik des 17. Jahrhunderts verständlich. Erst im 18. Jahrhundert veränderte sich die Situation. „Der ganze metaphysische Reichtum bestand nur noch in Gedankenwesen und himmlischen Dingen, grade als die realen Wesen und die irdischen Dinge alles Interesse in sich zu konzentrieren begannen."8 So trat Kant als Kritiker der rationalistischen Metaphysik in der Epoche ihrer Auflösung auf. Im Unterschied zu den Vertretern des Skeptizismus und auch den französischen Materialisten, die die metaphysischen Systeme einfach verwarfen, war Kant vor allem bestrebt, deren gnoseologische, theoretische und psychologische Wurzeln aufzudecken. Gegenstand seiner Untersuchung waren deshalb weniger die metaphysischen Systeme als der Erkenntnisprozeß, die Widersprüche dieses Prozesses, die ihren fatalen Ausdruck in der metaphysischen Systemschöpfung finden. Kant bezweifelt nicht, daß die metaphysischen Systeme Probleme zur Diskussion stellten, die außerordentliche philosophische, allgemein wissenschaftliche und sittliche Bedeutung hatten. Wenn die Erfahrung, über die die Wissenschaft verfügt, immer beschränkt ist, wenn der induktive, auf die Erfahrung sich gründende Schluß immer unvollendet ist, wie ist dann eine wissenschaftliche Theorie, die Sätze von unbegrenzter Allgemeinheit (und Notwendigkeit) formuliert, überhaupt möglich? Wenn alles theoretische Wissen aus dem sinnlich Gegebenen 8

F. Engels/K. Marx, Die heilige Familie, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (im folgenden MEW), Bd. 2, Berlin 1957, S. 134.

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entsteht, wie ist dann die Tatsache zu erklären, daß es in der Wissenschaft Wahrheiten gibt, die man nicht auf den Inhalt sinnlicher Wahrnehmungen zurückführen kann? Kant stimmt mit den Kritikern der Theologie darin überein, daß die Begriffe Gott, unsterbliche Seele, Existenz im Jenseits jeder theoretischen und empirischen Grundlage entbehren und nur auf dem Glauben an etwas Übernatürliches basieren, aber er lehnt atheistische Schlußfolgerungen ab. Er ist der Meinung, daß die wissenschaftliche Unhaltbarkeit des Theismus noch nicht die wissenschaftliche Stichhaltigkeit der atheistischen Auffassungen beweist. Wenn die Religion in der theoretischen Vernunft (in der Wissenschaft) keine Unterstützung findet, bedeutet das dann nicht, daß die praktische Vernunft, das moralische Bewußtsein, ihre Grundlage ist? Nach Kant ist der religiöse Glaube ein so grundlegender und beständiger Wesenszug der menschlichen Existenz, daß er meint, die Philosophie sei verpflichtet, diese Form des geistigen Lebens als etwas Notwendiges und nicht Zufälliges zu untersuchen. Das betrifft in noch größerem Maße das Problem der Willensfreiheit, das für die Philosophie jahrhundertelang der Stein des Anstoßes war. Wenn der Mensch keinen freien Willen hat, besitzt er dann überhaupt einen Willen? Wenn er nicht Herr seiner eigenen Handlungen ist, was unterscheidet ihn dann vom Nicht-Menschlichen, vom Tier? Wenn er der Freiheit der Wahl beraubt ist und die Handlungen, die er vollzieht, nicht von ihm selbst abhängen, dann ist er für sie auch nicht verantwortlich. In diesem Fall gibt es weder Zurechnungsfähigkeit noch moralische Bewertung, noch sittliches Handeln, weil das bewußte menschliche Leben die Fähigkeit der Persönlichkeit voraussetzt, über seine Handlungen, sei es auch nur in bestimmten Grenzen, zu verfügen. Doch die Existenz der Sittlichkeit und das ganze menschliche Leben überhaupt zeugen davon, daß der Mensch zumindest eine „praktische" (relative) Freiheit besitzt. Worin besteht das Wesen dieser Tatsache, unter welchen Bedingungen ist sie möglich? Das Problem des Seins — das zentrale Problem aller metaphysischen Systeme — ist zugleich auch das Problem des Wesens alles Existierenden sowie das Problem der Einheit der Welt als Ganzes. Die Philosophie kann sich nicht auf die Feststellung beschränken, daß Minerale, Metalle, Flüsse, Berge, Pflanzen, Tiere usw. existieren. Sie muß die Grundlage dieser ganzen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, den ihnen gemeinsamen Inhalt, den Zusammenhang und die Abhängigkeit zwischen ihnen aufdecken. Gibt es Urelemente alles Seienden, existiert eine Art „Substanz", existiert die Welt als Ganzes, oder haben wir es nur mit einer gedachten Wesenheit, mit einer Abstraktion, die jeder tatsächlichen Grundlage entbehrt, zu tun? Hat die Welt einen Anfang in Raum und Zeit, oder ist sie in beiderlei Hinsicht unendlich? Besteht die Welt aus einfachen Teilen, oder gibt es in ihr nichts Einfaches, und ist alles, was existiert, kompliziert? Hat der Kausalzusammenhang der Dinge absolut allgemeinen Charakter, oder gibt es Dinge, die nicht durch andere Dinge bestimmt werden und keiner Determination unterliegen? Diese und andere Fragen sind nicht nur der Grundinhalt der metaphysischen Systeme, sondern der Philosophie überhaupt. Die französischen Materialisten des 108

18. Jahrhunderts nahmen an, daß sie mit der Ablehnung der Systeme von Descartes, Spinoza und Leibniz auch die metaphysischen Probleme vollständig überwunden hätten. Aber war das „System der Natur" von Holbach nicht ein Versuch, all diese Probleme materialistisch zu lösen? Und enthält nicht dieser Ausspruch von Helvetius ein Körnchen Wahrheit: „Ich vergleiche diese zwei Arten von Metaphysik (Materialismus und Idealismus — T. O.) mit den zwei verschiedenen Philosophien Demokrits und Piatons. Von der Erde aus erhebt sich der erste stufenweise in den Himmel, und vom Himmel senkt sich der andere langsam auf die Erde nieder."9 Die metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts waren nicht nur spekulative Konstruktionen einer in Wirklichkeit nicht existierenden metaphysischen Realität. Kant zufolge bilden die Probleme der Metaphysik (d. h. die Probleme, die Piaton, Aristoteles, Spinoza, Descartes u. a. aufgeworfen hatten) den wichtigsten Inhalt der Philosophie. Außer der metaphysischen Forschungsrichtung gibt es für ihn in der Philosophie nur noch den Skeptizismus, den ewigen Gegner der Metaphysik, dem jedoch deren positiver philosophischer Inhalt fehlt. Deshalb lautet eine der Hauptfragen der „Kritik der reinen Vernunft": Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich? In der Sprache Kants heißt das: Wie ist wissenschaftliche Philosophie möglich (ist sie überhaupt möglich)? Bekanntlich wurde diese Frage erstmals gerade von den Rationalisten des 17. Jahrhunderts gestellt. Kant sah eben in der Metaphysik als System des philosophischen Wissens den Sinn der Philosophie und die Vollendung der Kultur der menschlichen Vernunft: Die Wissenschaft ist die Sphäre des Verstandes, die Philosophie das Gebiet der Vernunft. Die menschliche Vernunft ist ihrer Natur nach metaphysisch, d. h., sie strebt im Unterschied zum Verstand danach, über die Grenzen der Erfahrung hinauszugehen. Der Mensch als vernünftiges Wesen ist ein metaphysisches Wesen, das sich von den Tieren nicht einfach durch seine Fähigkeit unterscheidet, zu denken und zu urteilen, sondern namentlich durch seine Fähigkeit, metaphysisch zu denken. Bisher waren jedoch alle metaphysischen Lehren unhaltbar, also unwissenschaftlich. Das ist selbstverständlich nicht zufällig, sondern zeugt von der Unzulänglichkeit der Ausgangsthesen und der Methode des metaphysischen Philosophierens selbst. Kant sieht seine Hauptaufgabe deshalb vor allem in einer radikalen Reform der Metaphysik, in ihrer Umwandlung in eine Wissenschaft. Doch die Aufgabe, eine neue, transzendentale Metaphysik zu schaffen, versteht Kant als absolute Negation aller früheren philosophischen Systeme. Von hier aus wird auch seine Erklärung verständlich, „daß es gar nicht Metaphysik ist, was ich in der Kritik (Kritik der reinen Vernunft — T. O.) bearbeite, sondern eine ganz neue und bisher unversuchte Wissenschaft, nämlich die Kritik einer a priori urteilenden Vernunft"10. Man muß dabei beachten, daß Kant die „Kritik der reinen 9

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C.-A. Helvetius, Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten und von seiner Erziehung, Berlin-Weimar 1976, S. 150. I. Kant, Brief an Christian Garve vom 7. August 1783, in: Immanuel Kants Werke, hrsg. von E. Cassirer, Bd. IX, Briefe von und an Kant, erster Teil: 1749-1789, Berlin 1922, S. 226.

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Vernunft" als Begründung der transzendentalen Metaphysik und als Einführung in diese verstand. Die Wissenschaft ist für Kant das Etalon echter Erkenntnis. Dementsprechend formuliert Kant das Dilemma: Entweder wird die Metaphysik eine Wissenschaft (selbstverständlich eine Wissenschaft sui generis), oder sie hat kein Recht zu existieren. Die Kantsche Philosophie beweist die Unmöglichkeit der Verwandlung der traditionellen Metaphysik in eine Wissenschaft, da ihre Thesen theoretisch nicht zu beweisen sind und nicht durch die Erfahrung bestätigt werden. Indem er die Aufgabe der Schaffung eines grundlegend neuen metaphysischen Systems formuliert, begründet Kant die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Philosophie. Diese methodologische Position unterscheidet sich wesentlich vom rationalistischen Standpunkt durch ein tiefes Verständnis jener Schwierigkeiten, die bei der Umwandlung der Philosophie in eine wissenschaftlich-philosophische Weltanschauung auftreten. Die Rationalisten des 17. Jahrhunderts versuchten, Systeme des absoluten Wissens zu schaffen. Sie sahen im Scheitern der vorangegangenen Versuche, solche Systeme zu schaffen, nur die persönlichen Mißerfolge der Philosophen. Kant teilt diese Illusion nicht. Er ist sich über den Konflikt zwischen Metaphysik und Wissenschaft völlig im klaren und sucht nach Wegen, um ihn zu überwinden. Er kommt zu der Überzeugung, daß die grundlegenden metaphysischen Ideen nicht als Vorstellungen über tatsächlich existierende transzendente Wesenheiten zu betrachten sind, sondern nur als Bewußtseinstatsachen, als Ideen der reinen Vernunft. Aber das bedeutet, daß die Gottesidee, die Idee der Unsterblichkeit usw. aus der Sphäre des wissenschaftlichen Wissens ausgeschlossen werden müssen; für sie bleibt nur das Gebiet des Glaubens. In diesem Zusammenhang stellt Kant die Frage nach der Notwendigkeit der Einschränkung der Vernunft, d. h. der reinen Vernunft mit ihren apriorischen Prätensionen: „ . . . wie wir die Vernunft einschränken", schrieb Kant, „daß sie nicht den Faden der empirischen Bedingungen verlasse und sich in transscendente . . . Erklärungsgründe verlaufe".11 In dieser Aussage tritt der Kantsche Agnostizismus als antimetaphysische Auffassung auf. Nun erweist sich aber nach der Kantschen Lehre auch die äußere, vom Bewußtsein unabhängige Welt — die Welt der „Dinge an sich" — als transzendent und mithin unerkennbar. Damit verbunden ist auch die fideistische Tendenz des Kantschen Agnostizismus: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen."12 Das Wesen der Kantschen Reform der Metaphysik besteht also darin, daß deren Grundideen als bar jedes objektiven Inhalts gedeutet werden. Das Übernatürliche (Metaphysische), das die rationalistischen Philosophen als besondere, höchste, nicht selten als göttliche Sphäre des Seins betrachteten, sieht Kant nur als Gesamtheit der Ideen der reinen Vernunft. Diese haben nach ihm zwar eine lebenswichtiX. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant's Werke, Bd. III, a. a. O., S. 379/380. 12 Ebenda, S. 19. 11

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ge, insbesondere sittliche Bedeutung, aber sie stehen in keiner Beziehung zur objektiven Realität, die dem Bewußtsein vorausgeht und unabhängig von ihm existiert. Die Aufgabe der Metaphysik muß in der Erforschung der Entstehung und der Bedeutung dieser Ideen bestehen, aber keineswegs im Beweis der Existenz entsprechender überirdischer Wesenheiten. Von diesen Positionen aus unterzieht Kant die rationalistische Lehre von der Identität der physischen (realen) und logischen Grundlagen und auch die Theorie des apriorischen Wissens, die von den bedeutendsten Rationalisten des 17. Jahrhunderts geschaffen wurde, einer umfassenden kritischen Analyse. Schon in der „vorkritischen" Periode trat Kant gegen die für die gesamte rationalistische Philosophie charakteristische Überzeugung auf, daß das logisch Notwendige auch das physikalisch Notwendige sei. Die Rationalisten urteilten beispielsweise so: Wenn man eine bestimmte logische Schlußfolgerung entsprechend den Regeln der Logik erhalten hat (d. h., wenn kein logischer Fehler gemacht wurde), muß man den Inhalt dieser Schlußfolgerung als objektive Realität betrachten, selbst dann, wenn er nicht durch die Erfahrung bestätigt wird. Der Sinn dieser These ist leicht zu verstehen, wenn man berücksichtigt, daß der logische Schluß, die Deduktion, tatsächlich nicht selten zur Entdeckung und Feststellung früher unbekannter physikalischer Tatsachen führt, deren Existenz über einen langen historischen Zeitraum hinweg nicht durch Beobachtungen und Experimente bestätigt werden konnte. Doch mit logischen Überlegungen lassen sich keine Tatsachen entdecken, die nicht implizit in den Sätzen enthalten sind und die Grundlage der logischen Schlußfolgerungen bilden. Die Rationalisten des 17. Jahrhunderts bemühten sich, die Existenz der transzendenten Wesenheiten aus spekulativen Prämissen zu deduzieren, die selbstverständlich nicht über die Grenzen der Erfahrung hinausgingen. Kant, der eine solche Verabsolutierung der Möglichkeiten der Deduktion ablehnte, bewies, daß der logische Grund sich zu seiner Folge so verhält, daß letztere nach dem Gesetz der Identität in ihm logisch vorhergesehen werden kann. Mit anderen Worten, die logische Folge hat nur deshalb Bedeutung, weil sie dem Wesen nach mit dem Grund identisch ist. Das erklärt sich aus der logischen Zergliederung des Grundes, als dessen Teil sich die Folge erweist. So ist beispielsweise die „Komplexität" der Grund der „Teilbarkeit". Das wird offensichtlich, wenn wir den Begriff der Komplexität zergliedern. Anders verhält es sich mit dem realen Grund: Hier ist die Folge nicht Teil oder Merkmal des Grundes. Also offenbart die Analyse des realen Grundes nicht seine mögliche Folge, zeigt sie nicht die Notwendigkeit gerade der gegebenen und nicht irgendeiner anderen Folge. Das, was zumBeispiel den Regen erzeugt, ist sein realer, aber nicht sein logischer Grund, weil der Regen überhaupt keinen logischen Grund hat. Nach der Lehre Kants gestattet der reale Grund, den Zusammenhang zwischen den empirischen Tatsachen zu erkennen, aber er schließt die Möglichkeit aus, die Grenzen der Erfahrung zu überwinden. Die Rationalisten, die die reale Grundlage mit der logischen identifizierten, anstatt sie abzugrenzen, kamen zu dem Schluß, 111

daß sie den Durchbruch in die Sphäre des über der Erfahrung Stehenden, des Übernatürlichen, vollzogen hatten. Kant entlarvt überzeugend diese Illusion, mit der die Grundirrtümer der rationalistischen Metaphysik verbunden sind. Der zentrale Begriff der metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts war der Begriff des apriorischen, des über der Erfahrung stehenden Wissens. Beispielsweise behauptete Leibniz, daß außer den Wahrheiten der Tatsache auch die Wahrheiten der Vernunft existieren, die von derselben ohne Hilfe der Erfahrung, ohne Rückgriff auf die Sinnesdaten erschlossen werden. Die Prinzipien der Logik, die Axiome und Schlußfolgerungen der Geometrie rechnete man zu den unbestreitbaren apriorischen Wahrheiten; deren grundlegende Besonderheit besteht in ihrer offensichtlichen Allgemeinheit und Notwendigkeit. Die Bestimmung des Apriorischen als Allgemeines und Notwendiges weist darauf hin, daß das Problem des Apriorischen einen tiefen Inhalt hat: es fixiert einige wirkliche Charakteristika des wissenschaftlichen Wissens, die besonders für die Mathematik zutreffen; deren Sätze sind relativ unabhängig von den Erfahrungsdaten. Auf dem Entwicklungsniveau der Mathematik und Logik des 17. Jahrhunderts war der Weg von den empirischen Daten zu den logischen und insbesondere zu den mathematischen Sätzen noch gänzlich unerforscht. Die Rationalisten nahmen an, daß die Sätze der Mathematik und Logik absolut unabhängig von der Erfahrung sind, wobei sie letztere nur als die Gesamtheit der sinnlichen Wahrnehmungen einzelner Individuen ansahen. Bei solch einer begrenzten Auffassung von der Erfahrung war natürlich unklar, woher die Logik und insbesondere die Mathematik die Allgemeinheit und Notwendigkeit ihrer Thesen nahmen. Die Antwort, die die Rationalisten auf diese Frage gaben, war immer dieselbe. Die logischen und mathematischen Sätze sind deshalb allgemein und notwendig, weil sie apriorischen Charakter haben, das heißt völlig unabhängig von der Erfahrung sind. Die Begriffe der Allgemeinheit und Notwendigkeit als spezifischer Eigenschaften theoretischer Sätze konnten noch nicht Gegenstand einer speziellen wissenschaftlichen Analyse sein. Weder die Logik noch die Mathematik besaßen in jener Zeit irgendwelche Anhaltspunkte zum Verständnis dessen, daß die Allgemeinheit nud Notwendigkeit ihrer Thesen durchaus nicht absolut sind, daß sie eingeschränkt sind erstens durch das Niveau des erreichten Wissens und zweitens durch die theoretische Grundlage. Vollends offensichtlich wurde dies mit der Entstehung der nichteuklidischen Geometrie, der Relativitätstheorie und der Quantenphysik. Das oben Gesagte erklärt, warum Kant die rationalistische Konzeption des Apriorischen nicht ablehnt, sondern nur überarbeitet. Er konnte ebensowenig wie die Rationalisten (und alle Philosophen und Naturforscher dieser Zeit) den objektiven Prozeß der Entstehung und historischen Entwicklung der theoretischen Thesen von allgemeiner und notwendiger Bedeutung erklären. Noch schwerer war es, auf diesem Entwicklungsniveau der Wissenschaft und Philosophie die Allgemeinheit und Notwendigkeit solcher Kategorien des theoretischen Denkens wie beispielsweise Raum Zeit und Kausalität zu erklären. Jedenfalls zweifelte 112

keiner der Naturforscher daran, daß alle Naturerscheinungen in Raum und Zeit existieren, daß sie alle bestimmte Ursachen haben usw. Kann man aber beweisen, daß diese Kategorien tatsächlich allgemein und notwendig sind? Deshalb nimmt Kant, den Rationalisten folgend, eine Abgrenzung zwischen reinem (apriorischem) und empirischem Wissen vor und behauptet, daß Logik und Mathematik apriorische Disziplinen sind, die Mechanik aber die apriorischen Grundthesen mit dem aus der Erfahrung gewonnenen Wissen verbindet. Worin unterscheidet sich die Kantsche von der rationalistischen Konzeption des Apriorischen? Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß Kants Polemik gegen die Metaphysiker des 17. Jahrhunderts in diesem Punkt am wenigsten produktiv ist, weil er selbst ein Anhänger des Apriorismus war. Doch tatsächlich unterscheidet sich seine Auffassung vom Apriorischen qualitativ von dem Apriorismus der Rationalisten. Diese erkannten, wie bereits erwähnt, die Existenz des apriorischen Wissens über die Welt an. Das heißt, sie hielten die Existenz eines anderen, nicht auf die Erfahrung gegründeten Weges der Erkenntnis für möglich und maßen ihm vorrangige Bedeutung bei. Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich Kant grundsätzlich vom Rationalismus. Er ist überzeugt, daß die Ideen und Begriffe, die nicht aus der Erfahrung gewonnen werden, keinen realen Inhalt haben und nur eine instrumentale Funktion erfüllen, d. h. ein notwendiges, formales Mittel der Erkenntnis sind. Der Inhalt des Wissens entsteht nur aus den Sinnesdaten, aber das Apriorische ist unzweifelhaft notwendig als Form des Wissens, die die sinnlichen Wahrnehmungen zu bestimmten Bildern verbindet. Solche apriorischen Formen des Wissens sind z. B. die Kategorien Einheit, Vielheit, Realität, Kausalität, Wechselwirkung, Möglichkeit, Notwendigkeit usw. Alles, was a priori gedacht wird, existiert nicht unabhängig von der Erkenntnis. Die apriorischen Formen stehen nach Kant nicht über der Erfahrung, sondern gehen der Erfahrung voraus, d. h., sie sind die Voraussetzungen, die Bedingungen der Erfahrung, dank derer sich die Möglichkeit der Erfahrung und des Wissens schlechthin in Wirklichkeit verwandelt. Nur in diesem begrenzten Sinn kann und muß man über den Anteil des Apriorischen an der Erkenntnis, über die apriorische Erkenntnis sprechen. Kant unterstreicht: „Folglich ist uns keine Erkenntniß a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Erfahrung."13 Diesen Gedanken erklärt Kant an anderer Stelle: „Die transscendentale Analytik hat demnach dieses wichtige Resultat: daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu anticipiren, und da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne."14 So sind die apriorischen Formen des Wissens nicht dazu notwendig, um sich mit ihrer Hilfe über die Erfahrung in die Welt der scheinbaren Wesenheiten zu er« Ebenda, S. 128. « Ebenda, S. 207. 8

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heben, sondern dazu, um aus der Gesamtheit der einzelnen sinnlichen Gegebenheiten die systematisch organisierte Erfahrung zu bilden. Im Unterschied zu seinen Vorgängern erkannte Kant sehr wohl, daß Erfahrungswissen die Anwendung von Kategorien voraussetzt. So verbindet die einfache Behauptung, daß die Sonne den Stein erwärmt, die sinnliche Wahrnehmung mit dem kategorialen Verhältnis von Ursache und Wirkung. Kant grenzt die Erfahrungsurteile von den Urteilen der unmittelbaren Wahrnehmung ab: strenggenommen geben letztere noch kein echtes Wissen, jedenfalls noch kein Wissen über den Zusammenhang der Erscheinungen. Folglich sind die Kategorien notwendige Voraussetzungen des empirischen Wissens, das, ähnlich dem theoretischen Wissen, rationalen Charakter besitzt. Hieraus entsteht Kants Illusion: die Kategorien gehen der Erfahrung voraus. Kant (wie alle Denker und Gelehrten seiner Zeit) hatte noch keine Vorstellung von der historischen Entwicklung der Erfahrung, in deren Verlauf die Kategorien entstehen und sich entwickeln. Dieser für diese Epoche unvermeidliche Irrtum soll nicht Kants Verdienst herabsetzen: Kant entdeckte die Einheit des kategorialen Apparates des Denkens und des Inhalts des Erfahrungswissens. Deshalb beschränkt er sich nicht wie seine Vorgänger auf die Gegenüberstellung des „reinen" (apriorischen) und des empirischen Wissens. Er beweist, daß die Sätze der theoretischen Naturwissenschaften, da sie allgemeine und notwendige Bedeutung haben, nicht rein apriorischer Natur, sondern apriorisch und empirisch zugleich sind, nämlich apriorisch in der Form und empirisch im Inhalt. Die rationalistische Negation der Einheit des apriorischen (d. h. des eigentlich theoretischen) und empirischen Wissens führte gesetzmäßig zu dem Schluß, daß apriorische Sätze (Urteile, Schlußfolgerungen) ausschließlich analytischen Charakter haben, d. h. kein neues Wissen geben, sondern nur feststellen, was in versteckter Form schon im Subjekt des Satzes enthalten ist. Der ganze Reichtum des mathematischen Wissens wird auf diese Weise auf etwas schon von vornherein Gegebenes, Präformiertes, in den logischen Prämissen der Mathematik Enthaltenes reduziert. Eine solche Position mußte notwendigerweise mit der Entwicklung der Mathematik, der Mechanik und der theoretischen Naturwissenschaft in Konflikt geraten. Das Prinzip der Einheit von Apriorischem und Empirischem gestattete Kant, auch dieses rationalistische Dogma zu widerlegen. Kant, der die Existenz analytischer Urteile nicht ablehnt, rechnet die Entdeckung synthetischer Urteile a priori zu seinen bedeutendsten Errungenschaften. Solche Urteile sind nach ihm die der Mathematik und der Mechanik, weil sie eine besondere Art sinnlicher Anschauungen voraussetzen — die apriorischen Anschauungen. Sie sind auch in den anderen Wissenschaften möglich, weil diese das Apriorische auf die Sinnesdaten anwenden. Die Bedeutung der synthetischen Urteile a priori besteht darin, daß sie einen realen Zuwachs an Wissen ermöglichen. Die Vorgänger Kants nahmen an, daß nur die empirischen Urteile, da sie die neuen Beobachtungen fixieren, synthetischen Charakter haben. Eine solche Sichtweise schränkte die Möglichkeiten (und Perspektiven) der Entwicklung der theoretischen Naturwissenschaft stark ein. Kant machte 114

mit der antidialektischen Gegenüberstellung von analytischen und synthetischen Urteilen Schluß. Die herausragende Bedeutung dieser neuen Fragestellung für die Entwicklung der theoretischen Naturwissenschaft ist unbestritten. Die Kantsche Lehre über die synthetischen Urteile a priori ist ein Versuch, die Möglichkeit und Notwendigkeit der theoretischen Naturwissenschaft, die es zu Kants Zeiten noch nicht gab, philosophisch zu begründen. Aber es existierte bereits die mathematische Physik, die Kant auch ermutigte, die allgemeine Frage nach den erkenntnistheoretischen Prämissen des theoretischen Wissens zu stellen. Letzteres führt über die Grenzen der vorhandenen Erfahrung hinaus und ist deshalb kein empirisches, sondern theoretisches Wissen. Daraus ergibt sich für Kant, daß das Theoretische, das für ihn mindestens seiner Form nach apriorischen Charakter trägt, unabhängig von jeder möglichen Erfahrung existiert, da es sich auf die apriorisch-sinnliche Anschauung gründet. Die Zulassung dieser besonderen Form der Anschauung, d. h. die Konzeption der Apriorität von Raum und Zeit, unterscheidet Kants Position von der rationalistischen. Dieser Unterschied deckt die Widersprüche des Kantschen Apriorismus auf. Einerseits behauptet Kant, daß das Apriorische nur die Form des Wissens ist. Indem er aber die Existenz synthetischer Urteile a priori zuläßt, läßt er in gewissem Maße auch einen apriorischen Inhalt zu. Der Widerspruch zwischen Form und Inhalt des theoretischen Wissens bleibt ungelöst; das Problem ist jedoch in seiner ganzen (für jene historische Epoche möglichen) Tiefe gestellt. Keiner vor Kant hat die Lehren der Rationalisten so inhaltsreich und tiefgründig kritisiert. Von denDenkern des 18. Jahrhunderts gelang es nur ihm, die wertvollsten Ideen des philosophischen Rationalismus aufzuzeigen und diese Ideen weiterzuentwickeln. Kant konnte die rationalistische Metaphysik nicht überwinden, weil er sie von idealistischen und agnostizistischen Positionen aus kritisierte. Aber anzunehmen, daß die positive Überwindung der Metaphysik (bei Erhaltung und anschließender Überarbeitung alles Wertvollen) schon zu jener Zeit möglich war, bedeutet, sich über die Notwendigkeit eines historischen Herangehens an die Entwicklung der Philosophie hinwegzusetzen. Die klassische deutsche Philosophie hat, wie Marx und Engels zeigten, die rationalistische Metaphysik des 17. Jahrhunderts wiederbelebt.15 Diese Wiederbelebung war jedoch keine Rückwärtsbewegung, da mit ihr eine fruchtbare systematische Entwicklung der dialektischen Tradition verbunden war, deren hervorragendste Vertreter im 17. Jahrhundert (Descartes, Spinoza und Leibniz) die Schöpfer metaphysischer Systeme waren. Die Tatsache, daß Kants Kritik der metaphysischen Systeme sich im Rahmen der von ihm geschaffenen transzendentalen Logik und insbesondere der transzendentalen Dialektik entwickelte, zeigt anschaulich die hervorragende Bedeutung seines philosophischen Vermächtnisses für die Entwicklung der dialektischen Denkweise. «S Vgl. F. Engels/K. Marx, Die heilige Familie, in: MEW, Bd. 2, a. a. O., S. 132.



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2. Die Lehre Kants von den „Dingen an sich" und den Noumena

Einer der wichtigsten Begriffe der Philosophie Kants ist der Begriff des „Dinges an sich". Die Anerkennung der objektiven, von der Erkenntnis unabhängigen Existenz der „Dinge an sich" ist ein Wesenszug des philosophischen Materialismus. Aber im Gegensatz zum Kantianismus beweist der Materialismus die prinzipielle Erkennbarkeit der „Dinge an sich" und ihre gesetzmäßige Verwandlung in „Dinge für uns". W. I. Lenin kritisierte die Behauptungen einiger Pseudomarxisten, daß „die Materialisten Marx und Engels . . . die Existenz der Dinge an sich (d. h. der Dinge außerhalb unserer Empfindungen, Vorstellungen usw.) und ihre Erkennbarkeit geleugnet,... irgendeine prinzipielle Grenze zwischen Erscheinung und Ding an sich angenommen" 16 hätten. Kants Begriff von den „Dingen an sich" ist äußerst widersprüchlich. Kant erkennt das „Ding an sich" als Quelle der sinnlichen Erfahrung an und meint sogar, daß es erscheint und Erscheinungen erkennbar sind, besteht aber gleichzeitig auf der absoluten Nichterkennbarkeit der „Dinge an sich", mehr noch, er versteht sie als transzendent. In diesem Zusammenhang entsteht unvermeidlich die Frage: Zählt Kant die „Dinge an sich" zu den Noumena, d. h. zu den überirdischen, jenseitigen Wesenheiten? Eine positive Antwort auf diese sich von selbst aufdrängende Frage bedeutet den Ausschluß der materialistischen Tendenz, die mit der Annahme von „Dingen an sich", die unsere Empfindungen hervorrufen, verbunden ist. Aber was unterscheidet in diesem Fall die „Dinge an sich" von den Noumena? In der marxistischen philosophischen Literatur war diese Frage bedauerlicherweise noch nicht Gegenstand einer speziellen Untersuchung.17 Ihre Bedeutung für das richtige Verständnis der Philosophie Kants ist aber kaum zu überschätzen. F. Jacobi, einer der ersten Kritiker Kants, formulierte den zum geflügelten Wort gewordenen Satz, daß man „ohne jene Voraussetzung (den Begriff vom „Ding an sich" — T. O.) in das System nicht hineinkommen, und mit jener Voraussetzung darin nicht bleiben konnte". 18 Jacobi konstatierte die Wider16 17

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W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1964, S. 111. Daraus erklärt sich offensichtlich, warum der Autor des Artikels „Noumenon" in der „Philosophischen Enzyklopädie" behauptet, daß bei Kant Noumenon ein Synonym des Begriffes „Ding an sich" sei. (Filosofskaja enziklopedija, Bd. 4, Moskva 1967, S. 100). F. H. Jacobi, Ueber den transcendentalen Idealismus, in: Werke, Bd. 2, Leipzig 1815, S. 304.

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sprüchlichkeit der Kantschen Auffassung der „Dinge an sich"; er sah in ihnen nichts anderes als logisch nicht abgestimmte Behauptungen. Er stellte dem Kantianismus eine intuitivistische Lehre vom Glauben als einzig beweisfähiges Erfassen der metaphysischen Realität entgegen, d. h., er rehabilitierte all das, was Kants „Kritik der reinen Vernunft" widerlegt hatte. Die Quelle der Widersprüchlichkeit der Kantschen Lehre von den „Dingen an sich" ist das Bestreben, den Materialismus mit dem Idealismus auszusöhnen. Jacobis Fehler bestand darin, daß er die von ihm aufgezeigten Widersprüche negativ bewertete. In Wirklichkeit sind diese Widersprüche äußerst inhaltsreich. Man kann sogar sagen, sie zeugen indirekt von einer tiefen Problemstellung. Der dialektische Materialismus begründet die Notwendigkeit einer positiven Wertung der Widersprüche, die hervorragenden philosophischen Lehren innewohnen. Inhaltliche Widersprüche, die den Versuch der Überwindung einer begrenzten, einseitigen Problemstellung beinhalten, sind nicht einfach eine Unzulänglichkeit, sie sind in gewisser Hinsicht sogar ein Vorzug jener Lehren. Erinnern wir uns, daß Marx in den Widersprüchen der Werttheorie Ricardos die Prämissen für ein richtiges Herangehen an dieses äußerst komplizierte ökonomische Problem sah. Eine Analogie (natürlich nur in erkenntnistheoretischer und methodologischer Hinsicht) zwischen Kants Lehre von den „Dingen an sich" und der Ricardoschen Werttheorie herzustellen scheint uns nicht nur berechtigt, sondern auch fruchtbar. Handelt es sich doch in beiden Fällen nicht nur um Irrtümer, um bedeutende Irrtümer, sondern auch um Widersprüche, die in der objektiven Realität selbst existieren. Wir sind folglich sehr weit davon entfernt, Kant einfach der Inkonsequenz zu bezichtigen, daß er „etwas" nicht verstanden, nicht bemerkt habe und in für seine Nachfolger offenkundige Widersprüche geraten sei. Eine solche Art der Analyse einer bedeutenden philosophischen Lehre muß man antiphilosophisch nennen. Hätte Kant die „Dinge an sich" einfach als absolut transzendent interpretiert oder in ihnen lediglich ein erkenntnistheoretisches Phänomen gesehen — er wäre, ungeachtet aller Bestimmtheit und „Folgerichtigkeit" dieser Ansicht, kein bedeutender Denker gewesen. Lenin stellte als erster die tiefgründige Frage nach der Notwendigkeit der Überwindung der vulgär-materialistischen Fehler in der Kritik der Kantschen Philosophie. Die wissenschaftliche Kritik des Kantianismus verwirft nicht einfach Kants Überlegungen, sondern berichtigt sie. „Die Marxisten", schrieb in diesem Zusammenhang Lenin, „kritisierten (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) die Kantianer und die Anhänger Humes mehr auf Feuerbachsche (und Büchnersche) als auf Hegeische Art." 19 Dieser wichtige methodologische Hinweis verdeutlicht die Notwendigkeit der Untersuchung des vielseitigen realen Inhalts der Widersprüche der Kantschen Philosophie zum Zwecke ihrer wirklich wissenschaftlichen Lösung. 19

W. I. Lenin, Philosophische Hefte. Konspekt zu Hegels „Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 169.

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Bekanntlich schuf Kant in der „vorkritischen" Periode eine" in ihrer Grundläge materialistische Kosmogonie, die den Gesetzen der klassischen Mechanik völlig entsprach, die von der Astronomie ermittelten Fakten hinreichend erklärte und eine für jene Zeit wissenschaftliche Deutung des „systematischen Baus" unseres Sonnensystems sowie seiner Entstehung und Entwicklung gab. Seine Untersuchungsprinzipien erklärend, schrieb Kant: „Mich dünkt, man könne hier in gewissem Verstände ohne Vermessenheit sagen: Gebet mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll."20 „Kann man aber wohl", schrieb Kant weiter, „von den geringsten Pflanzen oder Insect sich solcher Vortheile rühmen? Ist man im Stande zu sagen: Gebt mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne? . . . Man darf es sich also nicht befremden lassen, wenn ich mich unterstehe, zu sagen: daß eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz der Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund werden wird." 2 1 Die Entwicklung seiner Auffassungen in der „vorkritischen" Periode führt ihn zu der Überzeugung, daß die Entstehung des Lebens und erst recht des Bewußtseins, des Denkens nicht aus der Bewegung und Entwicklung der Materie erklärt werden kann. Gemeint sind natürlich die mechanische Bewegung und ein mechanistisch interpretierter Entwicklungsprozeß. Andere, durch nichtmechanische Gesetzmäßigkeiten bedingte Naturprozesse kennt Kant und mit ihm alle anderen bedeutenden Gelehrten seiner Zeit jedoch nicht. Die Tatsache, daß der mechanische Materialismus die Genesis des Lebens, des Bewußtseins nicht aufdeckt, ist für Kant Grund genug, den Materialismus schlechthin abzulehnen. Erscheint doch dem Philosophen die mechanistische Form dieser Lehre nicht als deren historisch bedingte Begrenztheit, sondern als das Wesen der materialistischen (und naturwissenschafdichen) Erklärung der Naturerscheinungen. Kant lehnt die mechanistische Methodologie nicht ab, sondern rechtfertigt und begründet sie; gleichzeitig unterstreicht er aber ihre Begrenztheit, was auch die Schlußfolgerung der prinzipiellen Undurchführbarkeit des philosophischen Monismus nach sich zieht. Eine Erklärung der Vielfalt der Wirklichkeit ist danach nicht zu erreichen, wenn nur von einer Grundthese ausgegangen wird. Nach der Behauptung der Unzulänglichkeit des materialistischen (faktisch: mechanistischen) Ausgangspunkts stellt Kant auch die These der Haltlosigkeit des idealistischen Monismus (d. h. der Ableitung der Außenwelt aus dem Bewußtsein) auf. Damit meint er nicht nur den (nach seinen Worten) „träuI. Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprünge des ganzen Weltgebäudes, nach Newtonischen Grundsätzen abgehandelt), in: Kant's Werke, Bd. I, Berlin 1910, S. 229/230. 21 Ebenda, S. 230. 20

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merischen" und „dogmatischen" Idealismus Berkeleys, sondern auch den „problematischen" Idealismus Descartes', der unser Wissen von der Existenz der Außenwelt aus dem cogito, dem Selbstbewußtsein, deduziert und dieses als die Grundthese ansieht, die alle anderen Prämissen überflüssig macht. Nach Kant ist die Existenz des Selbstbewußtseins Beweis für das Vorhandensein einer äußeren, sinnlich erfaßbaren Welt. „Das . .. Bewußtsein meines eigenen Daseins beweiset das Dasein der Gegenstände im Kaum außer mir,"22 Diese These enthält die Anerkennung der Abhängigkeit des Bewußtseins von der Außenwelt; der Begriff der Außenwelt ist bei Kant jedoch doppeldeutig, da er nicht nur auf die „Dinge an sich", sondern auch auf die Erscheinungen verweist.23 Wir beziehen uns hier auf den Abschnitt „Widerlegung des Idealismus", den Kant für die 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" als Antwort an jene Rezensenten schrieb, die nicht grundlos in dieser Arbeit eine subjektividealistische Tendenz sahen. Kant unterstreicht seine Divergenz mit Berkeley mit der These, daß die Gesamtheit der auf bestimmte Art und Weise organisierten, als sinnlich erfaßbare Natur oder als Welt der Erscheinungen wahrgenommenen Vorstellungen notwendig die Anerkennung einer von der Erkenntnis völlig unabhängigen Welt der „Dinge an sich" als der Grundlage der Welt der Erscheinungen voraussetzt. Die Subjektivität des sinnlich Gegebenen ist durch den spezifischen Mechanismus der menschlichen Erkenntnis bedingt. Die sinnlichen Wahrnehmungen, die den Inhalt unseres Denkens bilden, sind jedoch nicht willkürlich, da sie durch die Einwirkung der „Dinge an sich" auf unsere Sinne hervorgerufen sind. Somit zeugt die Existenz des Bewußtseins von der Existenz der Außenwelt, und die sinnlichen Wahrnehmungen weisen direkt auf die Existenz der „Dinge an sich" hin. Deshalb müssen die „Dinge an sich" als die Ursachen der Sinneswahrnehmungen betrachtet werden; sie bedingen nicht nur deren Vielfalt, sondern in gewisser Hinsicht auch die Besonderheiten ihres Inhalts. Nach Kant beweist die Welt der Erscheinungen bereits auf Grund ihrer unbestreitbaren Existenz das Sein der „Dinge an sich", weil das Wort „Erscheinung" selbst bereits den Hinweis auf etwas anderes, eine Nicht-Erscheinung einschließt, welche nur als sinnlich nicht wahrnehmbare Grundlage sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände oder Erscheinungen denkbar ist. In diesem Sinne ist Kants Bemerkung zu verstehen, daß „Erscheinungen doch jederzeit eine Sache an sich selbst voraussetzen und also darauf Anzeige thun" 24. 22 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant's Werke, Bd. III, a. a. O., S. 191. A n anderer Stelle der „Kritik der reinen Vernunft" weist Kant noch bestimmter auf den Zusammenhang von Bewußtsein (und Selbstbewußtsein) und objektiver Realität, den Dingen an sich, hin: „ . . . ich bin mir eben so sicher bewußt, daß es Dinge außer mir gebe, die sich auf meinen Sinn beziehen, als ich mir bewußt bin, daß ich selbst in der Zeit bestimmt existire." (Ebenda, S. 24, Anmerkung)

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1. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Kant's Werke, Bd. IV, a. a. O., S. 355.

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Somit begründet Kant, indem er sowohl eine materialistische als auch eine idealistische Lösung der Grundfrage der Philosophie ablehnt, die Notwendigkeit eines dualistischen Ausgangspunktes: einerseits das Bewußtsein, das erkennende Subjekt, andererseits die von ihm losgelöste Welt der „Dinge an sich", die nicht nur der Erkenntnis, sondern auch deren Gegenstand, der Welt der Erscheinungen, absolut entgegengesetzt wird. Letztere setzt Kant in Korrelation zur Erkenntnistätigkeit. Eben diese dualistische Gegenüberstellung von Subjektivem und Objektivem, „Geistigem und Dinglichem", Erscheinung und „Ding an sich" ist der Ausgangspunkt des Kantschen Agnostizismus. Im Unterschied zum Materialismus, der sich auf die absolute Gegenüberstellung von Geistigem und Materiellem im Rahmen der Grundfrage der Philosophie, d. h. der Frage nach dem Verhältnis von Geistigem und Materiellem beschränkt, lehnt der Dualismus diese Einschränkung ab und interpretiert den Gegensatz von Geistigem und Materiellem als in jeder Beziehung absolut. Kants Lehre von der prinzipiellen Nichterkennbarkeit der „Dinge an sich" stützt sich jedoch nicht nur auf diese dualistische Gegenüberstellung von Geistigem und Materiellem. Sie widerspiegelt eine historisch konkrete Situation in der Naturwissenschaft sowie einige allgemeingültige Besonderheiten des Erkenntnisprozesses und interpretiert diese subjektivistisch. Engels weist darauf hin, „daß zu Kants Zeit unsre Kenntnis der natürlichen Dinge fragmentarisch genug war, um hinter jedem noch ein besondres geheimnisvolles Ding an sich vermuten zu lassen". 2 5 Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, stellt Engels fest, faßten die Chemiker die organischen Stoffe als geheimnisvolle „Dinge an sich" auf. Kant hat folglich die Auffassungen eines großen Teils der Naturwissenschaftler jener Epoche philosophisch formuliert. Seit Kant haben die Erfolge der Wissenschaft und die darauf aufbauenden praktischen Errungenschaften der Menschheit die grundlegenden Prämissen des Kantschen — und jedes anderen — Agnostizismus in überzeugender Weise widerlegt. Aber die Widersprüche des Erkenntnisprozesses, des Prozesses der Verwandlung nicht erkannter „Dinge an sich" in „Dinge für uns", sind freilich nicht verschwunden. Diese Widersprüche reproduzieren sich, zumeist in qualitativ neuer Form, auf jeder historischen Stufe der sich entwickelnden Erkenntnis. Der Unterschied zwischen den „Dingen für uns" und den „Dingen an sich" ist nicht nur der erkenntnistheoretische Unterschied zwischen Erkanntem und Nichterkanntem. Lenin hebt hervor: „ . . . das Ding an sich unterscheidet sich von dem Ding für uns, denn letzteres ist nur ein Teil oder eine Seite des ersteren." 2 6 Folglich ist das Erkannte Teil eines umfassenderen, noch nicht erkannten Ganzen und in gewisser Weise von diesem abhängig. Jede neue Stufe der Erkenntnis offenbart auch neue, bis dahin unbekannt F. Engels, Einleitung zur englischen Ausgabe der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", in: MEW, Bd. 22, Berlin 1963, S. 297. 5® W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 113.

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gebliebene Erscheinungen. Dieses Entdecken von noch nicht Erkanntem ist ebenfalls ein Fortschritt der Erkenntnis: Die Vorstellung einer Verringerung des Umfangs des Nichterkannten ist nur im Rahmen eines bestimmten Erkenntnisprozesses berechtigt; sie darf nicht auf den gesamten Erkenntnisprozeß mit all seinen gegebenen und noch möglichen, noch nicht entdeckten Objekten ausgedehnt werden. Denn letztlich ist der Gegenstand des gesamten Erkenntnisprozesses im Gesamtrahmen seiner historischen Entwicklung unendlich. Wenn wir das Endliche erkennen, dann erkennen wir zwar auch das Unendliche, aber dadurch wird nicht der zwischen beiden bestehende qualitative Unterschied beseitigt. Die Philosophie des Marxismus ist ebensowenig mit dem agnostizistischen Unglauben an die Erkennbarkeit der „Dinge an sich" vereinbar wie mit der gegenteiligen metaphysischen Überzeugung von der Möglichkeit absoluten Wissens. Diese von den Schöpfern der metaphysischen Systeme des 17. Jahrhunderts begründete Ansicht wurde von Hegel erneuert. Sie hat auch die Theologen immer angezogen, weil nach deren Überzeugung die Heilige Schrift die Schatzkammer aller Wahrheit und mithin auch der absoluten Wahrheit ist. Bekanntlich haben solche hervorragenden Vertreter des philosophischen Skeptizismus wie P. Bayle und M. Montaigne eine wichtige Rolle im Kampf gegen Theologie und metaphysisches Systemschöpfertum gespielt. Es wäre deshalb unhistorisch, den Zusammenhang des Kantschen Agnostizismus (und speziell seiner These von der prinzipiellen wissenschaftlichen Unhaltbarkeit aller bestehenden und möglichen „Beweise" der Existenz Gottes) mit einer bestimmten, wenn auch inkonsequenten und durch viele Vorbehalte abgeschwächten antitheologischen Position zu ignorieren. Kants Schriften wurden nicht zufällig vom Vatikan in das Verzeichnis der verbotenen Bücher aufgenommen. Erinnern wir uns daran, daß das Dogma der logischen Beweisbarkeit der Existenz Gottes ein Grundpfeiler der Theologie des Katholizismus ist. Dagegen schlägt Kant vor, die metaphysischen und theologischen Ansprüche der Vernunft einzuschränken. Das bedeutet, daß die Lehre Kants direkt gegen die spekulative Metaphysik des 17. Jahrhunderts gerichtet ist. Insbesondere richtet sie sich gegen deren Fortsetzer, die die rationalistischen Versuche der Schaffung einer die Begrenztheit der gegebenen Erfahrung überwindenden theoretischen Methode als Begründung der Möglichkeit von übersinnlichem, über die Erfahrung hinausgehendem Wissen, das die Theologie mit einer rationalistischen Methodologie ausrüstet, ansahen. Kant verwirft das rationalistische Dogma der Identität der realen und logischen Gründe, mit dessen Hilfe die spekulative Metaphysik die Existenz transzendenter Wesen, das Sein Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, die absolute Willensfreiheit usw. „bewies". Ebenso lehnt er die rationalistische These des transzendenten Charakters apriorischer Sätze ab und stellt ihr die neue Sicht des Apriorischen als der Form des Wissens entgegen, die über die Grenzen der Erfahrung hinaus prinzipiell nicht anwendbar ist und nur empirischen Inhalt 121

besitzen kann. Eine solche Auffassung vom Apriorischen nähert sich, ungeachtet der für Kant typischen subjektivistischen Interpretation der Formen des Wissens, dem rationalen Verständnis des Wesens der theoretischen Erkenntnis. Deshalb ist Kants berühmte, in der transzendentalen Analytik formulierte Frage: wie ist reine Naturwissenschaft möglich? dem Wesen nach die Frage nach der Möglichkeit theoretischer Naturwissenschaft (auf die Kant bekanntlich eine eindeutig positive Antwort gibt). Ungeachtet seiner Polemik gegen die metaphysischen Philosophen des 17. Jahrhunderts ist Kant in gewisser Beziehung deren Nachfolger. Die theologischen Implikationen bilden durchaus nicht den Grundgehalt der spekulativen Metaphysik. Die rationalistische Lehre vom apriorischen Denken und Wissen wurzelt in den Errungenschaften der Mathematik und Mechanik des 17. Jahrhunderts, in den spezifischen Besonderheiten der Entwicklung dieser deduktiven Wissenschaften, deren Thesen sich durch apodiktische Allgemeinheit auszeichnen. Was ist die Quelle dieser, wie es damals schien, unbestreitbaren, unanfechtbaren Allgemeinheit? Die Rationalisten des 17. Jahrhunderts, die die logische Form der mathematischen Konstruktionen erforschten, kamen zu der, wie es ihnen schien, einzig möglichen Schlußfolgerung: Diese Konstruktionen sind unabhängig von der Erfahrung, sie sind apriorisch. Hieraus folgte auch die allgemeinere Schlußfolgerung auf die Möglichkeit eines über die Erfahrung hinausgehenden Wissens. Kant lehnt diese letzte Schlußfolgerung ab; er interpretiert das Apriorische als etwas der Erfahrung Vorausgehendes, das nur auf die Erfahrung und darüber hinaus nicht anwendbar ist. Kant reduziert die metaphysische Seinslehre (Ontotogie) auf die Lehre von den Kategorien des erkennenden Denkens, von der kategorialen Synthese des sinnlich Gegebenen. Die erkenntnistheoretische Interpretation der Kategorien beinhaltet trotz ihres subjektivistischen Charakters eine reale dialektische Problemstellung. Nicht zufällig beweist Kant gerade in der transzendentalen Analytik die Notwendigkeit einer neuen, nicht formalen Logik, die er transzendentale nennt. Die transzendentale Dialektik, einer der wichtigsten Abschnitte der „Kritik der reinen Vernunft", ist unmittelbar dem Beweis der prinzipiellen Unhaltbarkeit metaphysischer Ansprüche auf ein über die Erfahrung hinausgehendes Wissen gewidmet. Die Hauptideen der Metaphysik — die psychologische, die kosmologische, die theologische — besitzen danach keinen gegenständlichen Inhalt und weisen auch nicht indirekt auf die Existenz transzendenter Wesen hin. Die Vernunft hat es nur mit Verstandesbegriffen zu tun, deren Inhalt allein aus der Erfahrung geschöpft ist. Indem sie diese Verstandesbegriffe synthetisiert, bereichert sie sie nicht mit neuem, jenseits der Erfahrung stehendem Inhalt. Deswegen sind die metaphysischen Ideen der Vernunft nichts weiter als Ideen, in denen das Bestreben der Vernunft zum Ausdruck kommt, „die synthetische Einheit, welche in der Kategorie gedacht wird, bis zum Schlechthin 122

Unbedingten hinauszuführen".27 So beinhaltet die Idee der substantiellen Seele die absolute Einheit des denkenden Subjekts, die Gottesidee die absolute Einheit der Bedingungen aller Gegenstände des Denkens usw. Wenn die Metaphysiker des 17. Jahrhunderts die Noumena als transzendente, dem Wesen nach göttliche Wesenheiten verstanden, die durch übersinnliche Erkenntnisfähigkeiten der Vernunft erreicht wurden, so bestimmt Kant die Noumena als apriorische Ideen der reinen, d. h. nicht auf der Erfahrung beruhenden Vernunft. Er schreibt: „Am Ende aber ist doch die Möglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphäre der Erscheinungen ist (für uns) leer, d. i. wir haben einen Verstand, der sich problematisch weiter erstreckt als jene, aber keine Anschauung,. . . wodurch uns außer dem Felde der Sinnlichkeit Gegenstände gegeben . . . Der Begriff eines Noumenon ist also bloß ein Gren^begriff, um die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschränken, und also nur von negativem Gebrauche."28 Aber wenn Kant dem Begriff „Noumenon" keinen positiven Inhalt zuerkennt, dann bezweifelt er damit zugleich die Hypothese der Existenz einer metaphysischen Realität: „Die Eintheilung der Gegenstände in Vhaenomena und Noumena und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt kann daher in positiver Bedeutung gar nicht zugelassen werden." 29 Kants Ansicht vom problematischen Charakter des Transzendenten als Gegenstand der Metaphysik gestattet es, seinen Agnostizismus tiefer zu verstehen. Bekanntlich behauptet Kant, daß die Erkenntnis der Welt der Erscheinungen, der Natur, d. h. all dessen, womit sich die Wissenschaften beschäftigen, ihrer Natur nach grenzenlos ist. Nur das Transzendente sei nicht erkennbar. In diesem Sinne kann der Agnostizismus Kants als antimetaphysisch bezeichnet werden (gemeint ist natürlich nicht die Dialektik, sondern die Lehre über eine metaphysische Realität). Es ist jedoch zu unterstreichen, daß Kants Agnostizismus organisch mit einer ambivalenten Interpretation der objektiven Realität sowie subjektiv-idealistischen Schlüssen, die dieser Interpretation entspringen, verbunden ist. Kant schließt in den Begriff des Transzendenten, des Metaphysischen alles Objektive, alles außerhalb des Bewußtseins Befindliche, von ihm Unabhängige und der Erkenntnis Vorausgehende ein. Darum begnügt er sich nicht mit der antimetaphysischen Behauptung, die Existenz metaphysischer Wesen, Noumena, sei nicht zu beweisen: Er verwandelt das Physische, d. h. das, was außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existiert, in das Metaphysische, Transzendente. Deshalb charakterisiert er auch die Dinge, die auf unsere Sinne einwirken, Empfindungen hervorrufen, die folglich vor der Erkenntnis und unabhängig von ihr existieren, als übersinnliche „Dinge an sich". Was ist in diesem Fall der Erkenntnis zugänglich? Wo sind die Grenzen des von Kant I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant's Werke, Bd. III, a. a. O., S. 253. Ebenda, 3 . 2 1 1 . ® Ebenda, S. 212. 27 28

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verkündeten Agnostizismus, wenn die durch die „Dinge an sich" hervorgerufenen Empfindungen keinerlei Wissen über diese vermitteln, ja nicht einmal das Material liefern, woraus dieses Wissen geschöpft werden könnte? Kant bemüht sich, das von ihm formulierte Problem auf subjektivistische Weise zu lösen, indem er die der Erkenntnis zugängliche Realität nur innerhalb der Erfahrung und durch sie existieren läßt. Er behauptet: „Es sind demnach die Gegenstände der Erfahrung niemals an sieb selbst, sondern nur in der Erfahrung gegeben und existieren außer derselben gar nicht."30 Die sinnlich erfaßbare Welt erweist sich von diesem Standpunkt aus als Phänomen der Erkenntnis, welches sich nur im Erkenntnisprozeß herausbildet. Da die „Dinge an sich" aus der Sphäre der Erkenntnis ausgeschlossen sind, sind das Wissen vom Gegenstand und der Gegenstand des Wissens im wesentlichen identisch. Sicher, der Inhalt unserer Empfindungen ist nach Kant vom Bewußtsein unabhängig. Doch die sinnlich erfaßbaren Dinge, die Erscheinungen sind für ihn Produkt einer Synthese, die von der dem Verstand innewohnenden unbewußten produktiven Einbildungskraft mittels transzendentaler Schemata und Kategorien vollzogen wird. Kant schreibt, daß „Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern das bloße Spiel unserer Vorstellungen sind, die am Ende auf Bestimmungen des inneren Sinnes auslaufen".31 Auf diese Weise führt der Doppelsinn der Kantschen Konzeption der „Dinge an sich" zur subjektivistischen Entstellung des Naturbegriffs und des Erkenntnisprozesses. Dies rechtfertigt natürlich nicht das neukantianische Verwerfen der „Dinge an sich". Lenin unterstreicht: „Die Welt an sich ist eine ohne ms bestehende Welt." 32 Der Irrtum Kants besteht — wie Lenin hervorhebt — nicht im Anerkennen der Existenz von „Dingen an sich", sondern im Festhalten an deren Transzendenz und ihrer Nichterkennbarkeit. Unterdessen beweist, wie Lenin bemerkt, schon die alltägliche menschliche Erfahrung überzeugend, daß die „Dinge an sich" erkennbare Dinge sind, da „jeder Mensch millionenmal die einfache und augenfällige Verwandlung des .Dinges an sich* in eine Erscheinung, in ein ,Ding für uns' beobachtet".33 Die Anhänger einer idealistischen Interpretation der Kantschen Philosophie setzen gewöhnlich zwischen die Begriffe „Ding an sich" und „Noumena" ein Gleichheitszeichen. So behauptet P. Foulquié in seinem „Wörterbuch der philosophischen Sprache", ausgehend von der Zweiteilung „Phänomena — Noumena", daß die Begriffe „Ding an sich" und „Noumenon" Synonyme sind.34 Den gleichen Standpunkt vertreten D. D. Ruñes, B. A. G. Füller und R. Eisler. 35 Doch keiner der genannten Autoren geht über die Analyse der Termino30 Ebenda, S. 339/340. 3! I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 1. Aufl., in: Kant's Werke, Bd. IV, a. a. O., S. 78. 32 W. I.Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, a. a. O., S. 112. 33 Ebenda, S. 114. 8 4 P. Foulquié, Dictionnaire de la langue philosophique, Paris 1962, S. 483. 35 D. D. Runes, Dictionary of Philosophy, New York 1960, S. 215, B. A. G. Füller, A History 124

logie Kants hinaus, keiner erkennt das Wesen der Lehre Kants über die Dinge an sich und die Noumena. Dabei stützen sie sich in der Regel auf die Ungenauigkeit der Terminologie Kants, der diese beiden Begriffe wiederholt zu dem allgemeinen Begriff der intelligiblen Verstandeswesen zusammenfaßt.36 Der Umstand, daß Kant die „Dinge an sich" gelegentlich zu den Noumena zählt, ist gut bekannt, erfordert aber zugleich Erläuterungen. Denn Kant betrachtet die Noumena niemals als „Dinge an sich". Das „Ding an sich" ist nach seiner Lehre keine Idee der reinen Vernunft. Es ist die Hauptprämisse der transzendentalen Ästhetik, d. h. der Lehre von der Sinnlichkeit. Die „Dinge an sich" affigieren unsere Sinne. Die Noumena hingegen haben keinerlei Beziehung zu den sinnlichen Wahrnehmungen und zum Erkenntnisprozeß insgesamt. Wir erwähnten bereits, daß für Kant die Existenz der Noumena problematisch, nicht beweisbar ist. Anders verhält es sich mit den „Dingen an sich". Deren Existenz ist, wie Kant ständig hervorhebt, deshalb offensichtlich, weil es eine Welt der Erscheinungen gibt. Kant nennt die Behauptung, daß „Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint",37 sinnlos. Das, was erscheint, ist eben das „Ding an sich". Dieser Schlußi, meint Kant, folgt mit Notwendigkeit aus der Unterscheidung zwischen den Dingen „als Gegenstände(n) der Erfahrung" und „als Ding(en) an sich".38 Es bleibt allerdings unverständlich, warum die „Dinge an sich", wenn sie tatsächlich erscheinen, nicht erkennbar sein sollen. Dieser Widerspruch berührt jedoch die Abgrenzung von „Dingen an sich" und Noumena in keiner Weise. Gott, die absolute Freiheit des Willens, die unsterbliche Seele — all das sind Noumena, die Kant Ideen der reinen Vernunft nennt. Etwas anderes sind die „Dinge an sich", die die Empfindungen hervorrufen. Kant erklärt zwar in der Vorrede zur 2. Auflage der „Kritik der reinen Vernunft", daß die Existenz der „Dinge an sich" theoretisch nicht zu beweisen sei, doch gleichzeitig unterstreicht er, daß wir gerade von ihnen „den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her haben". 39 Die Unmöglichkeit, die skeptizistischen Zweifel an der Objektivität der „Dinge an sich " theoretisch zu widerlegen, nennt Kant einen Skandal. Er widerlegt jedoch die Metaphysiker, die sich bemühen, die objektive Realität der Noumena zu beweisen. In den „Prolegomena", wo er den Versuch unternimmt, die „Kritik der reinen Vernunft" in populärer Form darzulegen, setzt er sozusagen den Punkt aufs i. Er schreibt: „Der Idealismus besteht in der Behauptung, daß es keine andere als denkende Wesen gebe, die übrigen Dinge, die wir in der Anschauung wahrzunehmen glauben, wären nur Vorstellungen in den denkenden Wesen, denen in der That kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand correspondirte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Geof Modern Philosophy, Bd. 2, New York 1955, S. 231, R. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2, Berlin 1929, S. 271. 3 6 Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kanfs Werke, Bd. III, a.a.O., S. 209-212. 37 Ebenda, S. 17. 38 Ebenda. 39 Ebenda, S. 23, Anmerkung.

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genstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Körper gebe, d. i. Dinge, die obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mögen, uns gänzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Körpers geben; welches Wort also blos die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegentheil davon."40 Wir haben dieses umfangreiche Zitat deshalb vollständig wiedergegeben, weil es Kants Streben beweist, die „Dinge an sich" und die Noumena als apriorische Ideen der reinen Vernunft voneinander abzugrenzen. Im zitierten Abschnitt bezeichnet Kant die „Dinge an sich" wörtlich als Gegenstände, die ungeachtet ihrer prinzipiellen Unerkennbarkeit mit den sinnlichen Wahrnehmungen „correspondiren". Dies muß man offensichtlich in dem Sinn verstehen, daß die unterschiedlichen sinnlichen Wahrnehmungen mit unterschiedlichen „Gegenständen unserer Sinne" „correspondiren". Von diesen Gegenständen, d. h. den „Dingen an sich", behauptet Kant auch, daß sie in den sinnlichen Wahrnehmungen erscheinen, sich offenbaren: „ Wir kennen nur ihre 'Erscheinungen". Folglich ist die Existenz von „Dingen an sich" für Kant offensichtlich. Wir wissen von diesen Dingen auf Grund der „VorStellungen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft". Es wäre falsch, diese Herausstellung der materialistischen Tendenz als reine Polemik zu werten, die nicht Kants innere Überzeugung ausdrückt: Der dualistische Charakter seiner Lehre führt notwendig zu Schwankungen nach links und nach rechts. Mit Hilfe des Begriffs „Ding an sich" versucht Kant, die subjektivistischen Tendenzen seines Systems einzuschränken. Gleichzeitig ist er bestrebt, durch eine subjektivistische Erkenntnistheorie den „Dogmatismus" der materialistischen Anerkennung der objektiven Realität und deren unbeschränkter Erkennbarkeit zu überwinden. In den Widersprüchen der Kantschen Interpretation der „Dinge an sich" kommt das klar zum Ausdruck. 40

I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, in: Kant's Werke, Bd. IV, a. a. O., S. 288/289. Kant hat mitunter dem Terminus „Ding an sich" auch eine andere Bedeutung gegeben; er wandte ihn insbesondere auf die menschliche Vernunft (auf das allgemeine Subjekt der Erkenntnis) an, denn diese stand für ihn außerhalb des empirischen Zugriffs. So gesehen, ist die „Vernunft selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen" (Kritik der reinen Vernunft, Bd. III, a. a. O., S. 374). „Sie, die Vernunft", schreibt er weiter, „ist allen Handlungen des Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit und geräth etwa in einen neuen Zustand, darin sie vorher nicht war" (ebenda, S. 376). Es erübrigt sich zu beweisen, daß Kant auch in diesem Fall das Ding an sich vom Noumenon unterscheidet, das bloß eine Idee der Vernunft ist, die keine empirische Bedeutung und keinerlei Beziehung zur Welt der Erscheinungen hat.

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Die Neukantianer eliminiecten aus Kants Philosophie die „Dinge an sich", erhielten jedoch die Welt der Noumena und anerkannten somit, wenn auch indirekt, die Kantsche Abgrenzung dieser Begriffe. Sie verschwiegen allerdings den materialistischen Hintergrund dieser Abgrenzung. Über ihn spricht der Irrationalist L. Sestov, der sich mit der Tatsache, daß für Kant die „Dinge an sich" im Unterschied zu den Noumena unbedingt objektive Realität besitzen, nicht abfinden kann, mit Empörung: „Und hier", schreibt Sestov, „haben wir einen überraschenden Fall vor uns, über den wir alle ungenügend nachgedacht haben. Kant hat völlig ruhig, ich möchte sogar sagen freudig, mit einem Gefühl der Erleichterung durch seinen Verstand die .Unbeweisbarkeit' der Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele und die Willensfreiheit (all das, was er zum Inhalt der Metaphysik rechnet) erkannt; er vertrat die Ansicht, daß für sie der Glaube, der sich auf die Moral stützt, völlig ausreicht um sie ihre Bestimmung auch als bescheidene Postúlate ausgezeichnet erfüllen zu lassen, aber der Gedanke, daß die Realität der äußeren Dinge sich durch den Glauben behaupten könnte, entsetzte ihn aufrichtig." 41 L. Sestov empört natürlich die materialistische Tendenz in Kants Lehre, die sich unzweifelhaft aus der oben aufgezeigten Abgrenzung ergibt. Erbost fragt Sestov: „Warum müssen sich Gott, die Unsterblichkeit der Seele und die Willensfreiheit mit Glauben und Postulaten begnügen, während das ,Ding an sich' aber wissenschaftlicher Beweise bedarf?" 42 Die rhetorische Frage zeigt deutlich, was für konsequente Idealisten an Kants Lehre absolut unannehmbar ist. Eine der Grundthesen der Kantschen Lehre ist die These der prinzipiellen Nichtanwendbarkeit der Kategorien (und der apriorischen Formen überhaupt) auf das Übersinnliche. Kant wendet jedoch auf die „Dinge an sich" nicht nur die Kategorien der Existenz und Kausalität an, sondern auch andere, deren Bedeutung seiner Lehre zufolge durch die Sphäre der Erscheinungen begrenzt ist. Der bekannte westdeutsche Kantforscher G. Martin bemerkt in diesem Zusammenhang: „Man kann wohl sagen, daß fast alle Kategorien von Kant auch auf die Dinge an sich angewandt werden, insbesondere die Kategorien der Einheit, der Vielheit, der Kausalität, der Gemeinschaft, der Möglichkeit, der Wirklichkeit und der Notwendigkeit."43 Das kann man hinsichtlich der Noumena nicht sagen; auf diese wendet Kant keinerlei Kategorien an, womit er einen Zusammenhang zwischen Noumena und sinnlichen Gegebenheiten leugnet. Es mag scheinen, daß die Gegenüberstellung von „Dingen an sich" und Noumena hauptsächlich für die „Kritik der reinen Vernunft" charakteristisch ist und sich nicht auf Kants ethische Lehre bezieht, die in der „Kritik der praktischen Vernunft" dargelegt wird, welche bekanntlich in gewissem Widerspruch 41L.

Sestov, Umozrenie i otkrovenie, Paris 1964, S. 221. « Ebenda, S. 222. 4 3 G. Martin, Immanuel Kant. Ontologie und Wissenschaftstheorie, Berlin (West) 1969, S. 232.

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zur ersten „Kritik" steht. Die Analyse der Ethik Kants widerlegt — wie noch gezeigt wird — diese Annahme und bestätigt die Schlußfolgerungen aus der Lehre von der theoretischen Vernunft. In seiner Ethik bestimmt Kant die Noumena als Postulate der praktischen Vernunft. Das bedeutet, daß die Behauptungen der Existenz des absolut freien Willens, der persönlichen Unsterblichkeit und Gottes keinerlei faktische und theoretische Grundlage haben. Es ist hervorzuheben, daß Kant die „Dinge an sich" nicht zu den Postulaten der praktischen Vernunft zählt. Das sittliche Bewußtsein hat zu ihnen keine Beziehung. Kant behauptet, daß das Bewußtsein nur insofern sittlich ist, als es nicht durch die „Dinge an sich" affiziert, d. h. nicht von außen bestimmt wird. Folglich wird die Abgrenzung der „Dinge an sich" und der Noumena, die in der Lehre über die theoretische Vernunft enthalten ist, in Kants Ethik zur radikalen Gegenüberstellung. Die praktische Vernunft hat nichts mit Erkenntnis zu tun. Ihre Ideen sind lediglich Ausdruck des moralischen Selbstbewußtseins. Deshalb, so erklärt Kant, „können wir von jenen Ideen auch, ich weil nicht bloß sagen, nicht die Wirklichkeit, sondern auch nicht einmal die Möglichkeit zu erkennen und einzusehen behaupten".44 Im Gegensatz zur Theologie beweist Kant, daß nicht die Religion Grundlage der Sittlichkeit, sondern die Sittlichkeit Quelle der Religion ist. Dies ist natürlich ein idealistischer Standpunkt. Doch seine antitheologische Tendenz ist offensichtlich. Deshalb sind auch die Postulate der praktischen Vernunft nicht Vorbedingungen des sittlichen Bewußtseins, sondern dessen notwendige Überzeugungen, die mit der Überzeugung von der unbedingten Notwendigkeit einer Bestrafung zusammenfallen. Mit den Tatsachen des wirklichen, diesseitigen Lebens ist eine solche Überzeugung nicht zu vereinbaren. Das sittliche Bewußtsein aber nur insofern ein solches, als es davon überzeugt ist, daß die Gerechtigkeit keine Grenzen in Zeit und Raum kennt: „ . . . wie denn auch der Glaube an ein künftiges Leben eigentlich nicht vorausgeht, um die Strafgerechtigkeit an ihm ihre Wirkung sehen zu lassen, sondern vielmehr umgekehrt aus der Nothwendigkeit der Bestrafung auf ein künftiges Leben die Folgerung gezogen wird". 45 Kant behauptet im Grunde genommen, daß die Anerkennung eines göttlichen Richters dem moralischen Bewußtsein durch die Tatsache, daß es unmöglich ist, die Ungerechtigkeit in der Welt zu beseitigen, vordiktiert wird. Und da das Wesen der Moral im kompromißlosen Bewußtsein des Sollens besteht, drücken die theologischen Postulate unlösbare Widersprüche zwischen Sollen und Sein aus. Der Gott in Kants Ethik ist ewiges Sollen, das notwendig von der reinen praktischen Vernunft gedacht wird. V. F. Asmus bemerkt richtig: „Kant leugnet völlig die reale oniologische Bedeutung des übernatürlichen InI. Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Vorrede, in: Kant's Werke, Bd. V, Berlin 1908, S.4. « I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Kant's Werke, Bd. VI, Berlin 1907, S. 490, Anmerkung.

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halts der Religion . . . Der Ursprung des Begriffs Gott steht nicht im Zusammenhang mit den Begriffen und ihren Merkmalen, sondern mit den Tiefen des Gewissens, der Unfähigkeit des Menschen, sich mit der Realität des Bösen, mit der moralischen Disharmonie der Welt, mit dem sozialen Übel, abzufinden."46 Unter den Postulaten der reinen praktischen Vernunft hebt Kant die Willensfreiheit als notwendige (in diesem Sinne vorangehende) Bedingung der Sittlichkeit hervor. Deren Existenz ist nach Kant selbst schon der Beweis des Vorhandenseins der Willensfreiheit. Hierbei handelt es sich nicht um Noumena oder um eine gleichsam ontologische, ursprüngliche Freiheit, die nur als apriorische Idee denkbar ist, sondern um relative Freiheit, die zur Erklärung der Möglichkeit der Sittlichkeit völlig ausreicht. Kant schreibt: „Die Freiheit im praktischen Verstände ist die Unabhängigkeit der Willkür von der Nötbigung durch Antriebe der Sinnlichkeit."47 Eine solche Bestimmung der Freiheit ist im Prinzip jenen Definitionen der Freiheit analog, die wir bei Spinoza und anderen vormarxistischen Materialisten finden: Freiheit als Herrschaft der Vernunft über die Affekte. Und wenn Kant auch annimmt, daß die praktische Freiheit in der Idee der transzendentalen Freiheit wurzelt, so betrachtet er doch die relative Unabhängigkeit des Willens von sinnlichen Impulsen als empirisch konstatierbare Tatsache und insofern als hinreichende Grundlage für Handlungen, die vom Subjekt abhängig sind und deren Folgen von demselben verantwortet werden müssen. Welchen Platz nimmt die Idee der transzendentalen Freiheit unter den anderen Noumena, den Postulaten der praktischen Vernunft, ein? Die Theologie behauptet bekanntlich, daß die absolute Willensfreiheit mit der natürlichen Ordnung der Dinge nicht vereinbar sei, daß sie unmittelbar göttliche Vorbestimmung sei. Kant nimmt auch hier eine dem Wesen nach antitheologische Position ein: Er meint, daß die Idee Gottes und der persönlichen Unsterblichkeit von der Freiheitsidee abgeleitet sind. In dieser Frage ist Kant kategorischer als in jeder anderen: „Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realität durch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Vernunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein von dem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbst der speculativen Vernunft aus, und alle anderen Begriffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche als bloße Ideen in dieser ohne Haltung bleiben, schließen sich nun an ihn an und bekommen mit ihm und durch ihn Bestand und objective Realität, d. i. die Möglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daß Freiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbart sich durchs moralische Gesetz. Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideen der speculativen Vernunft, wovon wir die Möglichkeit a priori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen. Die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind aber nicht Bedingungen des moralischen Gesetzes, V. F. Asmus, Anmerkungen zu: I. Kant, Sotinenija v sestych tomach, Moskva 1965, S. 443. « I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, in: Kant's Werke, Bd. III, a. a. O., S. 363. 46

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sondern nur Bedingungen des nothwendigen Objects eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens."48 Es ist schwer, in Kants Schriften noch eine weitere Stelle zu finden, wo sein Verständnis des Wechselverhältnisses der Ideen der praktischen Vernunft so deutlich formuliert ist. Wir möchten sogar meinen, so o f f e n , denn nach Kants Lehre verbietet das moralische Gesetz zu lügen. Dort, wo es notwendig ist, läßt es Schweigen zu, und Kant nahm nicht selten Zuflucht zum Schweigen, weil seine „Religion in den Grenzen der reinen Vernunft" Gegenstand offizieller Mißbilligung war. Kant behauptet also, daß die Idee der Freiheit (faktisch einfach die Freiheit) verstanden werden muß als den Ideen Gottes und der Unsterblichkeit vorausgehend und sie hervorbringend. Somit gibt es einerseits die Tatsache der Freiheit, deren Evidenz durch die Existenz der Sittlichkeit bezeugt wird, und andererseits die theologischen Ideen, die nur als Überzeugungen des moralischen, in seiner Grundlage freien Bewußtseins verstanden werden können. Nur die praktische Vernunft gibt nach Kant „den Ideen von Gott und Unsterblichkeit vermittelst des Begriffs der Freiheit objektive Realität und Befugniß, ja subjective Nothwendigkeit (Bedürfniß der reinen Vernunft) sie anzunehmen"/»9 Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß sogleich darauf hingewiesen werden, daß der Terminus „objektive Realität" von Kant nicht als Bezeichnung für die von der Erkenntnis unabhängige Wirklichkeit, sondern als Bestimmung der Ideen der Vernunft (und der Erkenntnisformen überhaupt), die auf deren notwendige Allgemeingültigkeit hinweist, verwendet wird. Die Gottesidee und die Idee der Unsterblichkeit, die nach Kant nicht aus dem Material des Wissens ableitbar sind und gewissermaßen sekundäre Postulate der praktischen Vernunft bilden, können nur aus deren subjektivem Bedürfnis erklärt werden, und zwar als Resultat ihrer auf die Verwirklichung des Moralgesetzes gerichteten Freiheit. Diese Ideen sind folglich kein Produkt der Willkür. Der Mensch erschafft die Gottesidee und die Idee der Unsterblichkeit nicht nach Gutdünken, sondern in Übereinstimmung mit seinen durchaus nicht willkürlichen Bedürfnissen. Diesen Gedanken formuliert Feuerbach später mit aller Bestimmtheit: Der seine Hilflosigkeit gegenüber der äußeren Welt erkennende und (in seinem verzweifelten Kampf mit den Naturgewalten) eine, wenn auch nur illusorische Stütze suchende Mensch schafft die Idee des Allmächtigen. Feuerbach war Atheist. Aber Kant verharrte auf den religiösen Positionen „in den Grenzen der reinen Vernunft". In seiner Religionsphilosophie behauptet er, „daß die Lehre vom Dasein Gottes zum doctrinalen Glauben gehöre".50 Diese Art des Glaubens ist immer beschränkt, weil sie der Kritik der reinen Vernunft, d. h. der Selbstkritik der Vernunft, widerspricht, derzufolge es unzulässig ist, „das Feld • Moral (bei Kant) Skeptizismus 14, 23/24, 2 6 - 2 8 , 58/59, 78, 107, 109, 121, 165 Sollen 128, 155, 192, 202, 241 Spiritualismus 32 Staat 169/170, 182, 184/185, 187/188, 191/ 192 — und bürgerliche Gesellschaft bei Hegel 213 Subjekt 120, 123, 129, 131, 134, 140-142, 145/146, 148, 151, 155, 169, 201, 221 —, absolutes (und empirisches) 134, 136 bis 137, 139-141, 143/144, 146, 150, 1 5 3 156 Subjekt und Objekt 120, 141-144, 146, 148, 150-152, 156, 170, 179, 200, 202, 219/220 Subjektivismus 12, 41, 57/58, 145, 156/157, 200, 228, 244, 246 Subjektivität 58, 119, 165, 169, 186, 188, 216 - , freie (bei Hegel) 184 — Prinzip der S. (Genialität) 56 —, wissenschaftliche 56 Substanz 60, 108, 140/141, 153 — bei Hegel 134, 159,161, 163, 167-169, 201 — bei Spinoza 134, 147, 168 System 17, 26/27, 30, 54, 73-77, 105, 107, 109/110, 116, 126, 129, 133, 137, 139, 145, 155, 166-168, 170/171, 175/176, 183/184, 190,192 —, philosophisches 12, 14/15, 21, 26—30, 39, 45/46, 48, 51-54, 56, 5 8 - 6 3 , 6 5 - 7 0 , 72-74, 108, 154, 175 - , Systembegriff 71, 73, 76 — und Methode 192 Szientismus 59, 94 Tätigkeit 31, 43, 69, 135-138, 140-146, 148-151, 153, 159, 161, 170, 172/173, 184, 196/197, 201, 203, 205-208, 210/211, 243/244, 247 —, absolute 143

Tätigkeit, bewußte 135, 204 menschliche bei Fichte 149/150, 163 praktische 36, 40, 143, 170, 197, 200, 204-206, 210/211, 214, 216, 225 sinnliche 154, 203, 205 —, theoretische 40, 143 Technik 97, 244/245 Technologie 245 Teil und Ganzes 12, 120 Teleologie 166, 240 Theismus 108, 161 Theologie 89, 93, 103, 107/108,121, 128 bis 129, 161/162 Theorie 22, 154, 181, 190, 198 ->- Praxis und Theorie 198-200 These, Antithese, Synthese 12, 24, 105, 145, 147-150, 154/155, 157, 174/175 Transzendentes 55, 123 Unendlichkeit 246 Ursache und Wirkung 88, 93, 114, 153, 223 Kausalität Urteile 24, 103/104,106,114,152,164, 223 —, analytische 114/115 —, synthetische 114/115 Utopismus 241 Veränderung 32, 135, 154, 163, 198, 211, 227-229, 237, 242/243 — und Bewegung 32, 142, 178 Bewegung, Entwicklung 193, 203 Vergegenständlichung 211 Vernunft 58, 90, 103-106, 109, 112, 121 bis 123, 126, 130, 135, 158-162, 164-170, 172, 174-179, 183, 197, 202, 213, 235 - , absolute 161/162, 169, 174, 176/177, 184,191 —, Historizität der V. 173—175 —, Negativität der V. 165/166 —, Ontologisierung der V. 172, 235 —, philosophische 67 - , praktische 108, 128-130, 143, 145, 172, 197 - , reine 69, 104, 110, 123-126, 129/130, 133, 171/172, 174, 175 - , theoretische 60, 108, 128, 145, 197 - und Wille bei Hegel 203/204

Vernunftidee bei Kant 109 Verstand 104, 106, 109, 113, 123/124, 127, 129, 133, 160, 164-166 —, gesunder Menschenverstand 85—97, 103, 180 Wahrheit 12, 24, 28, 31, 58, 60, 78, 83, 85, 104/105, 109, 112, 135, 143, 152, 159, 169, 171, 177, 182/183, 199/200, 212, 221 - , absolute 79, 121, 201, 212, 229/230 —, als Erkenntnisprozeß des Wissens 70 —, intuitive 105 - , objektive 55-57, 77, 79, 199, 201, 216 —, philosophische 26, 28, 53, 64, 69, 230 - , relative 79, 227, 239 - und Irrtum 24, 26, 74, 172, 174 -»• Irrtum Wahrnehmung 104, 106, 108, 112-114, 119, 131, 139, 153, 171, 202, 204, 226 —, sinnliche Widerspiegelung 91 Wahrscheinlichkeit 228 Wechselwirkung 113, 153, 223, 228 Weltanschauung 16, 106, 136, 149, 177 - , bürgerliche 30, 210, 238 (Philosophie, gesunder Menschenverstand) —, dialektisch-materialistische ( -»• Marxismus) 16/17, 36, 158, 214, 225 —, wissenschaftlich-philosophische 17, 33, 36/37, 39-41, 65, 110, 214, 247 Weltauffassung, dialektisch-materialistische 162

- , materialistische 12, 81, 91/92, 164 —, rationalistische 106 —, voluntaristische 149 Werden 32, 142, 163 -*• Entwicklung Wesen 118, 140, 150, 159/160, 166, 169/170, 173, 184, 186, 223, 228 — und Erscheinung 88, 132 Widerspiegelung 33, 74, 77, 81, 83/84, 93, 96, 156, 164, 200, 219-221, 223/224, 229, 231, 241 - und Bewußtsein 34, 83, 221, 226 — und Forschung 225 Widerspiegelungstheorie 222 —, dialektisch-materialistische 12 -»- Gnoseologie, Wissen

255

Widerspruch 70, 72, 81, 83/84, 93, 115, 125, 127, 131, 147/148, 151/152, 155-157, 165/166, 168, 174, 179, 182, 190, 193 bis 194, 210, 223, 228/229, 237/238, 246 —, dialektischer 86,156 Wille 104, 129/130, 149/150, 171, 184, 186, 203-205, 244 —, absoluter 137 - , freier 108, 128, 188 Wirklichkeit 29, 53, 77, 83, 87, 107/108, 113, 118, 127, 130/131, 150/151, 155, 159, 161, 170/171, 174/175, 178/179, 182, 184, 191, 199, 220, 224/225, 228, 238, 241 Realität Wissen 26, 28, 31, 68, 72-74, 76-79, 88, 103, 105-107, 113-115, 119, 121/122, 124, 130/131, 133, 141, 155, 159, 172/173, 198, 200, 205, 210, 219/220, 223-227, 229-231 —, absolutes und relatives 30, 110, 121, 155, 170, 176/177, 213, 230, 234 - , apriorisches 111-114, 121/122

256

—, philosophisches 17, 21, 25, 27—31, 38, 42/43, 46/47, 52, 61, 69/70, 72/73, 109 Wissen, reines 113/114 —, wissenschaftliches 15, 37, 47—49, 57, 64, 80, 110, 112, 134, 197, 224 — Erkenntnis, Wahrheit Wissenschaft 10, 15/16, 21-23, 31, 78, 86, 90, 94, 97/98, 103, 107-110, 120, 123, 134, 153, 155, 177, 200, 224/225, 227, 231/232, 245 - , Geschichte der W. 9-11, 21, 29, 32, 37, 48-50, 68, 86, 87, 225, 232, 247 Wissenschaftlichkeit 59 Parteilichkeit, Objektivität, Subjektivität Wissenschaftslehre Fichtes 142-145, 148, 152, 154/155, 197 Wissenschaftlich-technischer Fortschritt 99 Ziel und Mittel 207 Zufälligkeit 22, 133, 136, 228 Notwendigkeit und Zufall

Personenregister

Abbagnano, Nicola 59 d'Alembert, Jean Baptiste le Rond 72 Alquié, Ferdinand 50 Aristoteles von Stageira 21-23, 48, 177, 218 Asmus, Valentin Ferdinandovic 128, 149

109, 141,

Bachelard, Gaston 83, 90 Bacon, Francis 14, 85, 196, 240 Bayle, Pierre 121 Berdjaev, Nicolai Alexandrovic 98 Bergson, Henri 16, 57 Berkeley, George 14, 39, 85, 92, 94, 119, 140 Breshnew, Leonid Iljitsch 16 Braun, Lucien 23 Brunner, Fernand 45/46, 52, 54, 61/62 Büchner, Ludwig 117 Buhr, Manfred 134 Byron, Lord George Gordon 22 Calvez, Jean-Yves 66 Collins, John Anthony 182 Comte, Auguste 57 Condillac, Etienne Bonnot 26 Darwin, Charles Robert 9, 57 Demokrit von Abdera 85, 109 Descartes, René 13/14, 30, 39, 45, 48, 57, 69, 103/104, 107, 109, 115, 119, 133, 143, 171, 196, 240 D'Hondt, Jacques 181, 236 Diderot, Denis 39, 133, 212 Dilthey, Wilhelm 60/61 Diogenes Laertius 24 17 Oùeiman

Egorov, Anatoli Grigor'evic 245 Einstein, Albert 10, 56/57, 86 Eisler, Rudolf 124 Engels, Friedrich 7, 9-11,13, 16, 23, 25, 28, 30, 34/35, 39, 65/66, 71-74, 76, 78/79, 81, 83, 86, 98, 107, 115/116, 120, 141, 151, 162, 168/169, 172, 178/179, 182, 186, 196, 200, 206, 215, 228/229, 233, 239, 241, 243 Euklid von Megara 87 Fedosseev, Pëtr Nikolaevic 36, 241 Feuerbach, Ludwig 22, 30, 117, 130, 151, 211 233 Fichte, Johann Gottlieb 44/45, 69, 134-157, 197, 240 Foulquié, Paul 124 Frank, Philipp 93 Friedrich II. 191 Friedrich Wilhelm IV. 190 Fuller, Benjamin Apthorp-Gould 124 Galilei, Galileo 231 Van Ghert 180 Goldschmidt, Viktor 45 Goethe, Johann Wolfgang von 84, 236 Gouhier, Henri 45, 48, 56—58 Guéroult, Martial 45, 48, 49-55, 60/61, 63 Gustav Adolf, König von Schweden 191 Hartmann, Nicolai 78 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 14, 22, 27-31, 38/39, 45-47, 50, 59, 69-71, 73/74, 77, 85, 87, 93, 117, 121, 134, 138, 141, 147, 150, 154, 157-195, 197-224, 226-230, 232, 235-244 Heidegger, Martin 59, 95/96,158

257

Heine, Heinrich 71, 240 Heisenberg, Werner 10 Helvetius, Claude Adrien 109, 212 Heraklit von Ephesus 180, 233 Herzen, Alexandr Ivanovic 236 Hobbes, Thomas 14, 30 Holbach, Paul Heinrich Dietrich von 35, 91, 109, 183, 212 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 147 Homer 21 Hume, David 14, 117 Husserl, Edmund 54, 95 Hyppolite, Jean 66, 234/235 Q'enkov, Evald Vasil'evic 215 Il'iiev, Leonid Fedorovic 221 Ilting, Karl-Heinz 182 Jacobi, Friedrich Heinrich 116/117, 141 James, William 56 Kant, Immanuel 9, 15, 50/51, 60, 69, 75, 77, 103-134, 136,138/139,142,144/145,151 bis 155, 157, 163, 172, 174, 179, 183, 197, 205, 218, 222/223, 240 Kautsky, Karl 65/66 Kedrov, Bonifatij Michailovic 217 Kierkegaard, Sören Aabye 76, 95 Kissel, Michail Antonovic 225 Kolmogorov, Andrej Nikolaevii 86 Konstantinov, Fedor Vasil'evif 76 Kopernikus, Nikolaus 86 Lavoisier, Antoine Laurent 72 Leibniz, Gottfried Wilhelm 14, 22, 39, 45, 54, 104, 107, 109, 112, 115, 140, 242 Lenin, Wladimir Iljitsch 10/11, 13, 15, 29, 39, 58, 62, 65, 7 4 - 7 6 , 79, 85, 92, 116/117, 120, 124, 154/155, 158, 164, 168, 175, 177, 191, 193,196,199,201,206/207,215-219,222 bis 232, 235, 243, 246 Lobacevskij, Nikolai Ivanovic 86 Locke, John 14, 39 Lombardi, Franco 46 Löwith, Karl 235 Ludwig X I V . 183

258

Maimon, Salomon 45 Maire, Gilbert 48 Malebranche, Nicolas de 3 Malinin, Viktor Arsenevic 176 Marcel, Gabriel 76 Marcuse, Herbert 66 Maritain, Jacques 98 Martin, Gaston 46, 127 Marx, Karl 11,16, 27,32, 34/35, 40/41,46,62, 6 5 - 6 8 , 75/76, 82-84, 107, 115-117, 134, 141, 147, 150/151, 158, 161, 164, 172/173, 175, 181, 184/185, 191, 194, 196, 201, 206, 208-211, 213-215, 230, 232-238, 241-246 Melvil, Jurij Konstantinovic 92 Mercier, André 44 Metzke, Erwin 235 Mitin, Mark Borisovic 179 Montaigne, Michel de 121 Newton, Isaac 49 Niethammer, Friedrich Immanuel 189 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 76 Parmenides von Elea 23 Peirce, Charles Sanders 92 Phidias 52 Popper, Karl Raimund 92, 177 Platon 2 1 - 2 3 , 46, 54, 109, 177, 188, 201/202, 222 Protagoras von Abdera 23 Raffael 52 Reid, Thomas 91 Reinhold, Christian Ernst 144 Ricardo, David 117 Ricoeur, Paul 45, 55/56, 58/59, 176 Rombach, Heinrich 49 Rousseau, Jean Jacques 133, 138, 183, 188, 212, 239 Runes, Dagobert David 124 Santayana, George 242 Sartre, Jean-Paul 95 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph69,156 bis 157, 163 Schérer, Edtnond 62 Schmidt, Conrad 66

Schopenhauer, Arthur 56, 242 Sestov, Lev (Lcv Isakovic Schwarzman) 127 Shakespeare, William 22 Sinkaruk, Vladimir Illarionovic 131 Sokrates 23, 233 Spinoza, Benedictus 13/14, 56/57, 69, 104 bis 105, 109, 115, 129, 133, 147, 161, 167/168, 236 Thaïes von Milet 85 Thomas von Aquino 89/90, 159 Thukydides 22 Tiedemann, Dietrich 85

17»

Timirjazev, Klement Arkad'evic 10 Tolstoi, Lev Nikolaevic 22 Tschaikowski, Peter 52 Vernadskij, Vladimir Ivanovic 10 Voltaire, François Marie 212, 242 Waelhens, Alphonse de 47 Wagner de Reyna, Albert 54 Windelband, Wilhelm 243 Wittgenstein, Ludwig 94 Zenon von Elea 229