Pioniere, Schulen, Pluralismus: Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft [Reprint 2011 ed.] 9783110935646, 9783484107540

With reference to selected examples, the volume highlights various aspects of literary studies since the Age of Humanism

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German Pages 416 [420] Year 1997

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Pioniere, Schulen, Pluralismus: Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft [Reprint 2011 ed.]
 9783110935646, 9783484107540

Table of contents :
Humanistische Pioniere
„Studia toto amplectenda pectore“. Peter Luders Heidelberger. Programmrede vom Jahre 1456
Humanistische Bildungswerbung, schwäbisch. Zu Heinrich Bebels. Comoedia vom Jahre 1501
Nicodemus Frischlins ‘satirische Freiheit’
Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach
Klassiker-Bilder
Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing
Lessing 1929. Momentaufnahme eines Klassikers vor dem Ende einer Republik
Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933
Wissenschaftsepochen
Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel ‘Barock’
Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte
„Literaturwissenschaft“ im Max Niemeyer Verlag
Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu
Methodenreflexion
Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung
Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung
Das Besondere des Allgemeinen. Zur Lage der Allgemeinen Literaturwissenschaft aus der Sicht eines ‘Neugermanisten’
Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur
Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie
Das 18. Jahrhundert als Erprobungsfeld neuer Forschungsansätze
Literaturwissenschaft – eine Geschichtswissenschaft?
Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion
Nachwort

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Wilfried Barner · Pioniere, Schulen, Pluralismus

Wilfried Barner

Pioniere, Schulen, Pluralismus Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Barner, Wilfried: Pioniere, Schulen, Pluralismus : Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft / Wilfried Barner. - Tübingen : Niemeyer, 1997 ISBN 3-484-10754-5 © Max Niemeyer Verlag G m b H & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhalt

Humanistische Pioniere „Studia toto amplectenda pectore". Peter Luders Heidelberger Programmrede vom Jahre 1456 Humanistische Bildungswerbung, schwäbisch. Zu Heinrich Bebels Comoedia vom Jahre 1501 Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit' Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach Klassiker-Bilder Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing Lessing 1929. Momentaufnahme eines Klassikers vor dem Ende einer Republik Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 Wissenschaftsepochen Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel 'Barock' Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte „Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu . . . . Methodenreflexion Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung Das Besondere des Allgemeinen. Zur Lage der Allgemeinen Literaturwissenschaft aus der Sicht eines 'Neugermanisten' Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie

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Inhalt Das 18. Jahrhundert als Erprobungsfeld neuer Forschungsansätze Literaturwissenschaft - eine Geschichtswissenschaft? Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion

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Nachwort

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HUMANISTISCHE PIONIERE

„Studia to to amplectenda pectore". Peter Luders Heidelberger Programmrede vom Jahre 1456 *

Von eher sprödem Reiz sind immer noch, trotz unseres Zuwachses an Einzelkenntnis und Epochendeutung während der letzten Jahrzehnte, die PionierGestalten und die charakteristischen Texte aus der Frühzeit des Humanismus in Deutschland. 1 Couragiert und verdienstvoll, aber zersplittert und mäßig originell, überdies rhetorisch ein wenig dick auftragend: Dieser Eindruck, bald einem einzelnen, bald einer Gruppe geltend, dominiert bei aller Sympathie, ja Verehrung - seit in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts diese Periode als genuine Stufe der deutschen Bildungs-, Wissenschafts- und Literaturgeschichte wiederentdeckt wurde. 2 Setzt man einstweilen die schon ein wenig obsolet gewordene Streitfrage beiseite, inwieweit die böhmischen Neuerungen um die Wende zum 15. Jahrhundert als der eigentliche Beginn des deutschen Humanismus gelten dürfen, 3 so scheinen die weiter westlich angesiedelten Manifestationen um die Mitte des Jahrhunderts heterogen genug. Und oft kurzlebig und regional eng begrenzt. Unter den Mächtigen der Zeit ist die Zahl der die studia protegierenden Landesfürsten, bei Lichte besehen, vorerst recht bescheiden: Mechthild von Rottenburg (Erzherzogin von Osterreich, geborene Pfalzgräfin bei Rhein), ihre Freundin Eleonore von Osterreich (Gattin Herzog Sigismunds, des Freundes von Enea Silvio), Friedrich von der Pfalz (Kurfürst, Pfalz*

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Zuerst erschienen in: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissanceund Barockforschung. Festschr. f. Paul Raabe. Hrsg. v. August Buck u. Martin Bircher (Chloe. Beihefte zum Daphnis). Amsterdam 1987, S. 2 2 7 - 2 5 1 . Ein Überblick über die gegenwärtigen Einschätzungen durch die Forschung kann und soll hier nicht gegeben werden. Anregend immer noch Otto Herding: Probleme des frühen Humanismus in Deutschland, in: Archiv für Kulturgeschichte 38 (1956) S. 344—389. Knappe, nützliche Zusammenfassung mit umfangreichen Literaturangaben bei Eckhard Bernstein: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus. Stuttgart 1978. Zur Institutionengeschichte, besonders im Hinblick auf Gelehrtenstand und Poetik Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 1 5 - 1 1 4 . Für Jahrzehnte prägende, noch heute in Teilen nützliche erste Zusammenfassung: Georg Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus. 2 Bde. Berlin 3 1 8 9 3 ( ' 1 8 5 9 ) . Die Kontroversen um das zentrale Paradigma Ackermann bis in die jüngste Zeit stellt dar Gerhard Hahn: Der Ackermann aus Böhmen des Johannes von Tepl. Darmstadt 1984.

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Humanistische Pioniere graf bei Rhein) sind schon die wichtigsten. 4 Beziehungen zur burgundischen und zur Wiener Tradition sind ebenso bezeichnend wie 'Zufälle' der Verwandtschaft und der Freundschaft. An Universitäten gelingen, unter landesherrlichem Schutz, humanistische 'Durchbräche' nur hier und da, wie in Heidelberg, Freiburg, Erfurt, Basel, Wien, und auch dort - wie in Krakau - oft nur mit erheblichen Rückschlägen. Die Perspektive des Humanismus-Historikers bedarf immer wieder, besonders für diese Frühphase, der Erinnerung an das oft Episodische oder zunächst Marginale.5 Humanistengestalten, die eher für Kontinuität und breitere Wirkung zu stehen scheinen, wie Albrecht von Eyb, Niclas von Wyle oder Heinrich Steinhöwel, konzentrieren ihre Tätigkeit gerade nicht auf die Universitäten, sondern suchen charakteristischerweise ihren Rückhalt eher direkt an einem Hof oder in städtischen Diensten. Ihr Name jedoch ist in der Rückschau zuallererst verbunden mit: Ubersetzungen. Und dies führt aus dem engeren, dem streng der lingua eruditorum verpflichteten Bezirk ostentativ hinaus. Wie immer dieses (erweiterungs- und detaillierungsbedürftige) Erscheinungsbild des Frühhumanismus 6 geschichtlich zu begründen sein mag: Gemessen an der nächsten und vor allem der übernächsten Generation, die als Hochhumanismus zu bezeichnen sich eingeführt hat, drängen sich schon in den Augen der Wiederentdecker und Neubewerter aus dem 19. Jahrhundert die Defizite auf. Es fehlen die großen, faszinierenden Gestalten vom Range eines Reuchlin, Brant, Celtis, Erasmus oder Hutten. Es fehlt ein strahlender Patron wie Maximilian, um den sich nicht nur idealiter - und eifrig miteinander konkurrierend - die verschiedenartigsten Temperamente auch nationalbewußt sammeln konnten. Und es fehlen, in der neu errungenen latinitas, präsentierbare und exemplarisch orientierunggebende Werke nach Art des Henno Reuchlins, des (von Locher ins Lateinische übertragenen) Narrenschiffi

von Brant, der

Amores von Celtis oder der Facetiae Bebels. So betrachtet, scheint um die Jahrhundertmitte der universitäre Humanismus, wo überhaupt er sich regt, noch ganz im Zeichen des Sichvortastens, des Anspruchs, der Gesinnung. Wenn ein Moment der Frühe, des heroischen Beginns als Attraktion in Frage kommt, so

Eine umfassende neuere Untersuchung - neben manchen Einzelstudien — fehlt bisher zu diesem Gebiet, im Gegensatz etwa zu den italienischen Höfen. Hierzu Notker Hammerstein: Humanismus und Universitäten, in: Die Rezeption der Antike. Zum Problem der Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance. Hrsg. v. August Buck. Hamburg 1981, S. 2 3 - 3 9 . Die wichtigsten geschichtlichen Bereiche und die Hauptpositionen der Forschung bei Bernstein (wie Anm. 1). Ausführliche Darstellung der offiziösen DDR-Position bei Winfried Trillitzsch: Der deutsche Renaissance-Humanismus. Leipzig 1981, S. 7—110.

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,.Studia toto amplectendapectore" ist er gleich einer doppelten Relativierung ausgesetzt. Was sich mit effektvoller Rhetorik als das ganz Neue und Notwendige artikuliert, ist zunächst entschiedener Rekurs auf Altes, auf Vernachlässigtes oder Vergessenes. U n d was der Institution - nicht zu vergessen: auch dem Landesfürsten und seinen Ratgebern — als das moralisch Anzustrebende, ja gesellschaftlich 'Nützliche' angepriesen wird, ist jedenfalls vorderhand etwas nicht in der autochthonen Überlieferung Verankertes. Es ist Import aus dem Süden, mit all dem möglicherweise modisch Attraktiven, das darin liegt, aber auch der Fremdheit, die erst überwunden sein will. Für Petrarca ist der Dialog mit Cicero immediat, für den deutschen Humanisten der Frühzeit führt allenfalls ein mühevoller Weg dorthin. 7 Das Bewußtsein, vor einer traditionalen Sondersituation zu stehen, 8 gehört bekanntlich zu den variierten Konstanten des deutschen Humanismus in seinen verschiedenen Stufen und Ausprägungen, bis hin zum Postulat einer besonderen Mission. Die rhetorische Mobilisierung einer zwingenden Analogie von translatio imperii und translatio artium, wie sie sich etwa in Celtis' Ingolstädter Oratio von 1 4 9 2 manifestiert, 9 ist gewissermaßen das ins Triumphalistische gewendete Defizitbewußtsein. Enea Silvios vielzitierter Lehrbrief an Herzog Sigismund von Österreich vom 5. Dezember 1 4 4 3 1 0 bezeichnet aus der Sicht eines nach „Germania" blickenden italienischen Humanisten die komplementäre Ausgangsposition. Für jene Typen deutscher Frühhumanisten, von denen eingangs die Rede war, dominieren im Vergleich mit der avancierten Position eines Celtis das Willentliche und das Behauptende eindeutig. Rudolf Agricola vermag auch im Ursprungsland der renatae litterae selbst nicht davon zu abstrahieren, als er zu Beginn des Wintersemesters 1 4 7 6 in Ferrara vor dem Herzog Ercole d'Este das Lob der „philosophia" und der übrigen „artes" singt. 11 Im Verständnis und in der Bewertung der frühhumanistischen 'Pioniere' haben sich diese M o m e n t e des Abgeleiteten, Übernommenen und des Fordern-

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Zu Kontrasten solcher Art insgesamt lehrreich Heinz Otto Burger: Renaissance, Humanismus, Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg v.d.H./Berlin/Zürich 1969; auch Hans Rupprich: Vom späten Mittelalter bis zum Barock. Erster Teil: Das ausgehende Mittelalter, Humanismus und Renaissance 1 3 7 0 - 1 5 2 0 . München 1970 (de Boor/Newald: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. I V 1), S. 425—460. Hierzu Verf.: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. v. Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1986 (Poetik und Hermeneutik. XII), S. 3 - 5 1 (u. a. zu Conrad Celtis). Wie vorige Anm. Der Briefwechsel des Eneas Silvius Piccolomini. Hrsg. v. Rudolf Wolkan. 1. Abtlg. Bd. 1. Wien 1909, S. 2 2 2 - 2 3 6 . Abgedruckt in: Humanismus und Renaissance in den deutschen Städten und an den Universitäten. Hrsg. v. Hans Rupprich. Leipzig 1935, S. 164—183.

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Humanistische Pioniere den, noch Uneingelösten wiederholt als Hindernisse erwiesen. Als Wilhelm Wattenbach in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, also noch während seiner Heidelberger Zeit, den frühen 'Wanderhumanisten' Peter Luder aufgrund glücklicher Dokumentenfunde dem Vergessensein erst eigentlich wieder entriß, 12 war er bezeichnenderweise an der Rekonstruktion der Biographie deutlich mehr interessiert als an der Interpretation seines scheinbar unoriginellen Programms oder gar an der sprachlichen Prägung seiner Texte. 13 Nicht zuletzt aber blieb ihm sein ironisch so titulierter „Held" in Distanz als moralische Persönlichkeit. Sie dünkte ihm, aufgrund zahlreicher bezeugter Affären - besonders auch erotischer Art - , als suspekt. 14 Uber Jahrzehnte hin ist Luder den Geruch des verkommenen Bettelhumanisten, ja des Libertinisten kaum losgeworden. Bei Georg Voigt 15 figurierte er als „ein verlumpter und verlotterter Strolch", der „mit der Anmaassung auftrat, die Musen in Deutschland einzuführen und das Barbarenlatein seiner Collegen zu reinigen". Für Friedrich Paulsen 16 repräsentierte er mit seiner „Aufschneiderei", seiner „renommistischen Anpreisung der neuen Bildung" und anderen Zügen „den Standescharakter einer ganzen Gruppe fahrender Humanisten". Frank E. Barons verdienstvolle Monographie über Peter Luder 17 hat schließlich, jenseits solcher Prädizierungen, viele Einzelheiten des Lebenswegs aufgehellt und ist insbesondere auch den Abhängigkeiten vom italienischen Humanismus nachgegangen, allen voran dem Einfluß von Luders Lehrer Guarino von Verona. 18 Dieses Muster, und in ihm mancherlei andere humanistische Tradition, ist in Luders Heidelberger Programmrede von 1456 - die er in den folgenden Jahren an anderen Universitäten wiederholte — überall zu greifen. 19 Also doch auch hier nur das Importierte, das Unoriginelle, das Willentliche, das Fordernde?

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Wilhelm Wattenbach: Peter Luder, der erste humanistische Lehrer in Heidelberg, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 22 (1869), S. 3 3 - 1 2 7 (auch als Einzeldruck Karlsruhe 1869). Die Profession des 'Historikers' allein ist hier offenkundig nicht ausschlaggebend. So vor allem im Anschluß an den Briefwechsel Luders mit Mathias von Kemnat (und den dort berichteten Liebesabenteuern). Voigt (wie Anm. 2) Bd. 2, S. 2 9 4 - 3 0 1 . Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten. Bd. 1. Leipzig 1896, S. 76f. Frank E. Baron: T h e Beginnings o f German Humanism: The Life and Work o f the Wandering Humanist Peter Luder. Ph.D. Diss. Berkeley 1966 (Ann Arbor, Michigan 1966). Hierzu umfassend Renate Schweyen: Guarino Veronese. Philosophie und humanistische Pädagogik. München 1973. Beispiele ebd., S. 5 5 - 5 9 (mit Anmerkungen S. 1 8 5 f ); vgl. auch S. 1 6 - 2 9 .

,Studia toto

amplectendapectore"

Dreierlei ist vonnöten, um das Charakteristische, eventuell Symptomatische dieser frühen Rede in den Blick zu bekommen. Was sich historisch-biographisch an Anlaß-Kontexten erschließen läßt, muß im Sinne der rhetorischen Kategorie der circumstantia als Konstellation begriffen und interpretiert werden. Uber den Nachweis bestimmter Zitate und Quellenmomente hinaus muß es darum gehen, die spezifische Weise der produktiven Traditionsverarbeitung zu bestimmen. Schließlich eignet dieser Rede, gerade als einer Manifestation des 'Imports' und des 'Programms', ein besonderer Wirklichkeitscharakter, der zwar nicht im strikten Verstände Fiktionalität bedeutet, aber auf einer Imaginativität beruht, die erst zu erfassen ist.20 Im Sommer des Jahres 1456 hängt am Schwarzen Brett der Heidelberger Universität ein Anschlag aus, der eine Novität ankündigt und rasch einige Aufmerksamkeit erregt haben dürfte. In drei ausladenden, mit neuartig kunstvollen Partizipial- und Gerundivkonstruktionen operierenden Perioden wird eine „lectio publica" angekündigt. 21 Der ruhmreiche Landesherr Friedrich, Pfalzgraf bei Rhein und Reichsverweser des Römischen Reiches, habe, dem klugen Votum seines Hofrats folgend, beschlossen, die lateinische Sprache, die schon fast zur „barbaries" herabgesunken sei, an seiner Hochschule wiederherzustellen. Und er habe angeordnet, die „studia humanitatis, id est poetarum, oratorum ac hystoriographorum libros" öffentlich zu lesen. Dessenthalben werde also ein Peter Luder, besoldet durch den ruhmreichen Fürsten höchstselbst, zu noch näher anzugebenden Zeiten über Horazens Epistulae und über die Historiae des Valerius Maximus öffentlich lesen. Wer immer folglich sich durch Verbesserung seines „latinum eloquium" respektabler zu machen beabsichtigte, möge sich die „libros studiorum humanitatis" zu eigen machen, der diesbezüglichen „doctrina" sein dürstendes Ohr leihen und jene „studia" zu hören nicht verschmähen. Die gezielte Rückversicherung beim Landesfürsten, über das bloß Pflichtschuldige hinaus, ist ebenso offenkundig wie das sorgsam indirekte Vorbringen der „barbaries"-Kritik, und nicht zuletzt die provokante Sicherheit, mit der zweimal die wahre Latinität („latina lingua", „latinum eloquium") auf die „studia humanitatis" gegründet wird. Und dies wiederum mit der Selbstverständlichkeit des „id est": auf die antiken Klassiker. Das Aktuell-Wichtige und das Akademisch-Lebenspraktische werden unüberhörbar in dem Hinweis auf die 'neueste Bildungspolitik' des Dienstherrn22 und auf die Möglichkeit, sich durch humanistische Studien „clariorem efficere".

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Dazu unten besonders unter dem Stichwort evidentia. Abdruck bei Wattenbach (wie Anm. 12), S. 99f. Vgl. Gerhard Ritter: Die Heidelberger Universität. Bd. 1. Heidelberg 1936, S. 3 7 3 - 3 9 0 .

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Humanistische Pioniere Schon herumgesprochen haben dürfte sich, daß dieser Peter Luder aus Kislau im fränkischen Kraichgau - also nicht weither - ein Heidelberger Alumnus gewesen ist und nun, nach immerhin zwanzig Jahren akademischen Wanderdaseins in Italien, die Heimat wiedergesucht hat. Er würde, jedenfalls nach eigenem Anspruch, das 'Neueste' aus dem Mutterland der humanistischen Studien präsentieren — eine charakteristische Grundsituation der Wissenschaftsgeschichte mit Verhaltensmustern, die auch der Gegenwart nicht ganz unvertraut sind. Man denke an so manchen Linguisten, der in den 60er Jahren mit sogenannten grauen papers - eifrig daraus zitierend - aus den Vereinigten Staaten zurückkam und somit über brandneues Autoritätswissen zu verfügen beanspruchte. Uber die sittliche Persönlichkeit des etwa Vierzigjährigen 23 wie auch über das etwas vernachlässigte Äußere des weit Herumgekommenen scheint nicht das Günstigste zu berichten zu sein (und dies wird sich noch manchesmal bestätigen). 24 Die Auseinandersetzungen um via antiqua und via moderna haben auch die Heidelberger universitas gerade schon zur Genüge in Unruhe versetzt. 25 Der 'Neue' wird als Außenseiter die Situation womöglich noch komplizieren. Daß mancher in der Artistenfakultät ob der von außen kommenden Erweiterung des Lehrspektrums nicht gerade erbaut sein dürfte, liegt auf der Hand. Schon in Luders ausgehängtem Kurzprogramm 26 steckt kaum verhüllt der Vorwurf, daß es auf dem zentralen Gebiet der Latinität bei den Heidelbergern nicht zum besten stehe. Die Antrittsrede, die Luder nach Humanistenart halten wird, könnte dieses Tendenziöse möglicherweise noch drastischer und detaillierter in die universitäre Öffentlichkeit tragen. Der generellen Protektion des Ankömmlings durch den Landesherrn, möglicherweise vermittelt durch Friedrichs humanistisch gesonnenen Kanzler Mathias Ramung, 27 ist einstweilen nicht beizukommen. Aber bei der oratio, einer akademischen Angelegenheit, läßt sich vielleicht einhaken. So beschließt die Artistenfakultät, den Text zur vorherigen Prüfung anzufordern. 28 Fakultäts-Kabale wie seit Jahrhunderten.

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Das Geburtsjahr ist lediglich erschließbar, ausgehend von der Immatrikulation an der Heidelberger Universität im Wintersemester 1430/31; angenommen wird 1415/16 (die Zeugnisse bei Baron, S. 8f. mit Anm.). Zeugnisse hierzu, zum Teil indirekt, in Luders Briefwechsel, besonders mit Mathias von Kemnat. Ritter (wie Anm. 21), S. 3 7 9 - 3 8 6 . Wattenbach (wie Anm. 12), S. 99f. Hierzu Baron (wie Anm. 17), S. 4 8 - 5 0 . Ramung hat in Italien studiert. Wattenbach (wie Anm. 12), S. 100.

,ιSttidia to to amplectenda

pectore"

Die nun schlaglichtartig in Erscheinung tretende Konstellation ist bemerkenswert. Luders Sache führt der einflußreiche Jurist und Universitäts-Syndicus Johannes Wildenhertz (Rektor im darauffolgenden Jahr), der selbst in Italien studiert hat und wohl spätestens seit jener Zeit den neuen studia nicht nur zugetan ist, sondern ihnen vermutlich in der eigenen Lehrpraxis schon Raum gegeben hat. 29 Er steht im Streit um via antiqua und via moderna deutlich auf der Seite der antiqua. Wildenhertz übermittelt der Artistenfakultät in einem förmlichen Schreiben unter dem Datum des 14. Juli 1456 Luders Weigerung, seine oratio einer Vorzensur zu unterwerfen. 30 Wildenhertz läßt im Zitieren der Begründung den Stachel gegen die Inkompetenz der Fakultät ostentativ spüren: „cumque vobis modica aut fere nulla sit noticia poetarum". 3 1 Der Verdächtigte wolle aber natürlich akzeptieren, daß im nachhinein „si quid vobis inconcinnum visum fuerit aut reprehendendum", durch bestellte Gutachter ein Urteil gefällt wird. Als Sieger werde er so oder so daraus hervorgehen. Im übrigen hege er (scilicet: im Gegensatz zu seinen Verdächtigern) gegen niemanden Mißgunst oder Neid. Er sei nur ein „amator arcium", wundere sich vielmehr, daß sie, die doch auf die „artes" vereidigt seien, diese eher zu unterdrücken als zu heben schienen - 'systemimmanente' Argumentation nach schon bewährter Humanistenart, wobei der Spieß der „artes" gerade gegen ihre bestallten Sachwalter gekehrt wird. Mit auffallender Deutlichkeit setzt Wildenhertz in der Ich-Form hinzu, er könne auch persönlich an dem Manne nichts bemerken, was eines Gelehrten unwürdig sei. Vielmehr habe er den Eindruck, daß die Beschwerdefuhrer durch bloß kaschierte Mißgunst und durch Neid 'zernagt' würden. Das solchermaßen erkennbar werdende Umfeld ist um so wichtiger, als Luder in der tags darauf (am 15. Juli 1456) „coram tota universitäre almi studii Heydelbergensis" gehaltenen Rede, zumindest dem überlieferten Wortlaut nach, 32 jegliche Bezugnahme auf den Prinzipienstreit und auf die persönlichen Anfeindungen sorgfältig vermeidet. Keine Erwähnung der Kontroverse um die viae. Kein expliziter Hinweis auf den korrupten Zustand der latinitas, wie er noch in der Ankündigung zu finden ist und fast zum humanistischen Standard-

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Die Einzelheiten sind unklar. Bei Ritter (wie Anm. 21), S. 518 ist er „der erste Heidelberger Humanist". Wattenbach (wie Anm. 12), S. 100. Ebd. Abgedruckt bei Wattenbach (wie Anm. 12), S. 1 0 0 - 1 1 0 (aus mehreren Handschriften zusammengestellt, mit einzelnen Varianten). Eine kritische Edition mit genauer Berücksichtigung der (eventuellen) Fassungen ist Desiderat. Auszüge nach Wattenbach, mit deutscher Übersetzung, in: Spätmittelalter, Humanismus, Reformation. Texte und Zeugnisse. Hrsg. v. Hedwig Heger. Erster Teilband: Spätmittelalter und Frühhumanismus. München 1975, S. 5 5 7 - 6 5 0 .

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Humanistische

Pioniere

repertoire gehört. Ein einziges Mal eine Attacke, die sich unmittelbar aktuell wenden läßt, anonym, aber deutlich und scharf: bei der prinzipiellen Verteidigung der Poesie gegen die „insectatores poetarum", mit dem an den Wildenhertz-Brief erinnernden Seitenhieb, daß diese von der Sache selbst im übrigen keinerlei Ahnung hätten. 33 Der Generalton der Rede ist ganz auf Anpreisung, Erläuterung, Aufruf, Werbung gestellt. Alle Vorverdächtigung, alle Aufregung soll durch die aktuelle Uberzeugungskraft der Oratio und des autoritativen Orators aufgefangen werden - ganz im Sinne des von Luder selbst zitierten Aeneis-Verses (1,153): „Ille regit dictis animos et pectora mulcet". 34 Luder ist offenkundig entschlossen, die ihm mit der öffentlichen Rede gegebene Chance zu nutzen. Den Landesherrn weiß er seinem Metier und seiner Person gewogen. Der einflußreiche Wildenhertz hat sich bereits aktiv eingesetzt. Der amtierende Rektor Rudolf von Brüssel, ein Theologe, ist anwesend - wohl nicht nur pflichtgemäß, sondern als Scholastiker mit einzelnen humanistischen Interessen35 zumindest auch wißbegierig. Gewiß wird mancher nur gekommen sein, um sich indigniert seine Vorurteile bestätigen zu lassen. Wieviel von der humanistischen Programmatik, von den antiken Zitaten und Anspielungen, von der ausgefeilten Synonymik und Periodik tatsächlich wahrgenommen, verstanden wird, kann nur Gegenstand der Spekulation sein. 36 Das universitäre Novum als solches, Attraktion und Provokation zugleich, ist unverkennbar. Daran ändert die Tatsache wenig, daß sich in der Substanz kaum 'Originelles' finden läßt. Luder folgt vor allem dem Muster seines hochgeehrten Lehrers Guarino von Verona, 37 den er während seines Studiums in Ferrara mehr als einmal bei ähnlichen Gelegenheiten erlebt hat. Frank E. Baron konnte an Beispielen zeigen, 38 daß sich Luder in Auffassungen und Formulierungen an verschiedenartige Reden, Vorlesungen, Schriften Guarinos anlehnt. Den Namen selbst erwähnt er an keiner Stelle der Rede; aber das gilt in gleicher Weise für die anderen großen Humanisten, die er selbstverständlich kennt. Das Privileg der Nennung und Zitierung beschränkt er strikt auf Bibel, heidnische Antike und Patristik.

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Wattenbach (wie Anm. 12), S. 106. Ebd., S. 105 (dort von Luder zitiert Aeneis 1, 148-153). Rudolfus de Bruxella (alias de Zeelandia). Vgl. die Bibliographie bei Ritter (wie Anm. 21), wo auch eine Schrift über einen Petrarca-Brief verzeichnet ist. Skeptisch Wattenbach (wie Anm. 12), S. 42. Positiver Baron (wie Anm. 17), S. 61. Wie Anm. 18. Baron (wie Anm. 17), S. 55-59 (mit Anmerkungen S. 185f.).

„Studia toto

amplectendapectore"

Für die Heidelberger circumstantia und fur die Frühphase des humanistischen 'Imports' scheint es darüber hinaus bezeichnend, daß Luder gerade ein Lieblingsfeld Guarinos konsequent ausklammert: die gräzistischen Studien. 39 Sie konnte er, und sei es bloß als Programmpunkt, nicht auch noch in die Reform der artes einbringen. Und vor allem hätte seine eigene Kompetenz dazu nicht ausgereicht. 40 Der ausgeprägt pädagogische Grundzug von Guarinos Lehre und namentlich seine entschiedene Verankerung der litterae in der virtus werden in Luders Rede hingegen durchgängig spürbar. Persönlichkeitsbild und doctrina Guarinos gehen, schon für die Zeitgenossen, überzeugend ineinander. Menschliche Zuwendung, Verträglichkeit, ja 'Mangel' an Streitsucht - verglichen etwa mit Poggio oder Filelfo, denen er freundschaftlich verbunden ist — begründen seine besondere Hochschätzung. Erinnert man sich des 'Vorspiels' zwischen Luder und der Heidelberger Artistenfakultät, oder auch des sonst in seinem Leben begegnenden rauhen Tons, 41 so mag man in der oratio selbst den mäßigenden Einfluß Guarinos am Werk sehen. Und wenn die auffällige Enthaltsamkeit gegenüber Polemik nur Taktik ist: Das personale Exempel kommt, so betrachtet, mit dem Ziel der persuasio überein. Der Weitherumgekommene hat, für diesen heiklen Anlaß, bei dem richtigen Lehrer gelernt; und er erweist sich als anpassungsfähig. Der Aufbau der Rede 42 ist schulmäßig klar, schulmäßig natürlich vor allem nach dem Muster Ciceros. Dem ganz knappen exordium, mit Apostrophe der Anwesenden, 43 folgt sogleich in der ersten Person Singularis, die narratio, die das Grundproblem der Rede in nuce enthält: Abriß seines Lebensund Bildungsganges von der Kindheit an, mit der Grammatik auf der Schule, der Syllogistik an der Heidelberger Universität, dann den Wander- und Lehrjahren in Italien (und Griechenland) bis zum Entschluß, sich „ad studia optimarum arcium" zu bekehren (das conversio-Motiv ist hier wie in vielen Humani-

Guarino war in Byzanz bei Manuel Chrysolaras gewesen; als einer der wenigen in Italien des Griechischen mündlich Fähigen dolmetschte er beispielsweise beim Florentiner Unionskonzil. Griechisch lehrte er freilich nur für wenige Interessierte unter seinen Schülern. Positive Zeugnisse dazu finden sich nirgends. Die zu Beginn der Rede erwähnte Reise, die auch in griechische Gebiete führte, mag allenfalls Interesse bei ihm geweckt haben. Die Auswahl der Dokumente bei Wattenbach (wie Anm. 12), S. 90—127 gibt vielfältiges Anschauungsmaterial. Eine gründliche Analyse ist bisher nicht publiziert worden. Vorstudien hierzu erbrachte eine sorgfältige Hausarbeit von Karl-Heinz Roll (im Zusammenhang eines mit Walter Haug abgehaltenen Seminars über „Literarisches Traditionsverhalten zwischen Mittelalter und früher Neuzeit"). Die Abkürzung „etc." kann im konkreten Vortrag (insonderheit bei der Wiederholung an anderen Universitäten) eine detailliertere Ausfüllung mit weiteren Titeln resp. Namen bedeutet haben.

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stenreden deutlich, man denke an den pathetischen Höhepunkt in Celtis' Ingolstädter Oratio von 1492).44 Damit ist der Ubergang geschaffen zur sachlichen argumentatio, zur Darlegung der res: dem Abriß zunächst von Trivium und Quadrivium mit Einschaltung der Medizin - von der Luder in späteren Jahren weitgehend leben wird 45 - und der Jurisprudenz und mit Hervorhebung der Ethik, schließlich der Theologie, die unzweideutig als „dominatrix maxima" tituliert wird. In einem Neuansatz, der die erste Person Singularis wiederaufnimmt, verbindet sich ethische und pathetische Argumentation zu einer bekenntnishaften Bestimmung des „verum et infallibile fundamentum", das als „studia humanitatis" fixiert wird (Luder ist bekanntlich, nach heutigem Wissensstand, der erste, der diesen Begriff in Deutschland in öffentlicher Rede verwendet hat). 46 Das conversio-Motiv kehrt wieder, in christlicher Emphase wird der Segen des Parakleten erfleht. Die „tria [...] humanitatis genera" werden im eigentlichen Mittel- und Hauptteil der Rede nacheinander materialiter entfaltet: „historia" (auch pluralisch als „historiae", nur einmal als „historiographia"), „oratores" (mit den „precepta rhetorices") und „poetae" (oder „poesis"). Alle drei „genera" werden, jeweils mit dem - wechselnd akzentuierten - Doppelaspekt der „utilitas" und der „iocunditas", von der „virtus" her legitimiert. Hier ist überall Guarino merkbare Leitautorität, freilich nur in der Tendenz; denn auch in dessen doctrina sammeln sich bereits die seit Petrarca humanistisch propagierten und ausdifferenzierten Argumente. Untereinander stehen die drei genera, dispositionell als partes, im Verhältnis der Klimax, ablesbar schon an dem jeweiligen zentralen Klassikerbeleg. Für die Historie stammt er aus Cicero, für die Redekunst aus Vergil, und für die Poesie aus Terenz und Vergil. Die 4. Ekloge als „vaticinacio" über Christus und damit als unüberbietbare Würden-Trägerin nimmt die mit dem Parakleten-Motiv gesetzte Linie wieder auf und führt die Rede auf den religiös-pathetischen Höhepunkt, bei dem bereits das Ende („finis") des Ganzen angekündigt wird. Der gedehnte Schlußteil bringt zunächst, den Ton plötzlich zurücknehmend, ein erinnertes akademisches Exempel, dann neuen Aufschwung mit be-

Hierzu Verf.: Über das Negieren von Tradition (wie Anm. 8). Promotion zum Doktor der Medizin 1464 in Padua, dann in Basel Lehre in der medizinischen Fakultät und ärztliche Tätigkeit in der Stadt. Vgl. Erich König: „Studia humanitatis" und verwandte Ausdrücke bei den deutschen Frühhumanisten, in: Beiträge zur Geschichte der Renaissance und Reformation. Joseph Schlecht zum 60. Geburtstag. München u. Freising 1917, S. 202-207. Umfassend August Buck: Die „studia humanitatis" und ihre Methode, in: Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance 21 (1959), S. 273-290; vgl. dens.: Studia humanitatis. Gesammelte Aufsätze 1973-1980. Wiesbaden 1981.

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schwörender „peroratio" an die Zuhörer, eine erneute, preisende Zusammenfassung des existentiellen' Werts der studia humanitatis. Wiederum anders, fast amtlich ansetzend: die Ankündigung Peter Luders, er werde mit „licencia" des Rektors und „permissio" der Universität „poetas, oratores atque historiographer" erklären und versuchen, auch zum 'Quell des Pegasus' zu fuhren - womit in zurückhaltender Formulierung der besonders problematische poetisch-praktische Zweck47 anvisiert ist. Nach einer umständlich-gestelzten, dankenden „excusatio" für die Inanspruchnahme der Geduld schließt ein Segenswunsch die „oratio inauguralis". Alles Einzelne ist tradiert, alle Teile sind vorgefertigt, selbst die Grundlinien sind nicht 'originell' (sondern stammen wesentlich von Guarino). Aber das Eigene, das im Prozeß der Traditionsverarbeitung zugleich das Neue ist,48 besteht nicht lediglich darin, daß hier ein humanistisches Rollen-Ich bekannte Programm-Elemente emphatisch und mehr oder weniger geschickt reproduziert. Schon das Zurücknehmen sich aufdrängender Polemik — auch wenn dabei Guarinos Vorbild wirken mag - ist faktisch ein Stück Eingehen auf die besonderen Heidelberger circumstantia. Aber es ist als ethische Form zugleich Gehalt. Es ist Demonstration einer wenigstens behaupteten humanistischen Souveränität, die in der normativen Leitkategorie der virtus gründet. Die studia humanitatis sind Betätigungen aus dem Kern des von Gott gesetzten menschlichen Wesens heraus, specifice aus seiner Redefähigkeit. Und insofern sind sie nicht Zusatz, sondern „verum et infallibile fundamentum"; das heißt: Die Hingabe an sie ist Rückkehr zur wahren Essenz der artes. Diese sicher auch manchem der Heidelberger Zuhörer nicht unbekannte Argumentation im Sinne einer 'Reform von innen' wird von Luder im Zentralteil der Rede durch anthropologische Argumente, durch Hoch-Autoritäten der Bibel, der antiken Klassiker (besonders Vergil und Cicero, aber auch Aristoteles) und durch Kirchenväter (hierbei auffällig Basilius)49 expliziert. Aber das persuasive Ziel ist „conversio". Hier setzt gleich der Anfang einen unüberhörbaren Akzent auf den Redenden als „persona". Das selbstidentifikatorische Konversionsschema ist zwar als rhetorisches Schema traditionsreich, bis in den Pietismus des 18. Jahrhunderts 50 und in die Gegenwart hinein. Aber Luders Chance liegt

Über institutionelle Fortschritte und Hemmnisse an den Universitäten s. Grimm (wie Anm.l), S. 94-104. Zu den verschiedenen Typen dieses Verhältnisses Verf.: (wie Anm. 8). Wattenbach (wie Anm. 12), S. 106. Basilius wird bei der Verteidigung der Poesie mit besonderer Vorliebe von Humanisten ins Feld geführt. Hier besonders klar ausgeprägt das Schema: Schilderung oder Selbstdarstellung des Lebens vom Punkt der Konversion (Erleuchtung usw.) her gesehen, und bis zu ihm hin.

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Humanistische Pioniere darin, daß er als in Italien 'bekehrter' und nach Deutschland zurückgekehrter Repräsentant der studia humanitatis noch Rarität ist. Der persuasive Sinn der einleitenden narratio beruht gerade darauf, daß er dies jenseits aller möglichen Tradition ausspielen kann (bei Celtis erhält es dann zwar besonderes Gewicht, aber wird schon stereotyp).51 Diese authentisierende Tendenz wird an einer zentralen Stelle der Rede gewissermaßen noch von außen, durch Fremdbeispiel, abgestützt. Am Ende des Lobpreises der Poesie, dort wo sie mit Hilfe von Vergils 4. Ekloge als Geschenk des göttlichen Geistes noch einmal ins Unangreifbare gerückt wird, schaltet Luder plötzlich eine eigene Reminiszenz aus seiner Studienzeit in Padua52 ein. Als sich dort einst aus Anlaß des Examens fast alle Lehrer der Jurisprudenz im Haus des 'Rektors der Studenten Johannes Kreydwiss (Crydwiss) von Esslingen (!), eines Juristen, feierlich versammelt hatten, habe der berühmte Kanonist Antonio Roselli zahlreiche Partien aus Vergils Aeneis rezitiert. Dann habe er, an die so renommierten Kollegen gewandt, hinzugesetzt, er wünschte sich, er hätte statt den Rechten diesen Dingen seine ganze Bemühung gewidmet.53 Luder schließt daran einen neuen hymnischen Aufschwung zum Preis der studia humanitatis, die sogar von so bewährten Männern gepflegt und verehrt würden. Die Tendenz der Partie ist durchsichtig und charakteristisch zugleich. Die immer wieder von den Gegnern bestrittene Würde - nicht nur der Nutzen - des Metiers wird personal durch ein argumentum auctoritatis bestätigt, noch dazu durch eines, dessen Zeuge er selbst wurde - und dies im Hause eines an einer italienischen Universität zu Ansehen gelangten jüngeren deutschen Gelehrten (mit dem er persönlich befreundet ist). Der authentisierende Einschub erinnert an das fast renommistisch herausgestrichene Innsbrucker Erlebnis, das Heinrich Bebel in seiner Comoedia (1501) dem weltmännisch bewährten Aulicus Regis in den Mund legt: Der Kardinal Raimundo habe einen Bittsteller unwirsch abgewiesen, nur weil der sich nicht richtig auf Lateinisch ausdrücken konnte54 (auch der Aulicus hebt anschließend zu einer großen Apologie der „studia" und insbesondere der Dichtkunst an). Es sind, so möchte man vielleicht sagen, eher Manifestationen der Wünsche und der Sehnsüchte von Humanisten, die um Anerkennung ringen (unabhän-

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Vor allem bei der Gründang der zahlreichen sodalicates werden die italienischen Muster (bei Reisen kennengelernt) immer wieder betont herangezogen. Zum ersten Aufenthalt Luders in Padua s. Baron (wie Anm. 17), S. 3 1 - 3 8 . Wattenbach, S. 107; vgl. dort auch S. 39. Heinrich Bebel: Comoedia de optimo studio iuvenum. Über die beste Art des Studiums für junge Leute. Lateinisch/deutsch. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Mitarbeitern. Stuttgart 1982, S. 54.

Studio toto amplectendapectore" gig davon, ob im einzelnen solche Begebenheiten 'echt' sind). Aber das Imaginative und das Suggestive sind Qualitäten, die man als Charakteristika ernstnehmen muß, wenn überhaupt man solchen Dokumenten namentlich der humanistischen Frühphase in Deutschland gerecht werden will. Es geht dabei nicht nur um die alten rhetorischen Tugenden der evidentia ( έ ν α ρ γ ε ι α ) oder der illustratio, wie sie Cicero, Quintilian, Hermogenes und andere überliefern. 5 5 Was den versierten Redner auszeichnen muß: Abwesendes (absentes res) zu ver-gegenwärtigen (etwa einen Tatbestand, ein Ereignis, eine Person), ist zentrale fiktionale Fähigkeit des Poeten. 56 Der Redner, der wie Luder vor ein akademisches Publikum tritt, um für sein Metier der studia humanitatis zu werben, ja sogar mit dem emphatischen Ziel der conversio, arbeitet faktisch mit beidem: dem Anknüpfbaren und dem ganz Anderen, Höheren. Es geht hin und her, die Balance ist zu wahren. Die autobiographische narratio zu Beginn setzt unmittelbar beim Redner an, noch dazu bei seiner Heidelberger Frühzeit, und dient doch nur dazu, 'authentisch' in die Fremde und zu den „studia optimarum arcium" zu führen. Der - fast zu trocken belehrende und repetierende - hodegetische Aufriß der artes im Eingangsteil dient dazu, Systemkonformität zu insinuieren und zugleich etwas angeblich Verschüttetes als das Eigentliche, als das „verum fundamentum" zu entwickeln. Das erinnerte Exempel aus Padua, mit Anlaß und Namen, zielt einzig und allein auf das, was jenseits des anerkannten und 'nützlichen' juristischen Metiers das Eigentliche ist: „ O studia humanitatis omnibus appetenda [...]. Ο studia toto amplectenda pectore". 5 7 Das π ά ΰ ο ς dieser wiederholten Beschwörungen der studia beansprucht, sein Fundament im ήί}ος der leitmotivisch auf die virtus zielenden Entfaltung der drei humanistischen genera zu besitzen. Aber die suggestive Beschwörung ist von der sprachlichen Form ebensowenig zu abstrahieren wie das Beschworene selbst. Studia humanitatis sind für Luder wie für die gesamte humanistische Kommunität studia latinitatis. Daß Luder die entscheidenden differenzierenden Normbestimmungen wie puritas oder elegantia fast gänzlich unterdrückt, 5 8 ist auffällig und kaum zufällig. Deutet man es als Rücksichtnahme auf die Pio-

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Die Belege bei Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Bd. 1. München 1960. S. 399—402 (und S. 810f.). Von daher bestimmt sich auch die zentrale Forderung an den Redner (Dichter), ενφανταοίωτός zu sein, d.h. in sich die entsprechenden Vorstellungen erzeugen zu können. Auf die tiefgehende Ambivalenz dieser Fähigkeit (zu 'täuschen, 'Schein zu erzeugen), kann hier nicht eingegangen werden. Wattenbach (wie A n m . 12), S. 108. Dies im deutlichen Gegensatz zu Repräsentanten des 'Hochhumanismus' wie Celtis oder Bebel.

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Humanistische Pioniere nierphase und auf die aktuellen Heidelberger circumstantia, so trifft das sicher Richtiges. Aber es bedarf des ergänzenden Hinweises auf den Wirklichkeitscharakter des Ganzen: der Rede und ihres universitären Kontextes. Jozef Ijsewijn hat angesichts der eingeschliffenen Unterscheidung von mittelalterlichem (oder scholastischem) Latein und Humanistenlatein mit gutem Recht daran erinnert: „Beide Redearten sind artifiziell weitergeführte Studien einer Sprache, die wenigstens seit der Karolingerzeit keine lebendige Volkssprache mehr war".59 Dieses gemeinsame Artifizielle, dieses - nicht nur von der Volkssprache - Abgehobene macht den besonderen Charakter einer Programmrede wie derjenigen Luders erst möglich. Sie bedient sich des spezifischen Spielraums dieses Artifiziellen, um auch in der Komposition und in der Sprachgebung - bei aller Unzulänglichkeit in Details60 - die entscheidende humanistische Differenzqualität zu demonstrieren. Luders Programmrede ist, was sie propagiert — jedenfalls dem Anspruch nach. Sie ist es in ähnlichem Sinne, wie Celtis' frühe Ode AdApollinem repertorem poetices ut ab Italis ad Germanos veniat (1492) das, was der Dichter von Apollo erst symbolisch erfleht, selbst schon repräsentiert. Die Grenzen der Gattungen sollen hier nicht verwischt werden. Luders Oratio von 1456 ist nicht Fiktion, wie die programmatischen Stücke Stylpho von Wimpfeling (1494) oder die Comoedia von Bebel (1501) szenisch-rezitativische Fiktion sind. Aber der Eindruck des Abgehobenen, Gewollten, der für die Rede insgesamt so charakterisch scheint, wird ohne Zweifel nicht nur durch die 'Frühzeitlichkeit' der Entstehungsbedingungen evoziert, sondern durch die selbstsichere, kaum irritierte61 Entfaltung einer werthaften Eigenwelt einerseits, durch das Suggestive, Beschwörende, Fordernde andererseits. „O studia toto amplectenda pectore": Das ethosgestützte Pathos dieser Apostrophen und ihrer zahlreichen Varianten in Luders Oratio — Totalitätsformeln könnte man sie nennen62 - hebt den programmatischen Gehalt in einen Eigenbereich, der dem werbenden Zweck nur scheinbar widerspricht. Ausdrückliche

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Jozef Ijsewijn: Mittelalterliches Latein und Humanistenlatein, in: Die Rezeption der Antike (wie Anm. 5), S. 7 1 - 8 3 ; hier S. 71. Sie zeigt sich auch in der mehrfach noch unsouverän-überzogenen Verwendung von Stilmitteln, die dem Cicero-Ideal oder auch 'poetischem' Glanz (nitor) entsprechen sollen: so etwa gleich in den gehäuften Hyperbata der ersten langen Periode. Irritation zeigt sich am ehesten noch in der scharfen Polemik gegen die „insectatores poetarum" (die er gerade unter den Zuhörern gehäuft vermuten muß). Zu diesem Typus gehören im weiteren etwa: „ad imitacionis studia [...] invitat incendit inflammat" (Wattenbach [wie Anm. 12], S. 103), „pernoctant nobiscum, peregrinantur, rusticantur" (S. 108, lange Partie im Anschluß an Cicero), „Amplectimini..." (S. 108), „tota mentis cruciacione" (S.109).

,.Studia toto amplectendapectore" Adressaten der Rede sind außer dem Rektor (zu Beginn) die - verehrungsvoll prädizierten — „viri et adolescentes" der Universität und je einmal die „viri" und die „iuvenes", „adolescentes": die Lehrenden verschiedener Position als diejenigen, die zur Tolerierung oder gar zur Unterstützung, und die Studenten, die als zahlende Hörer gewonnen werden sollen.63 Ein bezeichnendes Detail begegnet kurz vor Schluß, als Luder, unter Bezugnahme auf die Autorität Cicero, zum umständlichen Dank für die geduldige Aufmerksamkeit ansetzt. Plötzlich heißen die Angeredeten, in Nahkontakt zum Namen Cicero, „patres optimi". 64 Eine Andeutung altrömischen Kolorits ist es wohl doch (so wie später die Ankündigung einer Terenz-Vorlesung mit den Worten „Senatus populusque Romanus [...]" beginnt). 65 Auch in solchen Gesten - wie in vielen hier hervorgehobenen rhetorischen Zügen - soll sich das ganz Neue als das autoritativ Alte darstellen, und vice versa. Es meldet sich Anspruch auf Spielraum für einen Pionier, der das Exempel seiner Eigenwelt in der Rede selbst bereits setzt. Der Spielraum wird in seiner eigentümlichen Spannung zwischen Prätention und Realisation erst erkennbar, wenn man die bestimmten circumstantia und die bestimmte Weise der rhetorisch-imaginativen Traditionsverarbeitung beachtet. Die evidentia scheint, zusammen mit der Rückendeckung durch den Landesfürsten und durch einflußreiche Gelehrte wie Wildenhertz, in der Rede jedenfalls so ausgefallen zu sein, daß die Artistenfakultät den Neuen gewähren lassen mußte. 66 Luder hat dann, wie angekündigt, über die Epistulae des Horaz und über die Historiae des Valerius Maximus (übrigens eines Lieblingsautors des Guarino) gelesen, dann über Seneca - mit reduziertem Erfolg — und über Terenz, endlich über den attraktiveren Ovid (Ars amandi und Remedia amoris).67 Was es bedeutet, daß er 1457 seine Vorlesungen in das Augustinerkloster verlegen muß, ist nicht klar zu sagen. Pfalzgraf Friedrich hat offenbar in seiner Förderung der humanistischen Studien und ihrer Vertreter nicht nachgelassen. Am 13. Februar 1457 lobt ihn der italienische Humanist Arrigino in einem Brief (mit Verwendung der Termini „litterae" und „studia humanitatis") ob der „prestantissimorum virorum copia quam apud te collocasti".68 Als eines der

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Als Lehrender ohne 'Planstelle' erhielt er vom Landesfürsten kein festes Salär und war wesentlich auf Zahlungen der Studenten und auf sonstige Nebeneinnahmen angewiesen. Geldnot ist, wie bei all den Wanderhumanisten, Dauerthema der Korrespondenz und mancher Gedichte. Wattenbach (wie Anm. 12), S. 109. Ebd., S. 122 (in Leipzig). Zeugnisse einer Verurteilung durch die vorgesehenen arbitri sind nicht überliefert. Wattenbach (wie Anm. 12), S. 44. Ebd., S. 93.

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wenigen humanistischen Zentren ist offenkundig Heidelberg anerkannt, fiir einige Jahre, 69 und der Pfalzgraf als begehrter Mäzen. Knapp ein Jahr später (10. Februar 1458) hält Luder selbst, in einer auf deutschem Boden recht neuen Form humanistischer Panegyrik, eine begeisterte Preisrede auf Friedrich - was offenbar zur Nachahmung anregte. 70 1460, im Zeichen der vorübergehenden 'Verödung' der Universität durch Pest und Krieg, verläßt er Heidelberg wieder — es mag hinzukommen, daß das 1457 'Brandneue' nicht mehr ganz so neu war. Das Prinzip der peregrinatio setzt sich wieder durch. Noch im gleichen Jahr taucht Luder in Ulm auf (möglicherweise am dortigen Socratis Gymnasium lehrend), und schon im Wintersemester 1460/61 an einem der anderen universitären Zentren der humanistischen Bewegung, in Erfurt. 71 In unserem Zusammenhang interessiert vor allem, daß er dort seine Heidelberger Oratio von 1456 - ein wenig modifiziert 72 noch einmal hält (anschließend Vorlesungen über Vergil, Ovid, Terenz, Rhetorik) und schließlich 1462 in Leipzig ein weiteres Mal (wiederum Vorlesungen: Vergil, Terenz, Rhetorik, Verslehre, Interpunktion). Während seiner gerade halbjährigen Leipziger Zeit findet er in Hartmann Schedel 73 seinen bedeutendsten Schüler. Wie Luder in Heidelberg, den Landesfürsten zitierend, in seinem ersten Anschlag die „barbaries" des dortigen Lateins gegeißelt hatte, so verspricht er jetzt in einer Leipziger öffentlichen Ankündigung die Ausbildung des „ornatus elocucionis" und spöttisch die Befreiung vom „Küchenlatein": „culinario (ut aiunt) latino". 74 Im selben Text aber passiert ihm ein handfester Schnitzer, als er zur Terenz-Einführung in seine Wohnung einlädt: „Ubi omnes volentes Iecciones tres gratis interesse poterunt". 75 Der weitere Weg, über Padua (wo er zum Doktor der Medizin promoviert), über Basel (wo er außer seinen Mediziner-Aufgaben auch eine Stelle als poeta versieht) bis nach Wien mag hier nicht näher verfolgt werden. In Wien, dem

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Ritter (wie Anm. 21), S. 449—465; knappe Zusammenstellung der Situation in den anderen Zentren bei Grimm (wie Anm. 1), S. 68—80 (mit reicher Literatur). So offensichtlich den Luder-Freund Mathias von Kemnat mit seiner Chronik Friedrichs I., auch etwa Heinrich Gundelfingen (vielleicht Luders Schüler in Heidelberg) mit mehreren historiographischen Werken. Franz W i l h e l m Kampschulte: Die Universität Erfurt in ihrem Verhältnisse zu dem Humanismus und der Reformation. Teil 1: Der Humanismus. Trier 1858. Hierzu Wattenbach (wie Anm. 12), S. 62. Von ihm existieren auch Niederschriften Leipziger Vorlesungen. Dazu Baron (wie Anm. 17), S. 1 1 8 - 1 2 3 . Wattenbach (wie Anm. 12), S. 122. Ebd.

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damals fast schon traditionsreichen 76 Humanistenzentrum — Luder kommt 1470 dorthin - scheint er sich wenig profiliert zu haben. 77 In Heidelberg, kaum anderthalb Jahrzehnte zuvor, war er noch aufsehenerregender, bekämpfter und geförderter 'Star'. In seiner noch während der Heidelberger Zeit (wohl 1460) entstandenen Elegia ad Panphilam amicam singularem,i heißt es mit augusteischer, an Horaz und Vergil vor allem gemahnender Gestik und Emphase: Primus ego in patriam deduxi vertice Musas Italico mecum, fonte Guarine tuo. 79

Hier ist, Jahre nach der oratio inauguralis, Guarino von Verona als wichtigster Lehrer genannt. Und es geht zuvörderst um die Poesie. Nach dem charakteristischen Traditionsmodell des „deducere" - das dann auch Spätere wie Celtis verwenden — darf sich Peter Luder nicht ganz ohne Recht als „primus" in seinem Vaterlande fühlen. Faßt man „patria" wie in der Rede von 1456 zunächst im Sinne eines engeren landsmannschaftlichen Umkreises,80 so hat er in der Tat als erster in Heidelberg die an den antiken Klassikern orientierte, neuartige und beargwöhnte poetische ars aktiv ausgeübt und öffentlich präsentiert — zwar noch ein wenig holprig und mitunter (etwa in der Metrik) gar fehlerhaft, aber als Signal einer vordringenden Bewegung unüberhörbar. In der erweiterten, institutionell vefestigten Bedeutung des poeta als der Bezeichnung für den bestallten 'Humanisten', 81 darf er, bei aller Ungesichertheit, ebenfalls den Pionierstolz für sich beanspruchen, „primus" zu sein. Doch alles dies konnte sich nur entfalten auf vorbereitetem Boden. Der Landesfürst war unter seinesgleichen einer der ersten, die den Nutzen der neuen Studien auch für eine modernisierte Staatsverwaltung und Diplomatie anzuerkennen bereit waren. Daß im Zeichen solcher Tendenzen Druck von außen in die Heidelberger universitas hineinwirken mußte, ist nicht nur auffällig, sondern gewiß symptomatisch. Aber auch innerhalb der akademischen Korpora-

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Die ersten Kollegs über antike Klassiker finden dort bekanntlich schon um die Jahrhundertmitte statt. Möglicherweise in Wien ist er auch gestorben, wohl 1472; vgl. zu Hartmann Schedels wichtigem Eintrag in sein Tagebuch: Baron (wie Anm. 17), S. 164. Über die vielen Deutungen der Elegia, zu deren Verwirrung Luder selbst kräftig beigetragen hat, soll hier nicht gehandelt werden; vgl. Wattenbach (wie Anm. 12), S. 59-62, Baron (wie Anm. 17), S. 89—96; auch Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im sechzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Italien und der deutsche Humanismus in der neulateinischen Lyrik. Berlin u. Leipzig 1929, S. 356-358. Wattenbach (wie Anm. 12), S. 60. Vgl. die Formulierung im Anfangsteil seines autobiographischen Abrisses; Wattenbach (wie Anm. 12), S. 101 („nec patrio contenta solo"). Geraffter Überblick mit zahlreichen Zeugnissen bei Grimm (wie Anm. 1), S. 94-104.

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tion geht es nicht etwa um eine strikte Konfrontation von verselbständigten Größen 'Scholastik' und 'Humanismus'. 82 Auch in Heidelberg erwächst, zumindest in relativer Eigenständigkeit, manches Moment der Förderung der studia humanitatis aus dem universitären Kontext selbst. Nicht nur eine Verbindungsfigur wie der fürstliche Kanzler Ramung, auch der renommierte Jurist Wildenhertz als aktiv für Luder Eintretender, und der immerhin humanistisch interessierte Rektor Rudolf von Brüssel mögen dies ebenso illustrieren wie die Tatsache, daß noch kurz vor Peter Luders erstem Auftreten - oder gar bereits im Zusammenhang damit - eine Reihe von Büchern für die Artistenfakultät angekauft worden waren, die den humanistischen Studien dienlich sein konnten, darunter Terenz, Cicero, Quintilian und - Petrarca. 83 Trotz des von dem poeta erregten Aufsehens und seiner offenkundigen Förderung durch nicht wenige Persönlichkeiten von Einfluß: Ein eigentlicher Schülerkreis Luders bildete sich in Heidelberg nicht. Das 'Seminaristische', das seinem Lehrer Guarino so ausgeprägt eigen war und dann bei Gestalten wie Brant, Wimpfeling oder Celtis wieder begegnen wird, fehlt offenkundig. Zweierlei traf wohl komplementär zusammen: das doch Improvisierte, institutionell nicht Gefestigte des Metiers und das Unstete, 'Genialische' dieses eigentümlichen Wanderercharakters. Dies gilt kaum anders für den ihm am ehesten vergleichbaren, etwa zweieinhalb Jahrzehnte jüngeren 'Wanderpoeten' Samuel Karoch von Lichtenberg, 84 der vom Leipziger Humanistenzentrum ausging und über Erfurt, einen kurzen Italienaufenthalt und dann, nach zahllosen universitären Zwischenstationen nördlich der Alpen, schließlich um 1482 auch nach Heidelberg gelangte. Dort aber hatte soeben, während des Rektorats von Jacob Wimpfeling (1481/82) und vor allem zentriert um die glänzende mäzenatische Gestalt des fürstlichen Kanzlers Johann von Dalberg, eine erneute, gründliche Reform im Sinne der studia humanitatis begonnen. 85 In den Schatten dieses Aufschwungs, der nicht zuletzt mit Namen wie Rudolf Agricola verbunden ist, gerieten nun auch die Spuren, die Peter Luder hinterlassen haben mochte. Bei Agricola wird zugleich erkennbar, wie die frühe

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Dies im H i n b l i c k a u f die durch die neuere Forschung (Buck, Kristeller u.a.) herausgearbeiteten mannigfachen Verschränkungen und 'Koexistenzen'.

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Wattenbach (wie A n m . 12), S. 4 6 . D i e Ankäufe stammten zum Teil aus dem Nachlaß des D o k t o r Ludwig von Ast, D o m p r o p s t zu W o r m s und Kanzler der Universität. Wattenbach erwägt, dieser „humanistisch gebildete M a n n " sei „vielleicht nicht ohne Einfluß a u f Peter Luders Berufung gewesen".

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Zu ihm, dessen Wiederentdeckung ebenfalls wesentlich Wattenbach zu verdanken ist, s. Heinz Entner: Frühhumanismus und Schultradition im Leben und W e r k des Wanderpoeten Samuel Karoch von Lichtenberg. Berlin u. Weimar 1 9 6 8 .

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Konzentration auf poetae, oratores und historiographi überholt wird durch eine Erweiterung zu Studien im Gesamtkreis der philosophia, die für Luder zunächst nur legitimatorischer Rahmen war.86 Celtis' ehrgeizige Erweiterung des humanistischen Programms zu Projekten wie einer Germania illustrata führt wiederum auf eine neue Stufe. 87 Nicht mehr nur die studia humanitatis im Sinne der Klassiker-Lektüre und -Imitation, sondern weit ausgreifendes, nationales Tätigwerden im Bündnis auch mit großen städtischen Zentren wie Nürnberg ist jetzt das Ziel. „O studia toto amplectenda pectore": In stolzem, durchaus auch taktisch eingesetztem Hochgefühl, der Erste zu sein, konnte dies noch wie eine Utopie beschworen werden. Aber Luders Programmrede von 1456 ist nicht lediglich defizitär nach Art eines illusionistischen 'Jetzt gleich!'. Sie besitzt ihren eigenen, notwendigen Charakter. Studia als Konversionsziel, studia unter Befeuerung durch den Heiligen Geist, studia als rhetorisch-imaginativ beschworener Lebensinhalt: Das Vorgreifende, auch das fast bedingungslos suggestive Sichstellen gegen Realität hat den deutschen Humanismus - nicht nur denjenigen der Renaissance — nie ganz verlassen, jedenfalls als eine Weise der öffentlichen Selbstpräsentation. Das Widrige der Wirklichkeit ist eher mit der von der Heidelberger Artistenfakultät verlangten Vorzensur angedeutet. Es hat den umtriebigen poeta Peter Luder auch künftighin gefordert. Er durfte neben dem Überreden das Sichwehren und das Aufpassen nicht versäumen. Dabei ging es nicht selten handfest und ganz unheroisch zu. In Leipzig mußte er, als er seine Oratio von 1456 wiederholte, trotz Genehmigung durch den Rektor und sogar durch den Dekan der Artistenfakultät um seinen Zettel am Schwarzen Brett bangen. Er ließ sich etwas einfallen und warnte vorsorglich. Sein getreuer Schüler Hartmann Schedel hat das Dokument aufbewahrt: „Sine cetulam fixam. custos latet ex insidiis quo accusaberis".88

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Dies deutlich in der Partie Wattenbach (wie Anm. 12), S. 102f. Abdruck der Rede Agricolas in Ferrara (wie Anm. 11). Hierzu Dieter Wuttke: Humanismus als integrative Kraft. Die Philosophia des deutschen 'Erzhumanisten' Conrad Celtis. Nürnberg 1985. Wattenbach (wie Anm. 12), S. 122 (Text am Fuß des Anschlags).

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Humanistische Bildungswerbung, schwäbisch. Zu Heinrich Bebels Comoedia vom Jahre 1501*

Die Cambridge University Library bewahrt unter ihren rare books einen Sammelband des 16. Jahrhunderts auf, der einst zur Bibliothek des berühmten Schauspielers David Garrick gehörte und eine Reihe von lateinischen Spieltexten umfaßt.1 Unter ihnen findet sich, in einer Straßburger Ausgabe vom Jahre 1513 (gedruckt bei Schürer),2 ein Werkchen, das seit langem mit Titel, Autor, Jahreszahl und ein paar mageren Inhaltshinweisen durch die einschlägigen Handbücher geschleppt wird, aber - da jahrhundertelang nicht gedruckt3 - nur von wenigen auch gelesen worden ist: De optimo studio iuvenum (scholasticorum),A eine „comoedia" respective ein „dialogus" des schwäbischen Dichterhumanisten Heinrich Bebel,5 der im Jahre 1496, von der Universität Basel kom-

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Erstpublikation in: From Wolfram and Petrarch to Goethe and Grass. Studies in Literature in honour of Leonard Forster. Ed. by Dennis H. Green, Leslie Peter Johnson and Dieter Wuttke. Baden-Baden 1982, S. 1 9 3 - 2 1 2 . Signatur: Sei. 5 . 1 0 6 ' . Vgl. Herbert M a y Adams: Catalogue of books printed on the continent ofEurope, 1 5 0 1 - 1 6 0 0 in Cambridge libraries. Vol. I. Cambridge 1967, Β Nr. 424. Die Information über die Herkunft des Sammelbandes, auch Kopien des Bebel-Textes verdanke ich der Freundlichkeit von Mr. D. J. McKitterick von der Cambridge University Library. Bibliographische Daten und Standorthinweise in: Index Aureliensis. Prima Pars A/10 (1966), S. 405, Nr. 115.342. Vgl. auch Goedeke I 2 , S. 440, Nr. 14 und den Deutschen Gesamtkatalog. Bd. 14 (1939), Sp. 159, Nr. 14.2224. Es ist der vierte von insgesamt fünf bisher festgestellten Drucken des Stücks, s. auch die folgende Anm. Eine Neuausgabe mit Text, Apparat, Übersetzung, Kommentar und Einführung (auch zur Druckgeschichte) ist 1982 in Reclams Universal-Bibliothek erschienen (Nr. 7837. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Mitarbeitern). Näheres über die wechselnde Titelform in der Einführung zu der in Anm. 3 genannten Ausgabe. Im vorliegenden Beitrag werden alle humanistischen Werktitel und Textzitate in 'normalisierter' Schreibung gebracht. Seit langem fehlt eine gründliche Bebel-Monographie. Die bisher einzige verfaßte Georg W i l helm Zapf: Heinrich Bebel nach seinem Leben und Schriften. Augsburg 1802 (Nachdruck Leipzig 1973). Die einschlägigen Artikel und Überblicke in Lexika und Handbüchern sind zumeist sehr fehler- und lückenhaft. Ausführliche bibliographische Angaben enthält die in Anm. 3 genannte Ausgabe. Hier daher nur wenige Hinweise: Helmut Binder: Heinrich Bebel. Humanist und Dichter. Professor der Beredsamkeit und Poesie an der Universität Tübingen, in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken. Bd. 13. Hrsg. v. Robert Uhland. Stuttgart 1977, S. 2 5 - 5 1 . Ältere Skizzen: Heinrich Bebels Schwänke. Hrsg. v. Albrecht Wesselski. 2 Bde. München u. Leipzig 1907, dort Bd. 1, S. II-XVIIL; Gustav Bebermeyer: Tübinger Dichter-

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mend, erster Inhaber der Tübinger humanistischen Lektur wurde. Es ist das Stück von der Bildungskarriere des eifrigen Bauernsohns Vigilantius, vom Nutzen der echten lateinischen Beredsamkeit und von der akademischen Friedensaufgabe des Poeta. Das Cambridger Exemplar der Comoedia ist mit einer Reihe von Interlinearen und Marginalien versehen, die auf unterschiedliche Schreiber des 16. Jahrhunderts zurückgehen. Näheres Hinschauen ergibt, daß es sich weit überwiegend um szenisch und inhaltlich verdeutlichende Zusätze zum Spieltext selbst handelt.6 Das autobiographisch getönte opusculum des Bauernsohns Bebel von der Schwäbischen Alb ist also offensichtlich im England des 16. Jahrhunderts, während der Blüte des lateinischen Schul- und Universitätsdramas,7 mehrfach gespielt worden. Europäischer 'Ruhm' eines bescheidenen humanistischen Schuldramas? Wimpfelings Stylpho (1480), bekanntlich frühester Repräsentant des prosaischen Typus, wurde nur zweimal, 1494 und 1495, gedruckt und Kerckmeisters Codrus gar nur ein einziges Mal, 1485. 8 Für Bebels Comoedia haben sich zwischen 1504 und 1520 immerhin fünf Drucke ermitteln lassen;9 das läßt auf einiges Interesse schließen. Noch heute ist sie, wie eine Umfrage ergab,10 in den europäischen Bibliotheken recht gut repräsentiert, von Cambridge - und London - bis Wien, von Paris bis Warschau. Zu Bebels Lebzeiten hat sie besondere Aufmerksamkeit offenbar im niederrheinisch-niederländischen Raum gefunden, in Köln und Münster, vor allem aber im Umkreis der Devotio moderna mit ihren Zentren Deventer und Zwolle.11 Nach den speziel-

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humanisten. Bebel/Frischlin/Flayder. Tübingen 1927 (Nachdruck 1967), S. 7 4 6 mit S. 103— 106; Johannes Haller: Die Anfänge der Universität Tübingen 1 4 7 7 - 1 5 3 7 . Bd. 1. Stuttgart 1927, S. 2 1 2 - 2 3 6 und Bd. 2. Stuttgart 1929, S. 7 6 - 8 8 . Die handschriftlichen Zusätze konzentrieren sich zu Beginn des Stücks (Prolog, Eingangsszene mit erweitertem Dialogtext), dann beim Wechsel vom dritten zum vierten und vom vierten zum fünften Akt). Für Cambridge speziell s. George C. Moore Smith: College plays performed in the University of Cambridge. Cambridge 1923; ferner unter anderem Frederick Samuel Boas: University drama in the Tudor age. Oxford 1914; Τ. H. Vail Motter: The school drama in England. London 1929; D. Greenwood: The staging of Neo-Latin plays in sixteenth century England. In: Educational Theatre Journal 16 (1964), S 31 Iff. Angaben in: Jakob Wimpfeling: Stylpho. Lateinisch und deutsch. Übers, u. hrsg. v. Harry C. Schnur. Stuttgart 1971, S. 43; Johannes Kerckmeister: Codrus. Hrsg. v. Lothar Mündt. Berlin 1969, S. 103. Pforzheim: Anselm 1504; Zwolle: Os van Breda um 1506; Braunschweig: Dorn 1509; Straßburg: Schürer 1513; Köln: Quentel um 1517{—20). Näheres in der Anm. 3 erwähnten Ausgabe. Sie ergänzte für den Bereich der europäischen Bibliotheken teilweise auch die Angaben in: Index Aureliensis. Prima Pars A/10 (1966), S. 3 9 9 ^ 0 9 (zum Beispiel fehlt dort S. 405 Nr. 115.342 das eingangs erwähnte Cambridger Exemplar des Drucks von 1513). Das zeigen sowohl einzelne Druckorte als auch vor allem die Sammelbände, in die einzelne Comoedia-Oruckt früh aufgenommen wurden. Details in der Anm. 3 erwähnten Einführung.

Humanistische Bildungswerbung, schwäbisch len Gründen wird zu fragen sein; die generellen nennt ein anpreisender Vierzeiler, der dem zweiten Druck (Zwolle um 1506) vorangestellt ist: Q u i s q u i s amas Musas, Studium, d o c t a m q u e M i n e r v a m M o x fugias vulgus barbaricasque scholas. Bebeiii discas praecepta et culta magistri Per q u a e rite tibi consuluisse p u t o . 1 2

Als Instrument einer 'hochhumanistischen' Bildungspropaganda scheint die Comoedia zwei Jahrzehnte lang ihre guten Dienste geleistet zu haben, neben dem bereits kunstvoller entwickelten Versdrama vom Typus des Reuchlinschen Henno (1497). Dann aber, im Zeichen eines neuen, von den Glaubenskämpfen geprägten Schuldramas und eines reformatorisch neukonzipierten Unterrichts, wurde das Stück vorerst verabschiedet. Gerade seine ursprüngliche, dezidierte Zweckbindung ließ den Text jetzt als obsolet erscheinen. Bebels 'Nachruhm' verband sich, neben seinen vielfältigen Verdiensten im Kampf gegen die barbaries, für die nachfolgenden Jahrhunderte und bis in die Gegenwart hinein, mit seinen Facetiae·, jener amüsanten Sammlung von Schwänken und Anekdoten, die der ebenso scharf beobachtende wie ambitionierte Bebel, dem Vorbild Poggio Bracciolinis folgend, in 'saubere' lateinische Prosa gefaßt hatte (erschienen während der Jahre 1508 bis 1512). 13 Sie erlebten immer wieder Neuauflagen und Neudrucke, 1558 auch eine Verdeutschung unter dem Titel Geschwenck, und im 19. Jahrhundert wurden sie neben der Bebeischen Sammlung Proverbia Germanica (zuerst 1508) zum Ansatzpunkt für das neuerwachte Interesse an diesem schwäbischen Humanisten. 'Volkstümlich' oder auch 'volksverbunden' sind seither die Etiketten, mit denen man seine Position innerhalb der Bewegung des Hochhumanismus vorzugsweise zu bestimmen versucht. 14 Kaum aber erinnert man sich genauer der Tatsache, daß auch die Facetiae erst auf der Grundlage seiner jahrelangen Aktivität für die studia humanitatis entstehen konnten: seinem Unterricht, seinen Reden, Gedichten, Traktaten, Kommentaren und Lehrbüchern (Grammatik, Epistolographie, Poetik). Unter allen diesen, den Facetiae nach der herkömmlichen Perspektive 'vorauslaufenden' Werken ist außer der ständekritischen Verssatire Triumphus Veneris

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So der ('normalisierte') Text eines „Petri Nehemei Drolshagii Tetrastichon in laudem auctoris" auf dem Titelblatt des Bebel-Sammelbandes („Hoc in opusculo continentur [...]"). Neuere Ausgabe mit Einleitung und knappem Kommentar von Gustav Bebermeyer. Leipzig 1931; Übersetzung mit Kommentar von Albrecht Wesselski (wie Anm. 5). Zur gattungsgeschichtlichen Stellung Erich Straßner: Schwank. Stuttgart 2 1978, S. 60-64. Vgl. etwa Bebermeyer: Tübinger Dichterhumanisten, S. 9ff. Und die DDR-Position: Joachim G. Boeckh, Günter Albrecht, Kurt Böttcher et al.: Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 4: Von 1480 bis 1600. Berlin (-Ost) 1961, S. 162-164.

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(1509) 15 die Comoedia der vielleicht reizvollste Text. Er verdient eine 'Wiederbelebung'. Das Warum wird sich dann der Prüfung aussetzen müssen. In Form der Aufführung (erst Jahre später auch gedruckt) erblickte der Text zuerst das Licht der gelehrten Öffentlichkeit. Im Spätherbst des Jahres 1501 präsentierte ihn der stolze Poeta dem versammelten Tübinger Universitätssenat, in Anwesenheit des Kanzlers Johannes Vergenhans und einer - wie Bebel ausdrücklich hinzufügt 16 - dichtgedrängten Schar von Studenten. Doch vorweg wenigstens der Versuch eines Argumentum: Ein junger, begabter, lernbegieriger Bauernsohn von der Schwäbischen Alb, mit dem sprechenden Namen Vigilantius, hat den Partikularschulunterricht mit Erfolg absolviert und möchte jetzt unbedingt auf ein „gymnasium universale". Sein Vater Rapardus (der 'Rübenbauer') wendet sich an den Dorfgeistlichen als an die ihm zugängliche Instanz, läßt den Jungen prüfen, und der gelehrte Herr empfiehlt, für ihn einen geeigneten Lehrer zu suchen (1. Akt). Nach weiteren Zwischenstationen und mit notwendiger Hilfestellung durch Verwandte und Nachbarn bis hin zum Ortsvorsteher - die Welten liegen halt recht weit auseinander - gelangt der Vater mit seinem Sohn schließlich an einen vertrauenswürdigen Magister. Der läßt sich bewegen, den Jungen anzunehmen (2. Akt). Der Magister knöpft sich seinen neuen Schüler vor und weist ihn ausführlich ins Studium ein: in die Regeln eines sittlichen studentischen Lebenswandels und in das humanistische Lehrprogramm mit sauberer Latinität, vernünftiger Logik und einer durch die Poesie veredelten Beredsamkeit (3. Akt). Der eifrige Vigilantius begegnet einem eingebildeten scholastischen Typ namens Lentulus, der ihn in eine spitzfindige Disputation verwickeln will, aber selbst kaum ordentlich Latein reden kann. Ein königlicher Kanzlist (Aulicus Regis) wird hinzugezogen und preist die „studia politiora" als das wahre Mittel zum sozialen Erfolg. Er bestätigt die Macht der lateinischen Rhetorik und untermauert die moralische Würde der Poesie. Lentulus aber möchte auch noch

Hierzu jetzt scharfsinnig und kenntnisreich Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts. München 1971, S. 271-315. (zu begrüßen ist auch sein Plan einer Neuausgabe). So in der epistula dedicatoria an Ludwig Vergenhans. Den Zitatnachweisen aus der Comoedia wird im folgenden der Erstdruck (in 'modernisierter' Textform) zugrunde gelegt: De optimo studio iuvenum, enthalten in dem Bebel-Sammelband, dessen erster Titel: Oratio ad regem Maximilianum de laudibus atque amplitudine Germaniae, Pforzheim: Thomas Anshelm 1504 (auf dem Titelblatt, das die einzelnen Schriften verzeichnet, hat das Stück die Titelform Comoedia de optimo studio scboiasticorum), Bl. g iiij v bis i iiij r . Hinzugesetzt werden jeweils die Seitenzahlen der Reclam-Ausgabe (wie Anm. 3, zit. als „Reclam")

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einen 'Dichter' („Poeta") provozieren; der verteidigt sein Metier als einen Hort der Tugend und der Wahrheit, und Lentulus muß einlenken (4. Akt). Zwei Adepten verschiedener Philosophenschulen, hier gekennzeichnet als Scotist und Ockhamist, liefern sich ein erbittertes Wortgefecht und müssen den Dichter, der keiner 'Schule' angehört, als Schlichtungsinstanz anrufen. Der nun beschließt das Stück mit einer ausladenden declamatio, in der er die Notwendigkeit wissenschaftlicher Auseinandersetzung anerkennt, über allem aber zur persönlichen Hochachtung und humanen Hilfsbereitschaft unter den Gelehrten aufruft: „Habetis [...] eandem viam ad felicitatem, quam non nisi per pacem, per concordiam, per fraternum amorem consequi possumus"17 (5. Akt). Im Druck geht dem Spieltext eine ausführliche Widmungsvorrede an Ludwig Vergenhans voraus, den Kaiserlichen Rat, Stuttgarter Propst und Bruder des Tübinger Universitätskanzlers Johannes Vergenhans (Nauclerus); außerdem ein knappes, prosaisches „Argumentum comoediae" und ein Prolog „Ad spectatores" in sieben Distichen. Dem Prolog korrespondiert am Schluß des Ganzen ein „Ad spectatores epigramma" in vier Distichen. Auch diese Rahmentexte, natürlich außer der Widmungsvorrede, sind in der Aufführung als rezitiert zu denken.18 Der Binnentext selbst gliedert sich in fünf actus, ohne zusätzliche formale Bezeichnungen von scenae. Aber es gibt faktische szenische Untergliederungen durch Auftritte und Abgänge, besonders ausgeprägt in den beiden ersten Akten. Alle hier genannten Grundelemente - und viele weitere, bis in szenische Redewendungen wie „ecce", „video aliquem" und dergleichen19 — sind aus dem Bereich des Humanistendramas und seiner verschiedenen Typen vertraut. Sie begegnen, mit immer neuer Abwandlung und Zusammenstellung, in Wimpfelings Stylpho ebenso wie in Kerckmeisters Codrus oder in Grünpecks Comoediae duae (1497), in Lochers Historia de rege Franciae (1495) und in seiner Tragoedia de Thurcis et Suldano (1497) ebenso wie in Celtis' Ludus Dianae (1501), ja selbst in Reuchlins Sergius (1496) und dann im Henrto (1497). Sie sind oft beschrieben worden,20 auch in ihrer Abhängigkeit von der Palliata des Plautus und des

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Comoedia (wie Anm. 16) Bl. i iij v . Reclam, S. 70. Zu den Einzelheiten s. die Einführung in die Anm. 3 erwähnte Ausgabe. Im übrigen Wolfgang Ε Michael: Frühformen der deutschen Bühne. Berlin 1963, S. 81. Die handschriftlichen Zusätze des Cambridger Exemplars (wie Anm. 1) betreffen gerade auch diese Rahmentexte. Dies betrifft vor allem den szenischen 'Apparat' der drei ersten Akte, die beiden letzten werden dann 'abstrakter', deklamatorischer. Genannt seien hier nur Wilhelm Creizenach: Geschichte des neueren Dramas. Bd. 2. Halle 2 1918, S. 2 4 - 5 5 ; Heinz Kindermann: Theatergeschichte Europas. Bd. 2. Salzburg 1959, S. 2 3 9 - 2 6 7 ; Hans-Gert Roloff: Neulateinisches Drama, in: RL II ( 2 1965), S. 6 4 5 - 6 7 8 ; Hans Rupprich: Die deutsche Literatur vom späten Mittelalter bis zum Barock. Teil I. München 1970, S. 6 3 4 - 6 4 9 , auch Michael (wie Anm. 18), S. 67ff.

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Humanistische Pioniere Terenz; nicht einmal die berühmte recensui-Formel der Überlieferung hat sich der versierte Poeta Bebel am Schluß des Stücks verkneifen können. 21 Und daß die humanistischen Schülerdialoge, ihrerseits auf spätmittelalterlichen Vorformen aufbauend, hier eine wichtige - nicht nur gattungsgeschichtliche - Brükkenfunktion wahrnehmen, ist hinlänglich bekannt. 22 Allerdings läßt sich Bebels Comoedia vom Typus her noch eingrenzen. Sie enthält keine eingestreuten Verspartien, keine Chöre, bemüht keinen mythologisch-allegorischen Apparat wie etwa Lochers Judicium Paridis (1502) oder auch der Ludus Dianae des Celtis (1501). Und von der Thematik, auch vom Entstehungs- und Aufführungskontext her ist zu präzisieren: Es handelt sich um kein Festspiel in Anwesenheit Maximilians wie beim Ludus Dianae, auch um kein repräsentatives Historienstück wie bei Lochers Historia de rege Franciae (1495) oder seiner Tragoedia de Thurcis et Suldano (1497). Der kurze vergleichende Seitenblick auf die unmittelbar zeitgenössische Landschaft des Humanistendramas ist insofern von Bedeutung, als Bebel die meisten dieser Stücke offenbar kannte und zumindest von einigen wenigen seiner frühen Zuhörer und Leser auch daran gemessen wurde. Das Aufsehen, das sein Konkurrent Locher mit spektakulären Aufführungen im nicht fernen Freiburg erregt hatte, 23 war natürlich nach Tübingen gedrungen, nicht anders der jetzt auch 'theatralische' Ruhm des Celtis (der Ludus Dianae war gerade am 1. März des Jahres 1501 auf der Linzer Burg vor dem römischen König in Szene gesetzt worden). Und die meisten der genannten Stücke waren längst auch im Druck erschienen.24 Bebel entscheidet sich für den ganz einfachen, prosaischen, unaufwendigen Typus mit bildungsprogrammatischer Thematik, bestimmt zunächst für den innerakademischen Bereich. Sein wichtigstes Vorbild ist, wie viele Details zeigen, offenbar Wimpfelings Stylpho, den Bebel bereits in Basel kennengelernt haben muß. Der 'archegetische' Text war 1494 bei demselben Bergmann von

Vgl. die Lozierung der recensui-Formel am Schluß der conclusio in den beiden frühen Stylpho-Drucken von 1494 und 1495: Paul Bahlmann: Die lateinischen Dramen von Wimpfelings Stylpho bis zur Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. 1480-1550. Münster 1893, S. 7 sowie die Ausgabe Schnur (wie Anm. 8), S. 36. Zur recensui-Formel auch Michael (wie Anm. 18), S. 68 und 70. Aloys Börner: Die lateinischen Schülergespräche der Humanisten. Berlin 1897. S. auch Gerhard Streckenbach: Stiltheorie und Rhetorik der Römer im Spiegel der humanistischen Schülergespräche (Diss. Berlin 1931). Göttingen 1979. Locher berichtet darüber selbst, ähnlich wie Bebel, in verschiedenen — gewiß auch propagandistisch gefärbten - Zeugnissen, so in der praefatio zur Tragoedia de Thurcis et Suldano. Straßburg 1497, Bl. D vi" ff., wo er das „inusitatum Alemannis nostris scriptitandi genus" hervorhebt (Bl. D vi") und mehrfach die Begriffe spectaculum und theatrum verwendet. Vgl. die von Bahlmann (wie Anm. 21) gegebenen Überblicke.

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Olpe erschienen, bei dem Bebel 1496 die Cosmographia seines Krakauer Lehrers Laurentius Corvinus herausbrachte.25 Aber auch Kerckmeisters Codrus lag inzwischen im Druck vor (Münster 1485) ebenso wie Grünpecks Comoediae duae utilissime omnem latini sermonis elegantiam continentes (Augsburg 1497). Trotz solcher Vorreiter und Vorbilder innerhalb der res publica litteraria muß die Aufführung der Comoedia im Spätherbst 1501 — nicht nur der Andrang deutet darauf hin - eine kleine Sensation gewesen sein. So etwas, wie es Bebel ankündigte, hatte man in Tübingen noch nicht gehabt. Uberhaupt galt der 'Poet', der Vertreter der studia humanitatis, in Tübingen wie bekanntlich an vielen anderen Universitäten der Zeit als ein skeptisch zu betrachtender, wenn nicht gar zu bekämpfender Emporkömmling: jung, unerfahren, neumodisch wie die ganze Bewegung der humaniora selbst. So jedenfalls erschien es wohl der Mehrheit der Professoren und Studenten in den klassischen, den 'oberen' Fakultäten. Und man scheute sich auch in späteren Jahren nicht, den nach außen hin bereits anerkannten 'Poeten' Bebel spüren zu lassen, wie wenig man von ihm und seinem Metier hielt. Es kam auch zu konkreten Behinderungen, etwa dadurch, daß man ihm fur seine Vorlesungen Zeiten zuwies, in denen sie mit Pflichtveranstaltungen kollidierten.26 In der Bezahlung konnte er schon gar nicht mithalten. Während die Herren Lehrstuhlinhaber der Theologie schon von Amts wegen mindestens einhundert Gulden bekamen, hatte sich der Lektor der humaniora mit gerade zwanzig zu begnügen, ohne die lukrativen Möglichkeiten von Nebeneinnahmen, über die jene oft reichlich verfugten. Seine 'Zeitverträge' mußte sich Bebel bis wenige Jahre vor seinem Tod (1518) immer neu erkämpfen. Dabei war der Boden für die studia humanitatis in Tübingen, verglichen etwa mit Köln oder Prag, nicht einmal schlecht. Schon im Gründungskonzept von 1477 steckten bemerkenswerte humanistische Impulse.27 Die Mutter des Grafen Eberhard, Erzherzogin Mechthild von Österreich, im nahen Rottenburg residierend, war drei Jahrzehnte lang zu einem Mittelpunkt frühhumanistischer Bestrebungen in Südwestdeutschland geworden.28 An der Stiftung sowohl der

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Zu den näheren Umständen s. die in Anm. 3 erwähnte Einführung. Genaue bibliographische Angaben im Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 7 (1938), Nr. 7 7 9 9 (Sp. 182f.). Η aller (wie Anm. 5) Bd. 1, S. 226. Waldemar Teufel: Die Gründung der Universität Tübingen. Wagnis und Gelingen - Anstöße und Vorbilder. In: Beiträge zur Geschichte der Universität Tübingen 1477 bis 1977. Hrsg. v. Hansmartin Decker-Hauff u. a. Bd. 1. Tübingen 1977, S. 3 - 3 2 ; Walter Jens: Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik. München 1977, S. 1 1 - 3 3 ; Haller (wie Anm. 5) Bd. 1, S. 1 1 - 5 0 ; auch S. 2 0 8 - 2 3 5 . Teufel (wie Anm. 27), S. 19ff.; knapp zusammenfassend, auch über die Beziehungen zu Niclas von Wyle und anderen Frühhumanisten, Eckhard Bernstein: Die Literatur des deutschen Frühhumanismus. Stuttgart 1978, S. 44—62 (mit der älteren Forschungsliteratur).

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Freiburger (1457/60) wie der Tübinger Universität war sie maßgeblich beteiligt. Und Eberhard gewann als seinen Gründungsrektor, dann Universitatskanzler und wichtigsten Berater in Bildungsfragen, Johannes Vergenhans (Nauclerus, 1425-1510), der in Paris und Basel seine Karriere begonnen hatte. Basel, die Gründung des Jahres 1460, wurde überhaupt zu so etwas wie einer 'Amme' der Tübinger Hohen Schule - nicht nur, aber auch in Fragen der humaniora. 29 Die Basler Universitätsverfassung fungierte als wichtiges Vorbild, von Basel kamen außer Johannes Vergenhans und anderen vor allem Johannes Heynlin von Stein, der große Theologe und Prediger, der ja auch zu den Lehrern Sebastian Brants gehörte. Basel wurde schließlich zum Sprungbrett für den jungen Bebel, der zwar den Glanz einer großen Universität mit starker humanistischer 'Fraktion zuerst in Krakau kennengelernt hatte (seit 1492), dann aber (1495) doch in den deutschsprachigen Südwesten zurückgekehrt war, in die blühende Stadt des Handels und der Musen, wo er sich auch die ersten Sporen als Lehrender in der ars epistolandi verdiente. Die institutionelle Entwicklung der studia humanitatis vollzog sich in Basel und Tübingen ungefähr analog,30 auch in Basel gab es Verzögerungen und konkrete Behinderungen. Erst 1474, vierzehn Jahre nach der Gründung, wird in Basel eine Lektur für Poesie erwähnt; hier hatte freilich schon 1464 Peter Luder als Stipendiat ein kurzes Gastspiel gegeben. Für Tübingen verzeichnet die sogenannte 'Erste Ordnung' des Grafen Eberhard vom Jahre 1481 bereits eine Stelle fur einen, „der in Oratorien lyset",31 also eine humanistische Lektur, aber sie wurde zunächst wohl nicht besetzt. Die 'Zweite Ordnung' von 1481 zielt dann schon genauer auf einen, „der vngeuärlich liset in oratoria moralibus oder poetrij". 32 Auch sie blieb offenbar vakant. Möglicherweise hat sich Jacob Locher aus Ehingen an der Donau, also ein sehr enger Landsmann Bebels, um das Jahr 1492 einmal für die Stelle interessiert oder gar beworben. 33 Erobert hat sie schließlich, fast zwei Jahrzehnte nach der Universitätsgründung, der Sohn der Schwäbischen Alb, um 1472 auf dem Gut Bewinden bei Justingen geboren und

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Vgl. die Anm. 27 genannten Arbeiten; zusätzlich Edgar Bonjour: Die Universität Basel von den Anfängen bis zur Gegenwart. Basel 1960, S. 94—96. Zur Geschichte der humanistischen/rhetorischen Lehrstühle s. Verf.: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 418—425; ders.: Einleitung in: Christoph Kaldenbach: Auswahl aus dem Werk. Hrsg. von W. B. Mit einer Werkbibliographie von Reinhard Aulich. Tübingen 1977, S. XXVII-XLII. [Rudolf Roth:] Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen. Aus den Jahren 1476 bis 1550. Tübingen 1877, S. 71. [Roth] (wie Anm. 31), S. 85. Immatrikulation in Tübingen als „poeta" am 24. Juni 1492. Hierzu Günter Heidloff: Untersuchungen zu Leben und Werk des Humanisten Jakob Locher Philomusus (1471-1528). Diss. Freiburg i. B. 1975, S. 415.

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inzwischen, nach Besuch der Stadtschule in Schelklingen sowie der Universitäten Krakau und Basel, zu einem talentierten und ehrgeizigen jungen 'Poeta herangewachsen. Beziehungen, Weiterempfehlungen — hier deutet sich wieder ein autobiographischer Aspekt der Comoedia an - benötigte der aus bäuerlichen Verhältnissen Stammende besonders dringend. Er hat sie sich zu schaffen vermocht: durch sein dezidiertes Schwabentum, durch die vielfältigen Verbindungen zwischen Basel und Tübingen, durch schmeichlerische Poeme auf führende Tübinger Professoren, und nicht zuletzt durch Lobgedichte auf den Grafen (dann Herzog) Eberhard von Württemberg. Diese Carmina erschienen im Jahr der Berufung 1496 bei einem Drucker der Nachbarstadt Reutlingen (Greyff), 34 sie haben ihre Funktion offenbar zur Zufriedenheit erfüllt. Ein Gönner aus der Basler Zeit, der Kanonikus Hartmann von Eptingen, erweist ihm noch im gleichen Jahr die Ehre als dem „Ordinario lectori poetices in universitäre Thubingensi Zwischen dem mit kräftigem Anlauf versehenen 'Sprung' nach Tübingen und der Aufführung der Comoedia im Spätherbst des Jahres 1501 liegt ein halbes Jahrzehnt intensiver, fleißiger, nach und nach auch erfolgreicher Kultivierungsarbeit — so jedenfalls wäre es aus Bebels Perspektive von barbaries und latinitas zu nennen. Er baut von unten auf, von der Grammatik über die Briefschreibelehre bis zur Poetik (daraus entstehen dann später seine Lehrbücher),36 so wie es auch die meisten anderen 'Poeten' seit den Tagen Peter Luders mehr oder weniger konsequent getan hatten. Und von Zeit zu Zeit setzen programmatische orationes oder declamationes, etwa zu Beginn einer neuen Vorlesung, werbende Akzente: De utilitate linguae latinae,37 Apologia et defensio poeticae et oratoriae maiestatis,38 und ähnliches. Davon kann hier nicht des näheren die Rede sein. Wie aber kommt Bebel dazu, auf einmal nach fünf Jahren der erstaunten Universitätsöffentlichkeit eine comoedia zu präsentieren? Mußte er nicht gera-

Genaue bibliographische Angaben im Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 3 (1928), Nr. 3751 (Sp. 584f.). In der Dankepistel für die Widmung der Cosmographia des Laurentius Corvinus (Basel 1496), dort Bl. g vi v . Die Titel und die Drucke sind zusammengestellt bei Goedeke 2 I, S. 437ff.; Deutscher Gesamtkatalog. Bd. 14 (1939), Sp. 158ff.; Index Aureliensis. Prima Pars A/10 (1966), S. 399ff. Erweiterter Titel: „[...] et unde eruditi eloquentesque evadamus", so in dem Bebel-Sammeldruck Zwolle um 1506, der auch die Comoedia enthält (s. Anm. 9; dort mit der Gattungsbezeichnung „Dialogus"). So, wiederum als zweiter Titel eines Bebel-Sammelbandes, im Anschluß an den Liber hymnorum in metra noviter redactorum. Tübingen 1501.

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de hierbei den Widerstand der Skeptiker, ja seiner Gegner herausfordern und furchten? Direkt äußert er sich dazu nicht. Aber die indirekten Hinweise sprechen eine eindeutige Sprache. Zu Pfingsten des gleichen Jahres war er von König Maximilian höchstselbst in Innsbruck zum poeta laureatus erhoben worden, im Anschluß an eine große patriotische, kulturpolitisch getönte Oratio ad regem Maximilianum de laudibus atque amplitudine Germaniae. Der Text der Rede ist dem Sammelband vorangestellt, der 1504 in Pforzheim (bei Anshelm) erschien und auch den Erstdruck der Comoedia enthält.39 Bebel hatte mit der Ehrung den Gipfelpunkt seiner Reputation als Humanist erreicht, wenngleich der Dichterlorbeer seit der heroischen Frühzeit eines Petrarca (1341) und Enea Silvio Piccolomini (1442), dann auch seit der Krönung des Conrad Celtis (1487) einiges von seinem Glanz eingebüßt hatte. Aber noch war die eigentliche Inflation des Titels, wie sie spätere Jahrzehnte und vor allem das 17. Jahrhundert kennzeichnete, nicht ausgebrochen.40 Bebel stand in einer illustren Reihe. Tübingen konnte, ja mußte auf seinen poeta laureatus stolz sein. Bebels Position war jetzt auch nach innen, im Rahmen der universitären Korporation, deutlich gefestigt, selbst wenn manche das vielleicht nur zähneknirschend zur Kenntnis nehmen mochten. Mehrere der bereits erwähnten Humanistenkomödien waren von poetae laureati verfaßt oder gar der Ehrung unmittelbar vorausgegangen, so Lochers Tragoedia de Thurcis et Suldano (1497), Grünpecks Virtus et Fallacicaptrix (eine der Comoediae duae, ebenfalls 1497); und noch am 1. März 1501 hatte der poeta laureatus Celtis den Humanistenpatron Maximilian mit dem Ludus Dianae gefeiert. Bebel hatte sich, die 'Vorleistung' für die Dichterkrönung ausnahmsweise durch eine Oratio erbringend, dem König erfolgreich präsentiert. Das war nun vorbei. Aber warum nicht die Chance wahrnehmen und einen ludus oder eine comoedia gewissermaßen nachschieben? Die Universität konnte sich einem entsprechenden Wunsch des frisch Geehrten, zumal Präzedenzfälle wie Wimpfeling in Heidelberg und Locher in Freiburg vorlagen, kaum verschließen. Weiteres kam hinzu. Einer der Vermittler zu Maximilian und zugleich Augenzeuge der Innsbrucker Ehrung war kein geringerer als Ludwig Vergenhans gewesen

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Zur Verbreitung dieses Drucks vgl. die Angaben im Index Auretiensis. Prima Pars A/10 (1966), S. 400, Nr. 115.309 (bei der Titelaufnahme ist ausgerechnet die Comoedia ausgelassen worden). Karl Schottenloher: Kaiserliche Dichterkrönungen im Heiligen römischen Reiche deutscher Nation, in: Papsttum und Kaisertum. Forschungen zur politischen Geschichte und Geisteskultur des Mittelalters. Paul Kehr zum 65. Geburtstag dargebracht. Hrsg. v. Albert Brackmann. München 1926, S. 648—673; Theodor Verweyen: Dichterkrönung, in: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Hrsg. v. Conrad Wiedemann. Heidelberg 1977 (GRM Beiheft 1), S. 7 - 2 9 .

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(nach 1425-1513), der Bruder des Tübinger Universitätskanzlers.41 Die epistula dedicatoria zur Comoedia spinnt diese Fäden voll aus und verpflichtet, mit dem Dank an den Gönner, zugleich den wichtigsten Mann der Universität. Gegenüber Ludwig spricht er „de liberalitate et humanitate, qua consequeris omnes bonarum artium studiosos".42 Und er gedenkt der persönlichen Wohltaten „fratris tui Ioannis Naucleri omnium litterarum antistitis et patroni".43 Maximilian jedoch, als oberster patronus, wird nicht nur in der Vorrede mit respektvollem Abstand - und aufgrund Innsbrucker Autopsie! - verehrt, er ist auch im Stück selbst präsent. Neben dem Poeta ist der Aulicus Regis die strahlendste Gestalt, er verkörpert die Synthese höfischer Weitläufigkeit und humanistischer Würde, er verbürgt die Nützlichkeit der humaniora auch in der politisch-praktischen Welt. Und er ist es schließlich, der als abschreckendes Exempel jenen Innsbrucker Vorfall berichtet (4. Akt), bei dem ein Bittsteller vom Kardinal Raimundo brüsk zurückgewiesen wird, schon weil er lediglich „corrupte et barbare" Latein reden kann.44 Das Podium für Bebels humanistische Bildungswerbung ist geschickt aufgebaut und mit vielen Strebepfeilern abgestützt. Erst wenn man sich die in der Tat vielschichtigen Voraussetzungen vergegenwärtigt, wird die Besonderheit des eigentümlichen Stücks De optimo studio iuvenum voll erkennbar: bildungsgeschichtlich, sozialgeschichtlich, institutionengeschichtlich, gattungsgeschichtlich. Wenn Bebel von seinem Fach spricht, spricht er immer zugleich von sich selbst, seinen Zielen und Interessen; das gilt für die Humanisten der ersten Generationen überhaupt - und natürlich nicht nur für sie. In Bebels Comoedia wird dies am deutlichsten an der Figur des Poeta. Auf ihn läuft die gesamte Argumentationskette des Stücks zu, er beschließt es mit seiner großen declamatio, und seine Rolle ist vermutlich von Bebel selbst auch gespielt worden.45 Die fiktive - und zugleich autobiographisch getönte - Welt dieser Comoedia ist zwar bereits Szene um Szene ganz auf die Bildungswelt bezogen, ähnlich wie in Wimpfelings Stylpho, in Kerckmeisters Codrus oder auch in Grünpecks Comoe-

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Ein anderer war Matthäus Lang, einflußreicher Geheimschreiber Maximilians (später Bischof von Salzburg, dann Kardinal); ihm widmet Bebel die vor Maximilian gehaltene Oratio. Comoedia (wie Anm. 16) Bl. g v r . Reclam, S. 8. Ebd. Dem Bruder Johannes gilt eine in manchen Punkten recht ähnliche epistula dedicatoria zum Liber hymnorum (Tübingen 1501). Comoedia Bl. h vi v . Reclam, S. 54. Das 'Mitspielen in herausragender Position haben manche von Bebels Humanistenkollegen durchaus nicht verschmäht: Beim Ludus Dianae traten sie gleich zu mehreren an (darunter Celtis, Grünpeck, Lang), sogar Maximilian selbst wurde vorübergehend einbezogen; Angaben zu den Stücken Lochers und Grünpecks deuten darauf hin, daß auch diese poetae laureati offenbar Rollen übernommen haben.

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Humanistische Pioniere diae duae. Am Schluß aber tritt der Poeta - mit seiner eigenen Dichtungstheorie (4. Akt) zu reden - aus den „figurationes", dem „color", der „fictio" heraus und wendet sich ostentativ in die Gegenwart der universitären Zuschauer. Er ist in persona der bestallte 'Poet', wie die eingebürgerte Bezeichnung seit den Tagen des Frühhumanismus lautet. Von der Funktion her nimmt die Comoedia ziemlich genau den Platz ein, der traditionell den großen Programmreden der humanistischen Poeten zukommt, sei es von Semester zu Semester, sei es in Form der Antrittsvorlesung: Peter Luders Oratio habita coram tota universitate almi studii Heydelbergensis (1456), in Erfurt und Leipzig dann variierend wiederholt, Lochers Freiburger Oratio de studio humanarum disciplinarum et laude poetarum (1496), Melanchthons Wittenberger Antrittsrede De corrigendis adolescentiae studiis (1518), oder auch Bebels eigene Oratio de utilitate linguae latinae (1504), die in der Überlieferungsgeschichte vorzugsweise direkt im Anschluß an die Comoedia gedruckt begegnet.46 Der Titel De optimo studio iuvenum (scholasticorum) könnte genauso gut der einer Rede oder eines Traktats sein. Die Funktionsübergänge zwischen comoedia und oratio haben auch, aber nicht nur einen gattungsgeschichtlichen Aspekt. Die auffällige Titelform Comoedia velpotius dialogus de optimo studio scholasticorum in dem Straßburger Druck von 1513 (Schürer) hat man gerne und zu Recht als ein Indiz für die Übergangssituation und für die Nähe zur Gattung der Schülerdialoge gedeutet. Mindestens ebenso interessant ist sie als Hinweis auf den Verwendungszusammenhang: comoedia, dialogus und oratio als Zweckformen im Dienst der gleichen Bildungspropaganda.47 Im übrigen formuliert Wimpfeling implizit ein ähnliches Problem, wenn er, im Rahmen seiner Promotionsrede (!), sein Stück als „fabulam, quin potius historiam" ankündigt.48 Die dort am Schluß angehängte „conclusio vatis" samt „finis" mit Prosa- und Vers-Mischung entspricht recht genau der Schluß-adhortatio und dem „ad spectatores epigramma" bei Bebel (der Codrus dagegen hat beispielsweise nichts dergleichen, auch nicht die beiden comoediae Grünpecks).49 In welche Richtung aber geht Bebels humanistische Bildungswerbung, wie verläuft die persuasio, und wer sind im einzelnen die Adressaten? Findet sich 46 47

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So in den Drucken Zwolle um 1506, Braunschweig 1509, Straßburg 1513. Die vielleicht aufschlußreichste Parallele bieten die Werke Lochers mit ihrer Vielfalt von Gattungen, deren Bezeichnungen in den Drucken auch schwanken („oratio", „declamatio", „comoedia", „spectaculum", „tragoedia", „dialogus" etc.). Ausgabe Schnur (wie Anm. 8), S. 6. Beim Codrus folgt auf das „valete, valete" nur noch eine redaktionelle Notiz. Bei beiden comoediae Grünpecks spricht eine der Figuren des Stücks das „(valete et) plaudite", angeschlossen ist jeweils eine Notiz zur Aufführung.

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hier in Formelementen und Argumentation nur gewissermaßen die Koine des Hochhumanismus? Drei ausgewählte Aspekte sollen jetzt, um die Eigentümlichkeit der Bebeischen Comoedia noch präziser zu fassen, auf dem hier entwikkelten autobiographischen und Epochenhintergrund betrachtet werden: Rolle und Einschätzung der Poesie, die auffällig 'pazifistische' Tendenz des Stücks, schließlich das Ländliche, Regionale, auch das 'Schwäbische'. Uber die Weite des Begriffs 'Poesie' im Früh- und Hochhumanismus, wie sie sich nicht zuletzt in der Synonymik von 'Poet' und 'Vertreter der humaniora' niederschlägt, hat man sich oft genug verwundert, vor allem wenn man den notgedrungen begrenzten Anteil der Poesie an den konkreten Aktivitäten der Humanisten bedenkt. So ist es zunächst auch in Bebels Comoedia. Das Ziel der neuen, der wahren Ausbildung heißt, verkündet vom Dorfgeistlichen über den Magister bis zum Aulicus Regis und zum Poeta, mit nur geringen Variationen: eloquentia. Ihr Fundament ist eine saubere, klassische latinitas; und eine vernünftige logische Schulung — nicht aber die ausufernde Syllogistik - wird zugelassen. Lektüre der großen Dichter, namentlich Vergils, dient unter dem Gesichtspunkt der eloquentia einem Zuwachs an nitor, an spiritus. 50 Das alles ist wenig überraschend, die Dichterlektüre zur Pflege der elocutio gehört gewissermaßen zur communis doctrina, zum Grundbestand der Argumentation auch etwa schon in Peter Luders Heidelberger Programmrede von 1456. 51 Die Heftigkeit, ja die Leidenschaftlichkeit aber, mit der die Poesie als solche verteidigt wird, durch den Aulicus Regis und den Poeta im 4. und 5. Akt, erklärt sich erst aus den schwergewichtigen Angriffen gegen sie. Schon zu Anfang des Stücks berichtet Vigilantius dem Dorfgeistlichen, in der Schule hätten sie einen Lehrer, „qui dissuadet nobis poetas"; 52 der Junge treibt aber aus eigener Neigung heimlich Dichterlektüre und ist also gewissermaßen schon der geborene humanistische Musterschüler. Die volle Wucht der Ressentiments gegen die Poesie zeigt sich dann im 4. Akt bei Lentulus als dem Vertreter des 'scholastischen' Konzepts, bereits in der Weise, wie er dem Vigilantius das „Tace, poeta!" ins Gesicht schreit. Durch seine Borniertheit und sein schlechtes Latein ist er freilich, als Geschöpf Bebels, von vornherein in einer aussichtslosen Position, nicht anders als bei den Küchenlatein-Satiren in manchen humanistischen Schülerdialogen, in Kerckmei-

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Ausführliche Behandlung aller dieser Fragen insbesondere im Opusculum, qui auctores legendi sint ad comparandam eloquentiam (dem Erstdruck der Comoedia Pforzheim 1504 im Sammelband vorangehend!). Abgedruckt bei Wilhelm Wattenbach: Peter Luder, der erste humanistische Lehrer in Heidelberg, in: Zeitschr. f. d. Gesch. d. Oberrheins 22 (1869), S. 100-110; hier S. 105f. Comoedia (wie Anm. 16) Bl. h Reclam, S. 22.

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sters Codrus oder dann in den Epistulae obscuromm virorum. Trotzdem, die beiden Haupteinwände (die ihrer Tendenz nach gewiß auch von manchem der Bebeischen Zuhörer geteilt wurden) sind altehrwürdig und gewichtig: Die Dichter lügen, und sie verführen zur Unmoral. Hier holen beide 'Verteidiger' weit aus; und nicht zuletzt angesichts der zahllosen Affären und Skandale eines Peter Luder, Conrad Celtis oder auch Jacob Locher mag man die 'Beweislast' abschätzen, die Bebel spürt. Jetzt spricht der Verfasser des frühen Hexameterdialogs Contra vituperatores studiorum humanitatis (1495), der großen Apobgia et defensio poeticae ac oratoriae maiestatis (1501) und noch der decouvrierenden Fazetie De contemptoribus poetices (1508). 53 Schon beim Versprolog zur Comoedia fällt auf, wie nachdrücklich Bebel ausbreitet, was alles der actor nicht bringen werde: keine „illecebrae Venericae", keine „castra Priapi" und so fort. 54 Es ist offenkundig, daß er hier vor allem auf die römischen Elegiker zielt, möglicherweise auch auf einige der neueren 'Liebespoeten'. Der Aulicus Regis und der Poeta leisten im 4. Akt die Apologie mit verteilten Rollen. Originalität der Argumente braucht man gewiß nicht zu suchen, aber die 'Dramaturgie' ist interessant. Ausgerechnet der Vertreter der politischen Praxis bringt den Gedanken, daß ja auch die Bücher der Bibel, besonders die des Alten Testaments, Verbrechen, Greuel und Anzügliches erzählen und daß man ja diese Bücher deshalb nicht etwa ächten könne. So liest man es auch schon in Peter Luders Antrittsrede.55 Aber der Aulicus Regis baut das Argument rhetorisch so sehr aus (durch anaphorische Reihungen, durch cumulatio, climax und ähnliches),56 daß es einen ganz ungewöhnlichen Nachdruck erhält; die anwesenden Herren von der Theologie - vielleicht nicht nur sie - werden das so kaum ohne Stirnrunzeln angehört haben. Der Poeta preist vor allem die Tugendorientierung der Dichter und der Dichtung, ja ihre aktive Bekämpfung des Lasters, freilich „praeter solos elegiographos"57 - geschickt beweist Bebel, daß er zu differenzieren versteht. Die Dichtung sei, so nimmt er einen alten Topos auf, sogar eine „prima philosophia" in dem Sinne, daß sie bereits den Heranwachsenden die Grundsätze sittlichen Handelns in faßlicher Form vermittle. Bebel hat diese Position in ande-

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Der Titel der frühen Schrift lautet verschiedentlich auch Egloga contra vituperatores poetarum (mehrfach in den Opuscula nova gedruckt, seit 1509). Die Apologia et defensio, gerichtet „ad iuventutem Germaniam", erscheint zuerst angedruckt an den Liber hymnorum (Tübingen 1501). De contemptoribus poetices in den Facetiae, Ausgabe Bebermeyer (wie Anm. 13), S.17f. (im Kommentar S. 177 weitere Hinweise auf Fazetien dieses Themas). Comoedia Bl. g vv. Reclam, S. 14. Wattenbach (wie Anm. 51), S. 106f. Comoedia Bl. h viv. Reclam, S. 56. Comoedia Bl. j v . Reclam, S. 60.

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ren Schriften, besonders in De institutionepuerorum und Qui auctores legendi sint ad comparandam eloquentiam (1504), näher begründet. 58 Hier, bei der pädagogischen Rechtfertigung und Verankerung der Poesie, wagt sich Bebel recht weit vor, gemessen an anderen Propagatoren der studia humanitatis. Kerckmeister im Codrus und Grünpeck in den Comoediae duae verkünden Würde und Wert der Poesie keineswegs so emphatisch und tugendbetont, und im Stylpho, dem anderen Stück von der humanistischen 'Karriere', spielt die Poesie nur ganz am Rande eine Rolle (die poesiegetränkten Chorpartien des Henno, ähnlich auffällig, gehören zu einem ganz anderen Komödientypus). Die beiden 'konservativer' eingestellten Freunde Wimpfeling und Brant äußern bekanntlich erhebliche, vor allem moralische Bedenken, und Wimpfelings Adolescentia (1500) zieht den Kreis der zu lesenden Dichter recht eng, unter klarer Bevorzugung der christlichen. 59 Daß Bebel sich in der Verteidigung der Poesie vergleichsweise stark exponiert, muß freilich im Zusammenhang der Gesamtstrategie gesehen werden, mit der er in der Comoedia humanistische Bildungswerbung betreibt. Fast aufdringlich wirkt, besonders gegen den Schluß hin, die versöhnlerische Tendenz, die der Poeta verkündet und durch Handeln verkörpert. Das Motiv hat mit dem Handlungsstrang 'Karriere des Vigilantius' auf den ersten Blick wenig zu tun, es wird jedoch schon in dem sehr knappen Argumentum eigentümlich überproportional, fast predigend herausgestellt: „fitque pax et amicitia, quibus nihil in humanis excogitari melius potest". 60 Der ganze Schluß scheint 'angehängt'. Trotzdem, vergleicht man das Stück mit anderen dieses Typus, besonders wieder mit dem Exempel Stylpho und auch mit dem Codrus, so zeigt sich eine fast pazifistische Gesamttendenz. Die kritisch-satirische Darstellung der zu überwindenden Gegenpositionen, üblicherweise ein wichtiges Moment der humanistischen Selbstpräsentation, bis hin zu den Epistulae obscurorum virorum, ist stark zurückgenommen. Der einzige Vertreter des Klerus in diesem Stück, der Dorfgeistliche, stellt ganz im Gegensatz zur oft scharfen Kleruskritik auch bei Bebel {Facetiae, Triumphus Veneris) eine durchaus vorbildhafte Figur dar.61 Er ist nicht

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Die beiden Schriften sind, zusammengedruckt mit der Comoedia (vierter Druck), am günstigsten zugänglich in dem Sammelband, dessen erster Titel das Opusculum [...] de institutione puerorum bildet (Straßburg 1513). Hierzu erschöpfend Otto Herding in der Einleitung zu seiner Ausgabe von Jakob Wimpfelings Adolescentia. München 1965 (zu Bebel S. 71-74). In Bebels Comoedia wie in seinen Reden und Traktaten werden freilich in breitem Umfang auch die Kirchenväter als Muster und Autoritäten herangezogen, nicht zuletzt in ihrer Hochschätzung heidnischer antiker Autoren. Comoedia (wieAnm. 16) Bl. g vv. Reclam, S. 12. Seine Bezeichnung als dramatis persona ist charakteristischerweise durchgängig „philologus", nur durch andere Figuren wird er mehrfach auch „pastor reverendus" genannt.

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nur verantwortungsbewußt und hilfsbereit, sondern verkündet bereits im 1. Akt nahezu humanistische Bildungsideale, verbunden mit einer deutlichen Verurteilung des Doctrinale von Alexander de Villa Dei. Man möchte vermuten, Bebel habe ihn ostentativ als Gegenfigur zu dem bildungsfeindlichen Dorfpfarrer Lampertus im Stylpho angelegt (allerdings sticht dort wenigstens der Bischof Assverus durch Hochschätzung der Wissenschaft hervor, als Randfigur dem Kardinal Raimundo in der Erzählung des Aulicus Regis vergleichbar). Im Stylpho wird der Titelheld zuletzt in die Tiefe gestoßen, als Schweinehirt muß er sein Leben fristen. Im Codrus wird die ungehobelte Titelgestalt von den durch die humaniora aufgeklärten Studenten mit Hohn und Spott übergössen,62 als Opfer eines makabren Promotionsrituals. Nichts von alledem bei Bebel. Zwar enthält die Partie des Lentulus einige der von den humanistischen Schülerdialogen her üblichen Lateinschnitzer, Germanismen, gedanklichen Ungeschicklichkeiten, und er ist voll bornierter Ressentiments gegenüber den studia humanitatis, besonders aber gegenüber den poetae (Lentulus ist ja bereits eine stereotype Negativfigur im berühmten Latinum ideoma von Laurentius Corvinus, Bebels Krakauer Lehrer). Doch er kommt schließlich, mit Hilfe des Aulicus Regis und des Poeta, zur Einsicht. Die beiden streitsüchtigen 'Philosophen' Chrysippus und Leucippus müssen zwar szenisch, zur Gaudi der Zuschauer, ihren Grobianismus und den Leerlauf ihres disputatorischen Verfahrens offenbaren. Doch endlich bitten sie den Poeta - "quoniam nulli sectae addictus es" 63 - um Vermittlung und Entscheidung, und sie geben ihm damit das Stichwort zu seiner versöhnenden Schlußrede. Bildungskritik und Sprachsatire als zwei Hauptelemente - nicht nur - dieses Typus der Humanistenkomödie sind zwar deutlich von Bebel eingesetzt, aber auffällig zurückhaltend und immer gleich mit dem Ansatz zur positiven Wendung. Und mit vollem Recht kann er im Schlußepigramm behaupten, er habe sein Urteil über die beste Art des Studiums ohne Gehässigkeit, „tetro sine feile" dargelegt. Um so gewichtiger ist seine Aufforderung insbesondere an die jungen Zuhörer, den Dichter vor Mißgunst zu schützen: I m b e r b e s t a n d e m iuvenes d e f e n d i t e v a t e m vestra p r o c u r a n t e m c o m m o d a ab i n v i d i a . 6 4

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Von vornherein wird die Titelfigur als „monstrum" präsentiert, bereits im Argumentum (Ausgabe Mündt, S. 1). Codrus selbst sagt treffend: „Sunt illi studentes? Sunt diaboli, sunt canes infernales" (S. 93). Comoedia Bl. i ij v . Redam, S. 66. Comoedia Bl. i iij v . Redam, S. 70.

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Die Identifikation von Mann und Metier, die Wahrnehmung auch höchstpersönlicher Interessen in diesem autobiographisch untermauerten Stück Bildungswerbung sind unverkennbar. „Pax et amicitia" können dem jungen 'Poeten' nur nützen. Sie tragen jedoch auch einen speziellen Tübinger Akzent. An kaum einer anderen deutschen Universität jener Jahre um die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert hatten die großen gegnerischen 'Schulen' und Strömungen wie Nominalisten und Realisten, antiqui und moderni zu einer so ausgeprägten Koexistenz gefunden wie in Tübingen. Während Köln als Hochburg des Obskurantismus galt, in Heidelberg die humanistischen Bestrebungen empfindliche Rückschläge erlitten hatten, in Basel Nominalisten und Realisten sich zum Teil erbittert bekämpften, war in Tübingen „concordia discors" die herrschende Devise: zweifellos auch ein Verdienst der geschickten, vermittelnden Politik des Grafen Eberhard und seines Kanzlers Johannes Vergenhans.65 Bekanntestes Beispiel für die Tübinger Verhältnisse war die Konstruktion der Burse mit zwei (noch heute zu besichtigenden) Treppenaufgängen, einem für die Nominalisten, einem für die Realisten — aber unter einem Dach. Bebel hat sich also auch in diesem Sinne zu einem 'Tübinger' entwickelt, man nenne seine in der Comoedia vertretene Position irenisch, vermittelnd oder auch versöhnlerisch. Ein Mann wie Frischlin — der freilich ein offizieller' Nachfolger Bebels nie werden durfte - beleuchtet mit dem scharfen, unerbittlichen Humanistenspott seines Priscianus vapulans (aufgeführt in Tübingen zum Jubiläumsjahr 1577/78) Jahrzehnte später die so vergleichsweise friedliche Rolle des ersten bestallten Tübinger Humanisten. Der Grundzug der Comoedia und mancher der Bebeischen Programmschriften zur conciliatio, zur Herauskehrung des Positiven, Lebensnahen, zum Ethos des vorbildhaften Lehrers, zur verantwortungsvollen Moralität (hier liegt wohl auch eine der Wurzeln des Interesses auf Seiten der Devotio moderna) rückt ihn in die Linie, die am glanzvollsten und überzeugendsten der nur wenig ältere Erasmus und Bebels Tübinger 'Schüler' Melanchthon66 vertreten haben. Von außen aber, aus der Perspektive der viri obscuri, rechnete Bebel zusammen mit Melanchthon, Brassicanus (auch einem Bebel-'Schüler') und anderen

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Haller (wie Anm. 5). Bd. 1, S. 2 0 8 - 2 3 5 ; Jens (wie Anm. 27), S. 2 4 - 3 3 . 'Schüler Bebels war er nur in einem recht äußerlichen Sinn. Er hat den 'Poeten' gehört, auch geschätzt, ihm ein ehrendes Grabepigramm geschrieben ( C R X, S. 479), doch von Prägung kann wohl keine Rede sein. Vgl. die gut abwägende Darstellung von Wilhelm Maurer: Der junge Melanchthon zwischen Humanismus und Reformation. Bd. 1. Göttingen 1967, S. 29ff. Stark einschränkend zu Bebels Bedeutung und zum 'Mythos' des Tübinger Humanismus: Heiko Augustinus Oberman: Werden und Wertung der Reformation. Tübingen 1977, S. 17ff.

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schlichtweg zum Tübinger „Poeten-Pack".67 Von außen blickt auf Tübingen auch Lentulus, der „sophista", zu Beginn des 4. Akts der Comoedia. Bebel hat den Schauplatz nicht näher festgelegt, wohl mit Absicht, um den generellen Anspruch seines Konzepts hervorzukehren. Er hat nur eine ganz bestimmte Universität ausgenommen. Lentulus mag studiert haben, wo er will. Aber woher kommt Vigilantius, der standhafte und versierte Repräsentant der studia humanitatis? „ExTubingen". 68 Das ist, je nach Gesichtswinkel, Reverenz gegenüber der eigenen akademischen Korporation, Schmeichelei oder auch Stolz auf das bereits Geleistete. In jedem Fall gehört es zu jenen charakteristischen Elementen, die das Stück aus dem humanistischen Niemandsland herausheben und auch geographisch fixieren. Dem Stichwort „Tübingen" korrespondiert, als Hinweis auf die Heimat des Vigilantius, der Name „Ingstetten" - man kann das als naiv oder rührend empfinden, denn wer außerhalb des engeren Tübinger Umkreises wußte damit etwas anzufangen! Der Name fällt zweimal im Zusammenhang jenes wichtigen Mannes (Hipponomus), der den entscheidenden Kontakt zwischen Dorfwelt und Universitätswelt herstellt, aufgrund seiner früheren weltläufigen Beziehungen als Dorfvorsteher, „quondam a principe nostro rusticanae plebi praefectus in Ingstetten".69 Es ist genau die Funktion, die Bebels Vater in Ingstetten auf der Schwäbischen Alb versehen hat: ein in die Comoedia eingesetztes Stück hommage, das in seiner Direktheit und Offenheit wieder ungemein bezeichnend ist für diesen zu höchstem Poetenruhm aufgestiegenen Bauernsohn. Die beiden ersten Akte exponieren knapp, aber präzis den ländlichen Lebensraum, zugleich als Rahmen für den 'Fall' des bildungsfähigen Vigilantius. Hier wird ganz unidyllisch gezeichnet, viele Details haben bei Bebel etwas betont 'Realistisches': die Enge des Zusammenlebens, das Nachbarschaftliche, das Eingegrenzte, die nüchterne und ehrliche Selbsteinschätzung des Vaters Rapardus, die kärgliche Lebensweise. Cacobius, der Onkel des hoffnungsvollen Jungen, steht sogar als redender Name dafür. Aber das bißchen, was man besitzt, wird eingesetzt fur Vigilantius, man legt zusammen. Als ein naiv-hyperbolischer Ausdruck fur diese schon unter Beweis gestellte Bereitschaft darf wohl die Angabe des Vaters gelten, der Sohn habe bereits die renommierten Partiku-

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Epistulae obscurorum virorum II 9 (Ausgabe Booking). Comoedia Bl. h v'. Reclam, S. 44. Eine Parallele hierzu ist, daß Vincentius im Stylpho ebenfalls am Ort der Aufführung studiert hat, in Heidelberg (Ausgabe Schnur, S. 10). Comoedia Bl. h iij r . Reclam, S. 34. (im Druck „Ingsteten"; doch Bl. b i j v „Ingstetten"; so auch an anderen Stellen in Bebels Werk).

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larschulen in Ulm, Zwickau, Zwolle und Deventer besucht. 70 Es hat von außen, aus der Distanz gesehen, etwas hübsch Genrehaftes, wenn Cacobius dem angehenden Akademiker am Schluß des 2. Akts, kurz vor dem Aufbruch, alle Unterstützung in Naturalien verspricht: und wenn es ihn pro Jahr ein Schaf, einen ganzen Käse und hundert Eier kosten sollte („si annuatim mihi constiterit ove, caseo et centum ovis")71 - und der Vater will sogar alles, was er hat, investieren. Denn der Sohn hat bewiesen, daß er es durch Anlage und Fleiß verdient. Bebel selbst hat seine bäuerliche Herkunft zeitlebens nicht nur nicht verleugnet, er hat sich mehrfach ostentativ dazu bekannt, auch und gerade in der großen Oratio vor Maximilian Pfingsten 1501 („adulescens infimae condicionis humillimoque loco natus"). 72 Vielleicht am eindruckvollsten ist das Gedicht, das er an einen (typisierten) Neider richtet, der ihm sein Bauerntum vorwirft, Apologia Henrici Bebeiii contra Zoilum de Stirpe sua.73 Auch hier, wo er eine Reihe von concreta der eigenen Biographie entwickelt (Vater, Schulbesuch usw.), hebt er gerade auf den Fleiß, die harte Arbeit, die simplicitas der heimischen Bauern ab. Und stolz hält er ihm entgegen, worauf seine humanistische Poetenwürde beruht: „Nobilitat virtus divinae et Palladis artes sum quibus insignis, nobilis, egregius".74 Das ist gewiß in seiner Humanistengeneration nicht singular, hier berührt er sich mit dem mainfränkischen Weinbauemsohn Conrad Celtis75 und mit Helius Eobanus Hessus, dem Sohn eines hessischen Ackerbauern aus einem Dorf bei Frankenberg. 76 Eobanus Hessus hat in seiner großen Rechenschaft Eobanus Posterität?7 mit gleicher Entschiedenheit auf seiner Humanistenwürde bestanden, hat virtus und nobilitas von der leiblichen Herkunft („stirpis origo") gelöst. Doch Bebel, in seiner Apologia wie in der Comoedia, wendet es geradezu ins Vorbildhafte. Hält man das aus überlegener Städterperspektive gezeichnete Bild

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Comoedia Bl. g vi'. Reclam, S. 16. Die renommierte Partikularschule im nahen Ulm hat unter anderem Locher besucht (für Bebel gibt es keine Belege), die Erwähnung von Deventer und Zwolle - wo die Comoedia später 'lebendig' war - kann bereits Spiegelung von Kontakten Bebels sein. Comoedia Bl. h iiij r . Reclam, S. 38. Oratio ad regem Maximilianum (wie Anm. 16), Bl. a ij r . Opuscula nova. Straßburg 1512, Bl. ij v f. Ebd. Zu Celtis' Selbstbewußtsein vgl. die lebendig-treffende Darstellung von Leonard Forster in seiner Auswahl: Selections from Conrad Celtis 1459—1508. Edited with translation and commentary by L. Ε Cambridge 1948, S. Iff („Introduction"). Was Heinz Otto Burger: Renaissance. Humanismus. Reformation. Deutsche Literatur im europäischen Kontext. Bad Homburg v.d.H., Berlin, Zürich 1969, S. 359 f. zum Thema 'Wein' bei Celtis und Eobanus Hessus formuliert, gilt mutatis mutandis auch für Bebel. Abgedruckt in der Anthologie: Lateinische Gedichte deutscher Humanisten. Lateinisch und deutsch. Ausgewählt, übersetzt u. erläutert v. Harry C. Schnur. Stuttgart 1967, S. 210-219.

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des tölpelhaften, beschränkten Bauern dagegen, wie es selbst in Reuchlins Henno begegnet - gewiß klischeehaft und konventionell —, so wird die Tendenz deutlich. Rapardus und seine Verwandten und Nachbarn sind einsichtig, besonnen, verantwortungsvoll, und sie setzen alles ein, um dem talentierten Jungen die humanistische Ausbildung zu ermöglichen. Gewiß ist Vigilantius als exemplum nicht allein auf seine bäuerliche Herkunft hin angelegt. Er ist Modell für Bildungs-'Reserven' und für soziale Aufstiegsmöglichkeiten überhaupt. Aber das Bäuerliche ist ebensowenig bloßes accidens, dafür hat Bebel das Stück viel zu entschieden als Selbstzeugnis angelegt. Was tut Vigilantius, als er von dem Magister (im 3. Akt) gerade eben ins Studium eingewiesen worden ist? Er versichert sich gleich der Möglichkeit, auch wieder Urlaub nach Hause zu bekommen, um sich als dankbarer Student bei den Eltern und beim Dorfgeistlichen78 vorstellen zu können. Das Motiv der Rückkehr des Arrivierten in die Heimat gibt es auch im Stylpho, es ist dort Teil der Exposition. Was in der Comoedia nachgerade als dramaturgischer Lapsus erscheint (zu diesem Zeitpunkt ist noch gar nichts vom Unterricht gezeigt worden), ist Demonstration der dauerhaften Rückbindung an die soziale Herkunft — im übrigen verdeckter Hinweis auf eine in all den Tübinger Jahren von Bebel selbst geübte Praxis. Immer wieder ist er, wenn es gerade ging, in seine engere Heimat, auf die Alb, zurückgekehrt. Die Facetiae und die Proverbia geben Zeugnis von dem, was alles er bei Freunden, in Wirtshäusern und in Klöstern so aufschnappte. Der Triumphus Veneris verdankt gar seine Entstehung einem solchen 'Rückzug' auf die Alb (als in Tübingen gerade die Pest wütete). Das Schwäbische als spezifischer Stammesaspekt mag in der Comoedia stärker zurücktreten, will man nicht gleich die skizzierten Grundeigenschaften von Fleiß, Sparsamkeit, Redlichkeit, Bildungsfähigkeit als 'schwäbisch' verbuchen durchaus im Sinne Bebels, der in anderen Schriften einläßlicher das Schwabentum als solches zur Sprache bringt: in den Facetiae, besonders aber in der Epitome laudum Suevorum,79 Offenbar wollte er die Comoedia im universitären Kontext, wie auch in seinen anderen Programmschriften, davon lieber freihalten. Es gab ja aus Humanistenkreisen auch nicht nur Freundliches über die Schwaben und ihre Sprache zu lesen; kein geringerer als Celtis hat den Klang des Schwäbischen mit dem Klappern von Nußschalen verglichen.80 Und für die selbstbe-

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An der Stelle (Comoedia, Bl. h iiij v . Reclam, S. 44) verwendet Vigilantius den Plural „compaganos sacerdotes", analog zu „parentes" und „amicis". Vollständiger Titel: Epitome laudum Suevorum atque principis nostri Udalrici ducis Vuirtenbergensis et Thec. Pforzheim 1509. Epistulae (Ausgabe Rupprich) III 114.

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wußte Mehrsprachigkeit eines Weckherlin, bei dem auch schwäbische Elemente — etwa in den Epigrammen - ungescheut poesiewürdig gemacht wurden, 81 war die Zeit noch nicht. Auch das nationale Moment, das Stichwort 'Deutschland', in der Oratio vor Maximilian wie in vielen anderen Gedichten und Traktaten reichspropagandistisch breit entfaltet, 82 tritt in der Comoedia auffällig zurück (das kam ihrer europäischen Resonanz gewiß zugute). Der Dorfgeistliche klagt im ersten Akt über „miseram neglectamque Germaniam", 8 3 weil der Franzose Alexander - der Grammatiker — die Jugend verderbe. In Deutschland könne man kaum drei Worte Latein anspruchsvoll und schön herausbringen. 84 Doch dann verliert sich diese Spur in der ausgreifenden Propaganda für Rhetorik und Poesie überhaupt. Und die Figur des Aulicus Regis erhebt sich zu einem Niveau, das von ferne geradezu auf die Konzeption des Cortegiano vorausweist — bis der Poeta am Schluß ganz wieder in die Tübinger Universitätsgemeinschaft und zu den Existenzproblemen des Heinrich Bebel zurückkehrt. Man mag sich fragen, ob das schwäbisch getönte Bodenständige der Gestalt Bebel und seiner Comoedia nicht zuletzt doch auch Provinzialität bedeute, verglichen mit den großen Humanisten vom Schlage eines Celtis oder gar Erasmus. Auffällig und wohl auch bezeichnend ist, daß er - im Gegensatz zu fast allen seinen Vorläufern und Konkurrenten — nie in Italien war. Basel als Einfallstor italienischer Anregungen mußte ihm gewissermaßen die Italienreise ersetzen. Auch von Tübingen aus ist er nicht weit herumgekommen (einmal war er am Niederrhein). Das alles braucht man nicht überzubewerten; es bleibt bedenkenswert. Sein 'Ruhm' umfaßte die Humanistenwelt Deutschlands und reichte, wie eingangs angedeutet, selbst nach England hinüber; sogar die Comoedia wurde dort ja aufgeführt. Einem Kölner Quentel-Druck der Comoedia (um 1517)

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Leonard W. Forster: Georg RudolfWeckherlin. Zur Kenntnis seines Lebens in England. Basel 1944, S. 37ff.; ders.: Zu Georg RudolfWeckherlin (gesammelte Einzelbeiträge), in: L. E: Kleine Schriften zur deutschen Literatur im 17. Jahrhundert. Amsterdam 1977 (Daphnis 6, H. 4), S. 163-169. Zu einem interessanten lateinisch-muttersprachlichen exemplum bei Bebel s. Günter Hess: Vulgaris cantio. Gattungsprobleme zwischen Volkssprache und Latinität um 1500. In: Werk - Typ - Situation. Festschr. f. Hugo Kuhn. Stuttgart 1969, S. 3 4 6 370. Der Aspekt Reichspropaganda müßte hier, gerade im Hinblick auf die humanistische Zielsetzung, ausführlicher behandelt werden, vgl. Ludwig Krapf: Germanenmythos und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen Germania. Tübingen 1979, S. 102ff. (mit der älteren Literatur). Comoedia Bl. h r . Reclam, S. 20. Comoedia Bl. h v . Reclam, S. 24.

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Humanistische Pioniere

ist ein Epigramm eines Münsterer Bebel-Fans vorangestellt, in dem es unter dem Leitmotiv der barbaries zuletzt heißt: 85 Sit studii ordo bonus scriptores volve latinos Perlege grammaticos, quos didicisse iuvet Quod te Bebelius docet hic, Germania cuius Tota decus Studium cantat et eloquium.

Und ganz in diesem Sinne wird Bebel auch in Huttens berühmter Elegie Ad poetas Germanos rubriziert: Barbariem contra pugnare Bebelius ore non sine victuro nomine castra locat. 86

Viele andere, die Bebels Leistung 'gewürdigt' haben, bis ins beginnende 18. Jahrhundert hinein, heben immer wieder die Kultivierungsarbeit im Sinne einer sauberen latinitas hervor (wobei die Verdienste der schwäbischen Frühhumanisten wie Niclas von Wyle oder Heinrich Steinhöwel fast immer in den Schatten treten; auch Bebel selbst hat auf seine 'Vorläufer gelegentlich herabgesehen).87 Aus allen Aktivitäten und historischen Wirkungen des ersten bestallten Tübinger Humanisten ist die Comoedia mit ihrer Präsentation ein kleiner Ausschnitt, freilich ein aussagekräftiger. Und es ist einer, der im Gesamtzusammenhang der humanistischen Bildungswerbung Profil besitzt: durch die spezifische Weise der Verteidigung der Poesie (in Abgrenzung zu 'konservativeren' Positionen), durch die entschiedene Aufforderung zu Friedfertigkeit und Brüderlichkeit im Zeichen der humaniora und durch die eigentümlich 'realistisch' demonstrierte Vorstellung von einem ländlichen Bildungs-'Reservoir'. Diese Art der Bildungswerbung ist in der Distanz der geschichtlichen Überschau immer leicht zu belächeln. Und doch gehört ihr Impetus notwendig zu der stets neu begriffenen Aufgabe einer 'Humanisierung' des Bildungswesens, seien ihre konkreten Ansatzpunkte und Zielsetzungen so unterschiedlich, wie sie wollen: von der Realpädagogik des 17. Jahrhunderts über die Philanthropen der Aufklärung, die Volksschulbewegung des 19. Jahrhunderts bis hinein in die Aktion 'Student aufs Land' der 60er Jahre.

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Dialogue de optimo studio scholasticorum. Köln: Quentel um 1517, Titelblatt. Verfasser ist der Münsteraner „presbyter" Antonius Tunnicius, offenbar einer derjenigen, die sich in Münster — die Linie Kerckmeisters weiterverfolgend - um Bebels Comoedia gekümmert haben. Opera (Ausgabe Böcking) III, S. 64ff. Dazu Paul Joachimsohn: Frühhumanismus in Schwaben, in: Württ. Vierteljahrshefte f. Landesgesch. N.F. 5 (1896), S. 63ff., bes. S. 1 lOff.

Humanistische Bildungswerbung,

schwäbisch

Der deutsche Humanismus und seine Propagandisten sind den von Bebel anvisierten Weg nicht oder nur sporadisch und zögernd weitergegangen. Der Zwang zur sozialen Selbstbehauptung, die Tendenz zur Selbstabkapselung wurden rasch übermächtig; die Stärkung der Städte und Territorialfursten trug dazu ebenso bei wie - nur scheinbar paradox - die Popularisierungsbestrebungen im Zeichen der Reformation. Schon für den Späthumanismus des ausgehenden 16. Jahrhunderts konnte Bebels Programm nur noch die naive Vorstellung einer fast 'heroischen' Frühphase sein. Die Herren Humanisten haben sich etwas entgehen lassen. Denn Bebel hat nicht nur an die Karrieremöglichkeiten des aufgeweckten Bauernjungen gedacht. Er hat auch für etwas Werbung 'nach innen' gesorgt. Er winkt mit köstlichen, erquickenden Naturalien. Hipponomus, der Vermittler, verspricht sie dem Magister als Dank dafür, daß er sich des Vigilantius annimmt: „Wenn du nun zwar sonst keine Gegenleistung dafür von mir erhalten kannst, so werde ich doch dafür sorgen, daß es dir, falls du einmal unsere bescheidene Hütte betrittst, nie an Birnen und Äpfeln fehlen wird sofern ich keine anderen Geschenke da habe —, auch nicht an kühler Milch, und dann und wann sogar Honig." 88

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C o m o e d i a Bl. h iij v . Reclam, S. 36.

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Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit'*

„ N a m hoc poetarum munus est, ad q u o d divinitus sunt ipsi vocati, et peculiari quadam dicendi scribendique facultate ornati pro ceteris, ut numeris dulcissimis D e u m et Dei amicos laudent: D i a b o l u m vero, et mancipia illius, Satyrica amaritie insectentur." „ D a s ist ja der Poeten A m t , zu d e m sie von G o t t berufen und mit sonderlichem Geschick zu reden und zu schreiben vor Andern geziert sind, daß sie in den süßesten Weisen Gott und Gottes Freunde loben, den Teufel aber und seine Knechte mit satirischer Bitterkeit verfolgen sollen." Mit dieser prinzipiellen Bekundung verteidigt Nicodemus Frischlin im März 1585 in einer „praefatio" 1 seine Weise zu reden und zu schreiben, wie er sie in seinem „officium", ja in seiner „vocatio" gegründet sieht. Fast ein halbes Jahrzehnt bereits liegt die skandalträchtige Druckpublikation jener Oratio de vita rustica zurück, die er im November 1578 als Einleitung in eine Vergil-Vorlesung gehalten hat. 2 U n d diese Jahre sind angefüllt mit immer neuen Versuchen, sich nicht nur gegen Nachstellungen aus dem Bereich des von ihm attackierten Adels zu wehren, sondern auch gegen Disziplinierungsakte der eigenen Institution, der Tübinger Universität. In ihr ist schließlich jenes „officium" verankert, auf das er sich von Mal zu Mal beruft. Doch ihr wiederum kann es nicht gleichgültig sein, wie sich ihr akademisches Mitglied — gar im Rahmen seiner Lehrtätigkeit — mit dem Adel 3 anlegt.

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Erscheint auch in: Nicodemus Frischlin ( 1 5 4 7 - 1 5 9 0 ) . Poetische und prosaische Praxis unter den Bedingungen des konfessionellen Zeitalters. Tübinger Vorträge. Hrsg. v. Sabine Holtz u. Dieter Mertens. Stuttgart 1997 (Erstfassung vorgetragen in einem Tübinger Frischlin-Symposion November 1990). Praefatio in Sal. Frentzelii poemata sacra & nova Argentorati 18. Cal. Mart. 85. In Epist. & praefat. p. 148fF. Übersetzung bei David Friedrich Strauß: Leben und Schriften des Dichters und Philologen Nicodemus Frischlin. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte in der zweiten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts. Frankfurt a. M . 1856, S. 2 0 5 . Zitat der deutschen Übersetzung nach Strauß, S. 205f·, so auch bei Klaus Schreiner: Frischlins Oration vom Landleben und die Folgen, in: Attempto 4 3 / 4 4 (1972), S. 1 2 2 - 1 3 5 ; hier: S. 133. Z u den näheren Umständen Schreiner (wie Anm. 1). Informativer, illustrierter Überblick auch in: Hedwig Röckelein u. Casimir Bumiller: [...] ein unruhig Poet. Nicodemus Frischlin 1 5 4 7 - 1 5 9 0 . Balingen 1990 (Katalog zur Baiinger Jubiläumsausstellung), S. 7 8 - 9 4 . Vgl. auch den Beitrag von Wilhelm Kühlmann (wie Anm. *). Wenn hier im folgenden von „Adel" die Rede ist, wird generell vorausgesetzt, daß bekanntermaßen bestimmte Adels-Schichten sich vor allem angegriffen fühlten, die ihre Interessen dann

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Humanistische

Pioniere

Als Frischlin zu Beginn des Jahres 1581 in einer Sallust-Vorlesung eine Textstelle bespricht, an der von der „superbia nobilitatis" die Rede ist, kann er sich einen aktuellen Seitenhieb nicht verkneifen. 4 Eine einschlägige Satire Juvenals als 'Brücke' zitierend, holt er zu einer Invektive gegen die „Cyclopes", „die Scharrhansen" 5 aus, die ihm einen Passus aus der Oratio verübelt hätten: „es seien gar wenig fromme 'Nobiles'". Doch das habe schon Luther so befunden, der im übrigen gefordert habe, man solle den Scharrhansen „sagen, was sie für schöne Gesellen sein". Dies aber ungescheut zu sagen, seien „Freiheiten Academiae; wo das nicht ist, so hat man keine Freiheiten". 6 Ein dichtes Netzwerk von Autoritäts- und Traditions-Berufungen wird schon hier erkennbar. Als Frischlin bald darauf vor den Senat zitiert wird - nicht nur wegen der Sallustvorlesung 7 - , hält ihm der mächtige Kanzler Jacob Andreä rigoros entgegen: „Ihr seid ein Poet [...], kein Prophet; ihr habt euch nicht in fremde Dinge zu mischen, über Höfe und Adel zu richten, sondern euch in den Gränzen eurer Vocation zu halten. Die Mängel und Laster der verschiedenen Stände zu rügen, ist Sache der Propheten, d.h. der Prediger, nicht der Poeten".8 Poet und Prediger als komplementäre oder als konkurrierende öffentliche Funktionsträger — ist dies in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein exemplarischer Casus? Wo liegen die „Gränzen" von Frischlins „Vocation"? Ohne Zweifel geht es um die Existenzgrundlagen und um das individuelle Profil dieses Späthumanisten. Nicht von ungefähr hat Hans Joachim Schädlich in seinem Kurzen Bericht vom Todfall des Nikodemus Frischlin Andreäs Argumentation in ein strenges Verhör transponiert, das ein herzoglicher Abgesandter mit dem auf der Feste Hohenurach Inhaftierten abhält. 9 Ob Universitätskanzler oder Hofbeamter - in dieser Spätphase des Frischlinschen Überlebenskampfs rücken die beiden Rechtsauto-

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insbesondere über die Institutionen der Reichsritterschaft verfolgten. Zum sozialgeschichtlichen Kontext vgl. bes. den Beitrag von Dieter Stievemann (wie Anm. *). Die Details kennen wir u. a. aus einer Nachschrift, die Strauß (wie Anm. 1), S. 202—205 bereits ausgewertet hat. „Scharrhansen": etwa 'Prahlhansen', M a u l h e l d e n , Aufschneider'. Zitate hier nach Strauß (wie Anm. 1), S. 203. Seit Ausbruch der „Adelsfehde" waren erst wenige Monate vergangen; inzwischen war Andreä von einer längeren Reise zurückgekehrt, so daß der erste Aufwasch sogleich etwas grundsätzlicher ausfiel. Nach Strauß (wie Anm. 1), S. 204. Hans Joachim Schädlich: Versuchte Nähe. Prosa. Reinbek b. Hamburg 1977, S. 196—202 (der auf 1974 datierte Text trägt im Titel den Zusatz „Aus den Quellen"). Auf Hohenurach ist Frischlin zwar von „privaten" wie von „offiziellen" Besuchern zu Abbitte und Umkehr gedrängt worden, aber aus den dazu publizierten Quellen sind die hier von Schädlich verwendeten Formulierungen nicht erkennbar.

Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit' ritäten Universität und Herzog 10 (zwischen denen Frischlin immer wieder zu jonglieren versucht) in eine Front, was die „Freiheit" des „Poeten" angeht. Was ist das für ein gottgegebenes „officium", auf das sich Frischlin da beruft? Ist zwei Jahrhunderte nach Petrarca das den großen antiken Mustern nachgestaltete Pathos des „poeta" noch 'gedeckt'? Was hat hier das Rechtsprinzip der 'akademischen Freiheit' zu suchen? Und wieso steckt in ihm die Legitimation ausgerechnet zum 'Satirischen'? Poet, Poeta-das ist, institutionengeschichtlich betrachtet, 11 auch in Deutschland seit Peter Luders Heidelberger Antrittsrede von 1456 12 an den humanistisch reformierten Universitäten bekanntermaßen die verknappte Amtsbezeichnung des jeweiligen Vertreters der humaniora, der studia humanitatis innerhalb der Artistenfakultät. Poesie, Beredsamkeit und Historie (d.h. vor allem: Traktierung antiker Geschichtsschreiber), aber bisweilen auch nur Poesie und Beredsamkeit oder nur Poesie bilden die offiziellen Teilfächer der humanistischen Lektur oder auch Professur. „Lectio poetices" war die Zeitstellen-Bezeichnung, unter der Heinrich Bebel, der früheste bestallte Tübinger Humanist, 1496 sein Amt antrat, eine Stelle, um deren Bestand - und Fixierung an seine Person — Bebel lange Jahre kämpfen mußte. 13 „Lectio poetices latinae et historiae" lautete der Titel der außerordentlichen Professur, die Nicodemus Frischlin an der Tübinger „Academia" ergatterte, 14 der 21jährige „Senkrechtstarter" 15 aus dem nahegelegenen Balingen. 16 Auf dem Titelblatt der ersten Gesamtausgabe seiner lateinischen Dramen (1585) präsentiert er sich als „Poeta, Orator et Philosophus": 17 'Philosoph' vor allem als Angehöriger der Philosophischen, der Artistenfakultät. 18 10

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Hierbei ist klar, daß die Universität als dem Fürsten unterstehende Landesuniversität nur teilautonom handeln konnte. Die komplizierten Relationen, in denen Frischlin sich bewegte, können hier nicht erörtert werden; dazu vor allem die Beiträge von Volker Schäfer und Dieter Stievermann (wie Anm. *). Knappe Abrisse bei Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 418—425; Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983, S. 2 2 7 - 2 5 1 . Wilfried Barner: „Studia toto amplectenda pectore". Zu Peter Luders Programmrede vom Jahre 1456, in: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschr. f. Paul Raabe. Amsterdam 1987, S. 2 2 7 - 2 5 1 . Die näheren Umstände in: Heinrich Bebel: Comoedia de optimo studio iuvenum. Über die beste Art des Studiums fur junge Leute. Lateinisch/deutsch. Hrsg. u. übers, v. Wilfried Barner u. Mitarbeitern. Stuttgart 1982, S. 103-173 („Einfuhrung"), bes. S. 134-139 (auch zum Amt des Poeta). Sehr instruktives Schema der Universitätsfächer bei Röckelein u. Bumiller (wie Anm. 2), S. 44f. So Dieter Stievermann (wie A n m . *). Nicht aus Erzingen bei Balingen, wie lange Zeit angenommen; s. das Urkundliche jetzt bei Röckelein u. Bumiller (wie Anm. 2), S. 19. Operum poeticorum pars scenica. Straßburg 1585. Als solcher hat er nicht nur über die bereits genannten Fächer des Poeta gelehrt und publiziert, sondern auch über naturalis philosophia, Astronomie, Logik u.a.

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Und was ist seine „vocatio", auf deren „fines" der Kanzler Andreä ihn wieder einzuschwören bedacht ist? Die Studenten in den antiken, besonders den römischen Klassikern (Poesie und Prosa) zu unterrichten, in Lektüre und praktischer imitatio, sie in der für den gesamtem Universitätsunterricht zentralen Kunst des Disputierens zu schulen (der ars disputandi) und schließlich der Universität zu festlichen Anlässen mit kunstgemäßen lateinischen poemata - prinzipiell auch orationes — zu Diensten zu sein. Zum hundertjährigen Jubiläum der Tübinger Hohen Schule, das der Pest wegen auf das Jahr 1578 verschoben werden mußte,19 hat er als Poeta ganz hoch gegriffen. Er hat in der 'Muster'-Linie des berühmten Horazischen Carmen Saeculare - freilich nicht als erster deutscher Humanist20 - ein ebensolches aktualisiertes 'Jahrhundert-Lied' verfaßt, das auch chorisch aufgeführt wurde.21 Dieses Carmen Seculare, nach einem Jahrzehnt akademischer Tätigkeit entstanden, und noch vor dem Ausbruch der verhängnisvollen Adelsfehde, ist von herausgehobener Aussagekraft für Frischlins Selbstdefinition als Poeta, für die Situierung seines Amts in der akademischen Sozietät und für die Würdigung des Herrschers als des Schützers dieser Universität. Dreierlei hebe ich hervor. Zunächst: Das Gründungsgelöbnis des Grafen Eberhard, im Heiligen Land in lateinischer Sprache abgelegt, hält verpflichtend fest, daß diese Hohe Schule den „lateinischen Musen" („Latinis [...] Camoenis", v. 27f.) geweiht sei, ganz der Neigung Eberhards zu den Musen gemäß (v. 35); und nach der Wiedergewinnung der verlorenen Territorien wird durch Herzog Ulrich diese 'musische' Orientierung ausdrücklich bestätigt (v. 37—40). Frischlin insistiert mit Recht - freilich ohne hier die entscheidende Rolle des Johannes Vergenhans22 würdigen zu können - auf dem humanistischen Ursprung der Gründung selbst, und auf dessen verpflichtendem Charakter. Das zweite Moment ist im ersten

Daß diese Festlichkeiten (Februar 1578) in eine Blütezeit der Universität wie des Landes fielen - nicht unwichtig für Frischlins Vorhaben - , betont Hansmartin Decker-Hauff in: 500 Jahre Eberhard-Karls-Universität Tübingen 1477-1977. Hrsg. [...] v. Hansmartin Decker-Hauff, Gerhard Fichtner u. Klaus Schreiner. Tübingen 1977, S. XIVf. Vgl. Walter Jens: Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik. München 1977, S. 98f. Georg Ellinger: Geschichte der neulateinischen Literatur Deutschlands im 16. Jahrhundert. Bd. 2: Die neulateinische Lyrik in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts. Berlin u. Leipzig 1929. Bei der Interpretation des Frischlinschen Carmen Seculare verdanke ich mehreres den Vorarbeiten Nikola Kaminskis. Den lateinischen Text mit deutscher Übersetzung bringt die Broschüre: Nicodemus Frischlin (1547-1590). Tübinger Poet, Humanist, schwäbischer Querkopf. Eine Einführung. Tübingen 1991 (erarb. v. Wilfried Barner, Georg Braungart, Gudrun Fischer, Nicola Müller, Wolfgang Schubert, Mark Seidel), S. 12—15. Auf ihn als den 'bildungspolitischen' Berater des Grafen Eberhard - aber auch auf dessen Mutter Mechthild von Rottenburg - gehen die humanistischen Impulse der Tübinger Universitatsgründung sehr wesentlich zurück.

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Nicodemus Frischlins 'satirische

Freiheit'

schon impliziert: Ganz im Sinne der landesherrlichen Konstruktion, als Landes-Universität,23 wird das Fürstenhaus — dem Frischlin sich damals persönlich noch besonders nahe verbunden fühlt24 - als Beförderer der humanistischen Studien gefeiert. Und es wird der eigenen Universitätsöffentlichkeit als verpflichtende Instanz ins Bewußtsein gerufen. Ein besonderer Glanz aber fällt auf das Herrscherhaus (und natürlich auf die feiernde Universität) durch die unausgesprochenen Parallelen zur säkularen Staats- und Kulturpolitik des großen Augustus. Denn im Dienste der augusteischen Propaganda hat das Horazische Carmen Saeculare vom Jahr 17 v. Chr. ja gestanden. Und drittens: Die Horaz zum Teil wörtlich folgende, von Frischlin sorgsam ins Christliche transponierte religiöse Einbettung des Liedes, als Gebet an den höchsten Gott und Hüter des Menschengeschlechts gefaßt („Gentis humanae pater atque custos", v.l.), präsentiert den Poeta selbst, wie bei Horaz mit dem chorischen Ich/Wir verschmelzend, in seiner höchsten nur denkbaren, fast priesterlichen Legitimation. Er ist es, der die Segenswünsche für die einzelnen Fakultäten am Schluß formuliert (v. 65—68), fur die „docilis Juventa" (v. 69), fur ein Alter in Frieden und Ruhe (welche Perspektive, wenn man an Frischlins eigenes späteres Schicksal denkt!). Er ist es, der Gottes Willen singt, den Willen dessen, der die Welt geschaffen hat und die Geschicke der Menschen lenkt. Auch die Oratio de vita rustica beginnt ja, als Einleitung in eine Vorlesung über Vergils Georgica, mit einer ostentativen Hinwendung (conversio) zum „Deus Optimus Maximus" (hinter dem typologisch unverkennbar Jupiter durchscheint), und mit dem argumentativen Hinweis auf die Götterverehrung bei den alten Dichtern („veteres poetae"). Und die Oratio schließt25 mit der Segensbitte an eben jenen „Deus Optimus Maximus" um gedeihliche Studien des „docens" selbst (Frischlins) wie auch der „discentes", und um Bewahrung des heiligen Worts, usf. Auf die seit Petrarcas Poeta-Ideal strittige, widersprüchliche, typenreiche Problematik der Einformung antiker Religiosität in humanistisch-christliche Dichterkonzepte kann ich mich hier nicht einlassen: auf Hoffnungen und Tatsächlichkeiten, auf dogmatische Hemmnisse, auf Anmaßung und pflichtgemä-

Hierzu mehrere Beiträge des in Anm. * genannten Bandes; außerdem Peter Baumgart u. Notker Hammerstein (Hrsg.): Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit. Nendeln 1978. Winfried Schulze: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1 5 0 0 - 1 6 1 8 . Frankfurt a. M . 1987, S. 2 3 0 - 2 4 4 (mit weiterer Literatur). Seit Ende 1575 ist Frischlin wiederholt mit eigenen Arbeiten für den Stuttgarter H o f hervorgetreten (die Hochzeitsbeschreibung aus Anlaß der Vermählung Herzog Ludwigs mit Dorothea Ursula stammt vom November 1575); Frischlin war bekanntlich wiederholt auch an die herzogliche Tafel eingeladen. Oratio de vita rustica. Tübingen 1580, S. 17.

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Humanistische Pioniere ße Demut. 26 Für Frischlins Selbstverständnis haben hierbei vor allem Celtis, der 'Amtsvorgänger' Bebel, Hutten und vor allem Eobanus Hessus (dessen Rolle Frischlin in Julius redivivus selbst gespielt hat) Bedeutung gewonnen. Ich halte zweierlei Spezifisches fest. Als Hochburg der protestantischen Orthodoxie,27 wie sie als Machtträger nicht zuletzt der Kanzler Jacob Andreä verkörpert, fordert die Tübinger Universität eine solche christliche Verankerung von Frischlins Poetentum nachgerade heraus. Und daß es konfessionell auf der richtigen Linie liegt,28 dafür sorgte etwa die polemische Religionskomödie Phasma (es sei auch erinnert, daß Frischlin sich bei dem „Scharrhansen"-Vorwurf sogleich auf Luther beruft). Und: Dem Stuttgarter Hof empfiehlt sich dieser Poeta gleich doppelt: indem er den Territorialfürsten als den Schützer des wahren Glaubens wiederholt apostrophiert, zugleich aber das christlich-humanistische Erbe des Herrscherhauses (seit dem Grafen Eberhard) im Universitätskontext programmatisch vertritt; schon im Carmen Seculare wird dies unüberhörbar. Eine dritte Instanz tritt jedoch noch hinzu und bedeutet Komplizierung: die kaiserliche Autorität. Frischlin ist seit 1576 nicht nur ein innerhalb der res publica literaria profilierter lateinischer Poet, Orator, Grammatiker und Philologe, sondern kaiserlich dekorierter Poeta laureatus.29 Schon 1570, bald nach Antritt der Tübinger außerordentlichen Professur, hat sich Frischlin am Rande des Speyerer Reichstags, bewaffnet noch mit einem Empfehlungsschreiben seines Lehrers und jetzigen Kollegen Martin Crusius, bei Maximilian II. mit Huldigungsgedichten unterschiedlicher Machart um den Laureatentitel bemüht, aber zunächst vergebens. 1576 in Regensburg nahm er einen zweiten Anlauf, nun mit einer Elegie und einem ganzen Theaterstück, Rebecca-, und nun schien es zu klappen. Da starb plötzlich Maximilian II. Aber die Verwaltung stand fur Kontinuität. Und so erhielt Frischlin bald darauf schon, nun unter Kaiser Rudolf II., die ersehnte Würde. Ein Jahr später kam, unter Nachhilfe durch drei panegyrische Reden, der Titel eines Comes palatinus, eines Pfalzgrafen, noch hinzu (mit dem Privileg, selbst Titel zu verleihen).

Prototypisch hierfür: Petrarcas 1. Ekloge, die einen bukolisch kostümierten Dialog mit dem im Kloster lebenden Bruder (Gherardo) bietet. Schon hier gehen antike Götterwelt und christliches Weltbild (verbindend: der oberste Gott als „Weltengott") eine humanistisch austarierte Koalition ein. Hierzu namentlich die Beiträge von Jörg Baur u. Volker Press (wie Anm. *). Einschränkend muß immerhin erwähnt werden, daß Frischlin zeitweise offenbar auch mit dem katholischen Freiburg i. Br. liebäugelte (wohin er im Oktober 1579 einen „Ruf' erhielt). Gute Zusammenstellung bei Röckelein u. Bumiller (wie Anm. 2), S. 73—77. Vgl. auch George Schulz-Behrend: Nicodemus Frischlin and the Imperial Court: New Evidence from his Letters, in: Germanic Review 30(1955), S . 1 7 2 - 1 8 0 .

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Nicodemus Frischlins 'satirische

Freiheit'

Neue 'Freiheiten? Die Bewertung beider Titel ist in der Forschung, nicht nur für den Fall Frischlin, umstritten; 3 0 die Rechtsverhältnisse selbst sind zu seiner Zeit schon uneinheitlicher geworden. Seit Celtis, dem ersten deutschen Laureaten des Kaisers (1487), ist die Ehrung inflationär geworden, im Wert gesunken; ähnlich steht es mit dem Comes palatinus. Für unsere Fragestellung ist zweierlei von Belang. Innerhalb der Universität, deren Kollegenschaft Frischlin — jetzt unter Anführung durch Crusius - bei der Bemühung u m eine bessere Stelle wiederholt hatte abblitzen lassen, bedeutete der Titel ein wichtiges Stück externer Anerkennung. Und zum anderen: Natürlich konnte auch sein landesfürstlicher Protektor, der Herzog Ludwig, stolz auf diese Bestätigung für seinen persönlichen Günstling sein. Der Tübinger Poeta legte sich die Ehrung schließlich noch ganz anders aus: als ein zusätzliches Stück Freiheit, das gerade über den Landesfürsten noch hinausreichte. 31 Aber das schlug zuletzt gar noch zu seinem Verderben aus. Daß er im Frühjahr 1590, bereits in herzoglicher Haft auf Schloß Württemberg, versuchte, als kaiserlicher Laureat und Pfalzgraf sich an der Stuttgarter Hofkanzlei vorbei mit einer Bittschrift direkt an den Kaiser in Prag zu wenden, 3 2 hat entscheidend dazu beigetragen, daß er sich die außerordentliche, immer wieder hart geprüfte Gunst des Herzogs endgültig verscherzte. Der Vorgang hat noch in seiner Outrierung etwas Bezeichnendes. Dieses hochtalentierte enfant terrible des Universitätsbetriebs, dieser solipsistische humanistische Poet reagiert auf Widerstände, auf Sanktionen immer nur zeitweise mit einem Sich-zurück-Nehmen, auch mit Ergebenheitsbekundungen. Aber dann pocht er sehr bald wieder entschieden auf sein Eigenrecht als Poeta. In der eingangs erwähnten Vorladung vor Senat und Kanzler stehen einander die behaupteten „Gränzen" der „Vocation" und die „Freiheiten" des akademischen „Poeten" offenkundig unversöhnbar gegenüber. Und dies vor allem - hier liegt ja der Konfliktpunkt - bei der selbst formulierten Verpflichtung, alles Verwerfliche (den „Teufel" und „seine Knechte") „mit satirischer Bitterkeit" zu verfolgen. Solange der bestallte Dichter die ehrwürdige humanistische Tradition der eigenen Hohen Schule festlich besang und dabei auch Apologie des eigenen Metiers gegenüber weniger Begeisterten trieb (ein Leitmotiv vieler Frischlin-

Theodor Verweyen: Dichterkrönung. Rechts- und sozialgeschichtliche Aspekte literarischen Lebens in Deutschland, in: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Hrsg. v. Conrad Wiedemann. G R M Beiheft 1 (1977), S. 7 - 2 9 (mit weiterer Literatur). Das Privileg, auch selbst Dichter zu krönen, hat Frischlin so sehr ausgeschöpft, daß der Kaiser ihm schließlich weitere Krönungen untersagte. Nach eigener Formulierung wollte er den württembergischen Räten „ein Feuer unter den A. machen" (Strauß [wie Anm. 1], S. 477).

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scher Reden und Traktate),33 solange er sein Poetenamt solchermaßen auch propagandistisch wahrnahm, brauchte er sich in seinem Bewußtsein der Erwähltheit nicht eingeengt zu fühlen. Dies gilt generell für die zahlreichen occasiones, bei denen er mit Gedichten, Reden und vor allem Theaterstücken unmittelbar dem Fürstenhaus huldigte, gar am Stuttgarter Hof selbst. 1575 bereits wurde er anläßlich der Hochzeit des Herzogs Ludwig und der Tochter des Markgrafen von Baden, Dorothea Ursula, mit einer Festbeschreibung beauftragt. Im gleichen Jahr war der Herzog in Tübingen anwesend, als die lateinische Komödie Rebecca aufgeführt wurde. Und als im Januar 1579 Herzog Ludwig förmlich die Regierungsgeschäfte übernahm, erlebte Frischlins soeben fertiggestellte patriotische Komödie Hildegardis magna ihre festliche Uraufführung im Stuttgarter Schloß. Noch sein bekanntestes Drama, Julius redivivus, kam dort im Mai 1585 aus Anlaß der zweiten Vermählung des Herzogs, mit Ursula von Lützelstein, erstmals 'offiziell' auf die Bühne.34 Außerdem wurde dem Autor eine Festbeschreibung übertragen. Alle diese fürstlichen Ehrbezeigungen über Jahre hin - die kaiserliche Ehrung nicht zu vergessen — waren gewiß dazu angetan, Frischlins hochgespanntes humanistisches Poeta-Bewußtsein zu stärken, zumal der Hof durchgängig das Lateinische als Medium akzeptierte.35 An und für sich hätte auch die Universität Genugtuung darüber empfinden mögen, daß einer der Ihren solchermaßen ausgezeichnet wurde und sich an allerhöchster Stelle als nützlich erwies. Aber Frischlins ungefestigte, umstrittene Position innerhalb des Lehrkörpers - wie auch immer 'gemischt' erklärbar aus Neid und Provinzialität mancher Kollegen und aus übermäßiger Streitsucht des Poeta - ließ diesen Mechanismus nur bedingt zur Wirkung kommen. Immerhin, die durchaus 'affirmativen' Züge in einem Großteil des Frischlinschen CEuvres, das Fürstenlob, das schwäbisch Patriotische, das mitunter auch Reichspropagandistische, auch das eingeschworen lutherisch Orthodoxe dürfen nicht vernachlässigt werden, wenn man - mit Recht - den „unruhigen Poeten" heraushebt, das „unbhäb Maul" (von dem im Jubiläumsjahr mit Vorlie-

Natürlich schon in seiner Antrittsvorlesung De dignitate et multiplici utilitatepoeseos (1568), aber auch in der systematischen Lehrschrift De ratione instituendipuerum (1584) und schließlich in der fast verzweifelt werbenden Wittenberger Programmrede Oratio de exercitationibus oratoriis etpoeticis (1587; dazu weiter unten). Eigener Angabe zufolge stammen erste Entwürfe aus dem Jahr 1572, eine „Zwischenfassung" wurde offenbar 1583 während Frischlins Laibacher Rektorat in Tübingen aufgeführt; s. Nikodemus Frischlin; Iulius Redivivus. Comoedia. In der Übersetzung von Jacob Frischlin. Hrsg. v. Richard E. Schade. Stuttgart 1983, S. 149-174. Allerdings mit muttersprachlichen Hilfestellungen (deutsche Inhaltsangabe vorweg, u.a.). Im einzelnen nachvollziehen konnte die Texte nur eine Minderheit am Hof.

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Nicodemus Frischlins 'satirische

Freiheit'

be die Rede ist). Lob des Fürstenhauses, Lob der studia humanitatis mit der Poesie an höchster Stelle: In Frischlins Selbstbewußtsein sind die Leistungen im genus laudativum das genaue Komplement, ja eine Mitlegitimation dessen, was ich hier abgekürzt - in Anlehnung an alte Prägungen36 — die 'satirische Freiheit' nennen möchte. 'Satirisch' in welchem Sinne? Die Forschung der letzten zweieinhalb Jahrzehnte hat im Wechselspiel zwischen 'historischer' und 'philosophischer' Gattung 37 für die Wirkungsgeschichte der römischen Satire 38 und vor allem fiir das 'satirische' 16. Jahrhundert39 eine solche Fülle von Differenzierungen und neuen Durchblicken erbracht, daß hier nur ganz unzureichende Stichworte gegeben werden können. ,»Ästhetisch sozialisierte Aggression":40 In dieser vielzitierten Formel Jürgen Brummacks sind die drei Dimensionen des Literarischen, des Gesellschaftlichen und des Psychologischen komprimiert greifbar. Und wenn man den indirekt sich äußernden „moralischen" Impetus hinzunimmt, 41 lassen sich eine große Zahl charakteristischer Phänomene des Satirischen seit der Antike einander typologisch plausibel zuordnen: sowohl was die älteren 'Gattungs'Gesetze als was die 'Schreibart' angeht. Daß die Satire (wie auch das Epigramm) 42 in der Wahl ihrer Gegenstände (res) wie in ihrer Sprachgebung (verba) prinzipiell keine Grenzen kennt und daß sie fast alles 'mischen' kann, gehört — mit mehr oder weniger Reservation — zu den ältesten 'Konsenspunkten' der Satiretheorie. Es ist derjenige Grundzug, der die Satire, ob in Vers oder in Prosa,

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Damit sind einerseits die Formulierungen gemeint, in denen die besondere sprachliche libertas oder licentia der Poeten hervorgehoben wurde, andererseits die mehr moralistisch ausgerichteten Selbstapologien der Satiriker. „Historisch" als (mit polemetrischen Partien durchsetzte) Prosa-Satire nach dem Muster des Menippos (Menippeische Satire) und als Vers-Satire mit dem 'Erfinder' Lucilius; „philosophisch" als in einer bestimmten Weltsicht gründende 'Schreibweise' oder 'Schreibart'. Die längst unüberschaubar gewordene Literatur kann hier auch nicht in Auswahl verzeichnet werden. Einen für unsere Zwecke besonders geeigneten Überblick über die wichtigsten Positionen bietet Barbara Könneker: Satire im 16. Jahrundert. Epoche - Werke - Wirkung. München 1991, S. 11-21. Einen aktuellen Abriß (mit reichlichen Literaturangaben) enthält Helmut Arntzen: Satire in der deutschen Literatur. Geschichte und Theorie. Bd. 1: Vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Darmstadt 1989. Umfassend Könneker (wie Anm. 37). Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, in: DVjs 45 (1971, Sonderheft Forschungsreferate), S. 275-377; hier: S.282. So ebenfalls Brummack; in den antiken und den auf der Antike fußenden Theorien ist indignatio über das moralisch Verwerfliche der Ursprung der satirischen Äußerung. Spätestens seit Juvenal gehen Satire und Epigramm - nicht nur in der Theorie - zum Teil eng nebeneinander, bis hin zu der von Scaliger in den Poetices libri Septem von 1561 (I 12) kodifizierten und dann jahrhundertelang weitergegebenen Formel vom Epigramm als einer „kurzen Satire" und der Satire als einem „langen Epigramm". Strukturell ist beim Epigramm besonders das Pointierte, Spitze, ja potentiell auch Verletzende des Satirischen besonders evident.

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Humanistische Pioniere seit jeher den klassizistischen und puristischen Doktrinen besonders verdächtig gemacht hat. Im Zusammenhang unserer Fragestellung ist die Erinnerung an eine traditionsreiche sozialgeschichtlich-religionsgeschichtliche

Konstellation von Be-

lang: die Verknüpfung des Satirischen mit institutionalisierten, zeitlich begrenzten Feiräumen, mit bestimmten populären Festen zumal. Die altrömischen Saturnalien (deren etymologische Kombination mit „satura" bereits antik ist), 43 Karneval respektive Fasnacht sind die klassischen Beispiele. 44 In ihrem Rahmen werden - durch die Obrigkeit - 'Freiheiten gewährt, 'Narrenfreiheiten', 45 in denen temporär bestimmte Normen und Sanktionen außer Kraft gesetzt oder doch hinausgeschoben werden: solche des Sozialspotts zumal, der Verspottung von Autoritäten, ja der Autoritätenkritik. D a ß von solchen Freiheiten auch literarische Äußerungsweisen profitiert haben, 'Gattungen' wie altrömische Komödie und Satire oder wie das Fastnachtspiel, bedarf hier keiner Erörterung. Es ist von besonderer historischer Aussagekraft, daß Sebastian Brant sein Muster einer neuen, spätmittelalterlich-hochhumanistischen Narrensatire zur Basler „Vasenaht" des Jahres 1 4 9 4 erscheinen läßt: Autochthonie und Freiheit zum Narrenspiegel konvergieren. Michail Bachtins Theorien zur 'Karnevalisierung' 46 haben die Forschung der letzten Jahre weit über solche institutionellen Ursprünge hinausgeführt. Libertas und licentia, und als Verhaltenskategorie das ridere, sind zwei Zentralbestimmungen, mit denen die römische Satiretheorie - in Nachbarschaft zur Komödientheorie - auch in ihren rudimentärsten Fassungen stets arbeitet; wobei im ridere der Spott des Autors und die Reaktion der Zuhörer ineinander gehen. Horaz, zu Beginn seiner Satire I 4, stellt sein eigenes Vorbild Lucilius ganz in die 'Abhängigkeit' von der großen libertas der alten Komödie („comoedia prisca", v.2: Eupolis, Kratinos, Aristophanes). Und noch die Repräsentanten

A u f die verschiedenen Spekulationen und deren „Triftigkeit" kann hier nicht eingegangen werden. Unter den zahlreichen komparativen Arbeiten, die oft mehr assoziativ vorgehen, sei hier hervorgehoben Manfred F u h r m a n n : Fastnacht als Utopie: Vom Saturnalienfest im alten R o m , in: Narrenfreiheit. Beiträge zur Fastnachtforschung (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Univ. T ü b i n g e n 5 1 ) . T ü b i n g e n 1 9 8 0 , S. 29—42. Neuestes Zwischenresümee zu Ansätzen, in denen Satire anthropologisch im „Lachen" fundiert wird, bei Jost H e r m a n d u. Reinhold G r i m m (Hrsg.): Laughter unlimited: Essays on humour, satire, and the c o m i c . Madison 1991. Siehe den B a n d „Narrenfreiheit" (wie A n m . 4 4 ) sowie Enid Welsford: T h e Fool. His social and literary history. L o n d o n 1 9 6 8 ; D e r Narr. Beiträge zu einem interdisziplinären Gespräch (Studia ethnographica Friburgensia 17). Freiburg i. d. Schweiz 1 9 9 1 . Das Wichtigste jetzt in: Michail M . Bachtin: Literatur und Karneval. Z u r Romantheorie und Lachkultur. M ü n c h e n 1 9 6 9 ; vgl. auch George Howes: Rhetorics o f attacks. Bakhtin and the aesthetics o f Satire, in: Genre 19 ( 1 9 8 6 ) , S. 2 1 5 - 2 4 4 .

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Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit'

der späteren, schärferen, 'verdüsterten' kaiserzeitlichen Verssatire, Persius und Juvenal (analog zu ihnen der Epigrammatiker Martial), verteidigen so ihre licentia gegen den Typus des die Augenbrauen hochziehenden Cato. Frischlin steht mitten in dieser — realiter noch viel weiter verzweigten 47 — Tradition, wenn er seine „satirische Bitterkeit" rechtfertigt. Als er in der erwähnten praefatio des Jahres 1585 sein Recht als „Poeta" auf Moralkritik auch prinzipiell einklagt (gegen Vorwürfe, wie sie etwa der Kanzler Andreä erhoben hat), nennt er die großen antiken Vorbilder wie Horaz, Persius, Juvenal. 48 Aber die entscheidende Grenzziehung, die ihm aufgezwungen werden soll, ist ja die zwischen dem „Poeten" und dem „Propheten", d.h. dem Geistlichen, dem Prediger. Hier ist nun bezeichnend, wie Frischlin aus seiner Epoche heraus argumentiert: Auch etwa Ulrich von Hutten, Eobanus Hessus, Sebastian Brant und Thomas Murner hätten als Poeten „Tadel und Ermahnung" praktiziert, ohne Geistliche zu sein. Frischlin arbeitet hier also bereits mit der Kanonizität christlich moralbewußter, patriotischer Humanisten, deren Wirkungszeit schon zwei und mehr Generationen zurückliegt. Geht es noch um dieselbe 'satirische Freiheit'? Und mit welchem Recht kann Frischlin sie für sich beanspruchen? Was immer zu der eindrucksvollen Konjunktur des Satirischen im ausgehenden 15. Jahrhundert und dann bei vielen Vertretern des deutschen Hochhumanismus geführt haben mag: 4 9 Die Anknüpfungsmöglichkeiten an spätmittelalterliche Überlieferungen (Ständesatire usw.), das sozial 'Eingreifende', das Pädagogische, die Chancen zur Modernisierung antiker Gattungsmuster in Poesie und Prosa - in Frischlins Zeit haben sich wichtige Voraussetzungen entscheidend verändert. Vor allem die Reformation und ihre Folgen (einschließlich der Bauernkriege) haben zu neuen Funktionalisierungen der satirischen Schreibweisen gefuhrt. Die neuen Formen von Öffentlichkeit (wie sie besonders die Flugblattliteratur ermöglicht), das Vordringen der Muttersprache in vormals hauptsächlich 'lateinisch besetzte' Bereiche, insonderheit aber die sich verschärfende Konfessionspolemik lassen Frischlins Zeit, was das poetisch-moralische Recht auf 'satirische Freiheit' angeht, mit der eines Sebastian Brant kaum noch als vergleichbar erscheinen. Exemplarisch hierfür mag das lateinische Schuldrama stehen, in dessen Tradition sich ja ein

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Hier der Knappheit wegen vernachlässigt: vor allem Lukian und die zahlreichen Formen der menippeischen (varronischen usw.) Satire, nicht zuletzt die reiche mittelalterliche Überlieferung mit ihren vielen oft auch regionalen Varianten. Strauß (wie A n m . 1), S. 205. Dazu Könneker (wie Anm. 37) S. 22—43 und vor allem Günter Hess: Deutsch-lateinische Narrenzunft. Studien zum Verhältnis von Volkssprache und Latinität in der satirischen Literatur des 16. Jahrhunderts. München 1971.

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wesentlicher Teil des Frischlinschen Werks bewegt. 50 Hat bei Wimpfeling, Kerckmeister oder Bebel sich der satirische Spott noch überwiegend auf Schwächen des spätscholastischen Unterrichts und auf die Karrieresucht von Klerikern ergossen, so wird etwa in den antirömischen Tendenzdramen des Thomas Naogeorgus schonungslos und erbittert um Glaubens- und Machtpositionen gekämpft. 51 Von einem 'Freiraum' des Satirischen im Sinne noch der hochhumanistischen Ansätze kann kaum mehr die Rede sein. Gewiß gelten solche Tendenzen nicht für den Gesamtbereich der nachreformatorischen satirischen Literatur im Spektrum von Hans Sachs bis zu Johann Fischart. 52 Aber sie gehören offenkundig zu den Voraussetzungen, unter denen der ebenso hochtalentierte wie reizbare Poeta Frischlin seine satirischen Äußerungsformen entwickelt. An zwei für Frischlin einschlägige Teilprozesse, von denen im Jubiläumsjahr wiederholt die Rede war, sei immerhin andeutend erinnert: an die neue „Funktionskrise" des Adels 53 (mit der besonderen Empfindlichkeit gegenüber aller Kritik) und an das Engwerden der Entfaltungsmöglichkeiten in manchen Universitäten. 54 Engwerden in einem mehrfachen Sinn: Überproduktion an universitär Ausgebildeten, wissenschaftlich Ehrgeizigen (mit dem besonderen württembergischen Phänomen des 'Theologenexports' — der aber bei dem Humanisten Frischlin nicht helfen konnte); weitgehendes Sichabschließen des Lehrkörpers nach außen, Kleben an den einmal errungenen Lehrstühlen über Jahrzehnte hin; 5 5 aber auch Engwerden in einem - hiermit durchaus zusammenhängenden — mentalitätsgeschichtlichen Sinn: Orthodoxisierung, Zunahme der Intoleranz, auch der ins Kleinliche gehenden Streitsucht. Was in dieser literarischen Lage dem überspannten Selbstbewußtsein, dem humanistischen Ehrgeiz und der — besonders im Alkohol - hohen Reizbarkeit des Poeta, und was den ständischen Spannungen, auch der akademischen Atmosphäre anzulasten ist, wird sich nie auseinanderrechnen lassen. Doch es liegt

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Hierzu der neueste Stand bei David Price: T h e political dramaturgy of Nicodemus Frischlin. Essays on humanist drama in Germany. Chapel Hill and London 1990 (dort auch die umfangreiche ältere Literatur). Im „Musterstück" Pammachius des Naogeorgus zum Beispiel wird der Titelheld (ein Bischof) in einer Höllenszene gezeigt, wie er mit dem Satan einen Pakt schließt, und der Papst inszeniert dem Teufel eine rauschende Siegesfeier. Zur Konfessionspolemik im Drama vgl. auch die Beiträge von Richard E. Schade und Fidel Rädle (wie Anm. *). Neuester Überblick bei Arntzen (wie Anm. 38), S. 1 7 1 - 2 0 2 . Von ihr ist in mehreren Historiker-Beiträgen wiederholt die Rede, etwa bei Volker Press und Dieter Stievermann (wie Anm. *). Dies gilt vor allem für die protestantischen Hohen Schulen. Frischlin hat es bei seinen vielen Versuchen des Fußfassens immer wieder erfahren müssen. Für Tübingen exemplarisch errechnet von Volker Schäfer (wie Anm. *).

Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit' auf der Hand, daß der junge, vielseitige, virtuose Vertreter der humaniora mit seinem prinzipiellen Anspruch auf Poeten-'Freiheit' massiven Widerspruch provozieren mußte. Denn es ging ihm ja nicht um jene „licentia poetica" oder „poetarum licentia", von der beispielsweise schon Cicero in De oratore spricht (3, 38, 135; häufig auch Quintilian) und die sich wesentlich auf Abweichungen in Wortgebrauch und Grammatik bezieht.56 Frischlin zielte auf ein moralisch-gesellschaftliches Sonderrecht des akademischen Poeten, das die Legitimation auch zur satirischen Kritik einschließt. Darin stecken zwei brisante Probleme zugleich. Es ist höchst bezeichnend, daß Frischlin in der erwähnten Sallustvoriesung vom Jahre 1581 die Freiheit, den „Scharrhansen" die Wahrheit zu sagen, kurzerhand aus den „Freiheiten Academiae" herleitet, sozusagen als paradigmatischen Punkt: „wo das nicht ist, so hat man keine Freiheiten".57 Der Poet verkörpert in herausgehobener Funktion nicht nur einen kulturellen Standard - man denke an Eobanus Hessus im Julius redivivus, wo dieser glanzvolle Humanist den Altrömern Caesar und Cicero das 'moderne' Deutschland vorführt58 - , sondern als akademischer Poet repräsentiert er zugleich die libertas academica schlechthin. Und: Diese libertas bedeutet, als durch den Vertreter der humaniora wahrgenommen, das Recht auf moralische Kritik, und sei es auch Adelskritik. Diese Ideologie, von Frischlin mit apologetischer Emphase vorgetragen, konnte außerhalb der Universität, gar in der Reichsritterschaft, nur als schiere Anmaßung, ja als Usurpation erscheinen. Und auch die Korporation selbst, allen voran der Kanzler, konnte schon wegen der externen Konsequenzen diese Hineinssetzung von libertas poetica und libertas academica nicht tolerieren. Indes, aus Frischlins Poeten-Selbstverständnis heraus ist die Freiheit zur satirischen Kritik, zum vituperare, nur notwendiges Komplement zum Amt des laudare, wie es glanzvoll-repräsentativ für Universität und Fürstenhaus im Carmen Seculare greifbar wurde. Wenn er etwa in Fraw Wendeigard fem Stuttgarter Hof und seinem Herzog theatralisch huldigen und in Phasma die Verwirrung der Andersgläubigen auf der Bühne verspotten durfte: Warum wurde ihm nicht verstattet, im durchaus typisierenden Kontext der Oratio de vita rustica Mißstände im Bereich der nobilitas namhaft zu machen? In seinen vielen nachträg-

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Auch auf metrische Freiheiten. Ein hiervon sorgfältig unterschiedenes Feld ist die Freiheit des „Erfindens", des Abweichens von Überlieferung (etwa bei Erzählstoffen) und prinzipiell des „fingere" (das dann, als „Erschaffen" illusionärer "Welten, ins Feuer christlicher Kritik gerät). Oben S. 48. Wilfried Barner: Vorspiele der Querelle. Neuzeitlichkeits-Bewußtsein in Nicodemus Frischlins Julius redivivus, in: Fortuna vitrea. Festschr. f. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Bd. 2. Tübingen 1992, S. 873-892.

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liehen Rechtfertigungen, von der förmlichen Apologie des Jahres 1580 an, hat Frischlin immer wieder darauf verwiesen, daß er weder den Adel generell angegriffen noch gar bestimmte Namen genannt habe. 59 Hier ist an eine Unterscheidung innerhalb der satirischen Schreibart zu erinnern, die bereits antiken Ursprungs ist und dann im 16. Jahrhundert neue Bedeutung gewinnt: die 'lachende' und die 'strafende' Satire. 60 Die 'lachende' Satire nimmt sich aus überlegener Distanz eine vergleichsweise harmlose Torheit vor (etwa Kleiderluxus oder auch eine literarische Mode — beides beliebte Satirethemen schon der Antike), die sie dem Gelächter der Einsichtigen preisgibt. Hier ist sie dem ridere der Komödie ganz nahe, sie wird auch häufig analog moralisch legitimiert (aus dem Zweck der 'Besserung'). Diesem Typus hat man gerne die oft feinfühligen, moralphilosophisch getönten Satiren des Persius als Muster zugerechnet - eben desjenigen Autors, dem sich Frischlin als universitärer Poeta besonders widmete, zu dem er auch ein Bändchen mit Text und Paraphrasen publiziert hat (1582). 61 Die 'strafende' Satire attackiert vorzugsweise gefährliche Perversionen, Sexuelles, Kriminelles, aber auch etwa religiöse Vergehen; hier ist das Muster der als düster-pessimistisch geltende Juvenal - den Frischlin in seiner Sallustvorlesung ja auch als 'Brücke' zitiert, bevor er zu seiner scharfen Kritik der „Scharrhansen" ausholt. Hier, bei der 'strafenden' Satire, setzt auch eine einschlägige 'wirkungsästhetische' Waffenmetaphorik an, von den satirischen 'Spitzen über die 'Pfeile' bis zu den schweren 'Geschossen' (ein metaphorisches Arsenal, mit dem noch im 18. Jahrhundert über die Typen der Satire — und des Epigramms - gestritten wird). 'Straf(f)red', 'Strafrede' setzt sich während des 16. Jahrhunderts, neben 'Schimpfred' (der im allgemeinen zahmeren Variante) als der wichtigste Eindeutschungsversuch für satura durch. Wie weit aber reicht seit Brant, Murner und Erasmus die 'satirische Freiheit'? Wie weit reicht sie insbesondere, wenn der Angriff nicht im Typisierten bleibt, 62 sondern - auch dieses Problem wird schon im antiken Rom diskutiert 63 - Persönliches, gar Ehrverletzendes aufgreift, sich

Einschlägige Frischlin-Zitate bei Schreiner (wie Anm. 1), S. 123—127. Eine knappe Zusammenfassung (mit Hinweisen auf Quellen und Sekundärliteratur) gibt Könneker (wie Anm. 37), S. 19—21. Bekanntlich arbeitet noch Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung mit dieser Typologie. Der Text ist dann mehrfach zusammen mit den Paraphrasen zu Horazens Epistulae gedruckt worden - offenbar ein gern benutztes Lehrbuch. Hierzu, was das wichtige Beispiel Hofkritik betrifft, Helmuth Kiesel: Bei Hof bei Holl. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979. So besonders in Vorreden und programmatischen Gedichten bei Horaz, Juvenal, Martial u.a.

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Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit' also dem Pasquill64 annähert? Das Zeitalter der Konfessionskämpfe hat einem besonders legitimierten Satiretypus Vorschub geleistet, den Günter Hess im Anschluß an eine Kennzeichnung des Brant'schen Narrenschiffs durch den Abt Trithemius von Sponheim „divina satyra" genannt hat:65 'göttliche Satire' in dem Sinn, daß hier der satirische Blick auf die Verderbtheit, die Verblendetheit der Welt (so bei Brant), daß dieser universal religiös gerichtete Blick auf die Welt etwas Göttliches an sich hat, jedenfalls in seinem strafenden Impetus göttliche Rückbindung, wenn nicht gar Beauftragung beanspruchen kann. Es ist dieser Satiretypus, der sich aus der ins Unübersehbare anwachsenden konfessionell bestimmten Streit- und Satirenliteratur des 16. Jahrhunderts,66 von den Dialogen des Hans Sachs bis zu den antipapistischen Dramen des Thomas Naogeorgus, als Ausdruck eines besonders hehren officium heraushebt.67 Und es ist eben dieser Anspruch, den Frischlin für seine Oratio de vita rustica und ihre adelskritischen Partien dem Kanzler Andreä gegenüber hartnäckig verteidigt: nämlich, wie der Kanzler es widersprechend zusammenfaßt, die Mängel und Laster der verschiedenen Stände zu rügen,68 oder wie es vier Jahre später in der zitierten praefatio heißt, sich mit der „Sorge für das Heilige" zu befassen und dabei auch „Tadel und Ermahnung" zu praktizieren - wie Hutten, Brant, Murner, von Horaz, Persius, Juvenal nicht zu reden. Es ist das alte officium des Satirikers, vituperare, nun aber religiös gewendet, und hier schiebt der orthodox disziplinierende Kanzler sofort den Riegel vor: Das ist Amt der Geistlichen. Höchst bemerkenswerterweise leistet gerade hier der Herzog Ludwig seinem Günstling zunächst Sukkurs, wohl um den aufmüpfigen und überempfindlichen Adel in seine Grenzen zu weisen und auch die universitären Autoritäten zu relativieren. In seiner Antwort vom 5. Januar 15 8 1 69 an die Ritterschaft schiebt er nachgerade dem Adel die Schuld zu, da er sich unrechtmäßig ein Exemplar der Oratio besorgt habe. Frischlin habe glaubhaft versichert, keineswegs die ganze Ritterschaft oder allgemein den Adel mit seiner Rede „zu injurirn oder zuschmehen" (das alte Problem der 'justitiablen Satire oder des Paquills!). Und nun das Entscheidende: Frischlin habe als Orator, Historicus, Poeta und Prae-

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O b des juristischen Aspekts (Einklagbarkeit der Ehre bei verletzendem Pasquill) ist die Unterscheidung von Satire und Pasquill auch in literaturtheoretischen Diskussionen bis weit ins 18. Jahrhundert hinein sorgfältig beachtet worden. Hess (wie A n m . 49), S. 8 7 - 9 8 u.ö. Für das Spektrum muß wieder auf Arntzen (wie A n m . 38) und Könneker (wie A n m . 37) verwiesen werden. In den Rechfertigungsversuchen begegnet wegen des „Schmerzenden" der Satire besonders häufig das officium des Arztes als Vergleich oder gar als Metapher. Im folgenden zitiert nach Strauß (wie Anm. 1), S. 204. Zitiert nach Schreiner (wie Anm. 1), S. 127.

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ceptor sein Recht wahrgenommen, „die Tugenden der Frommen und ehrenliebenden öffentlich zu loben u n d die laster der unehrbaren und bösen in allen Stennden zu taxirn oder zu straffen". Bis in die Terminologie des 'Strafens' hinein hat der Herzog - bzw. seine Sekretäre - hier Frischlins Ideologie der 'satirischen Freiheit' des akademischen Poeta adoptiert. Fällt er damit nicht sowohl dem attackierten Adel wie auch vor allem der Leitung seiner Landesuniversität in den Rücken? Diese Interessenkonstellation, von der Frischlin so manches Mal profitiert hat, soll weniger die Aufmerksamkeit bestimmen als die Tatsache, daß hier ein Kernproblem unseres Themas auf den Punkt gebracht ist. Im Selbstverständnis verbindet sich (und das wird vom Herzog aus erklärbaren Gründen auch noch unterstützt) die alte moralisch-soziale Mahnfunktion der Satire/des Satirikers, sein Anrecht auf „vituperate" aus „indignatio" heraus, 70 mit dem schon etwas in die Jahre gekommenen humanistischen Anspruch des universitären Poeta auf prinzipielle libertas in seinem Amt, eine libertas oder licentia, die eben auch satirische Ständekritik umfaßt. Die Kollision mit den Interessen der Geistlichkeit mußte Frischlin — daran kann kein Zweifel bestehen — bewußt sein. U n d dies mitten in einen Prozeß hinein, in dem vor allem der lutherische Klerus seine Kirchenu n d staatstragende Funktion Stück für Stück ausbaute. 71 Es ist, als ob Frischlin, der immerhin eine Frau aus der Reformatorenfamilie Brenz geehelicht hatte, ihn nachgerade provokatorisch habe ignorieren wollen. Jedenfalls sollten die „Gränzen" seines Sendungsbewußtseins als Poeta dadurch nicht eingeengt werden. Es ist charakteristisch, daß er mit seiner Erwiderung ostentativ auf eine vor- oder allenfalls frühreformatorische Ära zurückgreift, als der poetisch-moralische Impetus des Hochhumanismus noch ungeschwächt war. Die 'Nichtgeistlichen' Brant, Murner, Eobanus Hessus u n d Hutten stehen ihm für eine gleichsam noch heroische Frühzeit. Frischlins Trotz besitzt auch hier etwas von der Attitüde des zu spät Kommenden, der einen hohen Anspruch mit einer Mischung aus religiösem Sendungsbewußtsein und reizbarer Arroganz durchzusetzen sucht. D a ß er sich dabei in seiner Verteidigung der 'satirischen Freiheit' auch auf die römischen Muster Horaz, Persius und Juvenal beruft, liegt auf der Hand; und daß er Persius u n d die Epistulae des Horaz je auch mit einer Publikation bedenkt, rechnet er zu seiner Philologenpflicht. 72

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Vgl.Anm. 41. Hierzu die Beiträge von Jörg Bauer und Volker Press (wie Anm. *). Vgl. Anm. 61. Dieser Bereich des Frischlinschen (CEuvres ist bisher nur sporadisch gewürdigt worden, am ausführlichsten immer noch von Strauß (wie Anm. 1).

Nicodemus Frischlins 'satirische

Freiheit'

Eigentümlich und besonderer Aufmerksamkeit wert ist hier sein intensives Sich-Einlassen auf Aristophanes.73 Frischlin kommt das Verdienst zu, in der — vergleichsweise späten - humanistischen Wiederentdeckung dieses Hauptvertreters der älteren attischen Komödie eine Pionierleistung vollbracht zu haben. Durch seine textkritischen Versuche, die metrische Übersetzung einiger Stücke ins Lateinische, durch die Einführungen und Interpretationen (auch Vergleiche mit Plautus und Terenz) hat Frischlin diesen Autor neu zugänglich gemacht:

Aristophanes, veteris comoediaeprinceps,

poeta longe facetissimus

et

eloquentissimus

[...], wie das Titelblatt (1586) verheißt.74 Natürlich ist Frischlin vorrangig von dem Theaterautor angezogen worden, und man hat längst auch Anregungen für seine eigene Theaterproduktion beobachtet, etwa die Heraufholung Caesars und Ciceros aus der Unterwelt im Julius redivivus, analog zu den Fröschen des Aristophanes — und vieles andere. Vielleicht am tiefsten aber hat ihn der Autor angezogen, der mit Witz und Schärfe („facetissimus") sein öffentliches officium als Poet wahrgenommen und als Patriot gesellschaftliche Mißstände auf die Bühne gebracht, seinem Publikum ins Gewissen geredet hat. Man braucht die Parallelen nicht im Detail auszuziehen. Horaz nennt in der bereits erwähnten Satire I 4 Aristophanes, Eupolis und Kratinos als diejenigen Autoren der alten Komödie, von deren libertas sein Vorbild als Satiriker, Lucilius, ganz abgehangen' habe. Aristophanes ist, so betrachtet, der älteste uns mit einem größeren Corpus überlieferte Autor der antiken satirischen Tradition. Und gerade das hat offenkundig den späthumanistischen Frischlin gereizt. Im Julius redivivus (v. 1842) verkündet der Unterweltsgott Pluto als Aufgabe der Poeten genau das, was Frischlin in seinen vielen Rechtfertigungen - nicht nur gegenüber dem Kanzler Andreä - immer für sich als Doppel-officium beansprucht hat: „Volo laudare illos [sc. Poetas] culpanda et rursus culpare laudanda"; sie sollen „veritatem effari" und damit gegen die Macht des Satans in der Welt kämpfen; sie sollen „Παρρησιαζοντες poetae" sein (v. 1848), d.h. Redefreiheit praktizieren.75 Altgriechische, attische Parrhesie, die bei Aristophanes auch die Redeweisen des Grotesken und Burlesken einschließt, Redefreiheit, die auch das vituperare des zu Tadelnden ermöglicht, ist das Ideal, das Aristophanes - vielleicht ausgeprägter noch als Persius und Juvenal oder Brant und Murner — für Frischlin

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Price (wie Anm. 50), S. 5 1 - 5 4 und S. 1 2 1 - 1 2 3 gibt einstweilen die kompetenteste knappe Zusammenfassung (der Verfasser hat über Frischlins Aristophanes-Beschäftigung seine Magisterarbeit geschrieben). Die Auswahl der Stücke (die Frischlin zu erweitern beabsichtigte): Plutos, Ritter, Wolken, Frö-

sche, 75

Acharner.

Dazu näher Price (wie Anm. 50), S. 67f.

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Humanistische Pioniere verkörpert.76 Man mag dieses Verhältnis unterschiedlich interpretieren, psychologisch als nostalgisches oder sentimentalisches Beschwören von etwas Unerreichbarem, oder auch traditionsanalytisch als ein humanistisches argumentum auctoritatis für das, was hier mit dem Verständigungsbegriff 'satirische Freiheit' bezeichnet wurde. Daß Frischlin den wiederentdeckten77 Aristophanes überdeutlich als einen „facetissimus" herausstellt, erinnert an die Ubergängigkeit der Bezeichnungen im Umkreis von 'satirisch', und an die noch offene Aufgabe, das ganze Spektrum des Satirischen in Frischlins weitgespanntem CEuvre näher ins Auge zu nehmen: die Gegenstände, die Anlässe, die Gattungsformen, die Stilkombinationen, die Zwecke,78 und dies wiederum im Kontext vor allem der lateinsprachigen Literatur der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.79 Die Oratio de vita rustica, von der hier wiederholt gesprochen wurde, trägt ja durchaus nicht im Ganzen satirischen Charakter. Es sind nur kurze adelskritische Partien, an denen sich die Diskussion immer wieder entzündet hat und auf die hin Frischlin sich gezwungen sah, seine - auch - 'satirische' Freiheit zu erklären und zu verteidigen. Es ist eine Freiheit, die ihm bei anderen Objekten seiner satirischen Feder offenbar bereitwillig, jedenfalls ohne massivere Beanstandungen durch die Autoritäten (Universität und Herzog) eingeräumt wurde. Nur drei Textgruppen seien hier genannt. Wenn Frischlin sich in der humanistischen Prestigegattung der Fazetie80 versuchte (eine Sammlung von Facetiae selectiores erschien zuerst postum 1600), so stellte er sich dabei schon in eine Tradition, die mit Poggio Bracciolini eingesetzt hatte und die von Frischlins Tübinger 'Vorgänger' Bebel, dem 'deutschen Poggio', auch akademisch sozusagen hoffähig gemacht worden war. In dieses spezifisch neuzeitlich-humanistische genus war ein Großteil der breiten satirischen Überlieferung (seit „ A r i s t o p h a n e s facetissimus") eingegangen. Wenn Frischlin hier sich Stadtbürger, Bauern, Professoren und Kleriker

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Dies gilt jedenfalls unverkennbar für den Julius redivivus, dessen humanistisch-patriotischer „Bekenntnis"-Charakter auf der Hand liegt. Vgl. Wilhelm Süß: Aristophanes und die Nachwelt. Leipzig 1911; Paul Friedländer: Aristophanes in Deutschland, in: Die Antike 8 (1932), S. 229-253 und 9 (1933), S. 81-104. Wichtige Ansätze insbesondere bei Hess (wie Anm. 49), S. 161-172 und bei Josef Kohl: Nikodemus Frischlin: Die Ständesatire in seinem Werke. Diss. Mainz 1967 (mit der These, Frischlin habe sich nach und nach, stufenweise, die einzelnen Stände kritisch „vorgenommen"). Die von Hans-Gert Roloff (nach verdienstvollen Ansätzen von Adalbert Eischenbroich) neu initiierte Frischlin-Ausgabe, jeweils mit Übersetzungen der lateinischen Texte, wird dieser Aufgabe, wie zu hoffen steht, ein neues Fundament geben. Wilfried Barner: Überlegungen zur Funktionsgeschichte der Fazetie, in: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1992, S. 2 8 7 - 3 1 0 .

Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit'

'schwänkisch' vornahm (auch einmal 'Adliges'), so war dies alles durch Gattungsautoritäten, durch anonyme Erzählüberlieferung und durch Typisierung (Tradition etwa der Ständesatire) weitgehend 'abgefedert'; kein Universitätskanzler hat ihn, soweit ich sehe, je ob solcher Texte zur Rede gestellt.81 Dies gilt ebenso für die zahlreichen Schriften, in denen Frischlin als eifriger, mitunter auch eifernder Unterrichtsreformer (vor allem auf dem Gebiet der lateinischen Grammatik) Sprachschnitzer von Kollegen und von Lehrbuchautoren satirisch aufspießte. 82 Die innergelehrten Polemiken, die sich etwa um die einschlägige Strigilis entspannen, waren weitgehend durch die Eigengesetzlichkeiten des bellum philologicum abgesichert. Und die immer wütenderen Abrechnungen mit seinem ehemaligen Lehrer und nunmehr ihm zutiefst mißgünstigen Kollegen Martin Crusius gingen so ins Persönliche, daß sie vom Prinzip der 'satirischen Freiheit', wie es Frischlin für den Poeta postulierte, kaum noch berührt wurden. Das Feld, auf dem Frischlins satirische Ader sich am vielfältigsten, am virtuosesten entfaltet hat, ist natürlich - wie schon mehrfach angedeutet - das lateinische Drama: mit einer fast schon überständigen Tradition spezifisch satirisch ausgestalteter Szenen seit Wimpfeling, Kerckmeister und Bebel, vorzugsweise zur Demonstration von Mißständen eingesetzt und im Zeichen der Konfessionspolemik mittlerweile auch zum puren Mittel der Agitation herabgesunken. Wenn in der Religionskomödie Phasma, 1580 in Tübingen zur Fastnacht (!) vor auch 'hohen Personen' aufgeführt, die Andersgläubigen, Schwärmer und Sektenangehörigen in ihren 'Visionen' als vom Teufel geblendet vorgeführt werden, so wissen sich die Zuschauer mit dem Autor auf der 'richtigen' Seite (so auch, wenn beim Universitätsjubiläum 1578 der Priscianus vapulans einen verrotteten Grammatikunterricht durchhechelt). Selbst wenn in der muttersprachlichen Komödie Fraw Wendeigard, 1579 am Stuttgarter Hof inszeniert, die weitgereisten Bettler 'Heiratspolitik' wie die Fürsten treiben, in Nebenszenen, bleibt dies für das Hofpublikum goutierbar. Und im Julius redivivus, der ehrgeizigen lateinischen Zugabe zu den Stuttgarter Hochzeitsfeierlichkeiten im Mai 1585 (mit deutschen Verstehenshilfen), bestätigen der radebrechende lombardische Kaminfeger und der schmierige französische Tandverkäufer durch ihre satirische Präsentation, wie es das 'neue' Germanien, insonderheit Schwaben, doch so herrlich weit gebracht hat.

Diese Texte sind freilich zu Frischlins Lebzeiten auch noch nicht als Sammlung erschienen. Der am erbittertsten attackierte Gegner ist auch hier Martin Crusius, der auf Frischlins satirische Invektiven mit eigenen Gegenschriften antwortete; zu dieser „Feindschaft" vgl. den Beitrag von Hubert Cancik (wie Anm. *).

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Funktionalisierte Satire dieser Art, nicht als eigene Gattung - wie man es von den Fazetien noch behaupten könnte - , sondern als Kompositionselemente eines lateinischen Dramas in humanistischer Tradition, auch dem (Stuttgarter) Hof bereits attraktiv gemacht: Solcherart Satire hat dem Frischlinschen Theater Buntheit, 'Terrassendynamik', szenischen Einfallsreichtum, Vielfalt der sozialen Spiegelungen ermöglicht oder doch dazu beigetragen. Aber daß ein solches Drama geschaffen wurde, ist humanistische Errungenschaft auf einem bestimmten Kulturniveau, von einem genialischen Einzelnen auf die Bühne gebracht. Ein Poeta, Eobanus Hessus (von Frischlin selbst gespielt), ist es, der im Julius redivivus eben dieses erreichte Niveau repräsentiert und den staunenden Altrömern präsentiert. Als das Stück in glanzvollem Rahmen über die Bühne geht, liegt der Ausbruch der Adelsfehde ein halbes Jahrzehnt schon zurück. Die ersehnte Stelle an der Tübinger Universität hat der Autor immer noch nicht erhalten. Die Hoffnungen, die sich an einen mehrmonatigen Straßburger Aufenthalt knüpfen, haben sich zerschlagen. Im Jahr nach dem Stuttgarter Prestige-Erfolg wird er in Tübingen mit einem Ehebruchs-Vorwurf konfrontiert, flieht, kehrt zurück, wird arrestiert und muß schließlich Württemberg verlassen. Das jahrelange, zermürbende 'Wanderleben beginnt. Unterwegs schafft dem Poeta die Inklination zur Satire immer wieder auch Feinde, so in Braunschweig.83 Seine Gegner unter den Tübinger Kollegen und vor allem in der Reichsritterschaft lassen ihm keine Ruhe. Im Herbst 1587 gelingt es ihm, in Wittenberg, an Melanchthons Hoher Schule,84 zeitweise Fuß zu fassen. Vor einem Auditorium, zu dem auch eine Reihe Hochadliger zählen, deklamiert er - ganz in der auch Melanchthonschen Tradition 85 — zur Eröffnung von Privatlektionen eine humanistische Programmrede: Oratio de exercitationibus oratoriis et poeticis.86 Unsere Aufmerksamkeit soll nur dem Schlußabschnitt gelten, einer der eigenartigsten Partien des gesamten Frischlinschen Werks. Er ist gemischt aus christlicher Ergebenheit, satirisch-anklagenden Ausfällen, Formulierungen, die sich wie Manifestationen von Verfolgungswahn lesen, ja von Märtyrerperspektive. Mit apokalyptischen Vorstellungen von der eigenen Ära ruft er den 'höchsten Redner' um Hilfe in seinem humanistischen Kampf gegen das Wüten des Satans auf (wie in der „praefatio" vom Jahre 1585 und wie Pluto im Julius redivivus): „fac, ut in hac

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Strauß (wie Anm. 1), S. 419ff. Zu Melanchthon, so ging das Gerücht, habe Frischlin sich abfällig geäußert; es gelang ihm jedoch, dieses Vor-Urteil durch Lobeshymnen zu korrigieren. Wo Melanchthon im Jahre 1518 mit der (bald berühmt gewordenen) Deklamation De corrigendis adolescentium studiis seine Reformtätigkeit programmatisch begonnen hatte. Noch 1587 in Wittenberg gedruckt erschienen.

Nicodemus Frischlins 'satirische Freiheit'

delira mundi senecta, haec artium et linguarum Studia contra furores Sathanae conserventur"; Fürsten mögen sich aufgerufen fühlen, die „studia" zu fördern, „ut quibus nos telis aliunde impetimur usum fructum tueri possimus". 87 Die 'Geschosse', mit denen der Satiriker all die Jahre sendungsbewußt operiert hat, bedrohen n u n auch ihn selbst. Auch der Wittenberger Versuch schlug fehl, und die weiteren Stationen seines Umhergetriebenseins brachten allenfalls für kurze Zeit einmal neue Hoffnungen. D a ß er schließlich die verhängnisvolle Invektive gegen wichtige Persönlichkeiten des Stuttgarter Hofs (März 1590), die sogenannte Famosschrift, im Suff geschrieben haben will und so zu revozieren versuchte, bedeutete den schmählichen Höhepunkt, der den einst um seine 'satirische Freiheit' kämpfenden Poeta nur noch als den „rasenden Poeten" erscheinen ließ. 88 Welches Licht fällt vom Ende her auf dies Ideal, für das der eingeschworene Individualist mehr als einmal erbittert gestritten hat? Sicher wäre es verfehlt, unter Fixierung auf den Patrioten und den Adelskritiker — der das Frischlinbild lange Zeit geprägt hat - nun auch diese licentia als Forderung eines Pioniers zu interpretieren, der es dem verrotteten Adel und der professoralen Mediokrität einmal gezeigt hat. Eher stellt sich sein Insistieren auf der Freiheit des Poeta, mit Lizenz auch zum Satirischen, als späte, radikal auf seine persona gewendete Inanspruchnahme eines Rechtes dar, das einmal evidenter moralisch-gesellschaftlich legitimiert gewesen war. 89 Seine Verehrung der aristophanischen Parrhesie mag man als verklärend ansehen, aber in ihrem poetisch aktivierenden Impetus erwies sie sich bei Frischlin als genuin humanistisch. Der Punkt des generalisierenden Überziehens, mit Tendenz zur satirischen superbia, ist wohl spätestens in dem Moment erreicht, als er den persönlichen publizistischen Ehrgeiz mit dem moralisch-religiösen Pathos des universitären Poeta in seiner Person zu identifizieren versucht. Der Herzog unterstützt ihn darin vorzugsweise deshalb, weil er damit sowohl der unruhig gewordenen Ritterschaft als auch den universitären Hagestolzen eins auswischen kann. Die exemplarische Kollision mit den officia der lutherischen Geistlichkeit - gewiß nur ein Teilaspekt - konnte Frischlin nicht auf die Dauer bestehen. 90 Im Grunde unternahm Frischlin den nachreformatorischen Versuch, die moralistischen Rollen eines Brant oder Murner unter erheblich veränderten

Oratio de exercitationibus oratoriis et poeticis, S. 33. Z u dieser Leitformel: k n a p p e Z u s a m m e n f a s s u n g m i t charakteristischen Zitaten bei Röckelein u. Bumiller (wie A n m . 2), S. 1 2 1 - 1 3 3 . Z u r religiösen F u n d i e r u n g vgl. die in A n m . 44 u n d 4 5 g e n a n n t e n Arbeiten. Die Kollision ereignet sich vor allem auf der Ebene des prinzipiellen Anspruchs, nicht etwa von Person zu Person.

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ständisch-konfessionellen und publizistischen Verhältnissen durchzuspielen oder zumindest Segmente dieser Rollen. Und dies in einer historischen Periode, als das Lateinische längst in die Enge geraten war, als selbst an den Universitäten der Poeta althumanistischer Provenienz kaum mehr eine Pionierrolle einzunehmen vermochte. 'Satirische Freiheit' artikulierte sich längst im muttersprachlichen Dialog, im Flugblatt, ja im Schwankroman viel attraktiver. In seiner prinzipiellen Verteidigung, bei der er sich auf die großen satirischen Autoritäten bis zu Hutten und Brant und Horaz und Juvenal zurück beruft („praefatio" vom März 1585), 91 weist er mit Entrüstung die Auffassung von Leuten zurück, „welche den Poeten zu einem bloßen Grammaticus machen, dessen Amt es sei, in Schulen oder auf Universitäten Grammatik u n d Prosodie, guten lateinischen Styl und Verskunst zu lehren". Das hat er, mit nicht geringer Anerkennung, auch vermocht; und seine eigentliche Karriere als Schulautor begann erst nach seinem Tode. 92 D a ß er als Solipsist, weit über dieses Fundament hinaus, ein uraltes, aristophanisches Recht durchzusetzen versuchte, hat ihm den Hals gebrochen.

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WieAnm. 1, fol. 5a. Besonders mit seinen Dramen und grammatischen Schriften.

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach *

Wer um die Mitte des 18. Jahrhunderts anhand von Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst die Regeln des poetischen Satzbaus studierte,1 fand dort unter den Mustertexten den Anfang eines Klagegedichts auf Martin Opitz verewigt, das in eigenartiger Weise bukolische Tradition mit Tübinger Lokalkolorit verbindet: An des süßen Neckars Rande Gieng, in tieferregtem Weh Die betrübte Galathee; Als, in einsam wüstem Stande, Corydon, durch grimmen Riß, Sie und ihre Felder ließ. 2

Der Autor des Gedichts, Christoph Kaldenbach (1613-1698), 3 Mitglied des Königsberger Dichterkreises und über vier Jahrzehnte lang (1656-1697) Professor Eloquentiae, Historiarum ac Poeseos an der Universität Tübingen, 4 wird von dem gestrengen Gottsched noch zu den „Meistern in Oden" gezählt5 und neben Dichter wie Opitz, Dach, Fleming, Tscherning und Günther gestellt. Auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts taucht der Name Kaldenbach gelegentlich noch auf, etwa bei Herder;6 und als Schiller die Ludwigsburger Lateinschule besucht, ist an den württembergischen Gymnasien noch im-

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Zuerst veröffentlicht in: Attempto 35/36 (1970), S. 98-118. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig 4 1751, S. 286ff. („Von poetischen Perioden und ihren Zierrathen"). A. a. O., S. 307. Im folgenden können nur die wichtigsten Nachweise gegeben werden. Näheres in meiner Arbeit: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 425-447. Reinhold Scholl: Die Bildnissammlung der Universität Tübingen 1477 bis 1927. Stuttgart 1927, S. 22 (Nr. 23). Vgl. Kaldenbachs Sonett für „Hn. Michael Philip / Kunstreichen Mahler / Als er die Hnn. Professores seiner Zeit zu Tübingen künstlich abgemahlet" (in: Deutsche Lieder und Gerichte. Tübingen 1683, S. 32f.). Gottsched, a. a. O., S. 305. Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Bd. 27. Berlin 1881, S. 230 (aus: Terpsichore).

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Humanistische Pioniere mer ein Rhetoriklehrbuch offiziell eingeführt, das aus der Feder Kaldenbachs stammt. Der Autor selbst aber versinkt bald darauf — wie viele seiner barocken Zunftgenossen — in der Vergessenheit; bis heute ist er dort verblieben. Weder das neuerdings wachsende Interesse an den poetae minores des Barockzeitalters noch die Beschäftigung mit der besonderen Tradition der 'Tübinger Dichterhumanisten' haben bisher auf ihn aufmerksam werden lassen. Dabei ist schon seine geschichtliche Person in ihrer Verquickung von poetischem Ehrgeiz und akademischer Gelehrsamkeit reizvoll und zeittypisch genug, um den Versuch einer 'Ausgrabung' zu rechtfertigen. 7 Am 11. August 1613 im niederschlesischen Schwiebus (Herzogtum Glogau) als Sohn eines angesehenen Tuchmachers, Zunftmeisters und späteren Bürgermeisters geboren, entstammt Kaldenbach einer geographischen Region, die seit Opitz nahezu unbestritten die literarische Führungsrolle in Deutschland beanspruchte. Die Metropole Breslau läßt Kaldenbach in einem diensteifrig-hyperbolischen Widmungstext 8 als „Der Künste Säugerinn" noch vor Mytilene rangieren, dem Ursprungsort von Sappho und Alkaios. Mit dem Stolz auf die Heimat verbindet sich wie bei Gryphius oder Grimmelshausen früh die Realität des Dreißgjährigen Krieges; sie bleibt ein Leitmotiv seiner Dichtung bis ins hohe Alter; MArs / du Störer süsser Frewden / D u der Länder wilde Pest / Die nicht Stadt / noch D o r f f / noch heiden / Ruhig und im Stande lest; Ο du Auszug grimmer Straffen [...]

So beginnt ein Glückwunsch für den befreundeten Komponisten Heinrich Schütz. 9 In einem anderen Gedicht schildert Kaldenbach in grellen Farben die Verwüstungen seiner Geburtsstadt. 1 0

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Grundlage der entscheidenden biographischen Angaben ist, neben Anspielungen in Kaldenbachs Werk selbst, das Programma funebre des Tübinger Rektors vom 19. Juli 1698 (unpaginiert). Darüber hinaus am zuverlässigsten: Georg Reichert: Artikel „Kaldenbach", in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 7, 1958, Sp. 436—440 (musikhistorisch orientiert). Die meisten anderen Nachschlagewerke, von Jöcher über die Biographie Universelle bis zur Allgemeinen Deutschen Biographie, enthalten zahlreiche falsche Angaben. [Zusatz 1997: Vgl. jetzt auch: Christoph Kaldenbach: Auswahl aus dem Werk. Hrsg. u. eingeleitet v. Wilfried Barner. Mit einer Werkbibliographie v. Reinhard Aulich. Tübingen 1977]. Zu Deutsche Sappho. Königsberg 1651. Deutsche Lieder und Getichte (wie Anm. 4), S. 105 (auch als Einzeldruck erschienen, 25. Januar 1648; Karl Goedeke: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung. Bd. 3. Dresden 2 1887, S. 132). Ein nach dem Friedensschluß geschriebenes lateinisches Gedicht publiziert Paul Derks: Lob der westfälischen Friedensstadt. Ein unbekanntes Gedicht Christoph Caldenbachs auf die Stadt Münster, in: Auf Roter Erde 23, 1967, Nr. 101, S. 1. Deutsche Lieder und Getichte, S. 328ff.

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert:

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Noch als Kind muß Kaldenbach „increbescentibus turbis bellicis" 11 Schwiebus verlassen, um in Frankfurt an der Oder das Gymnasium besuchen zu können. 1629 beginnt er dort auch mit dem akademischen Grundstudium; er verfaßt erste lateinische Gedichte (unter anderem De adflictionibus ecclesiae) und hält eine öffentliche Disputation De fortitudine. 1631 wechselt er an die Universität Königsberg. Bald aber ist der Vater offensichtlich nicht mehr in der Lage, das Studium zu finanzieren; auch fehlen potente Geldgeber, so daß Kaldenbach das Studium unterbrechen muß. Er verläßt Königsberg und verdingt sich als Hauslehrer bei einem ostpreußischen Landadligen, dessen höheren Töchtern er „artem pulsandi Clavicordii" beibringen darf. 12 Zugleich eignet er sich vorzügliche Polnisch-Kenntnisse an, die er später auch poetisch und rhetorisch zu nutzen weiß. 1633 kehrt Kaldenbach nach Königsberg zurück und setzt sein Studium fort, bleibt aber darauf angewiesen, nebenher in Patrizierfamilien Privatunterricht zu geben. „Non poterat latere diutius ingenium omnis disciplinae capax, natumque ad quaevis praeclara: quippe quod et Linguas callebat Latinam, Graecam, Hebraicam, Polnicam: et recte noverat philosophari, gustaverat quoque de Poeticis cadis".13 Aufgrund dieser Fähigkeiten wird er 1639 Konrektor der Königsberger Altstädtischen Lateinschule und hat damit - wohl zum erstenmal - etwas festeren ökonomischen Boden unter den Füßen. 1645 wird Kaldenbach Prorektor, zwei Jahre darauf kann er seine Promotion zum Magister der Philosophie nachholen. Das Prorektorat führt er so erfolgreich,14 daß er schließlich 1651 vom Brandenburgischen Kurfürsten als Professor Linguae Graecae an die Universität Königsberg berufen wird. Es ist diejenige Position, die ihn vor allem empfiehlt, als es fünf Jahre später um die Neubesetzung des Tübinger Eloquenzlehrstuhls geht. Kaldenbachs curriculum vitae erinnert auffällig an dasjenige seines acht Jahre älteren Freundes Simon Dach, der nach mehrfach unterbrochenem Studium 1633 Kollaborator, 1636 Konrektor an der Königsberger Domschule wurde und 1639 die Professur für Poesie an der Universität erhielt. Wann Kaldenbach zum erstenmal mit dem Königsberger Dichterkreis, 15 der 'Kürbishütte' um Ro-

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Programma funebre (wie Anm. 7). Ebd. Ebd. („Sein Talent konnte nicht länger verborgen bleiben: für jedes Fach empfänglich und zu allen möglichen hervorragenden Leistungen geschaffen; denn er verstand sich auch auf das Lateinische, Griechische, Hebräische und Polnische, kannte sich in der Philosophie aus und hatte auch schon an den Weinkrügen der Poesie genippt"). Rudolf Möller: Geschichte des Altstädtischen Gymnasiums zu Königsberg i. Pr. Programme Königsberg 1 8 4 7 - 8 4 : 2, S. 14; 5, S. 7; 7, S. 15. Das Wichtigste bei Walther Ziesemer umd Rudolf Haller: Artikel „Königsberger Dichterkreis", in: R L I ( 2 1958), S. 8 6 7 - 8 6 9 .

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bert Roberthin, in Berührung kam, bedürfte ebenso einer näheren Untersuchung wie die Chronologie seiner Gedichte insgesamt. Jedenfalls gehört er zu den jüngsten Mitgliedern (nur Mylius war ebenfalls 1613 geboren, Koschwitz 1614) und hat die anderen - die meisten starben zwischen 1646 und 1660 weit überlebt. In Heinrich Alberts Arien (1638ff.), der repräsentativen Anthologie der Königsberger, ist auch Kaldenbach mit einigen Liedern unter dem Pseudonym Celadon vertreten, zuerst 1641. Aber schon 1638, in dem Jahr, als Opitz die Königsberger besucht, wird Kaldenbach von Simon Dach unter den herausragenden Mitgliedern des Kreises genannt: Celadon, vor welches singen Meine Geige sich entfärbt, Der sein Spiel von dem ererbt, So den Acheron kan zwingen, Geht mit seiner Kunst voran, D a n n sing' ich so gut ich kan.' 6

Auch die Publikation einzelner Gelegenheitsgedichte — meist Leichcarmina reicht bis in die dreißiger Jahre zurück. 17 Eine Sammlung polnischer Gedichte wird 1641 veröffentlicht, 1646 das dramengeschichtlich interessante, „regelmäßige" Trauerspiel Babylonischer Ofen (noch vor dem Leo Armenius des Andreas Gryphius!),18 1648 die Deutschen Grab-Getichte und die Deutschen Eclogen oder Hirten-Getichte. 1651, das Jahr der Berufung an die Universität, bringt einen vorläufigen Abschluß der Publikationstätigkeit: einen Band lateinischer Gedichte mit drei Büchern Lyrica und einem Buch Rhythmica (geistliche Hymnen) 19 sowie die Deutsche Sappho mit teilweise selbst komponierten Liedern. Die paupertas, die schon Horaz als den entscheidenden Impuls zum eigenen versus facere bezeichnete (Epistulae 2, 2, 51 f.), ist auch bei Kaldenbach der nüchterne Hintergrund der so umfangreichen kasualpoetischen Produktion. Was ihn jedoch den Anschluß an die 'Kürbishütte' finden Iäßt, ist seine früh schon erkennbare, ausgeprägte Musikalität. 20 Die enge Verbindung von Gedicht und Lied gehört zu den spezifischen Königsberger Traditionen; sie prägt auch den stilistischen Grundton des Kreises, jenen melodiös geführten, sanft gleitenden Sprachrhythmus, den Kaldenbach offenbar rasch zu beherrschen

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Gedichte. Hrsg. v. Walther Ziesemer. Bd. I. Halle 1936, S. 50. Goedeke.a. a. O., S. 132. Der Leo Armenius wurde zwar schon 1646 in Straßburg geschrieben, aber erst 1650 veröffentlicht. Hierzu Paul Derks: Die sapphische Ode in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Diss. Münster 1969, S. 197ff. Einzelheiten in dem bereits zitierten MGG-Artikel von Georg Reichert (wie Anm. 7).

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph

Kaldenbach

lernt. Getragen vom Leitmotiv des memento mori, dominiert dieser Ton namentlich in den Deutschen Grab-Getichten: DEs bemühten Lebens Tag Endlich hier sich endet / Meiner Sterbligkeit Vertrag Wird an mir vollendet: Vnd ich lege müd' vnd matt / Der vergönnten Jahre satt / Die geneigten Glieder Sanfft zu schlaffen nieder. Du so offt gewündschte Nacht / Sey / ο sey willkommen. Ach wie hoch vnd werth geachtt Wirstu angenommen! Keinem Tagelöhner ward Je so lieb die Abend-Fahrt / Als dein süsses weiden Mir bringt Trost vnd Frewden. 21

Neben Texten solcher Art, derentwegen man den Königsbergern gern 'unbarocke' Schlichtheit, ja Volkstümlichkeit attestiert hat, steht auch bei Kaldenbach ein umfangreicher Komplex akademisch-prätentiöser Kasualdichtung: meist in lateinischer Sprache und nicht selten in engem Konnex mit Ereignissen der Königsberger Universität. Außer Dach und Kaldenbach unterrichten dort auch andere Freunde aus der 'Kürbishütte', so Valentin Thilo der Jüngere (1607—1662), der seit 1634 die Professur für Beredsamkeit inne hat.22 In dieser Sphäre entfaltet sich das poetische Metier mit einer spezifischen 'gelehrten' Tendenz als formvollendetes, allusionsreiches Verfugen über die antik-humanistische Tradition. Und ganz in diesem Sinn wird sich Kaldenbach auch in Tübingen einfuhren: Salvete dulcis Neccari Deae dulces! Salve sacrata Phoebo et inclytis Musis Sedes, celebrium decus Lyceorum, Illustris ö Tubinga, salve et aprici Tecum per orbem latfe amabilem colles, Amoenioris grata mansio Bacchi. 23

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Deutsche Grab-Getichte. Elbing 1648. 2. Buch, S. 6 5 (zu 1. Thessalonicher 4, 13f.). Dieses Fach wird gelegentlich zu Unrecht Dach zugeschrieben, so von Reichert (wie A n m . 7),

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Oratio inauguralis de regno eloquentiae. Tübingen 1657, S. 5 („Seid gegrüßt, ihr lieblichen Göttinnen des lieblichen Neckars, sei gegrüßt, du Stätte, die Apollon und den vielgepriesenen Musen geweiht ist, d u Glanzstück unter den berühmten Hochschulen, strahlendes T ü b i n g e n , sei gegrüßt, und mit dir die sonnigen Hügel weithin in der reizvollen U m g e b u n g , bevorzugter Aufenthaltsort des vergnüglichen Bacchus").

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Kaldenbachs umfangreiches CEuvre, sein Name auf dem Gebiet der Kasualpoesie, seine lange pädagogische Erfahrung, seine akademische Stellung, das Beispiel seiner beiden Freunde Dach und Thilo - alles dies dürfte, eventuell unterstützt durch persönliche Empfehlung, 24 mit im Spiel gewesen sein, als im Jahr 1655 der Ruf nach Tübingen erging. Nach Ausweis der Universitätsakten (Senatsverhandlung vom 4. Mai 165 5) 25 schlugen die fürstlichen Visitatoren zunächst Magnus Hesenthaler vor, der später von Eberhard III. als Hofhistoriograph nach Stuttgart geholt wurde. Doch schon am 1. August steht Kaldenbach an erster Stelle, „und so derselbig eß recusirt, Η [err] Köhler zu Breßlau"; 26 gemeint ist Christoph Köhler, der seinerzeit weitbekannte Poet, Rektor des Breslauer Elisabethgymnasiums und Lehrer zahlreicher Barockautoren. 27 Ein herzogliches Reskript vom 28. August bestätigt die Präferenz, 28 danach scheint der Ruf offiziell ergangen zu sein. Am 13. Februar 1656 unterzeichnet der Herzog die Bestallung Kaldenbachs zum Professor Eloquentiae, Poeseos et Historiarum. 29 Daß der Vertreter der Eloquenz von so weit her geholt werden mußte, wird von Klüpfel, nicht ohne ironischen Unterton, folgendermaßen motiviert: „Man scheint einigen Werth auf dieses Fach gelegt zu haben und berief dafür mehrmals Fremde, da man zu fühlen schien, daß hiezu die Stiftsbildung nicht ausreiche. So finden wir 1656 den Christoph Caldenbach [...]". 30 Zwei Jahrzehnte bevor Klüpfel dies schrieb (1849), hatte mit der Amtszeit von Karl Philipp Conz (1812-1827) und Andreas Heinrich Schott (1798-1829) die rhetorische Disziplin auch in Tübingen ein sanftes, wenngleich nur vorläufiges Ende gefunden. 31 Was sich aus der Perspektive der Humboldtschen Universitätsidee und der historischen Wissenschaften nur noch als akademisches Fossil ausnahm und von der Klassischen Philologie mit übernommen werden konnte, hatte einmal 24

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Thilo amtierte 1652 und 1658, Dach 1656 und 1657 als Rektor der Königsberger Universität; vgl. Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführliche und mit Urkunden versehene Historie der Königsbergischen Universität. Königsberg i. Pr. 1746. 2. Teil, S. 107f. Universitätsarchiv Tübingen (UAT): Acta Senatus 24. fol. 3 b f. Herrn Archivassessor Dr. Volker Schäfer danke ich für seine freundliche Hilfe bei der Ermittlung des Materials. A. a. O., fol. 23 b . Ein Leichgedicht auf Köhler (gestorben 1658) erwähnt dieTübinger Kandidatur als besondere Auszeichnung (abgedruckt bei Max Hippe: Christoph Köhler, ein schlesischer Dichter des siebzehnten Jahrhunderts. Breslau 1902, S. 57). UAT, Facultas Philosophica F. 3, Nr. 4. A. a. O., Nr. 4a. Karl Klüpfel: Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen. Tübingen 1849, S.153f. Vgl. den Überblick bei Ernst Conrad: Die Lehrstühle der Universität Tübingen und ihre Inhaber ( 1 4 7 7 - 1 9 2 7 ) . Tübingen 1960 (Staatsexamens-Zulassungsarbeit), S. 4 l f f .

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert:

Christoph

Kaldenbach

im Zentrum der humanistischen Universitätsreformen gestanden. Im Zeichen des eloquentia-Ideals — der Mensch als animal eloquens — waren Poesie und Rhetorik zu Kerndisziplinen der Artistenfakultät aufgestiegen.32 Und als Kaldenbach aus dem fernen Königsberg nach Tübingen berufen wurde, hatte man hier noch immer stichhaltige Gründe, „einigen Werth auf dieses Fach" zu legen: und das nicht nur, weil der Herzog und die Universitätsverwaltung nach 1648 sichtlich bemüht waren, den allgemeinen kriegsbedingten Niveauverlust der Universität wieder wettzumachen. Speziell im Fall der humaniora wurde ein deutlicher Rückstand erkennbar, wenn man sich an den mittel- und ostdeutschen Universitäten orientierte. Königsberg mit Dach und Thilo wurde bereits erwähnt, Rostock glänzte in den Jahren 1618 bis 1665 mit der Sukzession von Johann Lauremberg, Peter Lauremberg, Tscherning und Morhof, in Helmstedt lehrte seit 1635 Christoph Schräder, in Marburg seit dem gleichen Jahr Johann Balthasar Schupp, in Rinteln seit 1639 Heinrich Buchholtz, in Leipzig seit 1653 Jacob Thomasius; auch Straßburg (Boeder, Dannhauer) und Heidelberg (Bernegger) verfügten über 'Humanisten von Rang und Namen. Unbestrittener Primarius aber war August Buchner in Wittenberg, seit 1616 Professor Poeseos, seit 1632 auch Professor Eloquentiae (bis 1661): „Fast alle literarischen Strömungen des 17. Jahrhunderts haben Vertreter, die in dem Hörsaal des Wittenberger Professors ihre technische Schulung erhalten haben." 33 Die Lehrstühle für Poesie und Eloquenz hatten sich immer deutlicher zu regulierenden Zentren der literarischen Theorie und Praxis im Zeitalter des Barock entwickelt. Solche Vorbilder konnten den Tübingern unmöglich gleichgültig sein. So groß die persönlichen Verdienste des 1655 verstorbenen Johann Michael Rauscher während der schweren Kriegszeit gewesen sein mögen, 34 in seinem Fach hatte er außerhalb Tübingens wenig von sich reden gemacht. Mit dem Königsberger Kaldenbach aber hoffte man endlich wieder Anschluß zu finden an das Niveau der Preußen - und wohl auch an die eigene, bis ins 15. Jahrhundert zurückreichende humanistische Tradition.

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Eine historische Darstellung dieser Fächer und ihrer Lehrstühle existiert nicht (vgl. die einschlägigen Pädagogik- und Universitätsgeschichten); für Paris gibt einen knappen, illustrativen Abriß: Robert Alfred Lang: Rhetoric at the University of Paris 1550-1789, in: Speech Monographs 23 (1956), S. 216ff. Hans Heinrich Borcherdt: Augustus Buchner und seine Bedeutung für die deutsche Literatur des siebzehnten Jahrhunderts. München 1919, S. 43. August Friedrich Bök: Geschichte der herzoglich Würtembergischen Eberhard Carls Universität zu Tübingen im Grundrisse. Tübingen 1774, S. 116f. Die bei Conrad (wie Anm. 31), S. 41 angegebene Amtszeit Rauschers (bis 1656) ist irrtümlich von Kaldenbach her gerechnet.

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Der Stiftungsbrief des Grafen Eberhard vom 3. Juli 1477 erwähnt zwar unter den vier Artisten noch keinen Vertreter der humaniora, aber das wird vier Jahre später bereits nachgeholt („Erste Ordnung" vom 23. April 1481): Die Einnahmen aus den kirchlichen Pfründen sollen geteilt werden unter drei Juristen („legisten"), zwei Medizinern („artzatt") sowie „ainem der in Oratorien lyset".35 Den Initiator vermutet Johannes Haller in dem Kanzler Vergenhans, der selbst humanistisch gebildet war: „Die Stiftung der Professur für Beredsamkeit wird sein Verdienst gewesen sein." 36 Die Verzögerung um einige Jahre entspricht im übrigen der Entwicklung an anderen Universitäten der Zeit. In Freiburg i. B. und Basel, wo der Lehrbetrieb 1460 beginnt, werden erst 1471 und 1474 humanistische Lehrstühle errichtet. In Basel liest schon 1464 Peter Luder (mit einem Stipendium) über Poesie; das ist charakteristisch für diese Frühzeit: Gastlesungen einzelner 'Poeten' gehen der Schaffung von Planstellen voraus. Doch die Startschwierigkeiten sind in Tübingen noch nicht überwunden. In der zweiten Ordnung Eberhards vom 20. Dezember 1491 wird das wenig fürstliche Salär von 30 Gulden (Celtis erhielt 1492 in Ingolstadt 50, Buschius 1523 in Basel 80 Gulden) mit schwäbischer Sparsamkeit auf 20 Gulden reduziert und demjenigen zugesprochen, „der vngeuärlich liset in oratoria moralibus oder poetrij", 37 Vielleicht erhofft man sich von der Erweiterung des Lehrauftrags wenigstens einen kompensativen Anreiz. Aber erst nach fünf Jahren stellt sich mit Heinrich Bebel (1472-1518) der Humanist ein, der die Tübinger rhetorische Tradition eigentlich begründet. Obwohl der 1481 geschaffene Lehrstuhl „kein ordentlicher" war, 38 bezeichnete sich Bebel gern als „poeticam et oratoriam publice profitens in studio Tubingensi". 39 Er scheint auch de facto bereits jene Dreiheit von Poesie, Oratorie und Historie vertreten zu haben, die später an vielen Universitäten zur Regel wird und auch dem Lehrauftrag Kaldenbachs zugrunde liegt. Einen detaillierten Einblick in die Lehrgebiete und akademischen Unterrichtsmethoden vermitteln die Kompendien, die Bebel während seiner Tübinger Zeit veröffentlicht, insbesondere Qui auctores legendi sint novitiis (1500), Modus conficiendarum epistolarum (1503) und Ars versificandi et carminum con-

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[Rudolf Roth]: Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen aus den Jahren 1476 bis 1550. Tübingen 1877, S. 71. Johannes Haller: Die Anfänge der Universität Tübingen 1477 bis 1537. Teil 1. Stuttgart 1927. S. 211. [Roth] (wie Anm. 35), S. 85. Gustav Bebermeyer: Tübinger Dichterhumanisten. Bebel/Frischlin/Flayder. Tübingen 1927, S. 12. A. a. O., S. 13.

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach

dendorum (1506). Der Verkaufserfolg dieser Lehrbücher binnen weniger Jahre zeigt, welche Kultivierungsarbeit in diesem Bereich noch zu leisten ist und wie erfolgreich Bebel seine Propaganda für Klassizität und 'lebendige Antike' betreibt. Als er 1501 vom Kaiser Maximilian zum poeta laureatus gekrönt wird — als zweiter nach Celtis —, ist indirekt auch die Tübinger musische Praxis in ihrem vorbildlichen Rang bestätigt: als „Pieridum cultrix", wie es dann in Meilands Preislied auf die Tübinger Universität heißen wird. 40 Ob Melanchthon, der am 17. September 1512 in Tübingen immatrikuliert wird, sich auch enger an Bebel anschließt, ist nicht sicher zu sagen; nur daß er dessen Vorlesungen besucht, wird ausdrücklich bezeugt („Audivit [...] poetam Bebelium").41 Unklarheit herrscht auch hinsichtlich der „Lectur für Beredsamkeit", 42 die Melanchthon nach seiner Magisterpromotion (die 1514 stattfindet) erhält. Vielleicht handelt es sich um einen an die Burse gebundenen temporären Lehrauftrag, wie er damals für manchen reisenden Humanisten eingerichtet wird. Melanchthon interpretiert Cicero-Reden und sechs Bücher Livius und fördert damit zugleich das Historikerstudium im Sinn seiner späteren Tübinger Deklamation De artibus liberalibus (1517). Die Repräsentation der humanistischen Fächer durch Bebel und Melanchthon scheint so eindrücklich gewesen zu sein, daß bereits 1522 der Lehrstuhl geteilt wird: „In Poetica Oratoriaque duo". 43 In den ersten Jahren der Doppellektur führen stets beide Inhaber sowohl die Poesie als auch die Eloquenz im Professorentitel. Dann aber werden, als Zeichen wachsender Integration, die Fächerkombinationen mit Dialektik, Ethik oder auch Griechisch immer bunter. 44 Hinzu kommt, daß im Zug der großen Reform von 1535 auch Tübingen nach Wittenberger Muster ein vorakademisches Pädagogium mit entsprechendem Poesie- und Rhetorikunterricht45 erhält und die dort beschäftigten Professoren ebenfalls zum Lehrkörper der Universität gezählt werden. Als 1536 die von Camerarius ausgearbeiteten neuen Statuten der Artistenfakultät in Kraft treten, 46 sind darin auch genauere Anweisungen für die exercitia rhetorica enthalten. Neben dem Versuch, die Auswüchse des aus dem Mittelal-

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Albert Dunning: Ein vierhundert Jahre altes Preislied auf die Alma Mater Tubingensis, in: Attempto 31/32, (1969), S. 3ff. Corpus Reformatorum. Bd. 10, S. 192. Karl Hartfelder: Philipp Melanchthon als Praeceptor Germaniae. Berlin 1898, S. 42. [Roth] (wie Anm. 35), S. 130. Conrad (wie Anm. 31), S. 41f. Die Lehrpläne in der Fassung von 1601 bei August Ludwig Reyscher: Vollständige, historisch und kritisch bearbeitete Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 11/2. Tübingen 1847, S. 131f. [Roth] (wie Anm. 35), S. 185fif.

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Humanistische Pioniere ter überkommenen Disputationswesens einzudämmen, sind vor allem die offizielle Fixierung eines humanistischen Stilideals und die Einführung der declamationes nach Melanchthons Wittenberger Vorbild bemerkenswert. Das angestrebte Bildungsziel lautet: „in perpetua oratione et ductu quodam suo orationisque bonae elegantis copiosae exquisitae ad ueterum perfectionem compositione periculum faciant, ut non solum in disputatores, sed oratores quoque euadant".47 Damit ist die ars oratoria, zusammen mit der ars poetica, endgültig als gleichrangige Bildungsdisziplin neben der ars disputatoria anerkannt, und es ist ein institutionelles Fundament gelegt, das mit geringfügigen Modifikationen auch fur das 17. Jahrhundert gültig bleibt. Lektüre und imitatio klassischer antiker Poesie und Prosa auf normativer theoretischer Basis, dazu praktische Übungen in kunstgemäßer mündlicher Rede: Auf diese Weise erst erhält der Student innerhalb des artistischen Kursus jene humanistische Qualifikation, die ihn zum vollwertigen Mitglied der Gelehrtenwelt macht, er sei Jurist, Mediziner oder Theologe. Es gehört zu den Besonderheiten der Tübinger humanistischen Tradition, daß einige ihrer bedeutendsten Repräsentanten den offiziellen Eloquenzlehrstuhl nicht oder nur auf mühevollen Umwegen erklommen haben. Von Melanchthon war bereits die Rede. Als Nicodemus Frischlin (1547-1590) am 9. Juni 1568, ein halbes Jahrhundert nach Bebels Tod, in Tübingen seine versifizierte Antrittsvorlesung De dignitate et multiplici utilitate poeseos hält,48 sind die beiden humanistischen Ordinariate bereits besetzt, eines davon immerhin durch den großen Gräzisten Martin Crusius (1526-1607). Frischlin erhält nur eine „lectio poetices", zugleich mit der Auflage, auch Caesars Bellum Gallicum zu interpretieren. Er selbst deklariert sie kurzerhand zur Professur „Poetices et Historiarum", nicht ganz zu Unrecht, denn offenbar füllt er eine spürbare Lücke im Lehrangebot (Crusius und der zweite Ordinarius unterrichten nur Rhetorik und Griechisch).49 Seine attraktive, lebendige, vor allem durch Paraphrasen und „exempla copiosissima" gekennzeichnete Unterrichtsmethode wird aus der (später in Wittenberg gehaltenen) Werberede De exercitationibus oratoriis etpoeticis erkennbar.50 Als 1578 der zweite Lehrstuhl frei wird, zieht man - wesent-

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A. a. O . , S. 3 8 9 („In zusammenhängender Rede sollen sie [sc. die Studenten] sich sowohl gewissermaßen unter eigener Anleitung als auch durch Abfassung einer guten, kunstgerechten, gedankenreichen und erlesenen Rede nach dem Muster der Alten erproben, damit sie nicht nur als Disputatoren, sondern auch als Redner aus dem Unterricht hervorgehen"). Bebermeyer (wie A n m . 38), S. 52. Die Angaben bei Conrad (wie Anm. 31), S. 41f. lassen nicht genau erschließen, wer der zweite Ordinarius ist; jedenfalls vertritt 1568 keiner der in Frage Kommenden die Poesie. Wittenberg 1587, fol. Ε 3 b f. und Ε 6 a .

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach lieh auf Betreiben von Crusius - dem mittlerweile skandalumwitterten Frischlin einen Braveren, Unbedeutenderen vor, und Frischlin verläßt bald d a r a u f T ü bingen. Mit der Eröffnung des Collegium Illustre im Jahr 1 5 9 2 wird auch die T ü binger Rhetorik u m einen neuen institutionellen Zweig bereichert. Für Friedrich Hermann Flayder ( 1 5 9 6 - 1 6 4 0 ) , den dritten von Bebermeyer gewürdigten Tübinger 'Dichterhumanisten', 5 1 bildet das Collegium den Ausgangspunkt seiner Laufbahn. Durch einzelne akademische Lehraufträge („exercitium scribendi epistolas", „exercitium oratorium" und dergleichen) erhält er nach und nach engeren Kontakt zur Artistenfakultät, bis er schließlich ( 1 6 3 5 ) zum Ordinarius ernannt wird - und seine poetische Produktion einstellt. In unmittelbarem Z u s a m m e n h a n g mit der Adelsschule selbst steht noch eine andere Entwicklung. Als frühes Experiment einer Ritterakademie mit der charakteristischen Verbindung von feudaler Tradition u n d h u m a n i stisch-gelehrtem H a b i t u s läßt das T ü b i n g e r C o l l e g i u m bereits die T e n d e n z zu einem moderneren, an der politischen G e g e n w a r t orientierten Rhetorikunterricht erkennen. Bedeutendster Vertreter dieser R i c h t u m g ist der J u rist T h o m a s Lansius ( 1 5 7 7 - 1 6 5 7 ) , 5 2 der vier Jahrzehnte lang a m C o l l e g i u m Geschichte, Politik u n d E l o q u e n z unterrichtete (schon die K o m b i n a t i o n mit Politik ist bemerkenswert). 5 3 Selbst ein weit über T ü b i n g e n hinaus bekannter Redner, hat er in seiner Mantissa

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orationum

( 1 6 5 6 ) eine Reihe exemplarischer Ü b u n g s t e x t e zusammengestellt, die den Z ö g l i n g a u f möglichst realistische Weise mit typischen Situationen der politischen Praxis konfrontieren, etwa mit einer Kabinettssitzung. D i e

Mantis-

sa wurde bald auch an anderen Adelsschulen als L e h r b u c h eingeführt 5 4 und hat nach außen hin das Bild der T ü b i n g e r Rhetorik im 17. J a h r h u n d e r t entscheidend mitgeprägt. V i v a t C a l d e n b a c h i u s ! C r u s i i in G r a e c i s , J u n i j et Lansii in O r a t o r i i s , L o t i c h i j in Poeticä, T u b i n g a e m e n s u r a m a d i m p l e a t , q u a n d o R e g i o m o n t i n o n lieuit!

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Bebermeyer (wie Anra. 38), S. 83ff. Biographisches Material enthält der Lansius-Band der U B Tübingen mit den Leichen- und Gedächtnisreden, darunter einem „panegyricus" von Kaldenbach (1658). Vgl. auch Johann Friedrich Jugler: Beyträgezur juristischen Biographie. Bd. 3. Leipzig 1777, S. 72ff. Seit 1636 war er auch Ordinarius der Jurisprudenz (Pandekten) an der Universität. So am Gymnasium Illustre von Weißenfels (1664), vgl. Rudolf Rosalsky: Geschichte des akademischen Gymnasiums zu Weissenfeis. Programm Weissenfeis 1873, S. 24.

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Humanistische

Pioniere

So wird Kaldenbach von einem seiner Königsberger Dichterfreunde verabschiedet, 55 als er 1656 den Ruf des Herzogs von Württemberg angenommen hat. Die Namen und Disziplinen mögen dem Freund aus der Entfernung etwas durcheinander geraten sein.56 Daß man hier wie dort große Hoffnungen auf Kaldenbach setzt, ist unverkennbar. Am 5. November 1656, einem Tag, an dem der Herzog Tübingen besucht, hält Kaldenbach seine feierliche Antrittsvorlesung. Vorher hat er sich schon als treuer Untertan betätigt und seinen neuen Landesherrn, der von der Herzogin begleitet wird, mit einem Sonett begrüßt: D E r Zeiten W o n n ' u n d L u s t / der Fürsten grosse Zier / D e i n theurer E b e r h a r d / s a m p t sein- u n d u n s r e r K r o n e n / D e r w e r t h e n H e r t z o g i n n / z e u c h t e t w a s hier z u w o h n e n / D u edles T ü b i n g e n / s c h a u g n ä d i g ein bey dir. Ο hochgewündschter Gast! [...]57

Aus dem Invitationsprogramm des Rektors zur Antrittsvorlesung geht hervor, wie stolz man darauf ist, einen Repräsentanten des Königsberger Parnaß gewonnen zu haben, und wie sehr sich der Herzog eine Belebung der Tübinger akademischen Musen verspricht: „ex Parnasso illo Regiomontano aliquem hue deducere jußit rivum, qui vivido eruditionis ac eloquentiae suae rore Academica haec Tempe nostra irrigare ac foetificare posset". 58 Der Herzog ist, ebenso wie der fast achtzigjährige Lansius, persönlich anwesend, als Kaldenbach sich mit einer Rede De regno eloquentiae offiziell vorstellt. Sie steht ganz in der Tradition jener programmatischen Deklamationen, mit denen die Humanisten für Würde und Wert gelehrter Sprachkunst einzutreten pflegen (Luder 1456 in Heidelberg, später in Erfurt und Leipzig, Celtis 1492 in Ingolstadt, Melanchthon 1518 in Wittenberg, Sabinus 1538 in Frankfurt an der Oder, Frischlin 1568 in Tübingen). In hymnisch gehobenem Ton preist Kaldenbach seine Disziplin als „artium regina"59 und beschwört mit den seit Piaton und Cicero geläufigen Topen

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Enthalten in Kaldenbach: Sylvae Tubingenses. Tübingen 1667, S. 201 (Stephan Gorlovius) („Es lebe Kaldenbach ! In Tübingen komme er dem Crusius im Griechischen gleich, dem Junius und Lansius in der Oratorie, dem Lotichius in der Poetik, da es ihm in Königsberg ja nicht vergönnt war!"). Insbesondere scheint der Freund anzunehmen (war es vielleicht sogar geplant?), Kaldenbach werde auch in Tübingen Griechisch lehren. Deutsche Lieder und Getichte (wie A n m . 4), S. 9. Oratio inauguralis de regno eloquentiae, S. 1 („Von jenem Königsberger Parnaß ließ er einen Bach hierher leiten, der dazu geeignet sein soll, durch das belebende N a ß seiner Gelehrsamkeit und Eloquenz unser akademisches Tempe-Tal hier zu bewässern und zu befruchten"). A. a. O . , S. 6.

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die Allmacht der Rede, nicht ohne sie gehörig als Geschenk Gottes herausgestellt und somit seine eigene Christlichkeit vor dem Herzog demonstriert zu haben. Eingestreute Proben seiner lateinischen Muse geben zugleich einen Vorgeschmack von dem, was Landesherr und Universität künftig von ihrem neuen Humanisten werden erwarten können. In Versform kommt Kaldenbach auch auf sein eigenes Schicksal zu sprechen, das ihn vom Pregel an den Neckar geführt hat: Sic ergo Prußici receßibus Pindi, Vestris adacti, coelitum piö ductu, Gratüm viretis, claudimur viae portu. Sic BREGELAE fluenta docta praeclari, Mutare pulchri contigit vadö NICRI; NICRI, n o v u m fudisse Castalin dudum Minantis, entheaeque copias undae ! Manate fontes; ite nobiles rivi [...] 6 0

Da es die Musen seit ihren antiken Ursprüngen vorzugsweise mit den Gewässern zu tun haben, wählt sich Kaldenbach auch weiterhin, so oft es eben geht, den Neckar und seine - stets süßen und lieblichen — Rebenhänge als Szenerie; so auch in dem zu Anfang zitierten Gedicht auf Opitz, das Gottsched als Muster diente. Der „Preuße" Kaldenbach mit dem auch gut schwäbischen Vornamen Christoph lebt sich offenbar rasch ein. In der Rangfolge der Existentialien kommt unmittelbar nach der herzoglichen Gunst die gute Verbindung zur eingesessenen akademischen Hierarchie. Noch im Jahr seines Amtsantritts gelingt es Kaldenbach, mit der Familie des gerade amtierenden Rektors, des Theologen Joseph Demmeler, 61 näher bekannt zu werden. Am 3. Januar 1657 beantragt Demmeler in einer Eingabe an das Rektorat (sein Nachfolger ist Johann Ulrich Pregizer) die Überlassung des Universitätshauses, um dort die Hochzeit seiner Tochter Anna Margretha mit dem „Eloq. et Histor. Prof." Kaldenbach zu feiern (genehmigt am 7. Januar). 62 Zur Hochzeit wenige Tage später schicken auch die Königsberger Freunde, an ihrer

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A. a. O., S. 5 („So also, vom abgelegenen preußischen Pindus unter gnädigem Geleit der Himmlischen zu euren grünen Gefilden hergetrieben, haben wir den Hafen unserer Reise erreicht. So war uns das Glück beschieden, die gelehrten Fluten des berühmten Pregels mit der Untiefe des schönen Neckars zu vertauschen; des Neckars, der seit langem verheißt, wiederum einen Musenquell zu gebären und Ströme gotterfüllter Flut! Entspringt, ihr Quellen; strömt, edle Bäche [...]"). Der Name begegnet auch in der Schreibweise Demmler, Demler und Demeler. UAT 10/17 1, Nr. 45.

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Spitze Simon Dach, 6 3 ihre poetischen Glückwünsche. Im Mai des gleichen Jahres bittet Kaldenbach die Universität um Zuweisung eines „domicilium", mit der einleuchtenden Begründung: „Sine fixo firmoque domicilio non bene praeesse mihi, rebusque meis possum". 6 4 Dem Gesuch wird stattgegeben. Kaldenbach beginnt Fuß zu fassen, und man kann ihm Glauben schenken, wenn er in jenen Jahren bekennt: D V schönes Wirtemberg / du ό der Länder Zier / V m b dessen satte Lust / und Nectar-milde Reben Allmählich fort und fort ich lerne nun begeben Der Preussen erstes Glück [...] 6 5

Zur neuen Tübinger Existenz gehörte freilich auch ein umfangreicher Katalog offizieller und inoffizieller Verpflichtungen. Mit Eloquenz, Poesie und Historie beschäftigte man sich nicht im Sinn eines heutigen philologischen Spezialstudiums; die Fächer gehörten zum Grundkursus jedes Studenten, bevor er in eine der oberen Fakultäten eintrat. Das bedeutete für den Lehrstuhlinhaber einerseits die Gefahr einer gewissen Geringschätzung bei Kollegen wie bei Studenten, andererseits bot sich eine Wirkungsmöglichkeit auf breitester Basis. Keiner hat gerade diese Chance so nachhaltig genutzt wie Buchner, nicht zuletzt im Interesse der Opitzschen Reform (ähnlich Tscherning). Im Gegensatz zu den pedantisch detaillierten Schulordnungen 66 ließen die akademischen Statuten auf dem Gebiet der humaniora im allgemeinen einen weiten Spielraum. Bisweilen wurde überhaupt nur das Fach angegeben (Rhetorica, Poetice usw.), dazu die Stundenzahl, die man zu absolvieren hatte. Stoffpensum und Tendenz orientierten sich an der gemeinsamen humanistischen Tradition, an lokalen Gewohnheiten (eingeführte Lehrbücher) und an den persönlichen Neigungen des jeweiligen Lehrers. Die Vorkenntnisse der Studenten waren unterschiedlich. Seitdem das Straßburger Gymnasialmodell Johannes Sturms mit seiner Devise von der „sapiens atque eloquens pietas" (zuerst 1538) 6 7 in Deutschland weithin Schule gemacht hatte, brachte mancher bereits eine umfassende humanistische Grundschulung auf die Universität mit. Andere mußten sich die wichtigsten Kenntnisse erst

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Enthalten in: Kaldenbach: Sylvae Tubingenses, S. 20fF. (die meisten Gedichte Dachs für Kaldenbach sind Ziesemer offenbar entgangen). UAT 44/161 I, Nr. 29 („Ohne bleibendes und festes Domizil kann ich nicht so gut für mich und meine Aufgaben sorgen"). Deutsche Lieder und Gerichte (wie Anm. 4), S. 12. Das Material bietet Reinhold Vormbaum: Die evangelischen Schulordnungen des 17. Jahrhunderts. Gütersloh 1863. Programmschrift De litemrum ludis recte aperiendis (1638), dann systematisch ausgebaut.

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Christoph

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erarbeiten; ein Abitur wurde ja noch nicht verlangt. Das Substrat normativer literarischer Theorie war an den Universitäten prinzipiell das gleiche wie an den Gymnasien; dies zeigen akademische Lehrbücher wie Peter Laurembergs Euphradia (1634) oder Morhofs De ratione conscribendarum epistolarum (1694). Die Besonderheiten des humanistischen Universitätsunterrichts lagen in der gelehrten Differenzierung des Systems, in der Auswahl und Analyse der interpretierten Autoren und in der Gestaltung der praktischen Übungen. Auf diesem Hintergrund erst ist Kaldenbachs Tübinger Lehrtätigkeit angemessen zu verstehen. Ihre Rekonstruktion wird durch zwei Glücksfälle der Überlieferung wesentlich erleichtert: Im Universitätsarchiv Tübingen sind für den betreffenden Zeitraum die sogenannten „Neglectendepositionen" erhalten, und Kaldenbach hat den Grundstock seiner Vorlesungen und Übungen selbst publiziert. Die Neglectendepositionen68 resultierten aus dem Brauch, daß für die Lehrveranstaltungen am Ende jeder Unterrichtsperiode vom Rektorat auch eine Rechenschaft gefordert wurde; sie mußte Angaben darüber einschließen, was eventuell Versäumt', d. h. nicht abgehalten oder nicht beendet worden war. „Nullorum mihi neglectuüm conscius, eä qua statutis Academicis obstringor, fide testor", berichtet Kaldenbach noch gewissenhaft auf einem seiner ersten Zettel vom Jahr 1657; 69 später macht er es sich, wie die Kollegen, meist einfacher. Prinzipiell verzeichnet jeder Zettel, dem Lehrdeputat entsprechend, zwei Vorlesungen und eine wechselnde Anzahl von Übungen. Seine drei Fächer hat Kaldenbach umschichtig gelehrt: Poesie und Historie, Rhetorik und Poesie, Rhetorik und Historie oder ähnlich. Die Historie, also das Studium antiker Historiker, hat dabei am meisten zurückstehen müssen. Zeitweise hat Kaldenbach mit diesem Fach ganz ausgesetzt, zum Beispiel schon in den Jahren nach 1660; der gedruckte Ordo studiorum von 1664 läßt etwas orakelhaft verlauten, es sei geplant, daß Kaldenbach „intra certam periodum Studium quoque Historicum reassumat".70 Kaldenbach hat das ,Studium historicum' bald danach auch wieder aufgenommen, wenngleich nicht kontinuierlich weitergeführt. 1680 wird dies aus Anlaß einer Visitation beanstandet.71 Die Ver-

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UAT 27/1, II. Die Datierungen erstrecken sich von 1657 bis 1695, die Lücken sind vergleichsweise gering. UAT 27/1, II, Nr. 3 („Mir keiner Versäumnisse bewußt zu sein, versichere ich mit der Ehrlichkeit, zu der ich durch die akademischen Statuten verpflichtet bin"). Ordo studiorum in Academia Eberhardina quae Tubingee est, publice propositus. 1664, S. 8 („daß Kaldenbach innerhalb eines bestimmten Zeitraums auch den historischen Unterricht wiederaufnimmt"). Wolfram Angerbauer: Zur Vertretung der Geschichtswissenschaft an der Universität Tübingen im beginnenden 18. Jahrhundert, in: Heimatkundliche Blätter für den Kreis Tübingen, N. F. 33 (April 1969), S. lf.

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nachlässigung mag sich aus einem Mangel an Interesse bei Kaldenbach erklären, vielleicht auch aus der Tatsache, daß auf die beiden anderen Fächer am wenigsten verzichtet werden konnte. Rhetorische Theorie lehrt Kaldenbach hauptsächlich nach Aristoteles, Poetik nach Horaz. Es sind die beiden Grundvorlesungen, die jeder 'Humanist' der Zeit abzuleisten hat und die sich oft über Jahre hinziehen; so dauert Kadenbachs erste Aristoteles-Vorlesung, die schon 1657 beginnt, 72 bis November 1659. Bei der Interpretation klassischer Reden besitzt Cicero den absoluten Primat (die Vorlesung heißt statt „lectio oratoria" zumTeil nur „lectio Tulliana"); vereinzelt begegnet auch der Humanist Muretus. Bei den poetischen Texten wechselt Kaldenbach zwischen Horazischen Oden und Epoden sowie den Satiren von Horaz, Juvenal und Persius.73 Der Historiker-Lektüre legt er Valerius Maximus, Florus und Justin zugrunde. Während sich für die lectiones der Stoßkreis somit einigermaßen abstecken läßt, wird fiir programmata, themata, orationes singulares und actus allenfalls die Zahl der Veranstaltungen genannt; sie steigt je Typus bis zu sieben (bisweilen findet sich auch nur die Angabe „pro viribus"). Das mit den Neglectendepositionen gegebene Gerüst wird durch Kadenbachs gedruckte Texte zunächst präzise bestätigt. 1687 erscheint, von dem Sohn Christoph herausgegeben, ein vollständiger rhetorisch-poetischer Vorlesungszyklus unter dem Titel Collegiorum, studia maxime eloquentiae adjuvantium, et in Academia Tubingensi institutorum [...] brevis et succincta sylloge. Daß Professoren der humaniora aufgrund ihrer Lehr-Erfahrungen systematische Abrisse der Theorie oder auch kommentierte Klassikertexte herausgaben, war an sich nichts Ungewöhnliches; von Buchner über Schräder bis zu Morhof haben es viele so gehalten. Das Reizvolle und Besondere an Kaldenbachs Sylloge liegt darin, daß sie die verschiedenen Kollegtypen nebeneinander bietet: die fortlaufende Kommentierung eines antiken Kompendiums, die systematische Entfaltung von Theoremen mit eingestreuten Beispielen sowie Rekursen auf antike Gewährsleute, die dispositionelle Analyse exemplarischer Texte und schließlich entsprechende Entwürfe für die eigene imitatio. Vor allem beim ersten und dritten Typ wird die Tradition der mittelalterlichen lectio deutlich erkennbar: Man hatte den Text vor sich und trug die - mehr oder weniger eindeutig diktierten 74 — annotationes des Lehrenden in das Exem-

Dach hat 1639 seine Tätigkeit als Professor Poeseos mit einem Kolleg über die Horazische Poetik begonnen. Hin und wieder wird auch einmal die Einbeziehung Vergils oder Ovids erwähnt. Das Diktieren war bekanntlich an vielen Universitäten (auch in Tübingen) offiziell verboten, wurde aber nicht immer streng kontrolliert.

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plar ein. In der Sylloge tritt zu den bereits genannten Stoffgebieten die Gattung des Briefs hinzu, die durch Cicero, Ovid (für die poetische Form) und Plinius repräsentiert wird. Den Hauptstock von Analysen poetischer Texte jedoch hat Kaldenbach als sogenannte „tabulae synopticae" gesondert publiziert: 1688 erscheint der Satiren-Band (Horaz, Juvenal, Persius), 1690 ein eigener Band für die Oden des Horaz. 75 So interessant im einzelnen der Einblick in Kaldenbachs Lehrpraxis sein mag, von Originalität ist zumindest in diesem Bereich wenig zu spüren; das gilt mutatis mutandis auch für die meisten seiner Kollegen an den anderen Universitäten. Wenn etwa Buchner eine gewisse Vorliebe für Plinius-Briefe, Morhof für Claudian-Gedichte zeigt, wenn Kaldenbach innerhalb der Stillehre eine etwas unorthodoxe Viererteilung vorträgt, 76 so sind dies Nuancen auf dem Hintergrund einer weitgehend homogenen antik-humanistischen Tradition. „Ein Mann von vieler Belesenheit in den alten römischen Schriftstellern, vornehmlich den Dichtern", schreibt Bök, die alte fama über Kaldenbach weitergebend. 77 In der Bewahrung der reinen Überlieferung bestand Kaldenbachs Hauptaufgabe, sie hat er offensichtlich zur Zufriedenheit gelöst. Etwas freier war er in den oratorischen Übungen, den verschiedenen declamationes, orationes, actus und programmata, die zum Teil ebenfalls schon zum Lehrprogramm der Gymnasien gehörten. In drei verschiedenen Publikationen hat er die von ihm erarbeiteten Übungstexte vorgelegt: Orationes, et actus oratorii (3 Bände, 1671-1679), Prohlemata oratoria (1672) und Dispositiones oratoriae (1687). Das stattliche Corpus von nahezu 2000 Seiten im Oktavformat zeigt, mit welcher Energie er sich dieser oft ermüdenden, seit 1536 kodifizierten Lehraufgabe unterzogen hat. Es handelt sich um Textentwürfe (dispositiones) oder ausformulierte Texte, die einzeln oder in thematisch gruppierten actus von den Studenten vorgetragen werden mußten. In der Themenwahl zeigt sich bisweilen die Tendenz, neben den traditionellen Stoffen aus der Klassikerlektüre auch prinzipielle Fragen des Studiums zu behandeln, etwa De philosophiae ac superiorum facultatum laudibus, quibus quasi certent invicem oder De modo et commodo legendipoetas\78 es begegnen auch aktuelle Probleme des Universitätslebens, mit viel Moral durchsetzt, so De conflictu ebrietatis et temperantiae79

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Diesen Band hat Kaldenbach der Universität eigens dediziert, UAT 5/5, Nr. 45 (vgl. 3/17, fol. 43 b ). Collegiorum [...] sylloge. Tübingen 1687, S. 58. B ö k ( w i e A n m . 34), S. 136. Dispositiones oratoriae. Tübingen 1687, S. 196ff. (4 Reden); Problemata oratoria. Tübingen 1672, S. 183ff. (5 Reden). Orationes, et actus oratorii. Bd. 2. Tübingen 1671, S. 187ff.

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(noch 1652 rügt ein Tübinger Visitationsbericht, „daß die Professoren Nächte durch im Universitätshaus oder beim Pedell sitzen, spielen, sich volltrinken und

lärmen").80 Auf Ladenhüter wie Pro et contra canes, Pro et contra

navigationes

kann auch Kaldenbach offenbar nicht ganz verzichten.81 Dann hilft als Begründung wenigstens der humanistisch-stolze Gedanke daran, „quam et alias inter artes, Academiis competentes, sola Regina Eloquentia inprimis sua necessitate et commodis emineat". 82 Bisweilen erinnert Kaldenbach auch an die besondere Tradition, die Tübingen zu wahren hat, „etiam nostra in Academia, ä Bucheris, Flayderis, Lansiis, Hesenthaleris, non exiguo eorundem, Scholaeque nominis incremento". 83 Neben dem reinen Übungszweck wird bei diesen Texten häufig auch eine gewisse repräsentative Funktion erkennbar, denn viele der orationes und actus werden im Zusammenhang öffentlicher Promotionen oder sonstiger Anlässe vorgetragen. Der Vertreter der Eloquenz ist dadurch gezwungen, regelmäßig vor sachkundigem Publikum über sein und seiner Schüler Können Rechenschaft abzulegen. Kaldenbach ist dieser Pflicht, nach Ausweis der Neglectendepositionen, mit der nötigen Ausdauer nachgekommen. Die Grenzen zwischen Routinebetrieb und außerordentlicher Anstrengung sind oft fließend. Einen Höhepunkt jedoch bildet der Actus über die fünf

Hauptsprachen, De quinque linguarum cardinalium laude ac elogiis, 1676 in hebräischer, griechischer, lateinischer, deutscher und polnischer Sprache nach klassisch-epideiktischer Manier vorgetragen (dem Druck sind vorsichtshalber lateinische Übersetzungen beigefügt).84 Hier glänzt Kaldenbach auf durchaus individuelle Weise mit seiner früh erworbenen Polyglottie und transponiert ein Stück Königsberg in seine Wahlheimat. Daß Kaldenbach als Professor Eloquentiae an der Gestaltung des Universitätsjubiläums 1677 — ähnlich wie Morhof 1666 in Kiel — intensiv beteiligt ist, liegt nahe. Er steuert unter anderem eine oratio gratulatoria an den anwesenden Landesfürsten Eberhard III. bei85 und wirkt an der Zusammenstellung der gro-

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Klüpfel (wie Anm. 30), S. 143. Dispositiones oratoriae (wie Anm. 78), S. 78ff. und 114ff. Dispositiones oratoriae (wie Anm. 78), Praefatio, fol. a 2 b („wie unter den anderen freien Künsten, die an den Universitäten zusammentreffen, die Königin Eloquenz insbesondere durch ihre Unentbehrlichkeit und ihren Nutzen einzigartig herausrage"). Orationes et actus oratorii. Bd. 1. Tübingen 1672, Widmung, fol. 4 („auch an unserer Universität, durch Männer wie Bucher, Flayder, Lansius, Hesenthaler, zum nicht geringen Vorteil für deren und der Hochschule Ansehen"). Orationes, et actus oratorii. Bd. 2, S. 127ff. (auch als Einzeldruck erschienen: Tübingen 1676, 21677). Eberhardina altero jubilaeo felix. o. O. o. J., S. 167ff. (angehängt ist ein Empfangsgedicht Kaldenbachs für die Prinzen Wilhelm Ludwig und Friedrich Carl aus dem Jahr 1666).

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenbach

ßen Festschrift mit; in Kaldenbachs Handschrift haben sich das Titelblatt der Festschrift und eine Widmungsvorrede erhalten.86 Die üblichen specimina eruditionis in Form von Disputationen und Dissertationen hat Kaldenbach vor allem während seines ersten Tübinger Jahrzehnts abgeleistet. Charakteristisch ist die Buntheit der Themen: De statu nobilitatis (1664), Dissertatio philologica de litteris Aegyptiorum hieroglyphicis (1664) oder Disputatiophysico-philologica de lauro (1670). Auffälliger scheint, daß nur zwei panegyrici, d. h. weltliche Leichenreden (auf Angehörige der Universität), erhalten sind: eine auf den alten Lansius (1657) und eine auf den Juristen Joachim Wiebel (1661). Während es ein Leidenskollege wie Buchner in Wittenberg auf nicht weniger als 191 solcher Gedenkreden brachte,87 hat Kaldenbach — möglicherweise aufgrund einer bereits existierenden Tübinger Gewohnheit - anderen das Feld überlassen (müssen), darunter dem einstigen Konkurrenten Hesenthaler.88 Alles, was bisher an akademischer Pflichtleistung Kaldenbachs zu nennen war, von den lectiones über die actus bis zu den panegyrici, blieb selbstverständlich ganz im Rahmen des Lateinischen als der Muttersprache der Gelehrten. Der Skandal, den Christian Thomasius 1687 mit seiner deutsch angekündigten und deutsch gehaltenen Graciän-Vorlesung auslöste, ist bekannt. Thomasius war freilich nicht der erste, der die strenge Regel zu durchbrechen suchte; Ansätze dazu reichen bis in die Zeit des Paracelsus zurück.89 Seit den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts wird von einzelnen reformistisch Gesonnenen wie Schupp, Seckendorff oder Spener die muttersprachliche Schulung an der Universität auch prinzipiell gefordert. Während der Jahre 1667—1669 läßt Christoph Schräder in Helmstedt seine Studenten im collegium privatum bereits ganze Reden in deutscher Sprache üben.90 Der eigentliche Durchbruch zur muttersprachlichen Universitätsrhetorik vollzieht sich freilich erst im Zeitalter Gottscheds. Um so bemerkenswerter ist es, wenn Kaldenbach immerhin schon 1682/83 in einer Neglectendeposition zusätzlich zu den beiden lectiones vermerkt: „Collegia interim duo quoque coepit; utrumque Oratorium: alterum Latinum,

U A T 2 5 / 5 , N r 1. Sie sind enthalten im 1. Band seiner Dissertationes academicae. Wittenberg 1650; vgl. auch Morhofs Orationes etprogrammata. H a m b u r g 1698. Das jedenfalls ergibt ein Blick in die Funeralien aus den ersten Jahren nach 1657. Richard Hodermann: Universitätsvorlesungen in deutscher Sprache u m die Wende des 17. Jahrhunderts. Diss. Jena 1891. Dieser Versuch, der aus präzisen Angaben in Schräders Hypotheses oratoriae (Helmstedt 1669) hervorgeht, ist bisher unbeachtet geblieben.

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Theoretico-Practicum: alterum sermone vernaculo, per Ideas Orationum". 91 In der Syllogevon 1687 ist denn auch als letztes ein „Collegium idearum" skizziert, das Redeübungen „utraque lingua" vorsieht, allerdings lateinisch ausformuliert. Nur die eingestreuten Gedichtzitate sind deutsch gehalten.92 Der ganze Komplex ist für die geschichtliche Situation des damaligen humanistischen Universitätsunterrichts ebenso charakteristisch wie für Kadenbachs individuellen Habitus. Kaldenbach hat privatim, am Rand seiner offiziellen Verpflichtungen, bereits deutsche Redekunst gelehrt. Warum nicht auch deutsche Poesie? Auf diesem Gebiet gab es - aus Gründen, die hier nicht erörtert werden können - akademische Präzedenzfälle, die noch weiter zurückreichen als beim Fach Beredsamkeit. Bereits Buchner hat offensichtlich privatim über deutsche Poesie gelesen,93 und Tscherning erhielt von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock die Erlaubnis, ein „Collegium Germanicum poeticum" anzukündigen (er hat es wahrscheinlich bis 1644 gehalten);94 Kaldenbach hat von solchen Entwicklungen sicher gewußt. Und da er in erster Linie als deutscher Poet bekannt geworden war, lag es nahe, auch in Tübingen einen Vorstoß zu wagen. Die Neglectendepositionen verzeichnen darüber zunächst nichts. Als jedoch 1674 Kaldenbachs Poetice Germanica erscheint, gibt die Widmungsvorrede an, das hier Gebotene sei „privato in collegio" vorgetragen worden. 95 1676/77 erwähnt dann auch eine Neglectendeposition, ohne nähere Präzisierung, ein „Collegium Privatum"; 96 möglicherweise handelt es sich um das Kolleg über deutsche Poesie. Kaldenbachs Poetice Germanica bedeutete für Tübingen ein Novum. Noch 1774 weist Bök daraufhin, daß ein solches Lehrbuch „von keinem seiner Vorfahren bekannt" sei.97 „AD cultum spectant Poeseos vernaculae quae oculis expono vestris", verkündet Kaldenbach in der Widmung. 98 Es ist ein Buch aus der Praxis für die Praxis. Das bedeutet auch eine thematische Einschränkung. Kaldenbach umgreift nicht etwa wie Opitz den ganzen Kreis der poetischen Gattungen einschließlich Tragödie und Lehrgedicht, sondern beschränkt sich auf

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UAT 27/11, Nr. 51 („Mittlerweile hat er auch zwei Kollegs begonnen, beide auf dem Gebiet der Oratorie: das eine lateinisch, mit theoretisch-praktischer Methode, das andere in der Muttersprache, anhand von Rede-Entwürfen"). Collegiorum [...] sylloge (wie Anm. 76), S. 284ff. Borcherdt (wie Anm. 33), S. 40ff. Hans Heinrich Borcherdt: Andreas Tscherning. München u. Leipzig 1912, S. 124. Poetice Germanica. Nürnberg 1674, Praefatio, fol. A 2 b . UAT 27/1,11, Nr. 43. Bök (wie Anm. 34), S. 136. Praefatio, fol. A 2^ („Der Pflege muttersprachlicher Poesie dient, was ich vor euren Augen ausbreite").

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Kaldenhach die Gelegenheitspoesie. Hier schöpft er aus dem vollen, und insbesondere bei den exempla dominiert klar die Königsberger Tradition mit Simon Dach an der Spitze: „ D A C H I I praesertim, Viri, vatisque; ad decus et laudem Musarum in universum omnium nati factique". 9 9 Das theoretische Gerüst folgt der seit Opitz immer differenzierter ausgebauten Koine deutscher Literaturdoktrin, und Kaldenbach dokumentiert dies durch ständigen Rekurs auf die etablierten Autoritäten wie Opitz, Buchner, Tscherning, Schottel, Zesen sowie Meyfart und Kindermann. Besonders intensiv benutzt er die Poetik von Johann Peter Titz ( 1 6 4 1 ) , mit dem er seit der Königsberger Zeit befreundet ist. 1 0 0 I m ersten Teil bietet Kaldenbach die Metrik von der Quantitätentheorie bis zur Strophenlehre, also das, was im 17. Jahrhundert üblicherweise Prosodie genannt wird. D e r zweite Teil enthält die Stillehre unter besonderer Hervorhebung der „sermonis puritas", im ganzen fast noch traditioneller geprägt als die praecepta der Sylloge. Was diese Poetik K a d e n bachs bemerkenswert macht, ist nicht etwa die Originalität einzelner T h e o reme, sondern der historische Stellenwert des Lehrbuchs: als Versuch, die kunstmäßige Pflege der muttersprachlichen Poesie auch an der Universität zu fördern, und als Synthese von Königsberg und Tübingen. Aber der Text ist, ein halbes Jahrhundert nach Opitzens Buch von der Deutschen

Poeterey ( 1 6 2 4 ) , im-

mer noch lateinisch - damit alles seine akademische Ordnung behält. 1 0 1 Innerhalb dieser Ordnung versieht der Vertreter der humaniora noch eine besondere, dekorative Funktion. Neben seinen Vorlesungen, Übungen und Privatkollegs und neben der Ausgestaltung der oratorischen actus hat er die Aufgabe, das Leben der Universität und ihrer Angehörigen mit den Elaboraten seiner gelehrten Muse angemessen zu begleiten. „Sine vate nec Magister fit, nec D o c tor", stöhnt Kaldenbachs Kollege Tscherning in Rostock. 1 0 2 Aber nicht nur Promotionen, auch Rektoratsübergaben, Empfänge, Jubiläen, Geburtstage, Todesfälle, Hochzeiten im Universitätsbereich wollen bedacht sein. Insbesondere das herzogliche Haus hat Anspruch darauf. Als beispielsweise 1 6 7 2 drei württembergische Prinzen in das Tübinger Collegium eingeführt werden, m u ß Kaldenbach ein Empfangsgedicht liefern, das dann in Form eines Einblattdrucks veröf-

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A. a. O., fol. A 3 a („Vor allem Dachs, eines Mannes und Dichtersängers, der in jeder Hinsicht zur Zierde und zum Lob aller Musen geboren und geschaffen ist"). Ihn hebt er auch ausdrücklich hervor: „Titium imprimis secutus, amicum jam olim mihi conjunctißimum" (a. a. O., fol. A 2^; „vor allem Titz folgend, mit dem ich seit langem eng befreundet bin"). In dieser Darbietungsform hat das Buch sogar Seltenheitswert: Deutsche Poetik in lateinischer Sprache bietet sonst nur noch Zesen: Scala Heliconis Teutonici. Amsterdam 1643. Borcherdt (wie Anm. 94), S. 142 (Brief vom 10. Juni 1646). Die Feststellung ist freilich nicht auf den Universitätspoeten beschränkt.

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fentlicht wird. Und zur Geburt eines Erbprinzen 1672 entsteht ein offizielles „carmen gratulatorium", „Bey öffentlich gehaltener Glückwünschungs-Rede nomine Academici Senatus abgesungen": DAs süsse Kind ligt in der Wiegen; Der Völcker Trost und Lust ist da. So müssen unsre Seufftzer siegen / Vnd ihrem Himmel kommen nah! Schaw auff / ö Wirtemberg / und singe Des Höchsten Trew / der Zeiten Gold. War je der Sternen Haus dir hold / Jtzt ist es; jtzt hinauff dich schwinge. Der Enckel seiner grossen Ahnen / Der Eberhard und Ludwig heist / Grüßt frölich uns die Vnterthanen; Schöpfft solcher Helden Mut und Geist. Der Güt' und Weißheit schöne Namen Begleiten ihn / das Fürsten-Blut. Die Frömmigkeit / der sanffte Mut / Verjüngen sich in diesem Samen [...] ! 0 3

Während dieser Glückwunsch ausdrücklich „nomine Academici Senatus" vorgetragen wird, ist in anderen Fällen die Grenze zum rein privaten Beitrag fließend. Namentlich bei Ereignissen im Bereich der Universitätslehrer kommen regelmäßig eine ganze Reihe von carmina gratulatoria aus der Feder von Kollegen, Schülern und Freunden zusammen (diesem Zweck dient ja zum Teil auch der Poesie-Unterricht); hier ist Kaldenbach nur einer von vielen, wenngleich man vom Universitätspoeten natürlich etwas Besonderes erwartet. Wie umfangreich sich dieser ganze Komplex akademischer Gelegenheitspoesie ausnimmt, ist an der stattlichen Sammlung abzulesen, die Kaldenbach bereits 1667, also ein Jahrzehnt nach seinem Amtsantritt, unter dem Titel Sylvae Tubingenses (nach dem Vorbild des Statius) veröffentlicht.104 Die muttersprachlichen Texte gehen später in die Sammlung Deutsche Lieder und Getichte ein (1683), und hier findet sich auch die für jeden Gelegenheitspoeten der Zeit obligatorische Klage über den Mißbrauch der Poesie: „daß nemlich auch auff die allerschlechteste Fürfallenheiten / und nichtigsten Dinge / zum öfftern / entweder aus ungestümem Ersuchen anderer / oder aus Unbedachtsamkeit

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Deutsche Lieder und Gerichte (wie A n m . 4), S. 269. Die Sylvae enthalten auch einen Nachtrag mit Gedichten aus der Königsberger Zeit (Sylvula

Regiomontanä).

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und Ehrsucht der Poeten selbst / nicht wenig getichtet und geschrieben wird", wobei dann oft nur „ein geist- und lebloser Verß" entsteht.105 So sehr Kaldenbach sich aufgrund seines eigenen Könnens und seiner langen Erfahrung zu einem solchen Urteil berechtigt glaubt, so wenig kann er auf die Kasualpoesie als Medium seiner sozialen Selbstbehauptung verzichten, vor allem außerhalb des akademischen Bereichs. Daß der Universitätspoet bei einflußreichen und finanzkräftigen Gönnern als Gedichtlieferant besonders beliebt ist, liegt auf der Hand. Verfolgt man anhand der Gedichtsammlungen die Auftraggeber aus der Tübinger Zeit, so zeigt sich, wie Kaldenbach den näheren und weiteren Umkreis nach und nach poetisch erobert hat, von Calw über Sindelfingen, Stuttgart, Esslingen, Nürtingen bis hin nach Reutlingen (einige Auftraggeber sind offenbar ehemalige Schüler). Ähnlich verfährt er mit seinen Dedikationen. So widmet er die Prohlemata oratoria (1672) dem Rat von Esslingen, den ersten Band der Orationes (1672) dem Rat von Ulm und die Sylloge (1687) dem von Reutlingen (die Reichsstädte haben Anspruch auf Sonderwürdigung). Soziale Obligationen solcher Art sind zugleich Signale auf Kaldenbachs Weg zum naturalisierten Württemberger. Was jedoch auf den ersten Blick so konsequent und erfolgreich erscheint, darf über schwere persönliche Rückschläge nicht hinwegtäuschen. Schon 1657 stirbt Kaldenbachs Frau Anna Margretha, die Tochter des Theologen Demmeler, im Wochenbett. Die Anteilnahme der Freunde und Kollegen ist groß und, wie es scheint, ehrlich.106 Ein Jahr darauf (1658) heiratet Kaldenbach die Esslinger Bürgermeisterstochter Magdalena Schloßberger. Aus dieser Ehe stammt Kaldenbachs einziger Sohn Christoph. Er war offensichtlich ein Sorgenkind und ist noch vor dem Vater gestorben. Am 12. März 1678 berichtet Kaldenbach in einer Eingabe an den Rektor,107 der Sohn sei nach Rottenburg zu den Jesuiten übergelaufen. Der dortige Pater Rector habe zwar versprochen, den Sohn wieder „in die nähe zu liefern", aber dem sei wenig Glauben zu schenken, zumal der Sohn wahrscheinlich bereits nach Innsbruck verfrachtet worden sei. Dort möge die Universität ex aequo intervenieren. Kaldenbachs Gesuch wird wegen der Undurchsichtigkeit der Lage abschlägig beschieden,108 der Sohn ist jedoch zurückgekehrt, denn 1683 und

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Deutsche Lieder und Getichte (wie Anm. 4), Vorrede, S. 4f. Vgl. das Rektoratsprogramm vom 18. August 1657 sowie die Funeralien mit der Predigt von Matthäus Esenwein und den Kondolenzgedichten (unter anderen von Johann Adam Oslander und Balthasar Raith). UAT 25/3, Nr. 16. Notiz ebd. nach Verhandlung im Senat.

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1687 wird er als Herausgeber von Werken des Vaters genannt. 1 0 9 Die Mutter stirbt bereits 1662. Ein Jahr darauf heiratet Kaldenbach zum drittenmal - Maria Agatha Greiff, die Tochter eines württembergischen Regierungsrats - , aber auch diese Ehe endet vorzeitig durch den Tod der Frau (1679). Im Alter von nahezu siebzig Jahren, 1682, heiratet Kaldenbach ein viertesmal, und zwar die Witwe des Sindelfinger Stadtpflegers Justus Müller, Maria-Margaretha. Mit ihr zusammen lebt er, wie sich das Rektoratsprogramm auf griechisch ausdrückt, „in aller Annehmlichkeit und Zurückgezogenheit", 110 bis er am 16. Juli 1698 stirbt. Zunehmende Krankheiten haben Kaldenbachs letzte Lebensjahre offenbar schwer belastet. Am 9. Dezember 1691 verzeichnet die Neglectendeposition: „Morbo hactenus impeditus, cum D E O die proximo Lunae ad lectiones ordinarias redibit". 111 Und am 9. Februar 1695 heißt es: „per morbi incrementa versor etiamnum". 1 1 2 Die erzwungene Unterbrechung der Lehrtätigkeit bedeutet zugleich erhebliche finanzielle Einbußen. Noch im gleichen Jahr 1695 m u ß Kaldenbach die Universität um „intercession" bei der Stadt Kneiphof in Königsberg bitten, wo er noch Kapital samt aufgelaufenen Zinsen besitzt (der Schriftwechsel ist erhalten). 113 Der Zustand wird für alle Beteiligten immer unerfreulicher, zumal der Parallel-Lehrstuhl seit 1635 offenbar nicht mehr besetzt worden ist 114 und Kaldenbach seine Fächer allein vertritt. Eine Lösung erfolgt schließlich dadurch, daß Kaldenbach ehrenvoll und, wie es ausdrücklich heißt, „pleno ubique salario" 115 emeritiert wird. Die persönlichen Verdienste Kaldenbachs, die eine solche ungewöhnliche Regelung ermöglichten, liegen nicht nur im engeren Kreis der Universität. Als Experte auf dem Gebiet der studia humanitatis und als langjähriger Gymnasiallehrer war Kaldenbach geradezu prädestiniert, auch einen Posten innerhalb der württembergischen Schulaufsichtsgremien zu übernehmen. Wahrscheinlich noch während der siebziger, spätestens aber zu Beginn der achtziger Jahre ist er vom Herzog zum „Paedagogarcha" bzw. „Visitator" der württembergischen Lateinschulen „ob der Staig" (d. h. südlich Stuttgarts) ernannt worden. 1 1 6 Es war

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Deutsche Lieder und Getichte (wie Anm. 4) und Sylloge (wie Anm. 76). Programma funebre (wie Anm. 7). 111 UAT 27/1, II, Nr. 67 („Bisher wegen Krankheit verhindert, wird er mit Gott am Tag nach Neumond wieder zu den regelmäßigen Vorlesungen zurückkehren"). 112 A. a. O., Nr. 70. 113 UAT 25/3, Nr. 79-81. 114 Vgl. Conrad (wie Anm. 31), S. 41 (der Anlaß dürfte in Sparmaßnahmen während des Krieges zu suchen sein). 115 Programma funebre (wie Anm. 7). 116 Vgl. die Vorreden zu Compendium rhetorices (1682) und Deutsche Sappho (1687). 110

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Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert: Christoph Hattenbach eine ehrenvolle, aber nicht unübliche Berufung. Kaldenbachs Vorgänger Rauscher (seit 1613 Ordinarius für Rhetorik) war seit 1629 ebenfalls „Paedagogarcha" gewesen,117 ähnliches gilt für andere Universitäten und Territorien (Buchholtz, Schräder). Gerade weil der Gymnasialunterricht im Bildungsziel der eloquentia kulminierte, lag es nahe, die Inhaber der humanistischen Lehrstühle zu solchen Amtern heranzuziehen. Wie sehr Kaldenbach bestrebt war, in die neue Aufgabe auch sein literarisches Lebenswerk zu integrieren, zeigen seine späten Gedichtsammlungen. Als er 1687 die Deutsche Sappho neu herausgibt, reduziert er sie der Schuljugend und der württembergischen Frömmigkeit zuliebe ganz auf geistliche Texte (die Ausgabe von 1651 hatte beispielsweise auch Liebeslieder enthalten). Er widmet sie den Inspektoren und Scholarchen der Lateinschulen „ob der Staig" und schlägt in der Vorrede, auf sein Visitationsamt Bezug nehmend, wieder einmal den Bogen von Preußen nach Württemberg: „als habe ich nicht unbillich zu seyn erachtet / mein geringes Talent / welches / bald von erster Jugend an / so schöner Wissenschafft gewidmet / nach Vermögen jetzt angeregter Schul-Jugend zu gut anzuwenden".118 Während die Deutsche Sappho in erster Linie der Pflege des Musikalischen und des Geistlichen gilt, umfaßt die bereits erwähnte Sammlung Deutsche Lieder und Getichte (1683) Kaldenbachs muttersprachliche Poesie in voller Breite, vom Kirchenlied bis zum akademischen Gelegenheitspoem. In der Widmung an den Herzog Friedrich Carl erinnert er dementsprechend an seinen Lehrauftrag, durch den ihm „bey Dero weitberühmten Universität / nebenst der Beredsamkeit und Geschicht-Lehre / die Poesie gnädigst anvertrawet und anbefohlen".1 19 Und er zählt sich zu denen, „welche den Auffwachs unsrer Muttersprach nicht allein von Hertzen wündschen: sondern auch nach Vermögen zu befördern / ihnen angelegen seyn lassen"120 - mit Recht, wenn man an seine umfangreiche poetische Praxis, an die Poetice Germanica und eventuell auch an seine Privatkollegs über deutsche Oratorie und Poesie denkt. An den Gymnasien ist damals, namentlich durch die Aktivität Christian Weises, der Unterricht in der Muttersprache bereits weiter fortgeschritten als an den Universitäten. Aber die prinzipielle Vernachlässigung des Deutschen gehört noch immer, wie bei Ratichius, Comenius und ihren Anhängern, zu den Kernproblemen der pädagogischen Diskussion. Kaldenbach gibt sich hier dezidiert

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B ö k ( w i e A n m . 34), S. 116. Deutsche Sappho. Stuttgart 1687, fol. A 2 1 . Deutsche Lieder und Getichte (wie Anm. 4), S. 7. A. a. O., S. 6f.

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'progressiv'. Latein und Griechisch bringe man den Schülern sorgfältig bei, aber „die eigentliche zier- und manierliche Redensart ihres Volcks und Vorfahrt" werde nicht kultiviert, obwohl dies „von Kindheit auff' geschehen müsse.121 Das Problem des Klebens am Dialekt, schon damals in Württemberg besonders fatal, wagt der Preuße und Wahltübinger Kaldenbach nur indirekt anzusprechen. Zwar sei im Interesse einer hochdeutschen Gemeinsprache schon vieles geleistet worden, insbesondere von den Sprachgesellschaften. Trotzdem „wil [...] noch je und je die [allzu] langsame Ubereinstimmung zu einer beständigen / durchgehenden / Kunst- und lehrmäßigen / Richtigkeit solchen Auffwachs hindern". 122 Wieweit Kaldenbach diesen „Auffwachs" an den Gymnasien tatsächlich beeinflußt und gefördert hat, läßt sich schwer ermessen. Sein offizielles Amt besaß er nicht so sehr als Verteidiger der Muttersprache, sondern als Humanist. Schon zu Anfang der achtziger Jahre erhält er vom Herzog Friedrich Carl den Auftrag, ein neues Rhetoriklehrbuch für die württembergischen Gymnasien zu schreiben. Das alte stammte noch aus dem Jahr 1618 und war von dem damaligen Hofprediger Johannes Hauber verfaßt worden. 123 Solche speziellen Aufträge waren ebenso wie das Visitatorenamt gelegentlich mit dem humanistischen Lehrstuhl verbunden. So mußte etwa Buchner schon bald nach seinem Dienstantritt in Wittenberg die Neubearbeitung von Melanchthons lateinischer Grammatik übernehmen (1621). 1682 erscheint Kaldenbachs Lehrbuch unter dem Titel Compendium rhetorices mit dem Zusatz „pro scholis in ducatu Würtembergico adornatum". Eine in ziemlich holprigem Latein abgefaßte „Praefatio" des Konsistoriums handelt über die Göttlichkeit der menschlichen Rede und erläutert die Aufgabe, die Kaldenbach übertragen worden ist („ä multis jam lustris in hoc studii genere egregie exercito").124 Das Kompendium ist erotematisch, d. h. in Form von Frage und Antwort, gehalten und bietet in drei Büchern das übliche rhetorischtheoretische Schulpensum, gegliedert nach inventio, dispositio und elocutio. Doch ist der Stoff im ganzen übersichtlicher angeordnet und knapper gefaßt als bei Hauber. Insbesondere fehlt die von Hauber noch berücksichtigte Theorie der memoria und der actio, während das Gewicht der Stillehre zugenommen hat und eine Reihe erläuternder Zitate aus antiken (auch griechischen) Autoren

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A. a. 0 . , S . 6. A. a. O., S. 5. Erotemata rhetorices. Stuttgart 1618 und öfter (vor Hauber war ein Lehrbuch von Crusius eingeführt). Compendium rhetorices. Tübingen 1682, fbl. 4 a („ihm, der bereits seit vielen Jahren in diesem Fach über vorzügliche Erfahrung verfügt").

Tübinger Poesie und Eloquenz im 17. Jahrhundert:

Christoph

Kaldenbach

hinzugekommen sind; wie in der Collegiorum [...] sylloge wird das Bestreben erkennbar, die Theorie enger mit der Klassikerlektüre zu verbinden. Aus dem wahrhaft umfangreichen CEuvre Kaldenbachs - hier konnten nur die wichtigsten Titel genannt werden — hat dieses Schulkompendium am längsten überdauert. Schon ein Vierteljahrhundert nach dem ersten Erscheinen entbrennt zwischen dem Tübinger Erstverleger Reis und dem Stuttgarter Buchhändler Metz ein Streit um einen geplanten Nachdruck (1707); 125 Schulbücher waren bereits damals ein besonders einträgliches Geschäft. Derselbe August Friedrich Bök, bei dem Schiller 1775 an der Karlsschule ein Kolleg über Redekunst hörte, schreibt 1774, Kaldenbachs Lehrbuch sei „noch gegenwärtig, mit den nöthigen Zusäzen und Verbesserungen, in Würtenberg eingefiihret". 126 Ob das Tradiertwerden durch die bloße Schwerkraft von Bildungsinstitutionen dem Andenken Kaldenbachs förderlich war, mag dahingestellt bleiben. Was sich seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts an Geistesgröße mit dem Namen Tübingens verband, hat im Bewußtsein der Literarhistoriker alles Vorausgehende in den Schatten gestellt. Insbesondere für das 17. Jahrhundert schien das Bild der Dichterlandschaft Württemberg gänzlich unattraktiv, Weckherlin vielleicht ausgenommen. Hinzu kommt, daß Kaldenbach nicht im eigentlichen Sinn als Glied der 'schwäbischen Dichterfamilie' — und sei es nur als Vorfahre eines Bedeutenderen — in Frage kam. So blieb dieser poeta minor, wo man ihn überhaupt aus philologischem Pflichteifer registrierte, wesentlich ein 'Königsberger'. Daß er auch ein 'Tübinger' war, versuchte dieser kurze Abriß zu zeigen. Gerade in der Verbindung von musikalisch-poetischer Gewandtheit und humanistisch-akademischer Gelehrsamkeit liegt die Eigenart seiner Person. (Anmerkung fur Hochschulreformer:) In einem Überblick über die „Traditionen der deutschen Universität" hat Ralf Dahrendorf die Vermutung ausgesprochen, „daß es keinen noch so radikalen Reformgedanken gibt, der nicht irgendwann und irgendwo in der Geschichte der deutschen Universitäten schon einmal wirklich war". 127 Das mag manchen wenig interessieren. Wer aber notwendige Reformen des Lehr- und Forschungsbetriebs gern durch Präzedenzen in der Tradition gestützt sieht, könnte den hier skizzierten Ausschnitt aus der Ge-

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Hans W i d m a n n : Tübingen als Verlagsstadt. Teil 2, in: Attempto 29/30 (1968), S. 3ff.; hier S. 18. Bök (wie Anm. 34), S. 136. Ralf Dahrendorf: Traditionen der deutschen Universität, in: Hochschulführer. Hrsg. v. Petra Kipphoff, Thomas von Randow u. Dieter E. Zimmer. Hamburg 1964, S. 11—23; hier S. 12.

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Humanistische Pioniere schichte der Rhetoriklehrstühle noch unter einem besonderen Gesichtspunkt betrachten. Seit Jahren wird, namentlich in der Germanistik, über die Erweiterung des literaturwissenschaftlichen Gattungskanons und über eine neue, auch sprachpraktische Ausrichtung des philologischen Studiums diskutiert — Fragestellungen, die einen Kaldenbach höchst seltsam, ja überflüssig anmuten müßten. Für ihn wäre es eine Selbstverständlichkeit, daß 'Zweckformen' wie Brief und Traktat, Historiographie und Predigt, Streitschrift und politische Rede in den Bereich der 'Literatur' (eloquentia) und somit des wissenschaftlichen Studiums gehören. Und ebenso selbstverständlich wäre es fur ihn, daß dieses Studium auch zur praktischen Beherrschung der Zweckformen anzuleiten hätte. Zwischen Kaldenbach, als dem Vertreter der älteren rhetorischen Tradition, und uns stehen die Humboldtsche Universitätsreform und die Wissenschaftslehre des deutschen Idealismus. Dessen wird man sich auch in der neueren Methodendiskussion zunehmend bewußt. So fordert etwa Friedrich Sengle in seiner Abhandlung über Die literarische Formenlehre geradezu eine „neue Rhetorik",128 und Eberhard Lämmert erinnert in seinem Beitrag Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft sogar an die spezielle Tradition der Eloquenzlehrstühle: „Wer sich an einer Universität des 18. Jahrhunderts bei einem Lehrer der Eloquenz oder der schönen Wissenschaften einfand, tat dies in aller Regel mit dem Ziel, nach gehöriger Belehrung besser reden und schreiben zu können."129 Dem herkömmlichen Selbstverständnis deutscher Literaturwissenschaft wird die Einbeziehung solcher praktischen Zielsetzungen schlechterdings barbarisch vorkommen - obwohl sie gut humanistisch ist - , und sicher steht die Diskussion hierüber erst in den Anfängen. Die Wiederaufnahme der Tübinger 'rhetorischen Tradition' durch Walter Jens mag nur ein möglicher Weg sein, um diese längst überfällige Diskussion mit dem nötigen Nachdruck zu fördern. Auch wäre durch den bloßen Rekurs auf eine vorhumboldtsche Tradition das Problem noch nicht gelöst. Aber da das Bestehende von vielen immer noch - bewußt oder unbewußt - als das Selbstverständliche betrachtet wird, kann der Rekurs auf die Tradition zeigen helfen, daß das scheinbar Selbstverständliche auch nur historisch ist: eine durchaus unverächtliche Aufgabe der Tübinger Rhetorik.

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Friedrich Sengle: Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform. Stuttgart 1967, S. 13 u. ö. Eberhard Lämmert: Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft, in: Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. v. Jürgen Kolbe. München 1969, S. 7 9 - 1 0 4 ; hier S. 86.

KLASSIKER-BILDER

Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing *

„Lessing! Lessing! wenn er nicht Lessing wäre, ich möchte was sagen. Schreiben mag ich nicht wider ihn, er ist ein Eroberer [...]". Der hier Einschüchterung durch Kritiker-Autorität artikuliert und zugleich Ingrimm darüber, ist der noch nicht zwanzigjährige Goethe in einem Brief vom 14. Februar 1769 an seinen Leipziger Kunstlehrer Oeser. 1 U m Gemmenkunst, Antiquarisches geht es im Zusammenhang. 1766 ist Lessings Laokoon erschienen und hat in das öffentliche Reden über alte Kunstgeschichte - seit Jahren wesentlich durch Winckelmann geprägt - mit einemmal eine neue, bislang vornehmlich aus Theater und Literaturkritik bekannte Stimme eingeführt. Der bald sich anschließende Streit mit dem Hallenser Professor Klotz beschäftigt, als Goethe in Leipzig studiert, immer noch das Publikum. Die junge Ästhetengeneration, von der deflnitorischen Schärfe des Laokoon

fasziniert,

folgt dem Hin und Her der Fehde mit genußvoller Spannung - auch wenn vereinzelt schon Bedenken gegen das Mikrologische und gegen die verletzende Schärfe der Auseinandersetzung laut werden. Was immer der Polemiker Lessing

*

Zuerst erschienen in: Literarische Klassik. Hrsg. v. Hans-Joachim Simm. Frankfurt a. M . 1988, S. 3 5 4 - 3 7 0 . Für die rezeptions- und wirkungsgeschichtlichen Materialien wird auf folgende Sammlungen Bezug genommen: Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen. Hrsg. v. Julius W. Braun. 3 Bde. Berlin 1 8 8 4 - 9 7 ; Lessing - ein unpoetischer Dichter. D o k u m e n t e aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg. v. Horst Steinmetz. Frankfurt a. M . , Bonn 1969 (Zitate nach Möglichkeit hieraus); Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. Hrsg. v. Richard Daunicht. München 1971; Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1 7 7 5 - 1 9 6 8 . Hrsg. v. Edward Dvoretzky. 2 Teile. Göppingen 1971/72; Lessing. Nachruf auf einen Aufklärer. Sein Bild in der Presse der Jahre 1781, 1881 und 1981. Hrsg. v. Klaus Bohnen. München 1982. Die wichtigsten Analysen und Abrisse: Steinmetz, a. a. O . , S. 13—45; Gunter E. Grimm: Zwischen Nachfolge und Vereinnahmung (Stationen der Wirkungsgeschichte), in: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. Hrsg. v. Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel u. Martin Kramer. München 1987, S. 344—427 (dort ausführliche Literaturangaben); D a s Bild Lessings in der Geschichte. Hrsg. v. Herbert G . Göpfert. Heidelberg 1981; Bausteine zu einer Wirkungsgeschichte: Gotthold Ephraim Lessing. Hrsg. v. Hans-Georg Werner. Berlin 1984; Nation und Gelehrtenrepublik. Lessing im europäischen Zusammenhang. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Albert M . Reh. Detroit u. M ü n chen 1984.

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Steinmetz (wie A n m . *), S. 78.

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Klassiker-Bilder als exemplarischen Gegenstand aufgreift, erweist ihn - so hat es den Anschein als den Überlegenen, als „Eroberer". Auch auf dem antiquarischen Feld ist er mittlerweile fast schon eine nationale Autorität. 1767 ist freilich auch, nach langem Lessingschem Pausieren vom Theater, Minna von Barnhelm ans Licht getreten und, nach anfänglichen Schwierigkeiten besonders mit der Zensur, rasch zum gefeierten Symbol einer neuen, „originalen" deutschen Dramenproduktion aufgestiegen.2 Schon am 18. November 1767 erlebt der achtzehnjährige Goethe in Leipzig das neue Stück auf der Bühne. In einer Liebhaberaufführung wirkt er gar selber mit. Die Konstellation ist sprechend. Zwei epochemachende Werke der Kunsttheorie und des Theaters binnen kaum anderthalb Jahren, ihr Autor als öffentliche 'Person, und der junge Genius des anbrechenden Äons als hellhöriger Zeitzeuge. Goethe selbst kehrt vier Jahrzehnte später, in Dichtung und Wahrheit, das Zäsurhafte, Epochemachende der beiden Lessingschen Produkte anerkennend hervor.3 Die Formulierungen wurden ihrerseits für Generationen kanonisch. Laokoon: das Werk der theoretischen Klärung, das „uns [d. h. die „jungen Leute"] aus der Region eines kümmerlichen Anschauens in die freien Gefilde des Gedankens hinriß". 4 Minna von Barnhelm: die „wahrste Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, von vollkommenem norddeutschen Nationalgehalt", „die erste, aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduktion". 5 Ihr Autor selbst aber: einer, der im Gegensatz zu Klopstock und zu dem (von Goethe eigentümlich überschätzten) patriotischen Gleim „die persönliche Würde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können". 6 Lessing als Vorläufer, als Vorklassiker: Schöpfer von Mustern unbestreitbar nationalen Rangs, Reformer, Wegbereiter, doch als „Persönlichkeit" noch ungefestigt, seiner „Würde" noch nicht wahrhaft gewachsen - wenngleich er sich viel „zutraute" (mit der gleichen Wortwahl des „Sichzutrauens" hatte einst Lessing im 17. Literaturbrief die reformerischen Anstrengungen Gottscheds ironisiert). Seit um die Mitte des 19. Jahrhunderts das Konzept einer Weimarer „Klassik"

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Vgl. den Überblick von Gunter E. Grimm in: Barner, Grimm, Kiesel, Kramer (wie Anm. *), S. 269-277. Zu diesem Goetheschen Epochendenken in Dichtung und Wahrheit·. Verf.: Über das Negieren von Tradition - Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München 1987 (Poetik und Hermeneutik. XII), S. 3-51, bes. S. 3-11. Steinmetz (wie Anm. *), S. 232. Ebd., S. 231. Ebd.

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Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing

sich durchzusetzen begann, 7 wurde mehr und mehr auch die Perspektive auf Lessing als den verdienstvollen Vorläufer zum eisernen Bestandteil der Literaturpflege und der nationalen Historiographie. Lessing war es hiernach, der namentlich mit seiner Hamburgischen Dramaturgie den Abwehrkampf gegen die französische Fremdherrschaft auf dem Theater tapfer und überzeugend gekämpft hatte und damit erst eigentlich die „deutsche" Dramatik der Stürmer und Dränger, nicht zuletzt diejenige Goethes und Schillers ermöglichte. Hatte Heine in der Romantischen Schule die Formel vom „literarischen Arminius" noch ironisch-distanzierend verwendet, so begegnen seit den 50er Jahren die Chiffren „Herakles" (mit der Konnotation des „Säuberns"), „Reformator", ja sogar ein „weltlicher Luther" — die Verbindung zu ihm hatte schon Friedrich Schlegel ausgezogen - mit wachsender nationaler Emphase. 8 Lessing war definitiv zur Frühgestalt geworden, zum Pionier am Eingang zu etwas Kommendem, das man nunmehr zu überblicken glaubte. Lessings eminente Wirkung schon auf seine Zeitgenossen, ja seine ZeitalterRepräsentanz schien unbestreitbar. Bereits Herder hatte 1781 seinen großen Nachruf im Teutschen Merkur bezeichnenderweise mit dem Satz begonnen: „Kein neuerer Schriftsteller hat, dünkt mich, in Sachen des Geschmacks und des feineren gründlichen Urteils über literarische Gegenstände auf Deutschland mehr gewirkt als Lessing'? Bei Herder formiert sich auch das energetische Konzept des „Kämpfers" Lessing,10 dessen Werke noch in der Nachwelt „Männer wecken" würden (eine Vorstellung, die dann Julius Petersen im Jubiläumsjahr 1929 auf ihre nationalistische Spitze treiben wird).11 Friedrich Schlegel, in tiefer Wesensverwandtschaft sich zugleich von der „blendenden" Gestalt des Aufklärers Lessing absetzend, nennt ihn 1797/1801 den „eigentliche[n] Autor der Nation und des Zeitalters". 12

Hierzu die einschlägigen Beiträge in: Hans-Joachim Simm (wie Anm. *), (bes. Wilhelm Voßkamp: Klassik als Epoche. Zur Typologie und Funktion der Weimarer Klassik, S. 248-277), sowie: Über das Klassische. Hrsg. v. Rudolf Bockholdt. Frankfurt a. M. 1987, dort vor allem Rainer Warning: Zur Hermeneutik des Klassischen, S. 77-100, sowie: Jürgen Wertheimer: Goethes Glück und Ende, oder: Vom verhängnisvollen Schicksal, ein Klassiker zu sein, S. 101-110. Die Stellen bei Grimm (wie Anm. *), S. 386-411. Steinmetz (wie Anm. *), S. 123. Ebd., S. 134. Zur Weiterentwicklung dieses Bildes s. Jürgen Schröder: Der „Kämpfer" Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert, in: Göpfert (wie Anm. *), S. 9 3 114. Grimm (wie Anm. *), S. 405; Verf.: Lessing 1929. Momentaufnahme eines Klassikers vor dem Ende einer Republik, in: Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag. München 1983, S. 439-456. Steinmetz (wie Anm.*), S. 169.

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Klassiker-Bilder Von Schlegel stammt auch der folgenreiche Satz: „Er selbst war mehr wert, als alle seine Talente", 1 3 was ein Doppeltes bedeutet: das Nicht-zusammenhaltenKönnen der vielen Talente (in charakteristischer Nähe zur Goetheschen Diagnose) und die eigentliche Dominanz seiner „Individualität". Im Hinblick auf sie sei mancher Brief Lessings „mehr wert [...] als manches seiner berühmtesten Werke". 1 4 Durchaus in der Konsequenz schon zeitgenössischer Beeindruckung beginnt sich die starke Persönlichkeit partiell vor das Werk zu schieben. Nicht nur das oft beobachtete „Lessingisieren" einzelner Dramenfiguren oder der die Texte in all ihrer Gattungsverschiedenheit (vom Epigramm bis zur Streitschrift, vom Traktat bis zur Komödienszene) durchziehende ureigene Dialogton 1 5 ist hier gemeint. Es geht um den bald offen, bald versteckt wirkenden Vorrang des Interesses an dem „Mann", der „Gestalt" Lessing. Was zu einer problematischen Eigenheit der Goethepflege wird: der überbordende Biographismus (gewiß in Goethes Weise der Selbstäußerung tief verankert und wohl erstmals von Gustav Freytag 1 8 4 9 auf eine Formel gebracht), 1 6 gilt vielleicht für keinen anderen deutschen Nationalklassiker so ausgeprägt wie fur Lessing. Noch als in den Jubiläumsjahren 1 9 7 9 und 1981 der Goethesche Seufzer „Ein Mann wie Lessing täte uns not!" zu einem der beliebtesten Zitate avancierte, 1 7 wurde etwas von der eigentümlichen Gegenwärtigkeit dieses alten Lessingschen Wirkungsmoments erkennbar. Der Respekt vor dem moralischnationalen Verdienst der vorgoetheschen Pioniergestalt ist darin ebenso wirksam wie der Reiz einer souverän sich öffentlich artikulierenden bürgerlichen „Individualität". Lessing, der „Gestalt-Klassiker: 1 8 Bei Friedrich Schlegel ist die Fixierung auf das „Individuum", auf den „Mann" zugleich genaue Funktion, gewissermaßen kategoriale Kehrseite seiner Hervorhebung des „Kritikers" Lessing, zu La-

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17 18

Ebd., S. 178. Ebd. Hierzu bes. Walter Jens: Feldzüge eines Redners, in: Ders.: In Sachen Lessing. Stuttgart 1983, S. 1 1 - 3 3 . „Die größte Dichtung, welche wir von ihm besitzen [...], ist sein eigenes Leben. Seine Poesien sind nur die erklärenden Noten dazu [...]"; zit. nach Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1 7 7 3 - 1 9 1 8 . München 1980, S. 2 6 2 . Zum Problem vgl. Christa Bürger: Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst im höfischen Weimar. Literatursoziologische Untersuchungen zum Klassischen Goethe. Frankfurt a. M. 1977, S. 68ff. Vgl. die Textauswahl für 1981 in Bohnen (wie Anm. *), S. 1 0 0 - 1 6 2 . Die hiermit verbundenen Klassiker-Probleme, herausgetrieben zuerst durch Autoren des George-Kreises (Gundolfs 'Gestalt'-Monographien u.a.), sind methodologisch nicht aufgearbeitet; einiges zur 'Personalisierung' bei Hans Joachim Schrimpf: Der Schriftsteller als öffentliche Person. Von Lessing [!] bis Hochhuth. Beiträge zur deutschen Literatur. Berlin 1977.

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Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing

sten des „Dichters" (und damit der „Werke"). Wie tief suspekt der „unpoetische Dichter" mit seinem Prototyp Lessing den Deutschen über Generationen hin gewesen ist, bedarf hier keiner Darlegung.19 Thomas Mann sieht sich bei der 200. Wiederkehr von Lessings Geburtstag, im Zeichen beunruhigender „irrationalistischer" Exzesse, veranlaßt, den „Klassiker" Lessing auf einen eigenen, modernen Autorentypus zurückzubeziehen: „Zum erstenmal in Deutschland verkörpert er den europäischen Typus des großen Schriftstellers, welcher, ein Mann des freien und glänzenden, sachlich-übersachlichen Wortes, eine geistund kunstumleuchtete Persönlichkeit, seiner Nation zum Bildner und Erzieher wird".20 „Zum erstenmal in Deutschland" — darin steckt nicht etwa die Vorläuferschaft einer schließlich siegreichen Nationaltendenz, sondern für viele bleibende Fremdheit. Es geht auch nicht lediglich um den Personaltypus, sondern immer wieder - trotz aller 'reformatorischen' Verdienstlichkeit - auch um das Werk. Daß es dem Autor an „Gemüt" fehle, wird früh vor allem an Emilia Galotti exemplifiziert. Noch im Jahr der Uraufführung moniert Goethe in einem Brief an Herder (Juli 1772), bei Lessing sei „alles nur gedacht". Selbst an diesem „Meisterstück" ärgere es ihn; denn „nicht einmal Zufall oder Caprice spinnen irgend drein".21 Das die Meisterhand Verratende werde aufgezehrt durch das Erkältende.22 Durchaus im gleichen Sinne prägt dann Friedrich Schlegel die Formel vom „großen Exempel der dramatischen Algebra". Emilia Galotti sei das „in Schweiß und Pein produzierte Meisterstück des reinen Verstandes; man muß es frierend bewundern, und bewundernd frieren; denn ins Gemüt dringts nicht und kanns nicht dringen, weil es nicht aus dem Gemüt gekommen ist".23 Bemerkenswert früh sind die Haupt-Rezeptionslinien des 'Klassikers' Lessing und seiner Werke vorgezeichnet. Fast möchte man von einer charakteristischen Spaltung in eine 'Würdigungs'- und eine werkbezogene 'Eindrucks'-Geschichte sprechen. Was er als historische 'Leistung' vor den Augen der bewundernden, mitunter gewiß auch irritierten Zeitgenossen erbracht hat, scheint sich jeder

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21 22 23

Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die Vorstellung vom 'unpoetischen' Dichter Lessing, in: Göpfert (wie Anm. *), S. 13-35. Steinmetz (wie Anm. *), S. 450f.; vgl. auch Warning (wie Anm. 7), S. 91, sowie Verf.: Lessing 1929 (wie Anm. 11), S. 444 und S. 451. Steinmetz (wie Anm. *), S. 78. Ebd., S. 78. Ebd., S. 182. Wichtige Analyse hierzu von Hans-Georg Werner: Über die Schwierigkeiten, mit der „dramatischen Algebra" von Emilia Galotti zurechtzukommen, in: Werner (wie Anm. *), S. 110-150.

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Klassiker-Bilder Bestreitung zu entziehen. D o c h die Produkte seiner Feder laden die Nachwelt k a u m zur H i n g a b e , zur Identifikation ein. J a , sie fordern, sofern nicht Einschüchterung durch Klassizität bereits im Vorfeld übermächtig ist, Unbehagen geradezu heraus. 2 4 D a ß der j u n g e Kritiker Lessing sich in Berlin mit Belesenheit, Urteilskraft u n d W i t z binnen weniger Jahre einen N a m e n macht, wird als erfrischend, als der deutschen Literaturentwicklung zutiefst förderlich erachtet. D o c h etwa seine Polemik gegen das - sich ohnehin allmählich überlebende — Gottschedsche Regelwesen erscheint nicht wenigen als überzogen, als selbstgenügsam, nicht 'aufbauend' genug. Miß Sara Sampson

ist gewiß ein notwendiger Schritt des

' D u r c h b r u c h s ' durch die Konventionen des klassizistischen Alexandriner-Trauerspiels. Aber hier wurde zu einem wesentlichen Teil etwas vollzogen, worin E n g l a n d längst vorangegangen war. U n d m u ß t e denn das deutsche „Original", u m ein kurzzeitiger Riesenerfolg zu werden, gar so tugend- u n d tränenselig ausfallen? Lessing selbst sind Zweifel g e k o m m e n , u n d er ist diesen W e g - a u f d e m d a n n andere die Serienprodukte des bürgerlichen Rührstücks herstellten - nicht weitergegangen. D a f ü r waren Minna

von Barnhelm

u n d Emilia

Galotti partien-

weise für m a n c h e wieder zu „vernünftelnd", intellektuell, kalkuliert. D i e Grenzziehungen des Laokoon,

die richterlichen Einsprüche gegen modische Verwi-

schungen der Künste, haben unstreitig in der Kunsttheorie u n d Poetik ' E p o c h e gemacht'. Indes, die A p o d i k t i k der T h e s e n u n d die langen U m w e g e durch abgelegene historische Exempel — durchaus seinem Vorgehen in der Dramaturgie

Hamburgischen

ähnlich - irritieren damalige wie heutige Leser. D a ß Lessing mit

seinen Anti-Goezes,

mit d e m Streit u m die Reimarus-Fragmente insgesamt, eine

„zeitige A u f g a b e " anpackte, mußten nach u n d nach nicht nur seine Parteigänger anerkennen. Freilich äußerten auch Wohlwollende - bis heute - Bedenken o b der Schärfe der persönlichen Invektive, oder etwa o b des Generalisierenden in manchen kritischen Aussagen über das C h r i s t e n t u m . Nathan

der Weise schließlich geriet von vornherein zwischen derlei ideologi-

sche Fronten (verstärkt noch durch antisemitische Tendenzen), wurde zu Lessings umstrittenstem Stück. D o c h auch die innere F o r m wirkte sperrig; kein Geringerer als Schiller tadelte das 'Zwitterhafte' zwischen Trauerspiel u n d Lustspiel. W i e verlockend freilich selbst fiir den Nathan

die Perspektive des Wegbe-

reitens, des Vorläuferhaften, des Vor-Klassischen ist, erweist sich d a n n während

Die nachfolgenden Beobachtungen, in ihrem sachlichen und wertenden Aspekt grundsätzlich von Lessings Zeitgenossen bis in die Gegenwart reichend, können keinen Kritik-'Spiegel' darstellen, sondern lediglich eine enge Auswahl.

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Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing

des 19. Jahrhunderts, als die nationale Literaturgeschichtsschreibung immer häufiger die Verbindung zur „Humanitätsklassik" der Goetheschen Iphigenie herstellt. Nach 1945 dürfen beide Stücke nebeneinander in den Spielplänen der deutschen Bühnen das „klassische", das „geistige", das „bessere" Deutschland repräsentieren. Was hier in notgedrungener Verkürzung, und nur zu einigen Lessingschen Hauptwerken, an 'Würdigung' und an kritisch einschränkendem 'Eindruck' summiert wurde, gehört fast ausnahmslos auch zum faktischen GegenwartsBild des 'Klassikers' Lessing; eingestanden und uneingestanden. 25 Gewiß resultiert manches Hemmnis des Verstehens aus der Distanz der mehr als zwei Jahrhunderte: bei den 'Realien', den spezifischen Gattungsvorgaben, den Begriffen. Hier können Kommentare nachhelfen. Im Falle Lessings vermag die zusätzliche Vergegenwärtigung ausgewählter zeitgenössischer Rezeptionen 26 etwas Doppeltes. Sie verschafft Zugang zu einem lebendigen Kritikzusammenhang, der in der Direktheit des Beobachtens und Urteilens - etwa bei Minna von Barnhelm, Laokoon oder Emilia Galotti — heute dem wissenschaftlichen Umgang mit dem 'Klassiker' Lessing weithin verlorengegangen ist.27 Und: Sie öffnet einen (sicher nicht 'systematisch' befriedigenden) Durchblick auf einige der spezifischen Entstehungsbedingungen, die bei der 'Würdigung' des Klassikers Lessing von früh an eine zentrale Rolle spielen. Der 'Wegbereiter', der 'Pionier', wenn er denn vorzugsweise so verstanden wird, fordert dazu nachgerade heraus. Schon die Nekrologe, 28 allen voran Herder - und in einigem Abstand selbst noch Friedrich Schlegel - , setzen mit auffälliger Grundsätzlichkeit dazu an: „Was war deutscher Geschmack im Anfang dieses Jahrhunderts? Wie wenig war er, als Gottsched [...]" usf.29 Selbst Dieter Hildebrandt, als er im Lessingjahr 1979 seine brillante, betont unakademische

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Eingestanden am ehesten von Theaterleuten mit ihrem spezifischen Praktiker-Bewußtsein, vgl. Gerhard Stadelmaier: Lessing auf der Bühne. Ein Klassiker im Theateralltag (19681974). Tübingen 1980. Für die wichtigsten Texte existieren dazu mittlerweile Dokumentationen - freilich von sehr unterschiedlicher Qualität, und oft nicht einmal die schon von Braun gesammelten Zeugnisse ausschöpfend. Hinweise auf solche belebende Unmittelbarkeit bei Verf.: „Zu viele Thränen - nur Keime von Thränen". Über Miß Sara Sampson und Emilia Galotti beim zeitgenössischen Publikum, in: Das weinende Saeculum. Hrsg. v. der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert Gesamthochschule Wuppertal/Universität Münster. Heidelberg 1983, S. 89-105; ders.: Lessing als Dramatiker, in: Handbuch des deutschen Dramas. Hrsg. v. Walter Hinck. Düsseldorf 1980, S. 106-119 mit S. 541-543. Grimm in: Barner, Grimm, Kiesel, Kramer (wie Anm. *), S. 383-390, sowie Bohnen (wie Anm. *). Steinmetz (wie Anm. *), S. 123.

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Klassiker-Bilder

Biographie einer Emanzipation herausbringt, 30 kommt bei aller Wachheit auch für Lessings „Schwächen" ohne derlei Kontrastbilder und apologetische Gesten nicht aus. Goethe, der mit seiner Winckelmann-Schrift von 1805 und dann, für seinen eigenen Entwicklungsgang, vor allem mit dem Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit das folgenreiche Muster einer kontrastiven EpochenHistoriographie gegeben hat, 31 relativiert noch spät (am 7. Februar 1827 gegenüber Eckermann) seine recht entschiedene Kritik an Lessings Theaterstücken: „Bedauert doch den außerordentlichen Menschen, daß er in einer so erbärmlichen Zeit leben mußte, die ihm keine besseren Stoffe gab [...]".32 Lessing, der entschuldigte' Klassiker - in dieser eigentümlichen Konstellation ist er in Deutschland unvergleichlich. Gewiß ließe sich das Wort von der „erbärmlichen Zeit", sehr generalisierend und epochenversetzt, auch etwa auf Hölderlin oder Büchner angewendet denken. Doch weder die nationale Zeitresonanz noch die spätere Rezeptionsgeschichte bieten sinnvolle Parallelen; dies gilt selbst für Heine, der als Schriftstellertypus sehr bewußt in Lessings 'Spuren gegangen ist. Unter den Franzosen mag der in so vielem verwandte Diderot noch am ehesten vergleichbar sein: in der von der Nachwelt bisweilen empfundenen Notwendigkeit, manches Taggebundene, Zerfasernde, auch fundamentale innere Widersprüche zu entschuldigen. Doch gerade der Hinweis auf Diderot hebt das epochal und national Inkommensurable heraus. Dessen frühe Theaterprogrammatik richtet sich gegen eine bereits vorausliegende, überständige „Klassik". Und sein Persönlichkeitsbild als „philosophe" ist ohne die Zeitgenossen Voltaire und Rousseau nicht zu denken. Lessing hingegen ist gewissermaßen konkurrenzlos auf unsere Gegenwart gekommen. Klopstock, in den Augen vieler Zeitgenossen noch der große Antipode Lessings, ist schon durch die nationalpädagogische Praxis des 19. Jahrhunderts eher mitgeschleppt worden. Aus welchen Gründen und mit welchem Recht auch immer - seine heutige Resonanz, sein 'Klassikertum' kann dem Lessingschen nicht im Ernst an die Seite gestellt werden. 33 Wieland, der andere 'Konkurrent', ist - für ein limitierteres Publikum - zumindest Klassiker der Erzählkunst geblieben. Und es gibt Anzeichen einer Renaissance,34 freilich

30 31 32 33

34

Lessing. Biographie einer Emanzipation. München, Wien 1979. WieAnm. 3. Steinmetz (wie Anm. *}, S. 254. Dies erweist sich gerade dort, wo Klopstock — im einzelnen höchst verdienstvoll — in den Kontext einer bewußten „Erbe"-Pflege gestellt wird; vgl.: Friedrich Gottlieb Klopstock. Werk und Wirkung. Hrsg. v. Hans-Georg Werner. Berlin (-Ost) 1978. Am deutlichsten erkennbar im Jubiläumsjahr 1983, seinen Veranstaltungen und Publikationen.

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Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing nicht ohne Erinnerung daran, daß seine letzten vier Lebensjahrzehnte Weimar gehörten. Herder schließlich, auch er Weimaraner, immerhin anderthalb Jahrzehnte jünger als Lessing, steht zwar als kritisch-theoretischer Kopf noch am ehesten in Breite und Intensität der nationalen W i r k u n g dem verehrten Freund nahe. Zum literarischen Repräsentanten des vorgoetheschen Zeitalters eignet er sich kaum. Für die Epoche der Aufklärung in Deutschland ist Lessing nachgerade zum Monopol-Klassiker geworden. Mit dem stufenweisen Zurücktreten der Konkurrenten oder mit der - wie im Falle Herders — nur partiellen Berührung verbindet sich nun jenes 'Pionierhafte': die Vorstellung, er sei der erste Herausragende gewesen, der eigentliche Begründer der 'modernen (bürgerlichen) deutschen Nationalliteratur. Bezeichnend, daß die frühen Lessing-Etikettierungen dieser Art im 19. Jahrhundert immer gleich bis zu Luther (oder auch etwa zu Hutten) zurückgreifen, nicht beispielsweise zu Opitz, dem „Vater der deutschen Dichtung". 3 5 Gewiß hat es seit dem Ersten Weltkrieg eine Wiederentdeckung der deutschen Barockliteratur gegeben, mit neuem Interesse für humanistischartifizielle Stilformen, für Höfisches und für antithetische Weltbilder. Das Profil des 'Klassikers' Lessing hat sich dadurch kaum gewandelt. Es liegen, so scheint es immer noch vielen, Welten zwischen ihm und dem 17. Jahrhundert. 3 6 Allgemeine Bildungspraxis und Wissenschaftspraxis spiegeln einander auffällig genau. Zugespitzt formuliert: Von Lessing an kann man bis zur Gegenwart über alles schreiben, da ist jeder kompetent; für das 17. Jahrhundert bedarf es schon besonderer Voraussetzungen. Klassiker-Leseerfahrungen bestätigen dies offenbar. Die wichtigeren Lessingschen Dramentexte zumindest, aber auch kleinere Formen wie Fabeln und Gedichte sind mit Hilfe von Kommentaren und Erläuterungen ohne übermäßigen Aufwand vermittelbar: nicht nur in Wortgebrauch und Realien, sondern prinzipiell auch in der 'witzigen' Pointierung, in Personenzeichnung, Dramaturgie, moralisch-sozialen Normen. Das solchermaßen, zunächst an der Oberfläche Empirisierbare besitzt sein historisch-hermeneutisches Fundament in dem Doppelsatz, der seit der Kanonisierung Lessings im 19. Jahrhundert in zahllosen Varianten wiederholt worden ist: Lessing ist nicht nur der gewissermaßen historiographisch verifizierbare 'Begründer' oder 'Reformator' der neueren

Hierzu (ohne daß die Konkurrenz des „Vaters" und des „Reformators" erörtert werden könnte) Klaus Garber: Martin Opitz — „der Vater der deutschen Dichtung". Eine kritische Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Stuttgart 1976. Natürlich sind hierfür tatsächliche Traditionsunterbrechungen auf dem Feld der Literatur mitentscheidend, doch ist dieser Komplex noch keineswegs hinreichend untersucht.

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Klassiker-Bilder

deutschen Nationalliteratur (und damit zugleich 'Wegbereiter' ihrer Weimarer Hoch-Epoche). Er ist ineins hiermit der erste, früheste Schöpfer eines schriftstellerischen Werks, mit dem uns eine kontinuierliche (bürgerliche) Überlieferung verbindet. 37 Drei Institutionen zuallererst verbürgen diesen Zusammenhang seit zwei Jahrhunderten, in einem äußerlichen und zugleich bewußtseinsgeschichtlich tief prägenden Sinn. In der Vielfalt des Lessingschen Werks selbst gründend, potenzieren sie die Einzigartigkeit dieses Klassikers unter den deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts. An den deutschsprachigen Theatern gehören Minna von Barnhelm, Emilia Galotti und Nathan der Weise zum Standardrepertoire, 38 ihr Autor als frühester neben Goethe, Schiller, Kleist rangierend, in der Sparte 'Klassiker' mit Sophokles, Shakespeare, Racine, Moliere (oder auch einmal Calderon und anderen) abwechselnd. Von allen drei Stücken gibt es in beiden deutschen Staaten bereits mehrere Fernsehinszenierungen. Generationen von Theaterleuten haben gerade in Lessing einen der 'Ihren' gesehen, der sein Metier von der Pike auf gelernt hat und dessen Texte als eminent 'spielbar' gelten. Zu den 'sichersten' Besuchergruppen der Theater - wie zu den 'sichersten' Abnehmern von Textausgaben — zählen seit Generationen die Schulen, 39 so wie bei den meisten Theaterklassikern. Minna von Barnhelm, so meint man aus langer Erfahrung zu wissen, eignet sich sogar schon für 15- bis 16-Jährige. An ihr wie an Emilia Galotti sind zugleich Grundbegriffe der 'klassischen' Dramaturgie besonders eindrücklich demonstrierbar, während Nathan der Weise wiederholt auch pädagogisch-weltanschaulichen Bedenken ausgesetzt war. In Reclams Universal-Bibliothek trägt er immer noch die ehrenvolle Nummer 3, Minna von Barnhelm die Nummer 10. Lange Zeit las man daneben umfangreiche Ausschnitte aus den Literaturbriefen, dem Laokoon, der Hamburgischen Dramaturgie (letztere beide im 19. Jahrhundert mitunter sogar ganz), Die Erziehung des Menschengeschlechts und vor allem: Lieder, Epigramme, Fabeln. Lessing selbst war sich nicht zu gut, in seinen Abhandlungen über die Fabel von 1759 eigens und ausführlich vom „Nutzen für Schulen" zu handeln. Das 'pädagogische Jahrhundert' scheint von ihm - nicht nur in den Fabeln - mustergültig repräsentiert zu werden. Die Literaturkritik sieht in Lessing, für Deutschland, ihren unbestrittenen Ahnherrn: den Schöpfer des ganz auf normgeleitete Induktivität und auf ver37

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Die einzelnen Aspekte werden behandelt in der Einführung zu Barner, Grimm, Kiesel, Kramer (wie Anm. *), S. 24-29. Näheres bei Stadelmaier (wie Anm. 25), (bes. S. 57-61: „Klassik" als Systemmerkmal - Merkmale des Klassikers Lessing im System). Gunter E. Grimm: Lessing im Schullektüre-Kanon, in: GRM 24 (1974), S. 13-43.

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Der Vorklassiker ab Klassiker: Lessing antwortungsbewußte „Öffentlichkeit" hin orientierten Verfahrens kritischer Literatursichtung. Friedrich Schlegel ist der unüberbietbare Zeuge dieser Pionierleistung, aber auch des tief Problematischen daran. Der Kritiker Lessing und der Theaterautor, der 'Dichter' (auch der kleinen Formen) kommen einander freilich kaum noch ins Gehege. Ebensowenig die Institution Literaturkritik mit den beiden anderen. Auch und gerade der Klassiker ist in Funktionen aufteilbar. Ein Literaturkritiker kann sich auf Lessing als sein wichtigstes Vorbild berufen und dessen Dramen zugleich eine eigentliche Aktualität absprechen.40 Die Lessingschen Kritiken selbst wiederum, in ihrer notwendigen Zeitverhaftetheit, gehören weit überwiegend nicht mehr zum Kanon des von vielen Gelesenen. Die Hamburgische Dramaturgie allenfalls bildet eine eigentümliche Brücke. Ohne die Äußerlichkeit, die Apparatur, die spezifische Schwerkraft der drei Institutionen wäre Lessing nicht der Klassiker, der er ist. Das mag sich trivial ausnehmen, fernab aller geschichtsphilosophischen Perspektive. Daß Wieland ob seiner vermeintlichen Frivolität, seines 'undeutschen' Esprits - die massive Kritik setzt ja schon bei den Hainbündlern ein - nie wirklicher Schulautor geworden ist, bildet einen Grund fur den ganz anderen Weg, den die Rezeptionsgeschichte dieses Klassikers nahm. Lessings spezifische Öffentlichkeits-Hingegebenheit, sein virtuoser Umgang mit den verschiedensten Gattungen und Medien haben ein zeitgenössisches Wirkungsfundament geschaffen, auf das Schule und Theater als exzellente Vorgabe aufbauen konnten. Lessing ist seit zwei Jahrhunderten ein — aus Pflicht oder aus Neigung oder aus beidem — gelesener, ein aufgeführter Autor. Ihm war nicht auszuweichen. Aber zugleich kristallisierte sich früh, mit Gewährsleuten wie Herder, Friedrich Schlegel, Goethe und manchem anderen, die Überzeugung heraus, daß er der 'Pionier' der vorausgegangenen Epoche war, ohne den die eigene Gipfelzeit nicht denkbar gewesen wäre.41 Je mehr sich diese Konstruktion perspektivisch verfestigte (Gervinus ist auch hier eine Schlüsselgestalt), je mehr die vor-lessingische Zeit in Distanz trat und die Konkurrenten an Glanz verloren, desto unantastbarer wurde Lessings „Herkules"-Leistung im ganzen. Schon bei Goethe zeichnet sich, gerade in seiner Reserviertheit gegenüber Lessing, der 'Vorläufer'Bonus der „so erbärmlichen Zeit" ab.

Marcel Reich-Ranicki: War Lessing einer großer Kritiker? Zum 200. Todestag des immer bewunderten und bemitleideten, doch weder geliebten noch beliebten Klassikers, in: Bohnen (wieAnm. *), S.134-150. Den Gedanken, daß „Klassik" nur in besonders günstiger nationaler Konstellation und auf den Schultern von Wegbereitern entstehen könne, hat gerade Goethe in seinem Aufsatz Literarischer Sansculottismus (1795) vertreten.

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Klassiker-Bilder Hier liegt zumindest ein, wenn nicht der entscheidende Grund für jene eigentümliche Spaltung in 'Würdigungs'- und 'Eindrucks'-Geschichte (oder wie immer man dieses Phänomen benennen mag). Die Leistung des Wegbereiters ist in ihrer Ganzheit nahezu sakrosankt, ein „Mythos", wie es später auch heißt. 42 Aber auch die Texte werden eben weiterhin aufgeführt und gelesen. Hier trennen sich die Rezeptionswege Lessings von denen Klopstocks (den er in dem vielzitierten Epigramm noch in das halbironische „wir" eingeschlossen hatte). „Die Geschichte des Verhältnisses der Deutschen zu Lessing ist eine Geschichte ohne jede Sensation. Sie kennt keine Zeiten des Vergessens oder des Verkennens von Lessings Bedeutung". 43 Der Befund ist geeignet, dem 'Klassiker Lessing gegenüber skeptisch zu stimmen. Pflichtgemäße 'Würdigung' und kontinuierliche 'Pflege' allein können bekanntermaßen tödlich sein. Gewiß, Lessing ist kein Spätentdeckter wie Hölderlin oder Büchner, und er ist nicht durch Jahrzehnte der 'Entfremdung' vom Publikum gegangen wie Goethe im 19. Jahrhundert. Von Angriffen verschont blieb er keineswegs. Der den Fragmentenstreit geführt hat und heute fast zum 'Klassiker' der historisch-kritischen Theologie avanciert ist, 44 blieb dem Lager der protestantischen Orthodoxie auf lange Zeit suspekt. Und daß er ausgerechnet einen Juden zur Hauptfigur seines humanistischen 'Vermächtnisses' machte, hat man ihm bis in unsere Tage verübelt. Aber eben solche lebenslange, das Gesamtwerk durchziehende Neigung, sich gegen die ihre Macht mißbrauchenden Mächtigen seiner Zeit zu stellen, hat ihn für fast alle bürgerlich-liberalen, dann auch sozialistischen und marxistischen Tendenzen, bis in die Gegenwart hinein, zum politischen Vorkämpfer nachgerade prädisponiert. Vom „Revolutionär" (Heine, Gervinus u.a.) bis zum bezeichnenden Konstrukt des „theoretischen Republikaners" (Stahr), 45 vom legendenverdeckten Preußen-Kritiker (Franz Mehring) bis zum allseitigen „Emanzipator" der 60er und 70er Jahre unseres Jahrhunderts: Stets wirkte die Verlockung, Lessing, seine Gestalt, sein Werk nun im anderen, politischen Sinn als Vor-Läufer zu konstruieren. Die extreme Verspätung der nationalen Einigung und dann der Republik hat sich auf das Bild Lessings so nachhaltig ausgewirkt wie wohl auf das keines anderen Klassikers der Deutschen. Seine national-literarische 'Pionier'-Leistung wurde seit den Tagen des Vormärz durch die national-politische Emphase im-

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45

Steinmetz (wie Anm. *), S. 32f. Ebd., S. 13. Wolfgang Trillhaas: Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der evangelischen Theologie, in: Göpfert (wie Anm. *), S. 5 7 - 6 7 ; Arno Schilson: Zur Wirkungsgeschichte Lessings in der katholischen Theologie, in: ebd., S. 6 9 - 9 2 . Die einschlägigen Belege bei Barner, Grimm, Kiesel, Kramer (wie Anm. *), S. 394—403.

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Der Vorklassiker als Klassiker: Lessing

mer massiver mit Gewichten belastet, die sie zu überdecken drohten. Die preußisch-nationalistische Variante gedieh dabei bis zu Geschmacklosigkeiten wie der Parole, Lessing habe mit Minna von Barnhelm und vor allem mit der Hamburgischen Dramaturgie gegen Frankreich ein zweites, literarisches „Roßbach und Leuthen" erkämpft.46 Von derlei Hypotheken ist heutige 'Klassiker-Beschäftigung gewiß weitgehend entlastet, eher werden manifeste nationale Töne bei Lessing zugunsten des 'Aufklärerischen' und des 'Europäischen' überspielt.47 Und doch gilt gerade für Lessings literarisches Werk: Je nationaler' er wurde, desto 'europäischer' wird er.48 Nicht zufällig ist Lessing einer der ersten deutschen Autoren überhaupt, denen die Ehre zuteil wurde, sogar in Frankreich Beachtung zu finden.49 Die neue Welle der Sympathie, ja der Begeisterung für Lessing, die mit den ausgehenden 60er Jahren einsetzte, ist unzweifelhaft eine für den sozial- und religionskritischen 'Aufklärer' Lessing. Wieder ist er Hauptrepräsentant einer ganzen Epoche,50 einer Früh- und Umbruchs-Epoche, deren prägende Konflikte man, auch im Vergegenwärtigen seiner Hauptwerke, ein weiteres Mal durchzufechten meint: ein Grundmuster von Klassiker-Interesse, ohne das weite Felder unserer Klassiker-Überlieferung kaum noch lebendig wären (auch Schiller, Kleist, Hölderlin, Büchner sind selbstverständlich davon betroffen). Die neue Hinwendung zum 'Pionier' Lessing geschieht jedoch zugleich in einem neuartigen geschichtsperspektivischen Funktionszusammenhang. Fast im gleichen Maß, wie die gegen die Weimaraner gerichtete alt-neue Olympierschelte' zur Tendenz wurde, verschoben sich die Gewichte der Zäsuren und Epochen merklich. Das bleibt kein Oberflächenphänomen. Bezeichnend, daß ein Goetheverehrer wie Victor Lange noch in den 80er Jahren51 eine historiographische Darstellung veröffentlicht, bei der nun Lessing „das klassische Zeitalter der deutschen Literatur" einläutet. Lessing der 'Vorklassiker' — definitiv ein Klischee der Vergangenheit? Was hier an Tendenzen zur Monopolisierung des 'Klassikers' Lessing erörtert wurde, an Abbruch der Kontinuität nach rückwärts (zum 17. Jahrhundert hin), an emphatischer Überlastung des Wegbereiters, auch an konkreter Werkkritik, mahnt eher zur Vorsicht. Züge wie die Neigung zum Mikrologischen, Antiquarischen

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Ebd., S. 4 0 4 - 4 0 6 , sowie Verf.: Lessing 1929 (wie Anm. 11), S. 4 5 0 (Rudolf Borchardt!). Problematisierung dieser Tendenz in mehreren Beiträgen bei Barner u. Reh (wie Anm. *). Ebd., S. 5f., S. 3 5 7 - 3 6 3 . Neben den Fabeln ist es zunächst vor allem MißSara Sampson·. Anfang der 60er Jahre sogar in Paris aufgeführt (offenbar mit Unterstützung Diderots), bis 1774 mehrfach wiederholt. Die Gründe im einzelnen aufgeführt bei Barner, Grimm, Kiesel, Kramer (wie Anm. *), S. 24f. Das klassische Zeitalter in der Literatur. 1 7 4 0 - 1 8 1 5 . München 1983.

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Klassiker-Bilder oder wie die gelegentliche Verbissenheit seiner Polemik sind nicht einfach als historisch kontingent auszubuchen. Das 'meisterhaft' Gemachte seiner theatralischen Hauptwerke vermag auch und gerade skeptische Distanz zu erwecken. Für einen spezifisch 'modernen' Autor fehlt vieles im Schillerschen Sinne 'Sentimentalische', fehlt vor allem fast völlig ein Angebot an Intimität. Sein Briefwerk, das Hegel (ähnlich wie schon Friedrich Schlegel) gar ins Zentrum der Lessingschen Schriftstellerei rücken wollte,52 bietet - wie viele der Gedichte gesellige Töne, 'gezügelte' Mündlichkeit, glänzende Problemdiskussion, 'Individualität'; aber selbst im Dialog mit Eva König kaum etwas, das mit Goethes Briefen vergleichbar wäre. Von den trocken-philologischen Notizen der italienischen Reise läßt sich niemand durch Italien begleiten. Die meisten der kritischtheoretischen Schriften, einschließlich des Laokoon und der Hamburgischen Dramaturgie, manche Gedichte, aber auch einzelne theatralische Texte des immer noch vernachlässigten Frühwerks (etwa Der junge Gelehrte oder Der Freigeist), schließlich Ernst und Falk und Die Erziehung des Menschengeschlechts erfordern ein mitunter mühevolles Sicheinarbeiten in Details und Anspielungen, die doch manches als sehr Zeitkontingent erscheinen lassen. Der 'Pionier' jedenfalls, die 'Gestalt' Lessing ist problemloser zu würdigen als wohl der größte Teil seines schriftstellerischen Werks. Das mag prinzipiell für manchen Klassiker gelten. Für Lessing in seiner durch die literarische und politische Nationalgeschichte herausgetriebenen Früh-Position ist es so konstitutiv wie fur keinen anderen deutschen Autor. Von Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Büchner, Heine her betrachtet, bleibt er der Wegbereiter. Gemessen etwa an Shakespeare, dessen Namen er in Deutschland zu einer befreienden Zauberformel zu verwandeln half, ist er extremer Spätling. Als Emilia Galotti, das Lessingsche Theaterstück mit der wohl intensivsten Wirkung auf die Dramenproduktion der Zeitgenossen (besonders der Stürmer und Dränger), die Uraufführung erlebt hat (13. März 1772), wird in der Apostrophe eines Freundes 53 schlaglichtartig ein Stück dieser heute noch gültigen Paradoxie offenbar: „O Shakespeare-Lessing!"

Die erstmalige, kommentierte Veröffentlichung der Lessingschen Korrespondenz in chronologischer Folge, samt Gegenbriefen, durch Helmuth Kiesel und Mitarbeiter im Rahmen der Lessing-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags (3 Bde. 1987—94) stellt die Erörterung dieses wichtigen, aber vernachlässigten Problems auf eine neue Grundlage. Johann Arnold Ebert (es ist derselbe, der Lessing die herzogliche Einladung nach Wolfenbüttel übermittelt hatte) am 14. März 1772 an Lessing (Namenschreibung dort „Shakespear").

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Lessing 1929. Momentaufnahme eines Klassikers vor dem Ende einer Republik *

„Lebte er heute, sein Suchen nach der Wahrheit würde übel vermerkt werden. Auf seinen schönen Wahlspruch würde man ihm entgegnen: Hie Gesetz und Dogma; sie sind die Wahrheit; und die Kritik verbitten wir uns. Seine Offenheiten, die Instrumente beim Suchen nach Wahrheit, würde man beschlagnahmen wie heute etwa die Zeichnungen von Grosz. Und er würde mit den Dichtern Brecht und Hasenclever und Haringer und Becher das gemeinsam haben, daß kirchliche Institutionen gegen den ungehemmten Schwung seiner Rede Protest erhöben." Festrednerisch sind die Sätze nicht, die im Januar 1929, zur zweihundertsten Wiederkehr von Lessings Geburtstag, unter dem Titel Gedanken zu einer hamburgischen Festrede über Lessing in der Hamburger Zeitschrift Der Kreis zu lesen sind. Hans Henny Jahnn, aus Hamburg gebürtig, ist ihr Verfasser.1 Ungescheut und mit dem Ingrimm des Betroffenen beklagt der Literat und kirchlich verfemte Orgelspezialist den Mangel an Kunstsinn und fördernder Liberalität in seiner Vaterstadt (zwei Jahrzehnte später sollte er der erste Präsident der Freien Akademie der Künste und wiederum einige Jahre darauf Träger des LessingPreises werden). Ein Lessing-Denkmal existiere, auf dem Gänsemarkt, und „auch ein Lessing-Kino-Theater an der gleichen Stelle". Zum „Wirken Lessings" sei das alles ohne Beziehung, in dieser Stadt, von der „man behauptet, daß ihre Pflicht vor allem sei, Handel zu treiben, Umschlagplatz zu sein, eine Stätte der Arbeit". Schmähliches Versäumnis einer Stadt, die immerhin mit dem nationalen Literaturmonument der Hamburgischen Dramaturgie bleibend verbunden ist? Zuerst erschienen in: Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Wilfried Barner, Martin Gregor-Dellin, Peter Härtling u. Egidius Schmalzriedt. M ü n c h e n 1983, S. 4 3 9 - 4 5 6 . Hans Henny Jahnn: Gedanken zu einer hamburgischen Festrede über Lessing, in: Der Kreis. Zeitschr. f. künstlerische Kultur (Hamburg), 6. Jg., Heft 1, Januar 1929, S. 7 - 1 0 ; auch in: H. H. J.: Werke und Tagebücher. Bd. 7. Hamburg 1974, S. 2 4 4 - 2 4 6 . Mehrfache Zitate aus demselben Beitrag werden im folgenden, um Raum zu sparen, meist nur einmal summarisch nachgewiesen.

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Oder nur erwartbares Schicksal eines Klassikers anderthalb Jahrhunderte nach seiner Aufnahme ins Pantheon? Just zur gleichen Zeit wie Jahnns Anklage erscheint in der vielgelesenen Zeitschrift Die Erziehung ein alarmierender und sofort heftig diskutierter Aufsatz über Die Not des Literaturunterrichts in der großstädtischen Schule, verfaßt von dem Leiter eines Berliner Realgymnasiums.2 „Eine Götterdämmerung bricht über unsere liebsten Dichtwerke herein." Dramen von Lessing zu lesen, könne man nur noch bei einer „künstlich schülerhaft gehaltenen Generation" wagen. Emilia Galotti wirke auf die übrigen als „Groteske", Nathan der Weise als gespreizt und unwirklich. Es ist ein anderer Aufmüpfiger, Ernst Bloch, der mitten in den Jubiläumsrummel hinein über die Lessing-Klassiker-Pflege in Luxusausstattung Hohn und Spott ausgießt: die vollständige, auch das Belanglose einschließende Ausgabe als Teil einer „komplett genähten bürgerlichen Aussteuer für den Bücherschrank".3 Lessingjubiläum im Zeichen des beklagten oder verspotteten „Klassikerschlafs", der „Klassikerkrise", der „Verstädterung", des „Bildungsverfalls":4 Sind dies Symptome eines Scheiterns des Weimarer Experiments auch von seinen erzieherischen Grundlagen her? Die von dem zornigen Hamburger Jahnn aufgerufenen Namen Grosz, Brecht, Hasenclever, Haringer, Becher deuten weiter. Sie weisen auf Indizien für die Lage der Republik und der ihr notwendig zugehörigen unbequemen Kunst und Literatur. Seit 1927 schon dauert der öffentliche Streit um Johannes R. Bechers Antikriegsroman Levisite (1926), der vom Berliner Polizeipräsidenten verboten worden ist und dem Autor beim Reichsgericht eine Anklage wegen „Vorbereitung zum Hochverrat und Gotteslästerungen" eingetragen hat. Zensur: ein Lessingthema. Schon einmal, anderthalb Jahrhunderte zuvor, hatte man von Berlin aus obrigkeitlich eingegrififen, indem die allgegenwärtige Diplomatie des aufgeklärten Friedrich die Uraufführung des Nachkriegsstücks Minna von Barnhelm zunächst zu verhindern wußte — in der Freien Hansestadt Hamburg. Im Fall Becher müssen die, denen die allmähliche Liquidierung der republikanischen Freiheiten am Herzen liegt, vorerst zurückstecken. Im August 1928 wird das Verfahren vor dem Reichsgericht eingestellt, nicht zuletzt aufgrund

Walter Schönbrunn: Die N o t des Literaturunterrichts in der großstädtischen Schule, in: Die Erziehung 4 ( 1 9 2 9 / 3 0 ) , S. 2 5 2 - 2 5 9 , bes. S. 254. Ernst Bloch: Immer noch im Prachteinband (1929), abgedruckt in Ε. B.: Literarische Aufsätze. Frankfurt a. M . 1965, S. 18—21; auch in: Lessing. Dokumente zur Wirkungsgeschichte 1 7 5 5 - 1 9 6 8 (Teil II). Hrsg. v. Edward Dvoretzky. Göppingen 1972, S. 4 5 8 - 4 6 0 ; das Zitat: Literarische Aufsätze, S. 19; Dvoretzky S. 4 5 9 . Z u m Kontext (Deutschunterricht in der Weimarer Republik) s. Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. München 1973, S. 573 ff., bes. S. 6 5 5 ff.

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vehementer - auch internationaler — Proteste. Doch die seit 1926 sich organisierenden Bestrebungen für ein generelles Zensurgesetz sind ungebrochen. Selbst die politisch höchst gemischte Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste sieht sich aufgerufen, öffentlich gegen ein Gesetz Stellung zu nehmen, das „nicht allein die Freiheit und Würde eines Standes, sondern elementare Rechte jeden Staatsbürgers bedrohte", wie Inge Jens diagnostiziert. 5 Lessings Geburtstagsfeierlichkeiten geraten in eine ungemütliche Zeit. Die „Durchgreifer" lassen nicht locker. Gerade einen Monat früher, kurz vor Beginn der Weihnachtsferien, hat der Preußische Landtag Möglichkeiten diskutiert, die nach dem Scheitern des Becher-Prozesses auf eine Wiedereinführung der Zensur im Deutschen Reich zielen. In ganz Deutschland rüstet man derweil für das erste literarische Klassikerjubiläum, das die ungeliebte Republik feiern darf. Der Kalenderzufall verschafft Lessing das Privileg. Goethes hundertfünfzigster Todestag wird erst drei Jahre später begangen werden, am 22. März 1932, gerade neun Tage, nachdem Hitler im ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl mit 11,3 Millionen Stimmen den zweiten Platz und damit erstmals reichsweite „demokratische" Bestätigung errungen hat. Die Beschwörung des großen Weimarers steht bereits im Schlagschatten dessen, der zum Totengräber des Weimarer Versuchs werden sollte. Schillers hundertfünfzigster Geburtstag ist 1909 wilhelminisch begangen worden: „Schiller-Feste. Geburtstag. Dank des deutschen Volkes. Alle Parteien. Der herrliche Freiheitsschwabe", hat Alfred Kerr damals notiert. 6 Derselbe Kerr im Jahre 1929, anläßlich des Don Carlos von Leopold Jessner: „Schiller, wir leben in einer neuen Republik. Hilf ihren Anfängen". 7 Bei aller Mischung aus Hoffnung und Sarkasmus, die in den beiden Sätzen steckt: Der Grundgedanke ist so „realistisch", wie der Weimarer Staat „realistisch" gedacht ist. Aus der Niederlage hervorgegangen, mit der Hypothek des aufgezwungenen „Westlertums", auf schwankenden ökonomischen Fundamenten, immer noch im Zeichen nationaler Demütigung. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung steht die Republik in der Tat noch in den „Anfängen". Lessing, der „unbezweifelte Klassiker", wie ihn Hofmannsthal in der Wiener Neuen Freien Presse nennt, 8 scheint historisch legitimer noch als der Freiheitsschwabe zum

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Inge Jens: Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste dargestellt nach den Dokumenten. München 1971, S. 168. Alfred Kerr: Die Welt im Drama. Hrsg. v. Gerhard F. Hering. Köln u. Berlin 2 1 9 6 4 , S. 3 9 2 . A.a.O., S. 566. Hugo von Hofmannsthal: Gotthold Ephraim Lessing. Z u m 22. Januar 1929, in: Neue Freie Presse, 20. 1. 1929; abgedruckt in Η . v. H.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa IV. Hrsg. v. Herbert Steiner. Frankfurt a. M . 1955, S. 4 8 0 - 4 8 5 ; auch in Dvoretzky (wie A n m . 3), S. 443—445; sowie in: Lessing - ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten

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Nothelfer dieses Staates vorbestimmt. Alle notwendigen Etiketten stellt die Lessingverehrung des 19. Jahrhunderts in ihrer widersprüchlichen Breite dienstfertig bereit:9 der „Vorkämpfer", „Reformator", ja „Schöpfer" der deutschen Nationalliteratur, damit geistiger Vorkämpfer der deutschen Einheit, der „Bezwinger" der Franzosen auf dem Felde des literarischen Geschmacks, der „männliche" Repräsentant Deutschlands im Wettstreit der europäischen Nationen. 10 Doch wie steht es mit dem „Aufklärer", dem „Rationalisten", ja dem „Revolutionsgenie" (Gervinus), dem „theoretischen Republikaner", als den ihn Adolf Stahr seit 1859 mit großer Resonanz im deutschen Bürgertum propagiert hat? Wo bleibt der Kampf des Rhetors Lessing gegen „die Dogmatik des 'So und nicht anders'", den Walter Jens meisterlich dargestellt hat 11 und dessen unverminderte Aktualität Hans Henny Jahnn mit dem zitierten Slogan „Hie Gesetz und Dogma" für die Republik schlagend bestätigt? Wie entschieden wagt es einer, angesichts der nationalistischen Militanz und des wachsenden Rassismus an Lessings Auftreten gegen soziale und ideologische Diskriminierung zu erinnern, an seine Forderung nach praktischer Humanität und aufrechter Toleranz? Wer Lessing evoziert, evoziert auch anderthalb Jahrhunderte nach dessen Tod noch etwas von seinem „Geist der Prüfung". Lessing, der scheinbar so Verfügbare, läßt sich nicht folgenlos herbeizitieren. Die Lage der Republik nach innen und außen ist im Lessingjahr 1929 verworren, instabil, von unversöhnlichen Gegensätzen gekennzeichnet. 12 Nicht wenige Lessingreden nehmen mit verblüffender Deutlichkeit darauf Bezug. Das erste große Klassikerjubiläum der Republik fordert heraus. Es wird eine der letzten Gelegenheiten sein. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Friedensschluß von Versailles sind große Teile des Rheinlands formell immer noch besetzt. Die Einschränkung der Souveränität wird als demütigende Belastung, ja von vielen als Geburtsschaden dieser Demokratie empfunden. Seit Herbst 1927 regen sich in

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zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg. v. Horst Steinmetz. Frankfurt a. M., Bonn 1969, S. 451-454; das Zitat: Steiner, S. 480; Dvoretzky, S. 443; Steinmetz, S. 451. Vgl. den Überblick in: Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer: Lessing. Epoche - Werk - Wirkung. München 5 1987, S. 386-415. Zum 'Kämpferischen' generell: Jürgen Schröder: Der „Kämpfer" Lessing. Zur Geschichte einer Metapher im 19. Jahrhundert, in: Das Bild Lessings in der Geschichte. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Heidelberg 1981, S. 93-114. Walter Jens: Feldzüge eines Redners. Gotthold Ephraim Lessing, in: W. J.: Von deutscher Rede. München 1969, S. 46-70; hier: S. 57. Die hier gegebenen Stichworte sind insbesondere folgenden Darstellungen verpflichtet: Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Weimarer Republik. Düsseldorf 6 1978; Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Hrsg. v. Karl Dietrich Erdmann u. Hagen Schulze. Düsseldorf 1980; Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. München 1962; Weimars Ende. Hrsg. v. Thomas Koebner. Frankfurt a. M. 1982.

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Elsaß-Lothringen separatistische Tendenzen, die französische Regierung antwortet mit harten Gegenmaßnahmen. Die Auslandsverschuldung des Deutschen Reichs, zumal aus den Reparationsforderungen, beläuft sich 1929 auf nicht weniger als 25 Milliarden, wovon 12 Milliarden kurzfristig fällig sind. Der Young-Plan, der den Dawes-Plan ablösen und den Deutschen ihre finanzielle und ökonomische Souveränität wiedergeben soll, ist besonders der formellen Schuldenbestätigung wegen tief umstritten. Nachdem die Mitte-Rechts-Koalition des Kabinetts Marx Anfang 1928 gescheitert ist - unter anderem wegen des Schulstreits bringen die Reichstagswahlen vom 20. Mai zwar numerisch einen Linksruck (42 Prozent der Stimmen für SPD und KPD). Die Rechte aber reagiert darauf mit noch größerem Haß und Fanatismus, mit erbarmungsloser Hetze. Am 22. Oktober wird Hugenberg Vorsitzender der Deutschnationalen und verstärkt deren revanchistische und antirepublikanische Tendenzen. Wenig Entlastung von außen bringen die seit September stattfindenden Genfer Verhandlungen mit den Siegermächten. Frankreich bindet eine vorzeitige Räumung des Rheinlands strikt an die endgültige Regelung der Reparationsfrage; das Vertrauen in den Völkerbund sinkt weiter, trotz Stresemanns verzweifelter Anstrengungen. Bei der Lessingfeier der Technischen Hochschule Karlsruhe, in der Rede des Germanisten Karl Holl, artikuliert sich die Enttäuschung unverhohlen: „Als Grenzlandhochschule im Stromgebiet des Rheins fühlen wir uns jeden Tag daran erinnert, daß jetzt schon zehn lange, bange Jahre hindurch trotz des angeblichen Friedensschlusses, trotz des Völkerbundes in Genf, trotz Locarno, trotz Kelloggs Völkerpakt noch immer fremde Truppen wider Moral und Recht deutsches Land besetzt halten: das läßt uns an der Völkervernunft, für die ein Lessing und so viele andre gekämpft haben, bitterste Zweifel hegen".13 Im Winter 1928/29 steigt die Ziffer der Arbeitslosen auf über 2 Millionen. Unruhen, blutige Zusammenstöße insbesondere in den Großstädten, doch auch auf dem Land, sind die Folge. Am 6. Januar 1929 wird Heinrich Himmler, achtundzwanzigjährig, „Reichsführer SS". In der wachsenden Buchproduktion mit Kriegsthematik — meist auf den verlorenen Weltkrieg bezogen - wird die Spaltung in pazifistische und militaristische Lager erschreckend sichtbar. 1928/ 29 erscheinen nicht nur Im Westen nichts Neues von Remarque, Krieg von Renn und U-Boot S 4 von Weisenborn - um die wichtigsten antimilitaristischen zu nennen —, nicht nur die grausig verharmlosende Pfeiferstube von Alverdes oder

Karl Holl: Gotthold Ephraim Lessing. Gedächtnisrede zu seinem 200. Geburtstag, gehalten in der Aula der Technischen Hochschule Karlsruhe am Tage der Reichsgründungsfeier 1929. Karlsruhe 1929, S. 18f.

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der amüsante Mariner im Krieg von Ringelnatz, sondern auch die unverblümt kriegshetzerische, rassistische Armee hinter Stacheldraht von Beumelburg (Dwinger), als erster Teil derTrilogie Die deutsche Passion. Der „kämpferische" Lessing gerät in ein gefährliches Umfeld. Auf,, Kampf' gestimmt ist auch die aktuelle schulpolitische Situation. Der Streit um Gemeinschaftsschule und Bekenntnisschule, seit 1927 mit zunehmender Heftigkeit geführt, mobilisiert zumal bei den katholisch-klerikalen Verfechtern des Bekenntnisprinzips immer mehr auch offen antirepublikanische, antidemokratische Ressentiments. Gemeinschaftsschule ist ihnen gleichbedeutend mit Verweltlichung, Egalitarismus, Demokratismus. In der Zensurdebatte dienen wenige, extreme Fälle - in ihrer realen Wirkung vergleichsweise harmlos - zur Legitimation eines grundsätzlichen Eingriffs in die republikanischen Freiheitsrechte. „Kirchliche Institutionen" übernehmen dabei, wie zu Lessings Zeit und wie von Hans Henny Jahnn beklagt, oft eine fatale führende Rolle. Das Bild der Justiz wird mehr und mehr beherrscht durch aufsehenerregende, leidenschaftlich diskutierte Prozesse. Rechtsbeugungen sind an der Tagesordnung. „Die Zerrissenheit des Volkes, die Verschärfung und grelle Verdeutlichung aller politischen und weltanschaulichen Gegensätze, der beispiellose Haß, die depravierenden Folgen des Krieges": Dies sind Stichworte zur gesellschaftlichen Situation, die Thomas Mann am 12. Januar 1929, zehn Tage vor dem Lessingjubiläum, in einem Brief an einen Landgerichtsrat formuliert. Einen aktuellen Justizfall nimmt er als Symptom dafür, daß die „Idee des reinen Rechts zu verkümmern droht". Und weiter: „Geistige Tendenzen ausdrücklich anti-humanen und anti-idealistischen Gepräges, Tendenzen, die man gewöhnlich unter der politischen Formel des 'Fascismus' zusammenfaßt, kommen dem entgegen".14 Thomas Mann schreibt in diesen Tagen, nach Kloster Ettal zurückgezogen, an seiner Rede für die Berliner Lessingfeier der Preußischen Akademie der Künste. „In Lessings Geist und Namen", so wird er dort fordern, „gilt es hinauszugelangen über jede Art von Faschismus".15 Mit seiner Zielrichtung, mit seiner unverblümten politischen Gegenwartsdiagnose wird er im nun einsetzenden Schwall der Jubiläumsreden nahezu allein stehen. Nicht die Republik, sondern Deutschland feiert den willkommenen „Nationalhelden", wie ihn Rudolf Borchardt,16 14 1

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Thomas Mann: Briefe 1889-1936. Hrsg. v. Erika Mann. Frankfurt a. M. 1961, S. 286. Thomas Mann: Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1968, S. 367. Rudolf Borchardt: Lessing. Ein Nachwort, in: Deutsche Allgemeine Zeitung 68 (1929); unter dem Titel Lessing. Rückblick auf ein Jubilaumsjahr abgedruckt in: R. B.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa III. Hrsg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit v. Ernst Zinn. Stuttgart 1960, S. 291-312; hier: S. 294; auch in: Steinmetz (wie Anm. 8), S. 4 5 4 ^ 6 3 ; hier: S. 456.

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den „Freiheitshelden", wie ihn Friedrich Gundolf 17 apostrophiert. Das literarisch interessierte Deutschland - und der zu solchem Interesse angehaltene Teil, die Schüler - wird durch zelebrierenden Aktivismus gelangweilt und eingelullt, kaum einmal zur Besinnung gemahnt. Alles, was in einschlägigen Amtern und Würden ist, fühlt sich aufgerufen. 18 In Kamenz wird der Grundstein für ein Lessinghaus gelegt, das ein Museum und eine Volksbibliothek beherbergen soll; der Rat der Stadt gibt eine Festschrift heraus; für die Feierstunde holt man sich einen Literaturwissenschaftler aus Leipzig. In Hamburg hat man — Jahnns Klage ist offenkundig begründet nicht rechtzeitig genug geplant, so daß bei der obligaten Lessingfeier der Bürgermeister lediglich ankündigen kann, die Stiftung eines alle drei Jahre zu vergebenden Lessingpreises werde bei der Bürgerschaft beantragt werden. Die Universitäten und Hochschulen mobilisieren ihr Großaufgebot an Germanisten. So spricht in Leipzig Hermann August Korff, in Halle Ferdinand Josef Schneider, in Marburg Ernst Elster, in Frankfurt am Main Franz Schultz, in Karlsruhe Karl Holl, in Stuttgart Bernhard Blume, und so fort. Außerhalb der Universitäten dürfen vor allem die Schriftsteller und Kritiker, von links bis rechts, am Nationalhelden Lessing redend partizipieren, von Julius Bab bis Otto Hake, von Walter von Molo bis Otto Heuscheie, von Alfred Kerr bis Wilhelm Schäfer.19 Auf den Spielplänen der Stadttheater erscheinen die drei „klassischen" Dramen Lessings mit der Bestimmtheit des Kalenders, nur vereinzelt einmal tritt ein unbekannteres Stück hinzu wie der Philotas (in Stuttgart) oder Die Juden (in Berlin). Viele Schulen veranstalten pflichtschuldig ihre eigenen Lessingfeiern, auch mit prominenten Rednern, so das Frankfurter Lessing-Gymnasium mit Alfons Paquet. 20 Braunschweig und Wolfenbüttel schließlich warten mit einer Spezialität auf, einem kombinierten Lessing- und Goethejahr, da sich 1929 gerade zum hundertsten Mal die Uraufführung des Faust im damaligen Braunschweiger Nationaltheater jährt. So gelingt es doch noch, den Glanz Goethes auch ins Lessingjahr 1929 hinüberzuleiten. Dem angeschlagenen Nationalbewußtsein tut es offenkundig wohl. Für die Hauptfeierlichkeiten - die durch Ausstellungen, Aufführungen und eine Denk-

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Friedrich Gundolf: Lessing. Rede zum 22. Januar 1929. Heidelberg 1929, S. 22. Das Folgende bietet nur eine kleine Auswahl, rekonstruiert aus den Jubiläumsschriften und der laufenden Berichterstattung (bes. aus der Deutschen Allgemeinen Zeitung). Einen nützlichen, aber noch sehr unvollständigen ersten Überblick gibt die Lessing-Bibliographie. Bearb. v. Siegfried Seifert. Berlin u. Weimar 1973, S. 395^404. Vgl. auch die kurzen, wertenden Inhaltsreferate bei Julius Richter: Rückblick aufs Lessingjahr 1929, in: Zs. f. Deutschkunde 1930 (= Jg. 44 der Zs. f. d. dt. Unterr.), S. 562-576. Alfons Paquet: Gotthold Ephraim Lessing (1929 offenbar nicht gedruckt), in: Die Gegenwart, Jg. 2 (1947), Nr. 5/6, S. 23-25.

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malsenthüllung ergänzt werden — hat man Prominenz aus Berlin gewinnen können (weshalb alles um ein paar Tage vorverlegt werden muß): nicht nur den Präsidenten der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, Walter von Molo, und den Imperator der hauptstädtischen Germanistik, Julius Petersen, sondern auch den Reichsminister Severing. Und Reichspräsident Hindenburg übermittelt der Festversammlung per Telegramm den Wunsch, das Goethe-Lessing-Jahr möge „dazu beitragen, daß die unvergänglichen Werke unserer großen Geisteshelden dem deutschen Volke immer von neuem nahegebracht und lebendig erhalten werden". 21 Die Reichsregierung hat sich ebenfalls zu einem demonstrativen Akt aufgeschwungen und eine „Festgabe" zum Lessingjahr verteilt, bestehend aus der Kopie eines Lessingschen Jugendporträts und einer kleinen Bronzebüste. Keine Textanalyse der Reden und Artikel allein vermag, ohne einen Eindruck dieser nationalen Kraftanstrengung, zu illustrieren, was das Lessing-Klassikerjubiläum für die mit sich und ihren äußeren wie inneren Gegnern kämpfende Republik bedeutet. Vollends gilt dies für die schier unabsehbaren Feierlichkeiten in der Hauptstadt selbst. Magistrat, Lessing-Hochschule, Volksbühne, Lessing-Gesellschaft, Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger, Staatstheater, Staatsbibliothek, Friedrich-Wilhelms-Universität, Preußische Akademie der Künste, dazu die Unzahl der kleineren Theater und Institutionen mit ihren Morgen- und Abendfeiern zu Ehren Lessings: Das fast Zwanghafte, das Pflichtgemäße, das Sichklammern an Lessing ist Symptom. Insonderheit Nathan der Weise wird überall gespielt. Es ist, als ob man sich daran aufrichten wollte, sich trösten, beruhigen - so wie es dann 1945 geschah, als ein halbes Jahr nach der Kapitulation das Berliner Deutsche Theater mit dem gleichen Stück seine Pforten wieder öffnete. Die Zeichen für den Zustand der Republik sind in den Reden und Artikeln zum Lessingjahr 1929 erkennbar, auch wenn nur wenige sie so klar und ungeschönt formulieren wie Thomas Mann. Und ein Weg wird absehbar, ohne falsche Prophetie ex post, beklemmend wahrzunehmen als Vorschein. Die großen Berliner Reden erweisen sich, nimmt man alles in allem, als die aussagekräftigsten; der Zwang zur beispielgebenden Repräsentation treibt die Grundtendenzen klarer heraus. Bei der zentralen Feierstunde der Lessing-Hochschule im dichtbesetzten Reichstagssaal, vor in- und ausländischer Prominenz sowie ausgewählten Vertretern der „Bevölkerung", beschwört Friedrich Gundolf, aus Heidelberg herbeigerufen, die „vorbildliche, ja urbildliche Gestalt" Lessings,

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Text nach: Deutsche Allgemeine Zeitung, 20. 1. 1929, S. 2.

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den „deutschen Freiheitshelden".22 Den Festakt der Preußischen Akademie der Künste (am Vorabend des Geburtstags) eröffnet Max Liebermann, die „frische, freie Luft" in Lessings Schriften feiernd;23 dann spricht der „Führer" der Berliner Germanistik, Julius Petersen, über Lessing und seine Zeit, ihn zwischen Klopstock und Kant stellend, dem „Reformator" Luther vergleichend — und dem „tapferen Winkelried", der sein Leben „im Kampfe" opferte.24 Thomas Mann, in denkwürdigem Kontrast, ja Widerspruch, rückt ostentativ Lessings „verstandeshelles und durchaus gefaßtes Dichtertum" in den Mittelpunkt, warnt vor aktueller Tendenz zur Geistfeindlichkeit, vor dem „chthonischen Gelichter", das er in der Nähe des „Faschismus" sieht; und er erinnert an Lessings „Menschlichkeit".25 Der Gegensatz der beiden nacheinander Redenden muß für hellhörige Ohren schneidend gewesen sein. Aber Petersen darf, seiner imperialen Position entsprechend, eine zweite Festrede halten (rechnet man die Braunschweiger ein, ist es die dritte). In der Feierstunde der Friedrich-Wilhelms-Universität tags darauf ist er ganz „bei sich", und konkurrenzlos. In der Aula prangt vorne ein Modell des Lessingdenkmals von Franz Metzner; er hat auch die Standbilder des Leipziger Völkerschlachtdenkmals geschaffen. Der einführende Rektor Wilhelm His, Mediziner, preist Lessing als den „Künder seines deutschen Volkes, dessen Geistesleben er aus fremder Herrschaft und Bevormundung befreien half'. 2 6 Dann dröhnt der „eigentliche" Petersen, der aus Straßburg, dem „Grenzland" stammende, nicht mehr der historisch wägende und wertende, sondern der bare Nationalist, der auch die offene Peinlichkeit nicht scheut: „Lessing, du Zweihundertjähriger, der du deine ewig bewegliche Jünglingsfrische bewahrt hast; du vor 148 Jahren uns Entrückter, der du doch lebendig unter uns weilst — du sollst Männer wecken! [...] Führe dein Volk, wie einstmals, zu neuem selbstbewußtem sieghaftem Aufstieg!>«27 Der Autor des Philotas und so manches antiheroischen Epigramms hätte für diesen Verehrer (dessen Lessing-Ausgabe seit 1925 im Erscheinen war) vielleicht einen decouvrierenden Zweizeiler übrig gehabt. Oder er hätte ihn in seiner Gefährlichkeit öffentlich angeprangert: ihn, der schon 1924 das „führerlose 22 23

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Gundolf (wie A n m . 17), S. 22. Abdruck der Begrüßungsworte u n d Reden in: Preußische A k a d e m i e der Künste: Jahrbuch der Sektion für Dichtkunst 1 9 2 9 . Berlin 1929, S. 1 3 3 - 1 3 7 ; die Zitate von Liebermann: S. 136. W i e A n m . 2 3 , S. 149. W i e A n m . 2 3 , S. 1 5 0 - 1 6 9 ; auch abgedruckt in: T h o m a s M a n n : Schriften u n d Reden (wie A n m . 15), S. 355—367 (Zitate im folgenden hiernach). Lessingfeier der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin zur Erinnerung an den 200jähr. Geburtstag gehalten in der neuen Aula a m 22. Januar 1 9 2 9 . Berlin 1929, S. 3. W i e A n m . 2 6 , S. 2 6 .

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Deutschland" beklagt, 1933 den endlich Gekommenen begeistert feiert und 1934 Die Sehnsucht nach dem dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung monographisch zu entfalten weiß.28 Wie ein aufrüttelnder, alarmierender Zwischenruf aus Lessings ureigenstem Bereich, dem Theater, liest sich heute die Rede, die Fritz Strich am Tag danach im Staatstheater hält (Lesungen von Artur Kraußneck und Leopold Jessner, dann der Philotas in der Inszenierung von Jürgen Fehling schließen sich an). Provokativ kehrt er gleich zu Anfang die Jubiläumsgeste des Sichberufens, des Sichanhängens an Lessing um, fordert die Zeitgenossen heraus: „Was [...] würde Lessing zu unserer Zeit wohl sagen [...], zu der unseligen Verhetzung zwischen Rassen und Religionen heute?" Er setzt dagegen nicht nur, auf Minna von Barnhelm Bezug nehmend, den Lessingschen „Geist des Friedens", sondern zeigt mit erstaunlicher Direktheit auf die geistfeindlichen Tendenzen: „Der schlimmste Feind, der Ungeist geht um!" Und als ob er Petersens triumphalistischer Siegesbeschwörung widersprechen wollte, schließt er mit der Mahnung an Lessings Stimme der Humanität in Deutschland; sie wird „allen Mächten der Finsternis, die es bedrängen, entgegenrufen: 'Ihr sollt nicht siegen!'"29 Fritz Strich, der selbst von der Gestalttypologie eines Nietzsche und Wölfflin herkommt, sich programmatisch an einer aufklärungskritischen Neuwertung der Romantik beteiligt hat, verläßt noch im selben Jahr Deutschland und wechselt in die Schweiz, nach Bern. Auch wenn man den Schritt nicht überschätzt - dieser europäisch gesonnene „Idealist" ist skeptisch geworden,30 gewarnt durch die nationalistischen und geistfeindlichen Exzesse, wie sie gerade das Lessingjahr bis zur Kenntlichkeit vor Augen führt. Keine der großen Zeitungen druckt Strichs Rede, eine der hellsichtigsten neben derjenigen Thomas Manns. Sie erscheint schließlich am 1. Februar 1929 in der Bayerischen israelitischen Gemeindezeitung. Die Kollegen und viele der festredenden und festartikelnden Schriftsteller drängen derweil die von Friedrich Schlegel auf hohem Niveau begonnene Diskussion um den „Kritiker" und den „Dichter" Lessing in die Niederungen engstirniger Willkür. Lessing „war kein Gestalter von Geblüt", verkündet Otto Flake und wirbt stattdessen mit verkitschter Attitüde für dessen „schwingende

Unter diesem Titel erschienen Stuttgart 1934. Fritz Strich: Zu Lessings Gedächtnis. Rede zur Staatsfeier seines zweihundertjährigen Geburtstages in Berlin 1929, in: F. S.: Der Dichter und die Zeit. Bern 1947, S. 1 3 3 - 1 4 7 . Vgl. Stephan Reinhardt: 'Eine Kompanie von Söldnern?' Anmerkungen zur Germanistik in der Weimarer Republik, in: Die deutsche Literatur in der Weimarer Republik. Hrsg. v. Wolfgang Rothe. Stuttgart 1974, S. 4 5 8 - 4 6 6 ; hier: S. 463f.

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Lessing 1929 Mannhaftigkeit". 31 Wilhelm Schäfer bezeichnet Minna von Barnhelm, gezwungen durch das Urteil Goethes und durch die Bühnengeschichte, als „unvergängliche Dichtung", spricht jedoch kurz darauf in decouvrierend gequältem Gedankengang dem Autor „das Schöpferische" wieder ab. 32 Der Eiertanz, an dem sich gemessener und verschleierter auch Gundolf, Wolfskehl und Borchardt beteiligen, findet einzig deshalb statt, weil es um die zwangshafte Stigmatisierung von Vernunft, Rationalität, Aufklärung geht. Lessing ist der Klassiker, dem man huldigen muß, aber unglücklicherweise ins Zeitalter der Aufklärung hinein geboren, ja ihr unbestreitbarer Repräsentant. Das Skandalon ist durch Ausklammern und Verschieben - oder durch Isolierung des „Mannes", der „Gestalt" Lessing lösbar. Verräterisch spricht Rudolf Borchardt von „der Aufklärung, dem ganzen peinlichen Jahrhundert", aus dem uns nur Lessing bleibe, „nicht die Schriften, — die Gestalt, das Opfer, der Wesensumriß, ein Symbol, Stil". 33 Das ist nicht gänzlich neu in der Urteilsgeschichte Lessings — schon in der Goethezeit versuchte man dem Unbequemen gelegentlich so beizukommen — , doch in der Breite und Verflachung gehört es zur Signatur des Lessingjahres 1929. Nur wenige sprechen, wie Theodor Heuss, unverkrampft von Lessings „Aufklärertum". 34 Die anderen, vorzugsweise die bestallten Germanisten, legen sich einschränkende oder überdeckende Formeln zurecht, wie „Durchbrechen des Rationalismus" (Rudolf Unger), „Aufbruch aus der Welt des Zweckrationalismus" (Paul Hankamer), oder die alte Vorstellung vom „Uberwinder" der Aufklärung (Karl Holl), die einstmals für Goethe reserviert worden war.35 „Unsere Zeit hat sich das Gehirn verstaucht", heißt es leicht verharmlosend, um Vermittlung bemüht in Walter von Molos Ansprache bei Eröffnung der Lessingausstellung in der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin. 36 Politisch wendet er die Diagnose nicht, die Republik kommt nicht zur Sprache.

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Otto Flake: Gotthold Ephraim Lessing. Zu seinem 200. Geburtstag, in: Die Neue Rundschau, Jg. 40, Bd. 1 (1929), S. 73-80, das Zitat: S. 79; auch abgedruckt in Dvoretzky (wie Anm. 3), S. 463-468; hier: S. 467f. Wilhelm Schäfer: Festrede auf G. E. Lessing. 1929, in: W. Sch.: Deutsche Reden. München 1933, S. 164-172; hier: S. 165f.; auch abgedruckt in Dvoretzky (wie Anm. 3), S. 445-450; hier: S. 446. Borchardt (wie Anm. 16), S. 294; Steinmetz (wie Anm. 8), S. 456. Theodor Heuss: Gotthold Ephraim Lessing, in: Deutschland. Monatsblatt für die Deutschen im Ausland (1929); abgedruckt bei Steinmetz (wie Anm. 8), S. 4 4 3 ^ 4 7 ; hier: S. 445. Rudolf Unger: Zu Lessings Gedächtnis, in: Blätter für deutsche Philosophie 3 (1929/30), S. 107-109; Paul Hankamer: Gotthold Ephraim Lessing, zum 200. Geburtstag, in: Hochland 26 (1928/29), Bd. 1, S. 360-376; Holl (wie Anm. 13), bes. S. 14. Walter von Molo: Ansprache bei Eröffnung der Lessingausstellung in der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, 23. Januar 1929, in: Preußische Akademie der Künste: Jahrbuch der Sektion fur Dichtkunst 1929. Berlin 1929, S. 171-175; hier: S. 173; abgedruckt auch bei Dvoretzky (wie Anm. 3), S. 451^454; hier: S. 452.

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Klassiker-Bilder Heute gehört es zur communis opinio: „Der Irrationalismus ist ein durchgehender Grundzug des antidemokratischen Denkens der Rechten" 37 (mit allen Einschränkungen, die der Satz in der konkreten Anwendung erfordert). Im Lessingjahr 1929 dämmert die Erkenntnis erst wenigen. Franz Schultz beobachtet, man sei als Reaktion auf einen „positivistischen" Lessing „heute bemüht, ihn umzuwerten im Sinne eines Irrationalismus", und nennt Namen wie Korff, Koch, Kindermann. 38 Mutiger und deutlicher ist, nicht von ungefähr, Fritz Strich: „Da regen sich [...] die dunklen, dumpfen, unbewußten Kräfte des Blutes, erklären sich allein für souverän und schöpferisch und sagen dem wachen, hellen und modernen Geiste Kampf an [...]. Moderne Zivilisation, so schreien sie, ist Untergang und Ende". 39 Das klingt unmißverständlich, hier geht es um Spengler, Klages, Bäumler, um ihre Adepten und ihre politischen Abfallverwerter. Bei Thomas Mann ist diese Tendenz Leitmotiv des Gedenkartikels für das Berliner Tageblatt wie für die große Rede in der Akademie. Schonungslos attakkiert er die Erfolge der „Priester des dynamistischen Orgasmus im Irrationalen", die „Geistfeindlichkeit", die „höchst mißbrauchsfähig ist, in Moral und Politik". 40 Er, der bourgeoise Schriftsteller, der unter Windungen und Widersprüchen zur Republik gefunden hat, seit Mitte der zwanziger Jahre mehr und mehr auch zu seinem „Sozialismus", ist unter denen, die öffentliches Gehör finden, der einzige, der anläßlich Lessings eine klare politische Diagnose stellt, gar explizit vom drohenden „Fascismus" redet. Dem irrationalistisch und „gestalthaft" verdrehten Lessing aber setzt er, konstruktiv aus Eigenem vorangehend, den „Erzvater alles klugen und wachen Dichtertums" entgegen. Aus der aktuellen Diskussion um „Dichter" und „Schriftsteller" heraus - die sogar die Dichtersektion der Preußischen Akademie beschäftigte - stellt er zu Lessing in aller Souveränität fest, „daß der allzu deutsche Begriff des Dichterischen an ihm scheitert". Ein Dichter nach Wunsch der antidemokratischen Obskuranten läßt seine „reine Torheit [...] mißbrauchen"; einer vom Schlage Lessings läßt sich „in Harnisch jagen durch Heuchelei, Rechtsbruch und Volksverdummung". 41 37

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Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, in: Der Weg in die Diktatur 1918-1933 (Theodor Eschenburg u. a.). München 1962, S. 47ff.; hier: S. 57. Franz Schultz: Lessing und unsere Zeit. Rede zur Feier des 200. Geburtstages von Gotthold Ephraim Lessing anläßlich der Gründungsfeier des Deutschen Reiches am 18. Januar 1929. Frankfurt a. M. 1929, S. 8. Strich (wie Anm. 29), S. 137. Thomas Mann (wie Anm. 15), S. 366f. A.a.O., S. 352, S. 362. Zu den politischen Hintergründen dieser Position Kurt Sontheimer: Thomas Mann und die Deutschen. München 1961, S. 53ff.; Gert Sautermeister: Thomas Mann: Der Ironiker als citoyen. Politische Rhetorik und kritische Diagnose in der Weimarer Republik, in: Koebner (wie Anm. 12), S. 271-302.

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Lessing

1929

Hans Henny Jahnn, der um Anerkennung und Existenz kämpfende Hamburger Literat, und der „Repräsentant", dem noch im November des gleichen Jahres der Nobelpreis zuerkannt werden wird, begegnen einander hier, aber als Isolierte. Ein sozialistischer Artikelschreiber, Hermann Wendel, mag in Anlehnung an Franz Mehrings Lessingbild den ,Aufrüttler", den „Vorwärtspeitscher" des Bürgertums gegen fürstlichen Despotismus, den „antipreußisch" Gesinnten feiern. 42 In dieser Weise der Radikalität und Zugespitztheit bleibt seine Stimme marginal. Der Chor der Feiernden, in den Tages- und Wochenzeitungen, in den Schulen und Universitäten, stürzt sich in nationale, ja nationalistische Emphase. Mancherorts werden die Lessingfeiern vorverlegt, zusammengelegt mit dem Reichsgründungstag am 18. Januar, so etwa in der „Grenzlandhochschule" Karlsruhe oder in Frankfurt am Main. Schon 1881, zum hundertsten Todestag, promovierte Erich Schmidt den Nationalhelden Lessing zum „Führer des Deutschen Reiches von 1870/71". 4 3 Alle anderen nationalen Klischees des 19. Jahrhunderts werden 1929 bereitwillig übernommen. Die Republik, in ihrem schwachen Selbstbewußtsein, hat dem wenig Neues hinzugefügt, allenfalls die aktualisierte Franzosen-Gegnerschaft. Vergebens warnt Fritz Strich, Lessing als „Kronzeugen gegen die französische Dichtkunst" aufzurufen, „was uns eine edle und große Welt der Kunst verschließt", während Lessing Bestimmtes tat, „was in seinem historischen Augenblick notwendig war". 44 Volltönend verkündet Erich Schmidts Schüler und Nachfolger Julius Petersen: „Was Friedrichs Siebenjähriger Krieg für die Vorbereitung und Erweckung eines deutschen Nationalbewußtseins bewirkte, das taten die Literaturbriefe zur Vorbereitung einer deutschen Nationalliteratur". 45 Und nur mit Beklemmung vernimmt man heute, zu welcher martialischen Platitüde ein „tiefer" und europäisch ambitionierter Geist wie Rudolf Borchardt sich hinreißen läßt, wenn er Lessings historische „Größe" wertet: „Der deutsche Geist hatte sein Roßbach und Leuthen erfah" 46

ren . Der „kämpferische" Lessing, dessen nationale, „geistige" Ersatz-Taten schon das 19. Jahrhundert eigentümlich angezogen haben, 47 wendet sich jetzt zwar auch noch gelegentlich, wie bei Hermann August Korff, gegen die „Bevormundung" des deutschen Geistes „durch die Kirche". 48 Noch lieber feiert man, wie 42 43 44 45 46 47 48

Richter (wie Anm. 19), S. 563. Nachweise bei Barner, Grimm, Kiesel, Kramer (wie Anm. 9), S. 402f. Strich (wie Anm. 29), S. 136. Petersen (wie Anm. 26), S. 9. Borchardt (wie Anm. 16), S. 304; Steinmetz (wie Anm. 8), S. 462. Hierzu im einzelnen Schröder (wie Anm. 10). Hermann August Korff: Lessing (Vortrag, gehalten bei der Lessingfeier der Univ. Leipzig), in: Zs. f. Deutschkunde 43 (1929), S. 177-192; hier: S. 184.

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der Rektor der Berliner Universität, den Lessing, der das deutsche „Geistesleben [...] aus fremder Herrschaft und Bevormundung befreien half'. 49 Das „Fechten mit dem Verstand", das Hofmannsthal als geistiges Phänomen zur Geltung zu bringen versucht,50 verschwindet hinter einem nebulösen „Soldatentum" Lessings, das Gundolf im Reichstagssaal beschwört, hinter der „Führergestalt", die in der Provinz ein Karl Holl seinen Studenten und Kollegen vor Augen malt.51 Hier ist jene Mißbrauchbarkeit mit Händen zu greifen, vor der Thomas Mann so unüberhörbar warnt. Mit der Republik als Republik hat der „nationale", der „kämpferische" Lessing, der hundertfach angerufen wird, nichts zu tun. Zu dem „Aufklärer", zu seinem „Geist der Prüfung", zu seinem Kampf gegen „Vorurteile", schon gar zum „theoretischen Republikaner" haben die Wortführer des literarischen Lebens, der Schulen und Hochschulen, des Journalismus keinen Weg gefunden. Sie haben ihn auch wohl nicht gesucht. Das bedrängte Deutschland klammert sich an den Helden seiner nationalen Größe. In Frage gestellt, zur Selbstprüfung gedrängt werden will es nicht. Fast verloren klingen Fritz Strichs Erinnerung an den in Minna von Barnhelm gestalteten „Friedensgeist" oder Thomas Manns These: „Lessings nationale Sendung bestand in kritischer Klärung". 52 Es ist, als sei Lessings Eintreten für Humanität und Toleranz, sein Kampf gegen Vorurteile und soziale Diskriminierung bis zur Unkenntlichkeit verdrängt. Lessings „Rettung" der Juden klingt bei Hofmannsthal, bei Alfons Paquet und bei Fritz Strich nur eben an, fast schamhaft.53 Vertreter „kirchlicher Institutionen", namentlich katholischer, attackieren eher noch sein Judenbild. 54 Lessings Humanitätsforderung als tunlichst gemiedener Programmpunkt. Erst 1931, als Heinrich Mann - gewissermaßen „repräsentativ" an die Stelle seines Bruders tretend - zur hundertfünfzigsten Wiederkehr von Lessings Todestag im Berliner Rundfunk spricht, wird die Stimme der Humanität in letzter Stunde militant. Lessings „Kampf sei ein Kampf für „Geistesfreiheit". Der Blick auf ihn mahne daran, „daß Kultur kein beruhigtes Dahinblühen, sondern die Leidenschaft für das Recht im Denken und im Leben ist". 55

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W i e A n m . 26, S. 3. Hofmannsthal (wie Anm. 8), S. 4 8 3 ; Dvoretzky (wie A n m . 3), S. 4 4 4 ; Steinmetz (wie Anm. 8), S. 4 5 3 . G u n d o l f (wie Anm. 17), S. 23; Holl (wie A n m . 13), S. 17. Strich (wie A n m . 29), S. 136; T h o m a s M a n n (wie A n m . 15), S. 357. Hofmannsthal (wie A n m . 8), S. 4 8 5 ; Dvoretzky (wie A n m . 3), S. 4 4 5 ; Steinmetz (wie Anm. 8), S. 4 5 4 ; Paquet (wie Anm. 20), S. 23; Strich (wie A n m . 29), S. 136. Vgl. die Beispiele bei Richter (wie Anm. 19), S. 564f. Heinrich M a n n : Lessing. Gesprochen im Berliner R u n d f u n k am 15. Februar 1931, in: Η . M.: Essays. Bd. 1. Berlin 1954, S. 4 5 0 - 4 5 8 ; hier: S. 4 5 8 .

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1929

1929, mitten im Berliner Lessingrummel, meldet sich noch eine andere, ganz unzimperliche Stimme. Die bereits im 4. Jahrgang erscheinenden Nationalsozialistischen Briefe (Berlin) bringen von einem Jäcklin Rohrbach: Der ewige Gotthold Ephraim. Zum 200. Geburtstag Lessings. Zielsicher die aktuelle Klassikerverdrossenheit einspannend, beginnt er mit dem „Oberlehrer", dessen preisende Worte über Minna von Barnhelm „uns Pennäler [...] genau so kalt" gelassen hätten, „wie uns Männer des Heute die Dramen des seligen Gotthold Ephraim überhaupt". Und er dekretiert, Lessing sei eine „journalistische Persönlichkeit", eine „zeitgebundene, keine dauernd wirkende", eine, die lediglich der „Klassik von Weimar" vorgearbeitet habe. Der „Liberalismus", bis hin zu Ullstein und Mosse, habe Lessings angebliches Freiheitstestament usurpiert, Nathan der Weise habe „verheerend gewirkt", habe das Blutlose und die „Pflaumenweichheit" gedeckt. Der Schluß ist ohne Umschweife: „Drum tu ein Letztes: stirb endlich! Deutschland dankt es Dir. Jenes Deutschland, das nicht an der Vossischen Zeitung interessiert ist. Laß dies einen der letzten Nekrologe in unserer Sprache über Dich sein".56 Die Stimme, im Augenblick ihres Auftretens gewiß von geringerer Resonanz als die der großen Berliner Redner, muß sich im März 1933 eigentümlich mit dem Jubel eines Julius Petersen und so mancher anderer Lessing-Beschwörer des Jahres 1929 vermischt haben. Es geht hier nicht um den selbstgerecht und bequem ex post anzuprangernden „Sündenfall" einzelner. Aber um ein Exempel vor dem Hintergrund einer gefährdeten und dann gescheiterten Republik. Ihr „Nothelfer" im Sinne Alfred Kerrs zu werden - der Klassiker Lessing war hier gewiß schon dem Ansatz nach durch eine Illusion überfordert. Doch hätte er es nicht verdient, daß man ihm mit Nachdenklichkeit und mit selbstkritischer Einschätzung auch der eigenen Lage antwortete, seinem lebenslangen Appell zum „Selberdenken" folgend? Allzu viele haben sich dem im Lessingjahr 1929 verweigert, unter den Fachkennern wie unter den literarisch-publizistischen Wortführern. Es liegt wie ein lähmender Rausch über dem Chor der Feiernden. Die dröhnende Beschwörung des literarischen „Helden", das blinde Hervorzerren seiner „Franzosengegnerschaft", ja noch das verklemmte Hinwegdefinieren des „Dichters" Lessing nehmen sich aus wie Akte freiwilliger Selbstentmündigung. Das Widerständige, Unbequeme an Lessing und seinen Schriften, sein Geist der Kritik, seine Radikalität werden bis zur Unkenntlichkeit verdeckt, wo antiaufklärerischer Irrationalismus, „konservative Revolution" und nationale Aggressionsgelüste das Feld beherrschen. Die Grundkräfte der Republik sind

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Nationalsozialistische Briefe, 4. Jg., 14. Heft (15. Januar 1929), S. 2 3 1 - 2 3 3 .

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noch nicht - oder schon nicht mehr — stark genug, um einen ihrer größten Wegbereiter vor dem skrupellosen Mißbrauch zu bewahren. „Lebte er heute . . . ": Hans Henny Jahnns Hypothese deutet auf die mögliche Perversion, der alle Klassizität ausgeliefert ist. Und dies gilt gewiß nicht weniger für die Lessingjahre 1979 und 1981, wo mit Vorliebe Praktikanten der baren politischen Intoleranz sich schamlos des Nathan als eines Alibis bedienten. Walter Jens hat die „Umarmung" des unbequemen Autors als „das bewährteste Mittel" zur politischen Entschärfung eindrücklich in Erinnerung gerufen. 57 Der über Generationen hin tradierte nationale Autor ist hier noch wehrloser als - zumeist - der lebende. In der Demokratie aber ist gegen solche Klassiker-Umarmung stellvertretender Protest möglich. „Nein, wir haben nicht das Recht ihn zu feiern", ruft Fritz Strich seinen vermutlich erstaunten Berliner Zuhörern entgegen. 58 Und Thomas Mann bekennt ungescheut, wie angewidert er sei durch den bereits gewohnten „ A n b l i c k , daß der schlichte und schlechte Un- und Antigeist die Ergebnisse des Geistes sich einzufälschen und sich damit herauszuputzen sucht!". Und ganz in Lessings Geist fährt er fort: „Wir kennen das. Manch liebes Mal hätte heute die neue Wahrheit Veranlassung, gewissen Leuten, die meinen, sie sei Wasser auf ihre Mühle, zuzurufen: So war es nicht gemeint!" 59 Heute mögen es mehr Stimmen als 1929 sein, die solchermaßen öffentlichen Protest wagen, werde er auch mitunter allzu leicht zum Selbstzweck, zur Masche. Der Demokratie ist er unentbehrlich. Sie und die Literatur brauchen den Protestanten.

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Walter J e n s : Literatur: Möglichkeiten u n d Grenzen, in: W. J . : Republikanische Reden. M ü n chen 2 1 9 7 6 , S. 5 9 - 7 5 ; hier: S. 6 1 . Strich (wie A n m . 2 9 ) , S. 137. T h o m a s M a n n (wie A n m . 15), S. 3 6 5 .

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933*

Für Albrecht Schöne zum 17. Juli 1985 „Durch all mein Leben begleitete der Dichter mich unfehlbar, und kräftig und gesund brachte der mir zusammen, was in Unglück und Glück zersplitterte, und ich nicht sichtlich zusammenzuhalten vermochte. Mit seinem Reichthum machte ich Kompagnie, er war ewig mein einzigster, gewissester Freund; mein Bürge, daß ich mich nicht nur unter weichenden Gespenstern ängstige; mein superiorer Meister, mein rührendster Freund, von dem ich wußte, welche Höllen er kannte! — kurz, mit ihm bin ich erwachsen, und nach tausend Trennungen fand ich ihn immer wieder, er war mir unfehlbar." Dies ist das Bekenntnis der 37jährigen Berliner Jüdin Rahel Levin in einem Brief vom 22. Juli 1808 an ihren späteren Gatten Karl August Varnhagen von Ense:1 Goethe als der lebenslange Begleiter, der Angebetete, der Seelenfreund, der Überlegene, der Integrierende, der immer wieder Gefundene. Gut zwei Jahrzehnte später, am 20. November 1830, schreibt der Frankfurter Jude Ludwig Börne, vormals Löb Baruch, im Vierzehnten seiner Briefe aus Paris: „Goethe ist der König seines Volkes; ihn gestürzt, und wie leicht dann mit dem Volke fertig zu werden! Dieser Mann eines Jahrhunderts hat eine ungeheuer hindernde Kraft; er ist ein grauer Star im deutschen Auge, wenig, nichts, ein bißchen Horn - aber beseitigt das, und eine ganze Welt wird offenbar. Seit ich fühle, habe ich Goethe gehaßt, seit ich denke, weiß ich warum". 2 Als Prototyp des geborenen Goethe-Hassers ist Börne in die Geschichte eingegangen, so wie Rahel Levin, die spätere Varnhagen, als Prototyp der schwärmerischen Goethe-Verehrerin. Die Tochter eines preußisch privilegierten Juwelenhändlers und Bankiers und der im reichsstädtischen Ghetto aufgewachsene *

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Zuerst erschienen in: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Hrsg. v. Stephane Moses u. Albrecht Schöne. Frankfurt a. M . 1986, S. 1 2 7 - 1 5 1 . Öffentlicher Vortrag im Rahmen eines Symposions, das vom 23. bis 30. Oktober 1983 in Jerusalem stattfand. Briefwechsel zwischen Varnhagen und Rahel. Bd. 1. Leipzig 1874, S. 17 (derText dort: „was ich, Unglück und Glück"). Sämtliche Schriften. Bd. 3. Hrsg. v. Inge u. Peter Rippmann. Düsseldorf 1964, S. 71.

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Sohn eines ärmlichen Hof-Faktors: Was mag sich in der Einstellung dieser beiden zu Goethe Gemeinsames finden außer der Tatsache einer jeweils offenkundigen sozialen Vorprägung? Gibt es 'die' jüdische Goethe-Verehrung oder auch 'den' jüdischen Goethe-Haß in einem benennbaren Sinne? Ist nicht die Geschichte der Goethe-Rezeption im ganzen, zunächst unter den Deutschen, gespannt in die Polarität von Vergötterung und mäkelnder Kritik, von hingegebener Bewunderung und kaltem Neid - oder auch Enttäuschung (vor allem bei manchen seiner frühen Weggenossen)? Läßt sich überdies irgend Substantielles aussagen über 'Jüdisches' in der deutschen Bildungshistorie, ohne genaue Unterscheidung nach den „Frommen der alten Schule" (mit Gershom Scholem zu reden), nach Reformjuden und 'Revisionisten', nach solchen, die sich - wie Rahel Levin und Börne - schließlich taufen ließen, und solchen, die, als sie aufwuchsen, nicht einmal mehr wußten, daß sie jüdischer Herkunft waren? Zunächst scheint es übergenug Fragen zu geben, berechtigte Zweifel am Thema, Bedenken gegen das Isolieren des Integrierten, auch Scheu vor dem Mißverstandenwerden. Schon dies mag erklären, warum in der so ausgebreiteten Literatur zur Wirkungsgeschichte Goethes das Jüdische so selten gefragt, bedacht worden ist. 3 Fragwürdig mögen auch die Motive für eine Untersuchung jüdischer Goethe-Verehrung sein, die eingestandenen wie die uneingestandenen. Ein Wiedergutmachungs- oder Versöhnungsthema? Goethe, als Autor der Weltliteratur und des klassischen Humanitätsideals, mag sich dazu als vorzüglich geeignet anbieten. Oder eines jener bisweilen gedankenlos behauptenden „Symbiose"-Themen? Die Verlockung ist nicht gering, zumindest nebenbei mit herauszubekommen, daß doch auch die Deutschen etwas zu geben hatten, das selbst die Juden mit ihrer unüberbietbar alten Kulturtradition anerkennen mußten: also nicht nur 'Das Jüdische bei Heine', 'Das Jüdische bei Kafka', sondern endlich einmal einer der großen Deutschen im Judentum selbst wirkend. Die Fragen und Bedenken sind weder hyperselbstkritisch noch gar 'rhetorisch'. Sie gehören, wie sich zeigen wird, zum Kern des Themas selbst. Vorderhand gibt es Auffallendes, unbezweifelbar Tatsächliches. Ich nenne vorgreifend aus dem Ubervielen nur weniges. Von Rahel Varnhagen und Ludwig Börne als herausragenden Gestalten der Goethezeit selbst war schon die

Z u m Bibliographischen sei hier, der Raumersparnis wegen, lediglich auf zwei Monographien verwiesen: Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1 7 7 3 - 1 9 1 8 . München 1980, S. 3 3 6 - 3 4 1 (Mandelkows im ganzen vorzügliche Darstellung muß im folgenden bei vielen das 'Jüdische' heraushebenden Abschnitten jeweils vorausgesetzt werden); Wolfgang Leppmann: Goethe und die Deutschen. Der Nachruhm eines Dichters im Wandel der Zeit und der Weltanschauungen. Bern, München 2 1 9 8 3 , S. 2 9 2 - 3 0 3 .

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 Rede. Am Beginn der modernen, kritischen Goethe-Textphilologie steht, mit seiner exemplarischen Studie von 1866, der Jude Michael Bernays. Initiator und langjähriger Herausgeber des Goethe-Jahrbuchs, des zentralen Organs der Goetheforschung über Jahrzehnte hin, war der Jude Ludwig Geiger. Erster Präsident der Goethe-Gesellschaft, die 1885 gegründet wurde, war der Jude Eduard von Simson, damals Präsident des Reichsgerichts in Leipzig. Die frühesten, seit 1885 erscheinenden und bis in die 20er Jahre hinein wirkungskräftigen Goethe-Biographien stammen von jüdischen Autoren; ich erwähne nur den einen Namen Albert Bielschowsky. Die Gegenwendung, hin zu den großen 'Gestalt'-Monographien um die Zeit des Ersten Weltkriegs, wird wesentlich von jüdischen Wissenschaftlern bestimmt; zwei Namen einstweilen: Georg Simmel, Friedrich Gundolf. Selbst die ins Psychoanalytische und Sozialkritische sich richtende Goethedeutung wird von Juden angeführt, von Emil Ludwig vor allem; die Linie fuhrt bis zu Richard Friedenthal und Hans Mayer und damit schon über die hier gewählte Zeitgrenze hinaus. Gewiß repräsentiert sich in alledem zunächst das, was man den 'Anteil' der Juden an der deutschen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte überhaupt zu nennen sich angewöhnt hat. Doch zeigt schon ein Blick in die analogen Bezirke der Wirkungsgeschichte Lessings oder Schillers, 4 der beiden anderen großen Nationalklassiker aus dem 18. Jahrhundert, nichts vergleichbar Auffälliges über anderthalb Jahrhunderte hin. Der Frage nach dem Besonderen im Falle Goethes, nach dem Wie und nach dem Warum, kann hier nur an wenigen Stufen und Repräsentanten eines langen und komplizierten Prozesses nachgegangen werden, und mit nur geringer Hilfe aus einschlägigen Studien. 5 Es geht um ein ungeschriebenes, in mehr als einer Hinsicht symptomatisches Kapitel aus der Geschichte von Deutschen und Juden. Die provozierende, ja kontradiktorische Spannweite zwischen den Positionen einer Rahel Varnhagen und eines Ludwig Börne zunächst ist vor allem aus drei Gründen zeitcharakteristisch: weil sich der nationalliterarische Kanonisierungsprozeß, an dem Goethe selbst nicht nur als 'Objekt' beteiligt ist, in jenen Jahrzehnten noch in vollem Gange befindet, partiell durchaus noch offen ist; weil innerhalb dieses Prozesses die potentiellen Rollen emanzipierter Juden noch nicht 'durchgespielt' sind; weil schließlich Goethes persönliche, bekannt

Lessing — ein unpoetischer Dichter. Dokumente aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg. v. Horst Steinmetz. Frankfurt a. M . , Bonn 1969; Schiller - Zeitgenosse aller Epochen. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Schillers in Deutschland. Hrsg. v. Norbert Oellers. 2 Bde. Frankfurt a. M . 1970 u. M ü n c h e n 1976. Sie beschränken sich im wesentlichen auf Untersuchungen zu Einzelfiguren, besonders aus der Frühzeit, wie Rahel Varnhagen, Ludwig Börne, Heinrich Heine.

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ambivalente Einstellung gegenüber dem Judentum noch zeitgenössisch, noch auf aktuelle jüdische Existenz bezogen ist.6 Als Goethe aufwächst, bahnt sich gerade erst, mit Moses Mendelssohn, ein epochemachend neuer Typus seinen Weg, der mit der Haskala zugleich einen tiefen Zwiespalt in das deutsche - nicht nur deutsche - Judentum hineinträgt. Als Goethe stirbt, sind viele der den Weg öffnenden Edikte und Juden-Reglemente schon Geschichte, zum Teil bereits zurückgenommene Reform.7 Vor allem aber hat sich das von Frankreich her, im Gefolge der Revolution und Napoleons Kommende vielen Deutschen, nicht zuletzt Goethe selbst, als das Oktroyierte tief skeptisierend eingeprägt. In Goethes Einstellung zu den Juden durchkreuzen sich auf oft schwer differenzierbare Weise religiöse, soziale, moralische und ästhetische Momente.8 Die ausgeprägtesten Reize liegen für ihn in dem, was er „Zäheit" nennt, in der Traditionsfestigkeit und der historischen Ehrwürdigkeit des an dem Gott seiner Väter festhaltenden Volkes; und sie liegen in der großen „Poesie" der Psalmen und des Hohen Liedes, das er ja selbst aus dem Urtext übersetzt hat (wobei er vor allem Herder die Entdeckung der althebräischen Dichtung verdankt). Das nachhaltigste Moment der Abstoßung ist verankert im frühen Erlebnis des düster-exotischen Frankfurter Ghetto-Judentums, mit all den Schemata der spezifisch christlichen Judendiskrimination (vom Schachern und Feilschen bis zu den Ritualmorden), und: mit dem „barock" klingenden Frankfurter „Judendeutsch".9 In der Distanz gegenüber dieser Ausprägung des Judentums kommt Goethe einer Position sehr nahe, die sich damals bekanntlich in der aufsteigenden jüdischen Minorität selbst schon zu artikulieren beginnt. Lessings Hinwendung zu „den Juden" entsteht früh aus der scharfen Beobachtung und streitbaren Decouvrierung der alltäglichen Unterdrückung, der „Verfolgung", wie es bei ihm heißt.10 Bei Goethe korrespondiert eine aufmerksam mitleidige Distanziertheit gegenüber dem Ghetto-Judentum mit einer auffallend raschen Bereitwilligkeit, den ästhetisch-gesellschaftlich ansprechend auftretenden, durch Talent und Tüchtigkeit bereits arrivierten Juden liberal zu 6

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Zum Nachfolgenden vgl. Verf.: 150 Jahre nach seinem Tod: Goethe und die Juden, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 63 (1982), S. 75-82 (die Literatur hierzu ist, im Gegensatz zum Thema 'die Juden und Goethe', umfangreich). Beispiele bei Alex Bein: Die Judenfrage - Biographie eines Weltproblems. Bd. 1. Stuttgart 1980, S. 20Iff. (mit umfangreichen Belegen in Bd. 2, S. I43ff). In der Vernachlässigung dieses Ineinanders liegt eine Hauptschwäche vieler einschlägiger Arbeiten (oft aus apologetischer oder harmonisierender Tendenz heraus). So in Goethes Darstellung im 4. Buch von Dichtung und Wahrheit. Hamburger Ausgabe. Bd. 9. Hrsg. v. Erich Trunz. Hamburg 1955, S. 123-163 (hier: S. 124). Zum Hintergrund vgl. Verf.: Lessings Die Juden im Zusammenhang seines Frühwerks, in: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Hrsg. v. Ehrhard Bahr, Edward P. Harris u. Lawrence G. Lyon. Detroit, München 1982, S. 189-209.

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akzeptieren: als Interessenpartner, als geistreiches Gegenüber, als Verehrer. Vielfältige Zeugnisse belegen dies, von der zum Teil jüdischen Frankfurter Klientel des jungen Advokaten Goethe über Weimarer, Prager, Berliner Bankiers bis zu dem gern gesehenen und gehörten, gehätschelten Wunderkind Felix Mendelssohn. Unverkennbar geschmeichelt fühlt er sich durch geistvolle jüdische Anbeterinnen. Rahel Levin mit ihrem exquisiten Gesellschaftszirkel in der vielbeschriebenen „Dachstube" der Berliner Jägerstraße Nr. 54 ist nur die entschiedenste und wirkungskräftigste unter ihnen, nicht die erste. Henriette Herz, die um einige Jahre ältere, verbreitet Goethes Ruhm schon etwas früher in ihrem Salon.11 Und mit beiden wetteifert schließlich Dorothea Veit, die Tochter Moses Mendelssohns, um Goethes Gunst. „Begegnungen im Niemandsland" hat man in der Berliner Ausstellung 'Juden in Preußen' die den Salons gewidmete Sektion überschrieben.12 Im Hinblick auf die Goethe-Verehrung ist an dreierlei zu erinnern: daß sie mitten in jener Stadt sich ereignete, deren aufklärerischer 'Berolinismus' mit dem Exponenten Nicolai dem Weimarer Goethe zutiefst verhaßt war - was den Triumph desto interessanter machte; daß es der Jüdin Rahel - aber auf ihre Weise auch Henriette und Dorothea - gelang, ausgerechnet im Wirkungskreis der opponierenden Avantgarde der Romantiker dem Goetheschen Genius Respekt zu verschaffen - und schließlich: daß Rahel, gleichgerichtet mit Karl August von Varnhagen (der die Beförderung seines eigenen Ruhms dabei nicht aus den Augen verlor), auch nach außen hin propagandistisch für Goethe tätig war, am eindrücklichsten in ihrer Mitwirkung an Varnhagens Sammlung Goethe in den Zeugnissen der Mitlebenden (1823), der frühesten Dokumentation dieser Art überhaupt.13 Bei keiner der um Goethe schwärmerisch sich versammelnden Frauengestalten - Bettina Brentano und Caroline Schlegel nicht zu vergessen — zeigt sich so charakteristisch wie bei Rahel Varnhagen das komplizierte Ineinander von romantisch-fraulicher Seelenzerrissenheit und nach Orientierung und Halt suchender jüdischer Selbstbefreiung.14 Das Elternhaus war wenig bildungsbeflissen gewesen. Selbst hatte sie sich, nicht zuletzt über wechselnde Freundschaften,

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Hierzu Herbert Scurla: Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Levin. Berlin 1963. Juden in Preußen. Ein Kapitel deutscher Geschichte. Hrsg. v. Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz. Dortmund 1981, S. 90. Sie behielt ihre Wirkung auch noch, als fünf Jahre später, 1828, die zweite Sammlung dieser Art, Über Goethe. Literarische und artistische Nachrichten von Alfred Nicolovius, erschien. Verwiesen sei hier der Kürze halber auf den letzten Band der verdienstvollen Rahel-Kassette: Rahel Varnhagen. Gesammelte Werke. Bd. 10. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert u. Rahel E. Steiner. München 1983 (mit Studien und Dokumentationen).

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Klassiker-Bilder herausgearbeitet, von „Menschenhunger" getrieben, wie Hannah Arendt prägnant formuliert hat.15 Goethe selbst hob an ihr hervor, daß sie „denkend" sei und, im Gegensatz etwa zu Henriette Herz, „stark in jeder ihrer Empfindungen": eine „schöne Seele".16 Es ist kaum Zufall, daß gerade Wilhelm Meister, zunächst die Lehrjahre als die bürgerliche Epopöe des Strebens nach dem Höheren, mit der gefährdenden Anziehungskraft des Poetischen und mit dem Praktischwerden des Helden, in Raheis wie in Karl Augusts Bemühungen um Goethe einen Hauptorientierungspunkt bildet.17 Konvergenz von Interessen, auch von recht ichzentrierten: Man tut dem Wechselverhältnis zwischen Rahel und Goethe kein Unrecht, wenn man auch hiernach fragt. Was dagegen konnte den Journalisten Börne, außer seiner Frankfurter Herkunft, mit dem Weimarer Nationalautor verbinden, und was schließlich die beiden jüdischen Gestalten untereinander? Zwar berühren sich früh die Entfaltungssphären beider. Börne zählte zu den Vertrauten der Henriette Herz in seiner Berliner Zeit (wovon die überwiegend auf ihr Geheiß niedergeschriebenen Briefe Zeugnis ablegen).18 Was jedoch Börne schon auf dieser Erfahrungsstufe mehr und mehr abstieß, war das unfrei kompensatorische Sichsonnen arrivierter jüdischer Kreise — namentlich Henriettes und Raheis - im Goetheschen Glanz, andererseits das imperiale Gewährenlassen, ja Befördern durch Goethe, der in Börnes Augen längst ein Unfreier geworden war. Das Börnesche Wort vom „Fürstenknecht" Goethe (dem „gereimten" neben dem „ungereimten" Fürstenknecht Hegel) ist in der Folgezeit tausendfach zitiert worden, triumphal auf der Seite mancher Goethe-Opponenten, aber auch von erzürnten Goetheanern: als aus Neid und Haß geborene Ungerechtigkeit gegenüber dem Weimarer 'historischen Kompromiß' zwischen Fürst und Dichter. Man soll bei Börne das Moment des persönlichen Ressentiments aus erfahrener Diskriminierung nicht wegreden wollen. Goethe repräsentierte ihm auch die unerreichbare reichsstädtische Patrizierschaft seiner Jugend. Wesentlicher noch ist Börnes Sprachrohrfunktion. So wie Rahel Varnhagen, bei aller Unverwechselbarkeit ihres Verehrungs-Tons, zugleich Emanzipationsbedürfnisse jüdischer wie nichtjüdischer Literaturbeflissener verkörperte, so wurde Börne rasch

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Rahel Varnhagen. München 1962, S. 36. Vgl. die schöne Skizze Rahel und Goethe von Käte Hamburger, jetzt wieder abgedruckt in Bd. 10 der in Anm. 14 zit. Ausgabe, S. 179-204 (mit den einschlägigen Zitaten). Goethes Wilhelm Meister. Zur Rezeptionsgeschichte der Lehr- und Wanderjahre. Hrsg. v. Klaus F. Gille. Königstein i. Ts. 1979 (dort S. 99-102 u. 144-149 auch zwei Arbeiten Vamhagens zu den Wande^ahren abgedruckt). Die Briefe beginnen 1802 und reichen bis in Börnes Heidelberger Studienjahr 1807; als 1861 die Briefe ohne Herausgeber-Angabe erschienen, vermutete man dahinter sogleich Varnhagen.

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 zum virtuosen Artikulator gesellschaftspolitischer Gruppenmeinungen. Als einer der Sprecher der liberalen, dann radikaldemokratischen Opposition, bestärkt noch durch seine Pariser Perspektive, stilisierte er den unverblümten Revolutionsgegner Goethe zum Mitschuldigen an der deutschen Misere. Heinrich Heine, als Jude die besonderen beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten des Zeitungswesens ähnlich nutzend wie der dezidierte Prosaiker Börne, stand von vornherein, mit seinen lyrischen Anfängen, unter dem unvergleichlichen Bann Goethes (und der Romantiker). 19 Sein Verhältnis zu ihm blieb zeitlebens schillernder, schwankender, mitunter auch diplomatischer. Zentralpunkt seiner Kritik wurde, seit der Menzel-Rezension von 1828, gerade dasjenige, wovon er selbst mit schmerzhafter Betroffenheit sich erst freiarbeiten mußte und nie ganz freiarbeiten konnte: das Goethesche Abheben der Poesie von aller Zweckbindung. Auf eigentümliche Weise begegnet sich hier die Position Heines Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre, als er mehrfach jungdeutsche Attacken gegen Goethe formulierte, mit romantischer Goethekritik etwa eines Josef Görres, der die Tendenz zur Isolierung und damit Depravierung des Poetischen beklagte. 20 Nur auf den ersten Blick irritierend, trat dann Heine in den 30er Jahren wieder als subtiler Verteidiger Goethes auf — als die 'Tendenzpoesie' im Sinne Theodor Mündts auf den Schild gehoben wurde. In der radikal demokratischen Position blieb Heine seinem jüdischen Konkurrenten auf dem Felde der Publizistik, Ludwig Börne, nahe bis zuletzt. Doch gerade diese spannungsgeladene Nachbarschaft trieb ihn schließlich zu jener Schmähschrift, die 1840 - drei Jahre nach Börnes Tod - erschien. Der Sohn des Frankfurter jüdischen Hof-Faktors kontrastierte nun als der Nazarener, als der zum Martyrium sich Drängende, von judäischem Spiritualismus, ja Asketismus Beherrschte gegen Goethe als den hellenischen Geist, den aus der Fülle Lebenden, den zum Herrscher Geborenen, den Statthalter des poetischen Geistes auf Erden. Wichtiger als das Börne-Psychogramm dieser sensationellen Schrift, wichtiger auch als die ironisch-komparative Zuspitzung des Goethe-Bildes ist der Eindruck, den diese öffentliche Abrechnung zweier prominenter Juden und Goethekritiker bei Zeitgenossen und Nachwelt hinterließ: ein Bild jüdischer Selbstzerfleischung, Unter den zahllosen Arbeiten zu 'Heine und Goethe', auch 'Börne und Goethe' etc. ist für den größeren historischen Zusammenhang immer noch besonders anregend Walter Dietze: Junges Deutschland und deutsche Klassik. Zur Ästhetik und Literaturtheorie des Vormärz. Berlin(-Ost) 1957, vor allem S. 3 5 - 7 5 . Die wichtigsten Textausschnitte sind abgedruckt in: Goethe im Urteil seiner Kritiker. Dokumente zur Wirkungsgeschichte Goethes in Deutschland. Bd. 1. Hrsg. v. Karl Robert Mandelkow. München 1975, S. 2 1 2 - 2 1 4 (im gleichen Band auch einschlägige Partien von Heine, Börne u. a.).

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Klassiker-Bilder das den einen die tragischen Züge der schmerzhaft sich Emanzipierenden zu offenbaren schien, den anderen aber die „Doppelzüngigkeit", ja „Falschheit" und moralische „Verderbtheit" der jüdischen Stimme nachgerade verbürgte. Und Goethe diente als das Objekt, ja als Opfer dieses erbarmungslosen Selbstdarstellungstriebes. Viktor Hehn, der große Kulturhistoriker, der sich durch seine Dorpater Goethe-Vorlesungen 1848/51 bedeutende Verdienste gerade um das Verständnis der Goetheschen Lyrik erworben hat, 21 eingefleischter Antisemit, hat denn auch in seiner berühmten Studie über Goethe und das Publikum genüßlich die Heine-Börne-Konstellation aufgegriffen, zu Demonstrationszwecken, nicht wenigen Gebildeten in Deutschland dabei aus dem Herzen sprechend. Börne, in dessen Bann Hehn ursprünglich selbst gestanden hatte, wurde jetzt ganz auf den Hasser, den Agitator, den Streitsüchtigen zurechtgeschnitten, einen „Geistesverwandten Lessings", wie es mit durchaus abwertender Intention heißt. 22 Heine figuriert als der gegenüber Goethe „heuchlerisch" Schwankende, als der Jude ohne „Gemüth", als der typische jüdische Imitator von allem und jedem, so wie manche seiner „Stammesbrüder" schnalzen könnten wie die Nachtigall, immer nach der Mode gerichtet. 23 Selbst Rahel Varnhagen, Henriette Herz und Dorothea Veit erhalten rückwirkend ihr Brandzeichen: Sie hätten mit jüdischem Scharfsinn nur eben „den Perlen- und Ducatenwerth der goetheschen Dichtungen am frühesten erkannt". 24 Goethes eigene Stellung zu den Juden wird, mit decouvrierend einseitiger Zitatenauswahl, in den düstersten Farben gemalt. Ein nach allen Seiten geschlossenes Bild. Börne aber und Heine sind für Hehn nur die Repräsentanten des „Liberalismus", des „jüdisch-französischen Radikalismus", Einläuter des „jüdischen Zeitalters". 25 Die Agitation eines Stoecker oder Treitschke schließt hier nahtlos an. Und nun die thematisch einschlägigste These: Diese beiden, Heine und Börne, seien es gewesen, die mit ihrer perfiden und verantwortungslos durchschlagenden jüdischen Kritik „die Kluft zwischen Goethe und den Deutschen aufgerissen und befestigt" hätten. 26 Dies ist nicht der Augenblickseinfall eines Außen-

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Vgl. die Nachlaß-Edition: Über Goethes Gedichte. Hrsg. v. Eduard von der Hellen. Stuttgart, Berlin 1911. Viktor Hehn: Über Goethes Hermann und Dorothea. Hrsg. v. Albert Leitzmann u. Theodor Schiemann. Stuttgart 1893, S. 27. Viktor Hehn: Goethe und das Publikum. Eine Literaturgeschichte im Kleinen, in: V. H.: Gedanken über Goethe. Berlin 1887, S. 4 9 - 1 8 5 ; hier: S. 163. Ebd, S. 162. Ebd., S. 161. Ebd.

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 seiters, sondern der strategisch vorbereitete Satz einer Autorität, der auf eine seit langem anstehende, peinliche Frage der deutschen Bildungsgeschichte antwortet. Seit Goethes Tod war es in der Tat stiller in der Pflege seines Erbes geworden, aus Gründen, die hier notgedrungen unerörtert bleiben müssen: Irritierung, ja Abgestoßenwerden durch das Goethesche Spätwerk, Erschöpfung durch den zu lange schon andauernden Olympierkult - gewiß auch politische Kritik im Vorfeld der 48er Ereignisse.27 Im gleichen Zusammenhang gewannen Lessing und Schiller an Anziehungskraft. Es mag als peripher, aber vielleicht doch auch als symptomatisch erscheinen, daß in eben dieser Zeitspanne die ersten jüdischen Versuche unternommen wurden, einzelne Goethetexte durch hebräische Ubersetzung ins Eigene gewissermaßen hineinzuziehen; dies geschah vor allem im habsburgisch-polnischen Bereich. Die wohl früheste hebräische Ubersetzung eines Goetheschen Gedichts, Schäfers Klagelied.., erschien 1825 in einer gemischt deutsch-hebräischen Anthologie.28 Der erste größere Goethetext - aber Jahrzehnte später - ist nicht Werther oder Iphigenie, sondern das bürgerliche Kleinepos Hermann und Dorothea, erschienen 1857 in Warschau.29 1865 folgte, in Wien, eine hebräische Umdichtung des Faust.30 Hebraisierung Goethes (und anderer deutscher Klassiker): Das bedeutete zumindest zweierlei. Den um Emanzipation und jüdische Traditionsbewußtheit zugleich Bemühten wurde durch die Gedichtübersetzung demonstriert, daß das wiederbelebte Hebräische in seiner sprachlich-ästhetischen Qualität auch diesem Gipfel der neueren Poesie gewachsen war31 — hatte doch Goethe selbst der Poesie der alten Hebräer seine Reverenz erwiesen. Das andere ist die Vermittlungsfunktion in einem direkteren, praktischeren Sinn, gerade gegenüber dem Ostjudentum; die Erscheinungsorte Wien und Warschau deuten schon darauf hin. Hier waren, zugleich mit dem Sichregen von Bildungsbedürfnissen im Judentum einzelner Städte,32 auch reale Sprachbarrieren zu überwinden.

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Zu diesen sog. 'dunklen Jahrzehnten der Goethepflege vgl. Mandelkow (wie Anm. 3), S. 85— 159. Enthalten in: Erstlinge. Ein Almanach. Bd. 6. O. O. 1825, S. 68f. Hier und im folgenden verdanke ich Itta Shedletzky, Jerusalem, entscheidende Hilfe. Übersetzer: Mordechai Rothberg. Die Beliebtheit gerade von Hermann und Dorothea zeigt sich auch daran, daß 1917 in Jaffa eine Neuübersetzung durch S. Ben-Zion erschien (2. Auflage Berlin 1923). Bearbeiter: Max Letteris. Eine knappe Zusammenstellung der Übersetzungen Goethescher Texte ins Hebräische enthält die Zeitschrift Ost und West 5 (1905), Sp. 308ff. Zum Gesamtzusammenhang vgl. Simon Halkin: Modern Hebrew Literature from the Enlightenment to the Birth of the State of Israel. New York 2 1970. Shmuel Ettinger: Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Die Neuzeit. München 1980 (Geschichte des jüdischen Volkes. Hrsg. v. Haim Hillel Ben-Sasson. Bd. 3), S. 126ff.

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Klassiker-Bilder Goethe im Ostjudentum? „Schiller war der Dichter des Ghetto", schreibt der 1848 in Mähren geborene Gustav Karpeles; „von der Popularität Schillers im Ghetto, namentlich in den Talmudschulen (Jeschivas) kann man sich gar keine Vorstellung machen". 33 In einschlägigen Erinnerungen, Briefen, Berichten osteuropäischer Juden - darunter besonders Karl Emil Franzos34 - , aber auch aus den Ghettos im engeren deutschen Bereich sind eine Fülle von Anekdoten und kleinen Szenen überliefert, die eine erstaunliche Präsenz Schillerscher Gedichte, Balladen, auch einzelner Theaterstücke (vor allem Don Karlos) bezeugen. 35 Schiller war der deutsche Dichter, mit dessen Humanitätsforderungen, mit dessen Freiheitspathos, mit dessen Zukunftsorientierung man sich identifizieren konnte: ein sehnsüchtig, ein glühend verehrter Dichter. Bekanntlich wählten nicht wenige Juden seinen Namen, als sie durch Edikt zum Tragen eines deutschen Namens gezwungen wurden. Auch Lessing wurde von Juden solchermaßen geehrt. Und Goethe? Kaum. Wieder zeigt sich an der jüdischen Goetherezeption des 19. Jahrhunderts etwas Eigentümliches und zugleich etwas für das 'Gastland' Repräsentatives. Hier ist es die vielbeklagte Dichotomierung der Klassikerverehrung: Schiller der programmatische, der explizite, der verständliche, der populäre, Goethe der anspruchsvolle, der vermittelt redende, der Autor einer Elite. Es ist eine Polarität der Rezeption, die bis in die Lebenszeit der beiden zurückreicht, polemisch ausgetragen von den Spätaufklärern, den Romantikern, dann den Jungdeutschen. Die Neigung richtet sich in der Mehrheit des deutschen Judentums, gar im Ghetto, auf Schiller. Desto entschiedener artikuliert sich bei den Maskilim, bei den Intellektuellen, das Nicht-Loslassen des anderen, die angestrengte Bemühung um Goethe. Sie vollzieht sich im überindividuellen Zusammenhang bildungseifriger, auch schon bildungsstolzer jüdischer Familien. Am sichtbarsten freilich wird sie in der herausragenden Leistung Einzelner, nicht primär zu verstehen aus isoliert jüdischen Bedürfnissen, sondern als Wahrnehmung fälliger Aufgaben in vorderer Position. Ein Jahr vor der juristischen Freigabe derjenigen Klassiker, die vor 1837 gestorben waren, ein Jahr, bevor - als Symbol und als Instrument einer neuen Bildungsbewegung - die ersten 35 Hefte von Reclams Universal-Bibliothek erschienen, 1866, veröffentlichte Michael Bernays, Sohn des Oberrabbiners von Hamburg Isaac Bernays, seine epochemachende Schrift Uber Kritik und Ge-

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Zit. nach Ludwig Geiger: Die deutsche Literatur und die Juden. Berlin 1910, S. 146. Vgl. kontrastiv Gustav Karpeles: Goethe in Polen. Berlin 1890 (S. 113 auch kurz zu Schiller). Schiller in Barnow in: Κ. E. F.: Aus Halb-Asien. Bd. 1. Leipzig 1876, S. 69-90. Illustrative Beispiele bei Geiger (wie Anm. 33), S. I42ff.

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 schichte des Goetheschen Textes?6 Mit dem Aufweis signifikanter Textverderbnisse am Beispiel vor allem des Werther öffnete Bernays den Weg in die eigentliche moderne Goethephilologie, tatkräftig unterstützt durch den Buchhändler, Verleger und Goethesammler Salomon Hirzel in Leipzig. Wenige Jahre nach dem Tod seines Vaters (1849) hatte sich Michael Bernays, wie vor ihm Heine und Börne und Rahel Varnhagen und viele andere, taufen lassen, ausgerechnet in der Geburtssstadt seines Vaters (Mainz). Das hat ihm sein Bruder Jacob Bernays, der große Klassische Philologe, nie verziehen; er hat alle Kontakte abgebrochen. Ernst Simon hat ihm, der - wenngleich kein eifriger Synagogenbesucher - gewissenhaft seinen täglichen Glaubenspflichten nachkam, ein glänzendes Porträt gewidmet.37 Michael machte akademische Karriere, wurde nach der Reichsgründung auf den ersten Münchner Lehrstuhl für neuere deutsche Literatur berufen (1872), während der Bruder, den Nietzsche als den glänzendsten Vertreter einer „Philologie der Zukunft" pries (und den Wilamowitz nicht zuletzt wegen seines Judentums geringschätzte), über die Stelle eines Leiters der Bonner Universitätsbibliothek nicht hinausgelangte: zwar Professor, aber nicht Ordinarius. Mit der Reichsgründung, mit der rechtlichen Pro-forma- Gleichstellung der deutschen Juden als Staatsbürger, mit der Stärkung der radikaldemokratischen und der sozialistischen Bewegung, mit der Wirtschaftskrise der ersten Gründerjahre wuchs bekanntlich der organisierte Antisemitismus speziell in Deutschland - mit nicht geringen Folgen auch für die Stellung einzelner Juden innerhalb der neuen literarischen Nationalpädagogik. Ich kann diesem umfassenden Prozeß hier nicht nachgehen, bis hin zu dem Vorwurf Heinrich von Treitschkes, die Juden weigerten sich hartnäckig, der deutschen Kultur und Gesellschaft sich zu öffnen, und bis zu Ludwig Bambergers Behauptung, die Verschmelzung sei bereits vollzogen.38 In dieser Situation fand ein anderer deutscher Jude, einer der rührigsten Goetheaner in Deutschland bis heute, Ludwig Geiger,39 eine sehr persönliche und zugleich symptomatische Antwort. Der Sohn Abraham Geigers, eines der großen Bahnbrecher des Reformjudentums, eines der Begründer auch der neue-

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Zu den vereinzelten Vorläufern Mandelkow (wie Anm. 3), S. 156—159. Ein kostbares Instrument. Zur Begegnung zwischen Deutschtum und Judentum, in: E. S.: Entscheidung zum Judentum. Frankfurt a. M. 1980, S. 249-265. Eine der nach wie vor scharfsinnigsten Analysen bietet Arthur Eloesser: Vom Ghetto nach Europa. Das Judentum im geistigen Leben des 19. Jahrhunderts. Berlin 1936, bes. S. 233ff. Zu ihm fehlt immer noch eine kritische, historisch situierende Untersuchung; die wichtigste ältere Literatur verzeichnet der einschlägige Artikel der Neuen Deutschen Biographie. Bd. 6. Berlin 1971, S. I44f.

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Klassiker-Bilder ren Wissenschaft vom Judentum (neben Zunz, Frankel und Steinschneider), hatte früh die wissenschaftliche Laufbahn eingeschlagen. Er hatte zunächst in den Spuren des Vaters eine zweibändige Geschichte der Juden in Berlin geschrieben (erstmals unmittelbar aus archivalischen Quellen, im Auftrag der Jüdischen Gemeinde) und sich dann als Schüler von Georg Waitz, zugleich unter der Obhut von dessen Lehrer Ranke, mit einer Arbeit zum antiken Judentum habilitiert. Am 28. August 1879, anläßlich von Goethes 130. Geburtstag, versandte er ein Rundschreiben zur Gründung eines Goethe-Jahrbuchs. Ein Jahrzehnt nach dem Aufblühen der eigentlich modernen, philologisch-historischen Beschäftigung mit Goethe sollte dieses Jahrbuch, wie er mit ostentativer Einschränkung, aber auch Entschiedenheit formulierte, „ein Repertorium der Goethe-Literatur" werden, vorrangig mit Quellenpublikationen, Erörterung biographischer Fragen und Bibliographie.40 Der Stempel 'Positivismus' bietet sich an, gewiß nicht zu Unrecht - dem gläubigen Juden Ludwig Geiger aber dient das Programm als ein Schutzschild, im Hinblick auf etwas, dessen Fälligkeit kein Verständiger bestreiten konnte. Der Impuls, das in der Öffentlichkeit Wirkende leitete sich her aus der definitiven Kanonisierung Goethes nach der Reichsgründung und aus der immer nachdrücklicheren Bemühung um eine Reichsideologie. Ludwig Geiger, mehrfach Inhaber wichtiger Ehrenämter der Berliner Jüdischen Gemeinde, stellte sich mit Geschick und Unbeirrbarkeit an die Spitze einer wissenschaftlich kreditierten und zugleich national deutschen Aufgabe. Er hat das Jahrbuch fast dreieinhalb Jahrzehnte lang, von 1880 bis 1913, herausgegeben, propagiert, gegen Kritiker verteidigt. Als er das Unternehmen begann, existierte noch nicht einmal eine Goethe-Gesellschaft. Sie konstituierte sich erst im Juni 1885 in Weimar, zwei Monate nachdem Goethes letzter noch lebender Enkel und Alleinerbe, Walther Wolfgang, gestorben und auch das Haus am Frauenplan zugänglich geworden war.41 Ein Jude wiederum wurde erster Präsident, freilich ein mit 11 Jahren getaufter: Eduard von Simson, ehemals Präsident der Paulskirchenversammlung, des Preußischen Abgeordnetenhauses, jetzt Präsident des Reichsgerichts in Leipzig. Als Parlamentarier hatte er sich, der Mehrheit folgend, vom Nationalliberalen nach und nach zum treuen Antisozialisten, Konservativen, Erbmonarchisten gewandelt.

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So im Vorwort zum 1. Jahrgang des Goethe-Jahrbuchs (1880), S. III. Näheres bei Wolfgang Goetz: Fünfzig Jahre Goethe-Gesellschaft. Weimar 1936; vgl. Julius Petersen: Goetheverehrung in fünf Jahrzehnten (1935), abgedruckt in: J. P.: Drei Goethe-Reden. Leipzig 1942, S. 28-54. Neuere, auch ideologiekritisch akzentuierte Darstellung bei Leppmann (wie. Anm. 3), S. 137ff.

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Zwei emanzipierte deutsche Juden, zwei Wege, die sich jetzt im Zeichen des deutschen Nationalautors Goethe begegneten. Es ging beiden nicht nur um das gewissermaßen pflichtgemäße Partizipieren an einem frisch etablierten Kult, sondern um dessen Vorantreiben an herausgehobener Stelle. Als wissenschaftliches Organ der neuen Goethe-Gesellschaft bot sich das bereits existierende Jahrbuch an; Geiger versah seine Funktion gewissenhaft mit dem Ziel, „das Werk würdig zu machen des Heros, dessen Erkenntnis und Verständnis es zu befördern sucht".42 In seinen Schriften bekannte er sich, namentlich wo es um religiöse Fragen ging, mehrfach ausdrücklich als „Deutscher jüdischen Glaubens" oder „jüdischer Konfession". Er ist, auf der neuen Stufe eines Reformjudentums, nicht den Weg des Michael Bernays gegangen. Er hat das jüdische Erbe, das der Vater Abraham Geiger mit Stolz als ein geschichtlich gewordenes zu erschließen und vorzuzeigen unternommen hatte, in ein nationales Deutschtum einzubringen versucht, integrativ, auch nicht ohne harmonikale Tendenzen. Börne, dem er eine eigene Abhandlung widmete — das Thema stellte sich dem jüdischen Goetheaner mit aktueller Dringlichkeit —, fand bei ihm wenig Sympathie. Gegen den „Fürstenknecht"-Vorwurf verteidigte er seinen Heros mit Verve. Und: gegen christliche Goethekritik katholischer wie lutherischer Provenienz. Sie gehört bekanntlich als Konstante zur Goetherezeption, seit die Leipziger Theologische Fakultät im Jahr 1775 den Werther als eine Apologie des Selbstmords zu verbieten beantragte. Geiger ging hier mit besonderer Umsicht und Kennerschaft vor, deutlich als Angehöriger jüdischen Glaubens, der im Namen Goethes eine Mittlerrolle und, wenn es sein mußte, auch eine Verteidigerrolle wahrnahm gegenüber den „Pfaffen" (wie er sie zu nennen auch wagte).44 Das Faust-Thema wurde, wie Hans Schwerte als erster auf breiter Basis nachgewiesen hat,45 seit den 70er Jahren zunehmend zum Lieblingsthema der national gesonnenen Goethe-Deutung und Goethe-Verehrung auf der Suche nach einer Wesens-Ideologie. Das Thema, mit den epochemachenden Beiträgen eines Erich Schmidt und Konrad Burdach,46 wurde zur großen Chance jüdischer Goethe-Verehrung. Auffallend früh meldeten sich jüdische Stimmen als jüdische: hier, wo es um Goethes Religiosität, auch um das Uberkonfessionelle

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Vgl. Anm. 4 0 . Die deutsche Literatur und die Juden (wie Anm. 3 3 ) , S. 161 ff Goethe. Berlin, Wien 1 9 1 3 ( ' 1 9 0 1 ) , S. 15. Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1 9 6 2 , S. 1 4 8 - 1 9 0 . Die beiden sind hier exemplarisch genannt: Erich Schmidts Entdeckung des Urfaust ( 1 8 8 7 ) und Konrad Burdachs Abhandlung Faust und Moses ( 1 9 1 2 ; als Beginn seiner großen Reihe von fijMii-Beiträgen).

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Klassiker-Bilder daran ging, und um die in seinem Werden früh verankerte Beschäftigung mit den Büchern des Alten Testaments (als den Zeugnissen einer den Deutschen unerreichbaren nationalen Glaubenstradition). Faust und Moses, Faust und Hiob, Goethe und das Alte Testament avancierten zu bevorzugten Themen jüdischer Autoren - nicht nur Philologen - bis weit in die 20er Jahre unseres Jahrhunderts hinein. 47 1882 schon, als sich zum 50. Mal Goethes Todestag jährte, hatte sich der hessische Landesrabbiner Julius Landsberger zum Gegenstand seines Festvortrags gewählt: Faust und Hiob. Wurde in solchen Würdigungen jüdische Religiosität noch vermittelnd, ja verteidigend zur Sprache gebracht, sich als jüdische Religiosität artikulierend, so wich sie nachgerade ostentativ zurück, als gegen das Jahrhundertende hin die Popularisierungen Goethes, vornehmlich wiederum durch jüdische Autoren, einsetzten. Das von der Forschung - nicht zuletzt in Geigers Jahrbuch - aufgearbeitete quellengeschichtliche und biographische Material drängte, zugleich mit den verstärkten nationalpädagogischen Bestrebungen, zur gemeinverständlichen Darstellung. Ludwig Geiger selbst veröffentlichte einen solchen rasch erfolgreichen Goethe, mit dem Untertitel: Sein Leben und Schaffen. Dem deutschen Volke erzählt.48 Das „Volksbuch", wie er es selbst bald mit Stolz nennen konnte, verdankte sich dem Ineinander von lebensgeschichtlicher und werkinterpretierender Perspektive ebenso wie dem durchgängigen Erzählton. Mit fast bedenklicher Eindeutigkeit entwickelte sich dieses Genre, dem ein schier unstillbarer Bedarf zu entsprechen schien, um die Jahrhundertwende zu einem Quasi-Monopol jüdischer Autoren: neben Geiger vor allem Richard Moritz Meyer, Georg Witkowski, Eduard Engel49 und, alle anderen an Resonanz überflügelnd, Albert Bielschowsky mit seinem zweibändigen Goethe. Sein Leben und seine Werke, 1895 „als Neuigkeit zu Weihnachten" erschienen (so der stolze Hinweis des Verlags) und dann bis 1922 in nicht weniger als 42 Auflagen verbreitet, 1926 noch einmal posthum überarbeitet. Es wurde zum Hausbuch, repräsentativ und mit Goldschnitt, das nun wirklich in jedem Bücherschrank des vielberedeten deutschen Bildungsbürgertums stand, und beliebtes Geschenk zu Konfirmation, Kommunion oder — wie vielfach in persönlichen Erinnerungen berichtet wird - zur Bar-Mizwa- bzw. Bat-Mizwa-Feier. Ein Buch von unabsehbarer Wirkung, gekonnt in seiner einfühlenden Biographik, im Aufspüren der angeblichen 'Modelle' für Goethes Figuren, geschickt auch in den wichtigen Werk-

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Die annähernd zwei Dutzend Beiträge, darunter mehrere Monographien, können hier nicht aufgeführt werden. Vgl. Anm. 44. Die Jahre des ersten Erscheinens: Meyer 1895, Witkowski 1899, Engel 1909.

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 Paraphrasen, die sich im Schulunterricht so trefflich verwenden ließen. Ein harmonischer, ein olympischer, ein nationaler Goethe - alle diese Klischees treffen, nur in Nuancen abweichend, auch bei Geiger, Witkowski, Meyer oder Engel zu. War nun auch in der Goethe-Verehrung mit definitiver Deutlichkeit zum Vorschein gekommen, was Erich von Kahler als das „Eilige", das Angestrengte, ja Perfekte der Bedürfniserfiillung insonderheit an den deutschen Juden diagnostiziert hat, das „Vorwegnehmenwollen der Gleichberechtigung", „belastet mit den ungleichen Gewichten von Jahrhunderten"? 50 Der Zugang zu öffentlichen, auch akademischen Amtern war selbst getauften Juden oft noch erschwert. Bedeutete dieses Sichwerfen auf das Populäre - nicht nur, aber besonders eindrücklich in der Goethepflege — erzwungenes Ausweichen, wie so oft in der Geschichte des Judentums, und zugleich ostentative nationale Pflichterfüllung? Die Frage ist nicht neu, sie schließt in seiner verzweifelten Apologetik noch den 'Reichsbund jüdischer Frontsoldaten' nach dem Ersten Weltkrieg ein. Auf dem nationalpädagogisch zentralen Feld der Goethepflege wird die Frage zusätzlich kompliziert dadurch, daß auch die bald fällige sogenannte antipositivistische' Gegenbewegung, das Beschwören des großen Helden Goethe jenseits aller Biographik und Werkanalyse, ebenfalls maßgeblich von jüdischen Autoren getragen wurde. Ich kann den wissenschaftsgeschichtlich überaus diffizilen Vorgang, in den natürlich Gestalten wie Nietzsche, Dilthey und viele andere hineingehören, hier nur eben andeuten. Neben Georg Brandes, dem dänischen Juden, dessen Goethevorlesungen, als Grundlage seiner Goethemonographie, noch in die Jahre 1888/89 zurückreichen, 51 neben ihm und ihn überschattend sind es vor allem Georg Simmel (1913) und Friedrich Gundolf (1916). 52 Nicht nur das prinzipiell Eingegrenzte, ja Problematische jedes Fragens nach dem 'Jüdischen' in der Goetheverehrung, sondern mehr noch die Besonderheit dieser historischen Stufe wird erkennbar, wenn zu den beiden, als ein in vielem gleichgerichteter Goetheaner, Houston Stewart Chamberlain hinzugenommen werden muß: der Wahldeutsche, Schwiegersohn Richard Wagners, der fatal wirkungsmächtige Wortführer des systematisch-propagandistischen Rassismus, der schließlich auch zu einem Kronzeugen des nationalsozialistischen Judenwahns wurde.

Die Verantwortung des Geistes. Köln 1952, S. 78; vgl. besonders auch: Israel unter den Völkern. München 1933, S. 103ff. Näheres im Vorwort zu seinem Goethe, Berlin z 1922, S. 5ff. Geschrieben wurde das Buch nach eigener Angabe August 1914 bis Mai 1915. Die Entstehung in Kopenhagen, relativ abgeschlossen von der innerdeutschen Diskussion, und der späte Erscheinungstermin (1921) sind wohl die Hauptgründe für die zunächst geringe Beachtung. Beide Monographien erscheinen bezeichnenderweise mit dem kargen Titel Goethe (Simmel: Leipzig 1913; Gundolf: Berlin 1916), ohne die bisher üblichen erläuternden und werbenden Zusätze.

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Klassiker-Bilder

Er — dessen Goethe 1912 erschien53 - und zwei große deutsche Juden von höchster Kultiviertheit und Intellektualität in der gleichen, dem 'Heroischen' verfallenen, der Popularität hochmütig sich verweigernden Grundtendenz zusammenstehend: Wird hier die Überspannung des Ganz-vorne-sein-Wollens im Sinne Erich von Kahlers54 oder auch die illusionistische Selbstaufgabe, wie sie Gershom Scholem kritisiert hat, 55 als Perversion offenkundig? Für eine Gestalt wie Ludwig Geiger läßt sich bei aller assimilatorischen Geschäftigkeit noch ein Kontinuum, wenn nicht gar eine geschichtliche Teleologie vom wissenschaftlich historisch unterbauten Judentum des Vaters her konstruieren. Hier dagegen springt die Attitüde um ins offene Preisgeben der religiösen Tradition. Sie wird - nicht nur bei Gundolf - ersetzt oder überwölbt durch den unter den Georgianern kultivierten Glauben an die Wesens-Verwandtschaft von Juden und Deutschen, an das Aufeinander-Verwiesensein noch im Haß. So hat es der Meister selbst im Stern des Bundes (1914) versifiziert: Blond oder schwarz demselben schooss entsprungne Verkannte brüder suchend euch und hassend Ihr immer schweifend und drum nie erfüllt! 56

Ein faustisches Verhältnis mithin zwischen Juden und Deutschen - und Goethe als der deutsche Dichter, der eben diese Grundspannung in sich, seinem Leben, seiner „Gestalt", als Heros „vorbildhaft", „urbildhaft" ausgetragen hat; einer, der deshalb, auch in einer späten „Bildungswelt" (so Gundolf), gleichrangig an die Seite der frühen Nationalautoren wie Dante und Shakespeare treten darf. Ich kürze hier ab, so reizvoll ein detaillierter Vergleich der drei Heroiker Gundolf, Simmel und Chamberlain sub specie Iudaismi wäre. Gundolfs Goethe wurde zu einem der meistdiskutierten literaturwissenschaftlichen Exempel der Weimarer Zeit (insbesondere die an Goethe demonstrierte Unterscheidung von „Bildungserlebnis" und „Urerlebnis" wurde vielen zum goldenen Schlüssel), und Hans Mayer hat zu Recht die Linien von Gundolf über 1933 und noch 1945 hinaus gezogen.57 Zweifellos haben die Biographen von Geiger bis 53 54

55

56 57

Ebenfalls in der kürzestmöglichen Titelfassung Goethe (München 1912). Vgl. Anm. 50. An die Prägung Kahlers durch den George-Kreis und insbesondere die enge Freundschaft zu Gundolf (der seinen Goethe Fine von Kahler widmete) kann hier nur erinnert werden. Besonders in: Juden und Deutsche, in: G. Sch.: Judaica 2. Frankfurt a. M. 1970, S. 20—47. Vgl. für die ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts jetzt auch Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler. Königstein i. Ts. 1981. Stefan George: Werke. Bd. 2. München 1983, S. 145. Goethe im 20. Jahrhundert. Die Germanisten und Goethe, in: Rezeption der deutschen Gegenwartsliteratur im Ausland. Hrsg. v. Dietrich Papenfuß u. Jürgen Söring. Stuttgart usw. 1976, S. 43-56.

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Jüdische Goethe-Verehrung

vor

1933

Bielschowsky und die wirkungsmächtigen Gestaltbeschwörer Brandes, Simmel, Gundolf die immer lauter werdende These mit befördert, auch die Goetheforschung und Goethepflege - als ein unbestreitbar zentraler Bereich des deutschen Kulturlebens — sei mittlerweile vornehmlich in jüdischer Hand. Denkt man an Gundolfs ins Hohe, Unerreichbare gespannten Goethe, so muß man sich zugleich ins Bewußtsein rufen, daß ja auch ein Bielschowsky — grell die Zerrissenheit der Bildungswirklichkeit in Deutschland beleuchtend — weiterhin von Hunderttausenden gelesen wurde; und: daß allmählich auch literatursoziologische und psychoanalytische Richtungen vordrangen, wiederum stark von jüdischen Autoren geprägt. Im Fall Goethes dominierte das Buch von Emil Ludwig, das 1920 erschien58 und innerhalb eines einzigen Jahrzehnts 34 Auflagen erreichte. Hier konzentrierte sich das analytische Interesse, schon deutlich gegen die Mythisierungstendenzen gerichtet, auf das UntergründigDämonische in Goethe, auf sein Triebleben, auch auf Kompensierendes in seinen imperial-abweisenden Haltungen. In manchem eigentümlich hiermit konvergierend wirkte das völkische Goethebild Josef Nadlers, 59 das damals zunehmend Beachtung fand, aus entschieden katholisch-österreichischer Perspektive und mit unverkennbarer Distanziertheit gegenüber dem Weimarer Heros gezeichnet. Vielen Nationalsozialisten war Goethe ohnehin verdächtig wegen seiner Okkupation durch die „jüdische Clique", wie es jetzt immer häufiger hieß, aber vor allem wegen seines angeblichen Mangels an Erdverbundenheit; auch der alte Anti-Popularitäts-Vorwurf wurde neu belebt. Im Völkischen Beobachter vom 10. Februar 1932 60 wurde Goethe offen seine Neigung zum „Weltbürgerlichen", ja zum „Internationalismus" vorgeworfen, was ihn zum literarischen „Führer" untauglich mache (und nach einem solchen suchten ja auch so unterschiedliche Geister wie Max Kommerell und Julius Petersen). Das Goethe-Jubiläum des „Entscheidungsjahres" 1932 61 wurde zum Katalysator. Willy Haas, Begründer und Herausgeber der Literarischen Welt seit 1925, Prager Jude, versandte schon im Sommer 1931 an bekannte Schriftsteller und

Goethe. Geschichte eines Menschen [!]. München 1920. Am deutlichsten in: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 3. Regensburg 1931 (in der Gruppe 'Franken und Schwaben). Zitate aus dem Artikel Der Geist von Weimar einst und jetzt im folgenden nach: Klassiker in finsteren Zeiten 1933-1945. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. Bd. 1. Marbach a. N. 1983, S. 4 9 - 8 3 (dort auch weitere aussagekräftige Zeugnisse aus dem Goethejahr 1932). So der Titel einer wichtigen einschlägigen Publikation des Leo-Baeck-Instituts: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik. Hrsg. v. Werner E. Mosse. Tübingen 2 1966.

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Klassiker-Bilder Wissenschaftler eine Anfrage, ob nicht angesichts der kulturpolitischen Zerstrittenheit das Schweigen die „einzige ehrenhafte, reinliche Geste" sei.62 Die im September 1931 in der Literarischen Welt auszugsweise gedruckten Antworten63 — darunter von Jakob Wassermann und Emil Ludwig - waren höchst dissonant. Am eindringlichsten zur Wahrnehmung des Kairos mahnte Thomas Mann. Schon 1929, im Lessingjahr, hatte er als einer der ganz wenigen - neben dem Juden Fritz Strich - gegen den aufkommenden antiaufklärerischen Irrationalismus, gegen das „chthonische Gelichter" der raunenden Beschwörer der Inhumanität Stellung bezogen, während ein nationalistischer Rausch das Gros der Lessing-Feiernden ergriff.64 Thomas Manns große Berliner und Weimarer Goethe-Reden vom 18. und vom 21. März 1932, 65 mit ihrer Warnung vor den „mörderischen Gemütlichkeiten" und mit ihrem Appell an den noch existierenden Kern der bürgerlichen Humanität, sind bekannt genug. Der Völkische Beobachter hatte ihren Autor schon Wochen vorher, unter Anspielung auf die Pringsheims, als „jüdisch versippten Philosemiten" zu disqualifizieren versucht, während Goethe auf einmal als der „große Artbewußte" erschien, der sich „aller Teilnahme an Juden und Judengenossen" enthalten habe.66 So, und ähnlich, hatte es schon ein halbes Jahrhundert zuvor bei Viktor Hehn, und nicht nur bei einem Treitschke, Stoekker oder Dühring, gelautet. Das Terrain war gut vorbereitet. Hatten die deutschen Juden, Altgläubige und Reformierte, Getaufte und Ungetaufte, sich in ihrem langen und immer neue Wege suchenden paradigmatischen Werben um Goethe zuletzt - oder überhaupt von Anfang an - verschätzt? Zeigte sich nun unabweisbar das, was Scholem im Hinblick auf den freiheitlichen, den populären Schiller die „idealistische Selbsttäuschung" des deutschen Judentums genannt hat, 67 im Falle Goethes nur noch verschlungener, noch tiefergehend, noch katastrophaler? Es gibt, wie mir scheint, die einheitliche und alles abdeckende Antwort nicht, schon weil es 'die' jüdische Goetheverehrung in Deutschland nicht gibt. Im März des Jahres 1932 begingen auch Juden der Kölner Gemeinde, wie in

62

63 M

65

66 67

Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933. Hrsg. v. Anton Kaes. Stuttgart 1983, S. 110. Ebd., S. 109-111. Verf.: Lessing 1929. Momentaufnahme eines Klassikers vor dem Ende einer Republik, in: Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag. München 1983, S. 4 3 9 456. Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1968, S. 62-89 u. 89-111. Vgl. Anm. 60, S. 60. Vgl. Anm. 55, S. 30.

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Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 manchen anderen Städten, Goethes 100. Todestag.68 Das Gemeindeblatt berichtete Anfang April über „Goethe-Gedanken in der Sabbat-Predigt" des Gemeinderabbiners Dr. Kober in der Synagoge Roonstraße. Es heißt da: „Das Judentum huldigt dem Manne, dessen höchster Ruhmestitel war: 'Denn ich bin ein Mensch gewesen', dem Dichter, der in seinem Faust jenen sittlichen Idealismus uns erschließt, der da lehrt, festen Fuß zu fassen auf realem Boden der Welt, das optimistische Glaubensbekenntnis von dem endlichen Siege des 'Reiches Gottes auf Erden'." Judentum, exemplarisches Menschsein, sittlicher Idealismus, Fußfassen, realer Boden, optimistisches Glaubensbekenntnis, endlicher Sieg des 'Reiches Gottes auf Erden': Gedrängter läßt sich die ganze Widersprüchlichkeit der Situation, das Trotzdem und die Hoffnung, kaum zusammenfassen. An Goethes Todestag selbst fand im Haus des Rektors Coblentz vor Vertretern der Kölner Synagogengemeinde eine Goethefeier statt. Auf einen Vortrag folgte, von Schallplatten, Mozarts Kleine Nachtmusik. Als im 'gemütlichen Teil' ein „Realist" (wie er genannt wird) das Gespräch auf die aktuelle Lage der Juden in Deutschland zu bringen versuchte, winkte man ab, lenkte zu Goethe zurück und sprach von „der Macht der Demokratie" und von „der Unmöglichkeit, den deutschen Menschen oder gar den Kölner Christen für eine Politik des Hasses zu gewinnen". Ich breche hier an einem Zeitpunkt ziemlich genau ein Jahr vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten ab. Es sei nur noch der Hinweis angefügt, daß es natürlich auch nach 1933 in Deutschland jüdische Goethe-Verehrung gegeben hat, privat, in Zirkeln, und im 'Kulturbund deutscher Juden': jener Organisation vom Mai 1933, mit dem reichen Theaterleben zunächst unter Julius Bab, der im Jahre 1926 noch selbst eine große Studie über Goethe und die Juden veröffentlicht hatte. Aber der symptomatische Grenzbereich bleiben das Goethejahr 1932 und das Jahr der Machtergreifung. Goethe unter Hitler, Goethe im jüdischen Exil, jüdische Goethe-Verehrung nach 1945, auch in Israel: Das sind neue Kapitel. Von Rahel Levin bis zu den Kölner Juden des Jahres 1932 — gibt es in dieser wechselvollen, oft verzweifelt widersprüchlichen Geschichte (von der hier nur wenige Ausschnitte angesprochen werden konnten) identifizierbar Jüdisches? Es gibt offenkundig nicht nur den sozusagen 'proportionalen Anteil der Juden an der Goethe-Verehrung in Deutschland mit den charakteristischen Grund-

Das Folgende (einschließlich der Zitate) nach der vorzüglichen Dokumentation: Die Juden in Köln. Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Zvi Asaria. Köln 1959, S. 325 (vgl. S. 392).

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Klassiker-Bilder motiven wie dem Seelenfreund, dem Dichterfürsten, dem Zusammenschließenden, dem Antipoden zu Schiller, dem nach und nach kanonisierten Nationalautor, dem Dichter des 'Faustischen', der uneinholbaren 'Gestalt', dem exemplarischen 'Menschen' und seinen Grenzen. Es gibt in allem diesem auch Momente jüdischer Betroffenheit. Nicht aus einem hypothetischen jüdischen 'Wesen' heraus, sondern aufgrund der sich wandelnden, oft zeitgenössisch einander widerstreitenden Positionen von Juden und Judengruppen: Goethe den Integrierenden für die nach Emanzipation und seelischer Orientierung suchende Sonderexistenz, den Konservatismusvorwurf und die Olympier-Schelte aus erfahrener Diskriminierung, die Ausrichtung auf die anerkannte nationale Größe, die besondere Hinwendung zu Faust und zum Faustischen aus beglückt empfundener Nähe zur Uberlieferung der eigenen Väter, den geschärften Blick des Außenseiters für das bedingende Soziale. Es gibt jenes eigentümliche Vorschnellen, das Vorwegnehmen-Wollen, das gezielte Propagieren mit Talent und aufgezwungener sozialer Rolle. Es gibt, funktionsgeschichtlich dieser Einstellung ganz nahe, das Sich-an-die-Spitze-Stellen bei fälligen nationalen Aufgaben, aus dem reflektierten oder nur intuitiven Bestreben heraus, hier wie in anderen Dingen ein guter, ein vorbildlicher Deutscher zu sein. Es gibt schließlich, mit sehr nüchternem sozialem Hintergrund, das Ausweichen in nicht verschlossenes oder noch nicht besetztes Feld. Und doch bleibt ein Rest, der mit den vielbemühten Klischees von der 'Symbiose' und von der gewählten oder der erzwungenen 'Assimilation' allein nicht zu greifen ist. Warum eigentlich dieses immer neue Bemühen gerade um Goethe, dieses insistente Werben? Hätte nicht Lessing, der früh und unmißverständlich für die Menschenrechte der Juden eingetreten war, der eigentliche Heros ihrer Verehrung unter den deutschen Schriftstellern sein sollen? „Wenn ein Jude betriegt, so hat ihn, unter neunmalen, der Christ vielleicht siebenmal dazu genöthiget": Ein solcher Satz des 20jährigen Lessing (Die Juden, 3. Auftritt), ein Satz, der schlagartig und provozierend hinter die Mechanik der Diskriminierung leuchtet, findet sich in Goethes Riesenwerk ebensowenig wie die Gestalt des edlen jüdischen Reisenden oder gar ein Nathan (bei aller Bedenklichkeit, die er, als Modell der Emanzipation genommen, im Lauf der Geschichte gezeitigt hat, als „Jude ohne Synagoge", wie ihn Ernst Simon zweifelnd nannte). Goethe hingegen, in seiner schwankenden, bisweilen verwirrenden Einschätzung und Behandlung der Juden, zieht gerade dadurch an, daß er sich entzieht. Dieses Sich-Entziehen grenzt ihn auch von Schiller ab, dem eine ganz andere Rezeptionstypik im deutschen Judentum entspricht (auch im osteuropäischen). Der Weg zu Schiller war direkt, identifikatorisch. Zu Goethe bedurfte es oft der Umwege, des mitunter mühevollen Erschließens und Vermitteins: 148

Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933 Das reizte; es reizte insonderheit Juden, und es hielt konkrete historische Aufgaben bereit. Hinzu tritt ein anderer, hiermit kategorial verknüpfter geschichtlicher Grund, der mit der besonderen Genese der deutschen Nation und ihrer Literatur zu tun hat. Keine der großen europäischen Nachbarnationen hatte ihre dichterische 'Klassik', ihre normsetzende literarische Hoch-Epoche so spät wie die deutsche (auf die vielerörterten Gründe kann ich hier nicht eingehen). Wo ein Dante, ein Shakespeare die Blütezeit repräsentierten, gestaltete sich das nationalliterarische Bewußtsein, insonderheit aber die nationalpädagogische Aufgabe anders. In Deutschland fand die Emanzipation der Juden - nicht zufällig in eben jener historischen Spanne ihren Höhepunkt, in der nach bald sich herausbildendem nationalem Konsens auch die Poesie ihren Gipfel erreichte, mit Goethe als der Leitgestalt. Hier wartete noch ein Auftrag. Hier war Propagation des als Werthaft Erkannten möglich, ja notwendig. Dies galt nicht zuletzt im Hinblick auf die einflußreiche literarische Opposition gegen Goethe, aber auch auf das in weiten Teilen des Publikums noch herrschende Desinteresse. Die Aufgabe wiederholte sich, unter je spezifischen historischen Vorzeichen: um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert unter dem Eindruck der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege, dann im Vorfeld und in der Folge der Reichsgründung 1871. Beide Male wirkten Juden in vorderer Position für die Verbreitung des Goetheschen Ruhms gegen noch bestehendes Unverständnis - gewiß nicht isoliert, aber doch mit erkennbar und interpretierbar eigentümlichem Engagement. Selbst noch die um den Ersten Weltkrieg sich regende antipositivistische Gegenwendung eines Brandes, Simmel und Gundolf (Walter Benjamins Goethe-Studien stehen bei aller Gundolf-Kritik durchaus in einer ähnlichen Front) hat dieses Werbende, um nicht zu sagen Missionarische. Am Ende des hier in perspektivischer Verkürzung angesprochenen Prozesses, bei den Kölner Juden des Jahres 1932, steht das halb illusionäre, halb verzweifelte Sich-Klammern an Goethe als einen Garanten für den humanen Kern des Deutschtums. Vom Gang der Geschichte her ist man versucht, auch die jüdische Goethe-Verehrung unter das zu subsumieren, was Martin Buber, gewiß überpointiert, die „Vergegnung" der Juden und der Deutschen genannt hat. Als während des Goethejahres 1982 in der Jüdischen Nationalbibliothek in Jerusalem eine kleine Ausstellung zeigte, welcher Reichtum an Goetheana aus Schenkungen und Nachlässen deutscher Juden zuletzt auch nach Israel gelangt war, wurde ein Stück 'Normalität' der Assimilation sichtbar. Und zugleich mehr: das, wodurch Goethe in den Augen der Rahel Levin „unfehlbar" war.

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WISSENSCHAFTSEPOCHEN

Stilbegriffe und ihre Grenzen. Am Beispiel 'Barock' *

Als im Jahre 1969 das Gemälde Willem van Heythuyzen von Frans Hals zum neuen Rekordpreis von 12 Millionen DM in den Besitz der Münchner Alten Pinakothek überging, sahen sich die zuständigen Kulturfunktionäre ebenso wie mancher passionierte Kunstfreund veranlaßt, den Kritikern dieser kostspieligen Erwerbung durchschlagende Argumente zu präsentieren. Eine gewichtige Rolle spielten dabei Kulturpatriotismus und Fremdenverkehr; so war beispielsweise zu bedenken, daß allein die Haarlemer Frans-Hals-Ausstellung vom Jahr 1962 nicht weniger als 256 000 Besucher angezogen hatte.1 Wo jedoch von der besonderen Kunstqualität des Heythuyzen die Rede war, tauchten mit bezeichnender Regelmäßigkeit immer wieder Formeln auf wie „Gipfel barocker Bildniskunst", „Inbegriff des niederländischen Hochbarock" oder auch einfach „barockes Meisterwerk". Über die Legitimität dieser stilgeschichtlichen Einordnung soll hier nicht gestritten werden, die Intention jedenfalls ist deutlich: Wieder einmal baute man auf die Attraktivität des Worts 'Barock', auf seine Suggestionskraft als eines weithin bekannten und anerkannten Stil- und Epochenbegriffs. Seit langem rangiert 'Barock' an der Börse der Stilwerte auf einem der vordersten Plätze, und nicht nur im internationalen Kunsthandel. Von der Prospekt-Werbung für eine 'barocke' Dorfkirche über die Propagierung einer Oberschwäbischen Barockstraße' bis zur Veranstaltung kompletter Großfestivals im 'Barock'-Rahmen reicht die Skala touristischer Nutzung des Barockgeschmacks. Bei Politikern und Wirtschaftlern erfreuen sich offizielle Empfänge in barocken Schlössern besonderer Beliebtheit. Und jeder versierte Antiquitä*

1

Zuerst erschienen in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 302-325. Vortrag, gehalten am 28. April 1970 im 3. Programm des Norddeutschen Rundfunks innerhalb der Sendereihe Ungeschriebene Literaturgeschichte (das Koreferat über 'Klassik' hielt Joachim Kaiser). Der Text ist für den Druck überarbeitet, die wichtigsten Nachweise sind hinzugefügt. Die Vortragsform ist beibehalten. Diese Zahlenangabe nach Hans Tintelnot: Uber den Stand der Forschung zur Kunstgeschichte des Barock, in: D V j s 4 0 (1966), S. 116-158; hier S. 117.

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Wissenschaftsepochen tenhändler hält für das großbürgerliche Interieur eine Auswahl an originalen oder imitierten Barockmöbeln bereit, nicht zu vergessen das obligatorische Angebot an Barockengeln. „Barock ist ein Prestigebegriff', konstatierte Adorno in einem Vortrag während der Berliner Festwochen 1966. 2 Auch der Musikkonsum partizipiert längst an dem allgemeinen BarockBoom. Das Schallplattengeschäft mit Barockmusik blüht. Hauskonzerte, Feierstunden und festtägliche Rundfunkprogramme kommen ohne Bach, Händel und Telemann nicht mehr aus. Viele Ensembles — einige davon sogar in ihrem Namen mit dem Warenzeichen 'Barock' versehen - haben sich seit Jahren ganz der historistischen Pflege von Barockmusik verschrieben. Musikalische Aufführungen in barocken Kirchen und Schlössern demonstrieren, seit einiger Zeit auch fernsehgerecht dargeboten, auf ihre Weise 'wechselseitige Erhellung der Künste'. Die Literatur steht noch immer außerhalb. Nahezu vergeblich sucht man auf den Spielplänen der Abonnementstheater, der Experimentierbühnen oder der zahllosen Festspiele deutsche Barockdramen. Salzburg begnügt sich bezeichnenderweise mit einem Barocksurrogat, dem Hofmannsthalschen mann.

Jeder-

In den Gedicht-Anthologien begegnen seit langem immer die gleichen

wenigen Barockbeispiele. Und wo zumindest einige Leser sich unmittelbarer angesprochen fühlen - etwa bei Fleming, Dach oder Günther - , handelt es sich meist um Texte, die auf die spätere Erlebnislyrik Goethescher Prägung vorauszudeuten scheinen, also gerade nicht als spezifisch 'barocke' Texte rezipiert werden. Ahnlich steht es mit dem Roman. Man liest und interpretiert ad infinitum Grimmelshausens Simplicissimus,

der in seiner Drastik und Wirklichkeitsfülle

unmittelbar aus dem Leben gegriffen zu sein scheint. Aber gerade dieser Roman ist, wie man oft hervorgehoben hat, innerhalb der Barockliteratur ein Außenseiter. „Die Überlieferung unserer Literatur und unserer Bildung", erklärte vor einigen Jahrzehnten schon Richard Alewyn, „ist kürzer als die anderer Nationen. Gehen wir mehr als zweihundert Jahre zurück, über das Geburtsjahr Goethes hinaus, so geraten wir schon in ein Gelände, das ohne besondere Anstrengung nicht mehr zugänglich ist und das nur noch von wenigen betreten wird". 3 Heute muß man hinzufugen: Selbst die zahlreichen Nach- und Neudrucke der letzten Jahre und ebenso das expandierende Taschenbuchgeschäft haben diese Rela-

Theodor W. Adorno: Der mißbrauchte Barock, in: T.W.Α.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt a. M. 1967, S. 133-157; hier S. 133. Nachwort (Zum Verständnis der Werke) zu Johann Beer: Das Narrenspital, sowie Jucundi Jucundissimi Wunderliche Lebens-Beschreibung. Hamburg 1957, S. 141.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen tion nicht grundlegend verändert. Im Gegensatz zur bildenden Kunst und zur Musik ist Barockstil in der deutschen Literatur beim Kulturkonsumenten nach wie vor kaum gefragt. Nicht einmal der Germanistikstudent braucht sich in jedem Fall mit Barockliteratur zu beschäftigen.4 Die Situation erscheint um so paradoxer, als die literarische Barockforschung nun schon seit über einem halben Jahrhundert floriert und zudem in ihren Ursprüngen ein spezifisches Produkt deutscher Wissenschaft darstellt. 1915 bereits erschienen Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe,5 die bekanntlich den entscheidenden Impuls zur sogenannten Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Literatur gegeben haben. Diese Übertragung gehört zu den folgenreichsten Ereignissen in der Geschichte der Geisteswissenschaften, nicht zuletzt deshalb, weil sich der literarische Barockbegriff inzwischen - wenn auch nicht ohne Widerstände - in nahezu allen westlichen Philologien durchsetzte und mit dazu beitrug, neue komparatistische Forschungsrichtungen zu etablieren.6 Gleichwohl stellt sich gerade angesichts der deutschen Verhältnisse die Frage, ob die Übertragung des Barockbegriffs nicht von vornherein eine falsche Weichenstellung bedeutete. Könnte es nicht sein, daß man mit dem Barockbegriff der bildenden Kunst schon im Ansatz inadäquate Kategorien an die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts herantrug, ohne sich über Prämissen und mögliche Resultate kritisch Rechenschaft zu geben? Ins Prinzipielle gewendet, beträfe dies zugleich eine Reihe anderer primär kunstgeschichtlicher Stil- und Epochenbegriffe, die sich ein mehr oder minder gesichertes Hausrecht innerhalb der Literaturgeschichte erwerben konnten: Manierismus, Rokoko, Klassizismus, Biedermeier, Jugendstil, Expressionismus usw. Die Frage nach der Legitimität solcher Termini ist oft diskutiert,7 aber keineswegs ausdiskutiert worden. Vor allem ist sie nicht abstrahierbar von einem bestimmten wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund. Dabei kommt dem Barockbegriff aus zwei Gründen eine besondere Bedeutung zu: einmal, weil er bei der Einführung kunstgeschichtlicher Termini eine Pionierrolle gespielt hat; zum anderen, weil mit der Propagierung dieses Begriffs die Umwertung, ja Wiederentdeckung einer ganzen geschichtlichen Epoche verbunden war. Die Verordnung des Kultusministeriums Baden-Württemberg für das Staatsexamen innerhalb der sog. 'Kleinen Facultas' (vom 6. 6. 1966) verlangt literarhistorische Überblickskenntnisse nur „von der Aufklärung bis zur Gegenwart". Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. München 1915 (in 14. Auflage 1970). Den besten Überblick gibt R e n i Wellek: Der Barockbegriff in der Literaturwissenschaft, in: R. W.: Grundbegriffe der Literaturkritik. Stuttgart 1965, S. 5 7 - 9 4 . Die Daten verzeichnet Jost Hermand: Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft. Methodische Wechselbeziehungen seit 1900. Stuttgart 1965.

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Wissenschaftsepochen Der Vorgang steht im Zusammenhang jener antipositivistischen, antihistoristischen Wende, 8 die am Ausgang des 19. Jahrhunderts zur Herausbildung der sogenannten 'Geisteswissenschaft' Diltheyscher Prägung führte. Jahrzehntelang hatte sich die Germanistik fast nur aus philologisch-historischem Pflichtbewußtsein mit deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts befaßt. Es waren Editionen und Neudrucke veranstaltet worden, und wie fiir andere Epochen hatte man chronologische, biographische und stoffgeschichtliche Fragen untersucht. Was jedoch die ästhetische Wertung anging, so stand das 17. Jahrhundert völlig im Schatten der nachklopstockschen Ära. Oder mit den Worten eines damals vielgelesenen Handbuchs: „In der Geschichte der deutschen Dichtung gilt die Periode von Opitz bis zu den Vormännern Klopstocks für die unerquicklichste. Für den, der poetischen Genuss sucht, mit Recht".9 Poesie des 17. Jahrhunderts - das war Gelehrsamkeit, Scholastik, Pedanterie, Technik, Rhetorik, Unpoesie; nichts Empfundenes, sondern Ausgedachtes, nichts Schöpferisches, sondern bloß Konstruiertes. Die bildende Kunst des Barock war lange Zeit, im Zeichen klassizistischer Doktrinen, dem gleichen Verdikt unterworfen. 10 Sie bedeutete Durchbrechung der strengen antikisierenden Renaissance-Regel, Perversion, Maßlosigkeit, Schwulst. In Deutschland hatte Winckelmann das entscheidende Urteil gesprochen. Während der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts allerdings zeigten sich erste Wandlungen des Kunstgeschmacks, etwa in neobarocken Tendenzen landesherrlicher Architektur, 11 bald auch in der kunstgeschichtlichen Forschung. Selbst bei Jacob Burckhardt, dem großen Verehrer der Renaissance, läßt sich beobachten, wie 'der Barockstil' nach und nach an Reputation und an geschichtlichem Eigengewicht gewinnt. Barock erscheint nicht mehr lediglich als Degeneration, als Verfallsprodukt der Renaissance, sondern als eine notwendige Weiterentwicklung oder gar als schöpferische Antithese. Nietzsche feierte 1879 in seiner Skizze Vom Barockstile das bislang Verachtete als eine zwar gefährliche, aber bewundernswerte künstlerische Steigerung. Und er beobachtete Barockstil gleichermaßen in bildender Kunst, Musik und Literatur. 12 18 8 8 erschien Wölfflins Monographie Renaissance und Barock,13 die 8

5

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11 12

13

Wellek: Die Auflehnung gegen den Positivismus in der neueren europäischen Literaturwissenschaft, in: Grundbegriffe der Literaturkritik (wie Anm. 6), S. 1 8 3 - 1 9 9 . Carl Lemcke: Von Opitz bis Klopstock (= Geschichte der deutschen Dichtung neuerer Zeit. Bd. I). Leipzig 1871, S. 338. Hans Tintelnot: Zur Gewinnung unserer Barockbegriffe, in: Die Kunstformen des Barockzeitalters. Vierzehn Vorträge [...]. Hrsg. v. R u d o l f S t a m m . München 1956, S. 1 3 - 9 1 . Tintelnot, a. a. O., S. 35ff. Verf.: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 3 - 2 1 . Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien. München 1888.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen zusammen mit Arbeiten von Gurlitt, Schmarsow, Riegl und anderen den eigentlichen Durchbruch zur neuen, positiven Barockauffassung signalisiert. Ahnlich wie im Fall des 'Gotischen wurde aus dem rein pejorativen Derivatbegriff ein eigenständiger Stil- und Epochenbegriff. Mit Hilfe von Kategorien wie 'malerischer Stil', 'großer Stil', 'Massigkeit' und 'Bewegung' versuchte Wölfflin eine neue, physiognomische Interpretationsweise zu begründen, die er dann später in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen systematisch entfaltete. Die Faszination, die Wölfflins Grundbegriffe sehr bald auch auf zahlreiche Literaturwissenschaftler ausübten, 14 ist wesentlich mit zwei Aspekten verbunden, die bis heute die Diskussion über den Terminus 'Barock' geprägt haben. Zum einen wurde durch die neue formanalytische Methode die umfassende Rehabilitierung einer lange vernachlässigten geschichtlichen Periode gefördert. Zum anderen explizierte Wölfflin mit 'Renaissance' und 'Barock' einen transhistorischen, typologischen Dualismus, wie ihn die Geisteswissenschaft jener Zeit auch in anderen Bereichen — etwa der Gestaltpsychologie — zu beschreiben unternahm. Beide Intentionen Wölfflins kamen den methodischen Neuorientierungsversuchen der Literaturwissenschaft unmittelbar entgegen. Linear und malerisch, Fläche und Tiefe, geschlossene und offene Form, Vielheit und Einheit, Klarheit und Unklarheit: Vor allem die drei letztgenannten Gegensatzpaare boten sich in ihrer Einfachheit und Allgemeinheit für eine Übertragung auf andere Künste geradezu an. Wölfflin selbst hatte bereits in einem Exkurs seiner Monographie von 1888 den Gegensatz von Ariost undTasso als den von Renaissance und Barock interpretiert, 15 auch einzelne Literarhistoriker hatten den neuen, positiveren Barockbegriff zu erproben begonnen. 16 Ein Jahr nach dem Erscheinen der Grundbegriffe eröffnete Fritz Strich seine bekannte Studie über den lyrischen Stil des 17. Jahrhunderts 17 mit der Feststellung, hier handele es sich nicht, wie man traditionellerweise voraussetze, um 'Renaissance', sondern um spezifischen 'Barock'. In diesem Stil vollziehe sich, der altgermanischen oder der romantischen Dichtung vergleichbar, eine Wie-

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Jost Hermand: Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft. München 2 1969, S. 54ff„ 66ff., 135 ff. Renaissance und Barock (wie Anm. 13), S. 58-74. Wellek: Der Barockbegriff in der Literaturwissenschaft (wie Anm. 6), S. 59f., S. 88. Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts, in: Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Festschr. f. Franz Muncker. München 1916, S. 21—53; auch abgedruckt in: Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche. Hrsg. v. Richard Alewyn. Köln, Berlin 1965, S. 229-259 (Zitate im folgenden nach diesem Abdruck).

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Wissenschaftsepochen dergeburt deutschen Geistes.18 Oskar Walzel bezog noch im gleichen Jahr auch die artverwandte englische Dichtung in die neue Perspektive ein und beschrieb Shakespeares 'atektonischen' Dramenstil als literarischen Barockstil.19 1917 erschien dann bereits Walzels Grundlegung der kunstvergleichenden Methode unter dem Titel Wechselseitige Erhellung der Künste;20 als Exempel dienten bezeichnenderweise die polaren Typen 'Renaissance' und 'Barock'. Damit war der entscheidende Durchbruch zum literarischen Barockbegriff vollzogen. Auch die ersten Kritiker meldeten sich zu Wort; so bestritt etwa Max Wolff schon 1917 die Gültigkeit von Walzels Shakespeare-Interpretation und konzedierte lediglich einzelne barocke Elemente in den Versepen.21 Der methodische Impuls als solcher wurde dadurch nur wenig beeinträchtigt. Neben der verdienstvollen Einzelforschung etablierte sich eine Barockdeutung, die bald in alle Gräben und Abwege deutscher Geisteswissenschaft: führte, bis hin zur Homunculus-Konstruktion eines 'barocken Menschen', der neu entdeckten Sonderform eines 'deutschen Menschen'. 22 Lange vor der Epoche des Faschismus wurde 'Barock', als Inkarnation germanischen Wesens, zu einem Lieblingsgegenstand völkischer Literaturwissenschaft. Auch die von Deutschland aus propagierte Ausdehnung des Barockbegriffs auf andere europäische Literaturen 23 wirkte hierbei kaum als Korrektiv. Sie trug vielmehr dazu bei, den verbliebenen historischen Verständigungswert des Begriffs noch weiter zu kompromittieren. Nach drei Jahrzehnten Barockdiskussion, im Jahr 1948, konstatierte Ernst Robert Curtius, 24 es sei bereits so viel Verwirrung mit dem Begriff angerichtet worden, daß man ihn besser ganz ausschalte. Während Curtius stattdessen das typologisch zu verstehende Wort 'Manierismus' vorschlug, forderte - etwa zur gleichen Zeit — Richard Newald, 25 man solle auf derart konstruierte Stil- und Epochenbegriffe überhaupt verzichten; dies gelte vor allem für die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts. Weder Curtius noch Newald haben sich durchsetzen können. Im Gegenteil: Schon ein Blick in die Fachbibliographien zeigt, daß

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Deutlich ist dabei die Opposition gegen die Überfremdungsthesen der vorausgegangenen Forschung: „Überhaupt ist der neue Stil in seinem Wesen nationaler gewesen als man ihm zugestehen will" (a. a. O., S. 229). Shakespeares dramatische Baukunst, in: Jb. d. dt. Shakespeare-Ges. 52 (1916), S. 3 - 3 5 . Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin 1917. Shakespeare als Künstler des Barocks, in: Internationale Monatsschrift II (1917), S. 995-1020. Näheres bei Hermand: Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft (wie Anm. 7), S. 55ff; Synthetisches Interpretieren (wie Anm. 14), S. 60ff. Wellek: Der BarockbegrifF in der Literaturwissenschaft (wie Anm. 6), S. 61ff. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 275ff. Die deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit. 1570-1750 (=Geschichte der deutschen Literatur. Bd. 5). München 1951, S. 12fF.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen der literarische Barockbegriff fester etabliert ist denn je. 2 6 In den Titeln von Aufsätzen, Monographien, Sammelwerken und Anthologien erfreut sich das Etikett 'Barock' großer Beliebtheit, man könnte auch sagen: eines hohen Kurswerts. Die Zusammenhänge mit den zu Anfang beschriebenen Tendenzen des allgemeinen Kulturkonsums sind evident, nicht anders als etwa bei den Begriffen 'Manierismus', 'Biedermeier' oder 'Jugendstil'. Eine neu zu schreibende deutsche Literaturgeschichte wird diesen außerliterarischen Hintergrund nicht in bloß antimodischer Attitüde ignorieren dürfen. Die gesellschaftliche Tragweite des Problems hat Adorno mit einiger Überspitzung so formuliert: „Die allgemeine Rede vom Barock ist Ideologie im genauen Sinn falschen Bewußtseins, gewalttätige Vereinfachung der Phänomene, deren Propaganda sie besorgt". 2 7 Zwar bezieht sich Adorno primär auf die Barockideologie der Musik und der bildenden Kunst, die wesentlich breitere Konsumentenschichten erreicht als die Barockliteratur. Aber die grundsätzliche Pflicht zur kritischen, auch ideologiekritischen Uberprüfung ist für den Literarhistoriker nicht geringer, insbesondere wenn er zugleich darauf hofft, daß die Literatur der Barockepoche endlich den ihr zustehenden Ort im geschichtlichen Bewußtsein erhält. Zu dieser umfassenden Neuorientierung kann die inhaltliche Bestimmung des Zentralbegriffs 'Barock' Wesentliches beitragen. Die Ausgangssituation im Sinn einer communis opinio hat Albrecht Schöne vor einigen Jahren folgendermaßen umschrieben: man läßt 'Barock' „als eine Übereinkunftsbezeichnung gelten [...], die auf einigermaßen ungenaue Weise das 17. Jahrhundert meint". 2 8 Von dem spekulativen Elan, der die Blütezeit der Barockdiskussion kennzeichnete, ist wenig geblieben. U n d doch sind Skeptizismus oder Resignation noch nicht identisch mit kritischem Bewußtsein. Vielmehr stellt sich die Aufgabe,

Zur Situation der internationalen Barockforschung nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. außer dem Überblick von Wellek: Erik Lunding: Stand und Aufgaben der deutschen Barockforschung, in: Orbis Litterarum 8 (1950), S. 2 7 - 9 1 ; H e l m u t Hatzfeld: Der gegenwärtige Stand der romanistischen Barockforschung. München 1961; Gerhard Müller-Schwefe: T h e European approach to Baroque, in: Philol. Q u a r t . 4 5 (1966), S. 4 1 9 - 4 3 3 ; Manfred Brauneck: Barockforschung. Ein Literaturbericht ( 1 9 6 2 - 1 9 6 7 ) , in: D a s 17. Jahrhundert in neuer Sicht. Beiträge v. Peter Jentzsch, Μ . B., Ernst Eugen Starke ( D U . Beiheft I zu J g . 21 [1969]), S. 9 3 119; Lothar Fietz: Fragestellungen und Tendenzen der anglistischen Barock-Forschung, in: DVjs 4 3 (1969), S. 7 5 2 - 7 6 3 ; zur germanistischen Barockforschung im internationalen Kontext vgl. auch Manfred Brauneck: Deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts — Revision eines Epochenbildes. Ein Forschungsbericht 1 9 4 5 - 1 9 7 0 , in: D V j s 1971. Sonderheft Forschungsreferate, S. 3 7 8 ^ 6 8 . 27 28

Der mißbrauchte Barock (wie A n m . 2), S. 136. Vorbemerkung zu: Das Zeitalter des Barock. Texte und Zeugnisse (=Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 3). München 1963, S. V l l l f .

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Wissenschaftsepochen von den durchaus unverächtlichen Erkenntnissen der neueren Barockforschung her auch die wissenschaftsgeschichtlichen Konditionen des Barockbegriffs neu zu überdenken. Die bisherige Kritik an diesem Begriff soll dabei unter vier Punkte subsumiert werden: 1. Der literarische Barockbegriff impliziert von seinem Ursprung her die These von der unmittelbaren Vergleichbarkeit der Künste und fördert die analogistische Spekulation. 2. Der literarische Barockbegriff suggeriert eine bestimmte, unhistorische und unsachgemäße Vorstellung von barocker Stilqualität. 3. Der literarische Barockbegriff fungiert sowohl als Stil- wie als Epochenbezeichnung und verliert dadurch jegliche Präzision. 4. Der literarische Barockbegriff ist einseitig an der höfisch-feudalen Gesellschaftsschicht orientiert und wird der sozialen Vielfalt des 17. Jahrhunderts nicht gerecht. Der erste Einwand, der die These von der Vergleichbarkeit der Künste betrifft, ist von der wissenschaftsgeschichtlichen Perspektive her nur zu berechtigt. Ohne den direkten Impuls von Seiten der Kunstgeschichte läßt sich die frühe literarische Barockforschung nicht denken, und gerade diese Abhängigkeit erscheint heute als suspekt. 29 Rausch des Entdeckens und Opposition gegen den rigiden Positivismus verleiteten zunächst manchen, die kunstgeschichtlichen Kategorien unkritisch zu adaptieren. Uberall in der Barockliteratur suchte man nach 'Bauschungen' und 'Schwellungen', nach 'Falten' und 'Stauungen', nach 'Farbigkeit' und 'quellender Bewegung'. Die Sonette von Gryphius wurden regelmäßig dem 'bauschigen' Stiltypus Walzels zugeordnet, an den Jesuitendramen bewunderte man die Wölfflinsche 'Tiefendimension'. Konkrete Vergleiche wurden selten ganz durchgezogen, meist nur angedeutet. So konfrontierte Günther Müller die Octavia Anton Ulrichs mit dessen Aramena folgendermaßen: „Der Gang ist in der Octavia breiter, der Ton ernster, frömmer geworden. Aber der Aufriß zeigt bei aller Erweiterung bedeutsam wieder jene barockkirchliche Kuppelung der ersten 4 Bücher und den ergänzenden Altarbau der Schlußbücher". 30 Ein Parallelisieren solcher Art mag heute gelegentlich noch als individuelle Arabeske eines Interpreten begegnen, als Prinzip ist es erledigt. Wer Stilanalyse an Barocktexten treibt, sagt 'amplificatio' statt 'Bauschung' oder 'Schwellung', eine bestimmte Form der 'Stauung' heißt seit Ernst Robert Curtius Versefullendes Asyndeton', 31 und für 'Windung' oder 'Schraubung' sagt man wieder 'Kli-

Hermand: Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft (wie A n m . 7), S. 56ff. Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock (=Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 3). Berlin 1926-28, S. 259. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (wie A n m . 24), S. 287f.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen

max'. Damit hat sich ein terminologischer Wandel vollzogen, der dem literarischen Kunstcharakter von Barocktexten zweifellos auf spezifischere Weise gerecht wird. Aber es stellt sich auch die Frage, ob die Auswüchse der frühen analogistischen Methode nunmehr einen prinzipiellen Isolationismus oder Autonomismus der Textbetrachtung rechtfertigen. Die Emblematik beispielsweise, wie sie in dem monumentalen Handbuch von Arthur Henkel und Albrecht Schöne dargeboten wird, 32 ist ein legitimes und — wie einzelne Untersuchungen bereits gezeigt haben — überaus fruchtbares Arbeitsfeld. Zwar bleibt es relativ scharf umgrenzt und bietet wenig Möglichkeiten zu ausgreifender Spekulation im Sinn der frühen Barockforschung. Aber in der Sache - pictura, inscriptio, subscriptio - geht es eindeutig um das Verhältnis von Bild und Text und um deren wechselseitige Erläuterung; 33 nicht zufällig bezeichnet Mathias Holtzwart seine emblematische Sammlung von 1581 als „Gemälpoesy". 34 Das generalisierende, seit der Antike geläufige Theorem von der 'malenden Poesie' hat man schon früh als typisch barock interpretiert, so Fritz Strich in seinem Lyrik-Aufsatz von 1916. 35 Auch ist Lessings polemische Ausgangsposition im Laokoon bekanntlich mit durch die Folie der Barockliteratur geprägt. Und es scheint bezeichnend, daß Strich noch 1956 in Lessings kanonischer Trennung von Malerei und Poesie das, wie er sagt, 'allentscheidende' Hindernis sieht, das dem literarischen Barockbegriff noch im Wege stehen könnte. 36 Man braucht sich die verschiedenen Kunsttheorien der Barockideologen nicht zueigen zu machen, um zu erkennen, daß die wechselseitige Durchdringung der künstlerischen Medien zu den Charakteristika der Barockepoche (wie auch etwa der Romantik) gehört. Es hat sich eingebürgert, dieses Phänomen unter der Kategorie 'Gesamtkunstwerk' zu rubrizieren, und Richard Wagner war es auch, an dem sich Nietzsche bei seinem universalen Barockbegriff zunächst orientierte. Das höfische Festspiel mit seiner Synthese von Poesie, Musik, Tanz und allen erdenklichen Ausformungen der bildenden Kunst, bis hin zu Feuerwerk und Parkgestaltung, 37 ist der Prototyp des barocken Gesamtkunstwerks. Nicht nur in der Idee, so hat man gefolgert, sondern auch in der barocken

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Emblcmata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg. v. Arthur Henkel u. Albrecht Schöne. München 1967. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. München 1964, S. 17ff. Titelblatt seiner Emblematum Tyrocinia, Straßburg 1581; jetzt im Neudruck hrsg. v. Peter von Düffel u. Klaus Schmidt. Stuttgart 1968. Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 17), S. 248ff. Die Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Dichtung, in: Die Kunstformen des Barockzeitalters (wie Anm. 10), S. 243-265 (dort S. 250). Einzelheiten bei Richard Alewyn u. Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959.

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Wissenschaftsepochen

Erscheinung war die wesenhafte Einheit der Künste bereits vorgegeben. Das aber bedeutete reale Vergleichbarkeit. Wieder wird für das Prinzip der 'wechselseitigen Erhellung' die besondere Pionierfunktion des Barockbegriffs erkennbar. Wie beim 'Gesamtkunstwerk' beschränkte sich die Bedeutung der barocken Nachbarkünste für die Literatur nicht auf eine formale Vergleichbarkeit. Das gilt namentlich für die Musik. Man wurde z.B. neu darauf aufmerksam, 38 daß barocke Lyrik in weiten Bereichen noch komponierte und gesungene Lyrik ist. Auch die barocke Klangmalerei in ihrer Ausprägung durch Harsdörffer und den Nürnberger Kreis verstand man als Hinweis auf die enge Verschwisterung von Poesie und Musik. 3 9 Dagegen hat die Erforschung der realen Zusammenhänge in der Inventions-, Affekten- und Figurentechnik (auf der gemeinsamen Basis der rhetorischen Tradition) 40 noch kaum begonnen. Auch die Musikwissenschaft selbst hat sich dem Wölfflinschen Impuls nicht verschließen können. Schon 1918/19 begann Curt Sachs damit, den Begriff 'Barockmusik' konsequent zu propagieren, Friedrich Blume vor allem hat dies weitergeführt. 41 Allerdings wird gerade in den letzten Jahren eine zunehmende methodische und terminologische 'Barock'-Skepsis erkennbar, etwa gegenüber der beliebten Analogie von Tiefendimension und Terrassendynamik. 42 Je deutlicher sich das Prinzip der wechselseitigen Barock-Erhellung zum bloßen Motor des Kulturkonsums wandelt, desto schwieriger wird es, sich über den eigentlichen Sinn synästhetischer Methodik kritisch zu verständigen. Von einem einheitstiftenden Prinzip mag innerhalb der Barockforschung kaum noch jemand reden. Zu lange haben synthetisierende Konstruktionen wie 'der Zeitgeist', 'die Stilidee' oder auch einfach 'das Schöpferische' als Alibi für Vergleiche willkürlichster Art herhalten müssen. Schon einmal, gegen Ende der 20er, dann vor allem zu Beginn der 30er Jahre war eine solche Ernüchterung gegenüber dem Prinzip der 'wechselseitigen Erhellung' eingetreten, nicht zuletzt als Reaktion gegen die spekulativen Barocksynthesen. Autoren wie Vossler oder Vietor forderten geradezu eine neue

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Besonders Günther Müller in seiner Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart (München 1925); vgl. jetzt Richard Hinton Thomas: Poetry and song in the German baroque. Α study of the Continuo Lied. Oxford 1963. Wolfgang Kayser: Die Klangmalerei bei Harsdörffer. Ein Beitrag zur Geschichte der Literatur, Poetik und Sprachgeschichte der Barockzeit. Göttingen 1932. Hinweise auf musikwissenschaftliche Arbeiten: Verf.: Barockrhetorik (wie Anm. 12), S. 50. Einen Überblick über die Entwicklung gibt Blume in seinem Artikel Barock, in: M G G I. Hrsg. v. Friedrich Blume. Kassel, Bern 1949-51, Sp. 1 2 7 5 - 1 3 3 8 . Dazu speziell Adorno: Der mißbrauchte Barock (wie Anm. 2), S. 136.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen Autonomie der Interpretationsweisen. 43 Erst in den letzten Jahren, nachdem die schlimmsten Auswüchse der Analogistik etwas in die Distanz gerückt sind, zeigt sich, etwa in der literarischen 'Biedermeier'- oder 'Jugendstil'-Forschung, eine neue, grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber der 'wechselseitigen Erhellung der Künste'. „Auch sie", so erklärte Jost Hermand, „muß im Zuge der verstärkten Integration wieder eine methodische Legitimität erhalten". 44 Das mag für enger begrenzte und neu erschlossene Gebiete wie Biedermeier oder Jugendstil im gegenwärtigen Zeitpunkt leichter zu realisieren sein, weil sich dort die geisteswissenschaftliche Analogistik nicht so verhängnisvoll hat austoben können wie im Fall des 'Barock'. Aber für die prinzipielle Methodenfrage kann dieses Faktum nicht ausschlaggebend sein. Eine reflektierte und auf das Zeigbare reduzierte synoptische Perspektive, wie sie Hermand fordert, bleibt auch für die Barockforschung legitim. An konkreten Zusammenhängen fehlt es nicht: Gesamtkunstwerk, 'malende' Poesie, Emblematik, gesungene Lyrik, Klangmalerei, Kompositionstechnik - es wäre engstirnig, sich aus bloßer methodologischer Allergie solchen Phänomenen zu verschließen. Für einen neuen literaturwissenschaftlichen Autonomismus jedenfalls sprechen sie nicht. Der zweite Haupteinwand, der sich auf die besonderen 'Stil'-Implikate des BarockbegrifFs bezieht, erhält einiges Gewicht zunächst durch die Praktiken der kommerziellen Barockverwertung. Der Fremdenführer, der genau anzugeben weiß, diese Kirche sei noch Renaissancestil, jene aber bereits Barockstil; der Möbelverkäufer, der den Kunden fragt, ob er 'Stil' wünsche oder 'modern': beide sind späte, erfolgreiche Epigonen jener Stil-Ideologie, 45 der die frühe Barockforschung einen wesentlichen Teil ihrer Anziehungskraft verdankte. Der antipositivistische Affekt hatte auch hier zunächst einen Freiraum geschaffen, in dem sich Stilkonzeptionen verschiedenster Art etablieren konnten. Die enumerative Stilistik des 19. Jahrhunderts durch eine neue, ganzheitliche Stilidee zu ersetzen, war gemeinsames Ziel. So entschieden wie kaum ein anderer Bereich der Literaturwissenschaft verstand sich die Barockforschung als Stilforschung. Schon die Titel einiger grundlegender Arbeiten geben dies programmatisch zu erkennen: Fritz Strich: Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts·, Karl Vietor: Vom Stil und Geist der deutschen Barockdichtung,46 Oskar Walzel, Barockstil bei Klopstock-,A1 Helmut Hatzfeld: Der Barockstil der religiösen klassischen Lyrik in Frank-

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Einzelheiten bei Hermand: Literaturwissenschaft und Kunstwissenschaft (wie Anm. 7), S. 43ff. A. a. O., S. 71. Vgl. Hermand: Synthetisches Interpretieren (wie Anm. 14), S. 173ff. Adorno: Der mißbrauchte Barock (wie Anm. 2), S. 133ff. G R M 14 (1926), S. 1 4 5 - 1 8 4 . Festschr. f. Max Jellinek. Wien, Leipzig 1928, S. 1 6 7 - 1 9 0 .

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Wissenschafisepochen reicht Wer heute die Barockarbeiten zwischen den beiden Weltkriegen genauer auf ihr Barockstil-Verständnis hin befragt, ist nicht nur überrascht von der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der jeweils zugrundeliegenden Stilkategorien. Er wird zugleich darauf aufmerksam, welch fatales Erbe manche Barockdarstellung auch der letzten Jahre noch immer mit sich schleppt. Wenn der 1960 neubearbeitet erschienene Band Deutsche Kultur im Zeitalter des Barocks von Willi Flemming mit einer glorifizierenden Darstellung des 'deutschen Barockmenschen' beginnt, 49 die ihre unmittelbare Herkunft aus der völkischen Literaturwissenschaft nicht verleugnen kann; wenn auf der anderen Seite der Reallexikon-Artikel Barockliteratur (1958) von Jan Hendrik Schölte davon spricht, der Barockstil widersetze sich der 'deutschen Art'; 50 wenn schließlich Otto Mann in seiner Literaturgeschichte von 1964 den Barockstil noch immer als 'Rauschkunst' etikettiert: 51 dann zeigt sich, daß eingeführte Stilbegriffe wie 'Barock' nicht einfach negiert und somit 'verdrängt' werden dürfen, sondern zunächst einmal durchleuchtet und auf ihre wissenschaftsgeschichtlichen Ursprünge zurückgeführt werden müssen. Man hat in diesem Zusammenhang gelegentlich auf die zeitliche Nähe der frühen Barockforschung zum Expressionismus hingewiesen, und in der Tat ist schon im Lyrik-Aufsatz von Fritz Strich „die Verwandtschaft mit den lyrischen Ekstasen und Exzessen" der Entstehungszeit „nicht zu verkennen". 52 Das Gefühl der Affinität wurde gesteigert durch das Erleben von Krieg und Friedenssehnsucht, von Todesnähe, Hunger und Zerstörung — ein Vorgang, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zum Teil wiederholte und manchem den Weg zur Kriegs- und 'vanitas'-Dichtung eines Opitz, Rist, Gryphius oder Grimmelshausen neu erschloß. Handelte es sich hierbei meist um kurzlebige oder lediglich private Renaissancen, so hat das expressionistische Stilkonzept auch die Forschung auf weite Strecken verhängnisvoll geprägt. Was bei Strich oder Walzel nur angedeutet war, wurde von Herbert Cysarz 1924 in der ersten Gesamtdarstellung des Barock zum Prinzip erhoben. 53 Die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts verwandelte sich dabei mehr und mehr in ein Pandämonium expressiver, mystischer, verzückter Gestalten, dargestellt in einem krausen, erlebnishaft-

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Lit.wiss. Jb. d. Görres-Ges. 4 (1929), S. 30-60. Deutsche Kultur im Zeitalter des Barocks (=Handbuch der Kulturgeschichte. I. Abt.: Zeitalter deutscher Kultur. Bd. I). Konstanz 2 1960, S. Iff. Artikel Barockliteratur (>1926), in: RL 1. 2 1958, S. 135-139 (dort S. 135). Deutsche Literaturgeschichte. Von der germanischen Dichtung bis zur Gegenwart. Gütersloh 1964, S. 152. Richard Alewyn: Vorwort zu: Deutsche Barockforschung (wie. Anm. 17), S. 10. Deutsche Barockdichtung. Renaissance. Barock. Rokoko. Leipzig 1924.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen beschwörenden Sprachstil: „barocke Barockforschung", wie Josef Körner seine schneidende Rezension überschrieb. 54 Und Arthur Hübscher steigerte im Sinn einer faustischen Wesensschau das barocke Stilcharakteristikum der Antithese zum „antithetischen Lebensgefühl". 55 Daß der expressionistische Impuls zu wesentlichen Stilbereichen der Barockliteratur einen neuen Zugang eröffnet hat, ist unbestreitbar. Böhme, Franckenberg, Czepko, Scheffler, dazu das breite mystische und asketische Sachschrifttum des 17. Jahrhunderts rückten stärker ins Blickfeld der Forschung. 56 Die damit verbundene Gefahr der kategorialen Einseitigkeit und der stilistischen Verabsolutierung wurde schon Kritikern wie Josef Körner oder Hans Epstein 57 bewußt. Die tiefe Paradoxie aber, die in dieser wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung lag, wird vielleicht erst heute voll erkennbar. Gerade diejenige Periode der deutschen Literatur, die jahrzehntelang als Inbegriff des Künstlichen, Kalten, Gemachten, Unerlebten gegolten hatte, verwandelte sich nun in die Glanzzeit eines faustisch-germanisch gefühlten, ekstatischen, rauschhaften Barockstils. Wer eine der repräsentativen Barockdarstellungen der letzten Jahrzehnte aufschlägt, etwa die Einführung von Marian Szyrocki (1968), 5 8 begegnet dort zunächst Kapiteln über Emblematik, Mythologie und Petrarkismus, über Poetiken, 'Schatzkammern', Rhetorik und technische Arbeitsweise, über Gattungsgebundenheit, Stilhöhe und artifiziellen Formwillen; und ein ganzer Katalog barokker Stileigenheiten wird ausgebreitet, der von der 'insistierenden Nennung' über die Hyperbel bis zu Konklusionsschemata reicht. Nicht nur, daß jeder ganzheitliche Stilbegriff im Sinn der frühen Barockforschung fehlt. Man meint es geradezu mit einer anderen Stilperiode der deutschen Literatur zu tun zu haben. Unter den Stilbegriffen der bildenden Kunst, die einen festen Platz innerhalb der literarhistorischen Terminologie erringen konnten, dürfte kein anderer seinen konkreten Sinngehalt im Lauf der Zeit so stark verändert haben wie das Wort 'Barock'. Die Richtung, in der sich dieser Wandel vollzogen hat, ist wiederum sehr wesentlich vom kunstwissenschaftlichen Impuls her zu erklären. So entschieden Wölfflin sich gegen die positivistische Addition bloßer Künstler-

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Historische Zeitschrift 133 (1926), S. 4 5 5 - 4 6 4 . Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls, in: Euphorion 24 (1922), S. 517—562, S. 7 5 9 - 8 0 5 . Erich Trunz: Die Erforschung der deutschen Barockdichtung. Ein Bericht über Ergebnisse und Aufgaben, in: DVjs 18 (1940, Referaten-Heft), S. 1 - 1 0 0 . Die Metaphysizierung in der literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung und ihre Folgen. Berlin 1929. Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Hamburg 1968.

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Wissenschaftsepochen monographien und gegen die traditionelle Abwertung des Barockstils wandte, so wenig war er geneigt, der expressionistisch-germanisierenden Spekulation nach Art von Benz oder Worringer freien Lauf zu lassen. „Er sagte nichts, was man nicht leibhaft sehen konnte", berichtet Strich im Rückblick auf seine Studienzeit bei Wölfflin. 59 Dieser gegenständlich-stilphysiognomische Ansatz hat sich auch innerhalb der literarischen Barockforschung nie ganz verloren. Die exemplarische Gegenüberstellung zweier motivgleicher Gedichte von Ronsard und Weckherlin oder zweier Texte von Hans Sachs und Paul Fleming lenkte schon bei Strich60 die Aufmerksamkeit auf signifikante Erscheinungen wie barocke Häufung der Satzglieder, Steigerung und pointierende Zuspitzung, auf das Komparativische, Superlativische des Stils. Die einseitig ekstatisch-irrationalistische Auslegung solcher Züge durch Cysarz und andere erschien einzelnen Barockforschern um so zweifelhafter, je weiter die formanalytische Textobservation voranschritt und je präziser das historische Tatsachenwissen über die Literatur des 17. Jahrhunderts wurde. Neu erschlossene Komplexe wie Petrarkismus, Jesuitismus oder rhetorische Tradition standen den geläufigen, meist unreflektiert mitgeschleppten Kategorien der Erlebnistheorie durchaus entgegen. Die Konsequenzen aus dieser Situation zog als einer der ersten Günther Müller. In seinen Begriffen der 'Distanzhaltung' und des 'Rhetorischen', angewendet auf zentrale Bereiche der Barockliteratur,61 spiegelte sich eine neue, sowohl morphologisch ausgerichtete als auch historisch abgesicherte Interpretation des Barockstils. Hier hat dann seit den 60er Jahren die germanistische Barockforschung, hinter ihre Völkische' Epoche zurückgreifend, wieder angesetzt. Der Prozeß des Umdenkens ist noch im Gang, und keine Diskussion über den Stilbegriff 'Barock' wird dies ignorieren dürfen. Unter den drei Leitbegriffen Technik, Theorie, Tradition könnte man die Neuorientierung des Barockstil-Verständnisses versuchsweise zusammenfassen. Parallelen zu einzelnen Tendenzen der zeitgenössischen Literatur sind dabei evident. Die Wiederentdeckung des Handwerklichen, das Lob des 'Machens' in Opposition zur inspirativen Dichterideologie haben auch an Barocktexten das Gemachte, die Technizität des Stils neu erkennen lassen. „Die religiösen Sonette von Gryphius", hieß es 1916 bei Strich,62 „sind mystische Erschütterungen, vi-

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Die Übertragung des Barockbegriffs von der bildenden Kunst auf die Dichtung (wie Anm. 36), S. 244. Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 17), S. 230ff., 234ff. Geschichte des deutschen Liedes (wie Anm. 38), S. 47ff.; Deutsche Dichtung von der Renaissance bis zum Ausgang des Barock (wie Anm. 30), passim (bes. S. 201ff.). Der lyrische Stil des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 17), S. 233.

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Stilbegriffe

und ihre Grenzen

sionäre Vergegenwärtigungen einer von Leidenschaften durchglühten und von einem freien Rhythmus getriebenen Persönlichkeit". Bei Cysarz las es sich dann noch um einiges 'barocker'. Heute erscheinen Gryphius-Gedichte zwar ebenfalls nicht als bloße Stilexerzitien, aber zur Grundlage jeder Interpretation gehört zunächst einmal eine genaue Analyse der rhetorischen Strukturen und des topisch-metaphorischen Befundes. 6 3 Und gegenüber den Postulaten des lyrischen Persönlichkeitskults ist man skeptisch geworden. So erklärt Helmut Heißenbüttel, nachdem er sich über die Biographie Hofmannswaldaus Rechenschaft gegeben hat: „mein Interesse gilt nicht dieser Person oder dem, was von ihrer Erscheinungsform in das Gedicht übergegangen ist, mein Interesse gilt dem, was in dem Gedicht vorhanden ist". 64 Ähnliches zeigt sich im Verhältnis zum Barockdrama. Wenn Wolfgang Baumgart, vielleicht etwas überspitzt, von einer „BarockafFinität der Gegenwartsdramatik" spricht, 65 so meint er jene Tendenz zur Entindividualisierung, Entpsychologisierung, besonders das Dogmatisch-Lehrhafte, das schon Walter Benjamin als konstitutiv für das barocke Trauerspiel erkannt hat. 6 6 Die immer stärkere Einbeziehung der normativen Poetik und Rhetorik durch die Barockforschung 67 ist auf dem Hintergrund der prinzipiellen Wertschätzung zu sehen, die der literarischen Theorie neuerdings wieder von Schriftstellern wie Literarhistorikern entgegengebracht wird. An sich, so möchte man meinen, hätte die Bedeutung der literarischen Gesetzgebung für die Ausbildung des Barockstils seit jeher evident sein müssen, schon durch die herausragende Gestalt Opitz. Aber es fehlte der adäquate Zugang zu dieser scholastisch-gelehrten Basis der Barockliteratur. Nicht durch den 'Poetischen Trichter' nach Art Harsdörffers, sondern eher trotz seiner mußten die großen Leistungen der Barockpoeten entstanden sein. Erst die Einsicht, daß die differenzierte Systematik der normativen Literaturtheorie gerade mit der Technizität barocker Texte in unmittelbarem Zusammenhang steht, förderte auch hier den Durchbruch. Obwohl das wichtige Theorie-Praxis-Problem noch kaum von der Wurzel her angegangen worden ist, zeigen sich erste Konsequenzen für die Interpretation von

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Verf.: Gryphius und die Macht der Rede. Zum ersten Reyen des Trauerspiels Leo Armemus, in: DVjs 42 (1968), S. 325-358. Vorwort zu: Christian Hofmann von Hofmannswaldau: Gedichte. Frankfurt a. M. 1968, S. 20. Die Gegenwart des Barocktheaters, in: Archiv f. d. Studium d. neueren Sprachen u. Literaturen 198 (1961/62), S. 6 5 - 7 6 (dort S. 73). Ursprung des deutschen Trauerspiels. Revidierte Ausg., besorgt v. RolfTiedemann. Frankfurt a. M. 1963, S. 174ff. Verf.: Barockrhetorik (wie Anm. 12), S. 46-50 (Arbeiten von Renate Hildebrandt-Günther, Joachim Dyck, Ludwig Fischer u.a.).

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Wissenschaftsepochen Topik, Aufbauschemata und Gattungscharakter sowie für jene eigentümliche Sprachkombinatorik vieler Barocktexte, die manchen Interpreten so überraschend 'modern' anmutet. 68 Wie stark die Beschäftigung mit der normativen Theorie auch das Bild des literarischen Barockstils beeinflussen kann, illustriert der apodiktische Satz von Joachim Dyck: „Die Dichter des 17. Jahrhunderts in Deutschland sind klassizistischer, als man gemeinhin zugeben will". 69 Dyck sagt dies mit dem Blick auf die poetisch-rhetorische Tradition. Wohl in keinem Bereich der neueren deutschen Literaturwissenschaft hat die Kategorie 'Tradition eine so tiefgreifende Veränderung der geschichtlichen Perspektive mit sich gebracht wie in der Barockforschung. Lateinische Dichtungstradition, stoische Tradition, patristische Tradition, emblematische Tradition, petrarkistische Tradition, rhetorische Tradition: Alles das soll an der Prägung der Barockliteratur mitgewirkt haben, und es läßt sich unmittelbar an den Texten verifizieren. 70 Hatte sich der Barockbegriff um die Zeit des ersten Weltkriegs vom bloßen Derivat der Renaissance zu einem eigenwertigen Stilbegriff entwickelt, so droht er sich im Zeichen der 'Traditionen' erneut in einen zweiten oder dritten Aufguß der Geschichte zu verflüchtigen. Das Problem berührt freilich nicht nur den Barockbegriff. Noch immer werden aus arbeitsökonomischem Grund Traditionen oft einsträngig untersucht, komparatistische Fragen im Stil der alten Einflußphilologie behandelt. Noch immer fällt es manchem schwer, überhaupt in europäischen Traditionen zu denken, namentlich innerhalb der Germanistik. Ernst Robert Curtius wollte dies aus ihrem Gegenstand erklären: „Die deutsche Literatur ist [···] von allen sogenannten Nationalliteraturen als Ausgangs- und Beobachtungsfeld fur europäische Literatur das ungeeignetste". 71 In bezug auf die Barockepoche ließe sich, wie die neuere Entwicklung zeigt, eher das Gegenteil behaupten. Die eigentliche Herausforderung des Traditionendenkens an den Barockbegriff resultiert jedoch aus der Tatsache, daß dieser Begriff seit langem sowohl als Stil- wie als Epochenbezeichnung verwendet wird.

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Herausgearbeitet vor allem durch Gustav Rene Hocke: Manierismus in der Literatur. SprachAlchimie und esoterische Kombinationskunst. Hamburg 1959. Auch bei Heißenbüttel etwa beruht das Interesse an Hofmannswaldau sehr wesentlich auf dem technisch-kombinatorischen Element. Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg, Berlin, Zürich 1966, S. 21. Bezug genommen wird hier namentlich auf die Untersuchungen von Karl Otto Conrady, Hans-Jürgen Schings, Albrecht Schöne, Hans Pyritz, Jörg-Ulrich Fechner sowie den in Anm. 67 Genannten. Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (wie Anm. 24), S. 21.

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Stilbegriffe und ihre Grenzen Dieser oft vorgebrachte dritte Haupteinwand gegen den Terminus 'Barock' erhielt neues Gewicht, als Karl Otto Conrady 72 darauf aufmerksam machte, daß sich bereits in neulateinischer Lyrik des 16. Jahrhunderts ausgeprägt 'barocke' Stilzüge finden,73 darunter „insistierende Nennung", Formen der Häufung und verschiedene Wortkünsteleien. Sie stehen zum Teil in der Tradition nachklassischer römischer Dichtung (Statius, Claudian, Sidonius), und was noch wesentlicher erscheint: Sie wirken direkt auf die sich konstituierende muttersprachliche Kunstpoesie des 17. Jahrhunderts ein, während daneben eine nichtbarocke, sogenannte „mittlere Ebene des Sprechens" weiterläuft, die vor allem durch Opitz repräsentiert wird. Bereits 1926 hatte Richard Alewyn, 74 gewissermaßen unter umgekehrten Vorzeichen, durch stilistische Analysen den epochalen Barockbegriff in Frage gestellt. Die AntigoneÜbersetzung von Opitz deutete in ihrer Tendenz zur Abschwächung, Glättung, Verdeutlichung des Originals viel eher auf Renaissancestil als auf Barock. Erst mit Gryphius, in den 40er Jahren des 17. Jahrhunderts, setzt für Alewyn der eigentliche Barockstil ein. Opitz und seine Generation repräsentieren einen „vorbarocken Klassizismus", mit dem der nachbarocke Klassizismus Gottscheds korrespondiert. Nicht die prinzipiellen Fragen der Epochenabgrenzung in der Literaturgeschichte sollen hier zur Diskussion stehen. 75 Aber die zuletzt genannten Beispiele zeigen, daß chronologische Verschiebungen solchen Ausmaßes auch die Stilqualitäten des Begriffs 'Barock' berühren. Das Bild wird noch verwirrender, wenn man Musik und bildende Künste einbezieht. Zwar äußern neuerdings einige Musikhistoriker Zweifel, ob man Johann Sebastian Bach — den Zeitgenossen Gottscheds - sinnvollerweise noch zur Barockmusik rechnen soll.76 Aber auch Händeis und Telemanns musikalische Produktion fällt ganz in das 18. Jahrhundert. Schlüters Berliner Schloß entsteht seit 1698, der Dresdner Zwinger von Pöppelmann in den Jahren 1711 bis 1722, mit der Wallfahrtskirche von Vierzehnheiligen, Neumanns Spätwerk, wird gar erst 1743 begonnen. Wo Kulturgeschichte von der bildenden Kunst her konzipiert wird, kann sich der Komplex 'deutsches Barock' sogar völlig in das 18. Jahrhundert hinein verlagern; und

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Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts. Bonn 1962. Zur Terminologie vgl. besonders den Abschnitt „Die Problematik des Barockbegriffs" bei Conrady, a. a. O., S. 9 - 1 6 . Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Analyse der Antigone-Übersetzung des Martin Opitz, in: Neue Heidelb. Jb. N. F. (1926), S. 3 - 6 3 (Nachdruck 1962). Zum Stand der Diskussion Ende der 60er Jahre Hermand: Synthetisches Interpretieren (wie Anm. 14), S. 187ff. Vgl. den oben Anm. 41 zitierten Artikel von Blume.

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es entstehen Buchtitel, die den Literarhistoriker geradezu paradox anmuten, wie dieser: Deutsches Barock. Kultur des 18. Jahrhunderts.77 Nietzsches gern zitierte These von der Ungleichzeitigkeit der Künste kann, wenn sie die politischen und sozialgeschichtlichen Faktoren nicht außer acht läßt, sicher zur Illustrierung der hier angesprochenen Fragen dienen. Die These versagt jedoch, wo es um nationale Phasenverschiebungen geht, und zwar innerhalb des literarischen Bereichs. Solange man die formanalytischen Methoden der literarischen Barockforschung nur an einzelnen Autoren wie Tasso, Calderon, Voiture oder Donne exemplifizierte, ergaben sich oft überraschende stilphysiognomische Zusammenhänge.78 Auch die verschiedenen barocken Extremstile wie Gongorismus, Marinismus, Euphuismus, preciosite oder 'Schwulststil' wurden mit einer gewissen inneren Logik einander zugeordnet. Fast unüberwindliche Hindernisse aber stellten sich dort in den Weg, wo man den Epochenbegriff 'Barock' auf ganze Literaturen anzuwenden versuchte.79 In den meisten Fällen war der Zeitraum des 17. Jahrhunderts bereits durch andere, positive Epochenbegriffe besetzt, am ausgeprägtesten in Frankreich durch den Terminus 'classicisme'. In Deutschland hatte die Chance des Epochenbegriffs 'Barock' gerade darauf beruht, daß er in eine terminologische Lükke stieß. Die Unzulänglichkeit von Ordnungsbegriffen wie Erste und Zweite schlesische Schule lag offen zutage. Doch auch Begriffe wie 'Renaissance' oder 'Schwulst' waren für die Philologie des 19. Jahrhunderts durchaus nicht allgemein verbindlich. Häufig legte man zudem die entscheidende Zäsur an das Ende des Dreißigjährigen Krieges, so Gervinus, Hettner, Goedeke und Scherer. Das aber bedeutete beispielsweise, daß Opitz als Inaugurator des neuen Kunstideals von den späteren Schlesiern isoliert wurde - eine Konsequenz, die wiederum der historischen Einsicht klar widersprach. Schon Gottsched hatte, bei aller unterschiedlichen Bewertung im einzelnen, die Entwicklung von Opitz bis zu Lohenstein und Weise als eine wesenhafte Einheit betrachtet.80 Sobald sich also ein positives Barock-Interesse regte, verschoben sich auch in der literarhistori-

So der Titel einer Darstellung von Richard Benz, 1949. Das Wichtigste verzeichnet Wellek: Der Barockbegriff in der Literaturwissenschaft (wie Anm. 6), S. 6 1 - 9 4 . Für die romanischen Literaturen vgl. exemplarisch Helmut Hatzfeld: A clarification of the Baroque problem in the Romance literatures, in: Comparative Literature 1 (1949), S. 1 1 3 139; W. Theodor Elwert: Die nationalen Spielarten der romanischen Barockdichtung, in: Die neueren Sprachen. N. F. 25 (1956), S. 5 0 5 - 5 1 6 , 5 6 2 - 5 8 0 . Ζ. B. in der Lob- und Gedächtnißrede auf Opitz (1739), in den verschiedenen geschichtlichen Überblicken (Vorreden zu Lehrbüchern) und nicht zuletzt im Versuch einer Critischen Dichtkunst (41751).

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sehen Perspektive die Zäsuren geradezu zwangsläufig zu Opitz und Gottsched hin. Das 17. Jahrhundert wurde zum Barockjahrhundert. Wenn der ursprünglich stiltypologisch verstandene 'Barock'-Begriff sich im Lauf der 20er und 30er Jahre zunehmend als ein Epochenbegriff etablierte, so hatte dies — bei aller mangelnden Präzision — immerhin den Vorteil, daß das Gerede vom 'ewigen oder 'zeitlosen Barock mehr und mehr verstummte. In der Frühzeit der Barockbegeisterung war von Autoren wie Oswald Spengler oder Herbert Krauss nahezu die gesamte Kulturgeschichte mit 'barocken' Spätphasen versehen worden, vom alten Ägypten über die Epoche des Hellenismus bis hin zur 'Barockgotik' oder zum 'barocken' Romantiker Kleist. 81 Die 'Manierismus'Welle seit den ausgehenden 50er Jahren hat hier eine gewisse Entlastung gebracht, 82 denn außerhalb der Kunstgeschichte ist das Phänomen 'Manierismus' noch nicht zeitlich gebunden (wenn man von Einzelfällen wie der 4-StufenTheorie Wylie Syphers absieht). 83 Noch immer enthält der Begriff Manierismus, wie bereits Ernst Robert Curtius hervorhob, „nur ein Minimum von geschichtlichen Assoziationen". 84 Daraus aber ergibt sich eine terminologische Arbeitsteilung, die für den literarischen Barockbegriff sicher von Vorteil ist. Arnold Hauser hat von der Kunstgeschichte her den Manierismus des 16. Jahrhunderts als einen intellektualistischen, exklusiv-aristokratischen Stil hauptsächlich der kleineren Höfe beschrieben und ihn von dem sozial mehrschichtigen, weit verzweigten Barockstil abgehoben. 85 Für die frühe Barockforschung lag eine detailliertere sozialgeschichtliche Analyse noch weit außerhalb des Gesichtskreises. Was sich in Deutschland etwa an barocker Architektur erhalten hatte, deutete auf Hof, gegenreformatorische Kirche und städtisches Patriziat als die eigentlichen Träger dieser Kunst. Daß einzelne Künstler auch im Auftrag aller drei 'Bauträger' gearbeitet haben, entsprach der deutlich erkennbaren, gestuften Homogenität der Stilkonventionen. Im Streit um den entscheidenden 'barocken' Impuls neigte die kunstwissenschaftliche Forschung bald mehr dem Höfischen, bald mehr dem spezifisch Gegenreformatorischen (Jesuitischen) zu.

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Bei Herbert Krauss (Das Wellengesetz in der Geschichte, 1929) war 'Barock' sogar unter die grundlegenden vier 'Partialwellen aufgenommen worden, und zwar als Welle C (Reife- und Spätzeitwelle). Verf.: Barockrhetorik (wie Anm. 12), S. 3 3 - 4 6 . Four stages of Renaissance style. Garden City/N. Y. 1955 (vertritt eine Abfolge von Renaissance, Manierismus, Barock und Spätbarock auch im Bereich der Literatur). Z u entsprechenden Versuchen im Bereich der Musik skeptisch Hellmut Federhofer: Z u m Manierismus-Problem in der Musik, in: DVjs 44 (1970), S. 3 9 3 - 4 0 8 . Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (wie A n m . 24), S. 277. Der Manierismus. Die Krise der Renaissance und der Ursprung der modernen Kunst. M ü n chen 1964; Sozialgeschichte der Kunst und Literatur. München 1967, S. 377ff.

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Wissenschaftsepochen Für die literarische Barockforschung, die sich vorwiegend an der muttersprachlichen Dichtung orientierte, trat das Gegenreformatorische — als ein Träger des Lateinischen — von vornherein stärker in den Hintergrund. Es entsprach in gewissem Umfang der von Adorno skizzierten Barockideologie, daß Günther Müller gegen Ende der 20er Jahre anhand eines reichen historischen Materials die These von der „höfischen" Orientierung der Barockliteratur entwickelte.86 Zwar hat Erika Vogt schon 1932 dieses Bild durch Herausarbeitung einer „gegenhöfischen Strömung" in Satire und Moralkritik zu korrigieren bzw. zu ergänzen versucht.87 Aber der Barockbegriff als solcher blieb weiterhin an das Höfische gebunden, etwa in Arnold Hirschs bedeutendem Buch über Bürgertum und Barock im deutschen RomanBS oder in der Darstellung barocker Feste durch Alewyn und Sälzle.89 Der literarische Barockbegriff hat durch die assoziative Verknüpfung mit dem Höfisch-Festlichen, Hellen, Großzügigen sicher fiir manchen an Attraktion gewonnen. Freudenfeuerwerk, der Titel einer neueren Anthologie manieristischer Barocklyrik,90 ist charakteristisch für diese Tendenz. Auf diesem Hintergrund erscheint es nur verständlich und konsequent, daß einzelne marxistische Literarhistoriker einen solchermaßen einseitig orientierten Barockbegriff ablehnen. Diesen vierten, sozialgeschichtlich motivierten Haupteinwand hat am entschiedensten Horst Hartmann 1961 in einem Aufsatz vorgetragen.91 Die Kritik, so fordert er, habe bereits bei der Kunstgeschichte anzusetzen. Der feudalistische, katholisch-klerikale Barockbegriff werde Erscheinungen wie der bürgerlichen Kunst Englands oder Hollands nicht gerecht. Um so nachdrücklicher müsse man sich gegen eine Transposition dieses Terminus in den Bereich der Literatur zur Wehr setzen. Auch der kunstgeschichtliche Manierismusbegriff diene nur dazu, „die Beziehungen zwischen Kunst und Literatur und der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verschleiern".92 Die vom DDR-Kollektiv fiir Literaturgeschichte 1962 veröffentlichte Darstellung des 17. Jahrhunderts93

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A m eingehendsten in: Hans N a u m a n n u. G . M . : Höfische Kultur der Barockzeit (DVjs Buchreihe. 17). Tübingen 1929, S. 79ff. Die gegenhöfische Strömung in der deutschen Barockliteratur. Giessen 1932. Zuerst 1934, neu hrsg. v. Herbert Singer. Frankfurt a. M . 1957. Oben Anm. 37. Freudenfeuerwerk. Manieristische Lyrik des 17. Jahrhunderts. Hrsg. v. Hubert Gersch. Frankfurt a. M . 1962. Barock oder Manierismus? Eignen sich kunsthistorische Termini fiir die Kennzeichnung der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts ?, in: Weimarer Beiträge 7 (1961), S. 46—60. A. a. O . , S. 60. Joachim G . Boeckh u.a.: Geschichte der deutschen Literatur 1600 bis 1700 (=Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 5). Berlin (-Ost) 1962 (Kritik des Barockbegriffs: S. 4 f f ) .

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Stilbegriffe und ihre Grenzen (ebenso die 1967 erschienene Deutsche Literaturgeschichte in einem Bandf4 verzichtet denn auch ganz auf den 'idealistischen Barockbegriff und wählt die Jahre 1600 und 1700 lediglich als mechanische Zäsuren. Nur das Ende des Dreißigjährigen Krieges wird als geschichtlich legitimierter Einschnitt anerkannt wie schon in den Handbüchern des 19. Jahrhunderts. Die in der DDR - nicht in allen sozialistischen Ländern95 - praktizierte Sprachregelung dient in erster Linie dem Ziel, das bäuerlich-volkstümliche Schrifttum und die bürgerlich-emanzipatorische Literatur des 17. Jahrhunderts stärker zur Geltung kommen zu lassen. Das ist ein berechtigter, längst überfälliger Forschungsansatz, der, konsequent durchgeführt, auch die geläufige Stilpalette des 'Barock' verändern kann. Bedenklich aber erscheint die einseitige Bevorzugung der sogenannten 'volksverbundenen Autoren wie Moscherosch, Grimmelshausen oder Reuter, während etwa Hofmannswaldau seiner feudalistischen, höfischen Stiltendenz wegen wieder mit dem uralten 'Schwulst'-Etikett belegt wird. 96 An einem zwischen den Extremen rangierenden Autor wie Simon Dach schätzt man vor allem „Unmittelbarkeit des Gefühls, Naturnähe und volkstümliche Schlichtheit".97 Das alles aber bedeutet letztlich einen Rückfall in die Vorurteile einer längst überwunden geglaubten Erlebnis- und Gefühls-Ideologie. Besonders aufschlußreich ist das Beispiel Grimmelshausen. Nicht nur, daß seine Stilisierung zum 'volksverbundenen' Autor98 bis in einzelne Formulierungen hinein fatal an die faschistische Barockforschung erinnert. Diese Festlegung mißachtet auch elementare Fakten der Stil- wie der Sozialgeschichte. Der alte germanistischromantische Traum von Grimmelshausen als dem ungelehrten, nur aus der Fülle des Lebens schöpfenden Volksdichter99 ist durch biographische und quellenkritische Studien und durch sprachliche Observation längst widerlegt.100 Analo-

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Deutsche Literaturgeschichte in einem Band. Hrsg. v. Hans Jürgen Geerdts. Berlin (-Ost) 1967, S. 119ff. Vgl. etwa die zahlreichen Barockarbeiten des Ungarn Angyal und der Polen Szyrocki und Szarota. Zur terminologischen Frage: Andreas Angyal: Das Problem des slavischen Barocks, in: Wiss. Zs. d. Ernst-Moritz-Arndt Univ. Greifswald. Ges.-u.- sprachwiss. Reihe 6 (1956/ 57), S. 6 7 - 7 7 ; Marian Szyrocki: Zur Differenzierung des Barockbegriffs, in: Kwartalnik Neofilologiczny 13 (1966), S. 1 3 3 - 1 4 9 ; Elida Maria Szarota: Manierismus und Barock im Brennpunkt der wissenschaftlichen Diskussion, in: Kwartalnik Neofilologiczny 14 (1967), S. 431-441. Geschichte der deutschen Literatur 1600 bis 1700 (wie Anm. 93), S. 341fF. Kapitelüberschrift, a. a. O., S. 161. A. a. O., S. 447ff. Hierzu Manfred Koschlig: Der Mythos vom 'Bauernpoeten' Grimmelshausen, in: Jb. d. Dt. Schillerges. 9 (1965), S. 3 3 - 1 0 5 . Zuletzt bei Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern, München 1968, bes. S. 20ff.

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Wissenschaftsepochen ges gilt für die anderen Autoren, die nicht als 'höfisch' im engeren Sinn bezeichnet werden können: für die Mystiker, Prediger und Erbauungsschriftsteller, aber auch für die Satiriker und Parodisten, für Moscherosch, Johann Lauremberg, Schupp, Weise oder Reuter. Sie alle partizipieren in verschiedener Weise an den durchaus nicht 'volkstümlichen' Konventionen der gelehrten Literaturgesetzgebung. Die seit den 60er Jahren intensivierte Beschäftigung mit der normativen Poetik und Rhetorik des 17. Jahrhunderts kann auch fur eine neue sozialgeschichtliche Fundamentierung des Barockbegriffs von großer Bedeutung sein. Nicht durch Hof, Kirche, Bürgertum oder Bauern wird die literarische Theorie des Barockzeitalters bestimmt, sondern durch den Gelehrtenstand. 1 0 1 In seinen Händen befinden sich diejenigen Institutionen, denen die literarische Indoktrination obliegt: protestantische Gelehrtenschule, Jesuitengymnasium, Adelserziehung, Universität. 1 0 2 Fast ohne Ausnahme haben die Autoren des 17. Jahrhunderts sowie ein großer Teil des literarischen Publikums dort ihre theoretische und praktische Grundausbildung erhalten. Sie haben damit zugleich ihren literarischen 'Erwartungshorizont' im Sinne von Hans Robert Jauß 1 0 3 formiert. Bei genauer Untersuchung der Lehrinhalte wird eine erstaunliche Einheitlichkeit der poetisch-rhetorischen Doktrin erkennbar. Erst auf dieser gemeinsamen Basis läßt sich die oft verwirrende Vielfalt barocker Stilausprägungen angemessen interpretieren, und von hier aus wäre das 'Höfische' ebenso neu zu situieren wie das 'Volkstümliche'. Welche Konsequenzen ergeben sich für den Barockbegriff nach einem halben Jahrhundert literarischer Barockforschung? Es hat sich gezeigt, daß die Entscheidung für oder gegen diesen Begriff nicht von der Wissenschaftsgeschichte ablösbar ist. Das typologisch-expressionistische Stilkonzept der frühen Barockforschung hat unstreitig eine wichtige heuristische Funktion ausgeübt. In seiner historischen Begründung wie in seinen systematischen Prämissen aber ist es nur noch Geschichte. Eine neue, relative, von Technik und Normierung bestimmte, gestufte Einheitlichkeit der Stilprägungen beginnt sich abzuzeichnen. Prekärer scheint die Überlagerung von Stil- und Epochenbezeichnung 'Barock'. Hier hat das Aufkommen des typologischen Manierismusbegriffs eine gewisse Entlastung gebracht. 1 0 4 'Barock' ist immer deutlicher zum Epochenbegriff mit stilistischen Assoziationen geworden.

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Verf.: Barockrhetorik (wie Anm. 12), S. 2 2 0 - 2 3 8 . A. a. O., S. 2 4 1 - 4 4 7 . Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967; jetzt auch in: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 1 4 4 - 2 0 7 . Dies zeigt auch Blake Lee Spahn Baroque and Mannerism: Epoch and style, in: Colloquia Germanica I (1967), S. 7 8 - 1 0 0 .

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Die radikalste, sozialgeschichtlich orientierte 'Barock'-Kritik jedoch ist für die Methodik einer künftig zu schreibenden Literaturgeschichte vielleicht am lehrreichsten. Denn die bloße Negierung des höfisch-klerikalen Barockbegriffs, ohne plausible Alternative, 105 kommt einer Kapitulation vor den Irrwegen der Literaturwissenschaft gleich. Natürlich kann und darf es in Zukunft nicht darum gehen, kritiklos eine der überkommenen 'Barock'-Interpretationen zu reproduzieren. Aber ebenso, wie es gelungen ist, das völkisch germanisierende Erbe des Barockbegriffs weitgehend abzustoßen, wird auch eine Loslösung vom einseitig höfischen Barockbild möglich sein. Wer dies a priori leugnet, hat aus der Wissenschaftsgeschichte nicht gelernt. Nicht nur, daß er das Feld den Spekulanten überläßt, statt Rechenschaft von ihnen zu fordern. Er begibt sich auch der Möglichkeit, die positiven methodischen Aspekte zu mobilisieren, die der Barockbegriff immer noch enthält. Hierzu gehören der Anreiz zu einer reflektierten Synopse der Einzelkünste und nicht zuletzt der komparatistische Verständigungswert, den gerade die Germanistik dringender benötigt als jede andere Philologie. 106 Fraglich bleibt allerdings — und hier hätte die Diskussion neu anzusetzen - , wieweit der Literarhistoriker zu dem von Adorno geforderten Abbau der kommerziellen Barockideologie beitragen kann. Fraglich bleibt auch, wieweit die Problematik des Barockbegriffs für andere geschichtliche Stilkomplexe gilt. Seit langem hat man betont, Barock sei in Europa der letzte große, einheitliche Kulturstil gewesen. Und Jost Hermand regte an, man solle allenfalls vor dem „Zusammenbruch der barocken Welt um 1750", vor der Auflösung der 'geschlossenen Gesellschaften', von Stilen oder geschlossenen Epochen reden; danach gebe es nur noch Strömungen, Richtungen, Moden. 1 0 7 Auch diese Überlegung kann für den positiven Verständigungswert speziell des Barockbegriffs sprechen, ohne ein Freibrief für Spekulationen zu sein. In einem grundsätzlichen Punkt freilich stellen alle Stil- und Epochenbegriffe den Historiker vor dasselbe Dilemma. Friedrich Schlegel hat es so formuliert: „Es ist gleich tödtlich für den Geist, ein System zu haben und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beydes zu verbinden". 108 105

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Bezeichnend ist das Verfahren der großen DDR-Literaturgeschichte (oben A n m . 93). Mit dem Zeitabschnitt '17. Jahrhundert' übernimmt man zunächst eine Einteilung, die wesentlich im Zusammenhang des verhaßten Barockbegriffs aufgekommen war. D a n n wird der Barockbegriff zum Einsturz gebracht. Gleichsam als Ruinenwände läßt man jedoch die Jahre 1600 und 1700 stehen, statt konsequent zu sein und nun, der eigenen Geschichtsauffassung entsprechend, das Jahr 1648 als Richtpunkt zu wählen. Über „synchronische Analyse" des Barockzeitalters als methodisches Exempel vgl. Herbert Singer: Literatur, Wissenschaft, Bildung, in: Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. v. Jürgen Kolbe. München 1969, S. 4 5 - 5 9 (dort S. 57). Synthetisches Interpretieren (wie A n m . 14), S. 211. Athenaeum. Bd. I, 2. 1798: 'Fragmente' (Nachdr. 1924), S. 15.

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Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte *

Einen ebenso besorgten wie beschwörenden „Aufruf an die Philologie" schickt Eduard Spranger einer Rede voraus, die er am 27. September 1921 unter dem Titel Der gegenwärtige Stand der Geisteswissenschaften und die Schule auf der 53. „Versammlung Deutscher Philologen und Schulmänner" in Jena hält und die noch im darauffolgenden Jahr als selbständige Schrift erscheint. 1 Zum dritten Male, nach „Renaissance" und „Neuhumanismus", rege sich eine „Sehnsucht", ein leidenschaftlicher „Wille". „Gläubig wie den Messias erwartet die junge Generation eine innerste Wiedergeburt [...]. Man fühlt es wachsen und werden, man fühlt es pulsieren, wo man die Hände unsrer Jugend faßt. Und der Tag wird kommen, wo es wie Sturmwind hinausschlägt und über die erstaunte Welt dahinbraust. Unsere heutige Philologie weiß von diesen Vorgängen durchschnittlich nichts. Ihre Hüter werden zu den erstaunten Erwachenden gehören, wenn sie nicht anfangen zu sehen, was ringsum gärt und ringt." Schlafende „Philologie" mehr als ein Jahrzehnt nach den ersten großen Manifestationen nicht nur der Jugendbewegung, sondern vor allem der vielerlei Spielarten von „Geistesgeschichte", nach Diltheys Erlebnis-Studien, auch nach den visionären Mythographien eines Unger, Bertram und Gundolf? 2 Erklärt sich das Auffällige des Befundes lediglich aus Sprangers psychagogischer Zuspitzung der Gegenwartsdiagnose oder doch eher aus einem eng limitierten Begriff von 'Philologie'? Der gedruckte Text der Rede - Werner Jaeger gewidmet, der

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Zuerst erschienen in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925. Hrsg. v. Christoph König u. Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M . 1993, S. 201—231. Beitrag zu einem Kolloquium „Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910 bis 1925", das vom 20. bis 23. März 1991 v o m Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik im Deutschen Literaturarchiv in Marbach abgehalten wurde. Bei Teubner (Leipzig/Berlin), im U m f a n g von 57 Druckseiten (davon 5 engbedruckte Seiten Nachweise). Der „Aufruf an die Philologie" ist offenbar nur dem Druck vorangestellt. Der weiten Beachtung wegen erscheint, mit unverändertem Redetext, aber erweiterten Anmerkungen, eine zweite Auflage im Jahre 1925 (76 Druckseiten). Im folgenden wird nach der ersten Auflage zitiert. D i e hier unmittelbar sich anschließenden Zitate aus dem „ A u f r u f , S. 5. Die Hauptdaten, auf die das Symposion sich bezieht (Gelehrte, Buchtitel usw.), werden hier nur im Einzelfall angeführt.

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Wissenschaftsepochen wie Spranger selbst soeben sein Berliner Ordinariat angetreten hat 3 - ist hier durchaus unzweideutig. Er läßt erkennen, daß trotz des Jenaer Anlasses nicht einmal in erster Linie die Philologen im Sinne von Gymnasiallehrern gemeint sind, jenem Sprachgebrauch entsprechend, wie er im ausgehenden 18. Jahrhundert (namentlich im Gefolge Friedrich August Wolfs) sich herausbildete und als Residuum etwa noch im Titel des „Philologenverbandes" begegnet. 4 Es ist Spranger um den Zustand der „Geisteswissenschaften" insgesamt zu tun, vorzugsweise an den Universitäten, und erst in der Konsequenz auch um die Schulen. Es müsse ein neues „Wertleben" einziehen (die Bezugnahme auf Max Weber ist ausdrücklich), 5 auch an den neugeschaffenen Schultypen. Es gehe nicht mehr um einen Lehrplan, sondern um die „geschlossene Weltanschauung und Bildungsidee", die „natürlich nur aus dem deutschen Idealismus gewonnen werden" könnten. 6 Wieso ergeht in diesem geschichtlichen Kairos, ein Jahrzehnt nach der 'Wende' zur Geistesgeschichte, noch ein „Aufruf an die Philologie"? Sprangers weit in die Bildungs- und Wissenschaftslandschaft ausgreifendes Panorama ist bei aller programmatischen Gebundenheit dienlich als Ausgangspunkt für eine Ortsbestimmung der 'Philologie'. Er selbst differenziert - nicht immer ganz konsequent - nach „Philologie" und „Philologie im engeren Sinne". Zu letzterer rechnet er, auch für die Schule, „Struktur der Sprachen" und „Entwicklung der Sprachen", „Kritik und Geschichte der Texte", „Geschichte der literarischen Stoffe". 7 Die wahre Philologie aber sei diejenige, die sich auf ihre Ursprünge zurückbesinne, auf das Ziel, „den Menschen zu erkennen in der Fülle seiner Gestalten", mithin: „humanistische Philologie". 8 U n d sie sei aufgerufen, in orientierender Funktion innerhalb der Geisteswissenschaften an jener „Wiedergeburt" mitzuwirken, die allenthalben ersehnt werde. Für fünf Statusmomente von „Philologie" mag Sprangers Zeitresümee einstweilen als repräsentativ stehen - mit Differenzierungen und Einschränkungen, von denen noch zu reden sein wird. 1. „Philologie" ist zu Beginn der 20er Jahre

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Die Widmung lautet in beiden Auflagen: „Werner Wilhelm Jaeger in Freundschaft und Verehrung". Spranger (geb. 1882) wechselt 1920 von Leipzig, Jaeger (geb. 1888) 1921 von Kiel nach Berlin (als Nachfolger von Wilamowitz). Zur Begriffsgeschichte von 'Philologie' jetzt zusammenfassend (mit der wichtigen älteren Literatur) der einschlägige Artikel von Axel Horstmann in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. Hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Basel 1989, Sp. 5 5 2 - 5 7 2 . Spranger (wie Anm. 1), S. 40ff. (mit Nennung des Münchner Vortrags von 1919: Wissenschaft als Beruf). Ebd., S. 52. Ebd., S. 30. Ebd., S. 7.

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Zwischen Gravitation

und

Opposition

im Wissenschafts- und Schulsystem noch so fest verankert, daß ein Reformappell sich noch an sie als eine institutionalisierte Gesamtidee richten kann. 2. Sie treibt zu großen Teilen etwas, das als „engere" Philologie hinter den Idealen der Ursprünge zurückbleibt: ein Regressionsphänomen, das dem geistesgeschichtlich orientierten Gegenwartsdiagnostiker in die Richtung „positivistischer Wissenschaft" weist. 9 3. „Philologie" wird tendenziell immer noch als die Nationalsprachen übergreifend gedacht, mit deutlicher Orientierung an den Griechen, doch unter ausdrücklicher Nennung auch einer „germanischen Philologie". 10 4. Sie erscheint im Problemhorizont einer tiefgehenden, auch die Geisteswissenschaften erfassenden Sinn- und Wertekrise, die sich nach dem Weltkrieg in der „Sehnsucht", im „Wiedergeburtswillen" vor allem der „Jugend" artikuliert. 5. Programmatische Erwartungen knüpfen sich in dieser Krise an das geschichtlich herausgehobene Reformpotential einer als ganzheitlich-humanistisch verstandenen „Philologie". Die im Detail durchaus individuell getönte Bestandsaufnahme Sprangers, deren Nähe zu den Reformbestrebungen Werner Jaegers unverkennbar ist, 11 interessiert hier in erster Linie als Zeitdokument. Sie spiegelt verschiedenartige Strömungen der Geistesgeschichte — explizit gemacht durch eine eindrucksvolle Vielfalt zitierter Namen und Schriften 12 - bereits in einem weit entwickelten Stadium, und in bereits verwirrender Pluralität. 13 Und: Sie wirft mit ihren hochgespannten normativen Hoffnungen in die „Philologie" Schlaglichter auf die defizienten Modi gerade jener Disziplin, die im 19 Jahrhundert einst Leitdisziplin gewesen war. 14

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Ebd., S. 6; dort abwehrend verwendet („Es ist kein wissenschaftliches Zeitalter, dem wir entgegengehen"; für die zweite Auflage geändert in: „kein positivistisches Zeitalter"). Spranger (wie Anm. 1), S. 10. Die Beziehungen reichen weit zurück, bis zu Jaegers Basler Antrittsvorlesung von 1914 unter dem Titel Philologie und Historie, später als erste unter die Humanistischen Reden und Vorträge aufgenommen (Berlin 2 1960, S. 1—16). Spranger hat sie für die zweite Auflage 1925 noch erheblich erweitert. 'Pluralismus' tritt bezeichnenderweise um 1915 erstmals als ideologisches Schlagwort auf; vgl.: Pluralismus. Hrsg. v. Franz Nuscheier und Winfried Steffani. München 1972, S. 62-76; auch Verf.: Pluralismus! Welcher?, in: Jb. d. Dt. Schillerges. 34 (1990), S. 1-7. Zu diesem vielbehandelten Thema seien hier nur genannt: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Hrsg. v. Hellmut Flashar, Karlfried Gründer, Axel Horstmann. Göttingen 1979; Detlev Kopp und Nikolaus Wegmann: Die deutsche Philologie, die Schule und die Klassische Philologie. Zur Karriere einer Wissenschaft um 1800, in: Von der gelehrten zur disziplinaren Gemeinschaft. Hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1987 (= Sonderheft 1987 der DVjs.), S. 123-151. Zahlreiche Hinweise auch bei Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989.

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Wissenschafisepochen Im folgenden sollen vom Stadium einer bereits entwickelten und ausdifferenzierten „Geistesgeschichte" her ausgewählte Blicke auf dasjenige disziplinare Feld geworfen werden, zu dem die neuen Bewegungen zunächst und überwiegend in Opposition stehen, von dem sie sich zu emanzipieren suchen. 'Philologie' gehört, konnotiert mit den Reizvorstellungen 'Positivismus', 'Historismus', 'Spezialismus', 'Relativismus' usw., zweifellos zu den bestimmenden Kontrastfeldern der sich artikulierenden 'Geistesgeschichte'. Mit dem gewiß problematischen physikalischen Begriff der Gravitation sind hier Effekte von Einstellungskonstanten gemeint: 15 solche, die etwa an Personen, an Autoritäten geknüpft sind, jedoch auch Phänomene von Trägheit und Beharrungsvermögen, die sich mitunter quantifizieren lassen - wie Institute, Stellenpläne, Publikationsorgane, Lehrpläne, Langfristunternehmungen und dergleichen. 16 Da hierzu materialintensive empirische Studien weitgehend noch fehlen, 17 geht es mir zunächst um die Entwicklung ausgewählter Fragestellungen und um die Formulierung erster Hypothesen. Gemessen an dem Hauptthema des Symposions, ist der Blick vorzugsweise auf Querstehendes gerichtet - jedoch mit der Leithypothese, daß Attraktivität, Leistungen und Abwege der literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichte zu einem wesentlichen Teil aus der widerständigen Gravitation von 'Philologie' zu interpretieren seien.

Philologie: „mater" oder „ancilla"? Während der gesamten Zeitspanne, in der sich das Ensemble der verschiedenen geistesgeschichtlichen Richtungen in Deutschland entfaltet, ist das Bewußtsein

Hier im Sinne von „Habitus" gemeint, wie bei Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M . 1983, S. 1 2 5 - 1 5 8 (mit engem Anschluß an Panofsky). Für das 19.Jahrhundert reichhaltige Beobachtungen bei Fohrmann/Voßkamp (wie Anm. 14) und bei Weimar (wie Anm. 14). Vgl. auch: Eine Wissenschaft etabliert sich. 1 8 1 0 - 1 8 7 0 . Wissenschaftsgeschichte der Germanistik 111. Hrsg. v. Johannes Janota. Tübingen 1980; Rainer Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik. Literaturgeschichtsschreibung. Berlin (-Ost) 1981. Weitere Quellentexte in den Dokumentationen von Cramer/Wenzel (wie Anm. 18), Reiß (wie Anm. 37) undZmegaC (wie Anm. 18). Das mir Bekannte bezieht sich zumeist auf die Fachgeschichte an einzelnen Universitäten. Die Tübinger Dissertation von Ursula Burkhardt: Germanistik in Südwestdeutschland. Die Geschichte einer Wissenschaft des 19. Jahrhunderts an den Universitäten Tübingen, Heidelberg und Freiburg. Tübingen 1976, reicht nur mit ein paar Ausblicken ins 20. Jahrhundert hinein. Zur schwierigen Zugänglichkeit regionaler, lokaler Studien und zum Mangel an Materialerschließungen insgesamt vgl. Johannes Janota: Geschichte der Germanistik als bibliographisches Problem, in: Beiträge zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Hans-Henrik Krummacher. Boppard 1981, S. 2 1 1 - 2 2 2 (die Situation hat sich freilich mittlerweile partiell gebessert).

180

Zwischen Gravitation und Opposition

lebendig, daß alle wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache und Literatur sich historisch aus der 'Philologie' herleite. Die mehr oder weniger ausdrücklich beigezogenen Deszendenzmodelle sind in der Weise, wie bestimmte Entwicklungsstadien oder auch Autoritäten der 'Philologie'-Geschichte akzentuiert werden, höchst aussagekräftig fiir das jeweilige methodologische Selbstverständnis. Das Spektrum der wissenschaftsgeschichtlichen Anknüpfungen von „Philologie" bewegt sich dabei zwischen zwei Polen. Die der eigenen Gegenwart nächste und durch Personen noch unmittelbar in sie hineinwirkende Kontrast-Größe begegnet unter dem leicht handhabbaren Etikett der 'Scherer-Schule'. Insofern diese als 'Philologie' verstanden wird, werden ihr zugeordnet: Textkritik, Edition, Quellen- und Einflußforschung, Stoffgeschichte, Entstehungsgeschichte, im einzelnen noch Metrik und Poetik. Gelegentlich schließt sich noch eine historische Perspektivierung an: das Verpflichtetsein der 'Scherer-Schule' gegenüber den 'philologischen' Gründungsvätern Karl Lachmann und Moriz Haupt. 18 Der andere, polare Idealtypus von 'Philologie', derjenige, dem sich geistesgeschichtliche Bestrebungen am ehesten verwandt fühlen, wird naturgemäß mit Friedrich August Wolf und August Boeckh identifiziert. Mit Boeckh verbinden sich dabei regelmäßig die Formel vom „Erkennen des Erkannten" und die Fassung der Philologie als Logos-, d. h. „Geist"-Wissenschaft.19 Und zusätzlich wird mit Vorliebe auf Schelling verwiesen, der in seinen Vorlesungen

über die Methode des academischen

Studiums (1803) den „Philologen" zusam-

men mit dem „Künstler" und dem „Philosophen" auf die höchste Stufe gestellt habe. Unter dem gemeinsamen Stichwort der „Philologie" werden hier zwei elementare Akte geistesgeschichtlicher Selbstvergewisserung erkennbar, die bereits in Sprangers Positionsbestimmung von 1921 begegnen: die aktuelle Abgrenzung gegen eine immer noch mächtige „engere" Philologie und die traditionale Anknüpfung an eine immer wieder überdeckte ursprüngliche, Logos-zentrierte Idee von Philologie. Daß damit weder einem Scherer noch seinen 'Schülern' und 'Enkeln' Gerechtigkeit widerfahren würde, ist vor allem in der Frühzeit der So etwa bei Julius Petersen: Literaturgeschichte und Philologie, in: G R M 5 (1913), S. 625— 640; Oskar Walzel: Erich Schmidt, in: Zeitschr. f. d. dt. Unter. 27 (1913), S. 3 8 5 - 3 9 7 ; und zahlreiche weitere Programm- oder Würdigungsreden aus jenen Jahren. Vgl. noch Karl Vietor: Deutsche Literaturgeschichte als Geistesgeschichte, in: Publications of the Modern Language Association o f America 3 (1945), S. 898—916, im folgenden zit. nach: Methoden der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Viktor Zmegai. Frankfurt a. M. 1971, S. 178—198 (eine Einzelpublikation des Rückblicks erschien in Bern 1967, wiederabgedruckt in: Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte. Hrsg. v. Thomas Cramer u. Horst Wenzel. München 1975, S. 2 8 5 - 3 1 5 ) . August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Hrsg. v. Emst Bratuschek. Leipzig 1877, S. 3ff., bes. S. 1 Off.

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Wissenschaftsepochen Geistesgeschichte auch einigen der Programmatiker bewußt - die ja zumeist in eben dieser 'Schule' aufgewachsen sind. So wirbt Julius Petersen schon 1913 in Literaturgeschichte und Philologie (dem ersten Teil seiner Basler Antrittsvorlesung) um angemessenere Würdigung des faktisch Geleisteten: „wahrscheinlich werden spätere Zeiten die große Arbeitsleistung der äußeren Stofibewältigung und die Erziehung zur Gewissenhaftigkeit durch die Scherersche Schule dankbarer anerkennen als die Gegenwart, die wie ein unter pedantischem Schulzwang seufzender Jüngling fast nur die Schattenseiten bemerkt".20 Und im gleichen Jahr plädiert immerhin auch ein Oskar Walzel, mit Blick auf seinen soeben verstorbenen Lehrer Erich Schmidt, für mehr Augenmaß — in einer gegenüber der „Philologie" arrogant und nachlässig gewordenen Gegenwart: „In unserem Zeitalter der überhetzten und darum unzuverlässigen Gesamtausgaben und der ebenso geschmackvoll ausgestatteten wie wissenschaftlich unbrauchbaren Neudrucke, in einer Zeit zugleich, in der von Banausen philologischer Apparat und erklärende Anmerkungen als Hemmnisse künstlerischen Verständnisses bezeichnet werden, wahrte Schmidt energisch und ohne Anspruch auf den Beifall der großen Menge einen wissenschaftlichen Brauch, dessen tiefe innere Berechtigung dem Einsichtigen nicht noch nachgewiesen werden muß."21 In derlei persönlichen Verteidigungen von „Philologie" durch Literaturwissenschaftler,22 die sich selbst bereits an geistesgeschichtlichen Vorgaben zu orientieren beginnen, treffen wir nicht nur auf individuelle Dankbarkeit gegenüber dem eigenen Herkommen. Es geht auch immer noch um retrospektive oder gar aktuelle Rechtfertigungen der - vor allem neugermanistischen 'Literaturgeschichte', die sich selbst gegen Verdächtigungen der Unseriosität, ja der Nichtwissenschaftlichkeit ('Feuilletonismus', 'Tageskritik' etc.) hatte durchsetzen müssen oder noch durchsetzen muß. In diesem Sinne prädiziert Petersen gleich vorweg die Literaturgeschichte, deren „Mündigkeit keineswegs allgemein anerkannt" sei,23 als „Tochter der Philologie". Vor allem aber: In der gegenwartsbezogenen Würdigung 'philologischer' Leistungen spiegelt sich ein Stück institutionellen literaturwissenschaftlichen Alltags. Noch sind die Fundamente, auf denen sich die neuen geistesgeschichtlichen 'Synthesen' zu erheben beginnen, nicht vollständig gelegt — oder gerade erst abgeschlossen. Hierzu nur wenige exemplarische Hinweise aus der Lessingund der Goetheforschung. Karl Lachmanns vielgerühmte, prototypische kriti-

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Petersen (wie Anm. 18), S. 628. Walzel (wie Anm. 18), S. 391. Auf Ernst Elsters „Literaturwissenschaft" (Prinzipien Petersen (wie Anm. 18), S. 625.

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von 1897) gehe ich hier nicht ein.

Zwischen Gravitation und Opposition sehe Lessing-Edition (1838-40) hat sich als erheblich revisionsbedürftig erwiesen, und ebendiese Revision, durch Franz Muncker in Angriff genommen (Bd. 1: 1886), wird erst 1924 abgeschlossen sein.24 Eine auch nur halbwegs befriedigend kommentierte Lessing-Ausgabe wird, unter der Federführung von Julius Petersen und Waldemar von Olshausen, erst 1925 zu erscheinen beginnen. Erich Schmidts monumentale, alles Bisherige in sich 'aufhebende' Biographie des nationalen 'Helden' Lessing ist noch relativ jungen Datums (1884—92, in 3. Auflage 1909, dann in abschließender - postumer - 4. Auflage 1929). Die Weimarer Goethe-Ausgabe,25 durch Michael Bernays' wegweisende Studien von 1866 in ihrer textkritischen Notwendigkeit unabweisbar geworden,26 und dann durch die Öffnung des Goethe-Archivs 1885 ermöglicht, hat 1887 zu erscheinen begonnen. Erich Schmidts sensationelle Präsentation des Ur-Faust hat im gleichen Jahr den 'Nutzen' philologischer Quellenarbeit schlagend vor Augen gefuhrt. Wilhelm Meisters theatralische Sendung, nach der Schultheßschen Abschrift, ist in der Ausgabe von Harry Maync erst 1911 ans Licht getreten. Es ließe sich, auch über den Bereich der Lessing- und der Goethephilologie hinaus, noch einige Zeit mit solchen Daten fortfahren. Alles dies ereignet sich im nahen Vorfeld der Geistesgeschichte, reicht zum Teil noch weit in ihre Epoche hinein. Solcherart Manifestationen von 'Philologie' stehen zumindest für zweierlei. Sie sind auch Resultate eines institutionellen Beharrungsvermögens, einer Gravitation im erläuterten Sinne: einer Notwendigkeit, Begonnenes nach dem einmal eingeschlagenen 'philologischen' Ansatz zu Ende zu führen. Vor allem als Gemeinschaftsunternehmungen stellen sie Produkte einer gewissen Selbstläufigkeit dar.27 Aber sie sind nicht zuletzt Demonstration eindrucksvoller Kontinuität, plausibler Fortsetzung. Für diejenigen, die das 'philologisch' fundierte Konzept der 'Literaturgeschichte' ins 20. Jahrhundert weitertragen, sind zumal die editorischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts unbestreitbar, ja nicht nur für sie. Munckers Neubearbeitung von Lachmanns Ausgabe der Lessingschen Sämmtlichen Schrifien bedeutet zugleich eine glanzvolle Bestätigung der eigenen Leistungsfähigkeit, ja eines Fortschritts über den bewunderten Gründungsvater hinaus.28 Die 'Tochter' erweist sich hier als der 'Mutter' in unbestreitbarer Weise würdig. 24

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So jedenfalls der Registerband, das meiste liegt um 1910 bereits vor. Weimar (wie Anm.14), S.448ff.; vgl. auch Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. I: 1 7 7 3 - 1 9 1 8 . München 1980, S. 21 Iff. Ebd. Zu solchen Phänomenen etwa Gerald Graff: Professing Literature. An Institutional History. Chicago 1987; The Academic Profession. National, Disciplinary, and Institutional Settings. Ed. by Burton R. Clark. Berkeley 1987. Vgl. schon die Vorrede zum ersten Band. Stuttgart 1886, S. V - X V I .

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Wissenschafisepochen Natürlich erreicht nicht alles, was da unter dem Etikett der 'deutschen Philologie'29 über Jahrzehnte hin erarbeitet wird, auch nur annähernd solchen Rang — nicht bei den zahlreichen edierten und analysierten poetae minores, aber auch nicht in der Lessing- oder Goetheforschung. Im Vorwort zum ersten Band des Goethe-Jahrbuchs (1880) zitiert Ludwig Geiger seinen eigenen Aufruf vom Vorjahr: „Dieses Jahrbuch hat die Aufgabe, ein Repertorium der Goethe-Literatur zu werden, welches das bisher sehr zerstreute und nicht leicht zugängliche Material dem Gebildeten in einer leicht zugänglichen Sammlung vereinigt darbieten" soll.30 Ein solchermaßen 'inspirierendes' Programm bleibt dann, mit nur leichten Modifikationen, für das Jahrbuch charakteristisch, das der unermüdliche Geiger immerhin bis 1913 herausgibt (seit 1886 als Organ der Goethe-Gesellschaft).31 Immer mehr Stimmen — nicht nur aus der heraufkommenden Geistesgeschichte - mokieren sich über die 'positivistische', kaum Wertakzente setzende Praxis dieses vielgelesenen Organs. Aber es prägt weiterhin einen repräsentativen Teil der 'Philologie' im Kaiserreich. Als August Sauer 1894 sein Programm für Euphorion. Zeitschriftfiir Literatturgeschichte formuliert, öffnet er sich zwar ostentativ „allen Richtungen" der Literaturgeschichte, ja ausdrücklich „zur Geschichte der Theologie und Philosophie, zur Geschichte der Musik und der bildenden Kunst" hin, sogar zur „modernen deutschen Dichtung".32 Doch der Zukunft der Literatur will man „nutzen", „indem wir der Vergangenheit treu und demütig dienen".33 Dieser Gestus des Dienens, der gewiß in der Geschichte der Wissenschaften vielfältig verankert ist, erhält für die Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte eine spezifische Funktion. Jüngste Untersuchungen34 haben herausgearbeitet, wie bei der Etablierung insbesondere der Deutschen Philologie im 19. Jahrhundert ein neuer Anspruch auf diszipliniertes persönliches Ethos des Gelehrten formuliert wird, eines, das die sparsame, enthaltsame Lebensführung ausdrücklich einschließt. Die Repräsentanten der sich emanzipierenden 'Literaturgeschichte', namentlich Wilhelm Scherer und Erich Schmidt, verkörpern 29

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Dazu Holger Dainat und Rainer Kolk: Geselliges Arbeiten. Bedingungen und Strukturen der Kommunikation in den Anfängen der Deutschen Philologie, in: Fohrmann/Voßkamp (wie Anm. 14), S. 7-41; auch Weimar (wie Anm. 14), S. 2 1 0 - 2 5 3 , und den Überblick bei Josef Dünninger: Geschichte der deutschen Philologie, in: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. v. Wolfgang Stammler. Bd. I. Berlin 2 1957, Sp. 8 3 - 2 2 2 ; bes. Sp. 1 4 8 - 1 9 6 . S.III. Hierzu der Beitrag von Mandelkow in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (wie Anm. *), S. 3 4 0 - 3 5 5 . S. IV. S.V. So vor allem Rainer Kolk: Berlin oder Leipzig. Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im 'Nibelungenstreit'. Tübingen 1990; auch Weimar (wie Anm. 14), passim.

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Zwischen Gravitation und Opposition nun zwar bereits einen modernen, weltoffeneren, ja „geselligen" Gelehrtentypus,35 der das Fach auch nach außen hin attraktiver macht. Doch die Kernsätze des alten Philologie-Ideals werden von ihnen, mit oft ehrwürdigen Formulierungen,36 auch in die neue Zeit hineingetragen. Philologie als 'Dienerin, der Philologe als 'Diener' - die Funktionsgeschichte dieses Vorstellungskomplexes unter der sich etablierenden Geistesgeschichte verdiente eine nähere Analyse. Schon 1909 redet Ernst Elster, der Propagator einer neuen, strengen „Literaturwissenschaft" gegen einen attraktiven Dilettantismus,37 der „Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner" ins Gewissen: mit der Befürchtung, die Neugermanisten könnten „die strenge Zucht der philologischen Arbeit" vergessen.38 Oskar Walzeis große Würdigung seines Lehrers Erich Schmidt (1913), 39 mit der Parallelisierung von Philologenpflicht und „Staatsdienerpflicht",40 ist bereits gegen die massive Mißachtung der Philologie als „ancilla" gerichtet; auch Petersen warnt im gleichen Jahr davor.41 Konrad Burdach, im letzten Kriegsjahr, dürfte ebenso die gehetzte wissenschaftliche Uberproduktion des Vorkriegsjahrzehnts wie die ersten 'Helden-Visionen aus dem Umkreis Georges im Blick haben, wenn er seinesgleichen an die Verpflichtung für das „Bleibende" erinnert: „Nur wenn der Umfang und die Reinheit der Induktion, nur wenn die selbständige und originale Quellenforschung, nur wenn der Fleiß, den keine Mühe bleichet, Schritt hält mit dem Gang der Spekulation, kann etwas Dauerndes geleistet werden."42 Diese generalisierende Selbstdefinition eines Habitus43 befindet sich bereits erkennbar in der Opposition, wenn nicht gar schon in der Defensive. Was für Scherer, Minor, Elster, Schmidt oder Burdach nahezu unbefragt im Zentrum steht - und bis auf die Erzväter Lachmann und Haupt, auch Jacob Grimm, zurückgeführt werden kann —, wird im Zeichen der Geistesgeschichte für manche mehr und mehr zur lästigen Pflicht oder gar zum Lippenbekenntnis. Gerne zitiert wird der Satz aus dem viele „Richtungen" einladenden Vorwort zum 1. Jahrgang (1923) der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte·. „Für Arbeiten aller Methoden aber wird philologische Strenge 35 36

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Kolk (wie Anm.34), S. 8 1 - 8 6 . Vgl. etwa Scherers „Pflichten"-Katalog aus einer Vorlesung, abgedruckt in: Materialien zur Ideologiegeschichte der deutschen Wissenschaft. Bd. 1: Von Scherer bis zum Ersten Weltkrieg. Hrsg. v. Gunter Reiß. Tübingen 1973, S. 4 7 - 5 0 . Zit. nach dem Abdruck bei Reiß; ebd., S. 72. Ebd. Vgl.Anm. 18. Walzel (wie Anm.18), S. 386. Vgl. A n m . 1 8 . Deutsche Renaissance. Berlin 1918, S. IV. Im Sinne von Bourdieu (Panofsky, vgl. Anm. 15) und auch Thomas S. Kuhn.

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Wissenschaftsepochen und Gewissenhaftigkeit selbstverständliche Voraussetzung bleiben müssen." 44 Das mag von den Herausgebern Paul Kluckhohn und Erich Rothacker zuversichtlich so gemeint sein („wird [...] müssen"), im 1. Jahrgang selbst gilt es faktisch kaum für die Beiträge etwa von Herbert Cysarz (über „deutschen Literatur-Barock") oder von Friedrich Gundolf (über Grimmelshausen). 45 Solche Eindrücke, die durch breitere Detailanalyse zu überprüfen wären, bestätigen sich indirekt durch emphatische Danksagungen von Geistesgeschichtlern wie Emil Ermatinger (1925) an die Errungenschaften der SchererSchule. 46 Bitterer, ja oppositioneller klingt es dann schon bei Harry Maync (1927): „Manche der Jüngeren machen der Philologie nur noch der Form halber eine kühle Verbeugung." 47 Philologie als 'Mutter' der 'Literaturgeschichte', Philologie als 'Dienerin' am Wort, Philologie als Voraussetzung des 'Dauernden', Philologie als wenig geschätzte 'Magd' in der Epoche der Geistesgeschichte: In diesem Spektrum bewegen sich zumindest die Diagnosen und Selbstaussagen. Einflußreiche Gelehrte wie Oskar Walzel und Julius Petersen treten bei aller Hingabe an die neuen 'Synthesen' wiederholt emphatisch für die Respektierung des 'Philologischen' ein, dem sie selbst entstammen. Schon Jacob Grimm sprach 1812 vom „philologischen Fundament". 4 8 Diese andere Zentralmetapher behauptet sich auch durch die Epoche der Geistesgeschichte hindurch. Welche Typen von Vermittlung mit dem 'Fundament' die einzelnen Geistesgeschichtler praktizieren, wäre zu untersuchen, d. h. auch: welche Typen oppositioneller Verhaltensweisen sich herausbilden. Als das resonanzreichste und meistdiskutierte Exempel der neuen antipositivistischen und antiphilologistischen Strömungen erscheint, Gundolfs Goethe (1916), ist in diesem Buch ostentativ - und das gilt noch für die 13. Auflage 1930 - auf alle Nachweise verzichtet. Das 'philologische Fundament' bleibt allenfalls ahnbar. Weder die 'Mutter' noch die 'Magd' darf sich mehr sehen lassen.

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S. V. Beiträge dieser Art, besonders von Cysarz, werden dann bald auch attackiert mit Formeln wie „barocke Barockforschung" und dergleichen. Die deutsche Literaturwissenschaft in der geistigen Bewegung der Gegenwart, in: Zs. f. Deutschkunde 39 (1925), S. 2 4 1 - 2 6 1 ; hier S. 2 5 4 . Die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft. Bern 1927 (Berner Rektoratsrede vom 13. November 1926), S. 32. Zit. nach Dainat und Kolk (wie Anm.29), S. 33.

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Zwischen Gravitation und Opposition Philologie u n d Klassische Philologie Bei allen, die sich ungefähr in der Zeitspanne zwischen 1910 und 1925 wissenschaftlich mit der deutschen Literatur befassen - und nicht nur bei ihnen - , dürfte das Bewußtsein lebendig sein, daß die eigene Disziplin gegenüber der Klassischen Philologie (oder auch Altphilologie) 49 in einem besonderen, unaustauschbaren Verhältnis steht. Dieses Verhältnis ist nicht nur genealogischer, sondern aktuell-kulturpädagogischer Art. Sprangers zitierte Rede von 1921 deutet gar eine partielle Einheit an. 50 In der historischen Linie von Friedrich August Wolf und August Boeckh über Karl Lachmann bis hin zu Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (der 1931 starb) stellt sich die „Klassische Philologie", oder schlicht „Philologie", 51 als Frucht einer Wissenschaftsgeschichte dar, in der das 'deutsche' Ubergewicht unabweisbar scheint. Der 'deutschen Philologie' ist somit, unter nationalem Blickwinkel betrachtet, keine näher als die Klassische Philologie: als die Mutter, an der sich die Tochter nach wie vor messen lassen muß. Auf die Klassische Philologie als Leitdisziplin und auf die allmähliche Emanzipation der 'Deutschen Philologie' schon während des 19. Jahrhunderts ist in neueren Darstellungen wiederholt abgehoben worden. 52 Der Prozeß ist, als die Geistesgeschichte auf den Plan tritt, keineswegs abgeschlossen. Seine Ursachen sind höchst heterogen. Schon um die Jahrhundertmitte beobachtet Karl Müllenhoff aus der Nachbarschaft eine gewisse „Stockung", einen „Dogmatismus der klassischen Philologie". 53 Die Homerphilologie etwa, als zentrales Paradigma, verrennt sich immer mehr in eine Spezialisierung, die ihre Resultate kaum noch nach außen, oder gar mit dem 'Leben', zu vermitteln vermag (es sind Tendenzen, die dann Nietzsche in seine massiven Attacken gegen die Philologie einschließen wird). Seit der Reichsgründung wird der Anspruch auf 'bildende' Leitfunktion der Altphilologie zusätzlich durch das neue Gewicht des Muttersprachlich-Nationalen geschwächt. Schließlich kann vor allem die 'Literaturgeschichte' aufgrund ihrer 'modernen' Gegenstände und deren beson-

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Hierzu generell Gerhard Jäger: Einführung in die Klassische Philologie. M ü n c h e n 1975, bes. S. 11-31. Und zwar nicht in erster Linie der Adressaten wegen, die als „Philologen" im mehrfachen Sinne angesprochen werden können; Spranger redet ausdrücklich im Singular von „Philologie". Die stellvertretende Kurzform wird von einzelnen Instituten, Publikationsorganen etc. bis heute mit absichtsvollem Stolz verwendet. Vgl. die in Anm. 14 genannten Arbeiten. Die deutsche Philologie, die Schule und die klassische Philologie (1854), zit. nach: Eine Wissenschaft etabliert sich (wie Anm. 16), S. 292f.

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Wissenschaftsepochen derer Uberlieferungsverhältnisse die Notwendigkeit einer eigenständigen germanistischen Methodik plausibel machen. 54 Dies alles mag zu einem Teil erklären, warum die geistesgeschichtliche Wende, jedenfalls soweit sie von germanistischer Seite mitbefördert wird, sich gegenüber der Klassischen Philologie zunächst überwiegend in Distanz hält. Bis in das Jahr 1900 hinein hat in Deutschland noch prinzipiell jeder Abiturient Griechisch gelernt, freilich wird der Philologismus des Professor Raat aus Heinrich Manns Roman (1905) nicht ganz untypisch für Dekadenzerscheinungen und reale Funktionsverluste des humanistischen Unterrichts sein. 55 Das griechischlateinische Fundament wird zwar in den Schriften der Geistesgeschichtler immer wieder manifest — bei der exemplarischen Behandlung einzelner Textstellen, bei Motivgeschichtlichem, bei antiken Philosophemen u. dgl. —, aber das Verhältnis zur Klassischen Philologie als dem jahrzehntelang dominierenden Fach ist nicht durchwegs innig. Am engsten ist es noch für längere Zeit in der 'älteren' deutschen Philologie (nicht zuletzt wegen der ähnlicheren textkritischen und sachphilologischen Probleme), während Ernst Elster schon 1907 im Hinblick auf „die strenge Zucht der philologischen Arbeit" 56 die Gefahr eines Abdriftens der 'neueren Literaturwissenschaft vor Augen sieht. Manches spricht also dafür, daß den Geistesgeschichtlern, ob als Vertretern der Form- und Stiltypologie, der Problemgeschichte oder der Epochensynthesen, die Klassische Philologie in erster Linie als Kontrastgröße, ja als ein überkommenes Gravitationsphänomen erscheinen mußte. Gleichwohl gibt es erkennbare Anknüpfungen, denen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte. Es gibt zunächst die prinzipielle Hintergehbarkeit des vorgefundenen philologischen 'Positivismus' in seinen verschiedenen Spielarten. Sowohl Petersen als auch Unger und andere weisen wiederholt daraufhin, daß in den ersten großen Konzeptionen der modernen 'Philologie', bei Wolf, Boeckh und den Schlegels, der Zusammenhang mit der 'Philosophie' noch eng gewesen sei. Insbesondere Petersen nimmt die Tatsache, daß sich die Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert abgespalten habe, als schlagenden Beweis für eine sukzessive Verengung der „Philologie". 57 Zwar sei sie, als „wissenschaftliche Ergründung des gesamten Geisteslebens", von Wolf und Boeckh „immer nur im Hinblick auf das klassi-

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Weimar (wie Anm. 14), S. 319—346 (dort auch des näheren zur „Institutionalisierung") . Vgl. die Auseinandersetzung über 'Humanismus' und 'Germanismus' um die Jahrhundertwende: Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfangen bis 1945. München 1973, S. 517ff. Zit. nach Reiß (wie Anm. 36), Bd. 1, S. 72. Petersen (wie Anm. 18), S. 625.

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Zwischen Gravitation und Opposition sehe Altertum" konzipiert worden. Aber der „Idee der Romantik" nach sei sie auch auf andere Gebiete auszudehnen. 5 8 Dieser legitimatorische Rückgriff auf die idealistischen Ursprünge der Klassischen Philologie begegnet bei Geistesgeschichtlern noch bis in die zweite Hälfte der 20er Jahre hinein, etwa in Harry Mayncs Berner Rektoratsrede von 1926 5 9 und gleich mit einem ganzen Bündel von Spielarten in Emil Ermatingers Sammelband Philosophie der Literaturwissenschaft

von 1930. 6 0 Für die gro-

ßen Programmschriften um 1910 freilich bedeutet dieses ostentative Sichbeziehen auf die Anfänge auch, daß der Status der zeitgenössischen Klassischen Philologie ähnlich defizitär eingeschätzt wird wie derjenige der dominanten 'deutschen Philologie': von 'Historismus', 'Positivismus' und 'Relativismus' eingeengt. Erstaunlich ist dabei indes, wie wenig von den geistesgeschichtlichen Programmatikern ein entschieden produktives, ins 'Weite' zielendes Erbe des 19. Jahrhunderts aufgenommen wird: die charakteristisch 'altertumswissenschaftliche' Einbindung der Klassischen Philologie. 61 Daß der „eine Geist" in seinen verschiedenen kulturellen Manifestationen wie vor allem Dichtung, Philosophie und Religion zu erforschen sei, das „einzelne Geistesgebiet" als „Auswirkung des Gesamtgeistes der jeweiligen Kultureinheit", 6 2 gehört ja zu den zentralen Uberzeugungssätzen, aus denen sich die immer neuen 'Synthesen' legitimieren. In der Verklammerung von Dichtungsgeschichte, Philosophiegeschichte und Religionsgeschichte präsentiert sich kein Klassischer Philologe eindrücklicher als Wilamowitz, der noch weit in die 20er Jahre an der Berliner Universität lehrt. 63 Bietet er 'Synthese' oder nicht vielmehr einzigartige, 'verlebendigende' Zusammenschau des Vielen? Als Geistesgeschichte sich zu formieren beginnt, ist Altertumswissenschaft gerade in ein auch international neues Stadium getreten. Die 90er Jahre haben den Beginn der großen Papyrusfunde in Ägypten gebracht, mit vielfältigen literarischen Texten, aber vor allem solchen der Wirtschafts- und der Religionsge-

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Ebd., S. 6 2 7 . Die Entwicklung der deutschen Literaturwissenschaft (wie A n m . 47), S. 14 u. ö. Berlin 1930. Vgl. besonders die Einführung von H u g h Lloyd-Jones, in: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: History o f Classical Scholarship. Ed. with an Introduction and Notes by H u g h LloydJones, Baltimore 1982, S . V - X X X I I ; Jäger ( w i e A n m . 4 9 ) , S. 1 4 8 - 1 5 1 . So Rudolf Unger: Literaturgeschichte und Geistesgeschichte, in: D V j s 4 (1926), S. 1 7 7 - 1 9 2 ; h i e r S . 181 und 187. Z u seiner wissenschaftsgeschichtlichen Stellung mehrere Beiträge in: Wilamowitz nach 50 Jahren. Hrsg. v. William M . Calder III, Hellmut Flashar u. Theodor Lindken. Darmstadt 1985.

189

Wissemchajtsepochen schichte. 64 Um Erschließung und Publikation archäologischer Funde ist eine aufwendige Konkurrenz zwischen den europäischen Nationen (und den Amerikanern) entbrannt. Gelehrte wie Theodor Mommsen, Eduard Meyer, Hermann Usener und Wilamowitz stellen großorganisatorisch die Altertumswissenschaft auf neue Fundamente. 1893 erscheint der erste Band der erschöpfenden Real-Encyclopädie von Pauly und Wissowa. Den Geistesgeschichtlern, die auf'Kultureinheit' eingeschworen sind, müssen derlei Großunternehmungen eher einschüchternd erscheinen, respective: als gigantische neue Varianten des Positivismus. Für einen Vertreter der Neueren deutschen Literaturwissenschaft ist Analoges weder leistbar noch methodologisch wünschenswert. Auch unter den Klassischen Philologen befindet sich kaum mehr einer - Wilamowitz vielleicht ausgenommen - , der die Fülle des neuen Materials 'altertumswissenschaftlich' überblickte, geschweige denn philologisch integrierte (auch Wilamowitz 'beherrscht' die Masse der publizierten Inschriften nicht mehr, im Gegensatz etwa zu seinem Schwiegervater M o m m sen). Eduard Spranger redet 1921, von außen, über die neuen Papyri und Inschriften eher reserviert und postuliert die „Einheit" der „Philologie" aus der Struktur des „fragenden Menschen". 6 5 Unter den neuphilologischen Richtungen, die sich der Fülle der 'Kultur'-Erscheinungen in ihrer prägenden Bedeutung für die Literatur tatsächlich stellen (wie es etwa in der Erforschung Homers, der attischen Tragödie oder der augusteischen Dichtung geschieht), 66 ist allenfalls die literatursoziologische „Geschmacks"-Forschung eines Levin L. Schücking zu nennen. 6 7 Aber nüchtern betrachtet, bleibt sie einstweilen marginal. Die 'altertumswissenschaftliche' Herausforderung ist von der so emphatisch auf'Kultureinheit' pochenden Geistesgeschichte nicht aufgenommen worden. Gleichwohl sind aus der Mitte der Klassischen Philologie Reformansätze hervorgegangen, die denen der Geistesgeschichte ähneln, wenn man sie ihr nach ihren Hauptzügen nicht sogar zurechnen will. In jenen 'Wendejahren' 1911 bis 1914, in denen sich allenthalben die geistesgeschichtlichen Neukonzepte drängen, mit der Begründung eines Deutschen Germanistenverbandes

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Übersicht bei Friedrich Pfister: Zeittafel für das klassische Altertum und seine Erforschung. Würzburg 1947, S. 89ff.; siehe auch die Einführung von Lloyd-Jones (wie Anm. 61). Spranger (wie Anm. 1), S. 9. Einige Beispiele und Namen bei Jäger (wie Anm. 49), S. 130-144; vgl. auch S. 148-151. Es wird oft vergessen, daß sie zeitgleich mit den Programmen zur Problemgeschichte, zur Stiltypologie usw. als Konzept formuliert wird, nicht erst mit der bekannten Welle der 'Literatursoziologie' Ende der 20er Jahre; s. Levin L. Schücking: Literaturgeschichte und Geschmacksgeschichte, in: G R M 5 (1913), S. 561-577.

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Zwischen Gravitation und

Opposition

und dem Erscheinen des ersten Bandes von Nadlers Literaturgeschichte (1912), mit den Programmreden und -Schriften von Petersen, Unger, Walzel und anderen sowie mit der Präsentation der „Geschmacksgeschichte" durch Schücking (1913), hält der 26jährige Klassische Philologe Werner Jaeger seine Basler Antrittsvorlesung über Philologie und Historie (1914). 68 Emphatisch plädiert er, wie einst August Wilhelm Schlegel (auf den er jedoch nicht Bezug nimmt), für eine Trennung der „Philologie", als der „Liebe und Lust zum Logos und zu seinen schöpferischen Werken",69 von der „Historie", die sich wesentlich dem „Vergangenen" als dem „Geschehenen" zu widmen habe. Der antihistoristische Impuls, der bereits an Sprangers Jenaer Rede von 1921 erkennbar wird und sich schließlich in den 'Dritten Humanismus' unter Führung Werner Jaegers hinein fortsetzt, kommt aus dem Zentrum der klassischen 'Philologie'. Mit Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles (1912) hat Jaeger sein wissenschaftliches Renommee begründet, mit einer klassisch genetischen Fragestellung also, aber bereits unter Zentrierung auf die „innere Form", auf den „Geist" der Metaphysik und seine „wirkende", „bildende" Potenz: ein Ansatz, der sich zwei Jahrzehnte später in der philologischkulturpädagogischen Paideia (1934ff.) systematisch entfaltet hat. Bezeichnenderweise hat Jaeger, der spätere Berliner Nachfolger Wilamowitzens (der Emeritus hat noch Jahre neben dem vier Jahrzehnte Jüngeren gelesen), die positivistisch-'philologische' Verpflichtung aktiv ernstgenommen, mit bedeutenden Editionen nicht nur des Aristoteles (die Metaphysik noch 1957!), sondern auch des Nemesios und des Gregor von Nyssa. 'Philologie', sogar als Editionsphilologie, und ausgreifende humanistische Kulturpädagogik — das läßt sich plausibel aus den idealistischen Ursprüngen der Klassischen Philologie und aus ihrer langen 'altertumswissenschaftlichen' Tradition interpretieren. Unter neuphilologischen Geistesgeschichtlern ist eine Parallele kaum auszumachen. Oskar Walzel hat seine editorische Tätigkeit im wesentlichen vor dem Ersten Weltkrieg abgeschlossen, danach ist er fast ganz durch seine 'Synthesen' bestimmt.70 Diejenigen Bände der Lessing-Ausgabe (1925-1935), die Julius Petersen selbst bearbeitet hat, enthalten schwungvollkenntnisreiche Einführungen und magere, positivistische Kommentare, vom philologischen Niveau eines Werner Jaeger - oder Eduard Norden oder Richard Heinze — weit entfernt.

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Vgl. Anm. 11. Humanistische Reden und Vorträge (wie Anm. 11), S. 16. Zu diesen 'Synthese'-Versuchen Rosenberg (wie Anm. 16), S. 2 0 2 - 2 2 5 .

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Wissenschaftsepochen Die Beispiele sind pointierend ausgewählt und sollen lediglich illustrieren, wie sich altertumswissenschaftliche 'Philologie' und neugermanistische 'Geistesgeschichte' denn doch auseinanderentwickelt haben, bei allem Bekenntnis zum 'philologischen Fundament'. Freilich beginnen auch große Teile der Klassischen Philologie sich in Opposition gegen die 'modernistische' Geistesgeschichte - neopositivistisch - abzukapseln. In der geistesgeschichtlichen Methodendiskussion sind Klassische Philologen kaum noch gefragt. Ermatingers repräsentativer Sammelband Philosophie der Literaturwissenschaft von 1930 enthält keinen Beitrag aus jener 'Ecke', dafür solche über „Psychologie" (Carl Gustav Jung), „Weltanschauungslehre" (Max Wundt) und „Volkstum" (Hermann Gumbel). Trotz aller geistesgeschichtlichen Reformversuche im Umkreis vor allem Werner Jaegers: Die Gravitationswirkung der großen philologisch-positivistischen Tradition des 19. Jahrhunderts, verknüpft mit dem neuen, Kräfte bindenden 'Materialschub' unmittelbar vor Einsetzen der 'Geistesgeschichte', nicht zuletzt der Sonderstolz der deutschen Altertumswissenschaft haben dazu beigetragen, daß die Klassische Philologie noch vor der braunen Machtübernahme an geistesgeschichtlichem Reformpotential verlor.71 War dieser Weg der einstigen Leitdisziplin zwangsläufig?

Oppositionsfronten In der Geschichte der literaturwissenschaftlichen Deutschen Philologie stellt sich die Bewegung der Geistesgeschichte, bei aller inneren Differenziertheit, von Anfang an als Oppositionsbewegung dar. Als Referenzkomplexe werden auch von den Programmatikern bekanntermaßen immer wieder genannt: Historismus, Positivismus, Biographismus, Relativismus, Spezialismus. Wer opponiert hier gegen wen? Und jeweils in welchem Stadium der geistesgeschichtlichen Bewegung? Die zwei elementaren Fragen sollen lediglich dazu dienen, im Hinblick auf 'Philologie' an einige notwendige Differenzierungen zu erinnern. Wenn die

Werner Jaeger selbst war ins Exil gegangen; vor allem Wolfgang Schadewaldt versuchte dann nach dem Kriege, einzelne Ideen des Dritten Humanismus weiterzuentwickeln. Ende der 60er Jahre, als die Klassische Philologie bei der Debatte um Sozialgeschichte und Rezeptionsgeschichte der Literatur ihre 'altertumswissenschaftliche' Erfahrenheit hätte einbringen können, befand sie sich bereits überwiegend in der Defensive. Vgl. die (in der Öffentlichkeit sofort kontroverse) Konstanzer Antrittsvorlesung von Manfred Fuhrmann: Die Antike und ihre Vermittler. Bemerkungen zur gegenwartigen Situation der klassischen Philologie. Konstanz 1969. - Siehe auch Verf.: Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie, in: Poetica 9 (1977), S. 4 9 9 - 5 2 1 .

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Zwischen Gravitation und Opposition Programmatiker der Jahre 1911 bis 1914 mit Emphase auf die'philosophischen' Zielsetzungen der frühen, idealistischen Philologie sich berufen, opponieren sie damit gegen die Herrschaft einer 'engeren' Philologie. Und noch Spranger bestätigt 1921 die Zähigkeit ihrer institutionalisierten Praxis, an den Universitäten wie an den Schulen; nur sei deren Reformbedürftigkeit durch die Krisenerfahrungen des Krieges und durch die neuen Sehnsüchte der „Jugend" noch eklatanter geworden. Wenn wiederum Harry Maync 1926 mit einer gewissen Bitterkeit konstatiert, manche der Jüngeren machten der Philologie „nur noch der Form halber eine kühle Verbeugung", 7 2 so hat sich zumindest in seinen Augen die Haupttendenz umgekehrt. Er opponiert gegen eine inzwischen beliebt, ja modisch gewordene Vernachlässigung des Philologischen. Solche Umkehrungen sind von der sozialgeschichtlichen Forschung, auch von der Wissenssoziologie, 7 3 vielfach beschrieben und analysiert worden. Sie begegnen im Prinzip auch schon in der Philologiegeschichte des 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz jedoch zur Hauptperiode der 'Literaturgeschichte' scheint für die 'Geistesgeschichte' zu gelten: Beschleunigung im Durchsatz der einzelnen Richtungen, Zunahme an Komplexität, um nicht zu sagen: an Unübersichtlichkeit. Die Unterschiede lassen sich schon an der Dominanz der Schulhäupter illustrieren. Friedrich Ritschis 'Bonner Schule' von der strengen textkritischen Observanz etwa besitzt nachgerade die Struktur eines Imperiums mit klarer Ausrichtung auf den Meister. Wilhelm Scherer, obwohl er nur ein Lebensalter von 45 Jahren erreicht, etabliert binnen relativ kurzer Frist seine Richtung, deren Charakter als Schule schon den Zeitgenossen evident ist. Wer ist Schulhaupt der Geistesgeschichtler? Dilthey sicherlich nicht - so prägend er für ihr geisteswissenschaftliches Selbstverständnis geworden ist (auch an die zum Teil verzögerte oder 'versetzte' Wirkung Diltheys ist zu erinnern). 74 Das, wogegen die Geistesgeschichtler opponieren, ist im Grunde massiver greifbar als das, was sich in vielen Varianten um die Konzeption des 'einen Geistes' gruppiert, der sich in der Mannigfaltigkeit der 'Kultur' auspräge. Eine engherzige 'Philologie' gehört gewiß zu der Kontrastfolie, gegen die sich noch vor dem Ersten Weltkrieg die neuen Ansätze profilieren: von der Stil- und Formtypologie Wölfflins und Walzels bis zur Problemgeschichte Ungers. Betrachtet

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Vgl. A n m . 47. Etwa Shmuel N . Eisenstadt: Tradition, Wandel und Modernität (engl, zuerst 1973). Frankfurt a. M . 1978; Peter Weingart: Wissensproduktion und soziale Struktur. Frankfurt a. M . 1976, S. 33—92; T h o m a s A. Becker-Bick: Wissenssoziologische Aspekte des soziokulturellen Wandels. Diss. Zürich 1985. Exemplarisch hierfür ist die Überpointierung ex post bei Rudolf Unger: Literaturgeschichte und Geistesgeschichte (wie A n m . 62).

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Wissenschafisepochert

man die einzelnen Richtungen untereinander differentialdiagnostisch, so erweisen sich nicht selten die Affekte gegeneinander als erheblich. Gegen Schückings „Geschmacksgeschichte" zum Beispiel regt sich früh der Vorwurf des Soziologismus, und gegen Nadlers literarische Stammes- und Landschaftsgeschichte der des Biologismus — also gerade einer dem Naturwissenschaftlichen nachhängenden Tendenz. 'Philologie' ist innerhalb des 'Kulturenkampfs' jener Jahre75 durchaus nicht eindeutig positioniert. Als wissenschaftliche Durchdringung der Manifestationen des menschlichen 'Worts', noch dazu unter Besinnung auf humanistische Ursprünge, scheint sie zur geisteswissenschaftlichen Paradedisziplin wie geschaffen. Doch die im strikten Sinn ihr selbstverständlich zugehörige Sprachwissenschaft stellt vor Probleme. Petersen, der in Literaturgeschichte und Philologie (1913) um Klärung des Zusammenhangs bemüht ist - was durchaus nicht für die Mehrzahl der Literaturwissenschaftler der Geistesgeschichte gilt bedauert, daß die Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts der früh unter „naturwissenschaftlichen" Tendenzen stehenden Sprachwissenschaft „nachgeglitten" sei.76 Angesichts der unbestreitbaren Verdienste dieser Sprachwissenschaft: Soll die „Literaturgeschichte" diese Nachbarschaft der „Philologie" tunlichst meiden? Eine ähnliche Komplizierung der Oppositionsfronten zeigt sich früh etwa bei Walzel. Er, der schon 1909 eine neue „synthetische Literaturforschung" gefordert hat,77 spricht wenige Jahre später (1913) bewundernd von „der peinlich genauen", disziplinierten Arbeit der „Textrevision" seines Lehrers Erich Schmidt78 - mit Exaktheitsvorstellungen, die von anderen Zeitgenossen bereits attackiert werden. Die eindeutigste, entschiedenste Gegenposition zur herkömmlichen - auch einer partiell reformierten — 'Philologie' repräsentiert zweifellos Gundolfs Goethe von 1916. Zu den zahlreichen Gründen für die Faszination dieser Monographie und ihres Autors gehört die Verweigerung gegenüber der ausufernden Methodenvielfalt. Die Akzeleration, mit der nicht nur die 'Philologie' immer neue 'Materialien zutage fördert - nicht zuletzt in der Goetheforschung - , sondern auch immer neue Richtungen der Geistesgeschichte auf den Plan treten, machen den 'Pluralismus' (der Schlagwortcharakter bildet sich in eben dieser Zeit

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Der Begriff für den Kampf zwischen den 'zwei Kulturen in Absetzung gegenüber dem von Rudolf Virchow geprägten Begriff „Kulturkampf'. Petersen (wie Anm. 18), S. 628. Analytische und synthetische Literaturforschung, in: G R M 2 (1910), S. 3 2 1 - 3 4 1 (Vortrag 1909 auf dem Grazer Philologentag). Walzel (wie Anm. 18), S. 391.

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heraus) für offenbar immer mehr Beteiligte zur Last. 79 Ein auf den ersten Blick kurioses Beispiel aus der Spätzeit der geistesgeschichtlichen Epoche mag illustrieren, wie weit sich die Oppositionsfronten schließlich verwirrt haben. Als Walter Benjamin 1931 in der Literarischen Welt sein vielbeachtetes Resümee über Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft zieht, verbindet ihn die — immer noch - programmatische Wendung gegen Historismus und Positivismus in einem weiten Sinne auch mit Gundolf. Doch gehört gerade Benjamin zu denen, die an Gundolfs Goethe das Verschlungenwerden der „Werke" durch die „Helden"-Biographie kritisieren.80 Er postuliert eine entschiedene Hinwendung zu den „Werken". Die „Germanistik" beherrscht nach seinem Urteil der „geile Drang aufs große Ganze". 81 Sie sei „durch und durch unphilologisch" geworden, gemessen nicht am positivistischen Philologiebegriff der Scherer-Schule, sondern an dem „der Brüder Grimm, die die Sachgehalte nie außerhalb des Wortes zu fassen versuchten".82 Walter Benjamin als Bannerträger der „Philologie" im Grimmschen Sinne: Die Umkehrung der Oppositionsfronten aus der Frühphase der 'Geistesgeschichte' erfordert eine Überprüfung an der Konstruktion literaturwissenschaftlicher Texte.

Generationenverhältnisse Jeder Versuch, innerhalb der Epoche der Geistesgeschichte die wechselnden Oppositionsfronten näher zu bestimmen, wird früher oder später auf 'Generationen-Strukturen aufmerksam werden: eine Kategorie, die zwar in der neueren wissenschaftsgeschichtlichen, auch wissenssoziologischen Forschung gelegentlich begegnet, jedoch in der Regel ohne nähere Explikation.83 Bedenken lassen sich leicht formulieren. Die Kategorie scheint in der Gefahr zu stehen, von den viel relevanteren 'sozialen und 'institutionellen' Faktoren wegzuführen und überdies ideelle Problemfronten ins Biologistische abzudrängen.84 Nun will es der Nicht-Zufall, daß ausgerechnet gegen Ende der geistesgeschichtlichen Blütezeit das Problem der Generationen selbst zum Thema wird. 1928 erscheint ein

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Vgl. Anm. 13. Literarische Welt vom 17. April 1931, zit. nach Walter Benjamin: Angelus Novus (Ausgewählte Schriften 2). Frankfurt a. M. 1966, S. 450—456. In der Kritik am Zurücktreten der „Werke" begegnet er sich etwa mit Karl Wolfskehl. Benjamin (wie Anm. 80), S. 452. Ebd., S. 455. Es ist beinahe charakteristisch hierfür, daß ersatzweise gerne auf das Phänomen der 'Stürmer und Dränger' hingewiesen wird. Gemeint ist jedenfalls fast stets die 'junge Generation. Solche Allergien äußerten sich besonders im Gefolge der 68er Bewegung.

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Wissenschafisepochen

forschungsgeschichtlich weit ins 19. Jahrhundert zurückgreifender, methodologisch klärender Aufsatz von Karl Mannheim85 (im Jahr zuvor hat Wilhelm Pinders Buch Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas Aufsehen erregt86), 1929 meldet sich als Literarhistoriker der 27jährige Richard Alewyn mit einem einschlägigen Beitrag zu Wort. 87 Und das für unseren Zusammenhang vielleicht Auffälligste: In Ermatingers repräsentativem Sammelband zur Literaturwissenschaft, von 1930, ist kein geringerer als Julius Petersen ausgerechnet mit dem Thema Die literarischen Generationen vertreten.88 Auch wenn dort von aktuellen Erfahrungen explizit kaum die Rede ist: Die Zuspitzungen durch den Krieg und durch das neue Sichregen der „Jugend" schon in Sprangers Rede von 1921 angesprochen - haben zumindest dazu beigetragen, das Problem herauszutreiben. Harry Mayncs Klage darüber, daß „die Jüngeren" vielfach „die Philologie" nur noch mit einer „kühlen Verbeugung" bedenken (1926), 89 seine Abgrenzung gegen eine „höher" gewertete „Literaturwissenschaft" in der ,,jüngere[n] Forschergeneration",90 seine Formulierung „die jüngsten und radikalsten Neuroner"91 (in erster Linie ist Cysarz damit gemeint) - alles dies ist offenkundig Indiz für neue Generationenverhältnisse. Steht also 'Philologie' für das Alte', für die 'Väter'? Und 'Literaturwissenschaft' und 'Geistesgeschichte' - gar mit dem Titel der 1923 gegründeten Zeitschrift für die 'jüngere Forschergeneration'? Wie liegen die Verhältnisse um 1910? Daß die Hauptrepräsentanten der verschiedenen Spielarten von 'Philologie', wie Scherer, Müllenhoff, Minor, Schmidt, starke 'Väter' waren, liegt auf der Hand. Die Verkörperung eines neuen, auch gegenüber der Jugend 'offeneren Gelehrtentypus durch Scherer und dann Schmidt92 widerspricht dem nicht.93 Um 1910 kann bei den geistesgeschichtlichen Neutönern freilich von 'Jugend' im biologischen Sinn kaum die

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Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahrshefte f. Soziologie 7 (1928), S. 3 7 - 5 6 . Erschienen in Berlin 1927. Aus den zahlreichen einschlägigen Titeln dieser Jahre sei noch erwähnt: Alfred Lorenz: Musikgeschichte im Rhythmus der Generationen. Leipzig 1928. Das Problem der Generationen in der Geschichte, in: Zeitschr. f. dt. Bildung 5 (1929), S. 519-527. Ermatinger (wie Anm. 60), S. 130-187. Auch separat: Berlin 1930. Das Thema erscheint freilich bereits 1913 in Petersens Basler Antrittsvorlesung (Literaturgeschichte als Wissenschaft. Heidelberg 1914). Vgl. Anm. 47. Maync (wie Anm. 47), S. 10. Ebd., S. 31. Kolk (wie Anm. 34), S. 85. Rosenberg (wie Anm. 16), S. 182 spricht ausdrücklich von einer „neuen Wissenschaftlergeneration". Einer weitergehenden Überlegung bedürfte die auffällige Tatsache, daß mehrere der 'Väter' dieser Generation nicht sonderlich alt wurden: Scherer wurde nur 45 Jahre alt, Minor 57, Schmidt 60.

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Opposition

Rede sein, aber wohl von einer neuen 'akademischen Generation'. Nadler ist 27 Jahre alt, Petersen (wie Jaeger) 31, Unger 35, Ermatinger 37, Strich 39 und Walzel bereits 46. Zu den deutlich 'Jungen aber sind die aus dem George-Kreis Stammenden zu zählen: von Hellingrath mit 24 Jahren, Bertram mit 27, Gundolf mit 31. Sie alle sind, in Schule wie Hochschule, mit 'Philologie' aufgewachsen. Zweifellos steckt in ihren Versuchen der geistesgeschichtlichen Neuorientierung auch ein Stück Generationen-Absetzung. Aber parallelisiert man sie mit der 'expressionistischen Generation' der Künstler und Schriftsteller, so wird der Kontrast sofort schlagend. Von 'Aufstand', 'Rebellion' kann keine Rede sein, allenfalls bei den George-Anhängern, die denn auch rasch - durchaus den eigenen Ansprüchen gemäß — als „Künstler" auf Distanz gehalten werden.94 Die institutionelle Festigkeit der wilhelminischen Universität (in die Nietzsche nicht zuletzt mit seinen Angriffen gegen die „Philologie" hineingeleuchtet hatte), die strikten Formen der akademischen Sozialisation95 schaffen klare Barrieren. Alle die Antrittsvorlesungen und Programmschriften der Unger, Petersen, Jaeger und Ähnlichgesinnten verhalten sich der 'Philologie' und ihren Lehrern gegenüber durchweg respektvoll, ja sie durch Rückgriff auf die idealistischen Ursprünge faktisch noch erhöhend. Und in der Sache sind etwa die Konzepte von Petersen und Walzel ausgesprochen integrationistisch.96 Wenn Harry Maync behauptet, daß „die jungen Neuerer zunächst ein Kesseltreiben gegen die Philologie anstellten und kaum ein gutes Haar an ihr liessen", 97 so ist dies (auch mit dem Hinweis auf den „Ueberschwang" der „Stürmer und Dränger") eine charakteristische Uberzeichnung ex post. Nach dem Krieg hat die sich artikulierende neue Wissenschaftlergeneration in der Tat vielerlei Anlaß, sich gegen die Väter aus den alten 'philologischen' Schulen aufmüpfig zu gebärden. Im August 1914 hat die von dem 'Erzphilologen' Wilamowitz formulierte, von mehr als 4000 Wissenschaftlern unterzeichnete nationalistische

Erklärung der Hochschullehrer

des Deutschen Reiches dazu beigetragen, daß ein

nicht geringer Teil der deutschen Geisteswissenschaftler sich freiwillig gegenüber der internationalen Kommunikation abschottet.98 Das Zurechtkommen-

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Ebd., S. 2 3 1 - 2 3 6 . Zu den institutionell-bildungsgeschichtlichen Kontexten jetzt: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. IV: 1 8 7 0 - 1 9 1 8 . Hrsg. v. Christa Berg. München 1990. Dies gilt für die ganz frühen Programme (Walzel 1909, Petersen 1913) wie auch für die umfassenden, monographischen Darstellungen (Walzel: Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters, 1925; Petersen: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik, vgl. Anm. 99). Maync (wie Anm. 47), S. 21. Bernhard von Brocke: Wissenschaft und Militarismus, in: Wilamowitz nach 50 Jahren (wie Anm. 63), S. 6 4 9 - 7 1 9 .

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Wissenschaftsepochen müssen mit der schwachen Republik und die zunehmende 'Zerrissenheit' auch der Wissenschaftslandschaft vergrößert um die Mitte der 20er Jahre bei den 'Jüngeren offenkundig auch die Distanz zur wilhelminischen 'Philologie' der eigenen geistigen Ziehväter. Die enorme Attraktivität vor allem der GeorgeAnhänger (mit den 'Mustern' Bertram und Gundolf) bei vielen 'Jüngeren' läßt 1926 Julius Petersen den „Konflikt zwischen künstlerischem und wissenschaftlichem Gewissen" ganz in diesem Sinne als einen zwischen „Generationen" erscheinen." Und die Auseinandersetzung um die Nachfolge des 'Philologen' Franz Muncker 1926/27 zeigt unverkennbar Züge eines 'Generationenkonflikts'.100 Für die Strategie und für die Verdienste der Herausgeber der Deutschen Vierteljahrsschriftfür Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte ist es kennzeichnend, daß sie zur Mitarbeit gleich am ersten Jahrgang (1923), zum Teil auch zur Mitherausgeberschaft (auf dem Titelblatt), bekannte Namen sowohl der älteren, noch 'philologisch' geprägten Generation als auch der jüngeren eingeschworenen 'Geistesgeschichtler' gewinnen: Konrad Burdach, Herbert Cysarz, Friedrich Gundolf, Helmut Hatzfeld, Victor Klemperer, Günther Müller, Hans Naumann, Herman Nohl, Julius Petersen, Wolfgang Stammler, Fritz Strich, Rudolf Unger, Karl Vossler und andere. Von dem obligatorischen Satz über „philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit" war bereits die Rede.101 Mehr als zwei Generationen sollen sich in einem Haus treffen, dessen Fundamente nach ehrwürdiger Tradition noch „philologisch" genannt werden, dessen Dach aber durch ein „und" zusammengehalten wird: „Literaturwissenschaft" als das, wodurch die „Literaturgeschichte" abgelöst worden ist, „Geistesgeschichte" als das, worin auch die Jüngeren eine Chance erblicken können - obwohl die 'Wende' zu ihr schon beinahe eine Generation zurückliegt.

Das Serielle und das Unnachahmliche Neue wissenschaftliche Richtungen benötigen, damit aus ihnen 'Schulen' werden können, nicht nur bestimmte institutionelle Voraussetzungen, sondern vor

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Julius Petersen: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft. Leipzig 1926, S. 172. Ernst Osterkamp: Verschmelzung der kritischen und der dichterischen Sphäre. Das Engagement deutscher Dichter im Konflikt um die Muncker-Nachfolge 1926/27 und seine wissenschaftliche Bedeutung, in: Jb. d. Dt. Schillerges. 33 (1989), S. 3 4 8 - 3 6 9 : hier S. 360. Siehe Anm. 44.

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Zwischen Gravitation und Opposition allem: eine genügende Anzahl von Gegenständen, an denen die Meister wie insbesondere die Schüler die neuen Verfahren erproben, erweitern, 'fortpflanzen' können. Diese triviale Feststellung bereitet für die 'Philologie' in der Epoche der Geistesgeschichte einige Probleme. Die über Jahrzehnte reichenden Erfolge der Schulen von Lachmann und Haupt, von Ritsehl, dann von Scherer, Müllenhoff und Minor beruhen zu einem wesentlichen Teil darauf, daß für die philologischen Fragestellungen immer neues, schier unerschöpfliches 'Material' zur 'Erschließung' anstand: fur Untersuchungen zur Textkritik, zu den Quellen, zur Entstehung, zur Stoffgeschichte usf. Für serielle philologische Großunternehmungen boten sich Universitätsinstitute, Akademien, wissenschaftliche Gesellschaften und dergleichen an oder wurden eigens dazu gegründet. Zu den historisch-kritischen Ausgaben der Dichter und zu den Kommentaren traten umfängliche Quellenpublikationen, Indices, Bibliographien, Enzyklopädien, Handbücher. Es sind vor allem diese Prestige-Projekte, vom 'Goedeke' bis zur SophienAusgabe der Werke Goethes (von den altertumswissenschaftlichen Parallel-Unternehmungen war schon kurz die Rede), die nach der Reichsgründung 1871 noch massiv zunehmen und die eigentümliche Gravitation der Philologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts mitbegründen. Die Glanzstücke, d. h. die 'großen' Autoren, behalten sich in der Regel die Schulhäupter vor, um zu ihnen die maßgeblichen Biographien zu schreiben und vor allem die gültigen historisch-kritischen Editionen zu schaffen (mit manchen - genannten oder ungenannten Helfern). 102 Als die ersten Vertreter der Geistesgeschichte sich zu Wort melden, hat die 'Philologie' fast erdrückend das Feld der Klassiker-Editionen schon bebaut. Außer der fortgeschrittenen Weimarer Goethe-Ausgabe liegen um 1910 an autoritativen (wenn auch aus heutiger Sicht noch unzureichenden) Editionen bereits vor: Lessing von (Lachmann-) Muncker zum allergrößten Teil, Herder von Suphan, Wieland von Sauer, Schiller von Goedeke, Kleist von Erich Schmidt, Grillparzer von Sauer, und manches andere - die 'Klassiker' aber dominieren zugleich im Universitätsunterricht des 19. Jahrhunderts. 103 Zum Teil ähnlich steht es mit den umfassenden Biographien der großen Autoren. Als Alternative zu Erich Schmidts monumentalem Lessing (1884-92, 3 1909) kann Waldemar Oehlke 1919 nur eine 'entschlackte' und kulturhistorisch angereicherte Darstel-

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Illustrativ hierfür ein Blick in: Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller. Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, bearbeitet v. Waltraud Hagen u. a. Berlin (-Ost) 1979. Auch für die nachfolgenden Kurzangaben wird hierauf verwiesen. Kolk (wie Anm. 34), S. 90.

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Wissenschaftsepochen lung herausbringen. Und das Feld der Goethe-Biographien ist nach Einsetzen der 'Materialien'-Welle vollends überbesetzt, seit das Jahr 1895 mit den Titeln von gleich vier Autoren einen mächtigen Einstieg gebracht hat: Karl Heinemann und Richard Moritz Meyer mit aufsehenerregenden Erfolgen, Eugen Wolff — und dann vor allem Albert Bielschowsky (auf 1896 datiert, aber 1895 erschienen), der noch bis weit in die Weimarer Zeit hinein in fast jedem deutschen Bücherschrank zu finden ist.104 Daß gegen diese Phalanx positivistischer Goethe-Biographien (zu denen bis 1910 u. a. noch Georg Witkowski, Ludwig Geiger und Eduard Engel hinzutreten) gerade die Goethe-Darstellungen von Houston Stewart Chamberlain (1912), Georg Simmel (1913) und Friedrich Gundolf (1916) angeschrieben sind und daß der strikten Verweigerung gegenüber 'Philologie' ein Teil vor allem der Gundolfschen Resonanz sich verdankt, ist früh erkennbar.105 Aber können sich neue 'Schulen' daraus bilden? Was Gundolf mit Goethe, Bertram mit Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) und problemgeschichtlich auch schon Unger mit Hamann und die Aufklärung (1911) als 'Muster' setzen, ist im Grunde nicht imitierbar. Sozusagen am anderen Ende des Spektrums, bei den Mythographien ä la Bertram, ist an reihenhafte Weiterentwicklung im Sinne einer 'Schule' nicht zu denken. Es bleibt bei den großen 'Gestalt'-Schauen Goethe und Nietzsche (oder auch Hamann, und Gundolfs Shakespeare, George, Kleist, Cäsar) — und bei der kleinen Münze derer, die den neuen Typus von Heldenverehrung in Unterricht oder Feuilleton umzusetzen haben. Diejenige der geistesgeschichtlichen Richtungen, die sich noch am ehesten für serielle Schulenbildung eignet, ist die Stil- und Formtypologie. Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915, 14 1970) haben bei aller antipositivistischen 'Form'-Verehrung mit der 'Philologie' das genaue Hinsehen, die Konkretheit, die Umsetzungsmöglichkeit auf immer neue Gegenstände gemeinsam, eindrucksvoll realisiert in den Studien des Wölfflin-Schülers Fritz Strich zu Barock und Romantik. Und Oskar Walzels Wechselseitige Erhellung der Künste (1917) öffnet noch einmal eine Applikation auf fast unbegrenzte Felder (manche der Phänomene erinnern an die später expandierende Toposforschung im Gefolge von Ernst Robert Curtius). Dieser Schule entstammen denn auch einzelne Großunternehmungen, mit denen sich die 'Geistesgeschichte' gegen-

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Guter Überblick über die Goethe-Biographik im Kaiserreich bei Mandelkow, Bd. 1 (wie Anm. 25), S. 2 6 1 - 2 6 7 ; vgl. auch Verf.: Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933, in: Juden in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Stephane Moses u. Albrecht Schöne. Frankfurt a. M . 1986, S. 1 2 7 - 1 5 1 ; bes. S. 1 3 7 - 1 4 0 . Zu den drei Genannten: Mandelkow, ebd., S. 2 6 7 - 2 8 0 .

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über 'Positivismus' und 'Philologie' auch nach außen hin eindrucksvoll repräsentieren kann: so vor allem Walzeis bändereiches Handbuch der Literaturwissenschaft seit 1923. Uberhaupt ist um die Mitte der 20er Jahre, als die 'jüngere Forschergeneration' vordrängte, ein neuer Schub von Großunternehmungen erkennbar, in denen sich auch Schulen darzustellen vermögen. Allein 1925 beginnen sowohl die neue, kommentierte Lessing-Ausgabe von Petersen und von Olshausen als auch das Reallexikon von Merker und Stammler zu erscheinen. Doch gerade diese beiden Projekte bewegen sich eher im Zwischenraum zwischen eigentlicher Geistesgeschichte und der älteren 'Philologie', spiegeln selber schon die zunehmend belastende Vielfalt der nebeneinander existierenden Methoden (zu denen mittlerweile auch schon die Literatursoziologie, die Volkstumsforschung, die beginnende psychoanalytische Literaturbetrachtung und die nicht unumstrittene Komparatistik getreten sind). 106 Die 'Philologie' hat in ihrem vielleicht anerkanntesten Prestigebereich, der historisch-kritischen Edition, während der Epoche der Geistesgeschichte wenig Spektakuläres vorzuweisen. Daß etwa von Hellingraths schon vor dem Ersten Weltkrieg geleistete Pionierarbeiten in der Hölderlin-Philologie lange Zeit keine Fortsetzung fanden, ist ebenso sprechend wie das Nicht-zustande-Kommen einer neuen, von Grund auf erarbeiteten historisch-kritischen Schiller-Ausgabe (von Goethe ganz zu schweigen).107 Selbst auf dem Feld der - internationalen Klassischen Philologie werden in der Epoche der Geistesgeschichte nur wenige neuartige Muster gesetzt, und dann zu nicht gerade zentralen Autoren: so etwa der Manilius (1903—1930) und der Lucanus (1926) von Housman oder der Eusebios (1902-1926) von Schwartz.108 Man hat im nachhinein gerne konstatiert,109 daß ohne die - im Doppelsinne — großen Leistungen der 'Philologie', ohne deren Bereitstellung der 'Fundamente' die Geistesgeschichte sich niemals zu ihren bedeutenden 'Synthesen' hätte aufschwingen können. Im Habitus der meisten Geistesgeschichtler gegenüber der 'Philologie' wiederholt sich ein Muster, das aus der Wissenschaftsgeschichte nur zu bekannt ist: Das, worauf man faktisch aufbaut, vermag auch einschüchternd zu wirken und wird mit mehr oder weniger Souveränität beiseite geschoben — ausgesprochene Vermittlergestalten wie Petersen und Walzel einmal ausgenommen. Diejenigen, bei denen der antiphilologische Nega-

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Aufschlußreich auch hier Ermatingers Sammelband (wie Anm. 60). Daß sowohl die historisch-kritische Hölderlin- als auch die Schiller-Ausgabe als 'Kriegsprodukte' beginnen, ist von eigener Ironie. Zu den Umständen im Falle Schillers jetzt Norbert Oellers: Fünfzig Jahre Schiller-Nationalausgabe und kein Ende. Marbach/Neckar 1991. Zum Kontext Lloyd-Jones (wie Anm. 61). Etwa Vietor in seinem Resümee von 1945(wieAnm. 18, Abdruck Zmegac), S. 185, 1 9 0 f . u . ö .

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Wissenschaftsepochen tionsgestus am entschiedensten ausfällt, so vor allem Gundolf, entfalten eben dadurch für viele ihre ausnehmende Attraktivität. Dasjenige Organ, das die auseinanderdriftenden Richtungen programmatisch unter einem Dach zusammenzubringen sucht, die Deutsche Vierteljahrsschrift, demonstriert gleich in seinem ersten Jahrgang (1923) eher die 'Zerrissenheit'.

Die Unvereinbarkeit des Gleichzeitigen 'Philologie' ist auf dem Höhepunkt der Geistesgeschichte, in den 20er Jahren, 'Fundament' und 'Überhang' zugleich. Im Sinne des leitmotivisch durch die Jahrzehnte sich ziehenden Grimmschen 'philologischen Fundaments' arbeiten die Geistesgeschichtler - untereinander gewiß alles andere als einheitlich - faktisch mit dem, was die verschiedenen positivistischen, philologischen Schulen an breiten und differenzierten Voraussetzungen geschaffen haben. Aber selektiv. Die „Mikrologie", die von manchen Philologen bereits untereinander kritisiert worden ist, 110 leuchtet in ihrer Notwendigkeit nicht ein, vor allem nicht in dem Fehlen einer klaren 'Werte'-Priorität. Als Kritikpunkt an der 'Philologie' zieht sich dies durch die Epoche der Geistesgeschichte und ist dann bei der 'jüngeren Generation' oft auch Anlaß für die nur noch „kühle Verbeugung" gegenüber der „Philologie". Im Prinzip hat es diese Kritik bereits als interne Kritik bei den positivistischen Philologie-'Vätern' gegeben. Schon Scheret brandmarkt das bloße Materialsammeln und die Mikrologie als „Küstenschiffahrt treiben". 111 Erich Schmidt zieht in seiner Ausgabe des Ur-Faust über die „Parallelenseuche" her 112 und rügt bereits in seiner Wiener Antrittsvorlesung (1880) die Gelehrten, die „Kunstwerke wie Kadaver seziert, Dichter wie Schuldenmacher mißhandelt und die 'philologisch-historische Methode' zum Mantel ihrer Schwung- und Gedankenlosigkeit gemacht haben". 113 Das hätte um 1925 von den 'Neutönern wörtlich übernommen werden können. Hat sich nichts verändert? Die Unvereinbarkeit des Gleichzeitigen hat sich verschärft. Es geht nicht mehr nur um die 'Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen', deren Wahrnehmung und Diagnostik im letzten Drittel des 18. Jahr-

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Die Kritik regt sich - auch mit diesem Terminus - schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, begegnet bei Friedrich Schlegel, und später auch bei Erich Schmidt und Petersen. Nach M a y n c (wie Anm. 47), S. 12. Goethes Faust in ursprünglicher Gestalt. Weimar 3 1 8 9 4 , S. XXII. Charakteristiken, Erste Reihe. Berlin 2 1902, S. 114.

Zwischen Gravitation und Opposition hunderte durch die Beschleunigung der geschichtlichen Prozesse befördert und dann durch die Erfahrungen der Französischen Revolution noch herausgetrieben wurde.114 Es geht um Unvereinbarkeit, die nicht mehr in einem liberalen Koexistenz- oder Pluralismus-Modell unterzubringen ist. Oskar Walzel, der Schüler Erich Schmidts, der beispielsweise noch 1904 im Rahmen der SäkularAusgabe Schillersche Dramen kritisch ediert hat, versucht in Gehalt und Gestalt im Kunstwerk des Dichters (1925) die philologischen Instrumente und Verfahren noch zu integrieren; ähnlich Julius Petersen in seinen verschiedenen programmatischen Schriften. Aber die zum Teil faszinierten Reaktionen auf Bertrams Nietzsche und Gundolfs Goethe, die nicht selten von „Durchbruch" oder gar „Erlösung" sprechen, zeigen, daß der philologisch-geistesgeschichtliche Pluralismus oder auch Eklektizismus in den Köpfen vieler nicht mehr realisiert werden kann. Fallstudien könnten hier nicht nur Präzisierung, sondern wohl auch manche Überraschung bringen. Derselbe Germanistikstudent oder Deutschlehrer oder auch schon aktive Wissenschaftler - , der um die Mitte der 20er Jahre sich von den 'Gestalt'-Visionen des Gundolfschen Goethe begeistern läßt, bezieht vielleicht die Biographica gefällig (mit Goldschnitt) und positivistisch aus dem so ungemein erfolgreichen Goethe Bielschowskys, er liest mit Aufmerksamkeit regelmäßig die neuen Materialien im Goethe-Jahrbuch und möglicherweise auch schon den psychokritisch interessierten Goethe von Emil Ludwig: ein Werk, das 1920 zuerst erscheint, schon 1924 in einer Volksausgabe verbreitet wird und innerhalb eines Jahrzehnts nicht weniger als 34 Auflagen erlebt.115 „Wir alle lasen ihn, aber man sprach nicht darüber, jedenfalls nicht in wissenschaftlichem Zusammenhang", erinnert sich ein alter Goethe-Verehrer.116 Und man kann bestätigend hinzufügen: Er findet sich in der wissenschaftlichen Literatur oft nicht einmal genannt.117 Das ist mit 'Unvereinbarkeit des Gleichzeitigen' gemeint: ein kontradiktorisches Nebeneinander, das kategorial nicht mehr vermittelt ist. Die 'Philologie' in ihren 'aufgeklärten' Varianten aus der 'Literaturgeschichte' oder auch aus der strengen 'Literaturwissenschaft' überdauert in der Epoche der Gei-

R e i n h a r t Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M . 1979, S. 3 2 3 - 3 2 7 . 1 1 5 Ludwigs Renommee als 'spannender', farbig porträtierender Biograph (vor Goethe: u. a. Bismarck und Wagner) dürfte den Erfolg mitbefördert haben. '16 Wilhelm Flitner, gesprächsweise. 1 1 7 Er fehlt auch ζ. B. völlig in der einflußreichen Überblicksdarstellung von Reinhard Buchwald: Goethezeit und Gegenwart. Die Wirkungen Goethes in der deutschen Geistesgeschichte. Stuttgart 1949. 1

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Wissenschafisepochen stesgeschichte. Die Gravitation der Großunternehmungen und der Institutionen behauptet sich, das Erschienene ist als Vergangenes, aber Präsentes bald hilfreich, bald bedrückend, bald nur noch mit Spott bedacht. Es gehört zur institutionellen Realität der Epoche und gibt ein anderes Bild als das der Programme. Hier müssen Fallstudien weiterhelfen. „Für Arbeiten aller Methoden aber wird philologische Strenge und Gewissenhaftigkeit selbstverständliche Voraussetzung bleiben müssen." An diesem Programmsatz aus dem 1. Jahrgang der Deutschen Vierteljabrsschrift sei der besonderen Aufmerksamkeit empfohlen, daß „wird [...] bleiben müssen" nicht als Zustandsdiagnose, sondern als Forderung formuliert ist.

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.Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag*

Vorspiel im Hause Wem es zugefallen ist, im Bezugsrahmen der mehr als hundertjährigen Produktion des Max Niemeyer Verlags über die weiten Felder der „Literaturwissenschaft" zu berichten, der entsinnt sich bei der historischen Spurensuche bald der Tatsache, daß eben dieser Begriff erstmals in einem voluminösen Werk aus eben diesem Hause prinzipiell' geworden ist. Zwar begegnet bekanntermaßen „Literaturwissenschaft" vereinzelt und mit schwankendem Gebrauch bereits in früheren Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts und dann in Oskar Froehdes knappem Klärungsversuch von 1893. Als breit ausgeführtes Konzept indes faßt es zuerst Ernst Elster in seinen Prinzipien der Literaturwissenschaft, deren erster Band 1897 bei Niemeyer in Halle erscheint (der zweite wird, neu ansetzend, erst 1911 folgen). Im Titel schon ist das Echo auf die Principien der Sprachgeschichte (1880) des Niemeyer-Autors Hermann Paul unüberhörbar. Und mit Bezug auf ihn wie auf die 'Historiken' der Geschichtswissenschaftler (hier steht natürlich Droysen im Vordergrund) und etwa auf die Methodenlehren der Klassischen Philologen (er meint offenbar vor allem Boeckh) begründet Elster sein Unterfangen, nun auch die Geschichtswissenschaft von der Literatur aufklare methodische Grundlagen zu stellen. In seiner bereits erkennbar methodenbewußten Akademischen Antrittsrede von 1894 - ebenfalls bei Niemeyer herausgekommen (Elster ist seit seinen Lohengrin-Studien von 1884 Verlagsautor) - hat er noch von den „ A u f g a b e n der Litteraturgeschichte" gesprochen. Jetzt heißt es ausdrücklich „Litteraturwissenschaft", und zwar „Wissenschaft" vor allem deshalb, weil er seine Disziplin nunmehr systematisch auf eine „einsichtige Verwertung der modernen Psychologie" zu gründen beansprucht. Es ist diejenige seines Lehrers Wilhelm Wundt zumal,

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Erstpublikation in: Beiträge zur Methodengeschichte der neueren Philologien. Zum 125jährigen Bestehen des Max Niemeyer Verlages. Hrsg. v. Robert Harsch-Niemeyer. Tübingen 1995, S. 9 1 - 1 1 0 .

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Wissenschafisepochen dessen Name im Vorwort zum 1. Band noch gar nicht erscheint, dem er aber später den ganzen 2. Band sogar widmen wird. Es ist die physiologisch orientierte, neue akademische Psychologie Wundts, die den „Wissenschafts"-Charakter der „Litteraturwissenschaft" in Elsters Sinne bestimmt. Man braucht sich nur die Uberschriften der fünf Kapitel des 1. Bandes zu vergegenwärtigen, um die methodische Verknüpfung der Literaturwissenschaft mit der Psychologie in ihrer (auch gegen Dilthey erkennbar abgegrenzten) Spezifik zu verstehen: 1. „Die poetische Auffassung des Lebens"; 2. „Die Phantasieund Verstandesthätigkeit des Dichtens"; 3. „Gefühl und Lebensanschauung der Dichter"; 4. „Die ästhetischen Begriffe"; 5. „Sprachstil" (mit den beiden umfangreichen Teilen „Lautlehre" und „Formenlehre"). Nicht nur der selbstverständliche, enge Konnex mit der Sprachwissenschaft, der 'junggrammatischen' Hermann Pauls (wichtige Linien führen auch zu Eduard Sievers), ist hier schon mit Händen zu greifen. Mehr noch: die Deszendenz dieser „Litteraturwissenschaft" aus der Poetik der Aufklärung, insbesondere derjenigen Gottscheds. Auch bei ihm geht ja dem sorgsam ausdifferenzierten System der historisch entfalteten Gattungen das eingehend prinzipielle Reden von „dem Charactere eines Poeten", von seinem „Geschmacke" und von seiner „Einbildungskraft" voraus. Elsters „Litteraturwissenschaft" ist, so betrachtet, systematisierte Poetik auf physiologisch-psychologischer Grundlage. Und in dem, was Elster sich als besonderes „wissenschaftliches" Verdienst zurechnet (und was auch Anerkennung fand), der Lehre von den „ästhetischen Apperzeptionsformen", zielt er auf eine konsequente lineare Verknüpfung des anthropologisch Gegebenen, auch Meßbaren mit dem spezifisch 'Ästhetischen im ursprünglichen Sinn des 'Wahrgenommenen . Theorie des Ästhetischen, Theorie der Poesie und des Poeten ist 'Litteraturwissenschaft' also zunächst; das heißt: Sie wäre heute eher unter 'Allgemeiner Literaturwissenschaft' zu rubrizieren. Doch Elster ist dann auch wieder Germanist — und darauf legt er Wert - , indem ihm bei der Exemplifikation immer wieder „unsere Klassiker" im Zentrum stehen, insonderheit Lessing, Goethe und Schiller, denen mehrfach auch Sonderkapitel gewidmet werden (so ein Exkurs über „Goethes Selbstgefühl"). Und weitgehend an deutsches Sprachmaterial sind dann die breiten Darlegungen gebunden, die der „Lautlehre" und der „Formenlehre" und schließlich (1911) der den ganzen 2. Band füllenden „Stilistik" gelten. Gleichwohl möchte Elster 1897 den 1. Band mit Einschränkungen bei den Kapiteln über „Sprachstil" und „Metrik" nicht bloß als „Prinzipien der deutschen Litteraturwissenschaft" verstanden wissen, sondern als Grundlegung einer „Litteraturwissenschaft" schlechthin. Auf die Verankerung in physiologischen Fundamenten und dann auf die systematische Durchforschung des Poeti-

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,.Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag sehen als solchen kommt es ihm an. Der Stolz auf die Rückversicherung in naturwissenschaftlichen Verfahren verbindet ihn mit den meisten methodischen Neuorientierungen jener Jahre.

Literaturwissenschaft im Geschiebe der Disziplinen „Literaturwissenschaft" hat sich, wie es bei Propagierungsversuchen dieser Art nicht selten geschieht, in der besonderen Elsterschen Fixierung nicht durchsetzen lassen. Der Akt des Denominierens als solcher, mit dem Ethos der Distanzierung von der (sich weiter behauptenden) „Litteraturgeschichte", war das Entscheidende. Analoge Verstärkungen des 'Wissenschafts'-Charakters geisteswissenschaftlicher Disziplinen ereignen sich während der folgenden Jahre, noch vor dem Ersten Weltkrieg, auf verschiedenen Feldern. Am deutlichsten wird das Programmatische vielleicht in den Titeln neugegründeter Zeitschriften, so seit 1906 in der Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft und dann natürlich besonders - nun unter Niemeyerschem Dach - mit der folgenreichen Benennung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (seit 1923). Mag gerade in der Doppelung des Titels das Systematische und das Historische zueinander in kreativer Spannung gehalten werden, so steht gegen das spezifisch Geisteswissenschaftliche der „Geistesgeschichte" auch wieder die strenge Disziplinarität der „Literaturwissenschaft" — auch wenn eben die von Elster erstrebte psychologisch-naturwissenschaftliche Fundierung längst schon wieder daraus vertrieben sein mag. Als Verlagsrubrik vermag sich „Literaturwissenschaft" noch auf Jahrzehnte hinaus nur schwer zu etablieren. Und so unterliegt der vorliegende Versuch, über „Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag Rechenschaft zu geben, notgedrungen den Vorbehalten einer falschen Rubrizierung oder gar des Oktrois gegenüber den besonderen terminologischen Vorgaben der Wissenschaftsgeschichte. Der Konstruktionscharakter ist evident. Noch im großen Verlagskatalog von 1930 (mit der Angabe „1870-1930") dominieren die traditionsreichen Felderkombinationen — eben weil sie ja auch eine Sequenz von Epochen und vor allem eine Backlist einschließen sollen. Drei 'Paarungen' seien hervorgehoben. Eine charakteristische, sich leichthin lesende und schon 1930 längst eminent problematische Obergruppe bildet „Deutsche Sprach- und Literaturgeschichte" mit der ersten Untergruppe „Sprachgeschichte/Metrik/Stilistik" in locker gleitender Skala, wovon zumindest „Metrik" wiederum (nicht nur im Sinne Elsters) wohl am klarsten dem 'literaturwissenschaftlichen Pol' zugeordnet werden kann. Und diese Rubrizierung wiederholt sich beim Englischen wie 207

Wissenschajtsepochen bei den romanischen Sprachen. Es sind die dominantesten Traditionen der Fächer ebenso wie dieses Verlags. Produkt der Entwicklungen um die Zeit des Ersten Weltkriegs ist die hoch spezifische Paarung „Literaturgeschichte/Geistesgeschichte" (und dann noch einmal gesondert „Schriftsteller/Lesebücher/Texte"), dieses dann je wieder für das Englische und die romanischen Sprachen „Literaturwissenschaft" übergreift also selbstverständlicherweise die Nationalphilologien. Schließlich, und systematisch eigentlich obenan (auch im Katalog): „Allgemeine und vergleichende Sprach- und Literaturwissenschaft", daran angeschlossen „Formen und Gattungen/Mythologie/Volkskunde" — das ist nur als hochkomplexes Fächer- und Verlagserbe des 19. Jahrhunderts noch analysierbar. Festzuhalten bleibt, und gewiß nicht überzubewerten: Die Würde des Kompositionsgliedes 'Wissenschaft' wird, auf der Ebene der Katalogrubrizierung, nur dem 'Allgemeinen' und dem 'Vergleichenden' zuteil. Es wäre nicht ganz abwegig gewesen, wenn sich Ernst Elster (der 1940 starb) damals einen kleinen Anteil an dieser Heraushebung auch selbst zugerechnet hätte.

Literaturexpeditionen in die Frühe Neuzeit Wer in den Gründerjahren des Wilhelminischen Reichs wie des Verlagshauses Max Niemeyer über das Profil dessen nachgedacht hätte, was heutzutage 'Literaturwissenschaft' genannt zu werden pflegt, wäre nicht zunächst auf Monographien gestoßen oder auf Programmreden oder Handbücher, sondern in fast un überschaubarer Fülle auf die Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Von deren textkritischen und kommentierenden Leistungen kann hier nicht die Rede sein. Aber der 'Literaturgeschichte' haben sie ebenso nachhaltige Impulse gegeben wie der — im späteren Sinne - 'Literaturwissenschaft' im und aus dem Hause Max Niemeyer: nicht zuletzt dadurch, daß auf diese Weise eine stattliche Anzahl germanistischer Literaturwissenschaftler zumindest vorübergehend auch zu Autoren dieses Verlags wurden. Daß ausgerechnet der Sprachwissenschaftler und Mediävist Wilhelm Braune nicht nur zum Begründer der Reihe (seit 1876), sondern zum Herausgeber einer nahezu unglaublichen Zahl verschiedenartigster von ihm selbst erarbeiteter Bände wurde, bildet das eine Charakteristikum. Gewiß aber ist dies auch Spiegel eines besonderen inneren Fachzusammenhangs (der schon damals keine 'Einheit' mehr war, wenn dies jemals mehr als eine Vergangenheitsfiktion darstellte). Es ist wohl so gewesen, daß der sechsundzwanzigjährige Leipziger Privatdozent Braune neben seinen mediävistischen und seinen sprachwissenschaftlichen Studien (die geradezu in die Fundamente der Verlagsgründung ein208

„Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag gebracht wurden und das Haus bei allen Wandlungen bis heute mitgetragen haben) auch Vorlesungen über die ans 'Mittelalter' angrenzenden Jahrhunderte zu halten hatte, bis in die Goethezeit hinein. Und dabei stellte er offenbar fest, wieviele wichtige Texte vor allem der beiden vorlessingschen Jahrhunderte entweder nur in den alten Drucken selbst oder bestenfalls in ungesicherten, oft nur anthologischen Neudrucken zugänglich waren. Welche Vorbilder Wilhelm Braune dabei auch immer vorgeschwebt haben mögen, der nationale 'Gründer'-Impuls ist hier wohl ebenso entscheidend wie bei den anderen innerhalb weniger Jahre auf die Beine gestellten Niemeyerschen Reihen (Altdeutsche Textbibliothek, Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, den entsprechenden anglistischen und romanistischen Serien und weiteren). Es mußte - auch - 'produziert' werden, es mußte 'laufen'. Und der freundschaftliche Zusammenhang mit Max Niemeyer bildete wohl den dynamischen Kern. Den Gang der germanistischen „Literaturwissenschaft" haben die Neudrucke - abgesehen von den editorischen Aspekten im engeren Sinne - in mindestens dreifacher Hinsicht wesentlich mitgeprägt: durch die Fülle der wirklichen 'Entdeckungen' von Vergessenem, durch die selbstverständliche (heute vielen Germanisten schon wieder verlorengehende) Verknüpfung von 16. und 17. Jahrhundert, und nicht zuletzt durch die atemberaubende Raschheit im Erscheinen der vielen Titel, deren Realität kein ernsthafter Germanist mehr entkommen konnte. Im Jahre 1889, gerade ein reichliches Jahrzehnt nach Beginn, liegen mit dem Drama Speculum vitae humanae des Erzherzogs Ferdinand II. von Tirol (herausgegeben von Jacob Minor!) bereits 80 Nummern vor, darunter freilich eine ganze Reihe Titel mit mehreren Nummern. Zehn Jahre später, als Theobald Hocks Schoenes Blumenfeld von Max Koch erscheint, sind es schon 159. Und bis in die vierziger Jahre hinein — nachdem Ernst Beutler an die Stelle Wilhelm Braunes getreten ist — sind es schließlich fast 300 geworden. Der Einstieg im Jahre 1876 mit Martin Opitzens Buch von der Deutschen Poeterey (1624), das den programmatischen Wechsel von der muttersprachlichen Dichtungstradition des 16. Jahrhunderts zur modernen europäischen Kunstpoesie markierte und den 'Vater der deutschen Poesie' ehrte, konnte symbolischer nicht gewählt werden. Endlich war die so oft zitierte 'Gründungsurkunde' der deutschen 'Renaissancepoesie', wie es einstweilen oft schon oder noch hieß {Die Deutsche Renaissancelyrik [1888] von Max von Waldberg war eine Schlüsseldarstellung vor der Jahrhundertwende), jedem Studenten in einem zuverlässigen Wortlaut und mit knappen Hinweisen wieder zugänglich. Und nun setzt ein eindrucksvoll durchgehaltenes 'Alternieren' zwischen dem 16. und dem 17. Jahrhundert ein, das in sich schon Programm ist. Der Haupt209

Wissenschaftsepochen herausgeber selbst erarbeitet die meisten frühen Bände, mit geradezu unglaublichem Einsatz (und gewiß auch manchem ungenannten Zuarbeiter). Im gleichen Jahr 1876 noch folgen auf Opitzens Poetik Fischarts Aller Praktik Grossmutter (Nr. 2), Gryphius' Horribilicribrifax (Nr. 3), danach Luthers An den christlichen Adel deutscher Nation (Nr. 4), Fischarts Der Flöhhaz (Nr. 5), Gryphius' Herr Peter Squenz (Nr. 6), Das Volksbuch vom Doctor Faust (Nr. 7/8). Dann wird das 'Ausgraben' von Vergessenem als Tendenz noch deutlicher: mit Schupps Der Freund in der Not (Nr. 9), mit Sandrubs Delitiae historicae etpoeticae (Nr. 10/11). Und in der nun auch sich abzeichnenden satirisch-realistischen Linie (Fischart, Schupp usw.) erscheint schließlich ein Text aus dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts: Christian Weises Die drei ärgsten Erznarren (Nr. 12-14). Ein Kernbereich germanistischer „Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag entfaltet sich hier früh. Ganze Landschaften der deutschen Literaturgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts hat Braune auf diese Weise neu erschließen helfen. Manche Texte sind bis heute nur in diesen Ausgaben greifbar. Dabei hat Braune bis in die Jahre des Ersten Weltkriegs hinein planmäßig klare Schwerpunkte gepflegt und ausgebaut: im 16. Jahrhundert unübersehbar Luther und Hans Sachs (zahllose Nummern), im 17. Jahrhundert bezeichnenderweise gerade nicht so sehr die hohen Kunsttexte der sogenannten 'Schlesischen Schulen', sondern markant - wohl auch aus sprachgeschichtlichem Interesse heraus — die Satiriker, 'Realisten': Abraham a Sancta Clara, Grimmelshausen, Lauremberg, Moscherosch, Reuter, Schupp, Weise (aber auch einzelne Königsberger und Angelus Silesius) und eben nicht Gryphius (außer den Lustspielen), nicht Lohenstein, nicht Hofmannswaldau, nicht Kuhlmann. Es wird gerne übersehen, daß die um den Ersten Weltkrieg einsetzende neue Begeisterung für die spezifisch 'barocken' Stilzüge diese mächtige Folie auch besitzt: eine Gegenwelt des Prosaischen, Satirischen, Praktischen, 'Volkstümlichen' - mit Auflockerungen natürlich, bis hin zu Abschatz' AnemonsundAdonis-Blumen, zu deren Herausgabe sich immerhin ein Günther Müller gewinnen läßt (1929).

Aufrührerisches, Pluralismus, Ideenmonographien Die perspektivische Konzentration auf das, was alles unter einem Verlagssignet ans Licht tritt, und auf einzelne Erscheinungsjahre läßt Konturen, Zusammenhänge und Gleichzeitigkeiten hervortreten, die in den Längsschnitten, mit denen wissenschaftsgeschichtliche Forschung notgedrungen arbeitet, mitunter fast verschwinden. Die Jahre 1910/11 sind vielerörterte 'Wende'- und 'Auf210

„Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag bruchs'-Jahre zu einer neuen Stufe der 'Moderne' in allen Künsten. Wenige fast willkürlich herausgegriffene Titel der deutschen Literatur: 1910 Rilkes Malte Laurids Brigge (und noch Hauptmanns Die Ratten), 1911 Hofmannsthals Jedermann und Der Rosenkavalier, Heyms Der ewige Tag, Sternheims Die Hose, Musils Vereinigungen, 1912 Benns Morgue, Einsteins Bebuquin, Kafkas Das Urteil. Mitten in diese Wendezeit hinein stirbt der Verlagsgründer Max Niemeyer, die Leitung übernimmt sein Sohn Hermann Niemeyer. 1911 kommt in seinem Hause - es sei noch einmal daran erinnert - der neu ansetzende 2. Band von Elsters Prinzipien heraus. 1910/11 bringen die Brauneschen Neudrucke nach einigen Jahren Pause ausschließlich 3 Bände mit Streitschriften Schupps sowie dessen Corinna (Nr. 224-229). 1910 veröffentlicht Max Niemeyer - hat er dieses Symbol einer neuen Ära noch gesehen? - die zweibändige Münchner Habilitationsschrift des siebenundzwanzigjährigen Fritz Strich, desjenigen, der dann im Bann von Heinrich Wölfflins Formtypologie den bahnbrechenden Aufsatz der neuen Barockforschung über den „lyrischen Stil des 17. Jahrhunderts" konzipieren wird (1916 in der Festschrift für Franz Muncker, auch bei Niemeyer). Der Titel des Buchs: Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner (Friedrich Gundolfs Habilitationsschrift ein Jahr zuvor, 1911: Shakespeare und der deutsche Geist). Wagner, einer der Götter auch der neuen Barockeuphorie, als Zielpunkt — und dann noch „Mythologie" nicht als Stoffgeschichte oder gar als volkskundlicher Gegenstand, sondern in der deutschen Poesie: Für die Zunftgenossen sind das Signale, die sich noch gerade an akademische Usancen anschließen können, aber genausogut als leicht aufrührerisch' lesen lassen. Nicht primär als „Quellenuntersuchung" sei das Ganze angelegt, so Strich schon in der Vorrede, sondern als „Ideengeschichte", ja als Darstellung der „Sehnsucht nach dem Mythos", mit explizitem Blick auf Tendenzen der „Gegenwart" (zum Beispiel Gerhart Hauptmanns kürzlichen „Ruf nach den Göttern Griechenlands", auf „griechischem Boden"). Braunes Schupp-Neudrucke, Elsters 2. Band der Prinzipien, Strichs Mythologie und — um einen philosophischen Markstein von 1913 exemplarisch hinzuzunehmen - Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie in ganz kurzer Zeit aus der gleichen Auslieferung: Greller läßt sich der ebenso faszinierende wie früh auch belastende 'Pluralismus', der nun auch im Hause Niemeyer seinen Einzug gehalten hat, kaum beleuchten. Er wird ein leidenschaftlich umkämpftes Kernproblem nicht nur der germanistischen „Literaturwissenschaft" bis 1933 bleiben ('Pluralismus' wird bezeichnenderweise als öffentlicher Diskussionsbegriff in eben jenen Jahren um den Ersten Weltkrieg geprägt, 1916 durch den britischen Politologen Harold Laski). 211

Wissenschaftsepochen Im Jahr von Max Niemeyers Tod kommt diejenige germanistische Darstellung einer genialen 'Gestalt' heraus, die dann binnen kurzem neben Friedrich Gundolfs Goethe (1916) und Ernst Bertrams Nietzsche. Versuch einer Mythologie (1918) zu den großen Mustern einer neuen, nichtpositivistischen, philosophisch orientierten Autormonographie aufsteigen wird: Rudolf Ungers Hamann und die Aufelärung. Studien zur Vorgeschichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert (1911 bei Diederichs, in zweiter Auflage 1925 bei Niemeyer). Wie Fritz Strich aus der strengen 'philologischen' Münchner Schule Franz Munckers stammend, legt Unger (der bei Muncker schon über Hamanns Sprachtheorie promoviert hat) ein erzgelehrtes, mit Tausenden von Quellenhinweisen und Forschungsauseinandersetzungen bestücktes Werk vor (der ganze 2. Band gilt nur diesem 'Fundament'). Und ausgerechnet hiervon behauptet er provokatorisch gleich zu Beginn, daß es „ein Buch der Liebe" sei. Wieder ein Stück Aufbegehren. Unger bekennt seine „Zuneigung zu der wunderlich krausen und dunklen Persönlichkeit" Hamanns und greift methodisch die mit ihr verknüpften „individuellen und allgemeinen Probleme und Rätsel" auf. Von der 'Geistesgeschichte', zu deren Gründungsheroen Unger zählt, kann hier nicht gehandelt werden — hier nur zwei Hinweise, die dem literaturwissenschaftlichen Methodenprofil des Verlags um 1910 gelten. In Fritz Strichs Mythologie, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung hinter Ungers Hamann zumeist verschwindet (der Verlag selbst hat 1970 immerhin einen verdienstvollen Neudruck bereitgestellt), geht es nicht nur um die neu gefaßte „Ideengeschichte" mit „Gegenwarts"-Bezug, ja um einen mit „Liebe" gesuchten Gegenstand. Hinter der heroischen 'Gestalt' (so Gundolf, Bertram) regt sich auch ein neues, drängendes Interesse an den 'dunklen' Seiten vorzugsweise des 18. Jahrhunderts. Dabei fasziniert Unger ebensowohl eine — gewiß problematisch gefaßte - Teleologie der „Vorgeschichte" der Romantik wie das Nichtrationalistische in einer genialen Persönlichkeit des Aufklärungszeitalters selbst. Bei allem nicht nur taktisch vorgezeigten Stolz Ungers auf die fundierende „Philologie" (vor allem im 2. Band) artikuliert sich das ganz Neue, ja Traditionen Sprengende ungescheut: der Ehrgeiz des „psychologischen" Eindringens (hier gibt es manche Berührungspunkte mit Elsters 2. Band), die Entschiedenheit der tief individuellen Hinneigung zum Gegenstand der Monographie, die Hingabe an die „Größe" der Gestalt - hierin mit Bertram und Gundolf durchaus verbindbar. Die überbordende Metaphorik der Schreibweise Ungers sprengt alle bisherige disziplinäre Konvention, das „Strömen" und „Gären" und „Ringen" und „Kämpfen" läßt Gegenstand und Darstellungsform bisweilen fast verschmelzen - die Nähe zu expressionistischen Sprachgebungen ist unverkennbar. 212

,.Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag Unter den späteren Autoren des Max Niemeyer Verlags, die sich der 'Geistesgeschichte' verschrieben haben, ist Herbert Cysarz ins krauseste, bizarrste, auch gefährlichste Extrem gegangen. Sein Von Schiller zu Nietzsche. Hauptfragen der Dichtungs- und Bildungsgeschichte des jüngsten Jahrhunderts von 1926 ist in dem raunenden Beschwörungston und dem völkischen Rauschfanatismus bereits eine — wohl nicht erst heute - beklemmende Lektüre. Die Schrift Zur Geistesgeschichte des Weltkriegs. Die dichterischen Wandlungen des deutschen Kriegsbildes 1910—1930, 1931 bei Niemeyer erschienen, pointiert dann etwas, das gewiß vielfach im Publikum auch der „Literaturwissenschaft" gefühlt und gedacht wird. Sie zeigt aber unübersehbar zugleich das Überkippen eines ressentimentgeladenen militanten Irrationalismus in die bare Volkshetze und den zur Machtübernahme vordrängenden Nationalsozialismus. Was bei Strich und Unger um 1910/1911 noch profilierte Vorreiterschaft bedeutet, hat zu Beginn der zwanziger Jahre bereits das Gewicht einer zwar von manchen immer noch bekämpften, doch auch an den Universitäten sich allmählich behauptenden wichtigen Strömung namens 'Geistesgeschichte' gewonnen. Der Name Paul Kluckhohns ist, was den Max Niemeyer Verlag angeht, von doppelter Bedeutung. 1922 wird ausgeliefert: Die Auffassung der Liebe in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts und in der Romantik, 640 Seiten. Nicht nur die neue Romantikverehrung - man denke auch an Fritz Strich! teilt Kluckhohn mit Unger, sondern auch den spezifischen Bogen zurück ins 18. Jahrhundert. Das Opus ist bis heute nicht nur materialiter unüberholt, es ist auch zum Muster des Typus einer großen Ideenmonographie geworden. Als Kluckhohn im Jahr darauf zusammen mit Erich Rothacker bei Niemeyer das erste Heft der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte herausbringt, schließt sich eine „Buchreihe" an, in der neben manchem anderen bald einzelne Ideenmonographien nach Vorgang von Strich (Die Mythologie) und Rothacker herausragen: Waither Rehm, Der Todesgedanke in der Deutschen Dichtung vom Mittelalter bis zur Romantik (1928); Willi Flemming, Der Wandel des deutschen Naturgefiihls vom 15• bis zum 18. Jahrhundert (1931); Wolfdietrich Rasch, Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts (1936). Die Autoren dieser Standardwerke sind zu Niemeyer in der Regel wohl primär über die Deutsche Vierteljahrsschrift gelangt, im literaturwissenschaftlichen Verlagsprofil vertreten sie insgesamt einen wichtigen, prägenden neuen Schwerpunkt. Drei weitere kleine Striche, die in die Zukunft weisen, seien der Skizze nur kurz hinzugefügt. Die Autorenmonographie positivistisch-biographischer Prägung, aber mit philosophisch-weltanschaulichem Interesse in gewiß nur lockerer Nachbarschaft zu Ungers Hamann, vertreten 1928/30 die beiden Bände 213

Wissenschaftsepochen Hölderlin von Wilhelm Böhm. Er hat das Ganze durch mancherlei HölderlinPublikationen, vor allem eine wichtige Ausgabe (seit 1905), lange vorbereitet. Mit Willi Flemmings Andreas Gryphius und die Bühne (1921) etabliert sich des weiteren ein Stück der neuen, auch von dem kenntnisreich-unsäglichen Herbert Cysarz vorangetriebenen Barockforschung im Hause (nüchterne Außenkritiker sprechen schon am Ende der zwanziger Jahre im Fall Cysarz von „barocker Barockforschung" — was vernichtend gemeint ist). Schließlich ist mit Raschs Freundschaftskult etwas zumindest berührt, das gegen Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre nur eine kurze, aber staunenswerte Blüte haben darf (bevor es erst in den sechziger Jahren in Deutschland wieder explizit aufgenommen wird): Ansätze zu einer Sozialgeschichte der Literatur. Die Namen sind Levin L. Schücking, Arnold Hirsch und andere (die fast alle in jenen kurzen Jahren auch als Aufsatzautoren der Deutschen Vierteljahrsschrift in Erscheinung treten). Die charakteristische Verknüpfung dieses Neuen mit der schon etablierten 'Geistesgeschichte' aber deutet sich nicht nur in Raschs Freundschaftskult an, sondern vielleicht am fulminantesten - und hier muß das Gehege der „Literaturwissenschaft" verlassen werden - schon 1927 in der zweibändigen Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich von Bernhard Groethuysen. Auch hier führt der Bogen dann erst wieder in die sechziger Jahre.

Versuchungen und Kompromisse Wolfdietrich Raschs Freundschafts-Buch illustriert in seinem Erscheinungsjahr 1936, was unter dem Nationalsozialismus im Bereich der „Literaturwissenschaft" an Kontinuität zur Wissenschaft der Weimarer Zeit zunächst auch gepflegt werden konnte, gepflegt wurde. Die völkischen Töne bei Rasch, das Reden von der „Deutschen Bewegung" im 18. Jahrhundert und vom „kalten" Nationalgeist der Franzosen - all dies reicht bekanntermaßen weit hinter 1933 zurück, war vielfache fa^on de parier. Raschs Schrift ist übrigens (ohne das spätere 8. Kapitel) noch im Mai 1933 von der Philosophischen Fakultät der Universität Halle als Habilitationsschrift angenommen worden. Daß sich mancherlei aus völkischen Tendenzen zuspitzen, verschärfen, instrumentalisieren ließ und von manchen Autoren bereitwillig auch genutzt wurde, ist bekannt. Auch Rasch nimmt gleich in der Vorrede von 1936 Bezug auf die „Gesamtheit des völkischen Daseins". Die Spurensuche soll hier, was die „Literaturwissenschaft" im Hause Niemeyer angeht, nicht ins Detail getrieben werden, so wichtig (und schwierig) die Aufgabe sein mag. Daß sich das Bild 214

,.Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag dieses Teilbereichs (germanistische „Literaturwissenschaft") in den Publikationen des Max Niemeyer Verlags zwischen 1933 und 1945 signifikant verschöbe, über 'völkische' Verneigungen einzelner Autoren hinaus, läßt sich nicht mit Fug behaupten. Von dem gewiß auch prekären Fall Deutsche Vierteljahrsschrift unter Kluckhohn und Rothacker ist hier nicht zu handeln. Vieles andere ist ununtersucht. Gewiß, mit Herbert Cysarz und seiner Arzfgf£z7i/-Monographie von 1931 und mit seinem voluminös heroisierenden Schiller von 1934 (der noch 1959 auf Initiative der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft vom Verlag wieder herausgebracht wird), gehört einer der überzeugtesten Nazis zu den Verlagsautoren. Aber ein Franz Koch etwa und vergleichbare Größen der Regime-Germanistik veröffentlichen in anderen Verlagen. Die nach Kriegsbeginn propagandistisch auf den Weg gebrachte fünfbändige repräsentative 'Summe' der unter den Nazis genehmen Germanistik, Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (1941) erscheint nicht bei Niemeyer, wenn auch manche Autoren des Hauses dort beteiligt sind. Wir finden in der Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift als einzigen neuen Titel jener Jahre mit Hans Büschs Die Idee des Tragischen in der deutschen Klassik ein Lieblingsthema vor allem der Kriegsbewältigung (aber Gerhard Frickes einschlägige Kriegsmetaphysik des 'Tragischen' erscheint anderswo). Immerhin, die Schriften des NS-Lehrerbundes Gau Halle-Merseburg kommen bei Niemeyer heraus; das gehört ebenfalls zum Bild. Ein charakteristischer Akzent der Jahre unter Hitler hat sich lange vor 1933 vorbereitet und wird allenfalls leicht verstärkt: die Pflege des als 'volksverbunden' geltenden 'Bauernpoeten' Grimmelshausen. Seit 1923 wird dieser Autor innerhalb der Neudrucke durch Jan Hendrik Schölte betreut. Und mit seiner Herausgeberschaft erscheinen - bezeichnenderweise — von den insgesamt nur vier Bänden der Neudrucke zwischen 1931 und 1939 gleich drei zu Grimmelshausen (der vierte, auch ein unüberhörbarer Akzent nach der Machtergreifung: Spees Trutznachtigall, 1936). Seit 1938 erscheint die einst von Franz Saran begündete, verbreitete Handbücherei für den deutschen Unterricht in „Neuer Folge" als Handbücherei der Deutschkunde, herausgegeben von Helmut Arntz und Wolfdietrich Rasch. Das neue Über-Fach „Deutschkunde" wird von renommierten Germanisten auf völkische Linien ausgerichtet. Es beginnt mit Herder von Rasch (1938), dann folgen unter anderem Die Runenschrift von Arntz (1938), Die lyrische Dichtkunst von Robert Petsch (1939), Theodor Storm von Franz Stuckert (1940) und noch 1943 Die geistige Welt der Germanen von Jan de Vries. Hier herrscht gewiß nicht die regimekonforme Rassenhetze eines Adolf Bartels oder Franz Koch, es gibt auch 'Nischenhaftes' wie die Gattungspoetik ä la Robert Petsch. Aber der Tribut an die Bildungspolitik der Machthaber muß entrichtet werden. 215

Wissenschaftsepochen Zögernde Reprisen, vereinzelte Novitäten Es ist von eigentümlicher Symbolik, jedenfalls für den Bereich der 'Literaturwissenschaft', daß noch im Jahr der deutschen Kapitulation (das Hallesche Verlagshaus ist unzerstört geblieben) mit Wesen und Formen des Dramas (in der Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift) das gattungstheoretische Vermächtnis des siebzigjährigen Robert Petsch vom Max Niemeyer Verlag in Halle ausgeliefert wird. Petsch stirbt wenige Monate später in Hamburg. Von den Jahren des Interims, bis zum Neuanfang im Westen (und zur Enteignung des Halleschen Verlags), kann hier nicht des näheren die Rede sein. Was an literaturwissenschaftlichen Neuansätzen, auch im Exil, publikationsreif geworden ist, von Auerbach über Curtius bis zu Kayser und Staiger, findet seine Verleger in den ersten Nachkriegsjahren vorzugsweise und aus handfesten Gründen - in der Schweiz. Im Max Niemeyer Verlag, der schließlich 1949 in Tübingen seinen neuen Sitz nimmt, muß das Fundament neu gelegt werden, mit den geringsten Mitteln. Schlüsselwerke wie Heideggers Sein und Zeit oder Sprangers Lebensformen (beide schon 1950) hat die Literaturwissenschaft nicht zu bieten. Auf den ersten Blick erstaunt ein wenig, daß ausgerechnet die unter dem Nationalsozialismus begonnene Handbücherei der Deutschkunde, mit den Herausgebern Arntz und Rasch, zur frühen Wieder-Produktion gehört. Doch es sind die vergleichsweise harmlosen Titel, die neu aufgelegt werden: nicht gerade Die Runenschrift von Arntz, aber etwa Stuckerts Theodor Storm (1952, „überarbeitet"), neu Bert Nagels Interpretation des Armen Heinrich (1952) und schon im Jahr darauf in 3. Auflage Paul Kluckhohns Das Ideengut der deutschen Romantik (1. Auflage 1941). Der Versuch, in der Literaturwissenschaft die so dringend benötigten Texte für den Unterricht bereitzustellen und dabei nicht oder nur schwach belastete Autoren der geistesgeschichtlichen oder gattungspoetischen Richtungen heranzuziehen, bedient sich aus naheliegenden Gründen des Reihen-Prinzips. Ein nicht kompromittiertes Herausgeberduo, Kölner Kollegen, wird gleich für zwei Reihen gewonnen. Der aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Richard Alewyn und Ludwig Erich Schmitt (seit 1941 in Groningen, 1945 in Leipzig, 1953 in Köln) erwecken die ehrwürdigen Braune'schen Neudrucke zu neuem Leben (1955 erscheint, betreut von Peter von Polenz, Reuters Reisebeschreibung des Schelmuffiky) und präsentieren gleich auch eine Neuschöpfung: die ohne editorischen Anspruch auftretenden Deutschen Texte. Wie Wolfdietrich Rasch, dem Hause Niemeyer seit seiner Habilitationsschrift verbunden, 1938 die Handbücherei der Deutschkunde mit einem völkischen Herder eröffnet hat, so 216

„Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag jetzt die Deutschen Texte mit Der junge Herder. Noch im gleichen Jahr folgen, herausgegeben von Wolfgang Kayser, Gedichte des französischen Symbolismus in deutschen Ubersetzungen und, von Hans Volz, Eine Auswahl aus Martin Luthers Schriften. Die Tendenz zur 'Öffnung', die auch historische Spannweite deuten sich an. Vereinzelte akademische Monographien von Jüngeren bieten sich dem Max Niemeyer Verlag auch aus der unmittelbaren Tübinger Nähe an. Neuansätze lassen die braune Vergangenheit entschlossen in der Distanz. Walter Jens setzt gegen das längst wieder verblasene „Humanismus"-Gerede mit Hofmannsthal und die Griechen (1955) eine präzise Studie über modern-produktive, nichtantiquierte Griechenrezeption. Und Richard Brinkmann schaltet sich mit Wirklichkeit und Illusion (1957) in die internationale Diskussion über den erzählerischen „Realismus" ein, die poetischen Realisten des 19. Jahrhunderts neu in den Blick nehmend. Schließlich ist, drei Jahre darauf, ein weiterer Markstein neuerer deutscher Literaturwissenschaft zu nennen, die ideengeschichtliche Quellenarbeit und Textinterpretation auf hohem philosophischem Reflexionsniveau betreibt: Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. Schon im Ubergang zu einer immer rascher wachsenden (auch) literaturwissenschaftlichen Produktion lassen die frühen sechziger Jahre deutlich die Verbreiterung der Fundamente erkennen: in neuen oder wiederbegonnenen Monographienreihen, Jahrbüchern, ambitionierten Editionen. Die Neudrucke deutscher Literaturwerke, seit Braune eine der 'Säulen' der Niemeyerschen literaturwissenschaftlichen Produktion, in den fünfziger Jahren durch Alewyn und Schmitt kleinteilig weitergeführt, starten unter der Ägide von Richard Alewyn und Rainer Gruenter eine „Neue Folge" (196Iff.) ostentativ mit einem Großunternehmen: Nr. 1 ist der erste Teil der vielbändigen Neukirchschen Anthologie (Herrn von Hoffmannswaldau [...] Gedichte), die Herausgeber Angelo George de Capua und Ernst Alfred Philippson arbeiten in den Vereinigen Staaten, von dort kommt auch ein beträchlicher Druckkostenzuschuß, und das Vorwort präsentiert stolz fast die gesamte internationale Barockforschungswelt. Während bestimmte Autorenmonographien wie Ulrich Weissteins Heinrich Mann (1962, gleichfalls auf amerikanischem Boden geschrieben) 'selbständig' erscheinen, werden neben den traditionsreichen Hermaea, die noch das Gesamtgebiet der Germanistik zu umfassen versuchen, schon 1962 die Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte begründet. In ihnen werden — ohne benannte Herausgeberschaft - zunächst Studien kleineren Umfangs untergebracht, mit Akzenten im 19. Jahrhundert, Interpretationen, Ideengeschichte, Motivgeschichte. Im gleichen Jahr wird die während des Krieges unterbrochene Folge des re217

Wissenschaftsepochen nommierten Jahrbuchs des Freien Deutschen Hochstifis wieder aufgenommen, ein Organ mit den charakteristischen Schwerpunkten „Quellenstudien" und „Textinterpretationen". Ansätze zur Internationalisierung der germanistisch-literaturwissenschaftlichen Forschung, aber noch weit vor einer Rezeption der verschiedenen Strukturalismen und vor der Herausforderung durch die moderne Linguistik, deuten auf eine Ubergangsphase, die durch 'Geistesgeschichte', 'Neopositivismus' und 'werkimmanente Interpretation' nur noch ganz unzureichend bezeichnet werden kann.

Expansion, Spezialisierung, Unüberschaubarkeit Man ist versucht, den 'Schub' in der (nicht nur) literaturwissenschaftlichen Verlagsproduktion um die Mitte der sechziger Jahre - und schon etwas davor — symbolisch, nicht kausal, mit Georg Pichts Zeitungsartikeln und dann seinem Buch über Die deutsche Bildungskatastrophe (1964/65) zu verknüpfen. Zur rasanten Expansion vor allem der Universitäten in den sechziger Jahren tritt der Aufstieg des Deutschunterrichts, der Germanistik zu einem neuen Über-Fach als überproportionale Verstärkung einer gesellschaftspolitischen Grundtendenz hinzu. Die sprunghafte Erweiterung der Lehrkörper, das neue Zuschußwesen (für Reisen, Tagungen, Druckkosten) und die zunehmende Kaufkraft der Bibliotheken wie der interessierten Individuen ermöglichen, ja fördern innerhalb einer relativ kurzen Frist - weniger als eine Generation - einen Pluralismus, wie ihn die Literaturwissenschaft nie zuvor gekannt hat. Was für die Autoren Pflicht oder Neigung oder beides ist, für den Verlag Chance und Risiko, wird für die Leser Zwang zur strikten Begrenzung oder auch Anlaß zur Resignation. Wenige subjektive Hinweise sollen dieser Großperiode gelten, die noch unsere Gegenwart betrifft, wobei die Anfänge in die Ära Hermann Niemeyers zurückreichen (er stirbt 1964), aber auch schon die Handschrift des seit 1960 Verantwortung tragenden Robert Harsch-Niemeyer zeigen. 'Barockliteratur' ist in den sechziger Jahren längst zu einem Markenzeichen des Max Niemeyer Verlags geworden, vor allem die Textausgaben gehen bis in die Gründungszeit zurück. Auch große, mehrbändige Editionen wie Ziesemers Simon Dach und Scholtes Grimmelshausen reichen weit in die Weimarer Zeit hinein, die Neudrucke schrauben mit ihrer „Neuen Folge" (seit 1961) die Ansprüche an Extension und Präzision weiter in die Höhe. 1963 beginnt mit der vielbändigen Ausgabe des Andreas Gryphius von Szyrocki und Powell die Erschließung des neben Grimmelshausen wohl meistbeachteten deutschen Barockautors. Der Ehrgeiz der neuen Barockforschung ermöglicht es, daß nun auch 218

„Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag Grimmelshausen, nach verfeinerten Methoden ediert, 1967 gleich mit vier Bänden neu erscheint. Als die modernisierte Forschungsförderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Möglichkeit schafft, Reprints alter Drucke mit editorischem Anhang auf den Markt zu bringen, wird im Rahmen der Deutschen Neudrucke dem Max Niemeyer Verlag die „Reihe Barock" unter der Herausgeberschaft von Erich Trunz anvertraut. Wie Braune seinerzeit seine Neudrucke mit Opitzens Poetik eröffnet hat, so Trunz jetzt (1966) die neue Reihe mit Opitzens Geistlichen Poemata. Wenn heute die literaturwissenschaftliche Barockforschung fast schon mit Selbstverständlichkeit die wichtigeren Texte von Birken, Grimmelshausen, Gryphius, Harsdörffer, Kuhlmann, Opitz, Reuter, Schottelius, Zincgref und vielen anderen (auch solchen des 18. Jahrhunderts, von Canitz über Geliert bis Klinger) in den Bibliotheken und mancher Privathand voraussetzt, so ist das wesentlich den - gewiß sehr unterschiedlich angelegten - Editionen aus dem Hause Niemeyer zu verdanken. Und es sei hinzugesetzt: Der Universitätsunterricht zur Barockliteratur wäre nicht zu denken ohne die Bändchen aus Reclams Universal-Bibliothek (wo einem wiederum viele Niemeyer-Editoren begegnen). Die Analysen, Studien, Interpretationen verteilen sich vielfältiger über die Verlagslandschaft (wie natürlich auch einzelne Barock-Editionen). Eine Spezialzeitschrift, die nur dem 17. Jahrhundert gälte, existiert im Hause Niemeyer nicht. Sie hätte vermutlich auch einen schweren Stand. Aber manche Monographie geht in eine der Buchreihen ein, die sich seit den sechziger Jahren gerade in diesem Verlag immer mehr diversifiziert haben. Hier treten neben Hermaea. Neue Folge, seit 1952 von Helmut de Boor und Hermann Kunisch herausgegeben (im Sommer 1995 77 Titel), und die jüngeren Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, ohne Herausgeber (77), die Studien zur deutschen Literatur, die 1966 von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler begründet werden (137). Diese Reihen repräsentieren, mit den unvermeidlichen Überschneidungen, aber auch mit jeweiligen Schwerpunkten, den größeren Teil des immer weiter und differenzierter gewordenen Methodenspektrums der letzten zweieinhalb Jahrzehnte: von der ideengeschichtlichen Analyse bis zur Autorenmonographie, von der Gattungsgeschichte bis zur psychoanalytischen Interpretation. Auch poststrukturalistische Ansätze haben Eingang gefunden. Fast kann man eher benennen, was dort nicht vertreten ist, etwa empirische Literaturwissenschaft mit quantifizierender Ausrichtung. Was sich in der germanistischen Literaturwissenschaft in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten an rasanter Ausdifferenzierung der Arbeitsfelder und methodischen Zugänge, aber auch an ständig steigendem Manuskriptangebot ereignet, hat der Max Niemeyer Verlag wie kaum ein zweiter noch in andere 219

Wissenschaftsepochen Kanäle gelenkt: durch Gründung (oder Aufnahme) neuer Spezial-Periodica und Buchreihen. Der vielleicht symptomatischste Akt war die Schaffung des Internationalen Archivs für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1976 mit den Studien und Texten zur Sozialgeschichte der Literatur seit 1981. Hier werden Fragestellungen gebündelt, die - man erinnere sich — gegen Ende der zwanziger Jahre eine kurze Blüte erlebten und erst gegen Ende der sechziger Jahre im Zeichen der Umwälzungen einer 'neuen Germanistik' programmatisch wiederaufgenommen wurden. Oft von germanistischen Literaturwissenschaftlern mitbefördert, nicht ohne krisenhafte Wirkungen auf die Kerngebiete, ereignet sich in den nachfolgenden Jahren auch die Ausgliederung, Verselbständigung und Verbreiterung neuer Nachbardisziplinen: Medien in Forschung und Unterricht (Buchreihe seit 1980), Rhetorik (Jahrbuch, seit 1986 bei Niemeyer) mit RhetorikForschungen (Buchreihe seit 1991), Theatron (Buchreihe seit 1988). Manche der dort erscheinenden Artikel und Buchmanuskripte könnten prinzipiell genausogut in den 'klassischen' Zeitschriften und Buchreihen erscheinen. Aber neue — oder auch nur größer gewordene - Teildisziplinen sorgen auf diese Weise, sofern sich die Unternehmung finanzieren läßt und genügend Interessenten findet, fur mehr Fachprofil, Aufmerksamkeit, Vielfalt, Publikationsmöglichkeiten. In fast dem gleichen Zeitraum und mit ähnlichen Verlaufsprozessen erhalten im Max Niemeyer Verlag zwei historische Großbereiche neue Entfaltungsmöglichkeiten - mit erweitertem Methodenspektrum: die Frühe Neuzeit und die 'Moderne'. Die Frühe Neuzeit, als Konzept wesentlich von Historikern, nicht von Literaturwissenschaftlern geschaffen, steht von Anfang an stark unter kulturhistorischen Vorzeichen und wird in dieser Hinsicht, von der Literaturwissenschaft aus betrachtet, fast zu einer methodischen Musterplantage. Die Studien- und Dokumenten-Reihe Frühe Neuzeit (seit 1988) ist das 'Greifbarste' bei dieser ganzen Interessenbewegung, die sich mit vielen Einzelheiten auch in den anderen Buchreihen beobachten läßt. Das Haus Niemeyer verfügt in dem Bereich, der heute mit Vorliebe als Frühe Neuzeit bezeichnet wird, über eine besonders lange Tradition, im Grunde bis zu Braunes Neudrucken von Texten des 16. und 17. Jahrhunderts zurückreichend. Und es ist bezeichnend, daß ein wesentlicher Teil der sich jetzt auf Frühe Neuzeit konzentrierenden Literaturwissenschaftler aus der klassischen Barockforschung stammt (vielleicht am eindrucksvollsten dokumentiert dies die auf 6 Bände angelegte Gesamtdarstellung Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit won Hans-Georg Kemper). Und ebenso konsequenterweise konnten vor kurzem die Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung in diesem Verlag ein neues Dach finden. Schließlich die 'Moderne' im Sinne deutscher Literatur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Daß sie nach dem Zweiten Weltkrieg erst allmählich Ein220

,.Literaturwissenschaft" im Max Niemeyer Verlag

gang in die Universitäten und somit in die Verlage fand, sei vorausgesetzt. Von Vorstößen in den frühen sechziger Jahren wie Weissteins Heinrich Mann war schon die Rede (Paulsens Georg Kaiser von I960 sei hinzugefügt). An den Untersuchungen und den Studien ist das neue Interesse immer deutlicher ablesbar. In den Deutschen Texten hat seit Anfang der siebziger Jahre Gotthart Wunberg als Herausgeber die Moderne mit Entschiedenheit neu zur Geltung kommen lassen. Inzwischen gehören auch außerhalb der Buchreihen entsprechende Einzeltitel zum Programm des Max Niemeyer Verlags, etwa Helmut Koopmanns Der schwierige Deutsche (1988, zu Thomas Mann) oder Moderne Literatur in Grundbegriffen von Dieter Borchmeyer und Viktor Zmegac (2. Aufl. 1994). 'Moderne' ist noch kein Verlagsschwerpunkt wie Frühe Neuzeit, Barock oder Sozialgeschichte der Literatur, aber im Sinne der umfassenden Pluralität besitzt sie ihren Platz. Das 'Modernste' zuletzt: die Elektronik und ihre Imperien. Längst hat sie in die Arbeitsmethoden auch der Literaturwissenschaft eingegriffen. Der Max Niemeyer Verlag hat sich seit den frühen siebziger Jahren an den rasant vorausschreitenden Entwicklungen mit Erfolg beteiligt: mit der Elektronischen Bibliothek zur deutschen Literatur und den Indices zur deutschen Literatur oder auch um in Nachbargebiete hinüberzuschauen - den Materialien zu Metrik und Stilistik (römische Poesie). Mit Metrik und Stilistik und mit Anlehnung an eine neue naturwissenschaftliche Psychologie hat vor einem Jahrhundert, bei Ernst Elster, im Hause Niemeyer die „Literaturwissenschaft" begonnen, „prinzipiell" zu werden. Die Literaturwissenschaft hat es überstanden.

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu*

Nur für einen kurzen Moment, so scheint es, stockt im Jahr der deutschen Kapitulation der Strom des Planens, Schreibens, Druckens, Verkaufens von Geschichten der deutschen Literatur - und auch nur in Deutschland. Ohne Literaturgeschichten kein gymnasialer Deutschunterricht (auch nicht in der Schweiz), ohne Literaturgeschichten keine Universitätsgermanistik, ohne Literaturgeschichten kein Bildungs- und Geschichtsbewußtsein, und sei es auch ein tief fragwürdig gewordenes.1 Der nachfolgende, skizzenhafte Versuch, der sich im wesentlichen auf den „Westen" einschließlich Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz konzentriert, 2 arbeitet mit sechs (Hypo-)Thesen: 1. Literaturgeschichtsschreibung *

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Zuerst erschienen in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Christoph König. Frankfurt a. M . 1996, S. 1 1 9 - 1 4 9 , Beitrag zum Symposion des Marbacher Arbeitskreises für Geschichte der Germanistik, 4 — 7. Oktober 1993 in Marbach. Die hiermit verbundenen funktionsgeschichtlichen Fragen sind speziell für Literaturgeschichten des 20. Jahrhunderts bisher relativ wenig verfolgt worden. Zu den Wurzeln im 19. Jahrhundert (und weiter zurückreichend) verweise ich vorab generell auf Jürgen Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte. Entstehung und Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus und Deutschem Kaiserreich. Stuttgart 1989; desgleichen auf Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989, passim. Von grundsätzlicher Bedeutung ist auch Michael S. Batts: A History of Histories of German Literature. Prolegomena. Bern u. a 1987 (in den bibliographischen Teilen jedoch nur bis in die 1830er Jahre reichend). Zu den bildungsgeschichtlichen Kontexten in Deutschland bis zum Jahre 1945 jetzt sehr gut orientierend: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. V: 1 9 1 8 - 1 9 4 5 . Die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. Hrsg. v. Dieter Langewiesche u. Heinz-Elmar Tenorth. München 1989. Die längst unüberblickbar gewordene Literatur zur Theorie der Literaturgeschichtsschreibung allgemein klammere ich hier aus. Knappe anregende Beispielanalysen von Gervinus über Korff bis zu den jüngeren „Sozialgeschichten", mit grundsätzlichen Überlegungen, bei Jürgen Fohrmann: „Über das Schreiben von Literaturgeschichte", in: Geist, Geld und Wissenschaft. Arbeits- und Darstellungsformen von Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Peter J. Brenner. Frankfurt a. M . 1993, S. 1 7 5 - 2 0 2 (dort auch umfangreiche Hinweise auf einschlägige Literatur). Für die SBZ/frühe D D R wird einstweilen auf das laufende Projekt „Geschichte der Literaturwissenschaft" (Petra Boden, Dorothea Dornhof, Rainer Rosenberg) innerhalb des „Forschungsschwerpunkts Literaturwissenschaft der Förderungsgesellschaft Wissenschaftliche Neuvorhaben m.b.H." (Berlin) hingewiesen. Zur Orientierung über die kultur- und literatur-

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Wissenschaftsepochen ist in den Jahren vor und nach 1945 in Deutschland wissenschaftstheoretisch, jedenfalls was die Legitimität dieses Genres und die Hauptaspekte seiner Textkonstruktion angeht, noch weitgehend unbezweifelt. 2. Literaturgeschichtsschreibung ist ein Leitgenre von besonderer institutioneller Festigkeit und Abgesichertheit (vor allem durch Schule und Hochschule). Darin sind ihr am ehesten die großen Dichtermonographien (Goethe an der Spitze) vergleichbar. 3. In Literaturgeschichtsschreibung steckt - nicht nur in Deutschland - spezifisches Potential zu einer „zweiten", einer „anderen" Geschichte (abgekürzt: vor 1945 die „deutsche Sendung" trotz der Demütigung durch Versailles, nach 1945 das „geistige", das „bessere" Deutschland). 4. Literaturgeschichten tendieren wegen ihrer paradigmatischen Funktionen, und nicht nur wegen des Zuwachses an Gegenständen und Forschungsresultaten, zur beständigen 'Fortschreibung', wieder ähnlich wie die großen Dichtermonographien. 5. In diesem Fortschreiben kann sich nach 1945 beides, Kontinuität wie Diskontinuität, sowohl in Akten des Eliminierens/Ausklammerns als auch in solchen des Transformierens/Umdeutens (und Nachtragens) manifestieren. 6. Der Sonderfall personaler Autor-Identität vor/nach 1945 (Fechter, Fricke, Mulot u. a.) ist kein Sonderfall, sondern die Zuspitzung eines Prinzips - nicht anders als der (relative) 'Neueinsatz' (Burger, Martini, Schneider u. a.). Wenige ausgewählte Namen und Daten mögen hier vorweg für die Jahre vor und nach 1945 stehen.

Das Netz der Historiographien 1943 noch ist in 19. Auflage die einbändige Fassung der Geschichte der deutschen Literatur von Adolf Bartels erschienen,3 dem in Weimar lebenden (1905 vom Großherzog mit dem Professorentitel, 1938 von der Universität Leipzig mit dem Dr. phil. h. c. versehenen) freien Schriftsteller, Journalisten, Literaturhistoriker. Seit Jahrzehnten sucht dieser anfangs völkische, dann mehr und mehr rassistische4 Literaturforscher mit einem Quantitäten- und Vollständigkeitspolitischen Rahmenbedingungen immer noch am ergiebigsten: Literarisches Leben in der DDR 1945 bis 1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme. Von einem Autorenkollektiv: 3

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Ingeborg Münz-Koenen (Leitung) u. a. Berlin 1980. Braunschweig, Berlin, Hamburg 1943. Es ist die letzte Auflage. Eine erste Fassung unter dem Titel Geschichte der deutschen Literatur erschien in 2 Bänden bereits 1901/02, eine dreibändige große Ausgabe 1924-28. Prinzipiell und systematisch entfaltet spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre (vgl. Jüdische Herkunft und Literaturwissenschaft. Eine gründliche Erörterung, 1925). Vgl. auch Karl Otto Conrady: Vor Adolf Bartels wird gewarnt. Aus einem Kapitel mißverstandener Heimatliebe, in: Ders.: Literatur und Germanistik als Herausforderung. Frankfurt a. M. 1974, S. 227-232.

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu wahn sondergleichen alle nur irgend in Frage kommenden deutschsprachigen Autoren zu „erfassen". Als „Eroberer von Neuland" bezeichnet er sich in diesem Zusammenhang gern; allein 1937 meldet er an die 150 „Neuaufnahmen".5 Er bedenkt dabei besonders ingrimmig die „jüdischen" und die „kryptojüdischen" Schriftsteller (unter letzteren auch Heinrich und Thomas Mann und Hermann Hesse) mit seiner Aufmerksamkeit. Er, dem Adolf Hitler zum 1. Mai 1937 in Anerkennung seiner Verdienste „um die deutsche Literaturwissenschaft" und seines „Wirkens für die völkische Kulturerneuerung" den „Adlerschild" verliehen hat, die „höchste Auszeichnung des Reiches",6 stellt seit Jahren die offiziöse Richtschnur auch für die anderen Literaturgeschichten dar. Und der Krieg habe nach Bartels' eigenem Bekunden „zum Erfolg" des Buches noch beigetragen, das seine „völkische Aufgabe" vorzugsweise darin erfülle, daß es Deutschlands Ehre gegen die „feindliche" Beschimpfung als „Hunnen" und „Barbaren" verteidige.7 Neben Bartels und neben der Geschichte deutscher Dichtung (3. Aufl. 1940) des mächtigen Berliner Parteigenossen und (seit 1935) germanistischen Ordinarius Franz Koch und anderen hat sich auch etwa die Dichtung der Deutschen von Paul Fechter behaupten können. Der Journalist, Theaterkritiker, Romancier und Literaturhistoriker Fechter hat sein (dem „Bartels" an Umfang fast gleichkommendes) Kompendium erstmals 1932 herausgebracht.8 Er hat bereits damals aus dem „soldatischen" Erleben des Ersten Weltkriegs die Maßstäbe für den Beitrag der Literaturgeschichte „zum Heutigen und seinem Notwendigen" hergeleitet.9 Fechter, dem 1961 von der Neuen Deutschen Biographie attestiert wird, daß er zum Nationalsozialismus „bald in Widerspruch geriet", 10 kann immerhin 1941 sein Buch unter dem Titel Geschichte der deutschen Literatur in überarbeiteter Fassung herausbringen. Die Schlüssel-Formulierung, daß die Soldaten „den Begriff Volk in seiner Reinheit darstellten", und das Reden von „dem peinlichen Gefühl", sooft „Volk und Literatur zusammenstießen",11 sind 1941 wörtlich aus dem Text von 1932 übernommen. Er ist aktueller denn je geworden.

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Adolf Bartels: Geschichte der deutschen Literatur. Zit. nach der 19. Aufl. von 1943, wo auch ausgewählte frühere Vorworte abgedruckt sind; hier S. Vllf. Ebd., S. IX. Ebd., S. X. Dichtung der Deutschen. Eine Geschichte der Literatur unseres Volkes von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1932. Ebd., S. 6. Rüdiger Frommholz: Art. „Fechter, Paul Otto", in: N D B Bd. 5 (1961), S. 39f.; hier: S. 39. Paul Fechter: Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1941, S. 8; vgl. Dichtung der Deutschen (wie Anm. 8), S. 6.

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Wissenschafisepochen Das Jahr 1941 bringt mit den fünf Bänden Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, herausgegeben „im Namen der germanistischen Fachgruppe" von Gerhard Fricke, Franz Koch und Klemens Lugowski,12 die repräsentative „Summe" des dem Regime genehmen germanistischen Uberblickswissens. Die für die Literaturgeschichte einschlägigen Kapitel vor allem in den Bänden III und V stammen unter anderem von Paul Böckmann, Hans Heinrich Borcherdt, Heinz Otto Burger, Herbert Cysarz, Willi Flemming, Gerhard Fricke, Paul Kluckhohn, Franz Koch, Werner Kohlschmidt, Fritz Martini, Günther Müller, Friedrich Neumann, Friedrich Panzer, Julius Petersen, Robert Petsch, Josef Quint und Benno von Wiese. „Der totale Krieg, wie wir ihn erleben", so eröffnet Franz Koch („Berlin- Charlottenburg, im Juli 1941") das Unternehmen, „ist nicht nur eine militärische, sondern zugleich auch die geistig-kulturelle Auseinandersetzung größten Maßes".13 Die im Felde Kämpfenden und das deutsche Volk sollen, wie Koch zuletzt wünscht, „die Gewißheit schöpfen, daß auch der deutsche Geist nicht müßig ist, sondern Entscheidungen sucht, Grenzen verschiebt und um eine neue organische Ordnung auch seines Reiches ringt".14 Nicht wegen solcher plumpen Parallelisierung und wegen der äußeren Indienstnahme für den „totalen Krieg" sind die weitverbreiteten Bände Von deutscher Art in Sprache und Dichtung heute in erster Linie belangvoll, sondern weil hier die Cr£me der in Deutschland verbliebenen Fachvertreter sich äußerte, bewußt auch mit dem Blick ins „Ausland",15 und weil es einen Querschnitt dieser Art seit Jahren nicht mehr gegeben hat; er sollte auch weit in die Nachkriegszeit hineinwirken. Mehr aus der Praxis der Schule heraus entwickelt und suppletiv zu den immer neu den Parteizielen angepaßten altbewährten Schul-Literaturgeschichten von Hermann Kluge16 und (besonders für Bayern) von Josef Rackl und Eduard Ebner17 auf die zeitgenössische Literatur bezogen sind die Hefte, 12

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Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Hrsg. v. Gerhard Fricke, Franz Koch u. Klemens Lugowski. 5 Bde. Stuttgart 1941. Das Sammelwerk geht zurück auf die „Kriegseinsatztagung deutscher Hochschulgermanisten" in Weimar vom 5. bis 7. Juli 1940, wo unter Leitung von Koch und Fricke zunächst ein Umfang von drei Bänden geplant war, „getragen vom kulturellen und politischen Ethos des Nationalsozialismus" (Zeitschrift für Deutsche Bildung 16 [1940], S. 299f.). Ebd., Bd. 1, S . V . Ebd., S. IX. Zu diesen Vorstellungen immer noch nicht überholt: Klaus Ziegler: Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Hrsg. v. Andreas Flitner. Tübingen 1965, S. 1 4 4 - 1 5 9 . Vor der Aufgabe, den „Aufbau eines neuen Europa" zu befördern, wollte man „auch den Blick auf das Ausland" richten ( w i e A n m . 12). Geschichte der deutschen National-Literatur. Zum Gebrauch an höheren Unterrichtsanstalten und zum Selbststudium. Bearb. v. Reinhold Besser, Otto Oertel u. Manfred Kluge. Altenburg 5 8 1 9 3 7 . Deutsche Literaturgeschichte für höhere Schulen und zum Selbstunterricht. Neubearb. v. Karl Hunger. Bamberg 2 7 1 9 3 8 .

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu die Arno Mulot in den Jahren 1937 bis 1942 herausbringt und die 1944 (das Vorwort: „Im Felde/Winter 1943") unter dem Titel Die deutsche Dichtung unserer Zeit als Buch erscheinen.18 Der „Soldat in der deutschen Dichtung unserer Zeit" füllt die ersten einhundert Seiten, dann „der Bauer", „der Arbeiter", „das Reich" usf. In dem „gewaltigen Schicksalskampf unseres Volkes" soll nach dem Willen des Autors auch dieses Buch zur „kraftspendenden und stählenden Selbstbesinnung und damit zum unbedingten Kampf- und Siegeswillen beitra" 19 gen }> Solche Stählungsrhetorik begegnet weithin auswechselbar gewiß in vielen Vor- und Geleitworten germanistischer (auch romanistischer und anglistischer) Publikationen während der Kriegsjahre. Wie sehr jedoch gerade die Literaturgeschichte zu den Orientierungsgenres gezählt wird, zeigt sich daran, daß noch im gleichen Jahr 1944 der Rostocker Ordinarius Willi Flemming eine ganze Monographie über Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung herausbringt.20 In Absetzung gegen andere historiographische Konzepte (die im einzelnen Revue passieren) soll sie den „Schicksalsweg" eines Volkes zeichnen;21 ja „die Geschicke unseres Volkes" werden, so schließt das Buch, „durch die Gestaltung des Dichters erst fruchtbar".22 Drinnen und draußen Wenig später nur, im Winter 1944/45, entwirft im Moskauer Exil Georg Lukacs seine (zunächst in Internationale Literatur — Deutsche Blätter erscheinende) Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Die geschichtsanalytischen Bewertungskriterien sind polarisierend klar nach „Fortschritt" und „Reaktion" gegenüber der „deutschen Misere" sortiert. Doch auch hier heißt es: „Sinn und Aufgabe dieser Betrachtung ist der Nachweis, daß die deutsche Literatur ein Teil, ein Faktor, ein Ausdruck und eine Spiegelung des deutschen Volksschicksals ist."23 Der Blick über die deutschen Grenzen hinaus müßte umfassend und konsequent diejenigen einschlägigen Publikationen einbeziehen, die seit Anfang der

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Arno Mulot: Die deutsche Dichtung unserer Zeit. Stuttgart 1944; Vorwort: S. VII. Ebd. Willi Flemming: Wesen und Aufgaben volkhafter Literaturgeschichtsschreibung. Breslau 1944. Ebd., S. 67. Ebd., S. 128. Georg Lukacs: Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur. Berlin 1955, S. 14.

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Wissenschaftsepochen

dreißiger Jahre in einzelnen europäischen Nachbarländern auf deutsch erschienen, zuletzt auch unter deutscher Besatzung: in den Niederlanden, 24 Dänemark, 25 Belgien 26 vor allem. Doch gleiche Aufmerksamkeit hätte den ins Exil getriebenen Literaturhistorikern zu gelten: insbesondere den Versuchen, auf amerikanischem Boden historiographische Abrisse für den germanistischen Unterricht zu erstellen.27 Die Frage nach „Kontinuität und Diskontinuität" stellt sich hier auf einer kategorial anderen Ebene. In das Nachkriegsdeutschland haben diese Literaturgeschichten und Abrisse, soweit heute erkennbar, kaum hineingewirkt, auch nicht über die Reeducation-Programme der Besatzungsmächte. 28 Und in den besetzten Nachbarländern war nach der Befreiung die deutsche Literaturgeschichte, wie es scheint, nicht gerade ein Kernbereich programmatischer Revisionen.29 Eine leicht erklärbare und kaum zu überschätzende Sonderrolle spielt auch in der Literaturgeschichtsschreibung die deutschsprachige Schweiz. Zunächst demonstriert sie am Kriegsende schlaglichtartig eine äußere institutionelle Stabilität. Als im August 1945 Walter Clauss in Küsnacht-Zürich das Vorwort zu Deutsche Literatur. Eine geschichtliche Darstellung

ihrer Hauptgestalten

verfaßt,

konstatiert er für diese 3. Auflage „keine wesentlichen Änderungen" gegenüber der 1. Auflage von 1943. 3 0 Der hauptsächlich für höhere Schulen bestimmte Band soll vor allem „Tatsachen geben" und nach den „dichterischen Werken

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Etwa Hendrik Willem Jan Kroes' Abriß der deutschen Literaturgeschichte in der 11. Aufl., 's-Gravenhage 1940. Karl Roos: Kleine deutsche Literaturgeschichte. Kopenhagen 1936. M. de Brie u. M. Gevaert: Zum Lernen und Lesen. Grundriß der deutschen Literaturgeschichte. Brügge 2 1 9 3 7 . Vgl. hierzu die Ergebnisse des Marbacher Projekts „Wissenschaftsemigration in der Germanistik", u.a.: Regina Weber: Zur Remigration des Germanisten Richard Alewyn, in: Die Emigration der Wissenschaften nach 1933. Disziplingeschichtliche Studien. Hrsg. v. Herbert A. Strauss u.a. München u.a. 1991, S . 2 3 5 - 2 5 6 ; dies.: Werner Vordtriede im Exil. Der emigrierte Germanist als Führer zur deutschen Dichtung, in: Kulturtransfer im Exil. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft für Exilforschung/Society für Exile Studies ν. Claus-Dieter Krohn, Wulf Koepke u. a. München 1995; Exilforschung Bd. 13: Akkulturation; sowie Modernisierung oder Überfremdung? Zur Wirkung deutscher Exilanten in der Germanistik der Aufnahmeländer. Dokumentation eines Kolloquiums in Marbach. 2 . - 4 . September 1991. Hrsg. v. Walter Schmitz. Stuttgart 1994. Zu den generellen Literatur-Präferenzen der amerikanischen Besatzungsmacht materialreich: Hansjörg Gehring: Amerikanische Literaturpolitik in Deutschland 1945—1953. Stuttgart 1976, S. 35ff. Freilich bedarf auch dies erst der näheren Untersuchung. Auffällig konventionell, ja zögerlich verfährt z.B. noch 1947 Eyvind Holm: Abriß der deutschen Literaturgeschichte. Kobenhavn 1947. Das in erster Linie für den Gymnasialunterricht gedachte Buch bricht um 1930 (Stichwort „Neue Sachlichkeit") ab und fugt lediglich den Satz an: „Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ging die Dichtung in den Dienst der neuen Ideologie" (S. 112). Zürich 1945, S.V.

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu

[...] gelüsten lassen"; er soll den Schüler hinführen zu den Fragen, die „einweihen in die Dichtung als eine Offenbarung des Geistes und der Seele, die ihm die Augen öffnen für das Verständnis des Menschen". 31 Ein Exemplar findet über das „Hilfswerk für das geistige Deutschland" mit Sitz in Zürich schließlich auch den Weg nach Göttingen in die dortige Universitätsbibliothek. Der vorübergehende historiographische 'Stillstand' in Deutschland, das institutionelle Vakuum veranlaßt den schweizerischen Sprachhistoriker und Mediävisten Bruno Boesch, noch 1946 im Francke Verlag Bern (Kristallisationspunkt bedeutender literaturwissenschaftlicher Publikationen auch während der nachfolgenden Jahre)32 eine Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen herauszubringen: zusammen mit so renommierten Kollegen wie Leonhard Beriger, Friedrich Ranke, Heinz Rupp, Fritz Strich, Max Wehrli - freilich auch mit dem seit 1944 als Ordinarius in Kiel lehrenden Werner Kohlschmidt,33 der für das offizielle Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (1941) immerhin den Artikel über „das deutsche Soldatenlied" beigetragen hat. 34 Es geht Boesch „um die Dichtung als geschichtliche Gestalt und Gestaltung menschlichen Geistes und menschlichen Daseins", auch um neue literaturwissenschaftliche „BegrifFsbildung" in den großen Strukturen der Literaturgeschichte.35 Es ist nach dem Krieg die erste neue „Summe" literaturhistorischer Hauptlinien (noch 1967 in 3. überarbeiteter Auflage erschienen). Funktionsgeschichtlich betrachtet, und wohl auch einer nicht explizit gemachten Absicht entsprechend, tritt dieses bewußt als Schöpfung „mehrerer Verfasser" vorgestellte knappe Werk einstweilen auch in die Lücke, die nach Von deutscher Art in Sprache und Dichtung entstanden ist. Der bis 1945 in Bern amtierende, aus Bonn stammende Helmut de Boor und der Österreicher Richard Newald konzipieren nach eigenem Bekunden ebenfalls noch 1946 „aus der unmittelbaren Notlage der Zeit" heraus das Vorhaben, „dem Studenten [...] ein knappes Lernbuch in die Hand" zu geben36 —

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Ebd., S. Vllf. Auf diese Konzentration, mit Autoren wie Erich Auerbach, Ernst Robert Curtius, Wolfgang Kayser, Walter Muschg u.a., ist wiederholt hingewiesen worden. Kohlschmidt, gebürtiger Magdeburger, verfügte offenbar über engere persönliche Beziehungen nach Bern und wechselte schließlich 1953 dorthin (nachdem er in Kiel auch über das Jahr 1945 hinaus im Amt geblieben war). Bd. V. Stuttgart 1941, S. 1 7 7 - 2 0 2 . Der Artikel trägt alle Züge einer unattraktiven Auftragsarbeit, der sich Kohlschmidt als Dozent (in Freiburg i. Br.) offenbar nicht entziehen konnte. Um so eindrucksvoller ist der 'Sprung' zu den hochgewichtigen Epochenkapiteln in Bruno Boesch: Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen. Bern 1946 (Sturm und Drang, Klassik, Romantik). Vorwort, ebd., S. 7. Walter Clauss, Vorwort zu Bd. I seiner Geschichte der deutschen Literatur. München 1949, S. V.

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Wissenschaftsepochen

woraus dann in der Weiterarbeit freilich „der Plan zu einer ausführlichen Gesamtdarstellung" entsteht: die bis heute nicht abgeschlossene vielbändige Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfangen bis zur Gegenwart. Das Hauptziel des Unternehmens von de Boor und Newald ist schließlich, als der erste Band erscheint (1949), die Vermittlung von „Wissen": „Mehr als sonst muß der Student wieder geistige Verantwortung lernen und zu dem Bewußtsein erzogen werden, daß man verantwortlich nur beurteilen kann, was man weiß. Sonst bleibt alle 'Deutung' schöngeistiges Gerede." 37 Während diese beiden Autoren im Jahre 1946 erst planen, gelingt es noch im gleichen Jahr wie Boesch mit seinem schweizerischen Sammelband einem einzelnen, mit einem neuen historiographischen Gesamtüberblick an die Öffentlichkeit zu treten: Hermann Schneider, dem ersten Rektor der Universität Tübingen nach dem Zusammenbruch, mit seinen immerhin 118 Druckseiten umfassenden Epochen der deutschen Literatur:38 Der Vergleich mit Boesch zeigt rasch, daß ein einigermaßen differenziertes, nicht mehr „völkisches" Panorama von einem Einzelautor nicht mehr zu leisten ist, schon gar nicht in so kurzer Frist (sein Uberblick reicht auch nur bis zum „Naturalismus"). Immerhin gelingt es Hermann Schneider, bei aller Fixierung auf die Stufen „nationalen Werdens", ausgesprochene Nationalismen sorgsam zu umgehen. Und aus dem Blick auf die jüngstvergangene politische Depravation der deutschen Literatur erklären sich gleichermaßen die deutlichen Autonomiepostulate wie das besondere Interesse für „Blütezeiten": Deren Dichtung scheine „jeder irdischen Gebundenheit und Zweckmäßigkeit entrückt zu sein."39 In bezeichnender Komplementarität zu den beiden Versuchen historiographischer Neuorientierung von 1946 stehen drei Großunternehmungen, deren Verfasser nach 1945 ostentativ auf die Jahre vor 1933 zurückverweisen: Hermann August Korff in Leipzig, Paul Böckmann in Heidelberg und Bruno Markwardt in Greifswald. 1923 bereits ist Band I von Der Geist der Goethezeit erschienen, der Zentralkategorie „Leben" statt „Nation" folgend 40 und damit hinreichend flexibel, um der Diktatur des „Völkischen" ausweichen zu können; Band III vom Jahre 1940 trägt am deutlichsten die Spuren des Regimes (einschließlich des vorangestellten Hinweises auf die „Einnahme von Paris" durch die deutschen Truppen) und muß denn auch als erster nach dem Kriege überarbeitet werden (1949), noch bevor das monumentale Werk 1953 mit Band IV abgeschlossen wird. Dieses Produkt der historiographischen „Geistesgeschich37 38 39 40

Ebd. Hermann Schneider: Epochen der deutschen Literatur. Bonn 1946. Ebd., S. 9. Vgl. Fohrmann: Über das Schreiben von Literaturgeschichte (wie Anm.l), S.185f.

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu te" mag in seinem Durchgang von der frühen Weimarer Republik bis in die Jahre der DDR singulär sein. Doch gibt es zu Paul Böckmanns Formgeschichte der deutschen Dichtung, deren erster Band 1949 mit 700 Druckseiten erscheint, nicht unwichtige Parallelen. Unter dem 14. Oktober 1948 erinnert der Verfasser ausdrücklich an Kollegs und Aufsätze, die sich seit dem Wintersemester 1930/31 nach und nach zu dem späteren Buch aufgebaut hätten. Im Sommer 1947 und im Winter 1947/48 habe er es schließlich wagen können, „die Entwicklung der literarischen Formgeschichte vom Mittelalter bis zum Sturm und Drang zusammenfassend darzustellen und die innere Systematik dieses Vorgangs herauszuarbeiten".41 Ist es bei Korff das „Leben", das sich in der Perspektive nach 1945 gegen die zerstörerische Gewalt der Diktatur stellt, so wird bei Böckmann nach dem „den Menschen verachtenden Maschinenkrieg" der Rückgang auf die „Formgeschichte" möglich, die nicht nur der „beunruhigenden Formlosigkeit" entgegentritt, sondern neuen Zugang zur verdächtigten „Uberlieferung" schafft.42 Die spirituelle Kontinuität, deren man sich über die Kategorien „Leben" und „Form" versichert, ist eine doppelte, ineinandergestaffelte: die der lebendigen, nichtkompromittierten großen Uberlieferung und die des eigenen wissenschaftlichen Arbeitens. Und es sei daran erinnert, daß Bruno Markwardt, seit 1924 an der Universität Greifswald lehrend, in seiner fünfbändigen Geschichte der deutschen Poetik (1937-1967) einen durchaus vergleichbaren Kontinuitätsgaranten in dem ganz nach innen gewendeten Begriff des „Kunstwollens" gefunden hat.43 Es ist für den Problemstand der frühen Nachkriegszeit charakteristisch, daß Möglichkeit und Leistungsfähigkeit der historiographischen Genres neu reflektiert werden - nicht im Sinne einer breiten Theoriediskussion,44 sondern einer nüchternen Bestandsaufnahme. Der klassische einbändige Typus „Von den Anfängen bis zur Gegenwart", in der Linie etwa von Scherer bis zu Bartels und Fechter, erscheint als vorläufig verabschiedet: sei es, daß die Nähe der „Erschütterungen" noch lähmt oder mehr Zeit der Aufarbeitung erfordert, sei es, daß niemand mehr alles halbwegs kompetent zu überblicken vermag. Im Jahre 1946 wird dies sowohl in Boeschs Sammelband als auch in Schneiders ausgewählter Epochenübersicht manifest. Korff, Böckmann und Markwardt wiederum verfolgen, bei aller Monumentalität ihrer in die Zeit vor 1945 zurückreichenden Projekte, eingegrenztere Ziele. Allenfalls in den für die Schulnotwendigkeiten neugefaßten Kurzkompendien (etwa von Bernhard Schulz, 1948, oder Wilhelm 41 42 43 44

Paul Böckmann: Formgeschichte der deutschen Dichtung. Bd. 1. Hamburg 1949, S. 5. Ebd. S. 4. Vgl. das Vorwort vom 24. Oktober 1936 in Bd. 1. Berlin 1937, S. V l l f . Flemmings Monographie von 1944 bleibt a u f l a n g e Jahre hinaus ohne Nachkriegs-Pendant.

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Wissenschaftsepochen

Kahle, 1949) 45 findet sich noch der „klassische Bogen", wobei ζ. T. offenkundig auf Schulbücher vor 1933 wie Kluge oder Rackl/Ebner46 zurückgegriffen wird.

Im Zeichen der beginnenden Teilung: die neuen Kompendien Obwohl die Tendenz zu kollegial erarbeiteten aktuellen „Summen" wächst (von den fünf Bänden Von deutscher Art in Sprache und Dichtung, 1941, über Boeschs Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen, 1946, bis zu Burgers Annalen der deutschen Literatur, 1952), und obwohl de Boor und Newald bald nach 1946 feststellen, daß ein durch Forschung abgesichertes „Wissen" nur in einem größeren Unternehmen repräsentiert werden kann, bleibt die Verlockung zum einbändigen Gesamtüberblick aus universitätsgermanistischer Feder. Nach der Währungsreform, im schon mehrjährigen Abstand zum Zusammenbruch und zugleich im Zeichen der politischen Teilung, entstehen um 1950 gleich mehrere deutsche Literaturgeschichten in einem Band (der zum Teil nur buchtechnische Ubergang zur zweibändigen Form mit großzügigerem Druck ist fließend), die dann über Jahrzehnte hin prägend werden, sogar bis in die neunziger Jahre hinein. Die zunächst vielleicht überraschendste unter ihnen ist die in Tübingen entstandene und dort 1949 erschienene Geschichte der deutschen Dichtung von Gerhard Fricke: ausgerechnet von dem, der 1933 in Göttingen die „Brandrede" zur Bücherverbrennung gehalten hat,47 der dann nach Professuren in Berlin und Kiel 1941 (dem Jahr auch der Mitherausgeberschaft bei Von deutscher Art in Sprache und Dichtung)48 an der besonders linientreuen Reichsuniversität Straßburg arbeitete, 1945 zunächst amtsenthoben war (später in Istanbul lehrte, dann in Mannheim und zuletzt in Köln). In der gleichen (früh nach 1945 wieder akademisch 'funktionsfähigen') Stadt wie Hermann Schneider 1946 versucht sich Fricke an einer persönlichen „Revision" der deutschen Literaturge-

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Bernhard Schulz: Geschichte der deutschen Dichtung mit Beispielen. Hannover 1948; Wilhelm Kahle: Geschichte der deutschen Dichtung. Münster 1949; vgl. Georg Ried: Wesen und Werden der deutschen Dichtung. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1951. Vgl. Anm. 16 u.17. Albrecht Schöne: Göttinger Bücherverbrennung 1933. Rede am 10. Mai 1983 zur Erinnerung an die 'Aktion wider den undeutschen Geist'. Göttingen 1983. Vgl. auch: Zum 10. Mai 1933. Die Bücherverbrennung. Hrsg. v. Gerhard Sunder. München 1983 (mit Überblicken zu den Vorgängen in anderen deutschen Universitätsstädten). In Bd. V, S. 5 7 - 9 3 , der eigene Artikel „Erfahrung und Gestaltung des Tragischen in deutscher Art und Dichtung" (noch in Kiel verfaßt), mit der Gestalt Hans Grimms als Höhepunkt und der Verherrlichung der deutschen Bereitschaft zum „Untergang".

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Literaturgeschichtsschreibung

vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu

schichte und damit auch seines kompromittierten eigenen Bildes als Literaturwissenschaftler. Das Buch zielt durchaus in Nachbarschaft zu Hermann Schneider auf alle „bedeutenden einzelnen Persönlichkeiten und Werke", auf „rasche und vorläufige Informierung über den ausgedehnten Stoff' und schließlich auf „die deutende Erschließung vor allem der schöpferischen und überdauernden Gestalten und Leistungen";49 und das Ganze ist betont auf den Kernbereich „Dichtung" zentriert. Es erscheint zuerst nur Band I, der von den germanischen Anfängen bis zum Expressionismus reicht, also bis ins 20. Jahrhundert. Band II mit der „deutschen Literatur der Gegenwart" hat dann lange auf sich warten lassen, ab der 13. Auflage 1964 ist Volker Klotz an dem inzwischen bei Schöningh bestens piazierten einbändigen Unternehmen Geschichte der deutschen Literatur beteiligt (nunmehr bis in die Gegenwart weitergeführt).50 Der „Fricke/Klotz" hat Hunderttausenden von Deutschlehrern, Schülern und Studenten als Leitfaden gedient. Erst Anfang der siebziger Jahre entschlossen sich, nach eigener Auskunft, Verlag und Verfasser „zu einer durchgreifenden Neubearbeitung".51 So hat ein Musterstück früher historiographischer Anamnese sich über mehr als zwei Jahrzehnte hin nicht nur halten, sondern auch in die Breite wirken können. Von den äußeren Daten her scheint Vergleichbares für Fritz Martinis Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart zu gelten, die - bei großer persönlicher Distanz — in räumlicher Nachbarschaft zu Fricke entsteht (Vorwort „Stuttgart, Mai 1948") und ebenfalls 1949, bei Kröner in Stuttgart, erscheint. Der Verfasser, acht Jahre jünger als Fricke, seit 1943 an der Technischen Hochschule Stuttgart als außerordentlicher Professor lehrend, hat sich gewiß tief mit der „völkischen" Germanistik eingelassen,52 jedoch weit weniger exponiert als etwa Fricke.53 Er schreibt seine Deutsche Literaturgeschichte noch als Suspendierter (wird dann 1950 Ordinarius in Stuttgart); es wird sein erfolgreichstes Buch werden. Wie dasjenige Frickes soll es ein knappes Kompendium sein, „ein sachlich orientierender Grundriß" gerade in der „Mangel"-Situation

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Geschichte der deutschen Dichtung. Tübingen 1949, S. 7 (im Matthiesen Verlag, der inzwischen nicht mehr besteht). Von der 15. Auflage an traten Jürgen Carl Jacobs und Dietrich Weber, von der 16. Auflage an Mathias Schreiber an Klotz' Stelle. Geschichte der deutschen Literatur. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Volker Klotz, Vorwort (S. 7) zur 17. Auflage. Am unübersehbarsten zuletzt in der Schrift Das Bauerntum im deutschen Schrifttum, von den Anfangen bis zum 16. Jahrhundert (1944). Sympathien forden Nationalsozialismus reichen bis zur Zeit der „Machtergreifung" zurück. Vgl. auch Frickes Selbsteinschätzung in: Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute. Dokumentation mit Stellungnahmen. Bd. III. Hrsg. v. Rolf Seeliger u.a. München 1965, S. 49-53.

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Wissenschaftsepochen

nach dem Krieg. Aber entschiedener noch als Fricke und „trotz gewisser methodischer Bedenken" will sich Martini „auf die Darstellung der Dichter und ihres Werkes beschränken" und die „weiteren geistes- und seelengeschichtlichen Bezüge, die politisch-soziale Umwelt, in der sich Dichtung jeweils vollzieht, nur mit einigen flüchtigen Strichen andeuten".54 Diese Konzentration hat Komplikationen erspart (nicht nur in der Darstellung von Weimarer Republik und „Drittem Reich") und hat bei späteren Auflagen entsprechend weniger Revision erfordert. Ein anderer Differenzpunkt gegenüber Fricke: Martini hat es gewagt, sogleich bis an die unmittelbare Gegenwart (1947/48) heranzuführen (dazu unten). Das bedeutete zwar, daß vor allem das letzte Kapitel wiederholt neu formuliert werden mußte, sicherte jedoch der „Moderne" von vornherein einen respektablen Platz (mit der wichtigen Ergänzung durch die Interpretationen in Das Wagnis der Sprache von 1954).55 Je mehr sich die Literaturgeschichten von Fricke und Martini, mit ostentativer Deutlichkeit die 'braunen Geschichtsdeutungen hinter sich lassend, auf die Werke und die Autoren und die geistesgeschichtlichen Hauptlinien konzentrieren, desto spürbarer wird der Bedarf an ideologiefreier Basisinformation über Daten, Namen, Inhalte. Das auf „Wissen" zielende Großunternehmen von de Boor und Newald beginnt ja 1949 erst zu erscheinen. Hochwillkommen ist deshalb die dreibändige Deutsche Literaturgeschichte in Tabellen (1949-1952) von Fritz Schmitt „unter Mitarbeit von Gerhard Fricke".56 Die äußerst knappen, nur stichwortartigen Angaben werden schon 1953 ergänzt, ja ersetzt durch die Inhaltsangaben und Kurzcharakteristiken in den Daten deutscher Dichtung Chronologischer Abrißder deutschen Literaturgeschichte von Herbert A. und Elisabeth Frenzel.57 Seit 1962 im Taschenbuch (dtv) erscheinend, haben sie schon in den achtziger Jahren die Halbmillionengrenze überschritten. Die einschlägig durch antisemitische Publikationen ausgewiesene Motivforscherin und Privatgelehrte Elisabeth Frenzel58 findet hier ein scheinbar unverfängliches Arbeitsund Informationsfeld. Der erste Satz des Vorworts lautet, ganz neutral': „Daten sind die Voraussetzung aller geschichtlichen Erkenntnis".59 Mit dem Rekurs auf

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Fritz Martini: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 19 1991, S. VII. Fritz Martini: Das Wagnis der Sprache. Interpretationen deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn. Stuttgart 1954 ( 7 1984). Die drei Teile (Frankfurt a. M. 1941-1952) haben 1960 eine 2. Aufl. erlebt, sind danach vermutlich auch durch die Frenzeischen Daten an den Rand gedrängt worden. Herbert A. u. Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung, 1. Aufl., Köln 1953. Vor allem: Elisabeth Frenzel: Judengestalten auf der deutschen Bühne. Ein notwendiger Querschnitt durch 700 Jahre Rollengeschichte. München 1940. Herbert A. u. Elisabeth Frenzel (wie Anm. 57), S. V (so auch in den späteren Auflagen).

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu die „Voraussetzungen" begründet schon im Herbst 1951 Heinz Otto Burger als Herausgeber den wissenschaftlichen Stellenwert seines Gemeinschaftsunternehmens Annalen der deutschen Literatur. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfangen bis zur Gegenwart: „Noch nie hat meines Wissens die Literaturwissenschaft von unten angefangen, das heißt dort, wo die Geschichtsschreibung herkommt und wohin die Geschichtswissenschaft immer wieder einkehrt: bei der einfachen Annalistik".60 Die Opposition gegen die Dominanz der „Interpretation" ist ausdrücklich gemacht und illustriert zugleich die Lücke, die von den Literaturgeschichten ä la Fricke und Martini gelassen ist. Der Rückzug auf die Annalistik bedeutet für den politisch belasteten Praktiker dieses Prinzips wiederum Gewinnung von „neutralem" Terrain - wobei er sich sofort schon gegen den Vorwurf des „Neu-Positivismus" verteidigt.61 In der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung der folgenden Jahrzehnte hat sich die Annalistik nicht durchgesetzt (auch die verspätete Rezeption der französischen Annales-SchvAe. hat daran nichts geändert). Bestimmte Erkenntnisvorteile des Verfahrens wie synchrone Durchblicke und überraschende Verknüpfungen62 liegen auf der Hand. Belastend wirken von vornherein eine gewisse Mechanik des Verfahrens (besonders gut zu beobachten an dem Versuch gerade Martinis, für das Burgersche Unternehmen die Zeit „Von der Aufklärung zum Sturm und Drang" in annalistische Portionen aufzuteilen)63 und die Schein-Exaktheit des Quantitativen. Als 1950 Josef Nadler, fast vier Jahrzehnte nach dem 1. Band seiner Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften (1912), es noch einmal wagt, als 'Urgroßvater' der völkischen Literaturwissenschaft eine über tausendseitige Geschichte der deutschen Literatur in Wien herauszubringen, ist angesichts der neuen gesellschaftspolitischen Zeitstimmung (Neo- und Altnazismus, Antikommunismus usw.) die Unverfrorenheit wenig überraschend. Daß gleichwohl diese Literaturgeschichte kaum tiefere Wirkungen hinterlassen hat (1961 gab es noch einmal eine 2. Auflage), liegt in manchem durchaus mit Burger vergleichbar — auch an dem Dogmatismus der Methode (in der „Vorschule" dem Buch belehrend vorweggeschickt)64 und an dem quasi-naturwissenschaftlichen Anpruch, biologistisch durchgängig mit den Kategorien „Ursache" und „Wirkung" zu arbeiten. 60

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63

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Vorwort zu der „Gemeinschaftsarbeit" Annalen der deutschen Literatur. Hrsg. v. Heinz Otto Burger. Stuttgart 1952, unpaginiert (zweite Seite). Ebd. (dritte Seite). Hierzu kritisch Conrad Wiedemann: Annalistik als Möglichkeit der Literaturgeschichtsschreibung, in: Jb. f. Internat. Germ. 2 (1970), Η. 1, S. 6 1 - 6 9 . In: Annalen der deutschen Literatur (wie Anm. 60), S. 405—463; besonders grotesk das Jahrsiebt 1 7 4 0 - 1 7 4 7 für „Das empfindsame Rokoko als Zeitstil" (S. 4 2 2 - 4 2 9 ) . Wien 1950, S . V - X X I I I .

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Wissenschaftsepochen Bezeichnenderweise findet, neben Fricke und Martini 65 und den Daten deutscher Dichtung, 1952 der Theaterkritiker und freie Schriftsteller Paul Fechter mit seiner Geschichte der deutschen Literatur (von Bertelsmann mit großem Aufwand vertrieben) erstaunliche Resonanz, genau zwei Jahrzehnte nach seiner ersten „soldatischen" Literaturgeschichte (1932) und der auf die Kriegssituation abgestellten Überarbeitung (1941). Diese Konstellation: drei Literaturgeschichts-Versionen desselben Autors, vor der Machtergreifung, während des Krieges und nach der deutschen Teilung, ist für das Nachkriegspublikum einmalig. Nicht wenige vor allem unter den älteren Lesern genießen die Identität des Verfassers als Genugtuung. Publizistische Angriffe gegen Fechter66 steigern diesen Effekt eher noch. Attraktiv wirkt, wie schon 1932 und 1941, die durch eine 'flotte' Schreibart dokumentierte Nichtzugehörigkeit zur 'Zunft' (die bei Adolf Bartels eher durch Bienenfleiß des „Erfassens" und durch Krittelei an der akademischen Literaturwissenschaft kompensiert wurde). Und schließlich: Zwar muß natürlich der Schlußteil von 1941, „Das Zeitalter der Gemeinsamkeit" (vom Ersten Weltkrieg bis zu Hitler und zum Gipfel des „totalen Krieges"), komplett ausgewechselt werden. Dafür erhält das (erste halbe) 20. Jahrhundert, bis hin zum späten Benn, über 300 Druckseiten - mehr als irgendeine vergleichbare Literaturgeschichte damals bietet. Als ritte er auf dieser personalen Kontinuitäts-Welle der fünfziger Jahre, wagt sich Arno Mulot, der einstige Verfasser des „stählenden" Kompendiums Die deutsche Dichtung unserer Zeit (1944), im Jahr 1955 wieder an eine breitere Öffentlichkeit: als Ko-Autor des nationalistischen Willi Grabert, dessen Geschichte der deutschen Literatur (1953) das 20. Jahrhundert nur ausblicksweise würdigt und so für den Schulunterricht nicht genügend Hilfestellung bietet. Verlegt durch den Bayerischen Schulbuchverlag, aber weit über den Freistaat hinaus vertrieben, führt der „Grabert/Mulot" (1964 schon in 9. Auflage) über Jahrzehnte hin deutsche Lehrer und Schüler durch die Literatur, um ihnen „eine Bereicherung ihres Wissens und eine Vertiefung ihrer Welt- und Menschenkenntnis" 67 zu vermitteln.

In deren Schatten geraten deutlich, hier nicht näher behandelt, die zweibändigen Literaturgeschichten von Ernst Alker (Stuttgart 1949/50) und Hermann Schneider (Bonn 1949/50). Abgeschwächt wurde die politisch motivierte Kritik von manchen durch palliative Formulierungen wie „subjektiv", „eigenwillige Auswahl" usw. Willi Grabert und Arno Mulot: Geschichte der deutschen Literatur. Vorwort zur 1. Auflage, so auch weiterhin gedruckt. Mulots Rechenschaftsversuch wenige Jahre zuvor: Zur Neubesinnung der Literaturwissenschaft, in: G R M 30 (1950), S. 172-177.

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Literaturgeschichtsschreibung

vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu

Zwischenüberlegungen Die Dichte dieses Netzes an westdeutschen, schweizerischen, österreichischen Literaturgeschichten zwischen 1945 und 1955 dürfte in keinem germanistischen Genre eine unmittelbare Parallele finden. Und im hier gegebenen Überblick ist, schon gar für den regionalen Schulbuchmarkt, nur eine Auswahl genannt worden. Die eingangs formulierten Thesen von der spezifischen institutionellen Abgesichertheit der Literaturgeschichten, von ihrer Qualität als Leitgenre und von der besonderen Notwendigkeit personaler Kontinuität 'nach rückwärts' dürften sich schon in der knappen Skizze vorerst bestätigt haben. Geschichten der englischen, der französischen, der italienischen Literatur mögen sich im Nachkriegsdeutschland frühzeitigen kritischen Impulsen aus den 'Mutterländern geöffnet haben. 68 Von den Schwierigkeiten der Exilliteratur wenige Prominente ausgenommen —, auf den deutschen Markt zu gelangen und dort Resonanz zu finden, war in den letzten Jahren viel die Rede. Erst recht bleiben die „Exil-Germanistiken", auch wo sie ein eigenes Profil entwickelt haben, noch lange weitgehend unbekannt. Und von neuen internationalen Ansätzen zur Historiographie, zur Kultur- und Kunstgeschichte, zur Sozialgeschichte der Literatur sind jedenfalls deutsche Germanisten vorerst weitgehend abgeschnitten. In keiner der Literaturgeschichten seit 1945, auch nicht in dem schweizerischen Sammelwerk von Boesch (1946), ist irgendeine wesentliche Öffnung zu außerdeutschen Diskussionen erkennbar. Das Geschäft der 'Revisionen' deutscher Literaturgeschichtsschreibung, auch ihrer 'Entnazifizierung', geschieht natürlich im Hoheitsbereich der alliierten Zensurbehörden. Nazi-Literaturgeschichten werden - vielfach, aber nicht überall — aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt. Doch das Neuschreiben bleibt eine rein deutsche Angelegenheit, es beteiligen sich daran gerade auch amtsenthobene Universitätsgermanisten wie Fricke und Martini: diejenigen, die dann die nachhaltigste Wirkung haben werden. Das Moment der personalen Kontinuität ist für die vielen älteren Leser, die sich mit einem neuen, nichtvölkischen Literaturgeschichtsbild noch schwertun (darunter vielen Deutschlehrern), als Moment der Verlockung, ja der Akzeptanz kaum zu überschätzen. Aber es gilt auch eine andere, genrespezifische Voraussetzung: Aufsätze, Artikel, thematisch eingegrenzte Monographien mit neuen Perspektiven können prinzipiell auch von Jüngeren, Nachwachsenden geschrieben werden (so ungünstig auch dafür die institu-

Rahmenangaben auch zur Anglistik, Romanistik und Slavistik in dem Band: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Hrsg. v. Wolfgang Prinz u. Peter Weingart, Frankfurt a. M . 1990.

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Wissenschaftsepochen

tionellen Bedingungen zunächst noch sind). Historiographie erfordert, wenn sie kompetent geschehen soll, einen extensiven, über längere Frist hin praktizierten Umgang mit größeren geschichtlichen Komplexen. Auch dies verstärkt, zusammen mit den anderen genannten Faktoren, das klare Ubergewicht der Alteren gerade in der Literaturgeschichtsschreibung.69 Der knappe Überblick über Namen und Publikationen demonstriert jedoch zugleich, wie unter der Fragestellung „Kontinuität/Diskontinuität" die Zäsur 1945 ebenso wie schon diejenige von 1933 70 nicht nur „überspielt" wird. Vielmehr ergibt sich nach den tastenden Übergangsversuchen von 1946 (besonders von Boesch und Schneider) ein massiver „Schub" erst um die Jahre 1949/50: freilich dann einer, dessen historiographische Grundtendenzen, gestützt durch die gesellschaftspolitischen Strukturen der neuen Staatlichkeit,71 über mehr als ein Jahrzehnt hin dominieren werden. Die so nur in den Hauptzügen skizzierten Linien der Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945 sollen im folgenden durch knappe Beobachtungen zu drei historischen Komplexen präzisiert werden: zur ,Aufklärung" mit dem prekären Dualismus von nationalem „Durchbruch" (besonders mit Lessing identifiziert) und „Rationalismus"; zur „Klassik" als einem normativen Gipfelbereich, der von der völkisch-nationalen Literaturwissenschaft in seiner „Volks"-Verbundenheit (besonders bei Goethe) in Frage gestellt worden ist; schließlich zur (jeweiligen) „Gegenwartsliteratur" als dem, was als Nahes und ,Aktuelles" Stellungnahme erzwingt. Im Vordergrund der Exemplifikation stehen bei allen drei Komplexen die Literaturgeschichten von Bartels (1941), Fechter (1932, 1941 und 1952), Fricke (1949) und Martini (1949), mit Ausblicken auf Boesch (1946), Burger (1952) und andere.

Zum Generationsaufbau (nicht nur) der Germanisten nach 1945 an den Universitäten fehlen offenbar noch Untersuchungen (im Gegensatz zur Literatur der damaligen „Jungen Generation"). Methodische Überlegungen zum Problem der Generationen, im Fall der „Geistesgeschichte": Verf.: Zwischen Gravitation und Opposition. Philologie in der Epoche der Geistesgeschichte 1910 bis 1925, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 1910—1925. Hrsg. v. Christoph König u. Eberhard Lämmert. Frankfurt a. Μ. 1993, S. 201-231; hier S. 217-220. Zu beiden „Zäsuren" Wilhelm Voßkamp: Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaft im Dritten Reich. Hrsg. v. Peter Lundgreen. Frankfurt a. M. 1985, S. 140-162; ders.: Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten (wie Anm. 68), S. 240—247. Dazu, auch Wissenschaft, Bildung, Literatur betreffend: Die fünfziger Jahre. Beiträge zu Politik und Kultur. Hrsg. v. Dieter Bänsch. Tübingen 1985.

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Literaturgeschichtsschreibung vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu „Aufklärung": Stolz und Ärgernis Seit den großen historiographischen „Summen" des 19. Jahrhunderts von Gervinus bis zu Scherer firmiert das vorgoethesche 18. Jahrhundert bekannterweise als Periode des großen „Aufschwungs" zu einer eigentlich „nationalen" Literatur. In der Darstellungsdramaturgie (die bis weit ins 20. Jahrhundert hinein durch Goethes sogenannte „Literaturgeschichte" im Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit bestimmt wird) ist die Konzentration auf die großen „Gestalten" Lessing und Klopstock (unter Zurücksetzung des schillernden Wieland) und auf den „Schirmherrn" Friedrich II. charakteristisch. Die Schwierigkeiten, mit denen schon Goethe in der Anerkennung der aufklärerisch-rationalistischen Züge der Epoche (personalisiert in Newton und Gottsched) zu kämpfen hat,72 erhalten in der völkischen Historiographie der Weimarer Zeit neue Brisanz. Es geht um das falsche, das gefährliche Erbe. Paul Fechter fühlt sich schon in seiner Literaturgeschichte von 1932 bemüßigt, herauszuarbeiten, daß das 18. Jahrhundert zwar das „Jahrhundert der Reinigung" 73 von Fremdem, Ausländischem und vor allem volkfern „Gelehrtem" sei. Doch ebendiese Epoche habe nun auch, bis ins 20. Jahrhundert hineinwirkend, „die ganze primitive materialistische Weltbetrachtung"74 mit eingebrockt. Lessing kann von dem rationalistischen Makel nur mit Mühe freigesprochen werden, seine „mannhafte" nationale „Kämpfer"-Natur (Klischee schon des 19. Jahrhunderts) läßt ihn immerhin „in Reih und Glied" erscheinen.75 Aber schließlich hat rechtzeitig, im Gegenzug zur Aufklärung, die deutsche „Gegenoffensive des Gefühls" 76 eingesetzt und dem Jahrhundert doch noch zu seinem „Reinigungs"-Effekt verholfen. Alle diese Stereotypen können von Fechter problemlos in die Fassung des Kriegsjahres 1941 übernommen, ja dort noch zugespitzt werden. Bei Bartels sind die religiösen Momente der „Gegenoffensive" 1943 noch verstärkt; in der pietistischen „Heiligung des Lebens" äußere sich „ein Bedürfnis der germanischen Natur". 77 Und nun wird der bei Fechter erst vorsichtig angesprochene „internationale" Grundzug der Aufklärung78 ins rassistisch Denunziatorische

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73 74 75 76 77 78

Verf.: Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung. Zum Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit, in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur ( 1 7 0 0 - 1 8 4 8 ) . Festschr. f. Wolfgang Martens. Tübingen 1989, S. 2 8 3 385. Dichtung der Deutschen (wie Anm. 8), S. 208. Ebd., S. 275. Ebd., S. 286. So die Überschrift eines ganzen Kapitels, ebd., S. 3 1 3 . Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 3), S. 118. Dichtung der Deutschen (wie Anm. 8), Ausgabe 1941, S. 2 6 5 u. 2 5 3 .

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Wissenschafisepochen gewendet. Am herausgehobenen Exempel Nathan der Weise läßt sich beobachten, wie Fechter diesen unsoldatischen Klassiker unter dem Signet „Humanismus" noch gelten zu lassen versucht, während Bartels das „Tendenzstück", mit der jüdischen Zentralgestalt, als „schwer ertragbar" brandmarkt79 (nicht ohne eigens auf seine frühe Schrift Lessing und die Juden — von 1918, 2. Aufl. 1934 zu verweisen, wo das Gesamtproblem „wohl abschließend dargestellt" sei). Man braucht aus dem Sammelwerk Von deutscher Art in Sprache und Dichtung nur die den Komplex „Aufklärung" berührenden Kapitel hinzuzunehmen (vor allem den Teil „Mächte und Ideen" mit Aufsätzen von Koch, Burger, Böckmann und Cysarz),80 um auch dort die Verlegenheit sofort zu spüren. Der Beitrag der Aufklärung zur „deutschen Sendung" (Burgers Ressort) reduziert sich historiographisch fast ganz auf die Emanzipation von der romanischen Überfremdung, wobei Lessing mit der Hamburgischen Dramaturgie noch heroische Abwehr attestiert wird, während Wieland — wie schon bei Bartels - als der „Französelnde" für jede Leitfunktion ausscheidet. Für die Neuorientierung um 1946 und dann um 1949/50 scheint sich Aufklärung" als historiographisches Paradigma eines großen Erbes nachgerade anzubieten. Um so erstaunlicher ist, daß schon in Boeschs schweizerischem Gemeinschaftswerk zwar das einschlägige Kapitel als „Das Zeitalter der Aufklärung" zwischen „Barock" und „Sturm und Drang" ostentativ herauspräpariert wird, 81 daß aber der Verfasser Max Wehrli ausgerechnet diese Periode fast völlig in Gattungssystematik aufgehen läßt („Lyrik und Lehrgedicht", „Das Drama", „Roman und Epos").82 Hier hat sich also früh, als Alternative gegen die ideologisch verrotteten „Summen" des vorangegangenen Jahrzehnts, die Form- und Gattungsgeschichte durchgesetzt. Frickes Verlegenheit (1949) gegenüber der Epoche der Aufklärung, die so wenig zum germanisch-„tragischen" Menschentum hatte beitragen können, ist verständlich. Es fällt auf, daß er das betreffende Großkapitel unter die Formel Aufklärung und Klassizismus" stellt,83 das heißt wesentlich als Zwischenphase begreift, mit Winckelmann als großem Wegbereiter, aber mit wenig vorzeigbaren Werken. Minna von Barnhelm wird durchaus nicht als aufklärerisch zukunftsweisend, sondern rein als „Form"-Leistung eingeordnet, und für Nathan der Weise gibt es, kaum zu glauben, ganze fünf Zei-

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Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 3), Ausgabe 1942, S. 147. Von deutscher Art in Sprache und Dichtung (wie Anm. 12), Bd. V, S. 2 8 5 ^ 4 3 . Boesch: Deutsche Literaturgeschichte in Grundzügen (wie Anm. 34), S. 186—217. Hinzuzufügen ist freilich, daß in dem vorangestellten Abschnitt„Allgemeines" (S. 1 8 6 - 1 9 6 ) die neue Entdeckung des „Menschen", des „Weltbürgertums", der „Bildung" gehörig als Errungenschaften gewürdigt werden. Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 51), Ausgabe 1949, S. 1 1 2 - 1 4 4 .

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len. 84 (Erstaunlicherweise hat sich diese Verdrängung des Nathan sogar in der späteren Schulbuchversion behaupten können.) 85 Reduktion, Ausklammern dient als Antwort auf etwas, dem noch kein neuer geschichtlicher Sinn gegeben werden kann. Was im Kontrast hierzu eine historiographische Revision jedenfalls dem Ansatz nach auch leisten kann, demonstriert zeitgleich zur Veröffentlichung Frickes Fritz Martini. Zwar bewegt sich seine Epochenkonstruktion („Von der Aufklärung zum Sturm und Drang") in den Koordinaten, die auch bei Boesch, Schneider, Fricke (später auch bei Burger) angesetzt sind. Zwar folgt auch er dem Dualismus von „Aufklärung" und „Gegenkräften" (doch ohne Fechters Großleistung der „Gegenoffensive"). Aber nun können sich, differenziert dargestellt, Phänomene wie „Anakreontik" entfalten. 86 Lessing wird in seiner Genese als Theaterautor fast 'spannend' vorgeführt, die Judenthematik ein wenig herausgekehrt (der „gebildete Jude" in dem frühen Lustspiel, Mendelssohn, der Jude Nathan als „Lehrer der Humanität"). 87 Doch vor allem tritt endlich Wieland als eine genuine Gestalt der Aufklärung in Erscheinung (wenn auch auf die Klassik „vorausweisend"), seine „Grazie", seine „Weltweisheit", auch das „Romantische" des Oberon gewinnen Kontur.88 Gegenüber Martinis eingängiger Technik der narrativenVerknüpfung, des Herstellens von Kontinuitäten ist später mancherlei Kritik geäußert worden. Ein Vergleich mit der erfolgreichen „dritten Version" Paul Fechters von 1952 (nach 1932 und 1941) ist aussagekräftig. Auch ihm, dem Theaterkritiker und Schriftsteller, gelingen farbige Skizzen aus dem 18. Jahrhundert, zum „heiligen" Klopstock, zum Theaterwesen, sogar zum „beweglichen" Wieland. Aber aus dem Jahrhundert insgesamt (dessen „soldatische" Züge gegenüber 1932 und 1941 natürlich zurücktreten) ist plötzlich „das Jahrhundert der Klassik" geworden, 89 nicht mehr (wie vor 1945) „das Jahrhundert der Reinigung" (vom Fremden, Romanischen, auch vom nicht volkhaften „Gelehrten"). Das nächste Großkapitel heißt dann schon „Zweite und dritte Romantik". Hier hat ein Taschenspielertrick gearbeitet: Ein nationalistischer, tief denunziatorischer Habitus gegenüber der Aufklärungsepoche hat sich in die „Klassik"-Teleologie geflüchtet. Das bedeutet natürlich keine Originalität, es hat nach 1945 vielfach stattgefunden. Aber angesichts dieses Typus von „unakademisch" geschriebener Histo-

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Ebd., S 139. Etwa in der 16. Aufl. 1974: S. 105. Fricke: Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 51), Ausgabe 1949, S. 175ff. Ebd., S. 189, 190, 196. Ebd., S. 197-202. Fechter: Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 11), Ausgabe 1952, S. 1 0 8 - 1 8 7 .

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riographie, der weit in die Schulen und in das sich wieder orientierende Bildungsbürgertum hineingewirkt hat, m u ß wohl auch von falscher Weichenstellung gesprochen werden. Es ergibt sich bei Fechter eine Kontinuität zu 1941, ja zu 1932, bei der unausgestandene Ressentiments, die unbestreitbar ins Nationalistische, Antirationale und Denunziatorische sich gesteigert haben, lediglich palliativ „bewältigt" werden: und dies noch dazu bei derjenigen Epoche der deutschen Literatur, die nach allgemeinem Konsens den „Durchbruch" aus sich hervorgebracht hat. Frickes halbherzigen Zugeständnissen steht Martinis Versuch gegenüber, gerade die bisher als „undeutsch" beiseite gedrückten Phänomene (Rokoko, Wieland u. a.) zur Geltung kommen zu lassen. Keine dieser Tendenzen, auch die Fixierung Wehrlis durch Gattungs- und Formgeschichte, steht isoliert. Literaturgeschichtsschreibung aber treibt durch den ihr eigenen Zwang zur Fortschreibung, durch die Möglichkeit des Vergleichens von „früher" u n d „später" (auch bei Verschiedenheit des Autors) das Spezifische besonders heraus. Bei „Aufklärung" wird im komparativen Blick unübersehbar, wie schwer auch bei den zur Selbstkritik Bereiten die Hypothek der nationalen Geschichtstradition noch lastet. Die sechziger Jahre werden, aufgrund neuer gesellschaftspolitischer Erfahrungen, das Pendel umschlagen lassen; doch das bleibt hier einstweilen ausgeklammert.

G e m u s t e r t e Klassik So divergent bei den hier kurz betrachteten Literaturgeschichten vor und nach 1945 Füllung und historisch-nationale Situierung von „ A u f k l ä r u n g " auch ausfallen, der teleologische Zug zur „Klassik" hin ist vorerst unverrückbar gemeinsames Erbe des 19. Jahrhunderts. In den Beobachtungen zur Literaturgeschichtsschreibung sollen nicht die „Klassik"-Diskussionen seit den zwanziger Jahren als solche aufgerollt werden. Doch das historiographische 'Programm' jeder deutschen Literaturgeschichte zwingt gerade angesichts der Diachronie zu einer Antwort, die für unsere Fragestellung einschlägig ist. Schon in der ersten Fassung vom Jahre 1932 fällt bei Fechter in der Vorrede der Hinweis auf (er wird 1941 wörtlich wiederholt), den Autor habe „früher" lange Jahre „der Gedanke einer Revision der Klassik und unserer Urteile über sie" gelockt; 90 es gehe ihm um „die heutige Wirkung". Dabei wird deutlich, daß vor allem die ,Abgehobenheit" Goethes und Schillers zur Diskussion steht, auch ihre problematische - von ihnen selbst gepflegte - Distanzierung vom Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, Ausgabe 1932, S. 5; Ausgabe 1941, S. 7.

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„Volk", ihre Gebundenheit durch „Bildung". Es ist ein Leitthema der Fechterschen Literaturgeschichte. Die frühe Kritik der völkischen Literaturwissenschaft, dann auch der Nationalsozialisten an Goethes mangelnder „Bodenverbundenheit", an seinem „Kosmopolitismus" hat den Weg vorgezeichnet (sie führt bekanntlich keinen Geringeren als Josef Nadler schon 1924/25 zu der grotesken Alternative „Goethe oder Herder?"). 91 Fechter läßt in seiner Geschichtsperspektive zwar auf den Dritten Teil „Der Kampf um die Bildung" (im Jahrhundert der „Reinigung") einen Teil „Der Gipfel" folgen. Aber er setzt darunter mit betonter Kargheit die reinen Namen „Goethe", „Schiller", „Hölderlin und Hegel" — durchaus im Kontrast etwa zu Bartels, der sich vielfältig der eingespielten Kategorien „Vorklassik", „Klassizismus", „Klassik" bedient. 92 Die konkreten Vorbehalte Fechters (die überzogene „Verherrlichung" Goethes, der Abstand zwischen „Leben" und „Dichtung" auch bei Schiller usw.) und das dosierte Lob jedenfalls für Schiller (eines der wenigen deutschen „dramatischen Talente", der Teil als Drama des „Volkes" u. a.)93 sind hier weniger von Belang als der volkspädagogische Zug. 1938 treten die neuen Unterrichtsbestimmungen für die Höheren Schulen in Kraft, auch mit der Festlegung, daß zehn „klassische Dramen" gelesen werden müssen. Noch im folgenden Jahr regt sich, von seinem Kieler Ordinariat aus, Gerhard Fricke in der Zeitschrift ftir Deutschkunde mit dem Aufsatz: Zur Interpretation des dichterischen Kunstwerks. Ein Beitrag zum Thema: Klassische Dichtung und deutscher Unterricht?A Die Heranbildung des „nationalsozialistischen jungen Menschen" ist selbstverständliche Prämisse. Aber könne „klassische Dichtung" überhaupt dazu beitragen? Der Dichter sei zwar „Führer" und „gottbegnadeter Seher", doch ihm gegenüber dürfe „Gleichschaltung" nicht stattfinden. Vielmehr müßten die großen Dichter „Tragik" und „Heroismus" aushalten und gestalten - es ist die Doktrin, die Fricke dann auch in seinem Kapitel über das „Tragische" in Von deutscher Art in Sprache und Dichtung niederlegt: bereit „zum Untergang". 95 In der volkspädagogischen Auseinandersetzung ist diese Position zwiespältig: scheinbares Bewahren vor der „Gleichschaltung", aber zugleich Entrücken in einen gefährlichen Heroismus.

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So derTitel seiner programmatischen Schrift: Hochland 22 (1924/25), Η. 1, S. 1—15(mitder deutlichen Tendenz: für Herder). So weit gehend, daß die „drei großen Vor-Klassiker" im „Inhalt" sogar namenlos bleiben (Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, Ausgabe 1941, S. XV). Ebd., S. 328 u. 349. Zeitschrift für Deutschkunde 53 (1939), S. 337-353. Von deutscher Art in Sprache und Dichtung. Bd. V. 1941, S. 93.

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Wissenschaftsepochen Frickes Literaturgeschichte von 1949 (der man kaum anmerkt, daß es 1947/ 48 die große öffentliche Auseinandersetzung um Goethe zwischen Karl Jaspers und Ernst Robert Curtius gegeben hat) liest sich in den einschlägigen Abschnitten wie eine historiographisch ausgefaltete Apologie einer 'entvölkischten' und leicht entheroisierten Position. Schon die Konstruktion und das Arrangement der Kapitel sind aussagekräftig (und bleiben praktisch unverändert bis in die siebziger Jahre): Als Rahmen dienen einerseits „Aufklärung und Klassizismus", andererseits „Zwischen Klassik und Romantik", den Auftakt bildet „Sturm und Drang" 9 6 und den Kern: „Entstehung und Vollendung der Klassik. Der klassische Goethe. Der klassische Schiller. Goethes Spätzeit". In der konkreten Umsetzung sind gewiß manche Tragismen und Nationalismen gedämpft, bei Schiller nimmt Kant einen bemerkenswert breiten Raum ein, Iphigenie ist gerade in Anbetracht der frühen Nachkriegstendenz auf den Bühnen knapp bedacht, desgleichen Faust (nichts vom „deutschen Menschen" mehr). Was sich hier ereignet, ist historiographische Entrückung und Rettung der eigenen ideologischen Doktrin durch Metaphysik. Damit steht Fricke gewiß nicht allein. Aber alle jene wichtigen Komplementierungen, die in der Literaturwissenschaft etwa durch Formgeschichte und Gattungsanalyse nach und nach möglich wurden, vermittelte das Schulbuch „Fricke/Klotz" den Hunderttausenden als Literaturgeschichte jedenfalls nicht. Während Werner Kohlschmidt in Boeschs Sammelwerk von 1946 sein „Klassik"-Kapitel immer wieder auf die Bildung der „reinen Form" ausrichtet und für Hermann Schneider im gleichen Jahr die Klassik Goethes und Schillers als unüberbietbares Exempel für die „Enthobenheit" einer „Blütezeit" figuriert, überrascht wenige Jahre darauf Martini (1949) mit auffälliger Enthaltsamkeit gegenüber dem „Klassik"-Etikett. Der Kontrast schon zum Kapitelarrangement bei Fricke ist sprechend: Zwischen „Von der Aufklärung zum Sturm und Drang" und „Die gegenklassische Dichtung: Jean Paul, Hölderlin, Kleist" lauten die Zentralkapitel bloß „Goethe" und „Schiller" (so noch in der 19. Auflage 1991). In der konkreten Ausfüllung geht es dann wiederholt durchaus um „klassische Bildung" (bei Wilhelm Meisters Lehrjahren), um „strenge klassische Zucht" (bei den Propyläen) in Absetzung gegen Winckelmanns „Klassizismus". 97 Von den Gefahren des „Zerstörerischen" ist die Rede (bei der Gestalt Fausts), und dann lassen einschrän-

Fricke: Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 51). Hier ist gegenüber 1949 etwa in der 16. Auflage 1974 die einzige Modifikation zu beobachten: Eingefugt sind „Der junge Goethe" und „Der junge Schiller". Martini: Deutsche Literaturgeschichte (wie Anm. 54), Ausgabe 1949, S. 2 4 5 (sogar lebender Kolumnentitel); vgl. auch die einleitende Partie S. 2 2 1 .

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kende Warnungen aufhorchen, die aus der nationalen „Geistesgeschichte" sich herleiten: Vom Weimarer Bildungsprogramm sei „der widerstrebende innere Reichtum des deutschen Geistes [...] gewaltsam in eine allzuenge und starre Form gepreßt" worden. 98 Das ist „gemusterte" Klassik wie schon in den Diskussionen der Weimarer Zeit, aber Martini beläßt es bei Andeutungen, zumal er — seiner Zielsetzung entsprechend - darauf verzichtet, die „Umwelt" zu entfalten, Epochenbilder zu geben. Auch in der Kategorie der „Klassik" erweist sich nicht zuletzt Martinis Literaturgeschichte während der kommenden Jahrzehnte als schlanker, flexibler, weniger revisionsbedürftig. Fechter hingegen (1952) ist gegenüber seinen 'Fassungen der Jahre 1932 und 1941 von vornherein zur Rechtfertigung gedrängt: nicht so sehr beim reichhaltigen Entfalten der Biographien Goethes und Schillers und noch weniger bei den Skizzen zum Theater, eher schon in seiner jetzt abgeschwächten - völkischen Verachtung des bloß „Bildungshaften" (immerhin bleiben abwertende Urteile wie: „Der ganze Faust ist Bildungsdichtung"). 99 Am aussagekräftigsten ist innerhalb von Teil IV („Das Jahrhundert der Klassik") die Einleitung in das Gipfelkapitel „Goethe und Schiller". Vor allem die historische Sukzession der Goethebilder in ihrer Vielfalt bietet salvatorische Chancen. Immer schon habe Goethes „Gestalt" geschwankt, und wieder habe man „im Wirrwarr der bitteren Jahre nach 1945, in den Tagen schwerster Not, versucht, sein Bildnis über sich aufzurichten". 100 Hier rückt Literaturgeschichtsschreibung in eine fatale Funktion ein: in die Vernebelung der Gegenwart und nahen Vergangenheit durch relativierende Geschichtsbemühung und in das Hinüberretten alter Ressentiments gegenüber angeblicher Klassik. Martini entzieht sich dem weitgehend durch Reduktion auf Gestalten und Werke. Fricke geht den Weg der Entheroisierung durch metaphysisches Aufhöhen des klassischen Goethe und des klassischen Schiller. Fechter aber stellt sich scheinbar am eindrücklichsten der „Gegenwart".

Das Nahe und das Mobilisierbare Daß Literaturgeschichtsschreibung bis an die eigene Epoche heranreicht, hat bei Gervinus seine besondere geschichtsperspektivische Begründung und ist in der historiographischen Praxis immer neu in Frage gestellt worden. Mit In-

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Ebd., S. 279. Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, Ausgabe 1952, S. 151. Ebd.

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Wissenschaftsepochen

brunst verfolgt Adolf Bartels lange vor 1933 in den verschiedenen Neufassungen seines Kompendiums, wie - gegen den „Fluch" der „jüdischen" Autoren sich anstemmend 101 — die eigentliche „neudeutsche" Literatur anwächst und an Macht gewinnt. Das Zehnte Buch umfaßt „Die Gegenwart" und beginnt im „Gefolge des Weltkriegs". „Kriegsbücher", „Kriegswerke" vor allem sind es,102 die den Weg zunächst zum 30. Januar 1933 und dann bis in die unmittelbare Gegenwart weisen.103 Geschichte geht hier mit eiserner Entelechie in Kriegsgegenwart und Kriegszukunft über. Literatur eilt dem im „Volk" sich Bahn brechenden Prozeß voraus. Fechter stellt 1932 sein letztes Darstellungskapitel (es folgt dann noch ein ,Ausklang") unter dem Titel „Der Kampf gegen die Isolierung": „Um die Uberbrückung dieser neuen Kluft, die sich [...] zwischen Dichtung und Volkstum an einer der gefährlichsten Stellen aufgetan hat, ringen heute die Besten. Der Sudetendeutsche Erwin Guido Kolbenheyer [...]".104 Im Jahr 1941 zieht Fechter den Bogen des Schlußkapitels vom Kriegsausbruch 1914 bis zur Gegenwart unter der Devise „Das Zeitalter der Gemeinsamkeit". 105 Die Gemeinsamkeit ist die des „Volkhaften", das gegen die bloße „Bildung" endgültig den Sieg, und zwar den Sieg des deutschen Volkes, davontragen wird. In den Literaturgeschichten von Bartels und von Fechter - die natürlich zugleich Instrumente einer umfassenden nationalsozialistischen Literaturpolitik darstellen und auch als solche noch der genaueren Analyse bedürfen - geschehen eine Usurpation von Literaturgeschichte und ein mobilisierendes Hineinziehen in die Gegenwart, die in diesem Genre ohne Parallele sind (auch im Hinblick auf 1870 oder 1914). In den Beiträgen zu Von deutscher Art in Sprache und Dichtung aus der Feder der meisten bekannteren Literarhistoriker Deutschlands ist der heroische Gestus der letzten Entschlossenheit, bis zum „Untergang", nahezu durchgängig. Und Die deutsche Dichtung^ unserer Zeit von Arno Mulot (1944) stellt sich mit ihrer „stählenden" Zwecksetzung unmißverständlich in den Kontext der totalen Mobilisierung. 106 Wie kann Literaturgeschichtsschreibung „danach" aussehen? Das konstitutive Prinzip der Fortschreibbarkeit scheint außer Kraft gesetzt. Nicht nur fehlt es - wie schon die frühe Auseinandersetzung um die Rückkehr Thomas Manns demonstriert — an wirklicher Kenntnis dessen, was „drinnen" und in den zerstreuten Exilzentren faktisch entstanden war. Es fehlt an einem historiogra-

101

Bartels: Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 5), Ausgabe 1942, S. 743. Die mit Namen und Titeln überladene einschlägige Partie: S. 744-749. 103 Unmißverständlich schon in der Einführung ins Zehnte Buch (S. 736ff.). 104 Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, Ausgabe 1932, S. 789. 105 Fechter: Geschichte der deutschen Literatur, Ausgabe 1941, S. 740ff. 106 Arno Mulot: Die deutsche Dichtung unserer Zeit. 2. Aufl. 1944, S. VII. 102

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Literaturgeschichtsschreibung

vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu

phisch bündelnden Perspektivpunkt, sofern überhaupt Literatur der „Gegenwart" schon für wissenschaftswürdig erachtet wird. 107 Bei Hermann Schneider (1946) reicht das „Epochen"-Interesse nur bis zum Naturalismus. Gerhard Fricke (1949) präsentiert zunächst nur den ersten Band, der mit dem Ersten Weltkrieg abschließt; erst Mitte der sechziger Jahre führt Volker Klotz die Darstellung in die Gegenwart weiter. Heinz Otto Burgers Annalen (1952) wagen sich in dem Schlußkapitel von Schwerte (1924-1945) über das Kriegsende nicht hinaus; das letzte Stichwort, „Fortführung der Altkräfte", demonstriert die Verlegenheit. Vor diesem Hintergrund ist Fritz Martinis Versuch (1948/49), ein historiographisches Kontinuum bis zu einzelnen Neuerscheinungen (Langgässers Das unauslöschliche Siegel·, Kasacks Die Stadt hinter dem Strom·, Thomas Manns Doktor Faustus, 1947; sogar Jahnns Armut, Reichtum, Mensch und Tier, 1948) 108 zu versuchen, bemerkenswert. Zugute kommt ihm gerade hier die Großgliedrigkeit, die für seine Literaturgeschichte überhaupt gilt: „Vom Naturalismus bis zur Gegenwart" vermag flexibel alles zu umgreifen. Es ist wiederholt an Martinis Leistung gewürdigt worden, daß er den Schritt bis zur Gegenwart gewagt und dann Auflage für Auflage geduldig das Neueste nachgetragen habe, auch der „Moderne" so eine Chance öffnend. 1948/49 kann das nur tastend geschehen. Vieles ist noch zu neu oder nur aus zweiter Hand bekannt (Titel werden entstellt wiedergegeben). 109 Döblins Berlin Alexanderplatz wird vage eine „eigentümliche neue Ausdrucksform" attestiert, Kafka (auf einer halben Seite) firmiert ganz unter „Nihilismus", Plieviers Stalingrad andererseits wird gerade die Qualität eines „Dichter"-Werks zugesprochene. 110 Kolbenheyer, Blunck, Grimm und Genossen werden nicht ausgeklammert, da sie präsent sind, aber mit leitmotivisch vorsichtiger Kritik begleitet („mythischer Kollektivismus", „irregeleitet" usw.). 111 Am „Schicksal der Emigration" 112 wird die existentielle Veränderung der Perspektive hervorgehoben, auch das Phänomen der „Isolation". Die inneren Emigranten, die christlichen vor allem, bestimmen die letzten Seiten. Es ist offenkundig, daß bei aller Bemühung um historiographische Kontinuität das wieder erwachende Interesse an Literatur der Gegenwart und jüng-

107

108 109 110 111 112

Zu den Positionen der „Geistesgeschichte" hierbei vgl. die Beiträge in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (wie Anm. 69), S. 1 2 3 - 1 9 8 . Martini: Deutsche Literaturgeschichte (wie Anm. 54), Ausgabe 1949, S. 529. So etwa S. 534 Brechts „Frau Kourasche" und „Der gute M a n n von Sezuan". Die drei Stellen: S. 527, 523, 543. Ebd., S. 5 3 9 - 5 4 2 , 557, 566 u.ö. Ebd., S. 544f.

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Wissenschafisepochen sten Vergangenheit so nicht befriedigt werden kann. Albert Soergels Funktion als Historiograph der „Moderne" (seit 1911) ist mit Dichter aus dem Volkstum (1934) beendet; Curt Hohoffs Neubearbeitung und Weiterführung in die Gegenwart unter dem Titel Dichtung und Dichter der Zeit wird in zwei Bänden erst 1961 und 1963 erscheinen. Paul Fechter, der Kritiker, Schriftsteller und nicht zur 'zünftigen' Literaturwissenschaft Zählende, stößt schon 1952 entschlossen in diese Lücke. Das gloriose Schlußkapitel von 1941, „Das Zeitalter der Gemeinsamkeit", wird einfach eliminiert, fünf neue Kapitel treten an diese Stelle. Schon die Uberschriften sagen das Entscheidende: „Die konservative Revolution", „Literatur von links und rechts", „Der Beitrag des Ostens", „Die Dichtung der Frauen"(!), „Dichter und ihre Gesellen". Mit den „Gesellen" aber, denen hier ein eigenes Kapitel gewidmet wird, sind vor allem solche Autoren gemeint, die sich dem „Abseitigen" widmen, wie Musil und Broch,113 während Reinhold Schneider die Ehre zuteil wird, ihnen als christlicher „Dichter" entgegengestellt zu werden. Daß Fechter auf Kritik gestoßen ist, bleibt ebenso notwendigerweise zu erwähnen wie die Tatsache, daß er über Jahre hin in die Breite wirkte und historiographisch die Erwartungen sehr vieler ebenso traf wie ihre Ressentiments. Daß der Fassung von 1952 eine von 1941 und eine von 1932 vorausgingen, ist auch fur das Problem „Gegenwartsliteratur" zwar ein Extrem, aber ein symptomatisches. Symptomatisch auch in dem Sinn, daß es schlaglichtartig die Situation der zünftigen Literaturwissenschaft in den Jahren vor und nach 1945 illustriert. In der SBZ und dann in der frühen DDR hat im Neuschreiben von Literaturgeschichten große Zurückhaltung geherrscht, Lukacs' erwähnte Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur von 1945 diente in den fünfziger Jahren allenfalls als Leitfaden.114 Im Westen steht Literaturgeschichtsschreibung vor einer Chance, die zugleich Bredouille bedeutet. Formgeschichte, Gattungstypologie, „werkimmanente Interpretation" und nicht zu vergessen die „reine Philologie" (mit der Attraktivität etwa Friedrich Beißners in den fünfziger Jahren) verfügen über Möglichkeiten der Reduktion, der Konzentration, auch des Rückzugs, die dem Historiographen viel schwerer zugänglich, wenn nicht verschlossen sind. „Aufklärung" muß vorkommen, auch „Klassik" in einem explizierten Sinn, auch dann natürlich Büchner, Heine, Fontane und Brecht (selbst wenn ihm im Westen auf der Bühne und in der

113 1

Fechter: Geschichte der deutschen Literatur (wie Anm. 11), Ausgabe 1952, S. 749-752. In eine „offiziöse" Funktion tritt bekanntlich erst 1964 die von Hans Jürgen Geerdts herausgegebene Deutsche Literaturgeschichte in einem Band (Verlag Volk und Wissen Berlin). Vgl. im übrigen Anm. 2.

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Literaturgeschichtsschreibung

vor und nach 1945: alt, neu, alt/neu

Schule noch der Zugang verwehrt wird) und Thomas Mann, an dem sich nach 1945 nicht nur unter Völkisch-Nationalen die Geister scheiden. Literaturgeschichten müssen, so erfordern es die Institutionen - und der allmählich sich entwickelnde Markt - bald nach 1945, spätestens ab 1949 wieder erscheinen. Wer sie sich zu schreiben zutrauen kann, gehört weit überwiegend zum Kreis derer, die schon an Von deutscher Art in Sprache und Dichtung mitgewirkt haben. Ein Theater mit Nathan oder mit Iphigenie zu eröffnen, oder Draußen vor der Tür zu spielen oder Die Illegalen oder Des Teufels General, und diese Stücke kontrovers in der Öffentlichkeit zu diskutieren, ist das eine. Sie im Kontext von Historiographie zu interpretieren, das andere. Der Impuls zum 'Fortschreiben deutscher Literaturgeschichten ist, so erweist sich, auch nach 1945 ungebrochen. Ja, er scheint stärker zu sein als je zuvor. Die Motive sind schwerlich auf einen einzigen Nenner zu bringen, sie durchkreuzen sich nicht selten auch bei einzelnen Autoren. Das erkennbare Spektrum reicht vom Wunsch nach Rückbesinnung auf das sogenannte „Wissen" und die „Fakten" über persönliche Rechtfertigung bis zur subtilen Bekräftigung von Ressentiments und schließlich auch zum Uberdecken von Spuren. Die - noch gar nicht näher erhobenen - Wirkungen sind entsprechend komplex und kaum zu überschätzen; sie reichen bis weit über die sechziger Jahre hinaus. Dieser skizzenhafte Versuch bedarf der Korrektur und vor allem der modifizierenden Ergänzung durch insistente Analysen von Dichtermonographien, Gattungsgeschichten, Werkinterpretationen. Die nach 1945 alt/neu und neu konstruierten historiographischen Bilder und Deutungsschemata verlangen dabei besondere Aufmerksamkeit. Zweifellos lockt an der Literatur nicht zuletzt die „andere", die „geistige", die „eigentliche" Geschichte Deutschlands - und was aus ihr hätte werden können. Doch verglichen mit der politischen Geschichte erscheinen die literarischen Gegenstände als leichter handhabbar, als flexibler, auch zur Reduktion geeigneter. Eine ausladende öffentliche Debatte um das große Thema „Revision des deutschen Geschichtsbildes", wie sie (nicht nur) unter Historikern bald nach 1945 geführt wurde,115 besaß damals in der deutschen Literaturwissenschaft kein Äquivalent, sondern allenfalls Ansätze. Doch dieses Stück komparativer Wissenschaftsgeschichte Westdeutschlands wäre erst zu schreiben.

115

Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945. M ü n c h e n 1989, bes. S. 2 0 7 227.

249

METHODENREFLEXION

Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung*

Anreiz und Leistung des in den letzten Jahren bemerkenswert in den Vordergrund der literaturwissenschaftlichen Diskussion gerückten wirkungs- bzw. rezeptionsgeschichtlichen Ansatzes1 beziehen sich wesentlich auf zwei Fundamentalbedingungen der Literatur. Zum einen scheint sich über die Kategorie der Wirkung bzw. der Rezeption (die hier lediglich als zwei verschiedene Aspekte desselben Vorgangs verstanden werden)2 ein neuer, hermeneutisch reflektierter Zugang zur Geschichtlichkeit der Literatur zu öffnen. Zum anderen tritt mit dem gezielten Blick auf die Leser, die Hörer, die Zuschauer, kurz: die Rezipienten notwendigerweise auch die Gesellschaftlichkeit der Literatur, zumindest ihre Gebundenheit an gesellschaftliche Kommunikationsvorgänge neu hervor. In beiden Fällen wird die eigentliche Brisanz der wirkungsgeschichtlichen Fragestellung erst verständlich auf dem Hintergrund der lange Zeit dominierenden und inzwischen ins Kreuzfeuer der Kritik geratenen Immanenz- und Autonomiepostulate.3 Denn selbst wo noch immer, bewußt oder unbewußt, mit der Fiktion eines überzeitlichen 'Textes an sich' gearbeitet wird, lassen sich dessen reale Wirkungen nur in der geschichtlichen Jeweiligkeit des Wirkungsvorgangs erfassen und analysieren. Und wo der Autor noch als isoliert schaffendes Genie ohne wesenhaft gesellschaftliche Dimension gedacht wird, ist doch ein Text, insofern er die Literaturwissenschaft beschäftigt, immer bereits auf eine Mehrzahl potentieller oder tatsächlicher Rezipienten bezogen, deren Gesellschaftlichkeit konsequenterweise nicht mehr ausgeklammert werden kann. Das aber heißt: Jeder, * 1

2

3

Erstpublikation in: Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Hrsg. v. Gunter Grimm. Stuttgart 1975, S. 8 5 - 1 0 0 . Hierzu sei generell auf die Einleitung des Herausgebers des Bandes Literatur und Leser (wie Anm. *) verwiesen. Einzelne Titel, auf die besonders Bezug genommen wird, erscheinen in den nachfolgenden Anmerkungen. Zur Kritik an der von Hans Robert Jauß neuerdings vorgeschlagenen Trennung vgl. auch Eberhard Lämmert: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Literatur als Lehrgegenstand, in: Neue Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. v. Jürgen Kolbe. München 1973, S. 1 6 0 - 1 7 3 ; hier S. 165f. Diesen Hintergrund skizziert Karl Robert Mandelkow: Probleme der Wirkungsgeschichte, in: Jahrb. f. Internat. Germanistik II/I (1970), S. 7 1 - 8 4 .

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Methodenreflexion der sich auf die Frage nach der Wirkung literarischer Texte ernsthaft einläßt, ist von der Sache her gehalten, sowohl das Problem der Geschichtlichkeit wie das der Gesellschaftlichkeit substantiell in seine Reflexion einzubeziehen. In den bisher vorgelegten methodologischen Entwürfen, etwa denen von Hans-Georg Gadamer, 4 Hans Robert Jauß 5 und Robert Weimann, 6 ist dies freilich mit sehr unterschiedlicher Intensität und Tendenz geschehen. Für Gadamers Konzept des „wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins"7 bleibt Gesellschaft gewissermaßen ausgeblendet, hier geht es in erster Linie um die Analyse der individuellen Erfahrung von Geschichte und um die „Logik von Frage und Antwort". 8 Weimann auf der anderen Seite geht von der Frage aus, welchen Beitrag die historische, literarische Bildung für die anzustrebende sozialistische Gesellschaft leisten könne, 9 und er versucht auf diese Weise das Prinzip der Wirkungsgeschichte als eine gesellschaftliche Funktion der Gegenwärtigkeit zu bestimmen. Jauß schließlich, der bestrebt ist, zwischen Formalismus und historischem Materialismus einen dritten, mittleren Weg zu finden, zielt primär auf „die sukzessive Entfaltung eines im Werk angelegten, in seinen historischen Rezeptionsstufen aktualisierten Sinnpotentials". 10 In seinen von Karl Mannheim übernommenen Begriff des 'Erwartungshorizonts' gehen zwar grundsätzlich auch gesellschaftliche Momente ein, doch wird deren Beschaffenheit jeweils nur ungefähr und nur in synchronischen Schnitten, nicht aber in ihrer geschichtlichen Diachronie begreifbar. Dies gilt auch für die Modifikationen, die Jauß 1973 anläßlich seines Beitrags über Racines und Goethes Iphigenie formuliert hat. 11 Allen drei hier nur knapp und in Teilaspekten angesprochenen Entwürfen ist gemeinsam, daß sie eine Wirkungsgeschichte immer schon als Faktum vor4

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s 10 11

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 3 1972. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft [zuerst 1967], in: H. R J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M . 1970, S. 144-207, (im folgenden zit. als: 'Provokation). Robert Weimann: Literaturgeschichte und Mythologie. Berlin u. Weimar 1972. Vgl. auch: Tradition in der Literaturgeschichte. Beiträge zur Kritik des bürgerlichen Traditionsbegriffs bei Croce, Ortega, Eliot, Leavis, Barthes u. a. Eingel. u. hrsg. v. Robert Weimann. Berlin 1972. Gadamer (wie Anm. 4), S. 3 2 4 - 3 6 0 . Ebd., S. 351. Nur die Kategorie des Geschmacks (a. a. O., S. 3Iff.) erhält, im Anschluß an Kant, wesenhaft gesellschaftliche Qualität, ohne freilich im Zusammenhang der Wirkungsgeschichte eine erwähnenswerte Rolle zu spielen. Weimann: Literaturgeschichte und Mythologie (wie Anm. 6), S. 149. Jauß: Provokation (wie Anm. 5), S. 186. Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode, in: neue hefte für philosophie 4 (1973), S. 1 —46, (im folgenden zit. als: 'Partialität').

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Wirkungsgeschichte und Tradition

aussetzen, ohne sich um die Möglichkeiten, die konkreten Modi der gesellschaftlich-geschichtlichen Vermittlung zu kümmern. Hinter der zweifellos zentralen Frage nach den Erwartungen, Vorurteilen, Urteilen, die sich in den überlieferten Zeugnissen zu einzelnen Werken manifestieren, verschwindet fast völlig die Frage, unter welchen Bedingungen und nach welchen diachronischen Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Praxis sich diese Urteilsstrukturen herausgebildet haben. Um das Problem an ein paar Beispielen zu verdeutlichen: Wie ist es zu erklären und welche geschichtlichen Prozesse haben dazu beigetragen, daß jemand heute sowohl Grimmelshausens Simplicissimus als auch Frischs Gantenbein, sowohl Goethes Werther als auch Döblins Berlin Alexanderplatz kaufen, lesen und wohl auch verstehen kann? Oder: Wieso konnte Vergils Aeneis auf der Folie Homers verfaßt und gelesen werden, und wie war es möglich, daß Shakespeare im 18. Jahrhundert in Deutschland neu 'entdeckt' wurde? Warum wird zu der gleichen Zeit Cicero noch als Imitationsmuster auf den gelehrten Schulen traktiert, und warum wird er auch heute noch gelesen? Warum ist auf der anderen Seite Büchners Woyzeck erst über sieben Jahrzehnte nach seiner Entstehung aufgeführt worden? Auf solche bewußt vielfältig, ja heterogen gewählten wirkungsgeschichtlichen Fragestellungen12 ist von den drei genannten Ansätzen her keine methodisch abgesicherte Antwort möglich. Besonders die beiden letztgenannten Fragen stehen im Grunde außerhalb des von den Autoren selbst gezogenen Horizonts. Gadamer und Jauß sind vor allem an der historischen Differenz und Besonderheit jeweiliger Rezeptionen und an deren Bewußtmachung durch den gegenwärtigen Interpreten interessiert, während bei Weimann die Verfügbarkeit für gegenwärtige politische Zielsetzung gewissermaßen alle Historizität verschlingt. Allen drei Konzepten fehlt - aus je verschiedenen Gründen - eine kategoriale Fragestellung, in der gerade die Verschränkung von Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit der Literaturrezeption voll zur Geltung kommt. Diese Fragestellung könnte etwa lauten: Wodurch wird in der Vielfalt der produzierten Texte und in der Abfolge der Generationen und der Gesellschaften Wirkungsgeschichte von Werken überhaupt möglich? Wodurch bleibt in literarischen Texten sich niederschlagende Geschichte dem jeweiligen Leser und der Gesellschaft, in der er lebt, zugänglich und verstehbar? „Die Quelle aller Geschichte ist Tradition, und das Organ der Tradition ist die Sprache", konstatiert Schiller in seiner Jenaer Antrittsrede über Wesen und Studium der Universalgeschichte (1789). 13 Schiller sagt dies in einem histori12

Eine Reihe weiterer anregender Lehrbeispiele dieser und ähnlicher Art bietet Lämmerts in A n m . 2 genannter Beitrag.

13

Ausgabe Goedeke, Bd. 9 , S. 9 3 .

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Methoden

reflexion

sehen Augenblick, als sich der Begriff der Tradition eben erst von der Dominanz des religiös-theologischen Gebrauchs befreit hat und noch nicht in den Sog der politischen Restauration des 19. Jahrhunderts geraten ist.14 Im Begriff der Tradition, verstanden als Weitergabe, Uberlieferung, scheint auf geradezu ideale Weise sowohl das Diachronisch-Geschichtliche als auch das Moment der gesellschaftlichen Praxis vereinigt zu sein. Tradition ist eine Grundbedingung für die Existenz jeder Art von Sozietäten überhaupt; sie ist, wie man treffend gesagt hat, soziales Gedächtnis'. 15 Ob sie einen Kanon familialer Verhaltensweisen tradiert, ob Techniken des Handwerks und der Agrikultur, ob moralische Normen oder religiöse Glaubensinhalte: Sie ist per definitionem der Garant überindividueller Konstanz und somit zugleich Garant sozialer Kontinuität. Literarische Tradition stellt auf diesem Hintergrund nur eine besondere Ausprägung gesellschaftlicher Tradition dar und muß dementsprechend analysiert und gedeutet werden. Das aber ist in der bisherigen wirkungsgeschichtlichen Methodik als umfassende Aufgabe noch nirgends formuliert, geschweige denn realisiert worden. Zwar taucht der Begriff der Tradition fast in jeder wirkungs- bzw. rezeptionsgeschichtlichen Arbeit auf, sei sie nun primär analytisch oder theoretisch orientiert. Aber entweder wird der Begriff gedankenlos und diffus verwendet, oder er wird mit politischer Einseitigkeit beladen, die eine Verständigung nahezu unmöglich macht. Das bedarf der Belege und zunächst eines kurzen begriffsgeschichtlichen Exkurses.16 Tradition stammt als Terminus - traditio — aus dem Bereich des römischen Rechts und bezeichnet dort eine bestimmte, hier nicht näher zu erörternde Weise der Eigentumsübertragung (ζ. B. auch die Übergabe einer Stadt an den Eroberer). Schon früh aber begegnet das Wort auch im Sinne der Weitergabe geistiger Inhalte mit Hilfe der Sprache, mündlich oder schriftlich; es bezeichnet den Bericht, den Lehrvortrag, aber ebenso die Lehre, die Satzung usw.17 Hier

Vgl. hierzu schon das frühe Zeugnis in Schillers Versuch über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (Ausgabe Goedeke, Bd. 1, S. 155). Aus der fast unübersehbaren Fülle der einschlägigen Literatur (meist ohne den Begriff Tradition im Titel) seien hier nur genannt: Albert K. Cohen: Attitude change and social influence. New York 1964; Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Verhandlungen des 13. Deutschen Soziologentages. Köln u. Opladen 1957; Arnold Gehlen: Urmensch und Spätkultur. Bonn 1956; David Riesman: Die einsame Masse. Hamburg 1958. Methodologisch anregend auch der umfangreiche Band: Soziologie und Sozialgeschichte. Hrsg. v. Peter Christian Ludz. Opladen 1973. Brauchbare Vorarbeiten hierzu, geschweige denn eine Spezialmonographie, existieren nicht. In der Literatur zur Traditionsproblematik finden sich immer nur verstreute Einzelhinweise. Innerhalb der selbstgesteckten Grenzen nützlich ist einstweilen: Artikel 'Tradition in Grimms Deutsches Wörterbuch 11/1 (1932), Sp. 1022-1025. Die Doppelbedeutung von Lehrvortrag und Lehrinhalt begegnet bezeichnenderweise häufig in Quintilians Institutio oratoria.

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Wirkungsgeschichte

und Tradition

bereits konstituiert sich jener doppelte Gebrauch im Sinne von Überlieferungsvorgang und Uberlieferungsinhalt, von 'actus tradendi' und 'traditum' (später auch als 'traditio activa' und 'passiva' unterschieden), ein Gebrauch also, der sich bekanntlich bis in die Gegenwart erhalten hat, allerdings mit Übergewicht des Inhalts. Der Begriff gewinnt eine neue Wertigkeit im Zusammenhang der Reformation bei der Auseinandersetzung um das Problem von Schrift (Heiliger Schrift), Schriftauslegung und kirchlicher Überlieferung. Es bildet sich eine Polarität heraus, die als Traditionsprinzip und als Sola-scriptura-Prinzip (mit Anerkennung nur der frühen apostolischen Tradition) in die Dogmen- und Kirchengeschichte eingegangen ist. 18 Hier wird der Traditionsbegriff deutlich - und zwar nicht nur von Seiten der Reformatoren — mit einem konservativen, ja restaurativen Akzent versehen, vor allem im Zuge der Gegenreformation. Häufig begegnet er zusammen mit der Vorstellung von Autorität, besonders amtskirchlicher Autorität. Im übrigen reicht das Überwiegen der Verwendung im religiös-theologischen Zusammenhang bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Lessings Apostrophe an Luther: „Du hast uns von dem Joche derTradition erlöset", 19 spiegelt noch einmal die fast affektive Aufgeladenheit des Begriffs wider. Daneben kristallisiert sich im Zeichen der Aufklärung und des neuen Geschichtsdenkens auch ein intentional neutraler, geradezu mechanischer Traditionsbegriff heraus, mit dem etwa die Weitergabe von handwerklichen, künstlerischen Techniken, aber auch von Sagen und Liedern bezeichnet wird. Zunehmend tritt hierfür auch die deutsche Form 'Überlieferung' ein. Nicht selten wird aber bei Tradition auch eine Opposition zu 'Natur', 'Leben', 'Gegenwart' mitgedacht, etwa wenn Goethe vom Künstler sagt: „Er hängt an derTradition und hat einen Blick hinüber in die Natur". 20 Gewissermaßen eine Wiederaufladung mit konservativem bis reaktionärem Gehalt ist im Zusammenhang der politischen Restauration zu verzeichnen. Immer häufiger wird Tradition jetzt auf moralische, politische, im weitesten Sinne gesellschaftliche Verhaltensweisen bezogen, und insbesondere werden alte Standesgewohnheiten und Standesprivilegien so bezeichnet. Es bilden sich die Formeln von der 'preußischen Tradition' und von der 'guten, alten Tradition', mit der zumeist Adlig-Aristokratisches gemeint ist. Nicht weniger tiefgreifende Wirkungen zeigt schon früh das Wiederentdecken, Sichern, Wiederaufnehmen sogenannter 'volkstümlicher' Traditionen im Zeichen der Romantik. Tradition wird zu einem Hauptbegriff und zu einem 18

" 20

Hierzu exemplarisch Oskar Cullmann: Die Tradition als exegetisches, historisches und theologisches Problem. Zürich 1954. Ausgabe Lachmann-Muncker, Bd. 13, S. 102. Weimarer Ausgabe, Bd. 44, S. 304.

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Methodenreflexion

Hauptobjekt der sich als Wissenschaft etablierenden Volkskunde21 und der ihr entsprechenden kulturpolitischen Aktivitäten. Damit ist das Spektrum der Tendenzen und Verwendungsweisen entfaltet, das im wesentlichen auch noch die Gegenwart bestimmt. Der Nationalsozialismus nimmt den Begriff in seinen Agitationswortschatz auf, jetzt wirkt der Dichter, als Gegensatz zum 'Literaten', „im Sinne der Tradition, also konservativ".22 In Form der sogenannten 'Traditionspflege', der 'Traditionsvereine' und 'Traditionsverbände' reicht der Traditionalismus des 19. Jahrhunderts bis in unsere Tage hinein. Und angesichts des vielbeklagten 'Traditionsverlusts'23 - der gerne mit Geschichtsverlust gleichgesetzt wird - sieht er seine eigene Existenznotwendigkeit so klar bestätigt wie nur je· Erst wenn man sich diese Geschichte des Traditionsbegriffs, das Schillernde und die tiefe Kompromittiertheit durch theologische und politische, kulturpolitische Tendenzen vergegenwärtigt, wird die Verlegenheit der bisherigen Wirkungsforschung hinsichtlich 'Tradition' voll verständlich. Die „Rehabilitierung von Autorität und Tradition" fordert Gadamer mit einer unnötig zweideutigen Formulierung als Voraussetzung für die Konstitution des 'wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins'.24 „Die Kategorie Tradition ist wesentlich feudal", behauptet Adorno, fernab jeder historischen Konkretion. 25 Den „Klassizismus der Traditionsforschung" kritisiert Jauß ebenso wie die „philologische Metaphysik der Tradition". 26 Demgegenüber verlangt Weimann gerade eine neue, dialektische „Theorie der Tradition", worin Tradition „als ein produktives Moment der gegenwärtigen Kultur" erkannt wird. 27

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Hierzu der Sammelband: Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Hrsg. v. Hermann Bausinger u. Wolfgang Brückner. Berlin 1969 (dort auch weiterführende Literaturangaben). Vgl. außerdem Hermann Bausinger: Kritik der Tradition. Anmerkungen zur Situation der Volkskunde, in: Zs. f. Volkskunde 65 (1969), S. 232-250. Hellmuth Langenbucher: Der heldische Gedanke in der deutschen Dichtung [1933]. Zit. nach: Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973, S. 836. Vorwiegend unter diesem Gesichtspunkt — wenn auch mit verschiedener Zielsetzung — stehen: Wilhelm Windelband: Über Wesen und Wert der Tradition im Kulturleben (1908), in: W. W.: Präludien. Bd. 2. Tübingen 1924, S. 244—269; Gerhard Krüger: Geschichte und Tradition. Stuttgart 1948; Josef Pieper: Über den Begriff der Tradition. Köln u. Opladen 1958; vgl. auch das Eranos-Jahrbuch 1968 mit dem Generalthema „Tradition und Gegenwart" (Zürich 1970) sowie: Vom Sinn der Tradition. Zehn Beiträge [...]. Hrsg. v. Leonhard Reinisch. München 1970. Gadamer (wie Anm. 4), S. 261. Theodor W. Adorno: Über Tradition. In: T. W. Α.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt a. M. 1967, S. 29-41; hier S. 29. Jauß: Provokation (wie Anm. 5), S. 170 und S. 232. Weimann: Literaturgeschichte und Mythologie (wie Anm. 6), S. 49.

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Wirkungsgeschichte und Tradition Eine gemeinsame Basis hinsichtlich des Traditionsverständnisses scheint ausgeschlossen; denn auch die formale Konvergenz zwischen Gadamer und Weimann in der Forderung nach einer Neubesinnung auf Tradition täuscht. Jeder der vier Autoren - die in diesem Punkt als repräsentativ gelten können — reagiert auf eine der genannten Deformationen des Traditionsbegriffs und versucht sie in seinem Sinn zu funktionalisieren. Keiner aber geht von dem oben genannten sozialgeschichtlichen Erfahrungssatz aus, daß Tradition eine Grundbedingung für die Existenz und den Bestand jeder Art von Gesellschaften sei. Damit ist nicht etwa ein 'wertneutraler' Traditionsbegriff postuliert, der gewissermaßen einen archimedischen Punkt außerhalb der Ideologien böte. Der Paulinische Satz aus dem 2. Thessalonicherbrief (2, 14 in der Vulgatafassung): „Tenete traditiones, quas didicistis, sive per sermonem, sive per epistolam nostram" - dieser Satz gibt exakt einige Grundeigenschaften von Tradition wieder. Sie ist immer zunächst ein Moment der Kontinuität, der Konstanz, des 'tenere'. Sie bedarf, um sich zu erhalten und durchzusetzen, der Autorität; 28 hier ist es die des Paulus. Man muß in Tradition hineinwachsen, sie lernen. Tradition kann sich mündlich oder schriftlich erhalten („sive per sermonem, sive per epistolam") und tendiert gerade in der Schriftlichkeit — in den Paulinischen Briefen — zur Kodifizierung und damit zugleich zur Auslegungstradition, gewissermaßen einer Metatradition (von den kodifizierten Texten her gesehen). Theologie und Jurisprudenz haben sich diesen Phänomenen seit langem intensiv zugewandt, vor allem auch dem Problem der Auslegungstradition, also einer fundamental wirkungsgeschichtlichen Fragestellung.29 Die Geschichte der Rezeption des römischen Rechts beispielsweise, wie sie durch Paul Koschaker dargestellt worden ist,30 bietet eine Fundgrube methodischer Anregungen auch für literarische Wirkungsgeschichte. Der Bezug der religiösen und juristischen Primärtexte auf menschliches, gesellschaftliches Handeln ist nicht durch jene vor allem autonomistischen Vorurteile verdeckt worden, die Karl Robert Mandelkow als besondere Hemmnisse wirkungsgeschichtlicher Betrachtungsweise in Deutschland herausgestellt hat.31 28

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Zu den historischen Aspekten Theodor Eschenburg: Über Autorität. Frankfurt a. M . 1965; Horst Rabe: Artikel 'Autorität', in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1. Stuttgart 1972, S. 3 8 2 - 4 0 6 . Außer der in Anm. 18 genannten Arbeit von Cullmann vgl. Helmut Coing: Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik. Köln u. Opladen 1959 (beide Titel mit weiterführenden Literaturangaben). Für die juristischen Aspekte auch wichtig Emilio Berti: Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften. Tübingen 1967. Paul Koschaker: Europa und das römische Recht. München u. Berlin 2 1 9 5 3 . Mandelkow (wie Anm. 3), S. 71f.

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Methodenreflexion

Kontinuität, Autorität, Mündlichkeit u n d Schriftlichkeit, Auslegungstradition - alle diese Momente literarischer Tradition begegnen dem einzelnen im Prozeß der Sozialisation. Familie, Schule, Kirche, Vereine, privates und öffentliches Bildungswesen mit ihren Normen und ihren Sanktionsmechanismen bilden den institutionellen Rahmen, 3 2 der auch und gerade in den modernen komplexen Gesellschaften literarische Tradition wesentlich vermittelt und trägt. Er ist es, der damit Wirkungsgeschichte literarischer Texte nicht nur formal erst ermöglicht (ζ. B. durch Ausbildung der Lesefähigkeit), 33 sondern auch inhaltlich prägt. Dies gilt grundsätzlich auch für alle diejenigen Fälle, bei denen ein einzelner in seiner Beschäftigung mit Literatur weit über die Kenntnisse und Interessen der ersten Sozialisationsphase und ihre Traditionsinhalte hinauswächst. Hier ergibt sich ein Arbeitsfeld, das bei rezeptionstheoretischen Erörterungen zwar gelegentlich genannt wird — meist unter dem Stichwort Schule —, aber in die konkrete Analyse noch kaum einbezogen worden ist. Die literarische Kritik, die sich der Aufmerksamkeit der Rezeptionshistoriker in vorderster Linie erfreut, ist ja unter den normierenden Institutionen erst ein sekundärer, in seinen Auswirkungen auch durchaus verschieden bewerteter Bereich. 34 Allerdings stellt sich hier die Frage: Genügt es nicht, den angedeuteten sozialen, institutionellen Rahmen literarischer Tradition jeweils gewissermaßen mitzudenken und im übrigen Wirkungsgeschichte doch weiterhin als die Geschichte spontaner oder auch gelenkter Einzelrezeptionen zu analysieren und darzustellen? Sind nicht die Entelechie des einzelnen Werks und die in den Dokumenten sich niederschlagenden Reaktionen und Urteile das hermeneutisch eigentlich Fruchtbare und damit Wesentliche? Es ist zuzugeben, daß durch die Zentrierung auf solche Dokumente die Bindung an das in seiner Wirkungsgeschichte zu analysierende Werk - oder auch an den Autor — eher gewährleistet ist, daß sich die traditionale Determination im angedeuteten Sinn materialiter oft nur mit M ü h e ermitteln läßt und daß man sich dabei auch der Gefahr des Spekulierens und willkürlichen historischen Kombinierens aussetzt. Doch ist demgegenüber mit gleicher Deutlichkeit festzuhalten: Eine von aller traditionalen, institutionalen Prägung abstrahierende, isolierte Interpretation etwa von

Hierzu vor allem Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Bonn 7 1967. Reichhaltiges historisches Material bei Rolf Engelsing: Analphabetentum und Lektüre. Zur Sozialgeschichte des Lesens in Deutschland zwischen feudaler und industrieller Gesellschaft. Stuttgart 1973. Systematischer Überblick: Lesen — Ein Handbuch. Hrsg. v. Alfred Clemens Baumgärtner. Hamburg 1973. Zur Gegenwart: Peter Glotz u. Wolfgang R. Langenbucher: Der mißachtete Leser. Zur Kritik der deutschen Presse. Köln u. Berlin 1969; Peter Glotz: Buchkritik in deutschen Zeitungen. Hamburg 1968.

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Wirkungsgeschichte

und Tradition

Kritiken, brieflichen Äußerungen und dergleichen steht nicht weniger in der Gefahr, als individuelle oder gar einzigartige Rezeption auszugeben, was wesentlich Gemeingut einer Gruppe oder gar der ganzen betreffenden Gesellschaft ist; Beispiele dafür könnten aus der Rezeptionsforschung in genügender Zahl angeführt werden. Vor allem läßt sich die traditionale Rahmenprägung von Wirkungen und Rezeptionen prinzipiell nicht ohne Ausgriff auf die Gesellschaftlichkeit der Tradition bestimmen. Das aber bedeutet für die quellenmäßig sehr unterschiedlich gelagerten Untersuchungsgegenstände: Erst wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, den Traditionsrahmen in dem hier verstandenen institutional-sozialen Sinne zu ermitteln, kann grundsätzlich der Anspruch auf ein historisches und damit wesenhaft hermeneutisches Verfahren erhoben werden. 35 Hierzu drei Beispiele. Wenn man für die muttersprachliche wie die lateinsprachliche Epigrammatik des 17. Jahrhunderts eine intensive Prägung durch das Vorbild Martial feststellt und dies - zu Recht — als ein Stück Wirkungsgeschichte Martials behandelt, 36 genügt es nicht, pauschal etwa auf die lateinische Tradition zu verweisen oder für die theoretischen Prämissen und einzelne sprachliche Formungen auf die sogenannte rhetorische Tradition. Erst wenn man die maßgebenden literarischen Traditionshüter der Zeit, das humanistische Bildungswesen in der Hand des Gelehrtenstandes, in die Untersuchung einbezieht, wird auf diesem klassizistisch geprägten Hintergrund der besondere Reiz des durch Martial repräsentierten manieristischen argutia'-Ideals erkennbar. 37 Es ergeben sich überraschende Konvergenzen zwischen literarischem Jesuitismus und protestantischer Reformpädagogik, und man stößt sogar auf einzelne Sanktionsakte (Warnungen, Verbote), 38 die sich anhand der angedeuteten Traditionsmechanismen - und erst mit ihrer Hilfe - plausibel erklären lassen. Ein zweites, näherliegendes Beispiel. Die Idee der Volkspoesie, wie sie sich vor allem im Umkreis Herders und dann der Romantik herausgebildet hat, schöpfte einen wesentlichen Teil ihres Reizwertes bekanntlich nicht nur aus der Vorstellung von der dichtenden, ursprünglichen, unverbildeten Volksseele, sondern auch aus der weitverbreiteten Fiktion, die erhaltenen Texte seien unmittelbare, 'volkstümliche' Tradition. Für die Wirkungsgeschichte etwa der Grimmschen Märchentexte dürfte es aber sehr entscheidend gewesen sein, daß sie gerade nicht Tonbandprotokolle mündlicher Überlieferungen darstellen, sondern

35 36

37

38

Tendenziell wird dieser Anspruch am ehesten noch von Jauß vertreten. Richard Levy: Martial und die deutsche Epigrammatik des siebzehnten Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 1903. Vgl. Verf: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 4 4 - 4 6 , S. 6 2 - 6 7 , S. 3 5 5 - 3 6 6 . Ebd., S. 3 5 6 - 3 6 1 .

261

Methodenreflexion erheblich stilisierende Fassungen, die bestimmten bürgerlichen Lesetraditionen und Leseerwartungen entgegenkamen. An solchen Tatsachen läßt sich belegen, was Hermann Bausinger mit bewußter Prononcierung „die Erfindung der Volkspoesie" genannt hat;39 man könnte in unserem Zusammenhang geradezu von einer 'Erfindung der Volkstradition' sprechen. Ein drittes Beispiel. Heinrich Mann gilt weithin als Hauptrepräsentant, für einige sogar als Begründer der nicht eben breiten Tradition des politischen Romans in Deutschland. Es hängt offensichtlich auch mit diesen Gegebenheiten zusammen, daß die Wirkungsgeschichten seiner Romane ζ. T. etwas verzögert einsetzen. Der Untertan, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs fertiggestellt, dann teilweise veröffentlicht, schließlich 1916 als Privatdruck erschienen, fand aus einsichtigen Gründen erst 1918 Resonanz, nun gleich mit einer Stückzahl von nicht weniger als 100 000 Exemplaren. Völlig anders steht es mit seinen späten Romanen, besonders Empfang bei der Welt und Der Atem. Sie sind beim Literaturpublikum weithin unbekannt, nicht einmal die Forschung hat sich ihrer intensiver angenommen.40 Man könnte den Grund hierfür einfach in der Qualität der Texte selbst suchen, in Merkmalen wie Polyglottie, Tendenz zur dialogischen Auflösung oder zur Lockerung der Komposition. In dieser Richtung gehen denn auch die wenigen zu den Texten überhaupt vorliegenden Äußerungen, meist ohne präzise Beschreibung der Phänomene selbst. Solche Äußerungen sind zweifellos wirkungsgeschichtliche Dokumente. Wer jedoch das Faktum der bisher geringen Resonanz dieser Texte wissenschaftlich verantwortbar zu beschreiben und zu deuten unternähme, ginge methodisch fehl, wenn er nicht zumindest auch die Traditionsbedingungen mit einbezöge: die scheinbar bloß äußerliche Tatsache der Isolierung des Autors von seinem bisherigen Publikum (im Exil), die faktische Unmöglichkeit einer breiteren Resonanz in den ersten Jahren nach dem Erscheinen, und nach dem Krieg die ungünstigen Bedingungen fur eine Wiederaufnahme der unterbrochenen Tradition (nicht zuletzt aus politischen Gründen).41 Im Detail liegt natürlich das Verhältnis von Wirkungsgeschichte und Tradition bei allen drei Beispielen wesentlich komplizierter, als es hier angedeutet werden konnte. Im ersten Fall müßte etwa die Verbindlichkeit der Bildungstraditionen sozialhistorisch präziser bestimmt werden, im zweiten Fall wären die

Hermann Bausinger: Formen der Volkspoesie. Berlin 1968, S. 9 - 1 7 . Vgl. Verf: Heinrich Manns Spätwerk. Probleme seiner Erschließung, in: Mitteilungen des Arbeitskreises Heinrich Mann (1974), H. 4, S. 1 7 - 2 0 . Analysen dazu bei Klaus Schröter: Deutsche Germanisten als Gegner Heinrich Manns. Einige Aspekte seiner Wirkungsgeschichte, in: K. S.: Heinrich M a n n . 'Untertan — 'Zeitalter' — Wirkung. Stuttgart 1971, S. 6 0 - 7 1 .

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Wirkungsgeschichte

und Tradition

Lesetraditionen der bürgerlichen Märchenleser und die ideologische Funktion des Gedankens der 'Volksüberlieferung' genauer zu analysieren, und im dritten Fall ginge es ζ. B. um die Frage, welche Marktmechanismen hier die Uberlieferung oder NichtÜberlieferung mit bestimmen. Der Begriff der Tradition ist also in recht verschiedenen Zusammenhängen und damit auch Bedeutungsfacetten verwendet. Gemeinsam ist den drei Beispielen die Gesellschaftlichkeit der Traditionsphänomene und der Hinweis darauf, wie tief solche exogenen' Faktoren die Qualität der einzelnen Rezeptionen und der Wirkungsgeschichte insgesamt prägen können. Durch bloßes Interpretieren und Vergleichen von Texten und von Äußerungen über sie läßt sich hier weder im echten Sinne hermeneutisch arbeiten noch gar Wirkungsgeschichte schreiben. Die aus der Gesellschaftlichkeit literarischer Tradition resultierenden Forderungen an die Methode sind gewiß anspruchsvoll. Je schmaler die Quellenbasis insbesondere bei weiter zurückliegenden Epochen wird, desto eingeschränkter werden sie sich erfüllen lassen. Doch schon das Beispiel aus dem 17. Jahrhundert zeigt, wie wenig man die sich bietenden Möglichkeiten bisher wahrgenommen hat. Unter diesen Prämissen bleibt es eine unabdingbare Aufgabe, wenigstens einige grundsätzlichere Fragestellungen und Thesen zur traditionsbezogenen Wirkungsgeschichte zu formulieren. Literarische Tradition ist als besondere Ausprägung gesellschaftlicher Tradition prinzipiell an die gleichen Gesetzmäßigkeiten gebunden wie diese. Einige Aspekte wie Kontinuität, Autorität, Institutionalität, dann auch etwa Mündlichkeit und Schriftlichkeit, wurden bereits genannt. Für Deutschland läßt sich der funktionale Zusammenhang dieser Aspekte von Tradition bis weit ins 18. Jahrhundert hinein vergleichsweise übersichtlich bestimmen. Die Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit im Sinne von Jürgen Habermas, 42 die Entstehung eines literarischen Markts und nicht zuletzt die entschiedene Autoritätskritik der Aufklärung 43 schaffen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neue Bedingungen auch des Traditionsverhaltens und damit literarischer Wirkungsgeschichte. Für die modernen Industriegesellschaften ist vor allem auf die Methoden und Resultate der Massenkommunikationsforschung zurückzugreifen. 44 Bolls rheinische Sozialkritik wird auf dem Hintergrund anderer Traditionsmechanismen rezipiert als diejenige Spees. 45

42 43

^ 45

Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied u. Berlin 1962. Hierzu Näheres in dem in Anm. 28 genannten Artikel von Rabe (s. auch den Titel Eschenburg, wie Anm. 28). Reichhaltige Literaturangaben in: Lesen - Ein Handbuch (wie Anm. 33). Manfred Windfuhr. Die unzulängliche Gesellschaft. Rheinische Sozialkritik von Spee bis Boll. Stuttgart 1971.

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Methodenreflexion

Das historische Material mag sehr unterschiedlich erschließbar und auswertbar sein, eine prinzipielle zeitliche Grenze für die Frage nach der Traditionalität von Literatur läßt sich nicht benennen. Selbst das Homerische Epos, das so lange als Inbegriff von Ursprünglichkeit und Simplizität hat gelten müssen, ist von der historischen Forschung als spätes Resultat einer bereits langen Tradition des Produzierens wie des Rezipierens erkannt worden. 46 Bei der Abgrenzung literarischer Tradition innerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Tradition und bei der notwendigen Differenzierung der in der Literaturwissenschaft verwendeten Traditionsbegriffe stehen in vorderster Linie natürlich die Inhalte. Solche Inhalte sind zunächst Normen und Werte (nicht notwendigerweise auch Regeln) der Produktion, der Rezeption und der Beurteilung von Texten; hierher gehören als komplexe Ausprägungen ζ. B. auch Lesetraditionen. 47 Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst ist wohl der letzte bedeutende Repräsentant einer geschichtlichen Möglichkeit traditionaler Regulation, in der alle drei Hauptaspekte noch unter dem gemeinsamen Dach der Regel- bzw. Anweisungspoetik vereinigt sind. Notwendiges Korrelat aller Regelpoetik, aber nicht ausschließlich an sie gebunden, ist ein bestimmter Fundus an Texten, Werken, unter denen die 'Muster' als Inkarnationen von Normen herausragen. Im Fall Gottscheds werden sie von der Critischen Dichtkunst immer wieder genannt und zitiert, hinzu kommen die verschiedenen Textsammlungen - vor allem von Dramen — und nicht zuletzt das eigene, 'mit Kleister und Schere' verfertigte dramatische Musterstück Der sterbende Cato,48 Es gibt keine literarische Tradition, die nicht über solche Markierungspunkte verfügte, und wo die Regelpoetik nicht mehr gilt, übernehmen die sogenannten 'Publikumslieblinge' und 'Bestseller' die orientierende Funktion (wobei deren Etablierung wieder besonderen Gesetzen folgt). Man braucht kaum eigens zu erläutern, von welcher Bedeutung es für die Wirkungsgeschichte eines Textes ist, ob er etwa einmal zum 'Muster' einer literarischen Tradition avanciert ist oder nicht. Und doch wird die überproportionale Eigenkraft solcher traditions- und autoritätsgestützten Musterhaftigkeit von mancher wirkungsgeschichtlichen Darstellung noch unterschätzt. Für die konkrete Weise der Texttradierung selbst bietet sich ein breites Spektrum an Möglichkeiten, vom verbindlichen Lektürekanon mit ausgesprochenem Mustercharakter bis zum rein mechanischen ÜberlieferungsbegrifF, der al-

Neben der Textanalyse spielten hierbei freilich auch die 'traditionalen' Resultate der vergleichenden Heldenepen-Forschung eine wichtige Rolle. Dazu jetzt vor allem die Monographie von Engelsing (wie Anm. 33). Die Genesis des Stücks ist insofern wichtig, als sich hier bereits die Basis einer langen und komplexen Tradition zeigt.

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Wirkungsgeschichte und Tradition les umfaßt, was irgendwo in den Magazinen der Bibliotheken jeweils zugänglich ist. Eine präzise Grenzziehung erscheint hier kaum möglich, so wünschenswert sie an sich wäre. Im Zweifelsfall sollte man bei der Verwendung des Traditionsbegriffs vielleicht häufiger erkennen lassen, an welche Bezugsgruppe gedacht wird. Natürlicher sozialer Ort einer kanonischen Texttradition ist das Bildungswesen, sei es privater oder öffentlicher, kirchlicher oder weltlicher Art. Auch in Schulen und anderen Bildungsinstitutionen, in denen längst keine Regelpoetik mehr gelehrt wird, repräsentiert doch der Lektürekanon, niedergelegt in Lehrplänen und Leselisten, zumeist eine ganz bestimmte Normtradition, ohne sie explizit zu formulieren. Die Lesebuchdiskussion der letzten Jahre ist im Kern eine Normdiskussion gewesen. Außerhalb des Bildungswesens im engeren Sinne sind Institutionen wie Reichsschrifttumskammer und Index librorum prohibitorum wesentlich an der Fixierung und Durchsetzung von Texttraditionen beteiligt. Wo ein bestimmtes Normsystem auf Dauer etabliert, zu einer neuen Tradition gemacht werden soll, gehört die Benennung vorbildhafter Texte zu den ersten Maßnahmen; man denke an die Propagierung von Gorkis Die Mutter als einem Muster für sozialistischen Realismus.49 Von der reinen Texttradition ist oft nur schwer zu scheiden, was in der wirkungsgeschichtlichen Typologie gelegentlich als „Geschichte des Ruhms" eines Autors bezeichnet wird.50 Man könnte hier, mit einem ebenso unpräzisen Begriff, auch von Autortradition sprechen. Wer mit einem oder gar mehreren Texten im Lektürekanon vertreten ist, ob Sophokles, Cicero oder Horaz, ob Walther von der Vogelweide, Lessing, Goethe, Büchner oder Brecht, wird fast stets auch als biographische Person Eingang in die Tradition finden, meist sogleich in der Weise eines bestimmten, stilisierten 'Bildes', das dann wiederum auf die Textrezeption zurückwirkt.51 Goethes Biographie beispielsweise hat lange Zeit zum eisernen Bestand der Tradition des Deutschunterrichts gehört.52 Die wirkungsgeschichtlichen Arbeiten aus dem George-Kreis, die ja zu den wichtigen Frühformen dieses Forschungszweiges gehören, sind wesentlich durch diese Perspektive bestimmt. Wie die Relationen von personaler und textualer Tradition - insbesondere bei auftretenden Verschiebungen — im Zusammenhang sozialer Traditionsbildung zu sehen sind, bedürfte einer gesonderten Untersuchung.

50 51 52

Zum Prozeß der Traditionsfixierung: Helga Gallas: Marxistische Literaturtheorie. Neuwied u. Berlin 1971, S. 1 5 7 - 1 6 3 . ZurTypologie Mandelkow (wie Anm. 3), S. 71. Wilhelm Emil M ü h l m a n n : Bestand und Revolution in der Literatur. Stuttgart 1973, S. 55. Frank (wie Anm. 22), S. 253 u. ö.

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Methodenreflexion

Ein vierter Bereich literarischer Traditionsinhalte hat innerhalb der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte folgenschwere Verwirrungen hervorgerufen. Man könnte ihn vorläufig als die Tradition von Textelementen bezeichnen, worunter etwa Stoffe, Motive, Topoi, Theoreme, Argumente, auch Formen, Gattungsphänomene und dergleichen zu rechnen wären. Die sogenannte Traditionenforschung, wie sie vor allem von Aby Warburg und Ernst Robert Curtius initiiert worden ist — mit der Toposforschung als einem besonders signifikanten Teilbereich53 - , hat für die konkrete Texterklärung und für die Aufdeckung europäischer Zusammenhänge unbestreitbar Bedeutendes geleistet.54 Curtius verfaßte sein Standardwerk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter noch, wie er sagte, „aus Sorge für die Bewahrung der westlichen Kultur", als „Versuch, die Einheit dieser Tradition in Raum und Zeit mit neuen Methoden zu beleuchten."" Die Gefahr dieses Ansatzes, zumal sobald weniger kenntnisreiche und souveräne Geister sich an die Arbeit machten, bestand in einer geistlosen Mechanik des Sammeins und Kombinierens, in der Vernachlässigung des geschichtlich Besonderen und in der immer stärkeren Atomisierung zu Teiltraditionen. Manches kleine Motiv, das sich ein paarmal in der Diachronie nachweisen ließ, erhielt sogleich den Rang einer eigenen 'Tradition', und so liefen allmählich zahllose 'Traditionen unterschiedlichster Wertigkeit, meist jeweils einsträngig untersucht, mehr oder weniger beziehungslos nebeneinander her oder kreuzten sich auch. 56 Wichtiges stand gleichberechtigt neben Unwichtigem, und wie solche 'Traditionen' etwa mit der Wirkungsgeschichte einzelner Werke zusammenhingen - an die sie doch weithin gebunden waren —, wurde oft überhaupt nicht erkennbar. Das Ergebnis war bei vielen eine erneute Kompromittierung des Traditionsbegriffs schlechthin, die Wirkungen reichen bis in die Gegenwart. Andere versuchten das Chaos der vielen Traditionen zu bändigen und sprachen gelegentlich nur im Singular von 'Tradition' - wo man sonst vermutlich eher von 'Vergangenheit', 'Geschichte' oder auch spezieller von 'Einflüssen' gesprochen hätte. Zu Tradition wurde prinzipiell alles, was ein Autor vorfand oder was auf ihn

Einen Überblick gibt Walter Veit: Toposforschung. Ein Forschungsbericht, in: D V j s 3 7 (1963), S. 1 2 0 - 1 6 3 . Vgl. auch den Band: Toposforschung. Eine Dokumentation. Hrsg. v. Peter Jehn. Frankfurt a. M . 1972 (dort S. V I I - L X I V eine — freilich weit überzogene — polemische Generalabrechnung Jehns mit dem 'restaurativen' Toposforscher Curtius). Grundsätzliches dazu bei Hans-Jürgen Schings: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Köln u. Graz 1966, S. 1—21. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern u. München 3 1 9 6 1 , S. 9. Die Konsequenz, daß sowohl für den Autor wie für den Interpreten alle Traditionen zu 'Material' werden, zieht dann Wolfgang Babilas: Tradition und Interpretation. München 1961.

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Wirkungsgeschichte und Tradition

einwirkte: Literarisches, Weltanschauliches, Soziales, auch Freunde, Zeitgenossen, aktuelle Moden. So entstanden Buchtitel wie Bertolt Brecht und die Tradition'7 oder Thomas Mann und die Tradition,58 Ob man nun mit Hunderten von Traditionen rechnet oder nur mit einer einzigen, allumfassenden: Immer weniger bleibt die Kardinalfrage im Bewußtsein, wer denn wem was überliefert. Diese Aspekte sollten aber grundsätzlich in jeder wirkungs- oder traditionsgeschichtlichen Untersuchung ins Auge gefaßt werden, auch wenn nicht in jedem Einzelfall eine präzise Antwort darauf möglich ist. Damit ist im Zusammenhang von Wirkungsgeschichte und Tradition ein letzter wichtiger Problemkomplex angesprochen, der einerseits den synchronischen Geltungsbereich von Tradition, andererseits das diachronische Phänomen des Traditionenwandels betrifft. Der Geltungsbereich einer literarischen Tradition erstreckt sich zunächst, wie bei gesellschaftlicher Tradition überhaupt, so weit wie die Autorität bzw. die Institution - notfalls mit Hilfe von Sanktionen sich durchzusetzen vermag. Wenn etwa ein Schüler des 17. Jahrhunderts sich durch Ciceros Redestil gelangweilt fühlt oder ein Schüler des 19. Jahrhunderts mit Lessings Minna von Barnhelm, die auf dem Lehrplan steht, nichts anfangen kann, so gehören die Reaktionen beider zur Wirkungsgeschichte Ciceros bzw. Lessings, und zwar dank der Schultradition und der sozialen Autorität, die dahintersteht. Von Petrarcas Cicero-Rezeption oder Thomas Manns Lessing-Rezeption mögen beide um Welten getrennt sein. Aber es sind Rezeptionen (im übrigen gibt es abwertende Äußerungen über Cicero und Lessing nicht nur von Schülern), und mit Recht hat Jauß kürzlich wieder daraufhingewiesen, wie fatal gerade der Schulunterricht die Wirkungsgeschichte von Goethes Iphigenie beeinflußt habe.59 Erst durch historische Rekonstruktion der Traditionslage, im Vergleich mit Racine, wird das Originelle, seinerzeit Neuartige der Goetheschen Schöpfung wieder erkennbar. Außerhalb des Bildungsbereichs mit seinen Zensuren und Zertifikaten mögen die Mechanismen der äußeren Traditionssicherung nicht so offen zutage liegen. Doch denkt man etwa an die Namen und Bücher, die ein Gebildeter kennen muß, um im literarischen, nicht zuletzt im geselligen Leben zu bestehen, so kann jeder aus eigener Erfahrung Sanktionsmechanismen nennen, wie sie Levin L. Schücking in seiner Soziologie der literarischen Geschmacksbildung beschrieben hat.60 Wenn hier traditionales historisches Wissen im herkömmli57 58 59 60

Hans Mayer: Bertolt Brecht und die Tradition. Pfullingen 1961. Thomas M a n n und die Tradition. Hrsg. v. Peter Pütz. Frankfurt a. M . 1971. Jauß: Partialität (wie A n m . 11), S. lf. Levin L. Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung [zuerst 1923]. Bern u. München 3 1 9 6 1 .

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Methodenreflexion

chen Sinne auch rückläufig sein mag, bedeutet dies im wesentlichen nur eine Verschiebung der Inhalte. Denn längst haben sich neue, aktueller erscheinende Normen- und Texttraditionen gebildet, deren Geltungsbereich sich bestimmen läßt. Kaum ein Theaterkritiker beispielsweise, der nicht ein neues Stück von Peter Hacks, Heiner Müller oder Peter Weiss an Brecht mißt: eine neue Urteilstradition auf dem Hintergrund einer neuen Texttradition. Und schon beginnt sie auch zu einem Bestandteil der Schultradition zu werden. Die Sicherung von Tradition durch Machtstrukturen mag nicht die einzige, um nicht zu sagen: wünschenswerte Weise der Geltungssicherung sein. Gadamer hat im Sinne seiner „Rehabilitierung von Autorität und Tradition" gemeint, wahre Autorität habe überhaupt nichts mit Gehorsam, sondern mit Erkenntnis zu tun. 61 Das mag als Idealbild durchaus anerkennenswert sein, abstrahiert aber in bedenklicher Weise von der historischen und insbesondere der gesellschaftlichen Realität. Natürlich beruht die Wirkungsgeschichte des Sophokles nicht ausschließlich auf machtgeschützter Tradition, aber ohne die kulturpolitischen Neigungen der Ptolemäer hätten die uns erhaltenen Texte des Sophokles und viele andere griechische Werke die Antike vielleicht nie überdauert. Und ohne das humanistische Gymnasium hätten wohl nur wenige (oder genauer: noch viel weniger) Leser je von ihnen Kenntnis genommen. Ahnlich steht es - um einen ganz anderen Bereich zu wählen - mit Wirkungsgeschichte und Tradition vieler Kirchenlieder, die im Schutz kirchlicher Macht und Institutionen überdauert haben (darunter manche, deren Textqualität den institutionellen Schutz in der Tat sehr nötig hat). Andererseits sollte auch das oben angeführte Beispiel der Spätwerke Heinrich Manns zu denken geben: Hier fehlte nicht zuletzt eine entsprechend interessierte tradierende Autorität oder gar Institution. 62 Bei dieser Frage nach dem Geltungsbereich und der Geltungsstärke von Tradition geht es gar nicht um ein Ausspielen von literarischem 'Selbstwert' gegen machtgeschützte Autorität, sondern um Kenntnisnahme und Berücksichtigung beider geschichtlicher Größen. Nicht jede Gesellschaft, Schicht oder Gruppe besitzt überdies eine völlig homogene und für alle gültige literarische Tradition. Gerade das Nebeneinander und das Sichablösen von Traditionen, sei es zwischen verschiedenen sozialen Schichten, sei es innerhalb derselben Schicht, ist für bestimmte historische Gesellschaftsformationen charakteristisch. Man denke etwa an die literarischen Einzeltraditionen der Stände im Spätmittelalter,

61

G a d a m e r (wie A n m . 4 ) , S. 2 6 1 und S. 2 6 4 . Bei der an sich naheliegenden Akademie der Wissenschaften in Berlin dürfte das Interesse aus

62

politischen Gründen gehemmt gewesen sein.

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Wirkungsgeschichte

und Tradition

und dabei auch an die fruchtbaren Querverbindungen und wechselseitigen Einflüsse. Im 17. Jahrhundert ist die Tradition der Mystik zunächst auf nur wenige Zirkel beschränkt, die bezeichnenderweise sowohl Ungelehrte wie Jakob Böhme als auch Adlige wie Daniel von Czepko umfassen. An den Gedichten von Quirinus Kuhlmann und Angelus Silesius ist nicht zuletzt die Tatsache reizvoll, daß sich hier gelehrt-humanistische und mystische Traditionen überschneiden.63 Dieses Beispiel vermag zugleich die verschiedenen Geltungsbereiche synchroner Tradition, positiv eingrenzend wie negativ ausgrenzend, zu illustrieren. Im Verhältnis zur institutionell dominierenden gelehrt-humanistischen Tradition hat die mystische Tradition lediglich den Rang einer Nebentradition, sie hat beispielsweise in den gelehrten Schulen prinzipiell nichts zu suchen. Die Existenz solcher Nebentraditionen, die aus der Position der sozial abgesicherten Haupttradition oft stigmatisiert und negativ sanktioniert werden, ist im übrigen charakteristisch für viele Gesellschaften. Fast läßt sich als Gesetzmäßigkeit formulieren, daß Nebentraditionen um so eher entstehen, ja gefördert werden, je rigider die Haupttraditionen sind. Vor allem Orthodoxien (jüdische, katholische, protestantische) provozieren fast regelmäßig Reaktionen in Form mystischer, pietistischer und ähnlicher Strömungen, die dann ihrerseits wieder zur Traditionsbildung tendieren. Ahnliches zeigt sich am Wiener Volkstheater im Verhältnis zur Hofbühne und etwa im Bereich der Auslegung und Anwendung des römischen Rechts, wo sich neben der offiziellen Auslegungstradition eine sogenannte Vulgär-Romanistik mit eigener Tradition herausbildet. Für die Wirkungsgeschichte sind solche Differenzierungen vor allem deshalb wichtig, weil oft Texte unter bestimmten Bedingungen von der einen in eine andere Tradition überwechseln und somit auch in eine neue Phase ihrer Wirkungsgeschichte eintreten (ζ. T. auch 'zweigleisig' tradiert werden). Vom Aufsteigen sogenannter volkstümlicher Texte in den bürgerlichen Rezeptionsbereich war bereits die Rede. Wieweit in solchen Fällen noch eine Identität der Texte gewahrt wird - und Wirkungsgeschichte setzt ja eine bestimmte Konstanz des Bezugspunkts voraus - , ist nicht generell zu beantworten. Die Bearbeitung von Shakespeare-Stücken für die Wanderbühne, die Teiltradierung dort und die Rezeption der übersetzten Originale im Deutschland des 18. Jahrhunderts mögen ein Grenzfall sein; aber selbst Friedrich Gundolf kann nicht umhin, in Shakespeare und der deutsche Geist auch die Wanderbühnenphase als einen Teil der Wirkungsgeschichte darzustellen.64

63

Hierzu aufschlußreich Elisabeth Meier-Lefhalm: D a s Verhältnis von mystischer Innerlichkeit und rhetorischer Darstellung bei Angelus Silesius. Diss. Heidelberg 1958. Friedrich Gundolf: Shakespeare und der deutsche Geist. Berlin 5 1 9 2 0 , S. 1 - 5 6 .

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Methodenreflexion Mit dem Überwechseln eines Textes von einer Tradition in eine andere, und sei es nur temporär, ist bereits eine geschichtliche Grundmöglichkeit literarischen Traditionswandels bezeichnet. Tradition ist Struktur in der Diachronie. Der Wandel literarischer Traditionen, ob als Modifikation oder als Ablösung, vollzieht sich prinzipiell nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten wie kultureller Strukturwandel überhaupt: durch Schwächung der Autorität der Traditionsträger, durch Generationenkonflikte, durch soziale Umschichtungen, durch Machteinwirkung von außen, durch Kontakte mit Traditionen anderer Gruppen und Kulturen (sogenannte 'Übertragung'), nicht zuletzt durch die kreative Tat des großen Einzelnen. Die Feststellung, daß meist mehrere Faktoren ineinandergreifen, ist trivial. Beim Traditionswandel, der etwa mit dem Sturm und Drang heraufgeführt wird, spielen sowohl soziale Umwälzungen als auch Generationenprobleme als auch beispielsweise der Einfluß englischer Überlieferungen eine wichtige Rolle. Ahnlich steht es mit dem Jungen Deutschland, den Naturalisten oder ζ. B. mit der Gruppe 47. Ob das jeweils Neue sich behauptet und eventuell zu einer eigenen, wiederum traditionsgestützten Wirkungsgeschichte aufsteigt oder bald wieder versinkt, hängt einerseits von der kreativen Fähigkeit der Neuerer in der Setzung neuer Muster ab, andererseits von der sozialen Stärke ihrer Träger (d. h. vor allem der potentiellen Rezipienten, aber auch etwa der Mäzene und politischen Interessenten: Sie können fördern oder hemmen). Daß auch der entschiedenste literarische Revolutionär, der sich in einem Kahlschlag oder auch an einem Nullpunkt glaubt (Gottfried Benn 1916: „Nun ist dies Erbe zuende [...]"), ohne die Basis vorgefundener Traditionen nicht arbeiten kann - und sei es durch deren Negation - , ist oft gesagt worden. Entscheidend ist, nach der Formulierung von Ernst Bloch und Hanns Eisler, „das W i e der Erbmethode". 65 Einer der genialsten Integratoren mit taktischem Geschick war, wie Hans Mayer gezeigt hat, 66 Bertolt Brecht. Man möchte die These wagen, daß sich gerade dies auch in seiner Wirkungsgeschichte niedergeschlagen hat: Unter den vielen sowohl bürgerlichen wie volkstümlichen, sowohl antiken wie christlichen Traditionselementen befindet sich immer etwas (oder gleich mehreres), woran auch der bürgerlichste Leser oder Theaterbesucher noch anknüpfen kann. Auch wenn das allein als Begründung für die Kulinarisierung und Entpolitisierung Brechts natürlich nicht ausreicht, ist es doch ein Hinweis auf die überindividuelle Macht von Traditionen im Rahmen der Wirkungsgeschichte. 65

66

Marxismus und Literatur. Eine Dokumentation in drei Bänden. Hrsg. v. Fritz J. Raddatz. Bd. II. Reinbek b. Hamburg 1969, S. 106. Siehe Anm. 57.

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Wirkungsgeschichte und Tradition Wenn hier der Traditionsaspekt sowohl die Produktionsseite wie die Wirkungsseite betrifft, so ist dies kein Sonderfall. Ein Werk, das durch nichts anderes gekennzeichnet ist als durch die Erfüllung einer vorgefundenen Tradition, ist kaum denkbar — oder es ist eben langweilig.67 Tradition läßt immer Spielraum, wenn auch mit unterschiedlicher Strenge. Auf der Basis tradierter klassizistischer Rhetoriktheorie konnte sich im 17. Jahrhundert durchaus manieristische Praxis bilden. Daß dies nicht in allen Fällen ohne negative Sanktionen abging, wurde schon erwähnt. Auch in produktionsästhetischer Hinsicht gibt es eine gleitende Skala des Verhaltens zur Tradition. Denn wieder stellt sich das Problem der Verbindlichkeit. Wie Mythenrezeption, nach Hans Blumenbergs Definition, sich zwischen den Extremen „Terror" und „Spiel" erstreckt,68 so kann auch jede literarische Tradition, wenn sie ihren originären sozialen Träger überlebt, durch bewußte Setzung neue Autorität erhalten oder auch zum 'Spiel' werden. Freilich ist auch im Bereich der Traditionen nicht alles zu allen Zeiten möglich. Thomas Mann hätte sein Spiel mit den Romantraditionen (höfischer Roman, Schelmenroman, Bildungsroman usw.) nie als Angehöriger eines erst aufsteigenden Bürgertums treiben können. Aber zum Produktionsaspekt kommt nun der Aspekt der Wirkungsgeschichte. Geht das spezifische Verhältnis des Doktor Faustus zur Tradition des deutschen Bildungsromans69 als ästhetische Qualität auch in die Wirkungsgeschichte ein? Oder um ein noch problematischeres Beispiel zu wählen: Muß man zum vollen Verständnis nicht nur des Felix Krull, sondern auch der Blechtrommel mit der Tradition des Schelmenromans70 vertraut sein? In den zahlreichen Arbeiten, die sich insbesondere mit Gattungstraditionen befassen, werden wirkungs- bzw. rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen dieser Art oft noch zu wenig oder überhaupt nicht berücksichtigt. Fast stets handelt es sich hier ja um längere Traditions-'Ketten', die nach rückwärts etwa bis zum ersten 'Muster' und nach vorwärts nicht selten bis in die unmittelbare Gegenwart des Lesers

Die starre Einlösung vorgestanzter Erzählschemata gilt vielen als ein Hauptmerkmal sogenannter Trivialliteratur. Hans Blumenberg: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. v. Manfred Fuhrmann (Poetik und Hermeneutik IV). München 1971, S. 1 1 - 6 6 . Jürgen Scharfschwerdt: T h o m a s M a n n und der deutsche Bildungsroman. Eine Untersuchung zu den Problemen einer literarischen Tradition. Stuttgart 1971. Z u m Problem von Tradition und Neuschöpfung vgl. generell den Kongreßband: Tradition und Ursprünglichkeit. Akten des III. Internationalen Germanistenkongresses 1965 in Amsterdam. Hrsg. v. Werner Kohlschmidt u. Herman Meyer. Bern u. München 1966. Unter den vielen neueren Darstellungen sei hier genannt: Wilfried van der Will: Pikaro heute. Metamorphosen des Schelms bei T h o m a s Mann, Döblin, Brecht, Grass. Stuttgart 1967 (bes. S. 1 1 - 1 4 über die „pikarische Erzähltradition").

271

Methodenreflexion

reichen. Wer mit einem historisch orientierten Erwartungshorizont den Grünen Heinrich liest, wird in diesen Horizont möglicherweise sowohl den Wilhelm Meister als auch den Doktor Faustus einbeziehen. Und mancher wird vielleicht durch die Blechtrommel angeregt, sich einmal näher mit der Tradition des Schelmenromans zu befassen. In allen diesen Fällen vermag erst die Einzelinterpretation zu ermitteln, wie weit der Text etwa an bestimmte Traditionen gebunden bleibt und wie weit er seinerseits eventuell zu einem Traditionswandel beiträgt. Die Grundsatzdiskussion um das 'richtige' Verhältnis zur vorgefundenen literarischen Tradition ist neuerdings im Bereich der marxistischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft wohl am intensivsten geführt worden. Die sogenannte Expressionismusdebatte war in weiten Teilen eine Traditionsdebatte, wobei zunächst noch der Begriff des 'Erbes' mit seinem stärker verpflichtenden Nebenton im Zentrum stand. 71 Zwar ging es strenggenommen nur um die Frage, welches Erbe anzutreten sei (ob die 'Errungenschaften' des Expressionismus im Vergleich zu den Realisten des 19. Jahrhunderts ein legitimes Erbe seien), aber nicht selten verschob sich die Diskussion auf eine recht formale Ebene, bis hin zu einer allgemeinen „Kunst zu erben". 72 Schon Engels und Lenin hatten mehrfach daraufhingewiesen, daß der Marxismus eine Reihe wichtiger bürgerlicher Traditionselemente übernommen habe, und zwar die „wertvollen", „fortschrittlichen". 73 Dieses Konzept ist, in deutlicher Anknüpfung an die Expressionismusdebatte, vor allem von Weimann und seinen Schülern weiterentwickelt worden. Dabei wird der zunächst dominierende Begriff des 'Erbes', der von traditionalistischen oder auch reaktionären Entstellungen ebenfalls nicht verschont worden war,74 zunehmend wieder durch den Begriff der 'Tradition ersetzt. Um so entschiedener stellt sich die Aufgabe einer Kritik „des bürgerlichen Traditionsbegriffs".75 Dieser Singular wird, aus offenkundig taktischen Gründen der Profilierung, mit Vorliebe gewählt, obwohl es - wie sich gezeigt hat — gerade in den 'bürgerlichen' Traditionsvorstellungen fast mehr Divergenzen als Gemeinsamkeiten gibt. Die Kritik verteilt sich denn auch auf Konservatismus, Elitarismus, Formalismus und Strukturalismus. Sie bilden den kontrastiven Hintergrund für den eigentlichen, dialektischen, produktiven, sozialistischen Traditionsbegriff

71

72 73 74 75

Hier begegnet sich der Sprachgebrauch ζ. B. mit bürgerlich-humanistischen Intentionen, vgl. etwa die Reihe Das Erbe der Alten. Marxismus und Literatur. Bd. II (wie Anm. 65), S. 105-109. Wörtliche Bezugnahme ζ. B. ebd., S. 83f. Ebd., S. 105. So schon im Untertitel von: Tradition in der Literaturgeschichte (wie Anm. 6).

272

Wirkungsgeschichte und Tradition

Mag für Weimann und seine Schüler das begriffliche Moment der Auseinandersetzung auch einen hohen Rang einnehmen, im Kern geht es um das Problem eines Traditionswandels, der die kulturpolitische Szene der D D R in den letzten Jahren bestimmt. Nimmt man vor allem die verschiedenen literaturgeschichtlichen Darstellungen und Handbücher hinzu, 76 so zeigt sich dieser Wandel nicht nur bei den Normen der Textbewertung, sondern auch bei der konkreten Textauswahl. Mit der Hervorkehrung der volksverbundenen, dann vor allem der proletarischen Tendenzen in der Geschichte der deutschen Literatur wird Tradition gewissermaßen neu gesetzt, wird Wirkungsgeschichte neu angestoßen. Ein repräsentativer Dokumentenband trägt bezeichnenderweise den Titel Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland.77 Einzelne Texte und Autoren - man denke etwa an Georg Weerth - treten somit zugleich in eine neue Phase ihrer Wirkungsgeschichte. Man könnte den Vorgang auch in der Weise begreifen, daß hier eine bisher als Nebentradition diskreditierte oder auch ignorierte Linie (Weimann nennt sie „die plebejische Traditionslinie") 78 in die Haupttradition hineingenommen wird, und zwar ohne daß die überkommenen Relationen schlichtweg umgekehrt würden. Dieser Vorgang ist sowohl unter dem Gesichtspunkt des Traditionswandels als auch des Verhältnisses von Tradition und Wirkungsgeschichte bedeutungsvoll. Zwar treten etwa die Literatur des Mittelalters oder die der Romantik aus leicht eruierbaren Gründen stärker zurück, aber die bürgerlichen 'Klassiker' wie Lessing, Schiller, Goethe werden gemäß dem skizzierten Traditionskonzept nicht ausgestoßen, sondern gerade neu bestätigt, als Vorkämpfer für die bürgerliche Emanzipation. Auch für diese Autoren, die es nicht erst auszugraben gilt, beginnt wenigstens im sozialistischen Bereich - durch neue Traditionsbestimmung eine neue Phase ihrer Wirkungsgeschichte. In dieser integrativen, mitunter auch deutlich legitimistischen Tendenz unterscheidet sich das hier angesprochene sozialistische Konzept etwa von dem oft untersuchten und diskutierten Beispiel der frühen humanistischen Rückwendung zur antiken Tradition. 79 Zwar etabliert sich in beiden Fällen ein neues Bewußtsein durch normative Infragestellung des als gültig Vorgefundenen und

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78 79

Außer der großen, mehrbändigen Literaturgeschichte etwa die Deutsche Literaturgeschichte in einem Band (Hrsg. v. Hans Jürgen Geerdts. Berlin [-Ost] 1971) und die Reihe Erläuterungen zur deutschen Literatur. Zur Tradition der sozialistischen Literatur in Deutschland. Eine Auswahl von Dokumenten. Berlin u. Weimar 2 1967. Literaturgeschichte und Mythologie (wie Anm. 6), S. 209. Horst Rüdiger: Die Wiederentdeckung der antiken Literatur im Zeitalter der Renaissance, in: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Bd. 1. Zürich 1961, S. 511-580.

273

Methodenreflexion

durch Neubewertung von Tradition. Aber jenes humanistische bewußte Überspringen ganzer Epochen unter Verzicht auf Kontinuität hat im sozialistischen Traditionsverhältnis kaum eine Entsprechung. Der Rekurs auf Marx und der Rekurs auf Piaton im florentinischen Piatonismus des 15. Jahrhunderts lassen sich formal vielleicht noch vergleichen. Die humanistische Wiederentdeckung eines Homer, Cicero oder Tacitus und der entsprechende Neueinsatz ihrer Wirkungsgeschichte sind im sozialistischen Traditionsbereich ohne Parallele. Der Begriff der 'Renaissancen', mit dem man seit Jules Michelet solche wirkungsgeschichtlichen und traditionsbildenden Prozesse gern bezeichnet hat, führt zugleich auf ein letztes Zentralproblem. Die organizistische Vorstellung der 'Wiedergeburt' ist zumindest geeignet, eine Art Selbsttätigkeit oder auch weltgeistige Notwendigkeit des jeweiligen historischen Vorgangs zu suggerieren. Auch der Begriff der 'Wirkungsgeschichte' kann zumindest in dieser Richtung verstanden werden (und ist von nicht wenigen so verstanden worden). Wie steht es mit Tradition? Ist sie 'geworden' oder 'gemacht'? Die Frage ist so naheliegend wie in dieser Form unbeantwortbar. Der Traditionsbegriff der älteren Volkskunde und weithin auch des politischen Konservatismus tendierte eindeutig zur 'Gewordenheit', 'Gewachsenheit', 'Naturwüchsigkeit' der Uberlieferungen. In dieser Hinsicht müßten manche der hier angeführten Beispiele Zweifel geweckt haben. Auch wenn in vielen Fällen das verfügbare Material keine differenzierten und präzisen Antworten gestattet: Zensur, Mäzenatentum, Marktmanipulationen, institutionelle Willkür jeder Art erweisen sich immer wieder als wichtige Faktoren der Traditionsbildung. 80 Dem 'Gewordenen' und dem 'Gemachten' von Tradition, wie immer dies auch zu denken sei, ist gemeinsam, daß es auf Selektion beruht. Gadamer hat mit Recht daraufhingewiesen, daß „Zugehörigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst". 81 Doch ist Tradition nicht nur für den einzelnen Rahmenbedingung seiner Endlichkeit, sondern ebenso für die Gesellschaft. Dadurch, daß im Prozeß der Traditionsbildung aus der verwirrenden Fülle des prinzipiell Zugänglichen und des neu Entstehenden normativ selektiert wird, kann auch gesellschaftliche Kontinuität erst sich bilden. Was man gemeinhin als 'literarisches Leben' einer Gesellschaft bezeichnet, ist ja unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität nichts anderes als ein fortwährendes Ineinander und Nebeneinander von Selektionsprozessen. 80

81

In dieser Hinsicht sind vor allem die von Schücking entwickelten Thesen und Fragestellungen noch nicht ausgeschöpft. Gadamer (wie Anm. 4), S. 2 4 8 .

274

Wirkungsgeschichte

und Tradition

Um diesen Komplex in seiner zeitlichen Dimension zu differenzieren, hat man gelegentlich von synchronischen 'Konventionen und diachronischen 'Traditionen gesprochen. 82 Wenn man die Funktionsübergänge zwischen beiden Begriffen im Blick behält, kann das Moment der sozialen Verbindlichkeit, das im Wort Konvention enthalten ist, durchaus der Verdeutlichung dienen. Das im Prozeß der literarischen Selektion aus dem Kontinuum der normativen Möglichkeiten und der produzierten Texte Herausgehobene erhält durch Konvention jenes 'Uberschießende', das mit jeder Autorität oder Institution gegeben ist. Es kennzeichnet den Rückkopplungsprozeß des literarischen Bestsellererfolgs (nach dem Prinzip 'nothing succeeds like success') phänomenologisch ebenso wie die überdauernde und sich selbst bestätigende Macht von Lehrplänen und Lektürelisten. Diese Eigentümlichkeit der Selektionen, die zu Traditionen gerinnen, ist von der wirkungsgeschichtlichen Forschung bisher viel zu wenig realisiert worden. Wenn Jauß neuerdings der Unterscheidung von „Tradition und Selektion" und „von gewählter und von gewordener Tradition" stärkere Aufmerksamkeit widmet und das „Fehlen dieser Unterscheidung" als einen Mangel seines „bisherigen theoretischen Konzepts" ansieht, 83 so ist dies eine begrüßenswerte, freilich noch sehr rudimentäre Modifikation. Erst in der historischen Konkretisierung und in der Beschreibung auch der gesellschaftlichen Aspekte der Selektion wird die fundamentale Bedeutung für die Wirkungsgeschichte von Texten erkennbar werden. Den meisten wirkungsgeschichtlichen Untersuchungen liegt immer noch ein, wie Mühlmann es formuliert hat, 84 „sozialdarwinistisches" Konzept zugrunde. Das Wertvollste, Beste setzt sich schon durch. Von den Eigengesetzlichkeiten literarischer Tradition als einer gesellschaftlichen Tradition ist man in der Methodik noch weit entfernt. Phänomene wie „Konselektion des Belanglosen" 85 sind praktisch noch nicht untersucht oder auch nur in der Theorie als Aufgabe für wirkungsgeschichtliche Forschung formuliert. Rezeption von Literatur und damit Wirkungsgeschichte von Literatur ist ohne Tradition nicht denkbar und nicht erforschbar. Kein Leser geht ohne traditionale Vorprägung an einen Text heran. Sie gibt Hintergrund und Orientierung. Aber Tradition trägt auch, wie jede Autorität, jenes überschießende Moment der gesellschaftlichen Selbstsicherung und Stabilisierung in sich, das den

82

83 84 85

Ulrich Weisstein: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Stuttgart u. a. 1968, S. lOlf. Jauß: Partialität (wie A n m . 11), S. 36. Mühlmann: Bestand und Revolution in der Literatur (wie Anm. 51), S. 4 6 . Ebd., S. 66.

275

Methodenreflexion einzelnen in seiner Individualität und Spontaneität begrenzt. „Denn was für Urtheile", heißt es bei Schopenhauer, „würden über Plato und Kant, über H o mer, Shakespeare und Goethe ergehn, wenn jeder nach dem urtheilte, was er wirklich an ihnen hat und genießt, und nicht vielmehr die zwingende Auktorität ihn sagen ließe was sich ziemt, so wenig es ihm auch vom Herzen gehn mag." 8 6 Was sich ziemt, ist immer ein Jeweiliges. Es gibt keine literarische Tradition 'an sich', so wie es keinen Text an sich' gibt - insofern kann Tradition auch nicht, wie Gadamer es fordert, 'rehabilitiert' werden. Aber man kann sich die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit literarischer Traditionen durch historische und empirische Arbeit vergegenwärtigen. U n d man kann sich der Irrwege und Sackgassen bisheriger Traditionsforschung bewußt werden. Vor allem sollten nicht weiterhin politische Vorurteile daran hindern, Tradition als fundamentale Bedingung für Literatur und ihre Wirkungsgeschichte in die Methodologie der Rezeptionsforschung einzubeziehen.

86

Ausgabe Grisebach, Bd. 5, S. 4 8 7 .

276

Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung *

Tradition 1 ist Bedingung der Möglichkeit einer jeden Geschichtsschreibung. Sie bedeutet zugleich eine ihrer größten Gefährdungen. Literaturgeschichtsschreibung als sinnorientierte u n d organisierende Vergegenwärtigung des geschichtlichen Lebens von Literatur scheint anderthalb Jahrhunderte nach ihrer wissenschaftlichen Begründung ein selbstverständlicher, ja unentbehrlicher Bestandteil des literaturwissenschaftlichen, literaturpädagogischen Alltags. Literaturgeschichten figurieren als Buchsorte wie die Lexika, die Autorenmonographien oder die Interpretationssammlungen. K a u m einer, der auf sein Kritikvermögen hält, benutzt sie ohne Vorbehalte, aber er benutzt sie. Literaturgeschichten können Auflagenhöhen erreichen wie weniges sonst, das sich mit Literatur befaßt. Es hat tiefgreifende Krisen der Literaturgeschichtsschreibung 2

gegeben,

prinzipielle Infragestellungen, nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. 3 Gegenwärtig ist eher Konjunktur, von den einen skeptisch als bloße Modeer-

*

1

2

3

Erstpublikation in: Prinzipien der Literaturgeschichtsschreibung. Beiträge vom ersten deutsch-sowjetischen Symposion in Göttingen vom 2 2 . - 2 8 . 6. 81. Hrsg. v. Reinhard Lauer u. Horst Turk. Wiesbaden 1988, S. 2 7 - 4 5 . Zur Weiterentwicklung einiger der hier vorgetragenen Gedanken verweise ich auf meinen Beitrag: Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Poetik und Hermeneutik XII). München 1985, S. 3 - 5 1 . D a es noch immer an einer umfassenden Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung fehlt, vgl. einstweilen die Überblicke von H a n s Mayer: Literaturwissenschaft in Deutschland, in: Fischer Lexikon Literatur. Hrsg. v. Wolf-Hartmut Friedrich u. Waither Killy. Bd. 2/1. Frankfurt a. M . 1965, S. 3 1 7 - 3 3 3 ; zur Literaturgeschichtsschreibung S. 322ff.; Gerhard Plumpe u. Karl Otto Conrady: Probleme der Literaturgeschichtsschreibung, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 2. Hrsg. v. Helmut Brackert u. Jörn Stückrath. Reinbek b. H a m b u r g 1981, S. 3 7 3 - 3 9 2 ; Edgar Marsch: Einführung, in: Über Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg. v. E. M . Darmstadt 1975, S. 1 - 3 2 . Die fundamentalste neuere Kritik ging bekanntlich von den verschiedenen Strukturalismen aus. A u f sie kann in unserem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden. Einzelne anregende Bezugnahmen auf strukturalistische Ansätze enthält der Band: Probleme der Literaturgeschichtsschreibung. Hrsg. v. Wolfgang Haubrichs. Göttingen 1979 (LiLi, Beiheft 10). Anregende Problemreflexionen auch bei Jürgen Söring: Literaturgeschichte und Theorie. Stuttgart usw. 1976.

277

Methodenreflexion scheinung beäugt oder auch verdammt, von anderen begrüßt als Signal für ein Wiedererstarken des historischen Bewußtseins, speziell für eine Rückbesinnung auf die literarische Tradition. In Westdeutschland sind binnen weniger Jahre gleich mehrere literarhistorische Großunternehmungen auf den Weg gebracht worden,4 Geschichten der deutschen Literatur, aber auch komparatistische Darstellungen wie das seit 1972 erscheinende Neue Handbuch der Literaturwissenschaft.'' Ähnliches läßt sich in anderen westlichen Ländern beobachten. In der DDR hat man der repräsentativen Geschichte der deutschen Literatur neue Impulse gegeben, ältere Teile werden überarbeitet, zwischen 1973 und 1976 erschienen allein vier große neue Bände, darunter zu Ehren des IX. Parteitags der

SED die Geschichte

der Literatur der Deutschen

Demokratischen

Republik

(1976). 6

Wie lebhaft das Interesse an Literaturgeschichtsschreibung in der Sowjetunion ist, lassen schon die Beiträge dieses Symposiums erkennen. Literaturgeschichtsschreibung ist im Aufschwung, also ist sie möglich. Man ist versucht, derart zugespitzt zu formulieren angesichts der Defizite an selbstkritischer Besinnung über dieses Geschäft. Die Zielsetzungen, die Konzepte mögen so unterschiedlich sein wie auch immer. In der Bundesrepublik jedenfalls scheint der prinzipielle Zweifel stiller geworden; und nicht nur hier. Wenig ist zu spüren von Bedenklichkeit gegenüber dem bei Lichte besehen ungeheuren Vorhaben: Literaturgeschichte zu schreiben. Hat es nicht etwas von der Hybris einer 'zweiten Schöpfung'? Und wer kann sich anmaßen, auch nur für ein einziges Säkulum aus Hunderten von Autoren und Abertausenden von Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hrsg. v. Horst Albert Glaser (Rowohlt, seit 1980 erscheinend); Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. v. Rolf Grimminger (seit 1980); Geschichte der deutschen Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Wilfried Barner, Manfred Brauneck, Georg Jäger, Günter Oesterle, Frank Trommler, Wilhelm Voßkamp, Conrad Wiedemann u. Kurt Wölfel (Beck/Metzler; ist nicht erschienen). Hinzu kommt eine Reihe weiterer, kürzerer Literaturgeschichten (Athenäum, Fischer, Reclam u. a.), die hier nicht näher verzeichnet werden. Die Ankündigungen der drei erstgenannten Unternehmen analysiert Peter Pütz: Projekte der Literaturgeschichtsschreibung, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 1980/1, S. 10—14; dazu wiederum Gerhard Sauder: Praejudicium praecipitationis oder: Die Kunst, über Projekte nach Prospekten zu berichten, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 1980/3, S. 45f. Vgl. auch Georg Ramsegger: Die großen Projekte: Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 500 Jahre deutsche Literatur auf 8000 Seiten, in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel 32 (15. 4. 1980), S. 918f.; Walter Hinck: In jedem Buch steckt ein weiteres Buch. Zu den neuen Sozialgeschichten der Literatur bei Athenäum, S. Fischer, Hanser und Rowohlt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2 1 . 2 . 1981 (Nr. 44). Fast bezeichnend ist, daß eine der 'ferngerückten' Epochen das Neue Handbuch eröffnete: Renaissance und Barock 1. Hrsg. v. August Buck. Frankfurt a. M. 1972 (= Bd. 9, Athenaion). Der Klappentext betont: „Das Werk knüpft an die Tradition (!) des nach dem Ersten Weltkrieg im selben Verlag erschienenen alten Handbuchs der Literaturwissenschaft an". 1979 folgte der wichtige Band 8, der die erste große Periode der 'bürgerlichen' Literatur behandelt (Vom Ausgang des 17. Jahrhunderts bis 1789).

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Tradition als Kategorie der

Literaturgeschichtsschreibung

Werken das Darstellenswerte auszuwählen, in Sinnzusammenhängen zu ordnen, Prozesse zu analysieren und doch das Einzelne als das auch Individuelle erkennbar bleiben zu lassen? Gewiß sind die Probleme der Auswahl, des Allgemeinen und Besonderen, der Sinngebung, insonderheit auch das der Darstellungsaufgabe, seit dem Beginn der modernen Literaturgeschichtsschreibung wieder und wieder diskutiert worden. 7 Goethe konnte, als er im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit seinen wertungsgeschichtlich folgenreichen Uberblick über die Literatur des 18. Jahrhunderts gab,8 sich auf die Legitimität der Autobiographie zurückziehen, auf die Perspektive des schaffenden Genies, das schließlich gezwungen war, angesichts der Ode des Vorgefundenen 'in seinen Busen zu greifen'.9 Wilhelm von Humboldt machte für die umstrittene Aufgabe des Geschichtsschreibers argumentative Anleihen beim „Verfahren des Künstlers" und erklärte apodiktisch, die historische Darstellung sei, „wie die künstlerische, Nachahmung der Natur". 10 Gervinus, am Ende des 'Zeitalters der Poesie', sah seine eigene Leistung darin, daß er „statt einem forschenden Werke der Gelehrsamkeit ein darstellendes Kunstwerk zu entwerfen unternahm". 11 Historiographie, auf'Forschung' gestützt, tritt an die Stelle der Poesie, dienend der 'Politik'. Gegenwärtige Diskussionen, 12 nicht nur in unserem Land, reflektieren auf das Verhältnis von Literaturgeschichte und Sozialgeschichte, auf Literatur als „ein Organon der Geschichte" im Anschluß an Benjamin, auf Epochen und Gattungen als Strukturprinzipien, auf das 'Narrative' von Literaturgeschichtsschreibung. 13 Oft bewegt man sich dabei, als sei man der Mannigfaltigkeit der zu strukturierenden geschichtlichen Erscheinungen sozusagen unmittelbar ansichtig und als schiebe sich nicht ständig präokkupierend dazwischen: die Tradition der Literaturgeschichtsschreibung.

7 8

9 10

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Instruktiv ist hierfür die von Marsch (wie Anm.2) herausgegebene Sammlung. Vgl. Helmut Schanze: Goethe: 'Dichtung und Wahrheit'. 7. Buch. Prinzipien und Probleme einer Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, in: GRM, NF 24 (1974), S. 44-56. Hamburger Ausgabe Bd. 9. S. 282. Werke. Hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Bd. 1. Darmstadt 1960, S. 590. Humboldt steht hier freilich selbst bereits in einer alten, auf die Antike zurückgehenden Tradition, wonach Historiographie (wie die öffentliche Rede usw.) eine literarische Kunstform sei. Einleitung zur Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1835—1842). Zit. nach: Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Gotthard Erler. Berlin (-Ost) 1962, S. 146. Vgl. etwa den Sammelband von Haubrichs (wie Anm. 3) oder, als sehr persönliche Stellungnahme, Friedrich Sengle: Literaturgeschichtsschreibung ohne Schulungsauftrag. Werkstattberichte, Methodenlehre, Kritik. Tübingen 1980. So besonders der Band V von 'Poetik und Hermeneutik': Geschichte - Ereignis und Erzählung. Hrsg. v. Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel. München 1973.

279

Methodenreflexion Wer sich anschickt, Literaturgeschichte zu schreiben, antwortet nicht nur immer schon auf Vorgänger, die er zu kritisieren, zu verbessern, vielleicht überflüssig zu machen wünscht, in der Zielsetzung, in den Deutungslinien, in den Wertungen. Auch der Quantität und der Heterogenität des Darzustellenden steht er nicht — wie mancher Theorieentwurf vorauszusetzen scheint — mit dem 'freien Griff in die Geschichte' gegenüber. Seine eigene Kenntnis, und sei es die eines langen Literaturlebens oder auch die eines Autorenteams, beruht auf Auswahlen, die zunächst andere für ihn vorgenommen haben, die er dann nach und nach erweitert, ergänzt, für sich korrigiert hat. Klassiker, Anerkanntes steht hier neben Zufälligem, auch Belanglosem, 14 neben Geheimtips und privaten Lieblingsautoren. Gemessen an dem, was dem Historiographen prinzipiell in den Magazinen der Bibliotheken zugänglich wäre - auch dies bereits Ergebnis bestimmter geschichtlicher Selektion - bleibt das, was er aus eigener Lektüre kennt, interpretiert, wertet, nur ein verschwindender Teil. In den ausgedehntesten Bereichen ist er faktisch auf Wertung, Auswahl, Vorstrukturierung durch andere angewiesen, gerade als Historiograph. Die Varianten des beliebten Literaturdarwinismus 15 bieten sich zur Beruhigung des historisch-kritischen Gewissens an. Paradoxes Ergebnis: Aus der Kontingenz des Literaturgeschichtsschreibers folgt ein Moment unausweichlicher autoritärer 'Entmündigung' gegenüber der Tradition und zugleich die einzige Chance des 'Kunstwerks' Literaturgeschichtsschreibung. Die Erfahrung des Historiographen mit der Tradition der Literaturgeschichtsschreibung — sie mag im Prozeß seiner eigenen literarischen Sozialisation früh oder auch relativ spät einsetzen - ist eine Erfahrung mit literarischer Tradition überhaupt. Sie ist kategorial vergleichbar und historisch unauflöslich verbunden mit dem Zugang zum Literaturkanon: abgeleitet zwar, sekundär, aber in ihrer je vordefinierenden Bedeutung umso notwendiger ein Gegenstand der hermeneutischen Vorbesinnung. Wie tief bestimmte Merkmale der historiographischen Tradition in das geschichtliche Vorverständnis der mit Literatur Umgehenden eingeschrieben sind, zeigt sich vor allem, wenn der Historiograph von ihnen abweicht, abweichen will (hier kann es sich bei ihm selbst zunächst zeigen als Anreiz und Widerstand). Wer als Geschichtsschreiber der deutschen Literatur auf Epochen-

Zur wenig beachteten, aber wichtigen Erscheinung der „Konselektion des Belanglosen" in der Literaturgeschichte s. Wilhelm Emil M ü h l m a n n : Bestand und Revolution in der Literatur. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1973, S. 6 6 - 6 8 . Hierzu immer noch am scharfsinnigsten Levin L. Schücking: Soziologie der literarischen Geschmacksbildung. Bern u. München 3 1 9 6 1 (zuerst 1923).

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Tradition als Kategorie der

Literaturgeschichtsschreibung

begriffe wie 'staufisches Zeitalter', 'Barock' oder auch 'Naturalismus' gänzlich verzichtete, 16 wer der Weimarer Klassik nur die Hälfte an Darstellungsraum zugestände wie der Aufklärung, wer die Gattung der Novelle des 19. Jahrhunderts oder die der Kurzgeschichte nach 1945 nicht auch als besonderen Komplex behandelte, würde sofort Traditionsdruck zu spüren bekommen, der mehr ist als Konvention. 17 Epochengewichtung, Heraushebung von 'Meisterwerken' und 'Großen, Würdigung historischer Prozesse und einzelner Gattungen besitzen Wertcharakter, der dem von Glaubenstraditionen verwandt ist. 18 Literaturgeschichte als erzählte Geschichte gehört zu den Leitmythen einer Kultur. Sie zu verändern, zu durchbrechen heißt mit Tradition zu kollidieren, darin zu scheitern oder neue Tradition zu begründen. Goethes Darstellung des 18. Jahrhunderts begründete Tradition, so wie Gervinus' politisch motivierte Geschichtsschreibung auf dem Hintergrund der älteren 'historia litteraria' 19 Tradition begründete. Die Tradition der Literaturgeschichtsschreibung im Prozeß des Schreibens selbst sichtbar zu machen, ist eine der vornehmsten Aufgaben des Historiographen. Nicht indem jede Epochenzäsur, jede Wertung, jede Beispielauswahl ängstlich 'hinterfragt' und begründet werden müßte. Aber doch so, daß die großen Deutungslinien, die Verknüpfung der verschiedenen geschichtlichen Bereiche (Sozial- und Institutionengeschichte zumal) als Resultate einer auf Tradition reflektierenden Entscheidung erkennbar werden. Dies gilt für die 'Klassiker' und die herausragenden Perioden zuvörderst, aber ebenso für das neu aus der Vergessenheit oder dem Mißverstehen Emporgeholte. Eine Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts etwa hätte darüber Rechenschaft zu geben, weshalb Klopstock zwar ein erklärter 'Heros' der historiographischen Tradition in Deutschland ist, aber faktisch kaum gelesen wird, in signifikantem Gegensatz zu seinem stilisierten Antipoden Lessing. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Autoren, Werken, selbst Epochen wird somit zum integralen Darstellungs-

Der Verzicht der DDR-Literaturgeschichtsschreibung auf den 'Barock'-Begriff, und die Konsequenzen daraus, sind hier besonders aufschlußreich; vgl. Verf: Einleitung, in: Der literarische Barockbegriff. Hrsg. v. W. B. Darmstadt 1975, S. 1 - 1 3 . Zur gewiß schwierigen Unterscheidung von Tradition und Konvention in der Literaturgeschichte s. Ulrich Weisstein: Einführung in die Vergleichende Literaturwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1968, S. lOlf. Das spezifische 'Gewicht' von Glaubenstraditionen zeigen aus theologischer resp. religionsphilosophischer Sicht u.a. Josef Pieper: Über den Begriff der Tradition. Köln u. Opladen 1958; Walter Kasper: Tradition als Erkenntnisprinzip. Systematische Überlegungen zur theologischen Relevanz der Geschichte, in: Theologische Quartalschrift (Tübingen) 155 (1975), S. 198ff. Hierzu detailliert Sigmund von Lempicki: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Göttingen 2 1 9 6 8 .

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Methodenreflexion

aspekt traditionsreflektierter Literaturgeschichtsschreibung und zugleich zu einem Instrument der permanent notwendigen Traditionskritik.20 Solange wir nationalsprachlich definierte Literaturgeschichten haben - und dies wird gewiß noch auf lange Zeit hinaus der dominierende Typus sein - , hat dem Verhältnis zur nationalen Literaturtradition besondere Aufmerksamkeit zu gelten, und hierbei wiederum der nationalen Historiographie. Für die großen europäischen Literaturen hat die reiche, ζ. T. verwirrende historiographische Tradition am Ende des 19. Jahrhunderts zu so etwas wie klassisch gewordenen 'Summen', Kodifikationen geführt. Ohne die Kodifikatoren De Sanctis in Italien, Menendez y Pelayo in Spanien, Brunetiere (dann Lanson) in Frankreich ist Literaturgeschichtsschreibung dieser Nationalliteraturen bis heute kaum denkbar. Historiographische Tradition bleibt hier unmittelbar lebendig - sie als Tradition vor die Instanz der historischen Kritik zu zitieren, stellt sich als permanente Verpflichtung. Das Rückgrat aller literarischen Historiographie ist der Kanon. Er ist älter als sie, ist ihr als vor-wissenschaftliche Struktur vorgegeben. Auf ihn ist literarische Tradition in ihren Wertsetzungen allererst bezogen, aber er ist nicht identisch mit ihr, sondern repräsentiert im Idealfall ihre Normen. Die 'Querelle des Anciens et des Modernes' ebenso wie in unserem Jahrhundert die marxistische Expressionismus-Debatte waren Normendebatten, zentriert auf große Werke des tradierten Kanons. Kanonbildung hat oft genug in der Geschichte der Literaturen darüber entschieden, was sich faktisch erhalten hat und somit überhaupt Gegenstand von Historiographie werden kann. Die Geschichte der älteren griechischen Poesie ist für uns wesentlich die Geschichte dessen, was die alexandrinische Kanonfixierung des dritten vorchristlichen Jahrhunderts überdauert hat. Ähnlich steht es mit weiten Bereichen der römischen und dann vor allem der mittelalterlichen Literaturen.21 Literaturgeschichtsschreibung findet Erscheinungen des Kanons in der Realität meist als ein kompliziertes Geflecht von Haupt- und Nebentraditionen nicht als bloße Addition vor. Von Suetons De viris illustribus über das 10. Buch von Quintilians Institutio oratoria bis hin zu Morhofs Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie (den vielgenannten 'Vorläufern' der Literaturgeschichtsschreibung)22 wird immer auch charakterisiert, gewertet, gegen anderes

Z u r hier vorausgesetzten Begriffsverwendung s. Verf: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, in: Literaturwissenschaft. Grundkurs 2 (wie A n m . 2), S. l O l f f . Reiches Anschauungsmaterial in: Herbert Hunger u. a.: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Bd. 1. Zürich 1 9 6 1 . Hierzu von Lempicki (wie A n m . 19) sowie die Überblicke von Marsch und Plumpe/Conrady (wie A n m . 2 ) .

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Tradition als Kategorie der

Literaturgeschichtsschreibung

abgegrenzt: ein von den Historiographen selten hinreichend genutztes Hilfsmittel bei der Rekonstruktion etwa von Epochen. Selbst in unseren Tagen, da die Legitimität eines Kanons fundamental in Frage gestellt worden ist, existiert und wirkt er, und sei es durch seine ständige Attackierung. An Schulen und Universitäten verstärkt sich bekanntlich wieder, aus mitunter ganz heterogenen Motiven, die Tendenz zum Festschreiben eines Kanons. Bezeichnend für die Situation sind überdies offenere, nur quasi-institutionelle Versuche wie etwa in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d d i e ZEIT-Bibliothek

der hundert

BücherP

In-

dem Literaturgeschichtsschreibung solche Dokumente der Kanonbildung mit zum Gegenstand der Darstellung erhebt, folgt sie der zwingenden (freilich vernachlässigten Aufgabe), ihre eigene Genesis bewußt zu machen. Literaturgeschichtsschreibung hat sich den je historischen Kanonfixierungen entschiedener zuzuwenden als bisher. Nicht nur weil sie der Reflexion unserer eigenen, heutigen Wertsetzungen den nötigen Impuls verleiht. Häufig ermöglicht erst die Rekonstruktion des Kanons, das seinerzeit Neuartige oder auch die besondere Resonanz eines Werks historisch plausibel zu interpretieren. In der Konzeption des von Jauß vorgeschlagenen „synchronen Schnitts" 24 wäre das jeweilige Sichtbarmachen der Kanonstruktur unabdingbar. Gegenüber der vorwiegend additiven Vorgehensweise der älteren Kanondarstellungen — wie auch der 'historia litteraria — ist das Wesen der modernen Literaturgeschichtsschreibung immer wieder in der Herstellung der sinnhaften Zusammenhänge und im Diagnostizieren und Beschreiben von Entwicklungen gesehen worden. 25 Doch literarische Historiographie ist stets zugleich mehr als dieses wertende und verknüpfende Erschließen der Werke, auch der eines Kanons. Wie politische und soziale Geschichtsschreibung hebt sie zugleich ab auf einzelne Akteure, Gruppen, kollektive Verschiebungen, Epochenphänomene, besondere Ereignisse. Hier gibt es in der Literaturgeschichtsschreibung - oft komplementär zur literarischen Erziehung - Elemente der Tradition, die kaum weniger sozial und institutionell verbindlich sind als der Werkkanon selbst. Goethes Biographie, nicht nur im Hinblick auf seine Dichtungen, gehörte als olympisch 'interessante', ja symbolische Biographie lange zum unbefragten Pensum des Deutschun-

Zum Gesamtkomplex vgl. die Beiträge in dem Sammelband: Reform des Literaturunterrichts. Hrsg. v. Helmut Brackert u. Walter Raitz. Frankfurt a. M. 1974 (darin bes. Helmut Brackert: Literarischer Kanon und Kanon-Revision, S. 134-164). Hier verwendet im Sinne des bekannten Vorschlags von Hans Robert Jauß (zum Begriff s. auch den in Anm. 20 genannten Überblick). So die in Anm. 2 genannten Darstellungen.

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Methodenreflexion terrichts an den deutschen Schulen26 ebenso wie zum eisernen Bestand der Literaturgeschichten. Luther als Reformator der deutschen Sprache, Lessings Kampf gegen die Autorität Gottscheds, die Stürmer und Dränger als junge Generation, die der Klassik den Weg bereitete, dann epochale Reizbegriffe wie 'Barock' oder 'Vormärz', aber auch etwa Gattungsketten wie die des Bildungs- und Entwicklungsromans in der Nachfolge des Agathon und des Wilhelm Meister. Alles dies mit seinen wertenden Vorgaben, historischen Sinnzuweisungen und teleologischen Vorstellungen gehört zur Tradition der Literaturgeschichtsschreibung in Deutschland, ohne selbst Kanon im engsten Sinne eines Werkkanons zu sein. Manches, wie etwa der Barockbegriff, ist jüngere Akquisition. Die Grundlinien, insbesondere die Heraushebung der 'Klassik' als Höhepunkt und 'Überwindung' alles Vorausgehenden, sind Erbe des 19. Jahrhunderts.27 Zu diesem Erbe gehören nach wie vor, nur mühsam korrigierbar und modifizierbar, die nationalen, ja nationalistischen Elemente. Es sind Elemente eines in der Historiographie sich spiegelnden Selbstbildes, das sich gegenüber nationalen Fremdbildern absetzt und deshalb gerade die 'heroischen' Akte heraushebt: Luthers Kampf gegen den Primat Roms zugleich als Behauptung des Deutschtums, Lessings Kritik der hohen Tragödie zugleich als Zurückweisung des französischen Hegemonie-Anspruchs in der Literatur, die 'Deutsche Bewegung' als Manifestation der nationalen Eigenart und Wegbereiterin der nationalen 'Klassik'. In der Tradition jeder nationalen Literaturgeschichtsschreibung sind solche politisch aufgeladenen Leitvorstellungen präsent: Frankreichs 'classicisme' illuminiert durch den Ruhm Ludwigs XIV., französische Aufklärungsliteratur geadelt durch Wegbereitung für die bürgerliche Revolution, Spaniens 'siglo de oro' verknüpft mit dem Glanz des Weltreichs, und Rußlands realistische Literatur des 19. Jahrhunderts aufgehoben durch die Oktoberrevolution. Solche Teleologien bleiben Elemente der nationalen (Literatur-) Geschichtsschreibung als 'Überhang' ihrer Tradition auch lange noch, nachdem die nationalistischen Zuspitzungen abgeschwächt oder abgestoßen sind. Wann wird die Muttersprache, als immer noch mächtiges historiographisches Leitkriterium, es zulassen, auch die lateinische Literatur des 17. und des 18. Jahrhunderts gebührend zu präsentieren? Wann wird eine die realen historischen Leser ernstnehmende Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts die mächtige Präsenz der Romane eines Scott, Flaubert, Balzac oder Tolstoj in Deutschland angemessen

Reiches Material bei Horst Joachim Frank: Geschichte des Deutschunterrichts. Von den Anfängen bis 1945. München 1973. Horst Turk: Das 'Klassische Zeitalter'. Zur geschichtsphilosophischen Begründung der Weimarer Klassik, in: Haubrichs (wie Anm. 3), S. 155—174.

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Tradition als Kategorie der

Literaturgeschichtsschreibung

zur Geltung bringen? In solchen Beispielen verquickt sich, bis zur Untrennbarkeit, die spezifische Tradition der Literaturgeschichtsschreibung mit den Vorgaben der nationalen Literaturtradition überhaupt, jener Tradition, an der auch andere Institutionen des literarischen Lebens — wie Literaturkritik, Lesebuch, Theater und dergleichen - prägend beteiligt sind. Literaturgeschichtsschreibung hat bei diesen Prozessen der nationalen Traditionsbildung und Traditionserhaltung unzweifelhaft eine Leitfunktion. Dem Münchner Germanistentag 1966 mit dem Titel „Nationalismus in Germanistik und Dichtung" hätte sinnvoll ein weiterer folgen können unter dem Titel „Traditionalismus in Germanistik und Dichtung". Die Kompromittiertheit des Begriffs 'Tradition' ist, zumindest in Deutschland, kaum weniger tief und nachhaltig als die von 'Nation'. Die verzögerte und immer wieder unterbrochene Nationwerdung, die extrem spät liegende nationale 'Klassik', zuletzt die mörderische Usurpation des Nationalismus durch den Nationalsozialismus, sind immer wieder als historische Begründungen diskutiert worden. Noch gegenwärtig ist ein unbelastetes Reden über 'Tradition' selbst im Bereich der Wissenschaft kaum möglich. Gesellschaftliche Erfahrungen mit 'Traditionspflege' in Militarismus und volkstümelnder Kulturindustrie, 28 aber auch innerwissenschaftliche Fehlentwicklungen mit einer überbordenden ahistorischen 'Traditionsforschung' erschweren die notwendige Klärung. Ein Satz wie derjenige Adornos: „Tradition ist wesenhaft feudal" 29 bleibt in seiner apodiktischen Einseitigkeit historisch unhaltbar und wird doch aus der Praxis kulturellen Traditionsmißbrauchs verständlich. Auf der anderen Seite scheint Gadamers Versuch einer „Rehabilitierung der Tradition" 3 0 verdienstvoll, aber die einseitige Betonung der „freien Wahl", des „Vernunft"-Charakters von Tradition macht aus einem idealistischen Postulat eine verdeckt generalisierende Aussage über geschichtliche Erscheinungen. Ein Teil der marxistischen Literaturdiskussion hat bekanntlich schon in den 30er Jahren, im Exil, einen Ausweg aus dem Dilemma dadurch gesucht, daß an die Stelle des verhaßten und blockierten Traditionsbegriffs das zunächst bürgerlich konservativ geprägte - literarische „Erbe" mit seinen ver-

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Hermann Bausinger: Kritik der Tradition. Anmerkungen zur Situation der Volkskunde, in: Zeitschr. f. Volkskunde 85 (1969), S. 232ff.; Kontinuität? Geschichtlichkeit und Dauer als volkskundliches Problem. Hrsg. v. Hermann Bausinger u. Wolfgang Brückner. Berlin 1969. Theodor W. Adorno: Über Tradition, in: T.W.A.: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica. Frankfurt a. M. 1967, S. 2 9 - 4 1 ; hier: S. 29. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Tübingen 3 1 9 7 2 , S. 2 6 1 - 2 6 9 („Die Rehabilitierung von Autorität und Tradition").

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Methodenreflexion pflichtenden Konnotationen gesetzt wurde. 31 Neuerdings kehrt man, namentlich in der DDR, wieder zur „Tradition" zurück, 32 freilich nicht ohne entsprechend vehement die sogenannten bürgerlichen Traditionsbegriffe als ideologisch, verschleiernd, traditionalistisch usw. zu kritisieren. Die Begriffsgeschichte von 'Tradition ist nahezu in ihrer vollen Erstrekkung, mit ihren Varianten und Deformationen, auch Gegenwart. Das Schlagwort aus den Epochen von Reformation und Gegenreformation 33 hat seine Verknüpfung mit amtskirchlicher Autorität, mit menschlicher „Satzung" (gegen göttliche Offenbarung), mit Erstarrung oder auch konsequenter Glaubensbewahrung bis heute nicht verloren, insbesondere in Theologie und Kirche. 34 Nur kurze Zeit, in der zweiten Hälfte des traditionskritischen 18. Jahrhunderts, gelang es, daneben einem sozusagen technischen Traditionsbegriff (mündliche Tradition im Vergleich zur schriftlichen, etc.) Geltung zu verschaffen. Dann bemächtigte sich mit vollem Gewicht die politische Restauration des bereitliegenden Schlagworts, und es entstanden, je nach Interessenlage, die 'adlige', die 'preußische' und vor allem die idyllisch gedachte 'volkstümliche' Tradition. Uber diese Positionen des 19. Jahrhunderts ist unsere Epoche kaum hinausgelangt. Und es mag dahingestellt bleiben, ob es je gelingen wird, den Traditionsbegriff zu „neutralisieren", wie es für die besonders anfällige Volkskunde vor Jahren schon Hermann Bausinger mit guten Gründen gefordert hat. 35 Da Literaturgeschichtsschreibung auf die Kategorie 'Tradition ebensowenig verzichten kann wie etwa auf 'Geschichte', 'Entwicklung' oder auch 'Gattung', sind zumindest ein paar nachträgliche Präzisierungen vonnöten. 'Tradition' sollte um der Eindeutigkeit willen vorzugsweise als Inhalt bzw. Gegenstand des Überlieferns (id quod traditur) gefaßt werden, im Sinne der alten Unterscheidung nach traditio activa und traditio passiva. 36 Für den Vor-

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Die wichtigsten Belege enthält: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Hrsg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Frankfurt a. M . 1973. Tradition in der Literaturgeschichte. Beiträge zur Kritik des bürgerlichen Traditionsbegriffs [...]. Eingeleitet u. hrsg. v. Robert Weimann. Berlin (-Ost) 1972. Zu den früheren Stufen vgl. Wolfram Schlenker: Das 'Kulturelle Erbe' in der DDR. Stuttgart 1977. Zum Folgenden vgl. Verf.: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung, in: Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Hrsg. v. Gunter Grimm. Stuttgart 1975, S. 8 5 - 1 0 0 mit S. 3 7 9 - 3 8 2 (dort weitere Literatur). Zusätzlich Artikel 'Tradition', in: Deutsches Fremdwörterbuch (Schulz/ Basier) Bd. 5. Berlin, New York 1981, S. 3 3 5 - 3 4 4 . Hierzu die in Anm. 18 genannten Arbeiten von Pieper und Kasper. Bausinger: Kritik der Tradition (wie Anm. 28), S. 245. Zu den theologiegeschichtlichen Aspekten Walter Kasper: Die Lehre von der Tradition in der Römischen Schule. Freiburg, Basel, Wien 1962.

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gang selbst ließe sich 'Tradieren' oder auch 'Überliefern vereinbaren; manches Mißverständnis auch in der wissenschaftlichen Diskussion würde dadurch schon vermieden. Der von der Literaturwissenschaft, auch der Literaturgeschichtsschreibung am meisten vernachlässigte Aspekt der Tradition ist ihre soziale Dimension, ihr Rang als soziales Gedächtnis. Tradition ist immer etwas, das - selbst in der kompliziertesten historischen Anordnung - an jemanden weitergegeben wird und von jemandem, sei es auch einer Institution. Tradition ist per definitionem nie lediglich individuell, andernfalls ist sie keine. Sie kann durch ein Individuum - etwa einen Lehrer - vermittelt werden. Aber die, Autorität", die nach Goethes Deutung jeder „Uberlieferung" eignet, 37 hat zugleich sozialen Hintergrund; von ihr her bemißt sich ihre Geltungsstärke, bis hin zur konkreten Möglichkeit von Sanktionen. Gesellschaftliche Einbindung ist schließlich auch Grundvoraussetzung für jenes Element der 'Kontinuität', 38 das in der Wertungsgeschichte von Tradition bisweilen - als angebetetes Phänomen des 'Organischen' oder auch nur der Beharrung - eine so fatale Rolle gespielt hat. Tradition ist nicht amorph, sondern gegliedert. Sie ist Struktur in der Diachronie. Sie umfaßt nicht, wie es ein weitverbreiteter schludriger Sprachgebrauch vorgibt, schlechthin alles, was 'sich erhalten hat', oder auch alles 'Vergangene'. 39 Tradition ist etwas daraus Ausgewähltes, sie besitzt zumal eine innere Hierarchie, besonders manifest gerade in literarischer Tradition. Innerhalb des tradierten Kanons der 'Meisterwerke' gibt es Prototypen von Gattungen, und nachfolgende Glieder der Kette. Analoges gilt für die großen 'Meister' und ihre tradierten 'Bilder'. Es gibt höherrangige und nachgeordnete Normen und Regeln. Schließlich gibt es, je zu einem bestimmten geschichtlichen Augenblick, nicht selten konkurrierende Traditionen, Haupt- und Nebentraditionen in wechselndem Verhältnis. Die hier nur generalisierend mögliche Andeutung historisch-sozialer Strukturen ist unumgänglich angesichts der weithin diffusen Begriffsverwendung. Aufgabe der 'Forschung' im Sinne des Gervinus ist es, diese Strukturen zu analysieren und zu deuten, Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung, sie als prozeßhaften Zusammenhang in einem Akt der Mimesis 'darzustellen'. Gegenstände literarischer Tradition sind also, wie vielleicht deutlich geworden ist, nicht

So besonders in der Geschichte der Farbenlehre. Hamburger Ausgabe. Bd. 14, S. 56 u. ö. (Goethe bindet beide Begriffe als korrelativ aneinander). Vgl. den in Anm. 28 genannten Sammelband von Bausinger und Brückner. So besonders im wegwerfenden Gebrauch des Worts 'traditionell' (im Gegensatz zu 'modern', 'heutig') und auch in manchen der beliebten Buchtitel nach dem Schema 'XY und die Tradition'.

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Methodenreflexion

nur Werke (im engeren Verstände des 'Kanons'), sondern auch Autoren, Autorenbilder (der 'Ruhm'), dann Stoffe, Motive und vor allem - die wechselnden Interpretationen bestimmend - Normen und Regeln. Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein stellte sich bekanntlich das Verhältnis von Meisterwerken und normativer Theorie innerhalb der literarischen Tradition dar als das Verhältnis von 'exempla und 'praecepta' (bzw. 'doctrina'). Zu deren Aneignung gehörte notwendig die 'exercitatio', erst auf ihrer Basis erhob sich innerliterarische 'imitatio', eigenständige 'aemulatio'. Literaturgeschichtsschreibung, will sie wahrhaft historisch und kritisch verfahren, hat sich nicht nur im eingangs skizzierten Sinne stets neu auf ihre eigene Tradition zu besinnen. Indem sie Literaturgeschichte, nach der Forderung des Gervinus, „der Gegenwart gegenüber betrachten" 40 soll, steht sie auch vor der Aufgabe, von den Traditionserfahrungen der Gegenwart her für jede geschichtliche Stufe immer neu auf das konkrete Traditionsverhalten zu reflektieren, es als ein Element der 'Darstellung' zu fassen. Literarische Tradition, wie alle Tradition, die den Namen verdient, ist nie einfach 'da', sondern eingebunden in den doppelseitigen Prozeß des tradere und recipere.41 Hegel hat dieses Mehr gegenüber dem bloßen Vorhandensein in den Vergleich gefaßt, Tradition sei nicht nur „wie eine Haushälterin, die nur Empfangenes wie Steinbilder treu verwahrt, und es so den Nachkommen unverändert erhält und überliefert", 42 ein Akt des „Erbens" sei erforderlich, dieser sei „zugleich Empfangen und Antreten der Erbschaft" 43 (hier hat dann die marxistische Erbe-Diskussion angesetzt). Der Historiograph der Literatur, dessen Blick zwar vorzugsweise auf sinnhafte Entwicklungen, Ablösungen, historische Prozesse, aber immer zugleich auf das bedeutende Einzelne innerhalb dieser Prozesse gerichtet ist, muß an solchen Vorgängen der Aneignung von Tradition ein fundamentales Interesse haben: wie ein Autor oder auch eine Generation zu einem - als verbindlich oder verachtenswert - vorgefundenen Literaturkanon sich verhält; wie ein einzelnes Werk in seiner tradierten 'literarischen Reihe' steht; wie fixierte Normen unter dem Druck neuer Exempel neuformuliert werden, usw. Von einer historischen Typenlehre des Traditionsverhaltens, wie sie etwa die Kirchen- und Dogmengeschichte zur Beschreibung von Glaubenstraditionen 44 oder die Rechtsgeschich-

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Gervinus: Schriften zur Literatur (wie Anm. 11), S. 45. So mehrfach in Formulierungen des Paulus, etwa 1. Korintherbrief 11,23 und 15,3 (in der Vulgata statt recipere meist accipere als Komplement zu tradere). Hegel: Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Johannes Hoffmeister. Hamburg 1956, S. 12. Ebd. Vgl. die in Anm. 18 genannten Arbeiten von Pieper und Kasper.

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te für die juristischen Auslegungstraditionen 45 entwickelt haben, ist die Literaturwissenschaft eigentümlicherweise noch weit entfernt. 46 Es scheint auch ein wenig Berührungsangst im Spiel zu sein, sei es ob der faschistisch oder volkstümelnd verhunzten Traditionspflege, sei es ob der mechanisch-ahistorischen Ausuferung der Traditionenforschung in Analogie zur Toposforschung. 47 Zur notwendigen Konkretisierung der Kategorie Tradition im Rahmen der Literaturgeschichtsschreibung müssen daher drei Teilprobleme wenigstens kurz noch angesprochen werden: die Darstellung 'traditionalistischer' Literaturepochen, das Phänomen des Traditionsbruchs in der Literaturgeschichte und das (darin übergehende) der produktiven Traditionskritik. Unter den Epochen der deutschen Literaturgeschichte - auch der mehrerer Nachbarnationen — gilt das 17. Jahrhundert gemeinhin als eine der in sich stabilsten und am stärksten traditionsgebundenen. Zwar signalisiert das Jahr 1648 (vor einigen Generationen auch in der Literaturgeschichtsschreibung noch als Zäsur beliebt) mit dem Kriegsende und mit dem Erstarken der Territorialfürstentümer auch bestimmte literarische Veränderungen im Zeichen vor allem des 'Politicus'-Ideals und neuer 'realistischer' Tendenzen. Doch die literarische Theorie, wie sie in den lateinischen und deutschen Lehrbüchern (vorzugsweise Poetiken und Rhetoriken) normativ niedergelegt ist, offenbart, ähnlich wie etwa in der kirchlichen Dogmatik dieser Zeit, eine im Vergleich zum 18. Jahrhundert erstaunliche Homogenität. Sie gründet auf den adaptierten antiken Autoritäten Aristoteles, Hermogenes, Cicero, Horaz, Quintilian und ist in diesem Sinne 'traditionalistisch'. Träger dieser doctrina sind die protestantischen und jesuitischen Bildungsinstitutionen des Gelehrtenstandes. 48 Und es wäre reizvoll, dieses Literatursystem einmal mit den von Max Weber beschriebenen Formen 'traditionaler' Herrschaft strukturell zu vergleichen. 49 Die Forschung hat mit nachgerade niederdrückender Evidenz Punkt für Punkt die Antike-Abhängigkeit zahlloser Einzelelemente nachgewiesen - hier wie in vielen anderen Bereichen wie Emblematik, Psychologie, Historie, Ethik.

Helmut Coing: Die juristischen Auslegungsmethoden und die Lehren der allgemeinen Hermeneutik. Köln u. Opladen 1959. Die frühen Anregungen etwa von Schücking (wie Anm. 15) sind kaum aufgenommen worden. Einen beispielhaften Ansatz zur Überwindung der Fronten in der Toposforschung bietet Conrad Wiedemann: Topik als Vorschule der Interpretation, in: Topik. Hrsg. Dieter Breuer u. Helmut Schanze. München 1981. S. 233-255. Verf.: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 46ff. und S. 220ff. Die drei Typen der 'rational', 'traditional' und 'charismatisch' gerechtfertigten Herrschaft sind entwickelt vor allem in Wirtschaft und Gesellschaft (zuerst 1922).

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Methodenreflexion Mancher sprach angesichts solcher Traditions- und Autoritätsfixierung geradezu von Anwesenheit des Mittelalters im Barock. Die vielen Einzeluntersuchungen zur Tradition der Theorie stehen, je für sich, nicht nur in der Gefahr, die oft ganz anders geartete, teilweise durchaus unklassizistische literarische Praxis auszuklammern, sondern auch die vielen unterschiedlichen 'Traditionen nebeneinander zu isolieren. Stoffhuberei, Ahistorismus, Atomisierung sind die Vorwürfe, nicht zu Unrecht. In der Tat gelingt es nur wenigen Arbeiten, jeweils das Ganze der traditionalen Bedingungen in seinem Funktionszusammenhang sichtbar zu machen, von der sozialen Dimension des Tradierten ganz zu schweigen. 50 Literaturgeschichtsschreibung als eine Weise, in der literarische Geschichte einem gegenwärtigen Bewußtsein sinnhaft dargeboten wird, hat hier, in notwendiger Ergänzung zu Einzelinterpretation oder auch Autorenmonographie, ihre herausragende Aufgabe. Freilich unter zwei Bedingungen. Literaturgeschichtsschreibung sollte die traditionalen Elemente nicht in ihrer bloßen materialen Summe oder lediglich quantitativ auswählend, sondern im Zusammenhang des epochalen Literatursystems erkennbar werden lassen. 51 Und sie sollte sie so in ihrer sozialen Verankerung darstellen, daß sowohl das Konforme als auch das Abweichende (etwa Satire, 'Manierismen' und anderes) in seiner Qualität hervortritt. Tradition wird hier selbst zum Epochensignet, gerade auch in der Starre des Festhaltens und in den Sanktionen gegen Abweichung. Perioden des reaktionären Immobilismus mit ihrer traditionalistisch entmündigenden Literaturdoktrin, wie unter Hitler oder unter Stalin, werden so der erkenntnisfördernd überschauenden Darstellung zugänglich. An die Stelle eines verachtenden oder achselzuckenden Asthetizismus tritt die Decouvrierung von Traditionsmißbrauch. Ostentative Traditionsbrüche haben wir Deutschen in den Jahren nach 1945, und dann — in harmloserem Maßstab - anläßlich der Diskussion um den Slogan vom 'Tod der Literatur' Ende der 60er Jahre, nüchterner, kritischer zu sehen gelernt. Jeder kann heute mit überlegener oder auch melancholischer Miene feststellen, daß der literarische 'Nullpunkt' 1945 keiner gewesen ist. Immer klarer hat die Forschung das nur leicht veränderte Weiterleben völkischer

Vorbildlich in diesem Sinne etwa W o l f r a m Mauser: Dichtung, Religion u n d Gesellschaft im 17. J a h r h u n d e r t . Die Sonnete des Andreas Gryphius. M ü n c h e n 1978. Dies gilt nicht zuletzt für eine sozial- u n d funktionsgeschichtlich orientierte Literaturgeschichtsschreibung, wie sie W i l h e l m V o ß k a m p zum 18. Jahrhundert skizziert: Probleme u n d Aufgaben einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturgeschichte des achtzehnten J a h r h u n derts, in: Das achtzehnte Jahrhundert als Epoche. Hrsg. v. Bernhard Fabian u. W i l h e l m S c h m i d t - B i g g e m a n n . Nendeln 1978, S. 5 3 - 6 9 .

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oder etwa christlich-humanistischer Traditionen auf vielen Feldern gezeigt. Der Historiograph hat trotzdem, und gerade im kontrastiven Vergleich, die reale Funktion der 'Nullpunkt'-Vorstellung als eines Selbstverständigungsmodells vieler der damals jungen Autoren in Westdeutschland zu zeigen. 52 Keine Analyse, die in den Kurzgeschichten aus dem Umkreis der frühen Gruppe 47 Züge der expressionistischen Erzähltradition' oder auch Einflüsse Hemingways nachweist, kann dies widerlegen. Erst das Ganze des literarischen Lebens, das auch die neue Klassikerpflege, die Nathan- und Aufführungen wie das Trostsuchen bei christlich-humanistischen Traditionen umfaßt, kann den Part der 'Jungen Generation' 53 im Traditionsprozeß der frühen Nachkriegsjahre historisch verständlich machen. Die Bemühungen des „Kulturbundes" um Johannes R. Becher jedoch, mit ihrer dezidierten Anknüpfung sowohl an die deutsche 'Klassik' als auch an die 'Erbe'-Diskussionen im Exil, 54 und die Ausklammerung der 'dekadenten Moderne' (besonders Kafkas), illustrieren vollends die auch traditionale Spaltung des literarischen Deutschland. Literaturgeschichtsschreibung steht von ihrem Impetus und von ihrer Darstellungsform her in der besonderen Gefahr, dem jeweils 'Neuen' ein historisch einseitiges Vorrecht gegenüber dem Weiterdauernden - auch der weiterhin gelesenen 'Tradition' - einzuräumen. Die Literaturgeschichte des Lesers, die solches zu korrigieren hätte, ist noch nicht geschrieben. Die Generationen des deutschen Früh- und Hochhumanismus zwischen 1450 und 1520 haben, in abgestufter Emphase und Tendenz, den Bruch mit der mittelalterlich scholastischen Tradition in Wissenschaft und Literatur, die Hinwendung zur Antike und damit die Neuformulierung einer höherwertigen Tradition auf ihre Fahnen geschrieben. Dem Historiographen bietet sich hier ein besonders eindrückliches Exempel bewußter, neuformender Traditionswahl, sogar einer mit nationaler Zielsetzung. Wer in diesem Rahmen Entstehung und Entwicklung des Humanistendramas als Beginn des neuzeitlichen Dramas darzustellen hat, 55 wird von der Wiederbelebung des antiken Dramas im Hörsaal und auf der Bühne auszugehen haben, und vom spezifischen Interesse an einer solchen Wiederbelebung. Er Volker Christian Wehdeking: Der Nullpunkt. Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern. Stuttgart 1971. Bezeichnend der Untertitel der (damals wichtigsten politisch-kulturellen) Zeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation. Ingeborg Münz-Koenen u. a.: Literarisches Leben in der DDR 1945 bis 1960. Literaturkonzepte und Leseprogramme. Berlin (-Ost) 2 1980. So grundlegend Wilhelm Creizenach: Geschichte des neueren Dramas. Bd. 2. Halle 2 1918. Zum Folgenden vgl. Verf.: Einführung in die Ausgabe von Heinrich Bebels Comoedia de optimo studio iuvenum (1501). Stuttgart 1982, S. 103-173.

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Methodenreflexion wird die Elemente der vorbildhaften römischen Komödie und Tragödie (Plautus, Terenz, Seneca), ihren szenischen Apparat, ihre äußere Einteilung, ihre Sprachmuster und ihre 'Dramaturgie', auch ihre Thematik, als Bausteine der neuen, eigenen Versuche vorführen. Er wird aber, für die Stücke eines Wimpfeling, Bebel und selbst Reuchlin, auch auf die Tradition der spätmittelalterlichen und dann humanistischen Schülerdialoge zurückgreifen müssen, auf Ständekritik und überkommene satirische Sprachtechniken einschließlich der Opposition von klassischer und scholastischer Latinität. Nicht in erster Linie das Phänomen der Traditionenmischung ist hier von Interesse, sondern im Akt des programmatischen Traditionswechsels - über die mittelalterlichen Jahrhunderte hinweg - die faktische Eingrenzung, ja Einengung durch die Wirklichkeit des Bildungswesens. Auf der Ebene der reinen Gattungs- oder Autorengeschichte ist dies nicht zu leisten. Hier ist Literaturgeschichtsschreibung erfordert, die sich sozial- und rezeptionsgeschichtlich fundiert und auch literarische Traditionen als soziale Phänomene faßt. Kritik der Tradition im spezifisch modernen Sinne gilt als Errungenschaft der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, mit Wurzeln, die geschichtlich bis in die Bestrebungen von Renaissance, Humanismus und Reformation zurückreichen. Im Unterschied zu Traditionswandel und Traditionsablösung generell liegt ihr der Anspruch zugrunde, bessere Einsicht in das Wesen des Menschlichen und in die Genese der vorgefundenen Tradition zu besitzen. Das bürgerliche Trauerspiel in England, Deutschland und Frankreich, mit seinen Repräsentanten Lillo, Lessing und Diderot, entsteht zuletzt aus der moralisch-ästhetischen Kritik der überkommenen, erstarrten heroischen Tragödie. 56 Gerade dem Kritiker und Theaterpraktiker Lessing ist dabei an der historischen Fundierung in der Dramentradition selbst gelegen. Der Geschichtsschreiber dieses exemplarischen Prozesses hat nicht nur die Traditionsablösung als solche zu zeigen, sondern die Rolle der expliziten Kritik selbst. Wiederum aber hat man längst nicht nur gesehen, daß Lessing gegenüber 'den Franzosen (meist Corneille) wie gegenüber der Autorität Gottscheds gewissermaßen historisch notwendig ungerecht sein mußte. Auch die 'heroischen Elemente in seinen eigenen bürgerlichen Trauerspielen haben vielfach irritiert. 57 Sind sie Unfähigkeit, Kompromiß oder Absicht? Sie sind Signale produktiver

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Peter Szondi: Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels im 18. Jahrhundert. Frankfurt a. M . 1973; Alois Wierlacher: Das bürgerliche Drama. Seine theoretische Begründung im 18. Jahrhundert. München-Allach 1968. Lothar Pikulik: 'Bürgerliches Trauerspiel' und Empfindsamkeit. Köln 1966, S. 1 5 5 - 1 6 9 ; Verf.: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973, S. 3 5 - 5 2 .

Tradition als Kategorie der Literaturgeschichtsschreibung Traditionsverwandlung, mit der Lessing selbst - jedenfalls für Deutschland Tradition neu begründet: Gattungstradition, die ihrerseits zum Symbol einer neuen, nationalen, 'konkurrenzfähigen Literaturtradition wurde. 5 8 Dieses produktive Umschlagen aus dem expliziten Kritisieren und Negieren einer Tradition muß Literaturgeschichtsschreibung zum Vorschein bringen, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden will. Nicht anders gilt dies etwa für die 'Krise' des modernen Romans in Opposition zum sogenannten 'traditionellen, 'realistischen', oder für das 'epische' Theater, das die übermächtige Tradition des 'aristotelischen' Theaters ablösen sollte. Doch nicht den Prozeß und das 'Resultat' allein soll Historiographie hier ins Auge fassen, sondern das geschichtlich Paradigmatische dieser Traditionskritik selbst. Was ist den so unterschiedlichen, hier nur eben angedeuteten Beispielen gemeinsam? Sie zeigen geschichtliche Erscheinungen und stellen vor methodische Probleme, die zunächst Gegenstand auch nichthistoriographischer Arbeit, etwa der Einzelinterpretation oder der Autorenmonographie oder des gattungsgeschichtlichen Längsschnitts sein können. Die Darstellung ihrer traditionalen Merkmale jedoch, verstanden als die einer historisch-sozialen Dimension, bedarf der Historiographie zumindest als einer notwendigen Ergänzung. Tradition als überindividuelle und transepochale Größe entzieht sich der bloß 'gelegentlichen' Berücksichtigung. Im dialektischen Geschäft von Werkanalyse und Epochendurchblick, von Autorzentrierung und literaturgesellschaftlicher Perspektive ist Historiographie immer wieder unabdingbar als das Bewußtmachen des Ganzen und des Uberdauernden. Aber es fragt sich, ob dabei 'Traditions'-bewußte Literaturgeschichtsschreibung nicht in einer doppelten Gefahr steht. Bis heute ungelöst ist das Dilemma, daß die einzelnen Werke, die eigentlich primären Bezugspunkte des literarischen Interesses, in der Darstellung von Literaturgeschichte fast zwangsläufig zurückgedrängt werden durch das Gewicht der kollektiven Prozesse — oder lediglich als 'Belege' Profil gewinnen dürfen. Das Betonen der Kategorie Tradition als eines Überindividuellen könnte diese Crux noch verschärfen. U n d weiter: Wird an einem neuartigen Werk eben dieses 'Neuartige' historiographisch überhaupt faßbar, wird es genügend interessieren angesichts des Uberhangs an Tradition? In der Geschichte der Literaturgeschichtsschreibung hat die Kategorie des 'Fortschritts', als Gegenbegriff zu 'Tradition', bei kollektiven Prozessen — etwa der Entwicklung des 'Geschmacks' im 18.Jahrhundert - anfänglich eine nicht

Daß diese 'Tradition dann nur bis zu Hebbels Maria Magdalene reichte, bleibe hier außer Betracht; dazu Karl S. Guthke: D a s deutsche bürgerliche Trauerspiel. Stuttgart 3 1 9 8 0 , S. Iff.

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Methodenreflexion geringe Rolle gespielt, in so unterschiedlichen Konzeptionen wie denen der Schlegels, Gervinus' und auch Hettners. 59 Aber das Einzelwerk und der Einzelautor sind, auf der Folie der Tradition, mit solchen Maßstäben nicht zu greifen. Was wäre 'Fortschritt' angesichts Homers, Shakespeares oder Goethes? Die neuere Diskussion um die Bewertung von Produktion und Rezeption, von Gattungen und 'literarischen Reihen' hat sich denn auch mehr und mehr auf neutralere, formalere Begriffe zubewegt wie 'Neuerung' oder 'Innovation'. In der Tradition des Handwerks, der Technik, des Brauchtums interessiert an der Innovation das Individuelle, der individuelle Impuls nur am Rande. In der Tradition der Literatur, der Musik, der bildenden Künste gehört er gerade zum Eigentümlichen, ja zum Faszinierenden, das die Beschäftigung mit der Historie erst lohnend macht. Tradition der Literatur ist immer schon Vor-Struktur, für den Autor und seine Rezipienten, und für den Historiographen. Er, als der Konstrukteur ex post, wird seiner Aufgabe, das geschichtliche Leben der Literatur und nicht lediglich sich ablösende 'Systeme' darzustellen, nur dann gerecht, wenn er die Akte der Traditionswandlung und der ästhetischen Innovation als individuelle und gesellschaftliche Akte darstellt. Im Wechsel von personaler Schöpfung (im kollektiven Kontext) und kollektiver Aufnahme (mit je personaler Resonanz) ereignet sich Traditionsbildung, kommen literarische Werke schließlich auf uns, in einer bestimmten Selektion und mit bestimmten Vorgaben. Der Historiograph müßte uns erklären können, warum. Nationale Literaturgeschichtsschreibung in der Tendenz des 19. Jahrhunderts vermittelte dieses Warum in der Regel ohne Skrupel, bis hin zur Konstruktion 'exakter' Kausalitäten. Die historiographische Praxis unserer Gegenwart ist hier zurückhaltender geworden, aber sie vermittelt faktisch - mit bloßen Ausblicken über die Grenzen hinaus - immer noch nationalliterarische Tradition wider bessere Einsicht. Jeder weiß, daß das Netz internationaler literarischer Kommunikation enger und enger wird und daß nationalliterarischer Isolationismus ein Unding ist. Das Neue Handbuch der Literaturwissenschaft versucht, die Konsequenzen daraus zu ziehen, besonders auffällig in den beiden Bänden, die den Zeitraum seit 1945 behandeln. 'Weltliteratur' ist ein Prestigebegriff geworden, in seiner prinzipiellen Berechtigung kaum bestritten.60 Gibt es weltliterarische Tradition? Wenn die Kategorie, wie hier vertreten, für jede Literaturgeschichtsschreibung zentral und

Vgl. die bei Marsch (wie A n m . 2) abgedruckten Zeugnisse. Vgl. Z o r a n Konstantinovic: Komparatistik u n d nationale Literaturgeschichtsschreibung, in: Prinzipien der Literaturgeschichtsschreibung (wie A n m . *), S. 49—57.

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Tradition als Kategorie der

Literaturgeschichtsschreibung

unabdingbar ist, beansprucht auch diese - auf den ersten Blick bloß theoretische - Frage Aufmerksamkeit. Es gibt europäische Literaturtradition in den mittelalterlichen Jahrhunderten, und dann seit dem Humanismus mit seiner auf die Antike gegründeten Traditionsneubildung, bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Ernst Robert Curtius hat einen Großteil seiner Lebensarbeit dieser europäischen Tradition gewidmet. 61 Die Literaturen des 18. und des 17. Jahrhunderts zeigen sich historiographisch in ihrem europäischen Zusammenhang am klarsten an ihren Traditionen: Nicht nur die antiken Muster sind 'international'; durch ihre Latinität sind es auch die großen Lehrbücher und Traktate eines Scaliger, Heinsius, Vossius oder Soarez. Vornehmlich in den muttersprachlichen Umsetzungen entfaltet sich der nationale Ehrgeiz, das agonale 'Messen fundiert seine Maßstäbe in „der europäischen Tradition". Goethes Begriff der 'Weltliteratur' setzt historisch gerade die Auflösung dieser Tradition in ihrer normativen Geltung voraus. Zum Traditionen-Pluralismus des 19. Jahrhunderts gehört die Spaltung einerseits in ideologische Konstruktionen nationaler 'volkstümlicher' Traditionen (mit der Konsequenz geplanter Traditionspflege), andererseits in kosmopolitische Setzungen von Tradition durch 'abgehobene' dichterische Intelligenz. Die symbolistische Lyriktradition ist europäisch mit französischem Ursprungsbereich, sie ist spezifisch modern. Es gibt bereits, wie Heißenbüttel formuliert hat, auch eine „Tradition der Moderne". 62 Und es gibt „Museen der modernen Poesie", in denen sich vorzugsweise die poetae docti bewegen. 63 Aber Versuche wie derjenige Ezra Pounds, in seinem poetischen Kosmos sowohl Sappho wie die Troubadours, sowohl Dante wie chinesische Lyrik zu vereinigen, konstituieren noch keine weltliterarische Tradition. Die Pop-Welt mag hier der Literatur-Welt voraus sein, sie stößt kaum an die Barrieren der Einzelsprachlichkeit. Angesichts der Idee eines schrankenlosen literarischen Internationalismus gerät die Kategorie der Tradition erneut in die Enge, wird ihre Legitimität in Frage gestellt. Freilich läßt sich gegenfragen, ob eine wesenhafte Integration der afrikanischen, asiatischen, südamerikanischen, europäischen Literaturtraditionen je möglich, ja ob sie überhaupt wünschenswert sein wird. Literaturgeschichts-

Die Prinzipien formuliert er besonders in: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern u. München 3 1 9 6 1 , S. 13ff. („Europäische Literatur", vgl. aber auch das „Vorwort"). Helmut Heißenbüttel: Zur Tradition der Moderne. Berlin u. Neuwied 1972. Charakteristisch: Museum der modernen Poesie, eingerichtet von Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M . 1960; zum Traditionsverhalten in diesem Zusammenhang s. Verf: Poeta doctus. Uber die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, in: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschr. f. Richard Brinkmann. Tübingen 1981, S. 7 2 5 - 7 5 2 .

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Methodenreflexion

Schreibung jedenfalls muß, in ihren Gegenständen wie in ihren Darstellungsweisen, bezogen bleiben auf Leser, die als Subjekte am literarischen Leben teilnehmen können. Eine Bedingung solchen Teilnehmenkönnens ist die Tradition. Beide, der produzierende Autor wie der 'mimetisch' im Sinne Humboldts arbeitende Historiograph, sind je in ihren geschichtlichen Kontexten 'Teilnehmer' an Tradition, und 'Mitwirkende' an ihrer Formulierung. Was Goethe mit ironischer Selbsterkenntnis auf den schöpferischen Künstler gemünzt hat, gilt auch für den Literaturgeschichtsschreiber: Gern war' ich Überliefrung los U n d ganz original; D o c h ist das Unternehmen groß U n d führt in manche Q u a l . Als Autochthone rechnet' ich Es mir zur höchsten Ehre, Wenn ich nicht gar zu wunderlich Selbst Überliefrung wäre. 6 4

So wie literarische Überlieferung immer schon das Voraus der Autoren, der Werke, der Leser ist, so ist Literaturgeschichtsschreibung, als 'sentimentalisches' Genre, immer schon an der Interpretation und Bewertung dieser Tradition beteiligt. Klio, die 'rühmende' Muse der Geschichtsschreibung, braucht auch auf dem Feld der Literaturgeschichte nicht zu verstummen. Erst sie macht jenes Moment von Freiheit aus, das die bloße autoritäre Verbindlichkeit eines Kanons übersteigt und das Angezogenwerden durch ein neues Werk ermöglicht. Indem Literaturgeschichtsschreibung historische Verhaltensweisen gegenüber literarischer Tradition darstellt, wertet, als einen Teil des 'Lebens' von Literatur erkennbar macht, arbeitet sie nicht nur der vielbeklagten Traditionsvergessenheit entgegen. Sie kann auch ermuntern, sich an der permanenten Aufgabe der Traditionsformulierung eigenständig zu beteiligen. Tradition ist, nach der Vorstellung vieler Religionen, endgültig nur als göttliche Rede. So betrachtet, ist Literaturgeschichtsschreibung, die sich der Kategorie Tradition stellt, ein 'menschliches' Metier.

M

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Hamburger Ausgabe. Bd. 1, S. 310 (aus den späten Sprüchen).

Das Besondere des Allgemeinen. Zur Lage der Allgemeinen Literaturwissenschaft aus der Sicht eines 'Neugermanisten' *

I

Die Stellung der Allgemeinen Literaturwissenschaft innerhalb der geisteswissenschaftlichen Disziplinen scheint durch ein Paradox bestimmt: Das Allgemeine, Ubergreifende rangiert für nicht wenige gerade als das Besondere, ja Partikuläre. Die institutionelle Wirklichkeit der Literaturwissenschaften, ihre Einbindung in Studiengänge, Stellenpläne, Institute, Zeitschriften, Buchreihen, Verbände etc. ist immer noch - oder schon wieder - ganz an den großen nationalphilologischen Fächern orientiert. Allgemeine Literaturwissenschaft ist, für sich genommen, Suppletiv-Disziplin. Selbst wo sie im Lehrangebot vertreten ist,1 bleibt sie oft fakultativ, wenn nicht gar randständig. Die 'großen Fächer dominieren, die jeweils muttersprachlichen zumal (Hispanistik in Spanien, Germanistik in Deutschland usw.). Durch sie scheint das primäre Interesse an wissenschaftlicher Beschäftigung mit Literatur weit überwiegend abgedeckt' zu werden. Und natürlich findet auch hier, innerhalb der Einzel-Literaturwissenschaften, sozusagen freihändig viel 'allgemeine' Literaturwissenschaft statt: Beiträge zur Theorie der Literaturgeschichtsschreibung und der Literaturkritik, zur Rhetorik, zur Rezeptionstheorie, zur Methodologie der Textkritik und der Literatursoziologie, usf. Es ist die 'andere', die nicht institutionalisierte Allgemeine Literaturwissenschaft. Uber den Blickwinkel der Literaturwissenschaften hinaus betrachtet, kennzeichnen die Allgemeine Literaturwissenschaft vor allem drei Merkmale. 2 Inso*

1 2

Zuerst erschienen in: Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Hrsg. v. Wolfgang Prinz u. Peter Weingart. Frankfurt a. M . 1990, S. 1 8 9 - 2 0 3 . Zuerst vorgetragen im Frühjahr 1988 am Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, im Rahmen eines vom Bundesministerium für Forschung und Technologie geförderten Projekts zum Status der geisteswissenschaftlichen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland (durchgeführt vor allem von Bielefelder und Konstanzer Wissenschaftlern). Vgl. die Angaben von Eberhard Lämmert, in: Die sog. Geisteswissenschaften (wieAnm. *),S. 175-188. Die folgenden Sätze versuchen lediglich eine grobe, erheblich differenzierungsbedürftige Skizze. Auf die weitverzweigte wissenschaftstheoretische Problematik (und Literatur) wird hier nicht eingegangen.

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Methodenreflexion

fern sie von der allgemeinen Theorie der Literatur handelt, rückt sie tendenziell von den nationalsprachlichen Philologien fort in die Nähe der Philosophie. Dies hat auch seinen historischen Aspekt. Die starke Tradition der anthropologisch orientierten Poetik, ζ. T. auch Rhetorik, von Aristoteles an bis hin zu Emil Staiger, repräsentiert ihn ideengeschichtlich. 3 Insofern die Allgemeine Literaturwissenschaft sich mit Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaften generell befaßt, erscheint sie einerseits als Teildomäne der Wissenschaftstheorie. Andererseits bewegt sie sich bei wichtigen Problembereichen wie etwa dem der literarischen Hermeneutik wieder in Nachbarschaft zur Philosophie (sofern diese nicht überhaupt als 'Dach' der Wissenschaftstheorie gefaßt wird). 4 Der dritte Gesichtspunkt ist vorwiegend praktisch-institutioneller Art, und desto bezeichnender für die tatsächlichen Strukturen: Allgemeine Literaturwissenschaft setzt bei denen, die sie als Forscher oder als Studierende betreiben, faktisch stets eine oder mehrere 'Basisphilologien' (Germanistik, Romanistik, Slavistik usw.) voraus. Diese sinnvolle, ja notwendige Rückbindung - und manches andere - teilt sie im übrigen mit der Vergleichenden Literaturwissenschaft oder Komparatistik. 5 Für die Entwicklung und für die Einschätzung der Allgemeinen Literaturwissenschaft hat diese wechselnde Perspektive eigentümliche Folgen. Nicht wenigen Literaturwissenschaftlern, die primär historisch (dazu meist nationalsprachlich) ausgerichtet sind, erscheint sie als zu 'theoretisch' oder gar 'theorielastig': also ignorierbar. 6 Aus der Sicht mancher Philosophen wiederum ist sie mit zu viel literaturwissenschaftlicher oder gar 'philologischer' Spezifität belastet, um zum Anspruch genuin philosophischer Reflexion aufsteigen zu können. 7 Diese besondere Labilität der Allgemeinen Literaturwissenschaft im Fächersystem, auch ihre relativ schmale institutionelle Grundierung hat das Gewicht der einzelnen, eigenwilligen Forscherpersönlichkeiten verstärkt, die von immer wieder anderen einzelwissenschaftlichen Interessen ausgegangen sind. Es gibt nicht den 'präformierten' Allgemein-Literaturwissenschaftler, sondern in aller Regel den, der auf mancherlei Umwegen dorthin gefunden hat.

Dabei ist bemerkenswert, d a ß in den Nachfolge-Konzepten der alten Poetik die Gestalt des 'Dichters' als zentrale anthropologische Vermittlungskategorie m e h r u n d m e h r ausscheidet (bis hin zur bloßen Funktionshülse des 'Produzenten'). Die Diskussion hierüber stagniert seit einigen Jahren. Das neu erwachte Interesse an Wissenschaftsgeschichte hat hier noch k a u m Impulse gebracht. Die in m a n c h e r Hinsicht ähnlichen Probleme auf d e m Feld der Komparatistik k ö n n e n hier nicht des näheren verfolgt werden. Sehr ähnliche Verhaltensweisen lassen sich in der Geschichtswissenschaft beobachten. Im R a h m e n der vielbeklagten Tendenz der Partialisierung zu 'Bindestrich-Philosophien' hat sich ein S c h w e r p u n k t 'Literatur-Philosophie' bisher offenbar nicht durchgesetzt.

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Das Besondere des Allgemeinen

Von der Sonderstellung der Disziplin her wäre an sich zu erwarten, daß ihr Rekrutierungsfeld vorzugsweise in den jeweiligen muttersprachlichen Literaturwissenschaften liegt: der Anglistik/Amerikanistik in anglo-amerikanischen Ländern, der Germanistik in deutschsprachigen Ländern, usf. Als Fächer ohne den abziehenden Aufwand der Fremdsprachenlehre und mit den besonderen Entfaltungsmöglichkeiten 'großer' Institute, so könnte man vermuten, bieten sie günstige Voraussetzungen. In Deutschland hat indes während der letzten Jahre die Allgemeine Literaturwissenschaft auf germanistischer Basis keineswegs dominiert 8 - anders als etwa die in ihrer stark theoretischen Ausrichtung vergleichbare englischsprachige Comparative Literature in den Vereinigten Staaten. 9 Einer unter mehreren Gründen hierfür dürfte in dem starken Gewicht der deutschen 'historischen Schule' liegen, die jedenfalls in großen Teilen deutlich theorieabstinent ist. Bezeichnenderweise kamen wichtige Anregungen aus jenen Disziplinen, in denen, wie in der Romanistik oder Slavistik, 10 mehrere Nationalliteraturen gebündelt sind. Hierbei mag nicht nur eine Rolle gespielt haben, daß der notwendige Umgang mit mehreren Literaturen den vergleichenden und den generalisierenden Blick begünstigt. Auch die unmittelbare Vertrautheit mit einschlägigen wissenschaftlichen Strömungen in den betreffenden Ländern (französischer Strukturalismus, russischer Formalismus usw.) ist offenkundig.

II Solche Impulse wurden freilich nach dem Zweiten Weltkrieg erst mit der vielerörterten Verspätung aufgenommen. Die eigentümlich früh nach 1945 erscheinenden ersten 'Synthesen zur Allgemeinen Literaturwissenschaft werden ausnahmslos nicht auf deutschem Boden geschrieben: Emil Staigers Grundbegriffe der Poetik (1946) entstehen in Zürich, Wolfgang Kaysers Das sprachliche Kunstwerk (1948) in Lissabon, 11 Theory of Literature (1948) von Wellek und Warren -

Zur Pionierfunktion einzelner Romanisten, Anglisten, Slavisten s. weiter unten. Aus den anglistisch-amerikanischen Departments k o m m t dort in der Regel der Hauptzustrom zur Comparative Literature. Dies wurde besonders manifestiert an den Reformuniversitäten Bielefeld, B o c h u m , Konstanz mit ihrer auch organisatorisch engen Zusammenarbeit innerhalb der Literaturwissenschaften einerseits, der Linguistiken andererseits (aber auch zwischen beiden) - ein Konzept, das dann durch die bildungspolitischen 'Realitäten nach und nach zerrieben wurde. Der Kontakt mit romanischen Literaturen ist hier sehr merklich. D a s Interesse an Fragen der Allgemeinen Literaturwissenschaft und der Formtypologie geht mit seinem Lehrer Julius Petersen bereits in die ausgehenden 20er Jahre zurück (und dann auf die gemeinsame Leipziger Dozentenzeit mit Andre Jolles).

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Methodenreflexion mit deutlich 'europäischem' Fundament 12 - in den USA, und der Schweizer Max Wehrli zieht mit Allgemeine Literaturwissenschaft (1951) eine erste Zwischenbilanz. In der Auffassung vom Wesen der Dichtung und des Dichterischen herrschen idealistische und existenzphilosophische Kategorien vor, die Brücke zur Einzelinterpretation schlagen zumeist morphologische Verfahren, wie sie bereits in den 20er und 30er Jahren, etwa von Günther Müller, 13 entwickelt worden sind. Unzweifelhaft geht in dieser Phase von der Allgemeinen Literaturwissenschaft eine starke Orientierungswirkung aus,14 wobei gerade die weitgehende Herausnahme der 'Interpretation aus der Dimension des Gesellschaftlichen ihre später vielkritisierte Faszination ausübt. Wie eng der internationale Austausch auch in der Allgemeinen Literaturwissenschaft damals noch begrenzt ist, zeigt sich exemplarisch etwa daran, daß Theory of Literature — mit ihrer deutlichen Profilierung gegen neuere, vor allem amerikanische Strömungen - erst 1959 auf deutsch erscheint.15 Eine intensivere Auseinandersetzung mit New Criticism oder Strukturalismus, geschweige denn mit Kritischer Theorie oder Psychoanalyse findet nicht statt. Bis weit in die 60er Jahre hinein bietet sich ein überwiegend dreigeteiltes Bild. Die große Majorität der Literaturwissenschaftler arbeitet theorie-privativ oder bezieht sich allenfalls vage auf die erwähnten 'Synthesen'. Entwürfe wie Peter Szondis Theorie des modernen Dramas (1956) oder Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1957) bleiben auf Jahre hinaus vergleichsweise isoliert, dringen jedenfalls zunächst nicht in die Kerne der Literaturwissenschaften ein. Die politische Abschottung gegenüber der DDR, aber auch die ausgeprägte Sterilität der dortigen offiziösen Literaturdoktrin bieten im Westen wenig Anreiz zur Auseinandersetzung mit historisch-materialistischen Positionen. Zu den wichtigeren, nicht nur kurzfristigen Impulsen auf dem Feld der Allgemeinen Literaturwissenschaft zählen Gattungsmonographien der morphologischen Richtung. Sie treten mit relativ wenig programmatisch-theoretischem Aplomb auf. Sie ziehen ihre Wirkung zunächst vor allem aus der Tatsache, daß sie sich

Besonders bei dem Wiener Wellek, der noch in Prag (und dann in London) gelehrt hatte. Der Zusammenhang mit der älteren Formtypologie (WölfHin, Strich, Walzel u. a.) und mit der 'Gestalt'-Forschung der 20er Jahre verdiente eine genauere Untersuchung. Zur Orientierung über derlei Filiationen in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik nützlich: Thomas Cramer/ Horst Wenzel (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte. München 1975. Bis in die Erprobung neuer Literaturgeschichtsschreibung hinein, so zu Paul Böckmanns Versuch einer Formgeschichte der deutschen Dichtung (1. Bd. 1949). Zu diesem Zeitpunkt ist das Buch „bereits in vielen Sprachen" erschienen (s. das Vorwort der Übersetzer zur deutschen Erstausgabe).

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Das Besondere des Allgemeinen mit der 'Werkinterpretation günstig verbinden lassen, und sie bleiben wegen ihrer Textkonkretheit und ihrer sorgsamen Systematik auf Jahrzehnte hin ergiebig: Eberhard Lämmert, Bauformen des Erzählens (1955), Volker Klotz, Geschlossene und o f f e n e Form im Drama (1960) und andere; noch Franz K. Stanzeis Typische Formen des Romans (1964) lassen sich hier anschließen. Von dort führen, bei aller Verschiedenheit, deutliche Verbindungslinien zu Wolfgang Isers lesertypologischen Entwürfen der 60er und 70er Jahre, 16 die sich freilich von vornherein in einem ausgeprägt internationalen Diskussionszusammenhang bewegen und nun mit einem entschieden theoretischen Anspruch auftreten. Über die Gründe, namentlich auch über die Plötzlichkeit, ja Gewaltsamkeit des Theorie- und Methodologie-Schubs seit Mitte der 60er Jahre ist viel spekuliert worden. Eine Sternstunde der Allgemeinen Literaturwissenschaft ist nicht daraus geworden.17 Viele wurden durch die neuen Gegebenheiten überfordert. Generationendistanz verschärfte zum Teil die Fronten. Eine durchdachte, auf Kenntnis beruhende Auseinandersetzung mit all dem Neuen (oft schon recht Alten), das seine Rechte anmeldete — vom historischen Materialismus bis zur Psychoanalyse, von der Kritischen Theorie bis zum Strukturalismus - , konnten oder wollten manche der Älteren nicht mehr leisten. Der Dilettantismusvorwurf, mitunter nur aus Bequemlichkeit vorgebracht, hatte auch seine Berechtigung. Vielen Jüngeren wiederum fehlte jenes differenzierte Fundament an Erfahrung im Umgang mit Literatur und Literaturwissenschaft, das jegliches Reden (nicht nur) über Allgemeine Literaturwissenschaft notwendig erfordert. Ein in der Sache voranbringender Dialog wurde auch durch den verbreiteten Eindruck erschwert, daß mehrere der propagierten Ansätze, vor allem Sozialgeschichte und Psychoanalyse, letztlich literaturfern seien, von der Literatur als Literatur wegführten.18 Ein Sichbesinnen auf die Bedingungen und die Konsequenzen dieser Konfrontation ist unumgänglich, da die gegenwärtige Lage der Allgemeinen Literaturwissenschaft, ebenso wie die der einzelsprachlichen Philologien, nicht unwesentlich von den Spätfolgen des Umbruchs geprägt ist. In den meisten wichtigeren Arbeiten der mittleren und jüngeren Wissenschaftlergeneration artikuliert sich heute ein Theorie- und Methodenbewußtsein, das gegenüber den 50er und beginnenden 60er, aber auch etwa den 50er Jahren beträchtlich entwickelt ist -

Bezeichnend ist bei diesem Zusammenhang das überwiegend projektionistische Verfahren Isers, das von der „Textseite" ausgeht und sich der empirischen Materialität nicht aussetzt. Das wird bereits aus der wichtigsten Zwischenbilanz in germanistischer Perspektive ersichtlich; Jürgen Kolbe (Hrsg.): Ansichten einer künftigen Germanistik. M ü n c h e n 1969. Eine späte Reaktion ist auch Ausdruck von Enttäuschung: die - nicht nur für die Schule produzierten - neuen 'Interpretationen-Sammlungen seit Ausgang der 70er Jahre.

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Methodenreflexion orientiere es sich nun an Semiotik, Psychoanalyse, Kritischer Theorie oder den verschiedenen poststrukturalistischen Strömungen. 19 Die internationale Informiertheit ist mitunter frappant, und sie soll es auch sein. Das expandierende Kongreß- und Symposienwesen, die Möglichkeiten von Gastprofessuren und der verschärfte Kampf um Hochschulstellen haben das Ihre dazu beigetragen, daß zumindest die Ambitionen erheblich hochgeschraubt wurden. Diese von vielen beobachteten und von nicht wenigen kritisierten Tendenzen betreffen durchgängig die Einzelfächer, jedoch die Allgemeine Literaturwissenschaft auf besondere Weise. Dem auch bei Spezialstudien (bisweilen nur pflichtgemäß) wahrgenommenen theoretischen und methodologischen Legitimationsbedürfnis ist sie nachgekommen und auch wieder nicht nachgekommen: Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit ergänzen einander. Die Zahl der zitationswürdigen neuen Kirchenväter von Benjamin bis Derrida, von Heidegger bis Luhmann, von Foucault bis Eco — allesamt für die Problemstellungen der Allgemeinen Literaturwissenschaft von Belang — ist derart angewachsen, 20 daß ein Einzelner die Aufgabe einer gründlichen theoretischen Durchreflexion kaum noch zu leisten vermag. Eine solchermaßen inflationäre literaturwissenschaftliche Patristik erzeugt in den Augen vieler nur noch Austauschbarkeit. Die Zeiten, da ein Emil Staiger oder dann, seit Ende der 60er Jahre, ein Theodor W. Adorno einer großen Zahl von Literaturwissenschaftlern die poetologischen oder ästhetischen Orientierungskategorien an die Hand gaben, sind vorbei. Was als theoretisch-methodologischer Pluralismus bester demokratischer Legitimation entspringen mag, treibt auch verbreitete Extremreaktionen hervor. In der 'neuen Theoriemüdigkeit', im neuen Trend zur isolierenden 'Interpretation' 2 ' erinnert manches - auch hier - an die 50er Jahre. Und in der FasziDas ist ein transatlantisches Phänomen, das sich meist schon in den umfangreichen Einleitungskapiteln auch sehr spezieller Studien beobachten läßt. Vgl. die breite Palette zweier sehr verschiedener Überblicke: Joseph Strelka: Methodologie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1978 (in den USA entstanden); Dietrich Harth/Peter Gebhardt (Hrsg.): Erkenntnis der Literatur. Theorie, Konzepte, Methoden. Stuttgart 1982. Dem für eine breitere interessierte Öffentlichkeit konzipierten Funkkolleg Literatur (1976/77) blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls zumindest eine Auswahl wichtiger Ansätze vorzustellen — was nicht nur wegen der oft voraussetzungsreichen Terminologie, sondern auch wegen des irritierenden Pluralismus Unwillen bei manchen auslöste; vgl. Helmut Brackert/Eberhard Lämmert (Hrsg. in Verbindung mit Jörn Stückrath): Funkkolleg Literatur. 2 Bde. Frankfurt a. M . 1976/77. Ferner: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hrsg. in Verbindung mit Eberhard Lämmert): Literaturwissenschaft. Grundkurs 1 und 2. 2 Bde. Reinbek b. H a m b u r g 1981. Besonders deutlich erkennbar in den Interpretations-Sammlungen zu Klassikern (vgl. Anm. 18). Einen anregenden, für viele auch irritierenden Versuch, die neue Interpretationswelle mit einem Methodenpanorama zu verbinden, bedeutet der Band: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists 'Das Erdbeben in Chili'. Hrsg. v. David E. Wellbery. München 1985 (am Deutschen Seminar der Universität Basel sind derlei

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Das Besondere des Allgemeinen nation, die von den 'Schulen' eines Jacques Derrida oder eines Paul de Man gerade auf Jüngere ausgeht, wirkt nicht zuletzt die Radikalität, mit der hier Pluralismus verweigert wird; zu ihm gehört etwa der Hermeneutik-Konsens, wie ihn in den 60er und 70er Jahren Gadamers Wahrheit und Methode für recht divergente Ansätze noch repräsentieren konnte. 22

III Die Allgemeine Literaturwissenschaft in der Bundesrepublik, ob institutionalisiert oder nebenbei' betrieben, hat dem einstweilen nur wenig entgegenzusetzen. Die Reaktionen sind verstreut, es fehlt — auch — an institutionellen Zentren. Gewiß soll auf Organisation und Wissenschaftspolitik nicht zu viel an Erwartung gesetzt werden. Doch sei immerhin daran erinnert, daß die 'Konstanzer Schule' um Wolfgang Iser und Hans Robert Jauß ohne den Kontext einer ambitionierten Reformuniversität (neben anderem) sich kaum hätte formieren und ihre beträchtliche Wirksamkeit entfalten können. 23 Rezeptionsgeschichte und Rezeptionsästhetik gehören heute im internationalen Zusammenhang zu den wenigen Ansätzen der Allgemeinen Literaturwissenschaft (hier in charakteristischer Anbindung an Romanistik, Anglistik und Slavistik 24 ), die als 'deutsche' Produkte, ja als Exportartikel gehandelt werden. Zumindest mit merklich 'deutscher' Beteiligung hat sich ungefähr gleichzeitig, und mit einzelnen gemeinsamen Interessen, dasjenige herausgebildet, was heute unter dem Etikett 'Sozialgeschichte der Literatur' firmiert. 25 Erste Versuche einer Literatursoziologie am Ausgang der Weimarer Republik 26 wurden hier ebenso reaktiviert wie die lange Zeit vernachlässigte Auseinandersetzung mit

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Experimente schon seit Mitte der 70er Jahre unter dem Titel 'Literaturwissenschaftliche Methoden im Gespräch', jeweils am Beispiel eines einzelnen literarischen Werks, veranstaltet worden). Kritisch zur mitunter vehementen Hermeneutik-Kritik etwa Manfred Frank: Was ist NeoStrukturalismus? Frankfurt a. M . 1983, passim. Wichtig ist als fördernder Hintergrund der seit Anfang der 60er Jahre aktive, sich um die Forschungsgruppe 'Poetik und Hermeneutik' bildende Kreis von Forschern aus einer größeren Zahl von Universitäten. Für die hier angesprochene Vermittlungsarbeit ist besonders charakteristisch der seinerzeit an der Universität Konstanz tätige Slavist Jurij Striedter (auch als Herausgeber von Texten der russischen Formalisten, seit 1969). Guter Querschnitt jetzt in: Renate von Heydebrand/Dieter Pfau/Jörg Schönert (Hrsg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988. So bei Arnold Hirsch, Levin L. Schücking u. a.

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Methodenreflexion den verschiedenen Richtungen der marxistischen Literaturtheorie zunehmend auch aus der D D R . 2 7 Zwei Gründe vor allem dürften mitentscheidend dafür sein, daß die beiden genannten Forschungsrichtungen, im Gegensatz etwa zur Semiotik, zur Psychoanalyse oder auch zu den verschiedenen Strukturalismen, als spezifisch 'deutsch' fundiert erscheinen. Es sind die ausgeprägt deutsche Wissenschaftstradition der Hermeneutik und die besonders starke Verankerung der 'historischen Schule' in Deutschland — so erscheint es nicht nur jenseits des Rheins und des Atlantiks. 2 8 D a ß mit Nietzsche, Freud und Heidegger immerhin drei Patres der poststrukturalistischen Bewegungen dem deutschsprachigen Denk- und Kulturbereich entstammen, ist nur ein halber Trost. Soll man die Allgemeine Literaturwissenschaft in Deutschland auch noch dafür schelten, daß sie nicht früher und entschiedener diese drei für Neues mobilisiert hat, gerade gegen die historisch-hermeneutischen Traditionen? Die müßige Frage mag daran erinnern, daß es in der Konsequenz des 60erUmbruchs in Deutschland lag, eben nicht den 'reaktionären' Nietzsche und den 'faschistischen' Heidegger auf den Schild zu heben, 2 9 sondern den Benjaminschen „neuen Engel" und die Chiffre von der Literatur als dem „Organon der Geschichte". Die tiefgehende Funktionskrise der Literatur war zwar für diejenigen, die 1 9 6 8 / 6 9 mit dem Slogan von ihrem 'Tod' spielten, 3 0 primär eine Krise der 'bürgerlichen' Literatur. Als viel nachhaltiger erwies sich die Gefährdung der Literatur durch die neuen, vor allem elektronischen Massenmedien. 3 1 Die Allgemeine Literaturwissenschaft, genauer: einzelne ihrer Vertreter haben sich an einer Antwort beteiligt, indem der Literaturbegriff auch theoretisch erweitert wurde, zu Zwecktexten hin, zur Unterhaltungs- und Trivialliteratur und auch etwa zum Fernsehspiel. 3 2 27

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Zwei Schlüsselpublikationen Robert Weimann (Hrsg.): Tradition in der Literaturgeschichte, Berlin (-Ost) 1972; Manfred Naumann u. a.: Gesellschaft - Literatur — Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin u. Weimar 2 1 9 7 5 . Aus amerikanischer Perspektive schmelzen hierbei mitunter 'deutsch' und europäisch' zusammen. Bezeichnenderweise zieht noch die jüngste Auseinandersetzung um die Einschätzung Heideggers (oder auch Paul de Mans) ihre Schärfe gerade aus der politischen, ideologiekritischen Bewertung. Das 'Spielen' ist gegenüber verbreiteten Mißverständnissen zumindest für den Hauptmatador Enzensberger und sein Kursbuch 15 (1968) zu betonen. Auch wenn die düsteren Prophezeiungen sich nicht durchgängig bewahrheitet haben (VI'od der Lesekultur' usw.), sind die Konsequenzen für die Weise der Literaturrezeption bei den jüngeren Noch-Lesern zum Teil erheblich. Empirische Untersuchungen dazu bewegen sich notgedrungen noch im Vorfeld (etwa präformierende oder auch substituierende Romanverfilmung vor der Romanlektüre u. a.). Analytisches Zwischenresümee etwa in: Thomas Koebner (Hrsg.): Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur. Stuttgart 2 1 9 8 4 .

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Das Besondere des Allgemeinen Heute läßt sich kaum behaupten, dieses Zentralproblem unserer literarischen Kultur sei zu einem Zentralproblem auch der Allgemeinen Literaturwissenschaft geworden. Die Macht der überlieferten Vorstellungen von den Gattungen und von der 'schönen Literatur' hat sich, bei aller theoretischen Aufgeklärtheit, im wissenschaftlichen Diskurs nur wenig verschoben. Das fundamentale Verdikt etwa Adornos gegenüber den Produkten der „Kulturindustrie", in Verlängerung klassischer Autonomiekonzeptionen, hat daran zumindest mitgewirkt. In der Filmästhetik — wo man noch dazu auf 'Klassiker' wie Siegfried Kracauer zurückgreifen konnte - hat sich am ehesten etwas bewegt. 33 Im übrigen aber ist Medienästhetik weit davon entfernt, 'klassisches' Thema der Allgemeinen Literaturwissenschaft geworden zu sein. Man überläßt es weitgehend den Spezialisten, die immer noch überwiegend zugleich Außenseiter sind. Das mag bis zu einem gewissen Grade auch auf praktischen Gründen beruhen, wie in den Einzel-Literaturwissenschaften. Ein Defizit bleibt es. Nur kurz sei hier eine andere Aufgabe erwähnt, der sich nach anfänglicher Euphorie die Allgemeine Literaturwissenschaft nicht praktisch angenommen hat. Ohne Zweifel sind in der Aufbruchsphase der 60er Jahre weitgespannte Illusionen über ein Zusammenwirken von Literaturwissenschaft und Linguistik entstanden. 34 Mancher begrüßte - oder befürchtete - geradezu schon eine 'Linguistisierung' der Literaturwissenschaft. Es hat einzelne Annäherungen gegeben, auf Seiten der Linguistik in den letzten Jahren auch durch eine allmähliche Wiedergewinnung historischer Perspektiven. Es bleibt ein Skandalon, daß für Studenten, die 'Romanistik' oder 'Germanistik' oder 'Slavistik' studieren, der literaturwissenschaftliche Teil vom linguistischen oft weiter entfernt ist als von manchem anderen geisteswissenschaftlichen Fach. Hier wäre 'erpreßte Versöhnung' gewiß das Falscheste. Doch sollte überlegt werden, ob sich auch die Allgemeine Literaturwissenschaft nicht intensiver wieder einem Gebiet spezifischer gemeinsamer Interessen zuwenden sollte, auf dem es einstweilen zu einem — auch 'praktisch' motivierten - Stillstand gekommen ist: dem der Textlinguistik. 35 Vielleicht reicht erprobtes Zusammenwirken dann auch einmal wieder darüber hinaus. 36 Bezeichnend die Überarbeitungstendenz in der Neuausgabe des 'Klassikers' Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Frankfurt a. M . 1979 (1. Aufl. 1932). Aussagekräftig hierfür immer noch die Sammlung Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. 3 Bde. Frankfurt a. M . 1971. Ansätze zur diagnostischen Zusammenschau der beiden Fächer auf dem Feld der Wissenschaftsgeschichte in: Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.): Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe. Frankfurt a. M . 1983. Vgl. die vorsichtige Einschätzung bei Eugenio Coseriu: Textlinguistik. Eine Einführung. T ü bingen 1980. Ein Feld, in dem solche Erprobung zum Teil schon mit Erfolg stattgefunden hat, ist die Medienwissenschaft.

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Methodenreflexion

Es ist schwer abzuschätzen, welches Gewicht die Mehrzahl der Literaturwissenschaftler und ihrer Studenten der Allgemeinen Literaturwissenschaft, der institutionalisierten wie der 'nebenher' betriebenen, in ihrer Arbeit tatsächlich beimessen; auch: wie stark sie als Disziplin überhaupt in ihrem Bewußtsein präsent ist. Mancher amerikanische Literaturwissenschaftler hält sich in betonter Distanz zu dem vielleicht gerade besonders 'theoretisch' ausgerichteten Department of Comparative Literature seiner Universität. Viele französische Kollegen betrachten mit tiefer Skepsis, wenn nicht Verachtung das Treiben der Pariser 'Theoretiker'. In der Bundesrepublik hat sich seit den 60er Jahren, selbst über den Generationenwechsel hinweg, das Schisma zwischen sogenannten 'Historikern und sogenannten 'Theoretikern' auch in der Literaturwissenschaft kaum geschlossen.37 Die neuere 'Theoriemüdigkeit' hat es eher wieder erweitert. Jeder kennt die verdeckt arbeitenden und nur gelegentlich offen benannten gegenseitigen Ressentiments. Mancher fühlt sich dabei recht wohl, zumal wenn er sich mit den Argumenten der 'anderen' Seite auf diese Weise nicht näher zu befassen braucht. Gewiß gibt es auch zahlreiche Misch- und Zwischenpositionen. 38 De facto behindern, ja lähmen die Barrieren39 noch viel zu häufig den Austausch zwischen Forschern, die einander etwas zu sagen hätten - nicht zuletzt zwischen 'Allgemeinen' und 'Besonderen' Literaturwissenschaftlern. 40 Das Problem kann hier nur eben erwähnt werden. Die Allgemeine Literaturwissenschaft wird in ihrer Besonderheit, entsprechend dem eingangs Gesagten, immer wieder neu profiliert durch ihren Rückbezug auf die nach wie vor dominierenden Einzelphilologien. Sie muß alles Interesse daran haben und entschiedener als bisher darauf hinwirken, daß das unwürdige Schisma auf Fronten reduziert wird, die der Erkenntnis förderlich, nicht hinderlich sind. Eine zweite, ebenfalls 'weit' gefaßte Aufgabe: das Insistieren auf der Literarizität der Literatur. Die letzten beiden Jahrzehnte sind nicht nur durch eine allgemein kulturelle Funktionskrise der Literatur gekennzeichnet, sondern auch wie immer kategorial vermittelt - durch eine innerwissenschaftliche. Haben die Literaturwissenschaftler und ihre Studenten ihren spezifischen 'Gegenstand'

Fast noch deutlicher artikuliert sich dieses Schisma unter solchen Fachhistorikern, die immer noch für sich in Anspruch nehmen, nur mit 'Fakten' zu tun zu haben, während für Theorie 'die Bielefelder' zuständig seien. So besonders im Umkreis der Forschungsgruppe 'Poetik und Hermeneutik'. Dabei schiebt sich das Terminologie- und das Jargon-Problem immer wieder vor die eigentlichen Fragen eines möglichen Dialogs. Die Unterscheidung ist hier lediglich hypothetisch verwendet, zumal die anregendsten Fachvertreter oft beides in Personalunion betreiben. Eine empirische Untersuchung zu solchen Anteilen und Mischungen wäre für die Struktur der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft besonders aussagekräftig.

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Das Besondere des Allgemeinen noch? Nur drei Entwicklungen seien erwähnt, alle drei als Fehlentwicklungen sinnvoller Ansätze. In der psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft verlockt es immer wieder auch kritische Köpfe, Romanhelden oder Dramenfiguren wie 'Fälle' aus der analytischen Praxis zu traktieren. In dem breiten Spektrum dessen, was als 'Sozialgeschichte der Literatur' firmiert, passiert es immer noch zu häufig, daß von einem literarischen Werk allenfalls ein paar 'Ausblicke' auf Gesellschaftliches geboten werden oder daß der Text wesentlich zum 'Beleg' einer vorgewußten sozialen Struktur wird. In manchen dekonstruktionistischen Versuchen, in denen doch der 'Text' (und nicht ein Autorsubjekt oder eine Geschichtsperspektive) dominieren soll, wirft sich nur ein willkürlich schaltender 'Leser' zum neuen Souverän auf. Die Feststellung, daß keine der neuen Richtungen - und keine der alten, etablierten - von derlei Mißwuchs verschont sein kann, reicht als Antwort nicht hin. In der Summe werden hier Defizite greifbar, die Symptomatisches in sich tragen. Bei den genannten Tendenzen verflüchtigt sich Literatur als Literatur. So, wie sich Allgemeine Literaturwissenschaft als Ort der Reflexion über die theoretischen und methodologischen Grundlagen entschiedener um die unfruchtbaren schismatischen Erscheinungen kümmern sollte, so auch um die Funktionskrise des Literarischen in wissenschaftlichen Strömungen der Gegenwart. Sie sollte sich gewiß weiter in den Wettbewerb der Richtungen, der oft auch reiner Machtkampf ist, einmischen. Sie sollte jedoch vor allem immer wieder den öffentlichen Disput darüber anzetteln, welche Bezugswissenschaften (philosophische Ästhetik, Psychoanalyse, Linguistik usw.) welche Aspekte der Literatur mit welcher Art von Pertinenz aufiuschließen imstande sind. Die differenzierte Auseinandersetzung hierüber, jenseits der wechselseitigen Bestätigung von Ressentiments, liegt sehr im argen.

IV Da es dem löblichen Unternehmen, das diese Gedanken zu einer Bestandsaufnahme veranlaßt hat, 41 auch ums Praktische und ums Wissenschaftspolitische zu tun ist, seien hier vier Vorschläge angeschlossen, die sich nach 'innen' wie nach 'außen' richten. Erstens: Es mangelt der Allgemeinen Literaturwissenschaft, wie eingangs erörtert, immer noch bei vielen an Anerkennung ihres 'Besonderen'. Sie erscheint manchem als bloße Zutat, als Erweiterung des Eigentlichen, d.h. der 41

Vgl. oben Anm. 1.

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Methodenreflexion

Einzelphilologien. Ihr Anwendungsaspekt - sofern dieser Begriff in den Geisteswissenschaften nicht ohnehin Illusionen weckt — ist nicht evident. Der Vergleich mit der sogenannten 'Grundlagenforschung' in den Naturwissenschaften mag mißverständlich sein. Doch sollte der Allgemeinen Literaturwissenschaft etwas von jener Lizenz zur Loslösung vom Einzelnen gewährt bleiben, die ihr Hineinwirken in die Einzelphilologien erst sinnvoll macht: eine Art Applikations-Dispens. Zweitens: Die neue Unübersichtlichkeit 42 im Hinblick auf die zahlreichen Bezugswissenschaften ist für die Allgemeine Literaturwissenschaft besonders gravierend. Das Stricken von Privatlegenden, was die eigene Informiertheit und den eigenen Durchblick angeht, wird weiterhin zur Praxis gehören - wie in den Einzelphilologien. Die Allgemeine Literaturwissenschaft, vor allem soweit sie institutionalisiert ist, sollte sich auch die Aufgabe der Vermittlung, des 'Ubersetzens' stellen. Zu einschlägigen Versuchen (orientierende Arbeitsgespräche, gedruckte Einfuhrungen, Forschungsberichte43) sollte im Einzelfall auch durch Förderung ermuntert werden. Drittens: Die institutionelle Verstreutheit der Allgemeinen Literaturwissenschaft — wie auch die der einzelsprachlichen Literaturwissenschaften - in der Bundesrepublik hat ohne Zweifel auch ihre Vorzüge. Andererseits sind etwa die Erfahrungen mit dem Institut für deutsche Sprache in Mannheim oder mit dem Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen 44 nicht nur negativ. Es hat nach dem Krieg mehrere Anläufe zur Gründung eines Literaturwissenschaftlichen Instituts gegeben (verschiedene Modelle, darunter auch rein germanistische). Sie sind alle gescheitert: aus angeblichem Geldmangel (d. h. aus Fehlen einer effizienten Lobby, wie sie andere Fächer aufgebaut haben), doch auch aus Angst mancher Kollegen vor einer neuen Übermacht weniger, vor 'DDR-Verhältnissen (mit den dortigen Zentralinstitutionen). Sollte ein neuer Anlauf doch gelingen,45 so sollte die Allgemeine Literaturwissenschaft in einer noch zu findenden Konstruktion 46 fest verankert sein. Ihre Vermittlungsfunktion könnte so spürbar gestärkt werden. 42

43

44 45

Vgl. hierzu auch den Beitrag von Wilhelm Voßkamp, in: Die sog. Geisteswissenschaften (wie Anm. 1), S. 240-247. Vorbildlich in dieser Hinsicht ist beispielsweise die in Anm. 25 genannte Skizze zum Problembereich 'Sozialgeschichte der Literatur' (jeweils mit kurzer Präsentation und Diskussion der einschlägigen Ansätze). Von den Auslandsinstituten (neuestens: Washington) gar nicht zu reden. Der Deutsche Germanistenverband hat sich anläßlich seiner Berliner Tagung im Oktober 1987 zu einem erneuten Versuch entschlossen. Im Verlauf der Bielefelder Diskussion - bei der Vorbehalte gegen die mögliche Starre einer Institutionalisierung geäußert wurden — formulierte Reinhart Koselleck einen Modifikationsvorschlag: Ein entsprechendes geisteswissenschaftliches Institut sollte die einzelnen Fächer

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Das Besondere des Allgemeinen

Viertens: Ohne die Initiative der Individuen an den einzelnen Universitäten wird sich an der in manchem prekären Lage der Allgemeinen Literaturwissenschaft nur wenig ändern. Doch auch Änderungen zum Positiven können von außen behindert oder erleichtert werden. Hierzu gehört der Zusammenschluß mehrerer einschlägig interessierter Kollegen aus verschiedenen Institutionen, um 'Allgemeine Literaturwissenschaft' (mit 'anrechenbaren' Deputaten) anzubieten. Bei guten amerikanischen Departments of Comparative Literature wirkt eine solche Kooperation in aller Regel höchst belebend, mitunter gewiß auch konfliktreich auf die 'beitragenden' Abteilungen zurück. In der Bundesrepublik wird Allgemeine Literaturwissenschaft immer noch nicht an allen, nicht einmal allen großen Universitäten angeboten. Sie sollte aber angeboten werden, ihres 'Besonderen' wegen.

und Schwerpunkte 'rotieren lassen, etwa nach dem Muster des Bielefelder 'Zentrums für interdisziplinäre Forschung'. Wie immer die Struktur aussehen mag - Probleme der Allgemeinen Literaturwissenschaft in ihrem Verhältnis zu den Einzel-Literaturwissenschaften bieten sich für ein eventuelles Programm als vorrangig an.

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Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur *

Auch Texte haben ihre Geschichte. Was sie aussagen können und tatsachlich aussagen, reichert sich an, aber verändert sich auch mit der Zeit. Diese Erkenntnis könnte uns mutlos machen, jemals etwas Gültiges über ein Stück Literatur sagen zu können, wenn die Geschichte eines Textes, seine Aufnahme und Weiterwirkung unter Lesern und Hörern, nicht selbst zu den wissenswerten und auch erforschbaren Eigenschaften von Literatur gehörte. Lassen wir uns darauf ein, die Geschichtlichkeit eines Textes ernst zu nehmen und seine Konkretisierung durch unsere Lektüre oder unser Zuhören als eine Verschmelzung verschiedener Erfahrungshorizonte zu betrachten, so haben wir Aussicht, nicht nur über den Autor und seine Welt, sondern auch über uns selbst dabei Wichtiges zu erfahren. Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Textes, von der hier die Rede sein soll, erhält ihren Anstoß aus der Tatsache, daß literarische Werke in einmal formulierten Bildern, Modellen und Symbolen auch später mitunter eine Antwort auf konkrete Lebensfragen zu geben vermögen. Auch übrigens und gerade dann, wenn ihr Thema, die Figuren, mit denen sie zu uns sprechen, oder gar der Autor selbst schon ein fester Bestandteil unserer Geschichte, ein Mythos, geworden sind. Das gilt ζ. B. für Goethe und seinen Werther, von dem in diesem Funkkolleg schon oft die Rede war. A: Ulrich Plenzdorfs jugendlicher Ausreißer Edgar Wibeau, der seinen WertherText erst in die Ecke wirft und dann in drei Stunden ausliest, erfährt nicht nur die prinzipielle Mehrdeutigkeit von Literatur. Er macht diese Erfahrung zugleich unter dem Aspekt der Geschichtlichkeit, sowohl der Textentstehung wie der Textlektüre. Für jede Textrezeption als einen Akt des Verstehens stellt sich das Problem der Geschichtlichkeit immer in mindestens zweifacher Hinsicht. Das Werk, als von einem bestimmten Autor verfaßtes Werk, ist bestimmten geschichtlichen Bedingungen unterworfen. Und eben-

*

Zuerst erschienen in: Funk-Kolleg Literatur. Bd. 2. In Verbindung mit Jörn Stückrath hrsg. v. Helmut Brackert u. Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M . 1978, S. 1 3 2 - 1 4 8 .

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Methodenreflexion

B:

A:

B: A:

so ist es der jeweilige Leser bzw. Rezipient; selbst wenn er der unmittelbaren Zeitgenossenschaft des Autors angehört, begegnet er sich mit dem Autor noch keineswegs notwendig in der geschichtlichen Qualität seiner Vorverständnisse. Aber es stellt sich doch die Frage, ob alle die hier angedeuteten Thesen: von der Mehr- oder gar Vieldeutigkeit der Texte, von der Geschichtlichkeit der Textproduktion und des Textverstehens - ob diese Thesen nicht geradewegs in den Relativismus oder Subjektivismus führen. Schon der Goethesche Werther liest ja nicht 'den' Homer, sondern 'seinen' Homer. Kann da nicht jeder Leser prinzipiell jedes Werk beliebig verstehen, so wie es ihm gerade gefällt? Wieso brauche ich dann noch auf die Geschichtlichkeit von Literatur zu reflektieren? Die Frage ist natürlich oft schon gestellt worden und enthält eine ganze Reihe wichtiger Teilprobleme. Ein Aspekt ist jedoch in unserem Zusammenhang vor allem zu betonen. Wenn die Hermeneutik im Sinne HansGeorg Gadamers von der Geschichtlichkeit sowohl der Werke wie ihrer Interpreten spricht,1 dann ist die geschichtliche Bedingtheit nicht etwa bloßes Hindernis. Sie bedeutet im Gegenteil gerade Verbindung, Brücke; denn auf irgendeine Weise ist der Text mir ja überliefert worden, zugänglich geworden. Und vor allem: Geschichtliche Bedingtheit ist Bedingtheit durch etwas nicht bloß Individuelles oder Privates. Bezieht sich dies auf das Medium der Sprache, in dem sich Literatur notwendigerweise bewegt? Zunächst in der Tat auf die Sprache als auf ein überindividuelles Zeichensystem, das sich geschichtlich wandelt. Und der junge Edgar Wibeau hat ja mit der geschichtlichen Andersartigkeit der Sprache des Werther und mit dessen besonderem Stil gelegentlich seine Schwierigkeiten: D a s w i m m e l t e n u r so v o n H e r z u n d Seele u n d G l ü c k u n d T r ä n e n . Ich k a n n m i r nicht vorstellen, d a ß welche so geredet h a b e n sollen, a u c h nicht vor drei J a h r h u n derten.2

Trotzdem versteht er das Werk nach und nach durchaus, vor allem versteht er etwas, das mit seiner gesellschaftlich geprägten Lebenspraxis und mit seiner sehr persönlichen Erfahrung zusammenhängt: die eigentliche Liebesproblematik des Werther. Trotz der von Edgar empfundenen — aber natürlich

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 3 1 9 7 2 ( ' i 9 6 0 ) , bes. S. 250ff. Ulrich Plenzdorf: Die neuen Leiden des jungen W. Frankfurt a. M . 1976 (Rostock 1973), S. 37.

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Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur

so nicht von ihm bezeichneten - 'historischen Differenz' vermittelt ihm das Werk etwas, das ihn persönlich betrifft und doch zugleich etwas nicht nur Persönliches ist. B: Das sogenannte 'Allgemeinmenschliche' (wenn das hier gemeint sein sollte) genügt aber bei einem so schwierigen und vielschichtigen Werk wie Goethes Werther als Brücke oder Identifikationspunkt sicher nicht. A: Nein, Edgar Wibeau, einmal als empirische und nicht als fiktive Person genommen, steht zunächst in einem Zusammenhang, den man die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Werkes nennt. Er ist ja nicht der erste, der von Goethes Werther angesprochen wird. Gerade dieses Werk hat bekanntlich schon auf viele Zeitgenossen eine ungewöhnlich intensive Wirkung ausgeübt, die sich breit dokumentieren läßt. Manche jugendlichen Leser wurden ja sogar zum Selbstmord getrieben, eine Wirkung, wie sie massiver und fundamentaler kaum zu denken ist. Außerdem — und dies bleibt festzuhalten — haben wir es bei Goethes Werther mit einem Werk zu tun, das seit seiner Veröffentlichung, bis in die Gegenwart hinein, sehr kontinuierlich gelesen worden ist, zum Teil sogar in den Schullektüre-Kanon aufgenommen wurde. B: Es ist zuzugeben, daß die Wirkungsgeschichte von Goethes Werther durchaus interessant und ein lohnender Gegenstand auch für literaturhistorische Forschung ist. Aber nicht alle Werke haben eine so vielfältige und relativ gut dokumentierbare Wirkungsgeschichte. Wird man bei der Wirkung geschichtlicher Texte nicht zuletzt doch wieder auf das verwiesen, was man anthropologische Konstanten nennt? Liebesproblematik gehört sicher dazu und spricht alle Zeiten an; schon der Kampf um Troja wird ja wegen einer schönen Frau geführt. A: Hier müßte man zurückfragen, ob die Bezugnahme auf menschliche Grunderfahrungen schon genügt, um dem Kunst-Charakter des Werther gerecht zu werden und gerade das Spezifische auch seiner Wirkung zu erklären. Aber bleiben wir einmal auf dieser kategorialen Ebene der Lebenspraxis. Wenn man von 'anthropologischen Konstanten' spricht, dann ist damit notwendigerweise auch die Frage nach den sozialen, ökonomischen, politischen Variablen gestellt. Entweder klammere ich sie bei der Lektüre geschichtlicher Texte aus (und versperre mir dadurch oft schon das einfache Verständnis etwa der Handlung und ihrer Umstände), oder ich versuche, sie mir mit mehr oder weniger Kompetenz zu deuten bzw. in ihrer Historizität zu rekonstruieren. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte ist, wenigstens zu einem wesentlichen Teil, immer auch die Geschichte solcher Rekonstruktionsakte. Und kein Leser geht an die Lektüre literarischer Texte heran, ohne auf ir313

Methodenreflexion

B:

A:

C:

A:

gendeine Weise in diesem Rekonstruieren vorgeprägt zu sein; das gilt für den professionellen Literarhistoriker wie für den sogenannten naiven Leser. Das würde also bedeuten, daß nicht nur im persönlichen, 'menschlichen Angesprochenwerden durch ein literarisches Werk ein stark subjektives, individuelles Moment gegeben ist, wie bei Werthers Homer-Lektüre und bei Edgar Wibeaus Werther-Lektüre. Gerade auch die sozialen Variablen im weitesten Sinn sind zusätzlich der individuellen Interpretation ausgesetzt. Dann aber wird die Einbeziehung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Werks in die Perspektive der Textlektüre erneut eine Konfrontation mit Beliebigkeiten. Eben dieser Befürchtung widerspricht sehr deutlich die konkrete Erfahrung mit richtig verstandenem rezeptions- und wirkungsgeschichtlichem Arbeiten. Das überpersönliche Moment in der Geschichtlichkeit des Verstehens, von der zu Anfang die Rede war, manifestiert sich immer wieder in Struktur und Qualität des geschichtlichen Erfahrungshorizonts, der jedem individuellen Lesen vorgegeben ist. Wie stark hier der Kunstcharakter, die ästhetische Qualität eines Werks funktional mit den sozialen und politischen Variablen des jeweiligen geschichtlichen Horizonts verknüpft sind, läßt sich besonders gut an der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Heinrich Manns Der Untertan zeigen. Dieser Roman von dem schwächlichen Fabrikantensohn Diederich Heßling, der als wilhelminischer Muster-Untertan planmäßig und skrupellos zum mächtigen bürgerlichen Tyrannen aufsteigt und seinem angebeteten Kaiser immer ähnlicher wird, bis schließlich zur feierlichen Einweihung eines Kaiserdenkmals, über der sich ein apokalyptisches Gewitter entlädt dieser satirische Roman, an dem Heinrich Mann seit 1906 arbeitete, wurde wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fertiggestellt. Er erschien dann zunächst in Fortsetzungen als Vorabdruck in einer Münchner Illustrierten, doch bei der Mobilmachung wurde die Veröffentlichung von der Redaktion aus Zensurgründen gestoppt. 1916 gab es einen Privatdruck in 10 Exemplaren; erst im Dezember 1918, nach Kriegsende, kam der Roman als Buch an die Öffentlichkeit und erreichte rasch eine Auflagenhöhe von nicht weniger als 100.000 Stück. Von den Nationalsozialisten später als Werk des emigrierten Antifaschisten natürlich verboten, fand Der Untertan nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik erst allmählich wieder Interesse. In der DDR ist er bereits seit längerem Pflichtlektüre aller Schüler der 9. Klasse. Eine recht eigentümliche Entstehungs- und Publikationsgeschichte zweifellos, schon mit ersten Hinweisen auch auf die eigentliche Wirkungsgeschich-

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Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur

te: konzipiert als ein Roman der wilhelminischen Ära, zum Teil auf Ereignisse der 90er Jahre zurückgreifend, doch auch solche aus der unmittelbaren Entstehungszeit aufnehmend, mit Arbeiterunruhen, Reichstagswahlen, Gesellschaftsskandalen, mit Berlin als Schauplatz, aber auch mit der fiktiven Provinzstadt Netzig, und mit Floskeln und Zitaten aus Reden Kaiser Wilhelms II. Vieles davon ist heute in seinem direkten Hinweis-Charakter kaum noch gegenwärtig, es bedarf im Sinne der eben erwähnten politischsozialen Variablen des historischen Kommentars. Und trotzdem, als 1969 die Zeitschrift Akzente eine Umfrage zu Heinrich Mann veranstaltete unter dem Titel Bis zu mir reichende Wirkungen, da schrieb Heinrich Boll: Im Untertan ist die deutsche Klein- und Mittelstadtgesellschaft bis auf den heutigen Tag erkennbar. Es bedarf nur weniger Veränderungen, um aus diesem scheinbar historischen Roman einen aktuellen zu machen: den Mißbrauch alles 'Nationalen', des 'Kirchlichen, der Schein-Ideale für eine handfest-irdisch-materielle bürgerliche Interessengemeinschaft [...]. Ich war erstaunt, als ich den Untertan jetzt wieder las, erstaunt und erschrocken: fünfzig Jahre nach seinem Erscheinen erkenne ich immer noch das Zwangsmodell einer untertänigen Gesellschaft. 3

B: Für rezeptions- und wirkungsgeschichtliche Betrachtungsweise ist dieses Dokument in mehrfacher Hinsicht besonders aufschlußreich. Die dezidierte Gegenwartsperspektive des Rezipienten tritt in einer Reihe von Formulierungen deutlich hervor. Die „Veränderungen", von denen Boll spricht, betreffen eben jene politisch-sozialen Variablen, auf deren genauer Zeichnung gerade der Stil des Romans und seine decouvrierende Schärfe beruhen. Das Ganze aber erscheint noch heute als ein „Modell". Jede realistisch herausgearbeitete Einzelheit - das würde eine genauere Interpretation des Romans zeigen können — wird transparent auf ein „moralistisches System" hin, wie das neuerdings genannt wurde. 4 Die erzählerischen Konzentrationspunkte des sukzessiv entfalteten Modells, etwa die Denkmalseinweihung am Schluß, sind symbolisch gestaltet. In der Modellhaftigkeit dieses ersten großen politisch-satirischen Romans in Deutschland liegt das Potential, das diesen seinerzeit so gegenwartsnah und satirisch treffenden Text in immer neuen, auch politischen Erfahrungshorizonten als aktuell erscheinen lassen konnte. Natürlich waren, als Der Untertan nach dem Ersten Weltkrieg erschien, politische Rechte und politische Linke, nicht zuletzt wegen des sensationellen Publikumserfolgs, in ihrer Bewertung sofort extrem gespalten.

3 4

In: Akzente 16 (1969), S. 403. Hanno König: Heinrich Mann. Dichter und Moralist. Tübingen 1972, S. 135ff.

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Methodenreflexion C: Kurt Tucholsky schrieb 1919 in der Weltbühne: Dieses Buch Heinrich Manns, heute, gottseidank, in aller Hände, ist das Herbarium des deutschen Mannes [...]. Der Roman wurde abgeschlossen Anfang Juli 1 9 1 4 [...] überraschend ist die Sehergabe, [...] haarscharf ist das Urteil, bestätigt von der Geschichte. 5

Und Werner Mahrholz, wie Thomas Mann und andere in dem Werk nur Asthetizismus und Haß ohne Moral erkennend, muß immerhin zugestehen, daß Heinrich Mann einen nicht gewöhnlichen Scharfsinn bewiesen hat. Die Entwicklung hat ihm recht gegeben, zum mindesten für den Augenblick.15

A: Neben der sehr begrenzten Frühwirkung vor Ausbruch des Krieges war dies nur erst die zweite wirkungsgeschichtliche Stufe auf politischem Hintergrund. Die dritte folgte mit dem Erstarken und schließlich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Jetzt auf einmal erschien der gehorsame und fanatisierbare Untertan als der Prototyp des Nationalsozialisten, ja der schwächliche Diederich Heßling geradezu als Antizipation Hitlers. C: Heinrich Mann hat 1943 selbst geäußert, er habe lediglich „Fühlung für die Erscheinungen" gehabt.7 Aber auf eine mögliche Prophetie als solche kommt es in unserem Zusammenhang auch nicht einmal an. Entscheidend ist der im Roman und in der satirisch-symbolischen Darstellungsform angelegte Modellcharakter. Herbert Jhering schrieb 1951 zum Untertan die bedenkenswerten Sätze: Wieder haben wir 1 9 1 8 nur die Satire gelesen und 1933 den blutigen Ernst erlebt. Wir können nicht sagen, daß unsere Dichter geschlafen haben, wohl aber, daß wir nicht lesen konnten. 8

A: Damit sind wir beim Grundproblem unseres Beispiels. Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Untertan liegt ja noch wesentlich komplizierter, als Jhering sie darstellt, zumal wenn man die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, mit Bundesrepublik und DDR, hinzunimmt. Aber Jhering trifft den Kern, wenn er die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dieses Romans als ein Problem des Lesens begreift.

5 6 7

8

Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz J. Raddatz. Bd. 2. Reinbek b. Hamburg 1975, S. 63f. In: Das literarische Echo 21 (1918/19), S. 519. In seiner Kurzen Selbstbiographie, als Faksimile abgedruckt bei Herbert Jhering: Heinrich Mann. Berlin 1951, S. 141-147; hier: S. 141 (Transkription bei Andri Banuls: Heinrich Mann. Le po£te et la politique. Paris 1966, S. 619). Herbert Jhering: a. a. O., S. 64.

316

Rezeptions- und Wirkungsgeschichte

von Literatur

B: Wieso des Lesens? Wandert hier nicht ein Werk lediglich durch die verschiedenen Stufen einer äußeren politischen Entwicklung hindurch, bleibt aber selbst doch an die Umstände seiner Entstehung und an die sehr expliziten Kritik- und Bezugspunkte der wilhelminischen Entstehungszeit fixiert? A: Sicher ist jeder, der die Geschichtlichkeit literarischer Texte ernst nimmt, zu einer möglichst genauen Rekonstruktion dieser Entstehungsbedingungen geradezu verpflichtet. Entscheidend für das literarische Kunstwerk ist aber nicht diese Konstellation an und fur sich, sondern die Weise, wie auf ihrer Basis und mit Hilfe gerade der so konkreten Details ein Modell, vielleicht eine symbolische Darstellung, jedenfalls etwas Paradigmatisches entsteht. Das literarische Werk entfaltet sein 'Sinnpotential', von dem Hans Robert Jauß spricht, 9 erst in seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Und deswegen muß sie zu einem Aspekt des geschichtlich orientierten Lesens selbst werden. B: Das klingt fur sich genommen vielleicht plausibel. Aber ist nicht Heinrich Manns Untertan, als politischer Roman, ein sehr einseitig ausgewähltes Beispiel? Bleibt nicht diese in der Tat auffällige, ja beklemmende 'Einlösung' des Romans durch die geschichtliche Entwicklung an seinen politischen Charakter gebunden und an die relativ klar ablesbaren Stufen der politischen Geschichte? A: Es sei zugegeben, daß mit dieser fast präzisen Deutlichkeit die Ausfaltung von Sinnpotential in der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte nicht für alle Werke aufgezeigt werden kann. Aber Beispiele, soweit sie als Beispiele erkennbar sind, dürfen ja besonders deutlich sein. Und vor allem: Der 'politische' Aspekt, wenn man ihn so isoliert einmal fassen will, ist ja keineswegs mit dem Sinnpotential dieses Romans schlechtweg gleichzusetzen - Sinnpotential jedenfalls so verstanden, daß nicht bloß Nebensächliches beliebig neu angeleuchtet wird, sondern daß ein Komplex zentraler Sinn-Möglichkeiten sich entfaltet. Bei der eben gegebenen knappen Erläuterung der satirischen Darstellungsweise und der symbolischen Qualitäten wurde gerade auf den Modellcharakter der erzählerischen Fiktion abgehoben. Und dieser geht natürlich in einem vordergründig gefaßten 'politischen' Aspekt nicht auf. Solchen Modellcharakter hat auch etwa der Mythos, das Mythendrama - wir werden gleich darauf kommen - oder etwa die 'Ursituation' eines Liebesgedichts.

Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, in: H. R. ] . : Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M . 1970, S. 1 4 4 - 2 0 7 ; hier: S. 186.

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Methoden reflexion Β : Dann kann also die Aufarbeitung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte eines Werks seine Interpretation gewissermaßen ersetzen? Oder wie ist sonst dieses Reden von Modell, Sinnpotential usw. zu verstehen? A: Damit ist in der Tat ein Zentralproblem der neueren Forschungsdiskussion angesprochen, auf deren Darstellung hier bisher bewußt verzichtet wurde. Der fast schon uferlos und unüberschaubar gewordene Streit um die Bedeutung der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte für die Beschäftigung mit den literarischen Werken selbst hat natürlich bestimmte wissenschaftsgeschichtliche Gründe und Hintergründe, deren wenigstens ungefähre Kenntnis zum Verständnis notwendig ist. B: Warum überhaupt die hier mehrfach verwendete Doppelformel 'Rezeptions- und Wirkungsgeschichte'? A: Weil beide Begriffe, 'Rezeption' und 'Wirkung', eingeführt sind, weil sie oft praktisch im gleichen Sinn verwendet werden und weil das mit ihnen Gemeinte tatsächlich funktional eng zusammenhängt. Hans Robert Jauß versuchte vor kurzem eine Klärung folgendermaßen: Wirkung benennt [...] das v o m Text bedingte, Rezeption das v o m Adressaten bedingte Element der Konkretisation oder Traditionsbildung. D i e Wirkung eines Kunstwerks setzt den Anstoß (oder: die Ausstrahlung) des Textes, aber auch die Disposition (oder: die Aneignung) des Adressaten voraus. 1 0

C : Hierzu zwei Anmerkungen. Mit dem auch von anderen Theoretikern häufig verwendeten Begriff des 'Adressaten' — wobei meist einfach der Rezipient, der Leser, der Zuschauer gemeint ist - schafft man sich unnötigerweise zusätzliche Probleme. Denn der Adressat ist nach üblichem Sprachgebrauch der vom Autor intendierte Rezipient: eine zwar für den Produktionsprozeß wichtige, aber im Gesamtverlauf der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte doch sehr begrenzt wichtige Größe. Man sollte also generell vom Rezipienten oder Leser und nur im zusätzlich präzisierten Sinn vom Adressaten sprechen. Und die zweite Anmerkung: Mit 'Konkretisation' nimmt Jauß einen Zentralbegriff des polnischen Philosophen Roman Ingarden auf, der damit die jeweilige ästhetische Einstellung gegenüber dem literarischen Kunstwerk meint, aber zugleich auch die jeweilige Ausfüllung der sogenannten Unbestimmtheitsstellen im Kunstwerk. 11 Solche Unbestimmtheitsstellen, von Wolfgang Iser neuerdings Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode, in: neue hefte für philosophie 4 (1973), S. 1-46; hier: S. 33 (jetzt auch in: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. v. Rainer Warning. München 1975, S. 353-400; hier: S. 383). Roman Ingarden: Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968, S. 49ff.

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Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur

als 'Leerstellen' gefaßt,12 machen eben jenen Spielraum in der Rezeption aus, der oben bei dem Modellcharakter des literarischen Werks vorausgesetzt wurde. A: Aber zurück zur Unterscheidung von Rezeption und Wirkung. Gerade wenn das Verhältnis zwischen Werk und Rezipient, so wie Gadamer es deutet,13 ein dialogisches ist, muß die Trennung in textbedingt und rezipientenbedingt (oder auch von textseitig und publikumsseitig) oft bloß hypothetisch, ja vielleicht sogar irreführend bleiben. B: Ist sie das aber notwendigerweise? A: Das vielleicht nicht. Aber wenn eine Grundvoraussetzung, ein Axiom des sogenannten rezeptionsästhetischen Ansatzes darin besteht, daß es einen Text 'an sich', einen Text mit selbstseiender Substanz nicht gibt, sondern daß er nur ist, wenn und insofern er rezipiert wird: Dann erscheint eine Festlegung von Wirkung als textbedingt und von Rezeption als adressatenbedingt etwas bedenklich. Beides ist doch nur in einem und demselben dialogischen Prozeß faßbar. Und daher ist, wenn man schon eine Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen treffen soll, eine Aufgliederung in Phasen wohl sinnvoller. Rezeption ist dann der jeweilige, konkretisierende Text-Vollzug durch Leser, Zuschauer, Hörer. Und Wirkung umfaßt das Ganze der den jeweils aktuellen Rezeptionsvorgang überdauernden Momente. B: Eine strikte Trennung dürfte aber doch auch hier kaum sinnvoll und möglich sein. Sowohl funktional als auch in der zeitlichen Abfolge bestehen zwischen beidem doch fließende Übergänge. A: Zweifellos. Und eine jedesmalige Strapazierung dieser beiden Kategorien würde wenig erbringen und eher hinderlich sein. Doch um an einem wiederum herausgehobenen Beispiel zu illustrieren, was gemeint ist: Die Selbstmorde, die durch die Lektüre von Goethes Werther ausgelöst wurden, gehören zweifellos zur Wirkung des Textes. Aber auch Erschütterung, Tränen beim Lesen eines Romans oder bei der Aufführung einer Tragödie sind solche Wirkungen. Und hier wird wieder klar, daß es sich im Grunde nur um verschiedene Aspekte eines komplexen Vorgangs handelt. Sagt man verkürzend 'Rezeptionsgeschichte' oder 'Wirkungsgeschichte', so sollte der jeweils andere Aspekt immer mitgedacht werden. Manche belastende Verwirrung in der Forschungsdiskussion ließe sich dann vermeiden. B: Ist denn dieses Eingehen auf Rezeptions- und Wirkungsgeschichte so neu? Hat nicht zum Beispiel die Forschung zum sogenannten 'Nachleben' der

12

Die jüngste Darstellung: Wolfgang Iser: D e r Akt des Lesens. T h e o r i e ästhetischer W i r k u n g . M ü n c h e n 1 9 7 6 , S. 2 8 4 f f .

13

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und M e t h o d e (wie A n m . 1), bes. S. 3 4 4 f f .

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A:

B: A:

C:

antiken Autoren schon eine lange Tradition? Und wie steht es etwa mit den großen Darstellungen aus dem George-Kreis, die sich mit dem 'Ruhm', der 'Gestalt', dem 'Bild' eines Autors befassen, etwa Friedrich Gundolfs Bücher über Caesar, Shakespeare, Goethe? Das sind, von heute her gesehen, wichtige Vorläufer, an denen man vieles auch kritisch - lernen kann. Überhaupt ist der Wirkungsaspekt von Literatur, als Theorem genommen, keineswegs so neu. Praktisch die gesamte antike Literaturtheorie in ihren verschiedenen Entwicklungsstufen, vom Selbstverständnis der homerischen Sänger über Aristoteles bis zu Horaz und Quintilian, ist im Grunde wirkungsästhetisch orientiert; das bekannteste Beispiel ist die aristotelische Lehre von der Katharsis, von der Reinigung durch die Tragödie (und von der aristotelischen Energeia leitet sich nicht zufällig auch unser Begriff der 'Wirkung' her). Warum dann aber dieses häufig zu beobachtende emphatische, engagierte Verteidigen des Wirkungsaspekts von Literatur bei vielen Theoretikern? Zwischen uns und etwa der aristotelischen Position - jetzt sehr vereinfachend gesprochen - steht jene neuerdings vielerörterte Entwicklung vor allem des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die im Zuge der Herausbildung einer bürgerlichen literarischen Kultur zu den bekannten Postulaten von der Zweckfreiheit, ja dem selbstgenügsamen schönen Schein der Dichtung führte; und gewissermaßen das Komplement oder auch die Prämisse hierzu war das autonome schöpferische Genie. Für die Methodik vieler literaturwissenschaftlicher 'Schulen' — auch hier muß sehr grob vereinfacht werden hatte das die Konsequenz, daß alle gesellschaftlichen Bedingungs- und Wirkungsbezüge weitgehend ausgeklammert wurden und der Produktionsaspekt, der genetische Aspekt von Literatur absoluten Vorrang erhielt. Die Schule des New Criticism und die sogenannte 'werkimmanente Interpretation' etwa gehören gewissermaßen zu den Voraussetzungen, zu der Folie, von der sich die neue Fragerichtung, oft polemisch, erst absetzen mußte. Die Impulse wiederum kamen aus ganz verschiedenen Richtungen, aus Literatursoziologie, marxistischer Erbe-Diskussion, und Jauß nahm sehr explizit zugleich Anregungen aus dem Strukturalismus, dem Formalismus und der Hermeneutik-Diskussion auf. Uber diese wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte orientiert nach wie vor recht gut der 1970 zuerst erschienene Beitrag von Karl Robert Mandelkow: Probleme der Wirkungsgeschichte.14 Aktueller und wesentlich differenzierter, Karl Robert Mandelkow: Probleme der Wirkungsgeschichte, in: Jahrb. f. Internat. Germanistik 2 (1970), S. 71-84 (jetzt auch in: Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente zur

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Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur

ausführlicher ist die Einfuhrung von Gunter Grimm zu dem von ihm herausgegebenen Band Literatur und Leser}"* Auf beide muß hier, der Knappheit halber, generell hingewiesen werden. B: Daß die skizzierten Einseitigkeiten der prinzipiellen Literaturauffassung und der literaturwissenschaftlichen Methodik durch das Ernstnehmen des Wirkungsaspekts korrigiert werden mußten, leuchtet ein. Das Beispiel von Heinrich Manns Untertan hatte seinen Akzent vor allem auf der Wirkung bei der Kritik und beim Publikum, dies im Horizont der geschichtlichen Erfahrung. Aber es gibt doch auch das, was man früher wohl die 'Einflußgeschichte' nannte, nämlich das innerliterarische Phänomen des Einflusses eines Werks oder Autors auf andere. Plenzdorfs Neue Leiden des jungen W. wären ein solches Beispiel, von Goethes Werther her gesehen. A: Gerade dieses Beispiel hat ja aber zugleich gezeigt, daß mit 'Einfluß' oder, in umgekehrter Blickrichtung, mit Abhängigkeit', das Wesentliche noch gar nicht erfaßt ist. Vielmehr geht es dort um das, was man 'produktive Rezeption' nennen kann (von Plenzdorf her gesehen), und vor allem: um die exemplarische wirkungsgeschichtliche Begegnung verschiedener historischer Horizonte. Es ist ein besonders herausgehobenes Beispiel dessen, was Gadamer und Jauß in Anlehnung an Husserl als 'Horizontverschmelzung' bezeichnen.16 Auf den ersten Blick ist es eine innerliterarische Begegnung, aber es liegt sehr wesentlich am Interpreten, ob er hier wirkungsgeschichtliche Befunde transparent zu machen versteht auf umfassendere geschichtliche Prozesse hin. Ein aus verschiedenen Gründen besonders ergiebiges Exempel hierfür ist das Mythendrama und hier speziell der Mythos von Elektra. C: Die Überlieferung der antiken, griechischen Tragödie bietet uns den Glücksfall, daß wir von den drei großen attischen Tragikern Aischylos, Sophokles, Euripides je ein vollständiges Elektra-Drama besitzen. Als Handlung, als Fabel liegt ihnen derjenige Teil des Atridenmythos zugrunde, der als Kern die Rache für den Mord an dem Vater Agamemnon enthält. Der heimkehrende Bruder Orest wird von Elektra dazu gebracht, die Mutter Klytämnestra (oder auch: Klytaimestra) und deren Liebhaber Ägisth zu töten.

empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung. Hrsg. v. Peter Uwe Hohendahl. Frankfurt a. M. 1974, S. 8 1 - 9 6 ) . Gunter Grimm: Einführung in die Rezeptionsforschung, in: Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Hrsg. v. G. G. Stuttgart 1975, S. 11—84. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode (wie Anm. 1), S. 186f.; Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation (wie Anm. 9), S. 173ff.

321

Methodenreflexion Bei Aischylos handelt es sich um das mittlere Stück der trilogischen Orestie, genannt Choephoren (Grabesspenderinnen), aufgeführt im Jahre 458 v. Chr. Bei Sophokles und Euripides sind es Einzelstücke mit dem identischen Titel Elektra, um die Jahre 415/413 v. Chr. Uber die zeitliche Priorität der beiden Dramen wird seit langem gestritten, die Frage läßt sich im wesentlichen nur nach inneren Indizien diskutieren; sie muß hier offen bleiben. Klar ist jedoch, daß beide Stücke in ihrer Deutung und Gestaltung dasjenige von Aischylos voraussetzen, und zweifellos war es zumindest dem athenischen Kennerpublikum ebenfalls vertraut. A: Soweit kurz die wichtigsten Daten. Die Konstellation ist interessant genug, wird aber in ihrer vollen Bedeutung erst erkennbar, wenn man mitbedenkt, daß alle drei Stücke wiederum auf dem gemeinsamen Hintergrund der nichtdramatischen Mythen-Überlieferung zu sehen sind; und auch hier lagen offenbar schon gewisse Varianten der Handlung und ihrer Deutung vor. Entscheidend dabei ist, daß der rächende Muttermord seine ursprüngliche Legitimation nur im religiösen, im göttlichen Sinnhorizont gewinnt. Und deutlich wird in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Tochter Elektra als der Treibenden, während der Sohn Orest mehr der Ausführende ist. Eine rezeptionsgeschichtliche Interpretation der Stücke von Sophokles und Euripides hat also mindestens zwei hintereinander gestaffelte Horizonte zu berücksichtigen: den wesentlich religiösen, wie er durch den Mythos gegeben ist, und den auch 'innerliterarischen' Horizont, der durch den Bezugspunkt Aischylos und durch die frühere der beiden Elektren repräsentiert wird. Daß jedoch auch diese Konstruktion nur sehr vorläufig und künstlich ist, wird sich gleich zeigen. C: Bei Aischylos schreckt Orest zunächst vor der grausigen Tat zurück, und selbst als er auf Betreiben Elektras Agisth schon getötet hat, bringt ihn erst das Lustmotiv im Gattenmord der Mutter dazu, den Vater zu rächen. Im dritten Stück der Trilogie muß er vor dem Areopag, dem obersten Gerichtshof, entsühnt werden; und bei der Abstimmung demonstriert die Stimmengleichheit, daß nur die Götter ihn letztlich freisprechen können. Bei Sophokles steht Elektra, als Unbeugsame, klarer im Mittelpunkt, wie schon die Kontrastierung mit der neu als Figur eingeführten Schwester Chrysothemis zeigt, die in ihrer Haltung schwankend ist und zum Kompromiß neigt. Klytämnestra ist gegenüber Aischylos noch grausiger, wollüstiger gezeichnet, und nach den beiden Rachemorden wird den Geschwistern ein friedliches und glückliches Leben geschenkt. Die Euripideische Elektra wirkt am Mord sogar aktiv mit, ihre Rachewut ist ins Unmäßige gesteigert, während Klytämnestra durchaus auch weiche, ja mütterliche Züge trägt. Orest und Elektra 322

Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur

A:

B:

A:

B:

A:

bereuen nach der Tat, und erst das nachfolgende Dioskuren-Urteil setzt mit ostentativer Mechanik einen vorläufigen Schlußstrich. Die Polemik gegen Aischylos und die durch ihn repräsentierte religiöse Sinndeutung ist evident, bis in einzelne Formulierungen hinein. Möglicherweise wird auch Sophokles noch mitgemeint. Mit dem Etikett 'innerliterarisch' ist dieser Ausschnitt, einmal als Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Aischylos-Stücks gefaßt, kaum adäquat bezeichnet. Nicht nur der gemeinsame mythisch-religiöse Horizont wird dabei vernachlässigt, auch das für die Zeitgenossen überaus brisante kritische Moment. Euripides erscheint hier als der Aufklärer, und nicht nur Aristophanes, der in den Fröschen Aischylos und Euripides miteinander fiktiv konfrontierte, sah in diesem Aufklärertum auch ein eminent politisches Problem; Euripides steht hier zugleich als Repräsentant für eine ganze Bewegung, in gewisser Weise durchaus vergleichbar mit der frühen Rezeption Heinrich Manns und seines Untertan-Romans. Würde das, noch einmal auf die Elektra-Darstellung des Aischylos zurückbezogen, also bedeuten, daß hier Euripides etwas vom Sinnpotential oder gar 'das' Sinnpotential des Aischylos-Dramas aktualisiert? Oder wie anders soll man das unter dem Aspekt der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte verstehen? So kann man es durchaus fassen. Euripides aktualisiert das bei Aischylos deutlich erkennbar gestaltete Moment des Zögerns, des Schwankens — also ein Moment von Spielraum —, und er radikalisiert es zugleich. Aber man muß noch weiter zurückgreifen. Sinnpotential steckt ja bereits in der Modellhaftigkeit des vorliterarischen Mythos, es steckt vor allem in der Problemspannung des Muttermordes. Und hier kommen wir vielleicht sogar an den Kern, den Wesenskern jenes Phänomens heran, das sich mit der ungeheuren Breite und Vielfalt der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte antiker Mythen in der Weltliteratur darbietet. Die verschiedenen modernen Elektra-Darstellungen, von Hofmannsthal, O'Neill, Giraudoux, Sartre, Hauptmann und anderen, lassen sich aber doch wohl nicht mehr in religiösen Rezeptionshorizonten deuten. Bei Gerhart Hauptmann etwa ist das so völlig nicht auszuklammern, aber sicher spielt generell das 'Innerliterarische' im engeren Sinn eine wichtige Rolle. Man knüpft an bestimmte literarische Gestaltungen an, setzt sich von anderen ab. Uberall jedoch ist als Hintergrund, ja besser noch: als Ermöglichungsgrund von Rezeption und moderner Gestaltung das Modellhafte des Mythos selbst mit wirksam. Das gewiß problematische und mißverstehbare, oben schon angesprochene anthropologische oder auch archetypische Moment ist in der Wirkungsgeschichte der Mythen und der Mythendramen 323

Methodenreflexion

B: A:

B:

A:

nicht einfach fein säuberlich auf die eine oder die andere Seite aufteilbar. Zum Wesen des Mythos gehört, wie Manfred Fuhrmann in Anlehnung an Aristoteles jüngst wieder herausgearbeitet hat, 17 die Wiederholung, die Retraktation. Und er vertrat zugleich die These, daß so, wie sich Euripides zu Aischylos kritisch verhalte, das moderne Mythendrama sich von dem des klassizistischen Humanismus emanzipiere. Das wäre also in der Grundstruktur ähnlich wie die Weise, in der Plenzdorfs neuer Werther den Goetheschen Werther kritisch und variierend rezipiert? Auf dieser prinzipiellen Ebene ist ein Vergleich durchaus sinnvoll, der Gedanke wäre weiterer Reflexion wert. Natürlich kommen im Fall des Werther noch ganz andere wichtige Faktoren der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte hinzu, vor allem die überragende, geschichtsmächtige Gestalt des Autors, also Goethes — und sei es auch dadurch, daß der Mythos Goethe einen kritischen Widerstand hervorruft. Aber dieser Gedanke führt doch zunächst vom literarischen Werk, das uns eigentlich interessiert, weg, zu ganz anderen Fragestellungen, die sich auch etwa im Bereich der sogenannten politischen Geschichte ergeben: Ruhm eines Staatsmanns und dergleichen, auch unabhängig davon, ob er etwas uns heute noch Interessierendes geschrieben hat. Das ist richtig, aber gerade um diese Aspekte hat sich die bisherige Diskussion über Rezeptions- und Wirkungsgeschichte noch viel zu wenig gekümmert. Verständlicherweise und legitimerweise hat sie sich zunächst vor allem auf das Einzelwerk konzentriert, auf seine Appellstruktur und auf sein Sinnpotential, das sich in der Geschichte entfaltet. Aber nicht nur Stoffe und Gattungen etwa können ein für das Einzelwerk bedeutsames 'Eigenleben' entwickeln, können Traditionscharakter annehmen, sondern auch der 'Ruhm', das 'Bild' eines Autors. Und dieses Bild wirkt nun in verschiedenster Weise zurück auf die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der einzelnen Werke. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist Lessing. Schon früh wird dieser Autoritätskritiker par excellence selbst zur kritischen Autorität. Wenige Jahre erst ist er als freier Schriftsteller tätig, da heißt es über den sechsundzwanzigjährigen Lessing: Sagt Er, die Schrift sey gut, so druckt sie jedermann. 1 8

17

18

Manfred Fuhrmann: Mythos als Wiederholung in der griechischen Tragödie und im D r a m a des 20. Jahrhunderts, in: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. v. M . F. (Poetik und Hermeneutik. IV). München 1971, S. 1 2 1 - 1 4 3 . Johann Wilhelm Ludwig Gleim an Karl Wilhelm Ramler, Brief vom 4. 3. 1755, zit. nach: Lessing im Gespräch. Berichte und Urteile von Freunden und Zeitgenossen. Hrsg. v. Richard Daunicht. München 1971, S. 80.

324

Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur

C: Dieses immer stärkere Hervortreten der Persönlichkeit, ihrer Autorität, auch ihres 'Bildes' hat seine vielfältigen Gründe und Aspekte, denen hier nicht weiter nachgegangen werden kann. Schon zu Lebzeiten tritt oft genug das einzelne Werk, das Lessing schreibt und publiziert, hinter dem bleibenden Eindruck der Persönlichkeit zurück. Vollends nach seinem Tode, als im Umkreis der Romantiker, vor allem von Friedrich Schlegel, Lessings Dichtertum bestritten wird zugunsten eines problematischen Kritikertums, schiebt sich der Ruhm oft vor das Werk und seine Leistung: Er selbst war mehr wert, als alle seine Talente. In seiner Individualität lag seine Größe, so heißt es bei Friedrich Schlegel.19 In seinen Werken hörte man mit besonderer Vorliebe auf das sogenannte 'Lessingisieren' der einzelnen Figuren. Und erst recht im Zuge der nationalistischen Vereinnahmung des Helden Lessing, des Reformators, Nationalautors, Befreiers von französischer Bevormundung, bestimmte diese Perspektive auch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Lessingschen Werke,

etwa der Minna von Barnhelm oder der Hamburgischen

Dramaturgie.

Die

Texte wurden damit zugedeckt bis zur Unkenntlichkeit. B: Dann war Franz Mehrings berühmter Versuch einer Destruktion der Lessing-„Legende"20 im Grunde schon ein rezeptions- und wirkungsgeschichtlicher Ansatz? Denn Mehring ging doch erklärtermaßen von den damals gegenwärtigen Deformationen des Lessingbildes aus, sozusagen nach rückwärts in die Zeit Friedrichs des Großen, und zwar in bewußt exemplarischer und auch tendenziöser Absicht. A: So kann man seinen Versuch, mit einigen Einschränkungen, durchaus einmal interpretieren. Und hier, bei der prägenden Rückwirkung des sich verselbständigenden Autorbildes auf die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der einzelnen Werke, wird wohl auch noch einmal klar, wie wenig die Beschäftigung mit Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bloßer Anhang zu der 'eigentlichen' Textinterpretation ist. Nicht nur ist jeder von uns durch bestimmte, geschichtlich gewordene Vorverständnisstrukturen, Lesegewohnheiten usw. geprägt, die vor allem die Schule vermittelt. Auch einzelne Autoren - etwa Goethe, Lessing, Heine - und einzelne Werke werden uns ja

19

Friedrich Schlegel: Ü b e r Lessing ( 1 7 9 7 - 1 8 0 1 ) , zit. nach: Lessing — ein unpoetischer Dichter. D o k u m e n t e aus drei Jahrhunderten zur Wirkungsgeschichte Lessings in Deutschland. Hrsg., eingeleitet u. k o m m e n t . v. H o r s t Steinmetz. Frankfurt a. M . , B o n n 1 9 6 9 , S. 1 6 9 - 1 9 5 ; hier: S. 178.

20

Franz M e h r i n g : D i e Lessing-Legende. Stuttgart 1 8 9 3 . (Neudr. Berlin 1 9 6 3 ; mit Einleitg. v. Rainer Gruenter. Frankfurt a. M . 1 9 7 4 ) .

325

Methodenreflexion

bereits in bestimmten Bildern und Interpretationen vermittelt, die ihre Geschichte haben. Aufgabe des kritischen Umgangs mit Literatur ist es nun nicht, dieses geschichtlich Vermittelte einfach abzuschütteln, um zu den sogenannten 'Texten an sich' vorzustoßen. Sondern das uns Vermittelte ist erst einmal hermeneutisch zu reflektieren. Frühere Deutungen sind prinzipiell zunächst als Konkretisationen von Sinnpotential aufzufassen, so wie bei Heinrich Manns Untertan oder den verschiedenen Gestaltungen des Elektra-Mythos. Selbst das, was sich uns auf den ersten Blick als bloßes TextMißverständnis darstellt, kann auf den zweiten Blick einen wichtigen Hinweis auf Spielräume und Text-Ambivalenzen geben. B: Aber praktische Hilfestellung für ein solches Verfahren gibt es doch bisher noch kaum. Die in so großer Zahl erscheinenden wirkungsgeschichtlichen Dokumentensammlungen zu einzelnen Autoren oder auch zu einzelnen Werken 21 enthalten doch oft: Materialien heterogenster Art: Briefe, Rezensionen, Tagebuchaufzeichnungen, Theaterzettel, Partien aus sogenannten 'beeinflußten' Werken und dergleichen. Sind da nicht nebeneinander ganz verschiedene Geschichten dokumentiert, wie Aufführungsgeschichte, Kritikgeschichte usw.? A: Hier ist die Orientierung in der Tat oft noch schwierig. Insbesondere müssen ja, um die Dokumente angemessen interpretieren zu können, auch Kenntnisse etwa aus der Institutionengeschichte hinzutreten, also Geschichte des Theaters, der Kritik, des Bildungswesens vor allem. Den systematischen Zusammenhang dieser Bereiche haben bereits frühere Kapitel des Funk-Kollegs aufgezeigt: Kommunikative Funktion von Sprache und Literatur und Wer schreibt, wer verbreitet, wer liest Literatur? Eine Literaturgeschichte, die alles dies auch nur einigermaßen zureichend einbezöge, gibt es bis heute nicht. Überhaupt ist die Umsetzung der hier exemplifizierten prinzipiellen Erkenntnisse in Literaturgeschichtsschreibung ein besonders schwieriges Problem. Jauß hat hierfür zunächst die Bildung synchroner Schnitte durch einzelne, ausgewählte Jahre vorgeschlagen22, um auf diese Weise gewissermaßen einen Aufriß der Rezeptions- und Wirkungsbedingungen (wenigstens fur eine bestimmte Zeit) zu gewinnen. Dadurch soll zugleich die sogenannte Rekonstruktion des Erwartungshorizonts historisch abgesichert und präzisiert werden: Erwartungshorizont sowohl für den Autor wie fur das Publikum.

Vgl. vor allem die von Karl Robert Mandelkow herausgegebene Reihe: Wirkung der Literatur. Deutsche Autoren im Urteil ihrer Kritiker. Frankfurt a. M., Bonn 1969ff. (seit 1975: München); außerdem in Reclams Universalbibliothek zu einzelnen Texten die Reihe Erläuterungen und Dokumente (regelmäßig mit Dokumenten zur Wirkungsgeschichte). Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation ( wie Anm. 9), S. 194ff.

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Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur B: Das dazu verfügbare Material, vor allem das literaturbezogene dokumentarische Material dürfte aber doch einer ziemlich starken und wohl auch einseitigen geschichtlichen Selektion unterworfen sein. Und empirisch-sozialwissenschaftliche Rezeptionsforschung, wie sie etwa heute mit Hilfe von Tests und repräsentativen Umfragen möglich ist, bleibt ja für vergangene Epochen ausgeschlossen. A: Das alles sind unbestreitbar noch Hindernisse; zum Teil werden sie es bleiben, zum Teil werden fundierte exemplarische Einzeluntersuchungen zeigen, wieviel unausgeschöpfte materiale und methodische Möglichkeiten es noch gibt. Die Forschung befindet sich hier, was die praktische Erprobung angeht, noch durchaus in den Anfängen. Sicher sollte man die bekannteren, auch in ihrer Rezeptions- und Wirkungsgeschichte besser dokumentierten Werke zunächst in den Vordergrund stellen. Die neuere Diskussion etwa um die Wirkung von Goethes Werther hat zwar manches Modische hervorgebracht, aber doch in diesem Fall auch das kritische Bewußtsein fur das Geschichtliche an dem Werk geschärft. Nicht um eine in sich geschlossene Rezeptions- und Wirkungsgeschichte am bloßen Faden der Sukzession geht es, sondern um das hermeneutische Prinzip des reflektierten Ausgehens vom gegenwärtigen Rezipienten. Wirkungsgeschichte — so hat Gadamer sehr prononciert vertreten — ist nicht eigentlich Gegenstand, sondern Prinzip der hermeneutischen Methode. 23 B: Aber muß man nicht, auch wenn man dieses Prinzip für einleuchtend und seine Befolgung für notwendig hält, doch unterschiedlich vorgehen, je nachdem um welchen Bezugstext es sich handelt und welche rezeptionsund wirkungsgeschichtlichen Dokumente überhaupt zugänglich sind? Wo von einem 'Prinzip' die Rede ist, besteht doch leicht die Gefahr, daß eine Mechanik oder Automatik der Methode entsteht und das Sinnvolle des Ansatzes mehr und mehr zudeckt. A: Gerade um die Vielfalt der Konstellationen und der Aspekte erkennbar zu machen, die in dem Grundansatz 'Rezeptions- und Wirkungsgeschichte' angelegt sind, wurden hier die Beispiele möglichst verschiedenartig ausgewählt. Plenzdorfs neuer Werther, die beklemmende Entfaltung von Sinnpotential des Untertan, die kritische Rezeption des Elektra-Mythos insbesondere bei Euripides, und schließlich die stark personalisierte Wirkungsgeschichte Lessings und seiner Werke: Jedesmal zeigte sich, daß ein vermeintlich direkter Zugriff auf den Text Entscheidendes verfehlt. Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, richtig verstanden und gehandhabt, ist nicht beliebiges Anhängsel oder gar Erschwerung des Verstehens, sondern gerade Zugang zur geschichtlichen Lebendigkeit der Literatur. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode ( wie A n m . l ) , S. 284f.

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Neuphilologische Rezeptionsforschung und die Möglichkeiten der Klassischen Philologie *

Seit vor ungefähr einem Jahrzehnt die literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung sich als eine besondere Arbeitsrichtung mit spezifischen Fragestellungen zu etablieren begann, läßt sich in der einschlägigen Theorie- und Methodendiskussion von Zeit zu Zeit ein eigentümlicher Explikations- oder auch Legitimationsakt beobachten: der Hinweis bzw. Rückgriff auf 'die Antike'. Schon als der Neuphilologe Harald Weinrich 1 9 6 7 programmatisch für eine „Literaturgeschichte des Lesers" (und nicht nur der Autoren und der Werke) eintrat, hob er sogleich hervor: „Unsere Forderung ist nicht neu. Sie ist vielmehr recht alt und stammt, wie so viele vergessene Gedanken, aus der Antike. Die Poetik des Aristoteles etwa, die fur viele Jahrhunderte der europäischen Literatur das Maß aller Dichtung bestimmt hat, ist zwar einerseits Darstellungsästhetik. Sie untersucht also, in welcher Form und Gestalt Welt in die Literatur eingeht, nachgeahmt' wird. Andererseits ist die Aristotelische Poetik Wirkungsästhetik [...]".1 Und kurz darauf heißt es weiter: „Zugleich mit Aristoteles und teilweise in seiner Nachfolge war es auch der alten Rhetorik immer selbstverständlich, den Blick auf das Publikum zu richten". 2 Solche Bezugnahmen auf antike Lite-

*

1

2

Zuerst erschienen in: Poetica 9 (1977), S. 499-521. Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 11. Juni 1976 auf der 14. Tagung der Mommsen-Gesellschaft in Augsburg unter dem Thema: Neuphilologische Rezeptionsforschung als Frage an die Klassische Philologie gehalten wurde. Zahlreiche Anregungen verdanke ich Gesprächen mit meinem Tübinger Kollegen Richard Kannicht, dessen Vortrag über Die Griechen und ihre Dichter. Versuch einer gräzistischen Antwort sich auf der genannten Tagung anschloß (dieser auf das Beispiel Homer zentrierte Beitrag soll in erweiterter Form unter dem Titel Die Griechen und Homer erscheinen). Mein Vortrag enthielt ein einführendes Referat über Theorien zur Rezeptionsforschung, auf dessen Abdruck mit Rücksicht auf die bereits geführte Diskussion (vgl. Poetica 7 [1975], S. 325—413) verzichtet wurde. Dem Versuch, einen Dialog zwischen Neuphilologien und Klassischer Philologie zu fördern, verdankt sich auch mancher rekapitulierende Hinweis auf die bisherige Forschungsdiskussion. Für eine Literaturgeschichte des Lesers, in: Merkur 21 (1967), S. 1026—1038; redigierte Fassung in: H. W.: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1971, S. 23-34; hier: S. 24. Die Formulierung Weinrichs ist in ihrem Zusammenhang zumindest mißverständlich, denn an eine Literaturgeschichte des Lesers ist in der Antike durchaus noch nicht gedacht worden. Ebd., S. 25.

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Methodenreflexion raturauffassungen begegnen seitdem immer wieder, gelegentlich erweitert etwa um das Horazische „prodesse" und „delectare", oder ähnliches. Auch in der Theorie-Diskussion der DDR, etwa bei Manfred Naumann, spielen Aristoteles und Horaz eine 'grundierende' Rolle, vor allem mit ihrer - im Gegensatz zu Piaton - 'positiven Wirkungskonzeption. 3 Und einer der neuesten Versuche zur umfassenderen theoretischen Begründung, Horst Turks „Wirkungsästhetik", setzt bezeichnenderweise ebenfalls bei Aristoteles ein und spannt dann den problemgeschichtlichen Bogen über Lessing und Schiller bis hin zu Brecht. 4 Schon diese Hinweise auf die solchermaßen erneut bestätigten 'Klassiker' sei es Aristoteles, die alte Rhetorik oder Horaz - mögen zeigen, daß die Zurückhaltung der dafür eigentlich zuständigen Klassischen Philologie, 5 zumindest was die Teilnahme an der Theoriediskussion betrifft, 6 nicht in den Besonderheiten der antiken Literaturen begründet liegt, sondern eher in einer gewissen Skepsis gegenüber Uberzeichnungen und Überspannungen der Grundsatzdiskussion. Vor allem aber ist sie aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen zu erklären. Rezeptionsforschung, soweit sie sich als neue Fragerichtung versteht, ist wesentlich Gegenbewegung. Sie ist Opposition gegen jene Tendenzen innerhalb der Literaturwissenschaft, die sich vor allem mit 'Schulen' wie New Criticism oder sogenannter werkimmanenter Interpretation verbinden. Ihnen machte man prinzipiell und jedenfalls in ihren Überspitzungen mehr und mehr den Vorwurf, daß sie zwei Grundkategorien der Seinsweise von Literatur entschieden vernachlässigten: ihre Gesellschaftlichkeit und ihre Geschichtlichkeit. Hans Robert Jauß hat denn auch seinen Entwurf von 1967 zunächst angesetzt beim Problem der in die Krise geratenen Literaturgeschichte, ja Literaturgeschichts-

Einführung in die theoretischen und methodischen Hauptprobleme, in: Μ . N. u. a.: Gesellschaft - Literatur — Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Berlin, Weimar 2 1 9 7 5 , S. 1 5 - 9 7 ; hier: S. 60ff. Wirkungsästhetik: Aristoteles, Lessing, Schiller, Brecht. Theorie und Praxis einer politischen Hermeneutik, in: Jb. d. Dt. Schillerges. 17 (1973), S. 5 1 9 - 5 3 1 ; neu überarbeitet in: Η. T.: Wirkungsästhetik. Theorie und Interpretation der literarischen Wirkung. München 1976, S. 4 7 - 8 2 . Rückgriffe insbesondere auf Aristoteles auch in anderen Aufsätzen dieses Bandes, ebenso in: Η. T.: Literaturtheorie 1. Literaturwissenschaftlicher Teil. Göttingen 1976. Die Wahl des viel umstrittenen Begriffs 'Klassische Philologie' (statt Altphilologie'), auch in der Titelformulierung dieses Vortrags, ist nicht als captatio benevolentiae, sondern gerade als provocatio zum Dialog gedacht. Diese Zurückhaltung wird, unter dem generellen Stichwort 'Theoriearmut', auch von einzelnen Klassischen Philologen selbst bedauert, vgl. Manfred Fuhrmann: Die Klassische Philologie und die moderne Literaturwissenschaft, in: M . F.: Alte Sprachen in der Krise? Analysen und Programme. Stuttgart 1976, S. 5 0 - 6 7 , hier: S. 61; ähnlich Gerhard Jäger: Einführung in die Klassische Philologie. München 1975, S. 5.

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Neophilologische Rezeptionsforschung Schreibung. 7 Und er hat von der Perspektive der Rezeption her gerade die D i mension der Geschichtlichkeit für die Literatur zurückzugewinnen versucht. Er hat dabei vor allem Anregungen der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers aufgenommen, die ja die historischen Geisteswissenschaften aus der Umklammerung durch die Naturwissenschaften zu befreien anstrebt. Die D D R - L i t e r a t u r wissenschaft hingegen, etwa vertreten durch Robert Weimann oder Manfred Naumann, 8 hat die von Jauß apostrophierte Krise als eine spezifisch bürgerliche gedeutet 9 und ihr, zum Teil in deutlicher Anknüpfung an die sogenannte Expressionismus-Debatte der dreißiger Jahre, 1 0 das sozialistische Konzept einer produktiven Aufnahme des literarischen Erbes für die konkrete Gestaltung der Gegenwart entgegengestellt. Spätestens hier wird erkennbar, wie wenig im Horizont der Rezeptionsdiskussion die Geschichtlichkeit der literarischen Werke von der Dimension ihrer Gesellschaftlichkeit zu trennen ist. Im Gegensatz zu Gadamer, bei dem die letztere Dimension weitgehend ausgeblendet ist, gehört es grundlegend zur Konzeption von Jauß, daß die Gesellschaftlichkeit von Literatur wesentlich durch die der Rezipienten und der Rezeptionen repräsentiert wird. Nach der historisch-materialistischen Konzeption etwa von Weimann 1 1 ist die gesellschaftliche Bedingtheit bereits wesenhaft in der Produktion und im literarischen Produkt selbst wirksam. Und hier freilich stellt sich das alte Problem der marxistischen Ästhetik, wie ein Kunstwerk den es selbst bedingenden gesellschaftlichen Zustand zugleich wieder übersteigen, den gesellschaftlichen Prozeß gar selbst wirkend' vorantreiben kann. D a ß dabei die Diskussion im deutschen Bereich besonders ausgreifend und engagiert geführt wurde, ja daß Rezeptionsforschung als Programm sich nachgerade zu einem deutschen Exportartikel entwickelte, 1 2 hat gewiß verschiedene Gründe, unter ihnen aber auch einen speziellen, der sich auf die Tradition der Literaturauffassung in Deutschland bezieht. 7

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„Literaturgeschichte ist in unserer Zeit mehr und mehr, aber keineswegs unverdient in Verruf gekommen", so beginnt Jauß' Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. Konstanz 1967; auch in: H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 1 4 4 - 2 0 7 ; hier: S. 144. Vgl. Gesellschaft - Literatur - Lesen (wie Anm. 3); dazu Robert Weimann: Literaturgeschichte und Mythologie. Methodologische und historische Studien. Berlin, Weimar 1971. Hierzu bes.: Robert Weimann (Hrsg.): Tradition in der Literaturgeschichte. Beiträge zur Kritik des bürgerlichen Traditionsbegriffs bei Croce, Ortega, Eliot, Leavis, Barthes u. a. Berlin 1972. Jetzt gut zugänglich in: Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.): Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Frankfurt a. M. 1973. Literaturgeschichte und Mythologie (wie Anm. 8). Dieser Prozeß, vor allem auch die Überkreuzung mit bereits bestehenden Forschungsrichtungen (etwa den angelsächsischen 'influence'-Studien), verdiente eine gesonderte Untersuchung.

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Methodenreflexion Karl Robert Mandelkow hat 1970 in einem wissenschaftskritischen Beitrag über Probleme der Wirkungsgeschichte13 darauf aufmerksam gemacht, wie stark in Deutschland, verglichen etwa mit Frankreich oder den angelsächsischen Ländern, die Literaturauffassung und die literaturwissenschaftliche Methodik bestimmt sind von der Autonomie und der gesellschaftlichen Isolation des Kunstwerks, von der Trennung zwischen Literaturwissenschaft und Literaturkritik und vor allem vom Vorrang der genetischen, produktionsästhetischen vor der wirkungsästhetischen Perspektive. Damit sind wir bei einem Grundproblem der Möglichkeit eines Dialogs zwischen Klassischer Philologie und Neuphilologien über Rezeptionsforschung und zugleich bei dem eingangs erwähnten, eigentümlichen Rückgriff mancher neuphilologischen Rezeptionstheoretiker auf die Antike. Vereinfachend und zugespitzt könnte man formulieren: Zwischen uns und der Antike steht, bezogen auf die Rezeptionsproblematik, jene Entwicklung der zweiten Hälfte und dann besonders des ausgehenden 18. Jahrhunderts,14 die im Zuge der Etablierung einer bürgerlichen literarischen Kultur in Deutschland zu den bekannten ästhetischen Postulaten führte: von der Autonomie des Genies wie des Kunstwerks, von der absoluten Individualität des Ausdrucks wie des Eindrucks und vor allem von der Zweckfreiheit der Kunst (in diesen Problemzusammenhang gehört auch die Trennung der zweckhaften Beredsamkeit als der Nichtkunst von der zweckfreien Poesie als der eigentlichen Kunst).15 Fast die gesamte neuphilologische Auseinandersetzung beispielsweise um die Rehabilitierung der literarischen Zweckformen Traktat, Historiographie fur Klassische Philologen geradezu eine anachronistische Diskussion - führt im Kern auf diese Problematik zurück.16 Und nicht zufällig hat etwa Friedrich Sengle 1967 in seiner programmatischen Schrift über Die literarische Formenlehre immer wieder fast ostentativ auf entsprechende antik-humanistische Traditionen zurückgegriffen.17

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14

15

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Probleme der Wirkungsgeschichte, in: Jb. f . Internat. Germ. 2 (1970), S. 7 1 - 8 4 ; auch abgedruckt in: Peter Uwe Hohendahl (Hrsg.): Sozialgeschichte und Wirkungsästhetik. Dokumente zur empirischen und marxistischen Rezeptionsforschung. Frankfurt a. M . 1974, S. 8 2 - 9 6 . Von anderen Beobachtungen ausgehend, aber ähnliche literaturgeschichtliche Fundamentalprozesse betreffend, heißt es bei Uvo Hölscher: Die Chance des Unbehagens. Drei Essais zur Situation der klassischen Studien. Göttingen 1965, S. 62: „Das Altertum in der Literatur reicht bis 1800". Wer sich mit deutscher Literatur des 17. oder 18. Jahrhunderts beschäftigt, macht häufig die Erfahrung, daß viele Werke dieser Epochen der Antike näher zu stehen scheinen als unserer Gegenwart. Zu diesem Ablösungsprozeß vgl. Verf.: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 1 1 - 1 6 . Ebd., S. 7 8 - 8 5 . Die literarische Formenlehre. Vorschläge zu ihrer Reform. Stuttgart 1967.

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Neophilologische

Rezeptionsforschung

Was freilich bei dieser wissenschaftsgeschichtlichen Reflexion und bei genauerer Untersuchung auch erkennbar wird, ist die Tatsache, daß die Klassische Philologie des 19. Jahrhunderts, 18 von August Boeckh bis hin zu Ulrich von Wilamowitz-MoellendorfF, dieser allgemeinen literaturwissenschaftlich-bildungsgeschichtlichen Tendenz weitgehend gefolgt ist, mit Nuancierungen, aber im Kern doch gewissermaßen gegen Grundgegebenheiten der eigenen philologischen Gegenstände verfahrend. Wilamowitz bedeutet, insbesondere was die rezeptionsgeschichtliche Sehweise betrifft, auch hier bereits einen Wendepunkt. Seine Auffassung von „Textgeschichte", 19 die ja den einzelnen Stufen der Überlieferung konzeptuelle Qualitäten zuerkennt und entsprechende Folgerungen auch für die Textkritik daraus zieht, ist ein überaus wichtiger Vorläufer rezeptionsgeschichtlicher Methodik und in dieser Hinsicht noch entschieden unausgeschöpft. Prinzipiell jedoch hat sich die Klassische Philologie in ihrer Weise des Textzugangs und der Textinterpretation, bei aller Schulenbildung im einzelnen, der vorherrschend produktions- und werkästhetischen Perspektive bekanntermaßen ebenso verschrieben wie die anderen Philologien. Welche besondere Rolle hierbei zusätzlich die werkästhetische Zentrierung der alexandrinischen Philologen und ihre 'Klassik'-Vorstellung gespielt hat, ist eine wissenschaftsgeschichtlich besonders interessante Frage, der hier nicht näher nachgegangen werden kann. 20 Faßt man nun die Dominanz der Produktions-, Darstellungsund Werkästhetik als eine durchaus nicht überzeitlich notwendige, sondern selbst geschichtlich kontingente Erscheinung, dann fällt bei der Erkenntnis dieser Kontingenz mit einemmal der Klassischen Philologie eine bedeutsame Rolle zu. Sie scheint aus verschiedenen Gründen geradezu prädisponiert, bei der notwendigen Revision der literaturwissenschaftlichen Methodik sowohl historisch korrigierend als auch produktiv anregend zu wirken. In den Diskussionen der letzten Jahre über Sinn, Möglichkeiten und Grenzen der Rezeptionsforschung ist allerdings angesichts der theoretisch-programmatischen Euphorie gelegentlich eingewandt worden: Dies alles sei insbesondere für weit zurückliegende Epochen überhaupt nicht einlösbar, allenfalls für

Hierzu vorläufig die Schlußteile von Rudolf Pfeiffer: History of Classical Scholarship. From 1300 to 1850. Oxford 1976. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Einleitung in die attische Tragödie. Berlin 1907, S. 120ff.; ders.: Die Textgeschichte der griechischen Lyriker. Berlin 1900; ders.: Die Textgeschichte der griechischen Bukoliker. Berlin 1907. Verwiesen sei einstweilen auf Rudolf Pfeiffer: History of Classical Scholarship. From the Beginnings to the End of the Hellenistic Age. Oxford 1968, deutsch; Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus. Übers, v. Marlene Arnold. Reinbek b. Hamburg 1970.

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Gegenwart und nahe Vergangenheit. Daß hier die Klassische Philologie unmittelbar betroffen ist, liegt auf der Hand. Selbst für die zeitgenössische Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Goetheschen Werther verfügen wir immerhin noch über Kritiken und Berichte, über Parodien und Pamphlete, über Tagebuchnotizen und Briefe, auf Grund deren sich ein vergleichsweise differenziertes geschichtliches Bild rekonstruieren läßt, 21 meßbar sogar an Goethes eigener Aussage: „Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf'. 2 2 Fehlt nicht dies alles schon für den Bereich der mittelalterlichen, 23 dann aber vor allem der antiken Literatur? Fragen und Zweifel dieser Art sind zwar berechtigt, setzen jedoch zumeist eine viel zu enge Auffassung von den Fragen und Aufgaben der Rezeptionsforschung voraus. Selbst an dem wahrhaft uralten Beispiel Homer läßt sich, wenn man den rezeptionsgeschichtlichen Ansatz nur konsequent und vielfältig genug durchdenkt, eine Fülle noch unausgeschöpfter Möglichkeiten nutzen. 24 Hier wie bei anderen antiken Werken und Autoren bedarf es wohl zunächst noch häufigerer Versuche, breiterer Erfahrungen, um die zum Teil noch recht enge Vorstellung von Rezeptionsforschung zu überwinden und den Aspektreichtum des überlieferten Materials erst zu erkennen. Am Auftreten des Demodokos im achten Gesang der Odyssee25 sei daher exemplarisch gezeigt, wie sich gleich mehrere Grundfragestellungen der Rezeptionsforschung hier modellhaft explizieren lassen. Die Kunst des Demodokos, als die des - über die Welt der Ilias hinausgehend - berufsmäßigen Sängers, ist im Sinne der bekannten Brechtschen Unterscheidung weder autonom noch autark. Autonom ist sie schon deshalb nicht, weil sie als Fertigkeit von dem Gott bzw. von der Muse verliehen ist (8, 44f.,

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22

23

24 25

Von den zahlreichen Dokumentationen und Untersuchungen, die in den letzten Jahren zu diesem sich anbietenden Beispiel erschienen, sei hier nur genannt: Georg Jäger: Die Wertherwirkung. Ein rezeptionsästhetischer Modellfall, in: Walter Müller-Seidel (Hrsg.): Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. München 1974, S. 3 8 9 ^ 0 9 . Aus: Dichtung und Wahrheit, zit. nach: Goethes Werke. Hamb. Ausg. Bd. 9. Hrsg. v. Erich Trunz. Hamburg 1955, S. 589. Hinweise auf ein besonders ergiebiges Beispiel aus der mittelalterlichen Literatur gibt Volker Schupp: „Er hat tusent man betoeret". Zur öffentlichen Wirkung Waithers von der Vogelweide, in: Poetica 6 (1974), S. 38-59. Dies zeigt vor allem der eingangs genannte Beitrag von Richard Kannicht. Die Spezialliteratur zu den im folgenden behandelten Stellen der Odyssee, wie zu den Themen 'Dichtung, Lied, Sänger usw. bei Homer* ist so umfangreich, daß für die Zwecke dieses Beitrags auf Einzelnachweise verzichtet wurde. Als Autoren, deren Untersuchungen hier vor allem herangezogen wurden, seien jedoch genannt: Felix Jacoby, Werner Jaeger, Herwig Maehler, Walter Marg, Walter Nestle, Wolfgang Schadewaldt, Bruno Snell.

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63f., u. ö.), und nicht autark, weil der Sänger trotz aller sozialen Wertschätzung (bes. 8, 471ff.) durchaus abhängig ist von der Gunst des Königs, nicht zuletzt auch vom Beifall der Gäste und Freunde. Sein Zunftgenosse Phemios auf Ithaka, der stolze 'Selbstgelehrte' (22, 347), bekommt diese Abhängigkeit bekanntlich noch stärker zu spüren. Die Idealisierung, die manches im Umkreis der Phaiaken kennzeichnet, treibt im Fall der Demodokos-Gestalt den Modellcharakter besonders deutlich heraus. 26 Die Kunst des Demodokos ist nicht nur nicht autonom oder autark, sondern sie ist - positiv formuliert - erkennbar geprägt durch einen bestimmten Lebensraum und gebunden an bestimmte Anlässe. Die Halle im großen Haus des Königs (8, 56. 106; vgl. 418), nach dem Mahl, und die Agora (8, 109), beim Wettkampf, sind die beiden äußeren Rahmen, innerhalb deren sich die Kunst des Demodokos beweist; ein erlesener Rezipientenkreis der „Besten" (άριστοι) im ersten Fall (8, 91. 108; vgl. 472f.), die größere Öffentlichkeit des Volkes (δήμος bzw. λαοί, 8, 259. 109 f. 125; vgl. 472) im zweiten. Für beide Bereiche wird nicht nur die hohe Reputation des göttlichen Sängers angesprochen und dargestellt, sondern auch - möglicherweise idealisierend - die jeweilige Resonanz; in der Halle des Königs führt der Genuß seiner Lieder sogar immer wieder dazu, daß er „angetrieben" wird weiterzusingen (8, 90f.). Seine Kunst ist auch dem expliziten Urteil unterworfen, und es werden Kriterien der Bewertung erkennbar: nicht nur das allgemeinere „Schöne" (8, 266), sondern aus der Perspektive des Odysseus vor allem das „nach der Ordnung" (kaxä Ιίόσμον 8 , 4 8 9 ) bzw. „nach Gebühr" (kara μοΐραν, 8, 496). Hier deutet sich zugleich in Umrissen an, was man als den Erwartungshorizont der Zuhörer bezeichnen kann, auf den der Sänger sorgfältig Rücksicht zu nehmen versteht. Demodokos bezieht sich auf den „Liederpfad" (ο'ίμη) von Ilion (8, 74; vgl. 492), um aus ihm zunächst den Streit zwischen Odysseus und Achill (8, 75ff.), später die Geschichte vom hölzernen Pferd (8, 492ff., 499ff.) vorzutragen, ebenso wie er in der mittleren seiner Darbietungen, auf der Agora, aus dem Fundus der Göttermythen die Affäre zwischen Ares und Aphrodite auswählt (8, 267ff.). Die in der Fachdiskussion vielerörterten Momente der Reihenfolge, der Zäsurierung und der Auswahl der einzelnen Erzählungen sind in unserem Zusammenhang nicht zuvörderst als Ansatzpunkte der Heldenlied-Forschung und der Homer-Analyse von Interesse (sie setzen diese bereits voraus), 27 sondern als 26

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Vgl. den Eingang des Beitrags von Karl Maurer: Formen des Lesens, in: Poetica 9 (1977), S. 4 7 2 ^ 9 8 . Auch hier m u ß auf Einzelhinweise verzichtet werden; eine erste Einführung mit der wichtigsten Literatur gibt Albin Lesky: Geschichte der griechischen Literatur. Bern, München 2 1 9 6 3 , S. 29ff., bes. S. 66ff.

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Momente eines synthetisch vorgeführten Rezeptionshorizonts. In der Gestaltung der Demodokos-Partien ist unverkennbar mit dem gearbeitet, was man rezeptionstheoretisch als einschlägige Kompetenz der Zuhörer, d. h. als deren inhaltliches Vorwissen und als ästhetische Erwartungshaltung gegenüber dem Sänger und seinem Lied bezeichnen kann. Diese Erwartungshaltung, immer und immer wieder angesprochen, ist hier deutlich auf das „Sich erfreuen" (τέρπεϋαι) als den ästhetischen Genuß ausgerichtet und durch wiederholte, formelhafte Nahstellung (Kollokation) zusätzlich in enge Beziehung und Analogie zum Genießen des Mahles gerückt (besonders auffällig 8, 72f., 248. 485ff.). Bei der Erzählung von Ares und Aphrodite kommt ein rezeptionsästhetisch besonders bemerkenswertes Moment hinzu: die Bezeichnung des Vorfalls als „lachenerregende Dinge" (εργα γελαστά) durch Hephaistos (8, 307), seine appellativen Formeln (8, 307. 313) und schließlich die Schilderung des „Lachens" (γέλως) der Götter (8, 343) stellen genau jene Tiefen- und Spiegelungsphänomene dar, die man als explizite Rezeptionsvorprägungen bezeichnen kann. 28 Das rezeptionell Auffälligste freilich ist die Weise, wie Odysseus bei beiden Erzählungen von troischen Ereignissen aus dem als homogen dargestellten Rezeptionsaffekt der übrigen Zuhörer ausbricht, von ihm abweicht. Bei der Geschichte von Ares und Aphrodite kann auch Odysseus sich dem „Sich erfreuen" (τέρπεσύαί) hingeben - „wie auch die anderen Phaiaken" (8, 368f.), wird ausdrücklich hinzugesetzt. Als Demodokos von Troia singt, kommen Odysseus die Tränen, und er verhüllt mit dem Mantel sein Haupt. Nur Alkinoos, der neben ihm sitzt, bemerkt es beide Male (8, 94f. 533f.) und treibt denn auch jeweils die Handlung weiter. Hier ist nicht nur der Kontrast zu dem lachenerregenden mittleren Stück unter den Darbietungen des Demodokos bezeichnend. Sondern es ist auch zwar nicht explizit benannt oder gar theoretisch reflektiert — dasjenige ansatzhaft gestaltet, was als 'Multifunktionalität' dichterischer Texte zu den Grundannahmen des rezeptionsästhetischen Ansatzes gehört.29 „Nicht allen singt er dies zur Freude" (8, 538), konstatiert Alkinoos beim zweiten Mal, und ausdrücklich wünscht er als Gastgeber das allgemeine „Sich erfreuen" (τέρπεο'&αι) wiederher-

Zu diesem Begriff, der nicht mit der 'Rezeptionsvorgabe' der DDR-Theoretiker Naumann u. a. identisch ist, vgl. unten S. 339. Hierzu und zu einer 'funktionsgeschichtlichen' Erweiterung bisheriger Ansätze jetzt vor allem Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1975, S. 87ff. Dem in der Forschungsdiskussion häufig auch verwendeten Begriff der 'Polyfunktionalität' ist die sprachlich sauberere Form 'Multifunktionalität' vorzuziehen (entsprechend: 'Multivalenz' statt 'Polyvalenz', usw.).

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gestellt. Von 'Polysemie' als dem eigentlichen Ermöglichungsgrund solcher Multifunktionalität soll hier noch nicht gesprochen sein, um unnötige, aber leicht eintretende Mißverständnisse zu vermeiden. 30 Die Unterschiedlichkeit in der Funktion jedoch ist offenkundig. Odysseus, mit seiner Rezeption des Demodokos-Vortrags (in gewisser Weise kann man auch schon von 'Wirkung' sprechen),31 weicht hier von der Rezeptionsweise der anderen Zuhörer nicht etwa in Nuancen, sondern in der affektiven Grundqualität ab, und zwar nicht willkürlich oder zufällig, sondern auf Grund seiner persönlichen Betroffenheit und Vorgeprägtheit (der Hinweis auf die „Kümmernisse" [kqÖEa\ schon 8, 154, dann etwa 9, 12. 15). In der gezielten Engfuhrung von „Sich erfreuen" (τέρηεσϋ:αι) und „Jammern" (γοάσκειν, 8, 91f.) 32 ist gewissermaßen die rezeptionsästhetische Zuspitzung beschlossen, die dann zuletzt auch die Weiterführung der Handlung mit vorbereitet, die Frage nach dem Namen (8, 550) und endlich das Sich-zuerkennen-Geben des Odysseus (9, 19). Der Gesang des Demodokos bezieht sich also in diesem Fall nicht nur auf einen bestimmten allgemeinen Vorwissens-Horizont der Zuhörer - und trifft dabei unwissentlich zugleich einen besonderen - , sondern reicht in ihrer Wirkung auch unmittelbar in einen realen, lebenspraktischen Zusammenhang hinein. Der sogenannte rezeptionsästhetische 'Ansatz' ist, etwas vereinfacht und zugleich prononciert gesprochen, im Kern nichts anderes als ein konsequentes, historisch-hermeneutisches Ernstnehmen der kommunikativen und lebenspraktischen Modellsituation, wie sie sich am Beispiel des Gesangs des Demodokos darbietet. An dieser Stelle ist eine begriffliche Klarstellung vonnöten. Die beiden Grundbegriffe 'Rezeption' und 'Wirkung' werden vielfach nebeneinander verwendet; sie sind in der Tat sowohl theoretisch-prinzipiell als auch praktischanalytisch überaus schwer voneinander abzuheben. Die Trennung in Rezeption als 'adressatenbedingt' und in Wirkung als 'textseitig bedingt', wie sie von Jauß und anderen angesetzt wird, 33 dürfte gerade dem dialogischen Charakter der

Sie beziehen sich auf die von Kritikern gelegentlich — und nicht immer zu Unrecht — unterstellte subjektive Beliebigkeit bei der Annahme von Polysemie, während verschiedenartige Funktionen sich im allgemeinen klarer objektivieren lassen. Entsprechend der weiter unten vorgeschlagenen (nicht starr anzuwendenden) begrifflichen Unterscheidung wäre die Geste des Sichverhüllens etwas, das über die Liedrezeption selbst bereits hinausgeht, also schon zur 'Wirkung' hin tendiert. Die an dieser Stelle deutliche Antithetik (die anderen/Odysseus) wird freilich 'durchkreuzt' durch die dem bekannten τέρπεσΰαι γόοιο zugrundeliegende, charakteristisch Homerische Affektbewertung. Hans Robert Jauß: Racines und Goethes Iphigenie. Mit einem Nachwort über die Partialität der rezeptionsästhetischen Methode, in: Rüdiger Bubner, Konrad Cramer, Reiner Wiehl (Hrsg.): Theorie literarischer Texte. Göttingen 1973, S. 1—46; abgedruckt in: Rainer Warning

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Text-Rezipienten-Beziehung (das Dialogische', in Anlehnung an Gadamer, setzt auch Jauß voraus) nicht hinreichend gerecht werden. Angemessener scheint hier eine Kategorisierung nach Phasen: Rezeption als der jeweils aktuelle Text-Vollzug im Lesen, Hören, Zuschauen, und Wirkung als das Insgesamt der Momente, die den jeweiligen aktuellen Rezeptionsvorgang transzendieren. 34 So wäre etwa das Lob, das Odysseus dem Demodokos und seinem Lied spendet (8, 487ff.), bereits der Wirkung zuzurechnen, freilich auf der Grundlage der Liedrezeption. Beide, Rezeption wie Wirkung, sind nichts Statisches, Abgeschlossenes, sondern haben Prozeßcharakter. Und sowie man sich analysierend in das geschichtliche Leben der Literatur hineinbegibt, wird man immer wieder auf komplexe Phänomene stoßen, wie 'rezipierte Rezeption' oder 'Wirkungen der Wirkungsgeschichte'. 35 Eine starre Trennung der beiden Aspektbegriffe Rezeption und Wirkung ist sowohl unfruchtbar wie unnötig. Als wesentlicher erscheint, daß man bei Prägungen wie 'Rezeptionsgeschichte' oder 'Wirkungsgeschichte' den jeweils anderen Aspekt immer mitdenkt (die gelegentlich notwendige Doppelformel 'Rezeptions- und Wirkungsgeschichte' ist leider recht umständlich). Mit 'Rezeptionsforschung' - so im Titel dieses Beitrags - ist abkürzend das Ganze dessen gemeint, was sich wissenschaftlich mit Rezeption und Wirkung von Literatur beschäftigt, sei es theoretisch-prinzipiell (insbesondere als Rezeptions- oder Wirkungs-'Ästhetik'), sei es praktisch-analytisch oder auch historisch-rekonstruktiv. Im folgenden wird nun eine knappe, exemplifizierende Typologie der Untersuchungsfelder und Dokumentenarten aus der antiken Literatur gegeben, die für die Rezeptionsforschung gleich welcher Art von Bedeutung sind. Da sich die Forschung bisher diesem wichtigen methodischen Problem einer Klassifizierung noch kaum gestellt hat, ist der folgende Versuch zur Verständigung über die Arbeitsmöglichkeiten auch im Bereich der antiken Literaturen notwendig.

(Hrsg.): Rezeptionsästhetik. T h e o r i e u n d Praxis. M ü n c h e n 1 9 7 5 , S. 3 5 3 - 4 0 0 , bes. S. 3 8 3 : „ W i r k u n g benennt [...] das v o m Text bedingte, Rezeption das v o m Adressaten bedingte Elem e n t der Konkretisation oder T r a d i t i o n s b i l d u n g " . Ähnlich ders.: D e r Leser als Instanz einer neuen Geschichte der Literatur, in: Poetica 7 ( 1 9 7 5 ) , S. 3 2 5 - 3 4 4 ; hier: S. 3 3 3 . D i e s in A n l e h n u n g an die neuere k o m m u n i k a t i o n s - u n d handlungstheoretische Diskussion, vgl. etwa W o l f g a n g Gast: Text u n d leser i m feld der m a s s e n k o m m u n i k a t i o n . Ü b e r l e g u n g e n zur Wirkungsanalyse von unterhaltungsliteratur, in: Wirkendes Wort 2 5 ( 1 9 7 5 ) , S. 1 0 8 - 1 2 8 . W i r k u n g als das 'Weitergehende', eventuell sogar in außerliterarische Bereiche D r i n g e n d e auch schon bei M a n d e l k o w : Probleme der Wirkungsgeschichte (wie A n m . 1 3 ) , S. 84. U n t e r diesen u n d ähnlichen Gesichtspunkten werden neuere historische Untersuchungen kritisch betrachtet von G u n t e r G r i m m : Rezeptionsgeschichte. Prämissen u n d Möglichkeiten historischer Darstellungen, in: Internat. Archiv f. Sozialgesch. d. dt. Lit. 2 ( 1 9 7 7 ) , S . 1 4 4 - 1 8 6 .

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Die erste Gruppe gehört noch ganz dem Textbereich der rezipierten Werke selbst an und umfaßt das, was anläßlich des Demodokos-Beispiels bereits als „innertextliche Rezeptionsvorprägungen" bezeichnet wurde.36 Hierzu gehören vor allem jene Textelemente, die in herausgehobener Weise die Qualität einer angestrebten Rezeption oder Wirkung benennen, etwa den begleitenden Affekt oder dergleichen (man kann sie in dieser Funktion auch zu den 'rezeptionssteuemden' Momenten rechnen). Es gibt eine breite, für die konkrete philologische Arbeit überaus fruchtbare Skala von Untertypen: angefangen bei der Exordialtopik in Reden wie in Erzählungen und Gedichten, über antizipierende Ethopoiie etwa in Sophokleischen Prologen bis zu den rezeptionssteuemden, zugleich auf bestimmte Wirkungen zielenden Huldigungselementen in den Gedichten eines Statius. Besondere Aufmerksamkeit dürfen hier alle dialogischen Gesten in (scheinbar) monologischen Gattungen beanspruchen, so in der griechischen wie in der römischen Lyrik und etwa in der stoisch-kynischen Diatribe. Aus solchen Einzelzügen können sich, je nach Länge und Gattungsart des Textes, sogar Rezipienten-Rollen konstituieren,37 als Komplemente zur Erzähler-Rolle. Mit diesem Problem hat sich die Forschung bereits intensiver befaßt und, meist ausgehend vom Roman, eine ganze Typologie von impliziten, imaginierten, intendierten usw. Lesern entwickelt.38 Zwar ist die funktionale wie die historische Interpretation solcher rezeptionsvorprägenden Rollen noch ein weithin offenes Problem.39 Wichtig aber ist in unserem Zusammenhang die Feststellung, daß hierbei, wie bei den innertextlichen Rezeptionsvorprägungen generell, die Klassische Philologie sich grundsätzlich in keiner anderen Lage befindet als die Neueren Philologien.Von dokumentarischem Notstand jedenfalls kann keine Rede sein. Die zweite Gruppe umfaßt, mit der ersten teilweise sich überschneidend, alle Äußerungen eines Autors über die von ihm intendierte Rezeption oder Wirkung,40 sei es generell oder sei es speziell für ein einzelnes Werk, sei es innerhalb Abzuheben vom „Werk als Rezeptionsvorgabe" in der Theorie Naumanus und anderer. Vgl. Gesellschaft — Literatur — Lesen (wie Anm. 3). Darauf hat im Rahmen seines Programms einer „Literaturgeschichte des Lesers" früh schon Weinrich hingewiesen. Vgl.: Für eine Literaturgeschichte des Lesers (wie Anm. 1), bes. S. 24. Vgl. den orientierenden Überblick bei Gunter Grimm: Einführung in die Rezeptionsforschung, in: G. G. (Hrsg.): Literatur und Leser. Theorien und Modelle zur Rezeption literarischer Werke. Stuttgart 1975, S. 1 1 - 8 4 ; hier: S. 75ff.; auch Hannelore Link: Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1976, S. 4Iff. Einen umfassenderen Versuch unternahm Iser: Der Akt des Lesens (wie Anm. 29), bes. S. 87ff. Wichtig ist dieser Komplex vor allem bei der Grundfrage nach der 'Adäquatheit' der Rezeption und nach den hierfür maßgeblichen Kriterien (zur Orientierung vgl. Link: Rezeptionsforschung [wie Anm. 38], S. 142ff.). Die Autorintention, soweit 'ermittelbar', nimmt in zahlreichen rezeptionstheoretischen Entwürfen nach wie vor den obersten Rang ein.

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des Werktextes selbst, sei es in Briefen oder Abhandlungen (bei modernen Autoren auch Interviews und Autobiographien). Mit gewisser Einschränkung gehören hierher schon die Homerischen Aussagen über das „Erfreuen" ( τ έ ρ π ε ι ν ) , „Bezaubern" (ϋέλγειν) usw., wohl auch das Motiv des 'Leidvergessens' bei Alkaios, sicher die Wahrheitsansprüche Hesiods an die Dichtung, dann - um mit einem weiten Sprung über die Jahrhunderte hinweg die antike Vielfalt wenigstens anzudeuten — die Plautinischen Prologe, Catulls Neoteriker-Bekenntnisse oder die erste Satire Juvenals mit ihrem moralisch-gesellschaftskritischen Literaturprogramm. Zahlreiche Differenzierungen sind hier natürlich anzusetzen: Form und Deutlichkeit solcher Aussagen, ihre Stellung im Text, ihr Gültigkeitsanspruch und dergleichen. Und eben dies betrifft, von vielen Theoretikern und Interpreten auch in den Neuphilologien als Problem zu wenig beachtet, auch die dritte Gruppe: theoretisch-allgemeine Äußerungen solcher Art insbesondere von Philosophen. Hierher gehört als das klassische und vielzitierte Beispiel die Aristotelische Poetik mit ihren wirkungsästhetischen Aussagen. Zwar gibt es seit langem die Diskussion um die Frage, wieweit Aristoteles in der rückblickenden Distanz den von ihm herangezogenen Beispielen der attischen Tragödie tatsächlich gerecht wird oder überhaupt gerecht werden konnte. Aber selbst beim Horazischen Pisonenbrief in seinem Verhältnis zur übrigen Dichtung des Horaz, hier, wo sogar Identität des Autors gegeben ist, bieten sich bekanntlich nicht geringe Schwierigkeiten einer unmittelbaren applicatio der Theorie auf die Praxis.41 Vielleicht kann die Rezeptionsforschung dazu beitragen, das generell vernachlässigte Problem der Aussagenqualität und Reichweite literaturtheoretischer Postulate neu zur Diskussion zu stellen. Womöglich wird auch der schon erwähnte, beliebte Rückgriff mancher Rezeptionstheoretiker auf die antiken Literaturauffassungen methodisch klarer durchleuchtet werden müssen. Die vierte Gruppe fuhrt von den Intentionen und Postulaten gewissermaßen auf die 'andere' Seite des Rezeptions- und Wirkungsprozesses, zunächst zu dem, was man die nichtexpliziten Reaktionen nennen könnte. Hier ist die Skala so breit, das Einzelne so heterogen, daß eine weitere Untergliederung sicher wünschenswert wäre. Gemeint sind etwa die Spuren, die das Homerische Epos in der bildenden Kunst hinterlassen hat, aber auch - soweit dokumentierbar - die Erkenntlichkeiten, die ein Dichter wie Pindar oder Horaz von seinem Auftraggeber oder Mäzen erhält. Auch der Beifall, der einem Plautus-Stück gezollt

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G e m e i n t sind hier selbstverständlich nur die sinnvollerweise vergleichbaren Bereiche und Aspekte der D i c h t u n g , also etwa nicht die speziellen Aussagen zum Drama.

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wird, ist hierher zu rechnen oder die Zahl von Exemplaren, in denen Cicero, Horaz oder auch Persius verbreitet werden. Alle diese Daten und Zeugnisse sind noch keine expliziten Urteile über ein Werk, sondern müssen in ihrer Qualität erst interpretiert werden. Dies gilt nun mit höchsten Ansprüchen an die Fähigkeiten des Philologen für den großen fiinflen Bereich: den innerliterarischen der 'beeinflußten Werke. Einfluß und Abhängigkeit (bzw. Nachahmung) sind die herkömmlichen, komplementären Kategorien,42 das Verhältnis bestimmt sich als Variation, Transformation, Permutation. Dieses weite und in sich nahezu unendlich differenzierte Feld für Rezeptionsforschung - mit dem vielleicht reizvollsten Beispiel der Mythendichtung43 - braucht in unserem Zusammenhang am wenigsten eigens vorgestellt zu werden. Hier hat die Philologie seit den Tagen der Alexandriner intensiv gearbeitet. Und immer wieder in der neueren Forschung ist betont worden, daß gerade das Fehlen des charakteristisch modernen Originalitätsbegriffs jene Fülle von Spielformen der literarischen imitatio befördert habe: zunächst innerhalb der griechischen Literatur selbst {Odyssee!Apollonios Rhodios, Aischylos/Euripides usw.), dann vor allem zwischen griechischer und römischer Literatur (Homer/ Vergil, Alkaios/Horaz), zum Teil auch mit agonalen Beimischungen versehen. Und schließlich ist ohne das imitatorische Grundmodell wiederum die geschichtliche Erscheinung der zahlreichen Renaissancen und Humanismen nicht zu verstehen, bei denen oft genug im Verhältnis zu den antiken Literaturen das verpflichtend-agonale Verhältnis zwischen römischer und griechischer Literatur, gleichsam auf einer je neuen Stufe, sich wiederholt (Vergil als ein 'römischer Homer', Dante als ein neuer Vergil', usw.). Unter dem Gesichtspunkt neuerer Rezeptionsforschung ist auf diesem bekannten und vielbearbeiteten Gebiet freilich bewußter und differenzierender auf die Weise zu achten, wie das imitierte Werk oder die kontaminierend-imitierten Werk-Elemente in der Verwandlung selbst neu erscheinen: imitatio als Zeugnis von Rezeption, oder auch als 'produktive' Rezeption bzw. Wirkung. 44 Im Bereich der neuphilologischen Rezeptionsforschung hat die sechste Gruppe, die von den expliziten Äußerungen über einzelne Werke und Autoren

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Beispiele hierzu aus der neuesten Forschung bei Grimm: Rezeptionsgeschichte (wie Anm. 35), passim. Vgl. die verschiedenen exemplarischen Untersuchungen und theoretischen Überlegungen in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption (Poetik und Hermeneutik IV). München 1971. Verf.: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973 (zum Grundsätzlichen: S. 9 3 - 1 0 0 ) .

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gebildet wird, bisher den größten Raum eingenommen. Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Abhandlungen, Rezensionen füllen die zahlreichen rezeptionsund wirkungsgeschichtlichen (im Endeffekt meist nur urteilsgeschichtlichen) Dokumentenbände, die in den letzten Jahren erschienen sind.45 Wichtig, aber in der Methodendiskussion etwas vernachlässigt ist hier auch die Reflexion über den Urteilenden selbst: wieweit er sich individuell äußert oder für wen er als repräsentativ gelten kann, und nicht zuletzt, ob seine Äußerung privat (etwa in einer Tagebuchaufzeichnung) oder öffentlich (etwa in einer Rezension) geschieht. Für den antiken Bereich ist alles dies auf Grund der spezifischen Selektion des Uberlieferten nur sehr eingeschränkt faßbar. Immerhin, ob beispielsweise Aristophanes sich über Aischylos und Euripides äußert, Piaton über Hesiod, Cicero über Ennius, Horaz über Vergil, Gellius über Catull: Prinzipiell ist jedesmal neu nach Art und Kontext der Aussage zu fragen. Einen Ausgangspunkt für die praktische Arbeit können hier meist die testimonia bilden, die guten kritischen Ausgaben beigegeben sind. 46 Zwischen Zeitgenossenschaft und 'Nachwelt' werden im allgemeinen die Ubergänge fließend sein. Wichtig ist wiederum die Frage nach der Reichweite oder gar Repräsentativität. Ist zum Beispiel Aristophanes tatsächlich so etwas wie ein Sprachrohr der 'öffentlichen Meinung' seiner attischen Zeitgenossen, und was ist darunter genauer zu verstehen? Und wie steht es, unter ganz anderen Verhältnissen, etwa mit Juvenal? Wo beginnt das rein Persönliche? Wie verhält es sich in dieser Hinsicht - um ein Beispiel aus einem ganz anderen Bereich zu wählen - mit Petrarca und Cicero? Die siebte und letzte Gruppe unseres Versuchs einer orientierenden Klassifikation umfaßt alle Zeugnisse für die institutionellen Bedingungen, unter denen Rezeption, Wirkung und Überlieferung literarischer Texte sich im Horizont der Geschichte vollziehen. Dieser Bereich ist auch von den Neuphilologien entschieden zu wenig beachtet worden, und für die Klassische Philologie ist er aus noch zu erörternden Gründen von besonderem Interesse. Institutionen in dem hier vorausgesetzten Sinn sind sowohl das Mahl im großen Haus des Königs als auch die Siegesfeier, der tragische Agon wie - im Fall der Rhetorik - die Gerichtsverhandlung oder die politische Versammlung, die Saturnalien wie das Convivium, der Zirkus oder die Rhetorenschule. Mit Begriffen wie Anlaß, Gelegenheit, Sitz im Leben ist dieser Komplex kategorial noch nicht zureichend erfaßt, sie meinen Benachbartes oder auch sich Überschneidendes. Institution Leicht zugänglich sind die auf einzelne Werke zentrierten Bändchen Erläuterungen und Dokumente in Reclams Universal-Bibliothek, regelmäßig mit einer knappen Auswahl von „Dokumenten zur Wirkungsgeschichte". Einen anderen, autorzentrierten Typus repräsentieren die gewichtigen Bände in der von Mandelkow herausgegebenen Reihe Wirkung der Literatur. Deutsche Autoren im Urteil ihrer Kritiker. Frankfurt a. M., Bonn 1969ff. (seit 1975 München).

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wird hier verstanden als das spezifische, überindividuelle Bedingungsgefüge, auf das hin literarische Werke jeweils schon konzipiert werden - selbstverständlich nicht nur im Sinne der bloßen Anpassung. Institution bezeichnet zugleich einen Horizont, innerhalb dessen sich Rezeptionen und Wirkungen allererst vollziehen und der in seinen Traditionen wie in seinen geschichtlichen Wandlungen den Wandel des Textverstehens selbst fundamental mitbedingt. 47 Hier sind sozial gebundene ethische Normensysteme — erinnert sei nur an die Rezeption der Helden- und Götterepen, bis hin zur apologetischen Allegorese - ebenso gemeint wie die literarisch-ästhetischen Wertvorstellungen. Sie werden vor allem durch die Bildungsinstitutionen vermittelt, die uns wiederum in einer großen Zahl verschiedenartiger Textdokumente zugänglich sind, auch für weite Bereiche der Antike. Lektürelisten beispielsweise, die durch ihre simple Enumerativik auf den ersten Blick wenig reizvoll erscheinen, gehören zu den aufschlußreichsten und geschichtlich folgenreichsten Dokumenten für Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Welche Bedeutung die institutionelle Kanonbildung für Erhaltung und Überlieferung von literarischen Werken annehmen kann, dürfte dem Klassischen Philologen so evident sein wie kaum einem anderen. 48 Und bei der bloßen Nennung von Autoren und Werken, so wichtig allein dies schon ist, braucht es für diese Dokumentengruppe nicht zu bleiben. Die Skala ist breit und reicht bis hin zu Lektüre-Empfehlungen nach Art von Quintilians Institutio oratoria, wo freilich die Grenzregion zur vorgenannten Gruppe (Abhandlungen, Rezensionen usw.) bereits überschritten ist. Die bisherige Diskussion um Sinn, Möglichkeiten und Grenzen der Rezeptionsforschung hat dem damit angesprochenen institutionengeschichtlichen Bereich und seinen Dokumenten noch viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwischen den beiden Extremen eines substantialistisch verstandenen, nur immanent faßbaren Textsinns an sich', und einer fast mystischen, alles determinierenden Größe 'Gesellschaft' bleibt hier, im Bereich der Institutionen, ein sehr handfestes, auch spezifisches Feld flir historische Rezeptionsforschung. 49 'Ausgangspunkt' ist zu betonen, da die Selektionskriterien für die Dokumentenarten wie für die Inhalte oft sehr eng gefaßt sind (sich gelegentlich sogar nur auf den Autor als biographisch-historische Person beziehen). Verf.: Wirkungsgeschichte und Tradition. Ein Beitrag zur Methodologie der Rezeptionsforschung, in: Literatur und Leser (wie Anm. 38), S. 85—100. Anschauliche Beispiele in Fülle bietet Herbert Hunger u. a.: Geschichte der Textüberlieferung der antiken und mittelalterlichen Literatur. Bd. 1. Zürich 1961. Wieviel hier auch in den neueren Literaturen noch zu tun bleibt, zeigen exemplarisch die Vorlagen und Diskussionen in: Albrecht Schöne (Hrsg.): Stadt - Schule - Universität - Bücherwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Vorlagen und Diskussionen eines Barock-Symposions der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1974 in Wolfenbüttel. München 1976.

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Methodenreflexion

Der knappe, bewußt additive Überblick über die wichtigsten Untersuchungsfelder schien notwendig, um dem naheliegenden und in Diskussionen immer wieder auftauchenden Mißverständnis zu begegnen: Rezeptionsforschung sei eben doch nur Beschäftigung mit innerliterarischer Einflußgeschichte, mit Urteilsgeschichte oder auch sogenanntem Nachleben oder Fortleben; im übrigen fehlten dafür in weiten Bereichen der Antike die Dokumente. Das alles gilt nur sehr eingeschränkt, und die Zahl der anstehenden Forschungsaufgaben ist, wie man leicht ermessen kann, groß genug. Dabei läßt sich an eine Reihe bereits existierender Untersuchungen und Darstellungen anknüpfen, mit ihren Materialien und Resultaten arbeiten. Mehrere solcher Anknüpfungsmöglichkeiten wurden bereits genannt, von den testimonia in guten kritischen Ausgaben bis zu den dififerenziertesten Analysen innerliterarischer Beziehungen. Hierher gehören selbstverständlich zunächst werkzentrierte Arbeiten vom Typus 'Die Elektra-Dramen des Aischylos, Sophokles und Euripides' oder etwa 'Aeneis und Odyssee, auch autorzentrierte Untersuchungen wie 'Menander und Aristophanes' oder 'Horaz und Alkaios'. Hinzu kommen, mit etwas anderer Blickrichtung, die klassischen Längsschnitte wie Die Schätzung des Archilochos im Altertume50 oder Kallimachos in Rom51 oder De poetis latinis Lucreti imitatoribus.52 Schließlich sind, für einen Dialog mit den Neuphilologien besonders fruchtbar, diejenigen Studien zu nennen, die — mit der Konzeption eines 'Nachlebens', 'Fortlebens', 'Weiterwirkens' oder wie auch immer^' — den Bogen auch in die Neuzeit hinüberspannen: Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe,54 Cicero im Wandel der Jahrhunderteoder mit umgekehrter, meist eingegrenzterer Perspektive: Winckelmann und Ho-

So Albrecht von Blumenthal: Die Schätzung des Archilochos im Altertume. Stuttgart 1922. So Walter Wimmel: Kallimachos in Rom. Die Nachfolge seines apologetischen Dichtens in der Augusteerzeit. Wiesbaden 1960. So Leo Woll: De poetis Latinis Lucreti imitatoribus. Diss. Freiburg 1907. Auf das vieldiskutierte Problem kann hier nicht näher eingegangen werden. Immer wieder sind vor allem die Begriffe 'Nachleben' und 'Fortleben' als unsachgemäß und perspektivisch verzerrend kritisiert worden. Wolfgang Schadewaldt, der so anregende und verdienstvolle Interpret des 'Nachlebens', sprach gelegentlich ironisch vom 'Nachtleben'. Und selbst Richard Newald, der als Humanismus-Forscher lange Jahre seine wichtigen Literaturberichte zum 'Nachleben der Antike' verfaßte, bezeichnete den Begriff als „irreführend" (hierüber Hans-Gert Roloff: Nachwort des Herausgebers, in: Richard Newald: Probleme und Gestalten des deutschen Humanismus. Hrsg. v. H.-G. R. Berlin 1963, S. 460-484; hier: S. 471). Trotzdem ist es bis heute bei dem 'Verständigungsbegriff' und der damit verbundenen Vorstellung weitgehend geblieben; der neuerdings gelegentlich statt dessen verwendete Begriff'Rezeption' allein löst das Grundproblem der Perspektive noch nicht. So Georg Finsler: Homer in der Neuzeit von Dante bis Goethe. Italien - Frankreich - England—Deutschland. Leipzig, Berlin 1912; Nachdr. Hildesheim 1973. So Tadeusz von Zielinski: Cicero im Wandel der Jahrhunderte. Leipzig 3 1912; Nachdr. Stuttgart 6 1973.

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mer,56 Hofmannsthal und die Griechen57 oder auch Antike Tradition im Werk Bertolt Brechts™ In allen diesen Arbeiten, so verschieden sie nach Ziel und Methode angelegt sein mögen, werden grundsätzlich immer gleich mehrere der erwähnten Untersuchungsfelder und Dokumentenarten berücksichtigt sein: 'Urteile über', 'Einflüsse von', eventuell auch 'institutionelle Bedingungen für'. Jedes einzelne Zeugnis, jede wichtige Beobachtung sollte zunächst aufgenommen und nicht in hochmütig avanciertem 'Methodenbewußtsein' beiseitegeschoben werden, wie es gelegentlich geschieht. Um so entschiedener ist festzuhalten, daß erst im synthetischen Ausschöpfen der uns erschließbaren Möglichkeiten die Aufgabe der Rezeptionsforschung ihren Sinn erhält. Ein bares Aufzeigen von - mehr oder weniger mechanisch gedachten — 'Einflüssen oder ein noch so geistvoll kommentierendes Aneinanderreihen von 'Urteilen' bliebe hinter dem zurück, was Rezeptionsforschung heute leisten kann. Wie aber sehen die synthetischen Akte philologischer Arbeit aus, die das rezeptioneile Einzelphänomen erst im historisch-hermeneutischen Sinne 'sprechend' machen und auch für den Bereich der antiken Literaturen realisierbar sind? Gibt es vielleicht 'die' rezeptionsgeschichtliche oder rezeptionsästhetische Methode, die sich hier generell anwenden ließe? Wilamowitz erwiderte bekanntlich auf die Vermutungen seiner Berliner Kollegen Adolf von Harnack und Gustav Roethe bezüglich 'der' philologischen Methode, die er ja besitze: das gebe es ebensowenig wie 'die' Methode, Fische zu fangen, und erst recht gelte dies für die Jägerei. Was sich hier scherzhaft-ablenkend auf das immer Neue, Lebendig-Individuelle der philologischen Gegenstände bezieht, gilt für 'die' Methode der Rezeptionsforschung schon mindestens aus zwei Gründen: aus der immer neuen Quellen- und Überlieferungslage, je nach Autor oder Bezugstext, und aus Verlauf und gegenwärtigem Stand der Methodendiskussion selbst. Aber Teilantworten auf die gestellten Fragen sind möglich. Rezeptionsforschung, wie sie hier verstanden wird, ist weder eine neue Gesamtmethode noch bloßer Anhang, sondern zielt auf bestimmte Aspekte literarhistorischer Arbeit und stellt insofern einen Teil des philologischen Geschäfts dar.59 Sie ersetzt nicht

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Wolfgang Schadewaldt: Winckelmann und Homer. Leipzig 1941; auch in: W. Sch.: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur. Zürich, Stuttgart 1960, S. 6 0 0 - 6 3 6 . Walter Jens: Hofmannsthal und die Griechen. Tübingen 1955. Peter Witzmann: Antike Tradition im Werk Bertolt Brechts. Berlin 1964. In diesem Sinne hat auch Jauß ausdrücklich von der „Partialität der rezeptionsästhetischen Methode" gesprochen.

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Methodenreflexion die Untersuchung von Thematik, Aufbau, Stil, Metrik usw., sondern rückt deren Ergebnisse in einen neuen, spezifischen, historisch-hermeneutischen Horizont; sie kann das Einzelne in seiner Funktionalität wie in seiner Sinndeutung somit auch verändern. Gerade wenn man diesen, historisch orientierten AspektCharakter der Rezeptionsforschung festhält, etwa in der Richtung des eingangs erläuterten Demodokos-Modells, werden Teilantworten zusätzlich legitim. Obwohl bis heute die rezeptionstheoretische Methodenfrage kontrovers, zum Teil auch verwirrend ist, lassen sich immerhin vier Arbeitskonzepte benennen, denen man synthetische Qualität zusprechen kann und die einander - noch ohne Anspruch auf streng systematischen Zusammenhang60 - sinnvoll ergänzen können. Dem oben entwickelten Klassifikationsversuch entsprechend sei die Bestimmung der einem Text inhärenten Rezipienten-Rolle(n) an erster Stelle genannt.61 Sie geht zunächst durchaus textimmanent vor und setzt am sinnvollsten bei den besonders deutlichen Rezeptionsvorprägungen ein, denen nach und nach andere auf die Rezeption bezogene Elemente (etwa deiktische Sprachgesten) zugeordnet werden. Jede Mechanik und jeder Systemzwang sind hier zu meiden. So bleibt zum Beispiel prinzipiell offen, ob sich die einzelnen beobachteten Momente wirklich zu einer 'Rolle' zusammenschließen;62 auch ist nicht von vornherein ausgemacht, daß nicht im Textverlauf Modifikationen, ja Neukonzeptionen eintreten. Am fruchtbarsten hat sich die Fragestellung bisher bei den erzählenden Gattungen erwiesen. Aber auch das Drama ist ihr zugänglich, man denke an die 'mitleidenden' Figuren der attischen Tragödie, an den Chor als den 'idealen Zuschauer' und an das Über-die-Rampe-Sprechen in der Komödie. Und für weite Bereiche der antiken Lyrik sei nur auf den oft hervorgehobenen 'dialogischen' Charakter hingewiesen, der wesentlich in der 'Gelegenheits'-Bindung gründet. Die Rhetorik schließlich bietet uns sogar die Möglichkeit, das in der Antike selbst entwickelte Analyse-Instrumentarium als Anregung aufzunehmen. In älteren Kommentaren auch zu poetischen Texten ist eine Fülle brauchbarer rhetorischer Beobachtungen zusammengetragen, gelegentlich ein wenig

Ansätze dazu bei Link: Rezeptionsforschung (wie Anm. 38), doch müssen die dort angedeuteten Zusammenhänge weithin noch Postulat bleiben. Die wichtigsten exemplarisch-interpretatorischen Vorarbeiten hierzu leistete Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972. Die Beziehungen zur soziologischen Rollentheorie und Rollenanalyse beschränken sich bei den Autoren, die von 'Leserrollen' sprechen, durchweg auf Andeutungen und gelegentliche Analogien. Es fehlt noch eine gründliche Gesamtanalyse dieses Problemfelds.

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naiv oder mechanisch sich ausnehmend, aber vielleicht zugleich daran erinnernd, daß das Dichtungsverständnis auch des modernen Interpreten sich stets der historischen Korrektur auszusetzen hat. Damit ist zugleich eine Schwierigkeit, ja eine Hauptaufgabe der Rezeptionsforschung angesprochen: die Notwendigkeit, das textimmanent oder gar 'formal' als Rezipientenrolle Herausgearbeitete nun in einen historischen Rezeptionskontext hineinzustellen. Hier ist an die von Jauß so genannte Rekonstruktion des Erwartungshorizonts zu erinnern, 63 den zweiten Typus synthetischer Arbeit der Rezeptionsforschung. Es handelt sich um die Ermittlung und zunächst synchrone Zuordnung aller literarischen und lebenspraktischen Momente, die als Vororientierung in die Entstehung und in die frühe Rezeption eines Werks eingehen. Man hat diesen methodischen Vorschlag wegen seiner Vagheit und wegen der Gefahr des Zirkelhaften verschiedentlich kritisiert. 64 Zweifellos ist die Aufgabe nicht nur im Hinblick auf die unterschiedliche Quellenlage, sondern auch auf die Kategorik des Ansatzes problematisch. So hat Mandelkow vorgeschlagen, die Horizonte der Epochenerwartung, der Werkerwartung und der Autorerwartung als „drei verschiedene Erwartungsfolien" begrifflich zu trennen. 65 Das bedeutet schon eine wichtige Differenzierung, muß aber Hilfskonstruktion bleiben, da die einzelnen Kategorien in Wirklichkeit ständig ineinandergreifen. Speziell für die antiken Literaturen ist, wegen der bekannten, charakteristischen Gattungsorientiertheit, die Rekonstruktion der Gattungserwartung jeweils eine vielversprechende Aufgabe; man erreicht hier durchweg ein hohes Maß an Genauigkeit, höher jedenfalls, als im allgemeinen bei den neueren und vor allem neuesten Literaturen. Schließlich darf man sich bei der Grundproblematik eines zu vage gefaßten 'Erwartungshorizonts' daran erinnern, daß für den gesamten Bereich der antiken Literaturen, von der Welt des Homerischen Sängers über die attische Polis bis hin zum kaiserzeitlichen Rom, die Literaturverhältnisse begrenzter, überschaubarer bleiben als etwa im 18. Jahrhundert, geschweige denn in der Gegenwart (unterschiedliche Quellenlage und die Gefahr der perspektivischen Täuschung widersprechen dem nicht). Der Ertrag für die konkrete Textinterpretation kann beträchtlich sein. Für die Ritter des Aristophanes beispielsweise hat Ernst Richard Schwinge zeigen können, 66 wie das Pro63

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Literaturgeschichte als Provokation (wie Anm. 7), S. 173ff. (mit „Erwartungshorizont" hat Jauß bekanntlich einen Begriff des Soziologen Karl Mannheim aufgenommen). Auseinandersetzung mit der Kritik und Präzisierung des Konzepts bei Jauß: Racines und Goethes Iphigenie (wie Anm. 33), S. 39Iff. Probleme der Wirkungsgeschichte (wie Anm. 13), S. 80. Zur Ästhetik der Aristophanischen Komödie am Beispiel der Ritter, in: Maia 27 (1975), S. 177-199.

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blem der Handlungsführung erst im Horizont der politischen Wirkungsabsicht und der Publikumserwartung seine angemessene historische Perspektive erhält. Die Schwierigkeit, das zunächst synchron als Erwartungshorizont Rekonstruierte mit geschichtlich nachfolgenden Horizonten zu vermitteln - bekanntlich ein Grundproblem des Strukturalismus - , stellt sich prinzipiell auch der dritten Aufgabe synthetischer Rezeptionsforschung: Interpretation der einzelnen Rezeptionen im Sinne eines sich entfaltenden Sinnpotentials.67 Sie gründet auf der Prämisse, daß ein literarisches Werk nie an und für sich, sondern - mit Roman Ingarden zu reden68 - nur jeweils in „Konkretisationen" lebt und wirkt, in „Konkretisationen", deren Spielraum durch die sogenannten „Unbestimmtheitsstellen" des Textes gegeben ist (von Iser als „Leerstellentheorie" weiterentwickelt).69 Der Gedanke, der leicht dem Verdacht eines modernen Subjektivismus ausgesetzt ist, kann sich nicht nur auf Uberlieferungen der abendländischen Hermeneutik stützen. Auch etwa die rabbinische Schriftauslegung des Midrasch70 geht von der Grundauffassung aus, Gottes Wort sei vieldeutig insofern, als er vieles in einem Wort sagen könne, und daß das eine Wort bereits alle späteren Deutungen in sich enthalte. Der Gedanke, der in seiner Geschichtsprägung so unantik anmutet, ist auch in der Klassischen Philologie nicht gänzlich neu. Schon 1930 heißt es bei einem des bloßen Modernismus kaum verdächtigen Philologen: „Immer wird die Wirkung etwas vom Wesen enthüllen: noch im Mißverstehen einer Nachwelt tritt meist nur ein Überakzentuieren bestimmter Wesenszüge zutage. Man kann sagen, daß die Wirkung potentiell bereits im Wesen präsent ist, daß nur entfaltet wird, einseitig, in dauernd sich ablösenden Einseitigkeiten, was am ersten Tage seiner Erschaffung bereits da war. Nur wer vom Ende aller Tage rückschauend das Werk und seine ganze Wirkung in eines sehen könnte, hätte den wahren Aspekt vom ganzen Wesen des Werkes." Es sind Worte Otto Regenbogens,71 in manchem übrigens an die Geschichts- und Literaturauffassung Walter Benjamins erinnernd, und das Programm, das sich in diesen wenigen Sätzen verbirgt, ist nicht nur noch nicht eingelöst, sondern aktueller denn je. In Regenbogens 67 68

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Vgl. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation (wie Anm. 7), S. 186. Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks. Tübingen 1968, S. 49ff. (dieser Ansatz ist vor allem vom Kreis der tschechischen Strukturalisten aufgenommen worden). Die neueste Stufe in: Iser: Der Akt des Lesens (wie Anm. 29), S. 284ff. Fritz Maass: Von den Ursprüngen der rabbinischen Schriftauslegung, in: Zs. f. Theol. u. Kirche 52 (1955), S. 1 2 9 - 1 6 1 . Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas, in: Vortrage der Bibliothek Warburg 7 (1930), S. 1 6 7 - 2 1 8 ; jetzt in: O. R.: Kleine Schriften. München 1961, S. 4 0 9 - 4 6 2 ; hier: S. 4 1 4 . Vgl. auch die wenige Seiten später (S. 4 3 0 ) geäußerte „Überzeugung, daß die Wirkung grundlegende Züge des Wesens einschließt oder besser gesagt ausdrückt und die Vertiefung in die Wirkung den Blick für das Wesen nicht nur nicht verdunkelt, sondern erst recht freimacht".

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Formulierung wird auch noch einmal deutlich, daß die Beschäftigung mit Rezeptions- und Wirkungsgeschichte es nicht mit einer beliebigen Appendix zu tun hat, sondern mit der geschichtlichen Ausfaltung der dem Werk inhärenten sinnhaften Möglichkeiten selbst. Wiederum ist eine Einheitsmethode, mit deren Hilfe sich das Programm einlösen ließe, nicht anzubieten. Entscheidend ist die immer neu reflektierte Weise des Umgangs mit den uns jeweils überlieferten Zeugnissen. Und hier stellt sich die vierte Aufgabe gewissermaßen als notwendiges Komplement zur dritten: Reflexion auf die rezeptioneile Vermitteltheit unseres eigenen, heutigen Zugangs zu den literarischen Werken auch der Antike. Beschäftigung mit Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zeigt uns nicht nur die historische Distanz unseres Textverstehens gegenüber demjenigen früherer Generationen und Epochen (und insbesondere der 'ersten Rezipienten'). 72 Vielmehr tritt die geschichtliche Vermitteltheit unseres eigenen Zugangs, vor allem auch die Geprägtheit durch vorgängige Rezeptionen, erst voll ins Licht. Daß „positivistische Objektivität als Scheinobjektivität zu durchschauen" ist,73 hat die Hermeneutik längst gelehrt. 74 Rezeptionsforschung aber ermöglicht es, über dieses mehr abweisende Moment hinauszugelangen und uns vor den Rezeptionscharakter unserer Uberlieferung selbst zu führen. Dies gilt jedoch nicht nur spekulativ allgemein - in etwas enger Auslegung der Position Gadamers - , sondern analytisch konkret. Alle die hier skizzierten Untersuchungsfelder können prinzipiell auch für die antiken Literaturen fruchtbar gemacht werden, und wenn das Grundsätzliche der rezeptionsgeschichtlichen Fragestellung einleuchtet, sollte philologische Arbeit dies als genuinen Aspekt mit einbeziehen. Zahl und Vielfalt der Vorarbeiten, die aus der Klassischen Philologie selbst herangezogen werden können, sind groß genug, um wenigstens in einigen Bereichen den Einstieg zu erleichtern; nur wenige Beispiele konnten hier genannt werden. In den Neuphilologien ist die Rezeptionsforschung, wie angedeutet, über das bloß Modische gewiß hinweg. Im Positiven wie im Negativen läßt sich sowohl aus exemplarischen Untersuchungen als auch aus der einschlägigen Me-

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Das Bemühen um die ersten Rezipienten' gehört im Sinne einer dezidiert historischen Sichtweise gelegentlich auch zur 'klassischen' Methode philologischen Arbeitens, während alles Nachfolgende zumeist nur anhangweise berücksichtigt wird. So Richard Kannicht: Philologia perennis?, in: Attempto 39/40 (1971), S. 46-56; jetzt in: Rainer Nickel (Hrsg.): Didaktik des altsprachlichen Unterrichts. Darmstadt 1974, S. 3 5 3 385; hier: S. 370. Gerhard Jäger: Einführung in die Klassische Philologie (wie Anm. 6), S. 106 kritisiert allerdings, daß die Hermeneutik-Diskussion „leider fast ohne Beteiligung der Klassischen Philologie" geführt worden sei.

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thodendiskussion lernen. Die Klassische Philologie ist darüber hinaus für einen weiterführenden Dialog besonders prädisponiert, einen Dialog, der den Neuphilologien ihrerseits Kritik und Anregung vermitteln könnte. Wenn die Klassische Philologie sich mit ihrer besonderen Kompetenz in die Diskussion über die wirkungsästhetischen Elemente der antiken Literaturauffassungen einschaltet, kann sie einen sehr spezifischen und zugleich unprätentiösen Beitrag zur noch durchaus nicht abgeschlossenen Revision der Produktions- und Darstellungsästhetik leisten. Sie verfügt zweitens, auf Grund des charakteristisch imitatorischen Moments in den antiken Literaturbeziehungen selbst, über einschlägige Erfahrungen, die ein rezeptionsgeschichtliches Arbeiten entschieden erleichtern müßten. In ihrer charakteristischen Tradition als Teil einer umfassenderen Altertumswissenschaft75 liegen drittens Erfahrungen und Möglichkeiten,76 wie sie keiner der Neueren Philologien zu Gebote stehen: etwa in dem für Rezeptionsforschung zentralen Bereich der Institutionengeschichte, die Bruno Snell in seinen Vorlesungen über Dichtung und Gesellschaft bei den Griechen entfaltet hat.77 Schließlich, viertens, ist die Klassische Philologie so entschieden wie keine ihrer neueren Töchter auf die Uberlieferungsgeschichte ihrer Texte als auf eine Geschichte verwiesen; vielleicht am deutlichsten hat das immer noch Wilamowitz gesehen. Als August Boeckh vor mehr als anderthalb Jahrhunderten seine Idee der Philologie entwickelte, konnte er nicht umhin, die als synthetisch zu verstehenden Akte des Philologen in vier „Interpretationen" (grammatische, individuelle, historische, genetische) auseinanderzulegen.78 Von solcher Sicherheit des Normierens und des Separierens ist die heutige Methodendiskussion der philologischen Wissenschaften gewiß weit entfernt. So verbietet es sich auch, etwa dieser Vierheit eine 'rezeptionelle Interpretation' lediglich hinzuzufügen. Aber auf dem Aspekt-Charakter der Rezeptionsforschung ist zu bestehen, und darauf, daß die Addition von scheinbar Vertrautem oder bereits Erarbeitetem - dem

So immer noch aktuell greifbar in der Mommsen-Gesellschaft als dem „Verband der deutschen Forscher auf dem Gebiete des griechisch-römischen Altertums". Für die Germanistik beispielsweise existiert nichts dergleichen. Daß in dieser Tradition auch Problematisches liegt (etwa die Gefahr, das literarische Werk zum bloßen 'Dokument' für anderes zu degradieren), ist neuerdings wieder diskutiert worden. Dichtung und Gesellschaft. Studien zum Einfluß der Dichter auf das soziale Denken und Verhalten im alten Griechenland. H a m b u r g 1965. (Trotz der Betonung des 'Einflusses' der Dichter im Untertitel wird deren institutionelle 'Bedingtheit' nicht weniger deutlich.) Bemühungen u m die Verbindung von Gattungsgeschichte und Institutionengeschichte jetzt auch etwa in: Manfred Fuhrmann (Hrsg.): Römische Literatur. Frankfurt a. M . 1974. Enzyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften. Leipzig 1877 (die posthume Veröffentlichung durch Ernst Bratuschek geht bekanntlich auf frühere Vorlesungen zurück).

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'Nachleben oder der 'Einflußgeschichte' - dem synthetischen Anspruch von Rezeptionsforschung auch nicht näherungsweise gerecht wird. Wolf-Hartmut Friedrich hat einmal einen Beitrag über ein bereits vielbehandeltes — übrigens wirkungsästhetisches - Problem mit folgenden beiden Sätzen begonnen: „Betrifft eine ungewohnte Fragestellung den Stoff einer altbekannten, wird in der Regel nur die altbekannte herausgehört. Die konventionelle Thematik ist die Feindin der unkonventionellen und läßt kein Interesse an der besonderen Absicht des Verfassers aufkommen". 79 Dies bleibt eine Gefahr. Die Rezeptionsforschung wird noch auf lange Zeit hin sowohl der exemplarischen Versuche als auch des prinzipiellen Disputs bedürfen, nicht nur zwischen sog. 'bürgerlicher' und marxistischer Wissenschaft, sondern auch zwischen den einzelnen Philologien. Die Klassische Philologie sollte sich mit ihrer besonderen Erfahrung daran beteiligen. Denn auch hier gilt: quidquid recipitur, recipitur ad modum recipientis.

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Sophokles, Aristoteles und Lessing, in: Euphorion 57 (1963), S. 4-27; jetzt in: W.-H. F.: Vorbild und Neugestaltung. Sechs Kapitel zur Geschichte der Tragödie. Göttingen 1967, S. 188-209; hier: S. 188.

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Das 18. Jahrhundert als Erprobungsfeld neuer Forschungsansätze *

Vor gerade erst einem reichlichen Jahr, vom 26. Juli bis zum 2. August 1987, fand hier in dieser Stadt, von nicht weniger als 850 Teilnehmern aus aller Welt besucht, der Siebente Internationale Aufklärungskongreß statt (Vll c Congres International des Lumi£res).' Zum ersten Mal tagte man in einem Mitgliedstaat des Warschauer Pakts: Erprobung von etwas Neuem in einem Land, das im phantasiereichen Experimentieren mit dem Ungewohnten, im intelligenten Risiko bereits eine eigene nationale Tradition besitzt. 'Aufklärung' - das war, trotz oder gerade wegen der vielerorts bemerkbaren Abnützungserscheinungen, das Stichwort, das die Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, auch manche Germanisten, hierher nach Budapest lockte. Aber der Weltverband, der für die längerfristige Vorbereitung verantwortlich zeichnete, heißt International Society for Eighteenth-Century Studies (mit den jeweils einzelsprachlichen Äquivalenten). 2 Sind denn, so fragt man sich, in der heutigen Perspektivik '18. Jahrhundert' und 'Aufklärung' so weitgehend miteinander identisch? In der Spannung zwischen diesen beiden Fixierungen ist schon ein wesentlicher Teil nicht nur der wissenschaftspolitischen Probleme angelegt, mit denen die etwa ein Dutzend nationaler Teilgesellschaften sich auseinanderzusetzen haben. Es steckt darin zugleich ein zentrales Moment jenes methodischen Reizes, der seit etwa zwei Jahrzehnten vom Forschungsfeld 18. Jahrhundert ausgeht. Unter der Devise der *

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Erstpublikation in: Beiträge der Fachtagung von Germanisten aus Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland in Budapest vom 16. bis 19. November 1988. Hrsg. v. Hans-Joachim Althof, Ärpäd Bernath, Karoly Csiiri ( D A A D / J A T E Dokumentationen und Materialien). Szeged u. Bonn 1989, S. 43-57. Vortrag, gehalten auf einem vom Deutschen Akademischen Austauschdienst ( D A A D ) initiierten bilateralen, ungarisch-deutschen GermanistentrefFen, 16.—19. November 1988 in Budapest. So der offizielle französische Titel, dem an zweiter Stelle „Vllth International Congress on the Enlightenment" beigegeben war. Vgl. die Berichte von Jochen Schlobach und Carsten Zelle in: D a s Achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Jg. 11, H . 2 (1987), S. 7 2 - 7 4 bzw. S. 7 4 - 7 8 . Die „Deutsche Gesellschaft" ist mittlerweile mit über 600 Mitgliedern, hinter der amerikanischen und der französischen, die drittgrößte Gesellschaft.

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Methodenreflexion 'Aufklärung' hat ein ganzes Jahrhundert - nicht nur in den beiden deutschen Staaten, auch in Frankreich, den USA und anderen - sozusagen wissenschaftliche Karriere gemacht wie nicht leicht eine andere Epoche, jedenfalls der deutschen Literatur. Dies gilt auch im Hinblick etwa auf das Barockjahrhundert, jene Wiederentdeckung um die Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg und dann der 20er Jahre. 3 Ich nenne drei ganz äußerliche Beobachtungen, die vorläufig auf das im genaueren Sinne Paradigmatische dieser Vorgänge zumindest in der Bundesrepublik hindeuten mögen. Die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts, 1975 als Antwort auf den bereits internationalen Zusammenschluß gegründet, ist mit weitem Abstand die größte, die sich einer solchen Epoche, ja einem ganzen Jahrhundert widmet. Für das 19. Jahrhundert hat sich nichts Analoges herausgebildet - wenn es denn überhaupt als sinnvoll erscheinen würde - , geschweige denn für das 20. Jahrhundert. Und für das 17. Jahrhundert heißt die allenfalls vergleichbare Vereinigung: Internationaler Arbeitskreis für Barockliteratur, wie die Deutsche Gesellschaft in Wolfenbüttel gegründet und ebenfalls um Zusammenarbeit mit anderen Fächern bemüht. 4 Doch für keines der größeren historischen Forschungsfelder hat sich Interdisziplinarität inzwischen längst auch modisch und bisweilen illusionistisch geworden 5 - so entschieden und ostentativ und früh durchgesetzt wie bei den von den Franzosen gerne so betitelten 'dixhuitiemistes' (im Deutschen haben wir noch kein präzises Gegenstück). Nicht nur Germanisten, Anglisten, Romanisten, Slavisten arbeiten zusammen (was für sich genommen noch nicht einmal Interdisziplinarität im strengen Sinne begründen würde), sondern Allgemeinhistoriker, Kunstwissenschaftler, Philosophen, Bildungshistoriker, Rechtshistoriker und viele andere. Liegt es am Forschungsfeld selbst? Eine weitere Beobachtung. Für das 18. Jahrhundert wird in auffälliger Weise nachgerade geworben. Es wird breitgestreute Erschließungsarbeit getrieben, auch Lesepädagogik, gewissermaßen einen vielbeschriebenen Grundzug jenes 'pädagogischen Jahrhunderts' - wie es ja früh genannt wurde - in der Gegenwart programmatisch fortsetzend. Wohl für keine andere Epoche, ausgenommen vielleicht das Barock (aber dort notgedrungen mit schmalerer Resonanz), sind so viele Neudrucke, Nachdrucke, Wiederentdeckungen auf den Markt ge3

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Dies wurde, mit zahlreichen neuen Aspekten, erst kürzlich wieder erkennbar beim Wolfenbütteler Kongreß „Europäische Barockrezeption" (22.-25. August 1988, 6. Jahrestreffen des Internationalen Arbeitskreises für Barockliteratur). Außer in den Tagungen auch durch das regelmäßig erscheinende Organ Wolfenbütteler BarockNachrichten (mit umfangreichem Bibliographie-Teil) dokumentiert. Kritische Bestandsaufnahme in: Interdisziplinarität. Praxis - Herausforderung - Ideologie. Hrsg. v. Jürgen Kocka. Frankfurt a. M. 1987.

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Das 18. Jahrhundert

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neuer

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bracht worden. Es gibt gleich mehrere einschlägige Reihen.6 Und ein namhafter Verlag, der seit Jahrzehnten unter anderem mit guten Leseausgaben diese Epoche pflegt, schenkte sich und dem Publikum in diesem Jahr, zum 225jährigen Bestehen, einen AJmanach unter dem Titel Einladung ins 18. Jahrhundert.7 Und noch etwas Auffälliges. Um die Mitte der 70er Jahre regte sich bekanntlich in vielen Bereichen des wissenschaftlichen und verlegerischen Betriebs - nicht nur - der Bundesrepublik der Wunsch, die im Zuge der 68er Bewegung geöffneten neuen Perspektiven (Sozialgeschichte, Rezeptionsgeschichte usw.)8 nun auch in großen historiographischen Überblicken zusammenzufassen. Daraus entstanden gleich eine ganze Reihe vielbändiger Verlagsprojekte: bei Beck und Metzler, bei Rowohlt, bei Hanser, bei Athenäum (es gab auch kleinere Vorhaben). Sie alle begannen entweder überhaupt erst mit dem 18. Jahrhundert, so Viktor ZmegaC bei Athenäum, 1978.9 Oder sie wählten, wenn der Plan durchaus bis zum 16. Jahrhundert oder gar bis zum Mittelalter zurückreichen sollte, den das 18. Jahrhundert betreffenden Band gewissermaßen emphatisch als den ersten, der erscheinen sollte. So war es bei Beck/Metzler vorgesehen (wo das Projekt freilich aus vielerlei Gründen nicht zustande kam), so bei Hanser (wo Rolf Grimminger 1980 den Band 3: 1680-1789 zuerst herausbrachte),10 so bei Rowohlt (wo es in der Literaturgeschichte von Horst Albert Glaser Band 4 war: etwas kleinteiliger, 1740—1786, herausgegeben von Ralph-Rainer Wuthenow, ebenfalls 1980).11 Das 18. Jahrhundert scheint also auch hier, bei solcherart repräsentativen Unternehmungen, als herausgehobenes Erprobungsfeld, als eine 'Epoche' oder ein 'Jahrhundert' zu gelten, von dem man zugleich annimmt, daß es besonderes Interesse findet. Aber gerade in der zeitlichen Erstreckung über das ganze Jahrhundert hin, wenngleich mit Modifikationen, liegt ein kardinales Problem. Das 18. Jahrhundert als 'Epoche', wie der Titel des ersten Tagungsbandes der DeutMaßstäbe setzte zunächst die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Reihe: Deutsche Neudrucke. Reihe 18. Jahrhundert (meist mit umfangreichen einführenden, erläuternden, bibliographischen, dokumentarischen Anhängen). Einladung ins 18. Jahrhundert. Ein Almanach aus dem Verlag C. H. Beck im 225. Jahr seines Bestehens. Hrsg. v. Ernst-Peter Wieckenberg. München 1988. Vgl. den Überblick von Georg Stötzel, in: Beiträge der Fachtagung von Germanisten aus Ungarn und der Bundesrepublik Deutschland in Budapest (wie Anm. *), S. 2 7 - 4 1 . Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Viktor Zmegai. Bd. 1/1. Königstein/Ts. 1978. Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Hrsg. v. Rolf Grimminger. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1 6 8 0 - 1 7 8 9 . Hrsg. v. R. G. München, W i e n 1980. Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hrsg. v. Horst Albert Glaser. Bd. 4: Zwischen Absolutismus und Aufklärung: Rationalismus, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 1740—1786. Hrsg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Reinbek b. Hamburg 1980.

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Methodenreflexion sehen Gesellschaft 1978 bereits verheißt?12 Legt man eingeführte Periodisierungen und Gruppierungen zugrunde wie etwa Gottschedzeit oder Lessingzeit, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Spätaufklärung und dann noch das Weimarer sogenannte 'Klassische Jahrzehnt'; erinnert man sich ferner der Namen Gottsched und Geliert, Lessing, Klopstock und Wieland, Lenz, Klinger und Leisewitz, Hamann und Herder, Goethe und Schiller (um nicht die Frühromantiker als 'Kinder des 18. Jahrhunderts' noch hinzuzunehmen), so erscheint das Jahrhundert-Unternehmen vollends als hoffnungslos, wenn nicht gar als gefährlich einebnend. Daß man diesen Weg trotzdem mit solcher anhaltenden Wirkung gegangen ist, läßt sich zunächst mit Diagnosen begründen, die uns aus dem Jahrhundert selbst überliefert sind. Auffällig häufen sich gegen sein Ende hin die summierenden Rückblicke wie in keiner Epoche zuvor. Nur zwei inhaltlich weit auseinanderliegende Beispiele. In einem 1800/1801 in Berlin erschienenen Werk Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts kennzeichnet der preußische Prediger Daniel Jenisch die erste Jahrhunderthälfte als noch von den Partikular-Interessen der Höfe und Fürsten dominiert; dann aber habe sich die seit drei Jahrhunderten aufsteigende „Laufbahn des Menschengeschlechts" in der Vereinigung von „Weisheit", „Sittlichkeit", „schönem Kunstgeist" und „Glückseligkeit" vereinigt.13 Während sich hier das preußische Aufstiegsbewußtsein gewissermaßen offiziös mit den Beglückungs- und Kunstideen der Aufklärung verbindet, steht ein Brief der Sophie von La Roche an eine Freundin vom 16. Mai 1799 gerade in seiner Privatheit deutlich unter dem Eindruck der Französischen Revolution und ihrer Folgen: „es muß besser werden, das Schlimme ist hoch genug gestiegen [...]. Schreckliches philosophisches Jahrhundert!".14 In diesen beiden exemplarischen Zeugnissen, in ihrem Reden über das „Jahrhundert" spiegelt sich dreierlei. Es ist noch durchaus die zeitliche Erstrekkung des Säkulums gemeint, aber schon auch in jenem neuen Sinn von 'Epoche', wie er sich im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts besonders in Deutschland herausbildet.15 Diese „Jahrhundert"-Epoche jedoch hat zugleich wie keine frühere auf sich selbst als Epoche, auf ihren geschichtlichen Charakter reflekDas achtzehnte Jahrhundert als Epoche. Hrsg. v. Bernhard Fabian u. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Nendeln 1978. Geist und Charakter des achtzehnten Jahrhunderts, politisch, moralisch, ästhetisch und wissenschaftlich betrachtet. Bd. 1. Berlin 1800, S. 3f. An Elise zu Solms-Laubach, in: Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie von La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. Hrsg. v. Michael Maurer. München 1983, S. 373 („Schreckliches philosophisches Jahrhundert!" wird dort als „Seufzer" wiedergegeben). Vgl. mehrere Beiträge in: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. Hrsg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Poetik und Hermeneutik XII). München 1987.

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tiert und auch die Schlüsselbegriffe hierzu selbst formuliert. Schließlich hat sie wie keine andere das neue Wirkungspotential von Philosophie und Literatur in die Gesellschaft, in die Politik hinein erfahren und zu neuen Postulaten formuliert. So divergierend die nationalen Prozesse vor allem im Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland auch verliefen, das Einmünden aufklärerischer Tendenzen in ein welthistorisch Neues, Vorantreibendes dort, und das Aufgehalten-, 'Abgebogenwerden' in Deutschland: Der Blick auf'das' 18. Jahrhundert als ganzes ist dadurch eher verstärkt worden. Das Jahrhundert ist, gewiß in sich abgestuft, auch für die nachfolgenden Perioden als Beobachtungsfeld unaustauschbar geworden. Und zwar in seinem Doppelaspekt: im HeraufRihren eines welthistorischen Gipfels und im Moment der Selbstreflexion über Bedingungen und Ziele eben dieses Prozesses - auch der Rolle der Literatur darin. Für die Karriere des 18. Jahrhunderts zu einem neuen Paradefeld der Forschung und zu einem Erprobungsfeld neuer Ansätze ist dies fundamental geblieben. Ich erläutere die Voraussetzungen im Hinblick auf die vergangenen beiden Jahrzehnte kurz in drei Punkten. Erstens: Auch wenn das 18. Jahrhundert für jeden, der sich nur ein wenig darauf eingelassen hat, noch ganz anderes einschließt als 'aufklärerische' Tendenzen, so verbindet sich doch mit dem 'Philosophischen', mit dem Entwerfenden des Jahrhunderts für viele ein uneingelöstes 'Erbe'. Sei es, daß wie in Frankreich die Perversion der lumiferes durch den Terror als Hypothek auf der Nachwelt lastet (von der Guillotine bis zu den stalinistischen 'Säuberungen'), 16 sei es, daß wie in Deutschland die Aufklärung 'politisch' durch ihr Jahrhundert selbst nicht realisiert wurde. Dieses prekäre 'Erbe'-Moment hat nicht nur in der D D R , 1 7 sondern auch im Westen seit den ausgehenden 60er Jahren für viele unverkennbar treibend gewirkt. Dabei mag sich manches bloß Gesinnungshafte, manch peinliche Affinitäts-Behauptung vorgedrängt haben. Doch ein vergleichender Blick etwa auf das Barockjahrhundert zeigt sofort die Differenz. Hier ist kein emphatischer Auftrag einzulösen. 18 Zweitens: Unter der prinzipiell gleichen Geschichtsperspektive, freilich weniger ausgeprägt moralistischem Engagement steht die These, im 18. Jahrhundert konstituiere sich die eigentliche 'Moderne'. Auch wenn im Zuge der modi-

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ZentraJtext hierfür ist immer noch Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (zuerst 1947). Wo es zu den frühesten Motiven (nicht nur) der literaturwissenschaftlichen Forschung gehört, vgl. exemplarisch: Aufklärung. Erläuterungen zur deutschen Literatur. Hrsg. v. Kollektiv für Literaturgeschichte im Volkseigenen Verlag Volk und Wissen. Berlin (-Ost) 1958. W i e A n m . 3.

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Methodenreflexion

sehen 'Modernisierungs'-Debatten 19 einzelne Schübe schon seit Renaissance, Reformation, Frühabsolutismus angesetzt worden sind, so kommt doch die Fragestellung den Besonderheiten der deutschen Literaturgeschichte nachgerade entgegen. Sie läßt sich fast ins Empirische umsetzen. Lessing als eine unstreitig zentrale Gestalt des 18. Jahrhunderts (unter vielerlei Aspekten zentral: von seiner Lebenszeit bis zu seiner Wirkungsgeschichte, von der Soziologie des Schriftstellertums bis zur Literaturkritik, vom Theater bis zur Ästhetik) 20 ist der früheste Autor, mit dem unsere Gegenwart durch eine Kontinuität des Gelesenwerdens und Aufgeführtwerdens noch verbunden ist. Fast überall in den sogenannten 'Auslandsgermanistiken beginnt die Leseliste mit Lessing - was dann oft ausdrücklich dem Einsetzen 'moderner' Literatur gleichgeachtet wird. 21 Daß im 18. Jahrhundert das aufsteigende Bürgertum Hauptträger einer neuen Literatur wird, ist Gemeingut im Grunde seit dem Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit, der fälschlich so genannten 'Literaturgeschichte' Goethes.22 Doch das neuere Interesse am Problem der Modernisierung führt für das 18. Jahrhundert auch bis in die Höfe und in die neuen Modelle des Territorialregiments. Es ist bezeichnend, daß der jüngst veröffentlichte erste umfassende Versuch einer strukturellen Gesellschaftsgeschichte Deutschlands, derjenige von Hans-Ulrich Wehler,23 nicht etwa mit der sogenannten 'frühbürgerlichen Revolution' des 16. Jahrhunderts, 24 sondern mit dem 18. Jahrhundert einsetzt. Die Problematik wäre fur das Entstehen einer deutschen Literatursprache, über die große Monographie von Blackall hinaus, neu zu stellen. Sie betrifft auch die Bildungsbarrieren, die das polyhistorische Wissen des 17. Jahrhunderts vor dem heutigen Leser errichtet. Von Lessing an kann nach verbreiteter Einschätzung

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Erste Zwischenbilanz bei Hans-Ulrich Wehler: Modernisierungstheorie und Geschichte. Göttingen 1975. Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer: Lessing. Epoche-WerkWirkung. München 5 1987, S. 94ff. Diese Vorstellung dominiert nach meiner Erfahrung eindeutig über andere Ansetzungen von 'Moderne' (seit der Romantik, dem Naturalismus, der Jahrhundertwende, dem Ende des Zweiten Weltkriegs usw.). Vgl. Verf.: Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung. Zum Siebenten Buch von Dichtung und Wahrheit, in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700-1848). Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag. Unter Mitw. v. Ernst Fischer u. Klaus Heydemann hrsg. v. Wolfgang Frühwald und Alberto Martino. Tübingen 1989, S. 283-305. Zu den einschlägigen sozialgeschichtlichen Prozessen: Helmuth Kiesel/Paul Münch: Gesellschaft und Literatur im 18. Jahrhundert. Voraussetzungen und Entstehung des literarischen Markts in Deutschland. München 1977. Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära. 1700—1815. München 1987. So die überwiegende Deutung innerhalb der historisch-materialistischen Geschichtswissenschaft.

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jeder Neugermanist über alles schreiben. Für das 17. Jahrhundert bedarf es offenbar besonderer Vorkenntnisse. Dieses ausschließende Verhältnis vieler zur Barockepoche hat entscheidend dazu beigetragen, daß das 18. Jahrhundert in all seiner Heterogenität perspektivisch für die meisten zu einer Großepoche zusammengezogen wurde. Gerade diese Konstellation aber: die Ursprünge der eigenen Modernität und die innere, widersprüchliche Vielfalt, prädestinieren das 18. Jahrhundert für eine Erprobung neuer methodischer Ansätze. Drittens: Genau komplementär zu dem so Skizzierten, dem Modernitätsdenken und der relativen Abschottung zum 17. Jahrhundert hin, hat sich, unter kräftiger Mitwirkung Goethes, dann aber vor allem seit dem Scheitern der 48er-Revolution, die vielanalysierte 'Blütezeit-Konzeption für das ausgehende 18. Jahrhundert herausgebildet.25 Setzt man den Streit zwischen Gottsched und den Schweizern Bodmer und Breitinger in den 20er Jahren des 18. Jahrhunderts einerseits, den Wechsel Goethes nach Weimar 1775 andererseits als Fixpunkte, 26 so erreicht die Verspätete Nation' mit atemberaubender Schnelligkeit ihre nachgeholte 'Klassik'. Sie ist noch atemberaubender, wenn man Goethes eigene Diagnose des von ihm Vorgefundenen hinzunimmt: eine „wäßrige, weitschweifige, nulle Epoche", aus der sich das heraufkommende Nationalgenie Goethe erst „herausretten" mußte. 27 Für die germanistische Literarhistorie der Bundesrepublik in den letzten beiden Jahrzehnten hat diese Interdependenz von 18. Jahrhundert und Goethezeit in der wertenden Perspektive den Rang eines Paradigmas im vollen Sinne erhalten. In dem Maße, in dem Vorstellungskomplexe wie 'unvollendete Aufklärung', 'Ursprünge bürgerlicher Modernität' und 'vorklassische Klassik' (etwa Lessing) hervortraten, wuchsen auch der Erforschung der sogenannten Goethezeit neue Probleme zu. Man wurde sich neu bewußt, daß nicht nur Kabale und Liebe und Wilhelm Meister, sondern auch Wallenstein und die Werke der Jenaer Frühromantiker Produkte des 18. Jahrhunderts sind, des „menschlichen" wie des „schrecklichen philosophischen Jahrhunderts". 28 Der Prozeß ist noch in vollem Gange. Er reizt gewiß auch zur serienhaften Produktion nach dem Schema 'Die Tradition der Aufklärung bei ...'. An der Neuperspektivierung dessen aber, was jahrzehntelang als 'Deutsche Bewegung' der Goethezeit vorangestellt wurde, war nicht von ungefähr ein Romanist fühEric A. Blackall: D i e Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache. 1 7 0 0 - 1 7 7 5 . Stuttgart 1 9 6 6 (engl, zuerst 1 9 5 9 ) . Dies ist nach wie vor eine häufig gewählte Zäsurierung innerhalb der Literaturgeschichte. Vgl. den in A n m . 2 2 genannten Beitrag zu Goethes Bild von der deutschen Literatur der Aufklärung. Für diese Perspektive a u f das 18. Jahrhundert - und für dessen europäische Z u s a m m e n h ä n g e — ist i m m e r noch unausgeschöpft H e r m a n n Hettner: G e s c h i c h t e der Deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert. 3 Teile. Braunschweig 1 8 5 6 — 1 8 7 0 .

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Methodenreflexion

rend beteiligt: Werner Krauss mit seiner These, der sogenannte Sturm und Drang sei nicht als Gegenbewegung zur Aufklärung oder gar als deren Ablösung zu interpretieren, sondern als deren konsequente Weiterführung, ja Radikalisierung. 29 Was jedoch die Veränderungen der 'Klassik'-Perspektive für das 18. Jahrhundert angeht, so hat ein des revoluzzerischen Ubermuts gewiß ganz Unverdächtiger, Victor Lange, vor wenigen Jahren in einer eigenen Darstellung „das klassische Zeitalter der deutschen Literatur" mit den 40er Jahren des 18. Jahrhunderts, mit Lessing beginnen lassen. 30 Die Weiterungen eines solchen Ansatzes für die Interpretation der Aufklärungsbewegungen im engeren Sinne sind noch gar nicht ganz ausgelotet. Nicht weniges aus diesem geschichtsperspektivischen und wertungshistorischen Prozeß ist modellbildend geworden für andere Perioden: für Vormärz, Junges Deutschland, Naturalismus, auch für die Epoche der Weimarer Republik. Das kann hier nicht nachgezeichnet werden. Unter meiner Zielsetzung jedoch, einen Einblick in einen wichtigen Teilbereich gegenwärtiger bundesrepublikanischer Literaturwissenschaft zu vermitteln, gebe ich abschließend kurze Hinweise auf drei spezielle methodische Ansätze, die für Phänomene des 18. Jahrhunderts einschlägig sind und dort fast modellhaft erprobt wurden. Erstes Beispiel: Institutionengeschichte der Literatur. Ich verwende den Begriff im engeren Sinne der Institution als einer verfaßten, Autorität ausübenden, überdauernden Teilstruktur literarischer Kommunikation: also etwa solche des Buchwesens, des Theaters, der Literaturkritik, des Bildungswesens. Hier konnte die Forschung im Zuge der sozial- und rezeptionsgeschichtlichen Neuorientierung für das 18. Jahrhundert in einzigartigerWeise auf breite und differenzierte Vorarbeiten ganz anderer Herkunft zurückgreifen. Gerade weil, gefördert etwa vom Börsenverein des deutschen Buchhandels, die Ursprünge der 'modernen Systeme im 18. Jahrhundert materialreich seit Jahrzehnten aufgearbeitet worden sind, gelang es rascher, auch zu den literaturspezifischen Zusammenhängen vorzudringen: etwa den Moralischen Wochenschriften, wie sie Wolfgang Martens erschlossen hat, 31 in ihrer Bedeutung für Thematik, Moral und Sprache der neuen nichtheroischen Romane und des bürgerlichen Trauerspiels. Oder die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts, von Marlies Prüsener untersucht, 32 in 25

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Über die Konstellation der deutschen Aufklärung, in: W. K.: Studien zur deutschen und französischen Aufklärung. Berlin (-Ost) 1963, S. 3 0 9 - 3 9 9 . Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur. 1 7 4 0 - 1 8 1 5 . München 1983 (engl. Originalausgabe im gleichen Jahr). Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesegeschichte, in: Archiv f. Gesch. des Buchwesens 13 (1973), Sp. 3 6 9 - 5 9 4 .

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Forschungsansätze

ihrer geschmacksprägenden, auch vorpolitischen Funktion nach dem Öffentlichkeitskonzept von Jürgen Habermas. 3 3 Oder die sozialökonomischen Voraussetzungen, die Hans Jürgen Haferkorn 3 4 für den neuen Typus des freien Schriftstellers und sein Verhältnis zu den Institutionen versuchsweise systematisiert hat. Bei allen Irrtümern, die einer solchen Untersuchung der vermeintlichen 'Ursprünge' leicht anhaften, werden doch modellhaft Grundstrukturen erkennbar, die trotz mancher Wandlungen noch weit bis ins 20. Jahrhundert hineinreichen. So auch beim zweiten Beispiel, der Seelengeschichte, der Psychohistorie. Jeder Literaturhistoriker ist bekanntermaßen häufig mit Seelenregungen von Figuren in Dramen und Erzähltexten interpretatorisch befaßt. Und er begnügt sich dabei „in der Regel mit 'hausgemachten psychologischen Kenntnissen". 3 5 Zwar hat man sich seit Jahrzehnten etwa um die Einbeziehung jeweiliger rhetorischer Affektenlehren bemüht (bei der haute tragedie oder beim barocken Trauerspiel oder beim Roman des 18. Jahrhunderts). Bereits in den 20er Jahren hat Fritz Brüggemann gerade zum 18. Jahrhundert immer wieder 'seelengeschichtliche' Aspekte in seine Kultur- und Literatur-Analysen einbezogen. 3 6 Auch Norbert Elias' „soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen" über den „Prozeß der Zivilisation" gehen in jene Jahre zurück. 3 7 Aber die Frage nach der besonderen Historizität psychischer Erscheinungen muß, wie sich zeigt, auch prinzipiell-methodisch neu gestellt werden. Das 18. Jahrhundert bringt nicht nur, mit den verschiedenen europäischen Varianten der 'sentimentality', 'sentimentalite', 'Empfindsamkeit' usw. eine ganz neue Palette besonders der als 'bürgerlich' wahrgenommenen Seelenregungen. Es schafft schließlich auch, unter Einschluß zum Teil alter pietistischer Anregungen, die neue Disziplin der Erfahrungsseelenkunde mit Karl Philipp Moritzens einschlägigem Magazin. In der Sprachgeschichtsforschung, speziell auch der älteren Begriffsgeschichte, ist wiederholt darauf hingewiesen worden, wieviele der heutigen Bezeichnungen für Psychisches (auch für Erkennt-

Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied, Berlin 1962. Zur Entstehung der bürgerlich-literarischen Intelligenz und des Schriftstellers in Deutschland zwischen 1750 und 1800, in: Deutsches Bürgertum und literarische Intelligenz. Hrsg. v. Bernd Lutz. Stuttgart 1974, S. 113-275. Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zu Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1976, S. 1 (dort auf den „Historiker" bezogen). Ansätze begegnen bereits in Brüggemanns Dissertation von 1914 (zu Schnabels Insel Felsenburg)·, und dann in: Der Kampf um die bürgerliche Welt- und Lebensanschauung in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts, in: DVjs 3 (1925), S. 94-127. Die späte Renaissance mit dem Erscheinen der zweiten Auflage 1969 hat dies oft vergessen lassen.

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Methoden reflexio η niskritisches u. a.) dem 18. Jahrhundert entstammen. Es ist jene Epoche, in der die Selbstreflexion auf solche Regungen einen neuen Höhepunkt erreicht, eine prinzipielle Qualität, für die man die Formel 'Ich empfinde, also bin ich' bemühen kann. Die ungeheuren Tränen-Erfolge von Epochenwerken wie Messias, Miß Sara Sampson oder Werther bieten hierfür vielfältigstes Anschauungsmaterial. 38 Es ist ein auch methodologisches Verdienst der Empfindsamkeitsforschung zum 18. Jahrhundert, namentlich der umfassenden Studien von Gerhard Sauder, 39 zweierlei unübersehbar gemacht zu haben: den umfassenden Zusammenhang von sozialer Umschichtung, psychischer Bedürfnisweckung und seelentheoretischer Reflexion in der europäischen Sentimentalitätsbewegung, und: die Unangemessenheit der lange Zeit eingeschliffenen Übung, Empfindsamkeit und 'rationalistische' Aufklärung einander schlichtweg entgegenzusetzen (oder sie gar als Abfolge zweier Epochen zu fassen). Beides geht weitgehend, wenn auch nicht in strikter Synchronic, aus gleichen oder ähnlichen sozialen Bedingungen hervor, ist Antwort auf Umwälzungen. Psychohistorie steht hier modellhaft in einem methodischen Zusammenhang, der durch Ansätze wie Psychoanalyse, Mentalitätsgeschichte oder Diskursanalyse nicht ersetzbar ist, vielmehr sinnvoll mit ihnen verknüpft werden kann. Mein drittes, letztes Beispiel, schon kurz erwähnt: Literaturgeschichtsschreibung. Jene Synthesen, die gewissermaßen die erste 'Ernte' der nach 1968 erneuerten Literarhistorie einfahren sollten, sahen sich kritischen Forderungen gegenüber: 40 einem erweiterten Literaturbegriff bis hin zu den Zweckgattungen wie Essay, Predigt, Traktat, Erbauungsliteratur und Streitschriften; Ablösung der erzählerischen 'Unschuld' des Historiographen durch die Einsicht, daß alle Geschichtsschreibung perspektivische Konstruktion sei; schließlich: Darstellung der sozialen Geprägtheit der Literatur, in Entstehung, Verbreitung und Rezeption. Die Pionierbände der neuen Literaturgeschichts-Unternehmungen, allesamt bezeichnenderweise im 18. Jahrhundert angesiedelt, versuchen besonders auf die literaturbezogenen Institutionen fast ostentativ ausführlich einzugehen. Erstmals finden wir detaillierte, kenntnisreiche Kapitel über literarische Zentren, über Schriftstellertypen, Aufklärungsgesellschaften, Leihbibliotheken, Erbauungsliteratur und Volksaufklärung. 41 Die Gattungskapitel bleiben grund-

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Hierzu besonders: Das weinende Saeculum. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal/Universität Münster. Heidelberg 1983. Empfindsamkeit. Bd. 1: Voraussetzungen und Elemente; Bd. 3: Quellen und Dokumente. Stuttgart 1974; 1980. Vgl. wiederum den Überblick von Stötzel (wie Anm. 8). Vgl. Anm. 10 und 11.

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Forschungsansätze

sätzlich separat, und die bedeutenden Werke verschwinden mitunter fast darin. Das Problem betrifft natürlich generell auch die nachfolgenden Epochen. Die notwendige Arbeit des Synthetisierens und des Kombinierens zwischen den Grundlegungs- und den Gattungsteilen ist für den nichtprofessionellen Benutzer überaus mühsam. Und doch besitzen, wenn man zunächst auf das 18. Jahrhundert blickt, die Abschnitte etwa über den freien Schriftsteller oder über die neuen literarischen Stadtkulturen ihren eigenen Reiz. Es ist zumal der Reiz der 'Modernisierung', der Anfänge von etwas, das bis in unsere Gegenwart hineinreicht. Hier erweist sich jene wissenschaftliche Karriere des 18. Jahrhunderts in den letzten beiden Dekaden immerhin als zweischneidig. Ihr ist die nationalliterarische Kanonbildung nur zögernd gefolgt. Vor 'Sturm und Drang' und 'Klassik' bleibt Lessing immer noch in recht einsamer Position. Klopstocks Messias etwa wird nicht einmal von den sogenannten literarisch Interessierten wirklicher Aufmerksamkeit gewürdigt; 42 er wird immer noch - im Sinne von Lessings berühmtem Epigramm mehr „erhoben" als „gelesen". Ein Jahrhundertpoet wie Geliert hat es unter solchen Lesern, die auf ihr Geschmacksniveau Wert legen, immer noch, trotz mancher Aufwertungsversuche, ein wenig schwer. In den ohnehin schrumpfenden Kanon von Schultexten hat, außer ein paar neuentdeckten sozialkritischen Fabeln (nicht nur von Lessing) oder Satiren, 43 beispielsweise die unter Fachleuten so geschätzte Insel Felsenburg won Johann Gottfried Schnabel keinen Eingang gefunden. Einiges hat sich, auch mit gezielter Unterstützung durch einflußreiche 'Fans', für Wieland getan. Was aber von den mancherlei wiedergedruckten Dramen des 18. Jahrhunderts konnte sich in unseren Theaterspielplänen etablieren? Nach wie vor beginnt fast alles erst mit Lessing.44 Lesegewohnheiten haben ihre eigenen Gesetze und ihre eigene Trägheit. Die germanistische Literaturwissenschaft in den deutschsprachigen Ländern täte gut daran, ihre auch methodologischen Errungenschaften auf dem Forschungsfeld '18. Jahrhundert' festzuhalten und weiterzuentwickeln: nicht nur für die vorgoethesche Literatur und nicht nur unter dem Reizwort 'Aufklärung'. Denn nur so kann auch die notwendige Frage lebendig gehalten werden, warum die

Dies gilt trotz zum Teil erheblicher Anstrengungen der Forschung, etwa der Monographie von Gerhard Kaiser (1975) und vor allem der aufwendigen historisch-kritischen Klopstock-Ausgabe (seit 1974). Es sind vor allem auch didaktische Gründe, die zu dieser 'Wiederbelebung' (auch für den Hochschulunterricht) geführt haben. Zur Theaterpraxis vgl. Gerhard Stadelmaier: Lessing auf der Bühne. Inszenierung deutschsprachiger Theater 1 9 6 8 - 1 9 7 4 . Tübingen 1980.

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Methodenreflexion deutsche nationalliterarische Überlieferung im europäischen Zusammenhang erst so spät einsetzt - nach dominierender Auffassung erst in jenem 18. Jahrhundert, dessen Lektüreangebot noch gar nicht ausgeschöpft ist. 'Auslandsgermanisten' arbeiten hier gewiß unter besonderen, auch schwierigeren Bedingungen. Aber gerade von ihrer jeweils eigenen, andersartigen Literaturüberlieferung her, die kritischen Vergleich nahelegt, gilt immer noch: Eine Einladung auch ins vorgoethesche 18. Jahrhundert anzunehmen, lohnt sich.

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Literaturwissenschaft — eine Geschichtswissenschaft?*

Es gibt Fragen, die man, einer alten Klugheitsregel zufolge, am besten gar nicht erst stellen sollte. Meine Titelfrage scheint von solcher Art zu sein. Nachdem das Historische Kolleg sich entschlossen hat, im Sinne seiner Ausrichtung auf den „gesamten Bereich der historisch orientierten Wissenschaften" 1 erstmals auch einen Literaturwissenschaftler als Stipendiaten einzuladen: Ist es legitim, ja entspricht es überhaupt dem Decorum, sogleich die Zugehörigkeit des eigenen Fachgebiets mit einem Fragezeichen zu versehen? Entwicklungen der letzten Jahre erfordern es nachgerade. Innerhalb der Literaturwissenschaften - nicht nur der germanistischen, meiner eigenen Disziplin — artikulieren sich auch programmatisch immer stärker Tendenzen, von denen die Kategorie des Geschichtlichen an den Rand gedrängt wird. Es ist nicht so sehr ein neuer Schub von Geschichtsfaulheit oder auch Geschichtsmüdigkeit, der aus den nachwachsenden Generationen von Literaturstudenten mitunter auch in den Wissenschaftsbetrieb hinein wirkt. Es geht um ein prinzipielles Infragestellen des Geschichtlichen vor allem in einzelnen Strömungen, 'Schulen (auch Moden) des sogenannten „Poststrukturalismus". 2 Die alte Rhetorik kennt die fundamentale und zugleich praktische Unterscheidung von 'quaestio finita (oder 'specialis') und 'quaestio infinita' (oder 'generalis'), von 'begrenzter', endlicher' (oder 'besonderer') und 'unbegrenzter', 'unendlicher' (oder 'allgemeiner') Frage. 3 Letztere zielt auf ein grundsätzliches Problem, etwa eines der Moral oder der Sozialphilosophie: Welches sind die Interessen des Gemeinwohls? Oder: Muß man auch in Gegenwart des Tyrannen die Wahrheit sagen? Aber die Frage kann, auf eine

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Erstdruck in: Schriften des Historischen Kollegs. Vortrage 18. München 1990. In verkürzter Form zuerst vorgetragen im Rahmen der öffentlichen Vorträge des Historischen Kollegs München am 1. Juni 1987 in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Stiftung Historisches Kolleg im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Erste Verleihung des Preises des Historischen Kollegs. Aufgaben, Stipendiaten, Schriften des Historischen Kollegs (= Schriften des Historischen Kollegs. Dokumentationen 1). München 1984, S. 48. Dazu unten Anm. 37. Klassische Definitionen etwa in Quintilians Institutio oratoria 3,5,5; 3,5,7; 3,5,9. Für die Details der Systematik vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. München 1960, S. 6 I f f .

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Methodenreflexion

bestimmte Situation, einen bestimmten Fall bezogen - etwa im Gerichtsverfahren - , eigentümliche Brisanz gewinnen: H a t X die Interessen des Gemeinwohls verletzt? Oder: Mit welchem Risiko konnte man vor dem Tyrannen Y die Wahrheit sagen? Ein Moment solchen Umschlagens von der 'quaestio infinita kennzeichnet auch unsere Fragestellung. Sie ist situativ gedacht. Sie betrifft die Fächersystematik, indes nicht so sehr im Sinne der Abgrenzung von Instituten, des Kürschnerschen Deutschen Gelehrten-Kalenders oder des Fächerkatalogs der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sie könnte in erweiterter Form, als Doppelfrage, etwa folgendermaßen lauten: Wie kann Literaturwissenschaft heute, insofern sie der Spezifität ihrer Gegenstände, d. h. der Literatur, gerecht zu werden versucht, als geschichtlich orientierte Wissenschaft gedacht werden? Und: Wie erscheint, unter ausgewählten Aspekten betrachtet, ihr Verhältnis heute zur Geschichtswissenschaft im engeren Sinne? Wenn im folgenden von „Literaturwissenschaft" die Rede ist, so meine ich zuvörderst die Wissenschaft von der deutschen, der deutschsprachigen Literatur (als eines Teilbereichs der sog. „Germanistik"). 4 Doch einzelne Beobachtungen dürften, mit geziemender Reserve, auch für anderssprachige Nachbardisziplinen gelten, für anglistische, romanistische, slavistische, nordistische usw. Literaturwissenschaft, da und dort wohl auch für die Klassische Philologie. Dabei erscheint „Literaturwissenschaft" zunächst als ein vergleichsweise neutraler Bereichsbegriff: als diejenige Disziplin, die sich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Literatur widmet. Bemerkenswerterweise jedoch ist der Begriff „Literaturwissenschaft" dort, wo er erstmals als geprägter Begriff auftaucht, gegen Ende des vorigen Jahrhunderts, bereits Absetzbegriff, ja Gegenbegriff. 5 Das Wort, das als Spartenbezeichnung innerhalb der Buchproduktion schon seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nachzuweisen ist, avanciert in den 90er Jahren mit einemmal zum Programmwort einer neuartig theorieorientierten, werkbezogenen Wissenschaft. 6 Sie wendet sich ostentativ gegen Es ist hierbei bezeichnend, daß im öffentlichen Sprachgebrauch, etwa der Tageszeitungen, „Germanistik" in der Regel mit ihrem institutionell größten Teilfach identifiziert wird, mit der Wissenschaft von der Neueren deutschen Literatur („Neugermanistik"). Wo das Adjektiv „germanistisch" in kritisch-pejorativer Absicht verwendet wird — eine Lieblingsbeschäftigung nicht weniger Journalisten (oft mit autobiographischem Hintergrund) - , zielt es in der Regel auf Stil und Methodik der germanistischen Literaturwissenschaft. Hingegen werden Terminologie und Verfahren der germanistischen Linguistik tendenziell eher der Verflechtung in internationale 'Modernität' zugerechnet. Hervorzuheben Oskar Froehde: Der Begriff und die Aufgabe der Literaturwissenschaft, in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 147 (1893), S. 433^ί45; ders.: Literatur-, Kunst- und Sprachwissenschaft, in: a. a. O. 149 (1894), S. 1-13. Repräsentativ für deren Selbstverständnis etwa Erich Schmidt: Wege und Ziele der deutschen Literaturgeschichte (1880), wiederabgedruckt in: E. Sch.: Charakteristiken. Bd. 1. Berlin 2 1902, S. 455—472.

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Literaturwissenschaft — eine Geschichtswissenschaft?

die dominierende „Literaturgeschichte" der positivistisch und kausalistisch verfahrenden sog. Scherer-Schule. „Wissenschaft" - das signalisierte vor allem unter dem Eindruck Diltheys Eigenständigkeit, Eigengesetzlichkeit, ja Emanzipation gegenüber dem übermächtig gewordenen Anspruch der Naturwissenschaften: neue philosophischanthropologische Fundierung zumal. 7 Für unsere Titelfrage sei, unter wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive, wenigstens der Hinweis angeschlossen, daß damit alles andere als eine klare Abfolge von 'Epochen' gegeben war. Nicht nur bewiesen die verschiedenen positivistischen Schulen - die gerne als treue Sachwalter des Historismus firmierten - eine ungeahnte Zähigkeit bis weit in die 20er Jahre, ja nach Auffassung mancher bis in unsere Gegenwart hinein. Auch rückte recht bald schon, bei einer der wichtigsten antipositivistischen Bewegungen seit dem Ersten Weltkrieg, der „Geistesgeschichte",8 eben das „Geschichts"Paradigma wieder in die zentrale Selbstbezeichnung ein. Und mit symbolischostentativer Doppelung verklammerte das einschlägige neue Periodicum die beiden programmatischen Reizbegriffe gar im Titel: Deutsche Vierteljahrsschrifi für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, seit 1923 von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker herausgebracht. Die beiden denominativen Grundtypen 'Literaturgeschichte' - mit ihrer charakteristischen Homonymie 9 - und 'Literaturwissenschaft' haben sich (neben der älteren 'Philologie') bis heute gehalten, mit deutlicher Dominanz freilich der 'Literaturwissenschaft'. 10 Hierbei ist es nicht zuletzt der sich abgrenzende Stolz auf 'Wissenschaftlichkeit', der in den deutschsprachigen Ländern zur vielbeklagten Entfernung der wertungsorientierten, zumeist aktuellen 'Litera-

Hierzu etwa Rudolf Unger: Philosophische Probleme in der neueren Literaturwissenschaft. München 1908. Der Terminus bedeutete die begriffslogisch konsequente Ausdifferenzierung gegenüber Diltheys „Geisteswissenschaften", vgl. Paul Kluckhohn: Artikel 'Geistesgeschichte', in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. v. Werner Kohlschmidt u. Wolfgang Mohr. Bd. 1. Berlin 2 1958, S. 537-540. Bezeichnenderweise wurde Rudolf Unger einer ihrer führenden Propagatoren (seine wichtigsten Beiträge hierzu hat er in einem Band gesammelt, der ausgerechnet den Titel trägt: Aufsätze zur Prinzipienlehre der Literaturgeschichte. Berlin 1929). Gunter Scholtz: Artikel 'Geschichte, Historie', in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter. Bd. 3. Basel 1974, Sp. 344-398; Reinhart Koselleck: Artikel 'Geschichte, Historie', in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 593-717. Vgl. auch: Geschichte - Ereignis und Erzählung. Hrsg. v. Reinhart Koselleck u. Wolf-Dieter Stempel (Poetik und Hermeneutik. V). München 1973. Am klarsten ablesbar schon an den Titeln der zahlreichen deutschsprachigen 'Einführungen' in Handwerk und Methodenlehre: Sie verwenden fast ausschließlich den Terminus 'Literaturwissenschaft'.

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Methodenreflexion turkritik' geführt hat (während bekanntlich der angelsächsische Begriff des 'Literary Criticism' tendenziell beides umgreift). Die wenigen Stichworte zur disziplinären Begriffsgeschichte deuten einerseits auf die prägende Deszendenz der neueren Literaturwissenschaft aus den historischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, wobei die 'Philologie' (zunächst als die der antiken Uberlieferung) zugleich ein Leitparadigma interdisziplinärer, 'altertumswissenschaftlicher' Methodik wurde. 11 Andererseits wird erkennbar, daß gerade in der Selbstdefinition von 'Literaturwissenschaft' seit nicht weniger als einem Jahrhundert auch das Sichabsetzen gegen bestimmte Entwicklungen des Historismus konstitutiv werden kann. Eine 'ewige Debatte'? Angesichts der offenkundigen Nervosität, mit der mancher heute auf die Attraktivität poststrukturalistischer Strömungen für nicht wenige intelligente junge Leute reagiert, kann eine knappe wissenschaftsgeschichtliche Rückbesinnung vielleicht hilfreich sein. Unsere Titelfrage ist in mehrfacher Hinsicht eine 'quaestio finita' auch deshalb, weil im Erfahrungshorizont fast jedes Literaturwissenschaftlers der heute mittleren oder gar älteren Generation Elemente früherer Debatten um Literaturwissenschaft als Geschichtswissenschaft präsent sind — und sei es nur als Bestandteile einer partiell schon abgelegten fachlichen 'Sozialisation'. 12

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In aller Knappheit erinnere ich an drei 'Schübe' dieser Jahrhundert-Debatte, dabei wenige Züge einseitig heraushebend. Unter den mancherlei antipositivistischen Bewegungen, die in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg manifest wurden, war der wesentlich vom George-Kreis inspirierte (dort vor allem im Zeichen Nietzsches propagierte) neue literarische „Heroen"-Kult einer der historisch wirkungsmächtigsten. Dabei entfaltete sich das Exempel Goethe deshalb besonders eindrücklich, weil in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die auf 'Exaktheit' dringende Goethe-Textphilologie und vor allem die detailversessene Goethe-Biographik ins fast Monströse - auch ins Serienhafte -

Noch unmittelbar in diesem Zusammenhang stehend: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Geschichte der Philologie. Leipzig 1921. Jetzt maßgebend: Rudolf Pfeiffer: History o f Classical Scholarship from 1300 to 1850. Oxford 1976. Eine 'Wende' zeigt sich auch hier seit etwa Mitte der 70er Jahre, nachdem die 68er-Debatten (die jedenfalls polemisch noch auf Positionen der 50er, ja 20er und 30er Jahre Bezug genommen hatten) selber in eine 'historische' Distanz gerückt sind - für viele Jüngere jedenfalls.

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expandiert hatten. 13 Gegen die Dutzende von Goethe-Biographien mit ihrem Fahnden nach der geschichtlichen 'Bedingtheit' des Olympiers und nach den biographischen 'Modellen' für die einzelnen Werke setzte Friedrich Gundolf mit seinem Goethe (ohne jeden Untertitel) von 1916 den „Unbedingten", den „Helden", den „ursprünglichen Menschen". Mit den beiden anderen aufsehenerregenden Goethe-Monographien jener Jahre, 14 von Houston Stewart Chamberlain (1912) und Georg Simmel (1913), stand Gundolf bei aller Diversität in einer Front gegen historistische Relativierung des Großen, Uberzeitlichen, der „Gestalt". An „Geschichte" galt nur als wertvoll, was „erlebt" schien und was die „Gegenwart" anging. Für die sprachmächtige Beschwörung der Dichter und Helden (so ein anderer Buchtitel Gundolfs) 15 wurde das Goethe-Buch zum Prototyp, auch in seiner 'Methodik', die keine sein will — etwa bei der Unterscheidung von „Urerlebnis" und „Bildungserlebnis". Es stieg zum wohl meistdiskutierten literaturwissenschaftlichen Paradigma der Weimarer Zeit auf, mit Wirkungen bis weit in die Nachkriegszeit hinein. Hinter der „Gestalt" aber und hinter dem „Leben" traten die Werke problematisch zurück; die Kritik daran kam aus Richtungen, denen der antihistoristische Impuls mit Gundolf gemeinsam war: von Karl Wolfskehl etwa, also aus dem George-Kreis selbst, und von dem jungen Marxisten Walter Benjamin. Indes, war jener Impuls nicht damals längst obsolet? An den Universitäten nicht und nicht in den Schulen und Bürgerhäusern, in denen die Goethe-Biographien der Jahrhundertwende — darunter Albert Bielschowsky in Goldschnitt, als der erfolgreichste (zuerst 1896) - nach wie vor mit Selbstverständlichkeit benutzt wurden. 16 Von höchst eigentümlichem wissenschaftsgeschichtlichem Reiz ist es, sich zu vergegenwärtigen, daß in den gleichen Jahren, als die 'epochale' Debatte um Gundolfs Goethe ausgetragen wurde, in den Vereinigten Staaten sich jene literaturwissenschaftliche Schule zu bilden begann, die den Namen „New Criticism" erhielt. 17 An ihr, deren Methodik dezidiert 'immanent', ja zumeist betont ge13

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Maßgeblicher Überblick bei Karl Robert Mandelkow: Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers. Bd. 1: 1773-1918. München 1980, bes. S. 21 Iff. u. S. 261ff. Zur führenden Rolle jüdischer Gelehrter in diesem Prozeß Verf.: Jüdische Goethe-Verehrung vor 1933, in: Juden in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Stiphane Moses u. Albrecht Schöne. Frankfurt a. M. 1986, S. 127-151. Mandelkow, a.a.O., S. 267ff. Schon Heidelberg 1911 erschienen. Auf den schneidenden Gegensatz zwischen den beiden „Hausbüchern" hat - mit höchsteigener Erfahrung — wiederholt Hans Mayer hingewiesen, unter anderem in dem kleinen Abriß: Literaturwissenschaft in Deutschland, in: Das Fischer Lexikon. Literatur II. Erster Teil. Hrsg. v. Wolf-Hartmut Friedrich u. Walther Killy. Frankfurt a. M. 1965, S. 317-333; hier: S. 327. Die Bezeichnung, deren Vorstufen bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichen, wurde schließlich durch das Buch The New Criticism von John Crowe Ransom (1941) kodifi-

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Methodenreflexion schichtsabweisend verfuhr, 18 sind zwei scheinbare Äußerlichkeiten charakteristisch. Ihr Programm bildete sich unter dem Einfluß führender 'Dichter-Kritiker' (poet-critics) wie Eliot und Pound und war damit von vornherein eng mit außerakademischen Tendenzen verbunden. 19 Und innerhalb der amerikanischen Universitäten entwickelte sie über Jahrzehnte hin, bis in unsere Gegenwart hinein, eine institutionelle Zähigkeit, die jeden amerikanischen Literaturwissenschaftler - welcher Prägung auch immer - faktisch zwang, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Noch die wohl einflußreichste poststrukturalistische Schule in den Vereinigten Staaten, der „Dekonstruktivismus" Paul de Mans, 2 0 hat sich notgedrungen gegen den New Criticism profiliert — und ist ihm doch, vor allem in seinem Insistieren auf dem fast absolut gesetzten „Text" und in der strikten Relativierung der Autor-„Intention", zutiefst verwandt. Im Zusammenhang unserer 'quaestio' seien von den mancherlei Gründen für den frappierenden Erfolg des New Criticism bis in die Nachkriegszeit hinein vor allem zwei hervorgehoben. Die entschiedene Konzentration insbesondere auf die Gattung des Gedichts als des poetischen Kunstwerks schlechthin - unter Absetzung von allen geschichtlichen 'Bedingtheiten' - erwies sich (in den Universitäten, auch Schulen) als pädagogisch überaus erfolgreich. Das Sichversenken in den Einzeltext - oft auch mit religiösen Beitönen — verschaffte den Eindruck eines 'direkten' Zugangs zur Literatur ohne übergroßen Aufwand. Und: Vieles von dem, was die historische Forschung (auch in den Nachbardisziplinen) in langer Arbeit an komplizierten Voraussetzungen für Entstehen und Verstehen der Texte beigebracht hatte, konnte als 'Ballast' einstweilen beiseitegeschoben werden. Und dies nicht selten mit spezifisch amerikanischer Perspektive. Noch heute begegnet einem in dortigen Diskussionen über New Criticism, aber auch über poststrukturalistische Positionen, mitunter das Argument, jenes Bestehen auf historisch-hermeneutischen Voraussetzungen sei typisch 'europäisch', ja 'deutsch'. Die große Resonanz des New Criticism in der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg steht dazu keineswegs im Widerspruch. Vielmehr kam die politisch unverdächtige amerikanische 'Schule' mit ihrer cha-

ziert, fand aber seine systematische Grundlegung schon Mitte der 20er Jahre durch Ivor Armstrong Richards ( P r i n c i p l e s of Literary Criticism, 1924). Gute neuere Überblicke bei Ann Jefferson and David Robey (eds.): Modern Literary Theory. A Comparative Introduction. London 1982, S. 65-83; Terry Eagleton: Literary Theory. An Introduction. Oxford 1983, S. 4 7 53. Auf die Bedeutung der weitverbreiteten neuidealistischen Kunstanschauungen Benedetto Croces für den New Criticism kann hier nicht eingegangen werden. Hierin eine gewisse Parallele zu Gundolf und dem George-Kreis. Dazu weiter unten.

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Literaturwissenschaft — eine Geschichtswissenschaft? rakteristischen „intrinsic method" 2 1 in ihren Grundmerkmalen recht genau den Bedürfnissen der später vielgescholtenen „werkimmanenten Interpretation" entgegen - dem dritten Beispielkomplex meines kurzen wissenschaftsgeschichtlichen Rückblicks. Zu dieser ebenfalls bis weit in den Schulunterricht hinein wirksamen Richtung, die wesentlich mit den Namen Emil Staiger und Wolfgang Kayser verbunden ist, hier nur wenige Hinweise. Bei der Diagnose der 'Staiger-Schule' als eines typischen 'Nachkriegsphänomens' wird gerne übersehen, daß die theoretische Grundlegung bis in das Jahr 1939 (wenn nicht noch weiter) zurückreicht: als Staigers Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters erschien. 22 Hier wurde, jeweils von zentralen Gedichttexten ausgehend, eine Hauptaufgabe der „Literaturwissenschaft" 23 neu angegangen: die Fundierung einer Theorie des Dichters und der Dichtung in einer philosophischen Anthropologie, vor allem in der Seins-Philosophie Martin Heideggers. Die „Zeitlichkeit" erschien als Horizont, in dem die dichterische Einbildungskraft sich vom bloßen „Man" des Geschichtlichen durch visionäre Sprache abhebt. Diese Weise der Geschichts-Resistenz des Dichterischen mag einerseits an die Verehrung der „Dichter und Helden" in der Gundolfschen Prägung erinnern. Aber vom Überwuchertwerden der Werke durch die geschichtstranszendente große „Gestalt" unterschied sich der Staigersche Ansatz von vornherein durch die Fixierung auf den Kunstcharakter der großen dichterischen Texte. Die systematische Entfaltung einer anthropologischen Dichtungslehre (Grundbegriffe der Poetik, 1946) wurde denn auch abgelöst durch eine in exemplarischer Absicht praktizierte „Kunst der Interpretation". 25 Sie beherrschte als hochgespanntes Ideal, zum Pädagogisch-Konkreten hin günstig ergänzt durch Wolfgang Kaysers vielbenutztes Handbuch Das sprachliche Kunstwerk,26 einen Großteil der literaturwissenschaftlichen Praxis (nicht nur) an deutschen Universitäten über mehr als anderthalb Jahrzehnte hin. „Werkimmanente Interpretation" avancierte dann zu einem - oft simpel unver-

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Bemerkenswert ist hier Eagletons wiederholter Hinweis (wie Anm. 17), daß der New Criticism selbst schon mit deutlichen Symptomen des „Rückzugs" angesichts der Industrialisierung der amerikanischen Südstaaten entstanden war. Zürich 1939. Untertitel: Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Das Einleitungskapitel ist überschrieben: „Von der Aufgabe und den Gegenständen der Literaturwissenschaft". Peter Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer - Walzel - Staiger. Tübingen 1970, S. 75—113 interpretiert diese Wendung als Abkehr' von der zeitenthobenen Fundamentalpoetik hin zur Beschäftigung mit konkreten geschichtsgeprägten Werken. So der Titel zunächst eines programmatischen Aufsatzes von 1951 (Neophilologus 35 [1951], S. 1—15), dann einer Aufsatzsammlung mit dem Untertitel Studien zur deutschen Literaturgeschichte (Bern 1955). Zuerst Bern 1948; Untertitel: Eine Einführung in die Literaturwissenschaft.

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Methodenreflexion standenen — Hauptschimpfwort in der ideologiekritischen Wende der 1968er Jahre. Sozialgeschichtliche, rezeptionsgeschichtliche und historisch-materialistische Ansätze warfen den „immanenten" Schulen Geschichtsferne und Gesellschaftsferne als zwei Seiten des gleichen politischen Verdrängungsprozesses vor.27 Der von Staiger 1966 ausgelöste sogenannte 'Zürcher Literaturstreit'28 machte überdies offenkundig, wie tief der ästhetisch-moralische Graben gegenüber den Hauptströmungen auch der Gegenwartsliteratur geworden war. Im Zentrum dieser einflußreichen literaturwissenschaftlichen 'Schule' hatte ein wesentlich an Klassik und Romantik orientiertes normatives Poesie-Konzept gestanden, das idealistische Gattungsvorstellungen (orientiert an Goethes „Urformen" des „Lyrischen", „Epischen", „Dramatischen") mit Elementen existenzphilosophischer Anthropologie verknüpfte. Die tendenzielle Geschichtsabgewandtheit machte den Komplex 'werkimmanente Interpretation zum naheliegenden und beliebten Demonstrationsobjekt ideologiekritischer und gesellschaftsanalytischer Bestandsaufnahmen gegen Ende der 60erjahre. Staiger selbst, ein Literaturwissenschaftler von weiter europäischer Orientierung (die bis zu übersetzerischer Bemühung um griechische Dichtung zurückreicht), 29 rückte mehr und mehr - besonders für solche, die sich kaum näher mit ihm befaßt hatten - in die Position des bequem verfügbaren 'schwarzen Mannes'. Sein schulbildender Einfluß ging, jedenfalls in der Bundesrepublik, schlagartig zurück. Das Beispiel Staiger ist fur unsere 'quaestio finita in der Gegenwart deshalb von besonderem Belang, weil an ihm stellvertretend - und oft einseitig personalisierend - die wohl grundsätzlichste Diskussion um die geschichtliche Orientierung der germanistischen Literaturwissenschaft in den beiden vergangenen Jahrzehnten sich entzündete. Ob Sozialgeschichte der Literatur, Rezeptions-

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Unüberhörbare öffentliche Artikulation schon 1966 auf dem Münchner Germanistentag, vgl. die Dokumentation in: Eberhard Lämmert, Walther Killy, Karl Otto Conrady, Peter von Potenz: Germanistik - eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt a. M. 1967. Als kritisch orientierende Bestandsaufnahme mit programmatischen Entwürfen seinerzeit vielgelesen: Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. v. Jürgen Kolbe. München 1969. Anlaß: die Verleihung des Literaturpreises der Stadt Zürich an Emil Staiger (17. Dezember 1966) und dessen Dankesrede Literatur und Öffentlichkeit, in der mit den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern — meist ohne Namensnennung — abgerechnet wurde. Gut orientierender Überblick aus heutiger Sicht: Michael Böhler: Der 'neue' Zürcher Literaturstreit. Bilanz nach zwanzig Jahren, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hrsg. v. Franz Josef Worstbrock u. Helmut Koopmann (= Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Bd. 2). Tübingen 1986, S. 250-262. Seine Übersetzungen reichen von der frühgriechischen Lyrik über die attische Tragödie bis zur italienischen Renaissancedichtung. Ein eigener Aufsatzband (zuerst 1947) gilt dem Verhältnis von Musik und Dichtung.

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ästhetik oder historisch-materialistische Literaturwissenschaft: Im Insistieren auf der Historizität als einer essentiellen Bestimmung der Literatur trafen sich Ansätze unterschiedlichster auch gesellschaftspolitischer Couleur. 30 Zur Neubesinnung auf die geschichtliche Dimension der Literatur trug auch die Auseinandersetzung mit den internationalen Strömungen des Strukturalismus und des Formalismus bei, die in der Bundesrepublik — erst recht in der DDR - mit großer Verspätung rezipiert worden waren. „Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft" lautete der programmatische Gesamttitel des Stuttgarter Germanistentages 1972. 31 Die Rehistorisierung der Literaturwissenschaft - zögernder in der Sprachwissenschaft, die zunächst stark mit der Verarbeitung der modernen amerikanischen Linguistik beschäftigt war — kennzeichnet geradezu die Epoche der Jahre nach 1968/69. In der starken deutschen Tradition der Hermeneutik, repräsentiert vor allem durch Hans-Georg Gadamers Wahrheit und Methode mit der Zentralkategorie der „Wirkungsgeschichte", bot sich bei aller kritischen Differenzierung ein gemeinsames Fundament. 32 Als 1976/77 das Funk-Kolleg Literatur für einen breiteren Kreis von Interessenten eine Zwischenbilanz der vielen neuen Theorien und Methoden versuchte, war ein respektabler Block fast altmodisch der „Literaturgeschichte" gewidmet. 33 Und der darauf aufbauende, 1981 erschienene „Grundkurs" Literaturwissenschaft schrieb über den entsprechenden Teil gar: „Geschichtlichkeit von Literatur". 34 Etablierung eines gewissermaßen 'moderierten Historismus' ein Jahrzehnt nach der Revolte? Längst haben sich, seit Mitte der 70er Jahre, in den Vereinig-

Aus der Fülle der zu Beginn der 70er Jahre entstandenen 'Einführungen seien zwei Orientierungsversuche genannt: Literaturwissenschaft. Eine Einführung für Germanisten. Hrsg. v. Dieter Breuer, Paul Hocks, Helmut Schanze, Peter Schmidt, Franz Günter Sieveke u. Hauke Stroszeck. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1972. Grundzüge der Literatur- und Sprachwissenschaft. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold u. Volker Sinemus. Bd. 1: Literaturwissenschaft. München 1973. Unter diesem Titel sind auch die Vorträge und Berichte erschienen: In Verbindung mit Hans Fromm u. Karl Richter hrsg. v. Walter Müller-Seidel. München 1974. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1960 (der eigentümlich - um ein Jahrzehnt - zeitversetzte Aktualisierungsschub bedürfte einer gesonderten Analyse; dabei wäre auch die bereits 1955 erschienene gto&e Allgemeine Auslegungslehre von Emilio Betti einzubeziehen). Funk-Kolleg Literatur. 2 Bände. In Verbindung mit Jörn Stückrath hrsg. v. Helmut Brackert u. Eberhard Lämmert. Frankfurt a. M. 1977/78; dort Bd. 2, S. 113—218. Bezeichnend schon die Titel der Einzelbeiträge: Michael Kunze: Geschichtlichkeit von Literatur; Verf.: Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Literatur; Harro Müller: Literaturgeschichte und allgemeine Geschichte; Wilhelm Voßkamp: Gattungen und Epochen in der Literaturgeschichte; Karl Otto Conrady: Konzepte und Darstellungsformen der Literaturgeschichtsschreibung. Literaturwissenschaft. Grundkurs 1 und 2. Hrsg. v. Helmut Brackert u. Jörn Stückrath in Verbindung mit Eberhard Lämmert. 2 Bände. Reinbek b. Hamburg 1981; dort Bd. 2, S. 11— 137.

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Methodenreflexion ten Staaten, in Frankreich, in der Bundesrepublik Strömungen herausgebildet, die in der humanwissenschaftlichen Methodologie neue Spielfreiheit 35 proklamieren, auch gegenüber der Geschichte und der Kategorie des Geschichtlichen (auf die mannigfachen Überschneidungen und Vermischungen mit Tendenzen der sog. 'Postmoderne' gehe ich hier nicht ein). Hier läßt sich gewiß das psychologische und marktgesetzliche 'Pendeln' beobachten, das selbstverständlich auch die Wissenschaftsgeschichte kennt. Es gibt die Reaktion auf ein Zuviel an „Geschichte" und „Geschichtlichkeit", auf eine als schon unbefragt empfundene „historische" Orientierung. U n d es gibt Entlastung für das seinerzeit als „ahistorisch" und „gesellschaftsfern" Verfemte. Als am 2 8 . April 1 9 8 7 Emil Staiger im Alter von 7 9 Jahren bei Zürich starb, war auffällig, mit welcher Sympathie er von vielen in der Öffentlichkeit wieder gewürdigt wurde - und wie mancher sich auf einmal zu ihm 'bekannte'. Uberdruß an einer zu dezidiert 'geschichtswissenschaftlich' verstandenen Literaturwissenschaft wird spürbar. Was ist an den drei hier betrachteten Exempla - Gundolf, New Criticism, Staiger - herauszuheben? Sie bringen ins Bewußtsein, daß die wissenschaftstheoretische 'quaestio infinita' fast periodisch die Brisanz einer 'quaestio finita erhält, wobei jeweils aktuelle Verursachungen und eigengesetzliche Pendelbewegungen meist schwer unterscheidbar ineinander gehen. Sie bestätigen e contrario, durch ihren Antwortcharakter, die bemerkenswerte Konstanz der 'historischen' Schulen — und sei es auch, daß diese von Nachbardisziplinen her, wie Sozialgeschichte und philosophischer Hermeneutik, Impulse in die Literaturwissenschaft hineintragen. Sie lassen, insbesondere im Fall des New Criticism, das als historistisch Negierte sehr 'europäisch', ja 'deutsch' erscheinen. Und schließlich entstammen die großen ideengeschichtlichen Gegeninstanzen, die 'Patres' des Antihistorismus, bemerkenswert oft ebenfalls dem deutschsprachigen Bereich: an ihrer Spitze Nietzsche, Freud, Heidegger. 36

II Dies gilt nun geradezu modellhaft für den Komplex von Strömungen und Schulen, der gegenwärtig das geschichtswissenschaftliche 'Erbe' der Literatur-

Wirkungssicherer Repräsentant dieser K o n j u n k t u r (mit einem Z e n t r u m in Berkeley, unter dem Slogan „Anything goes"): Paul Feyerabend: W i d e r den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M . 1 9 7 7 (amerikanische Ausgabe 1 9 7 6 ) . D a n e b e n Schopenhauer, Husserl und manche andere hier nicht im einzelnen Aufzuzählende.

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Wissenschaft am entschiedensten in Frage stellt: den summativ meist so genannten Neo- oder Post-Strukturalismus. 3 7 Nur wenige Stichworte zur Verständigung. Mit der Bezeichnung werden eine Reihe meist französischer Autoren zusammengefaßt (in der Regel nennen sie sich „philosophes"), die ihre Positionen unter der Dominanz strukturalistischer Schulen und durchweg in Opposition zur deutschen historisch-hermeneutischen Tradition entwickelt haben. Die Berufung insbesondere auf Nietzsche und Heidegger führt zu dem eigentümlichen Resultat, daß manche der Grundgedanken wie „von jenseits des Rheins" („d'outre Rhin") erscheinen. Die wichtigste Gruppe außerhalb Frankreichs hat sich, in Auseinandersetzung mit Jacques Derrida, an der Yale University gebildet (Hauptgestalt Paul de Man) und unter dem Begriff der „Dekonstruktion" eine

literaturkritische/literaturwissenschaftliche

Schule

von

beträchtlicher

Wirksamkeit in den Vereinigten Staaten gebildet, sie 'strahlt' inzwischen auch nach Frankreich zurück und hat in der Bundesrepublik eine bereits erhebliche Anhängerschaft gefunden. Mit den Dekonstruktivisten haben sowohl HansGeorg Gadamer als auch Hans Robert Jauß wiederholt den Dialog gesucht. 3 8 In vielen Debatten unter und mit den Hauptvertretern des Poststrukturalismus spielen nationale Etikettierungen und Stereotypen ('französisches D e n k e n , 'deutsche Vorurteile', 'amerikanische Geschichtsferne' usw.) eine oft belastend wichtige Rolle. Dem Poststrukturalismus in seinen verschiedenen Spielarten liegt fast durchgängig eine prinzipielle Kritik der „sciences humaines" zugrunde, insofern sie sich in der Tradition von Schleiermacher und von Dilthey her als historisch-hermeneutische Geistes-Wissenschaften verstehen. In ihnen herrsche eine Zentrierung auf das erkennende Subjekt, die — abgekürzt gesprochen — ein Doppeltes bedeute. Der abendländische „Logozentrismus" 3 9 habe gewissermaßen eine Halbierung der Vernunft produziert, die sich etwa in Gadamers Kritik

Von den zahllosen Textsammlungen, Kompendien und kritischen Auseinandersetzungen seien drei primär für ein deutsches Publikum gedachte Titel genannt: Friedrich A. Kittler (Hrsg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus. Paderborn 1980; Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt a. M . 1983; Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M . 1985. Ein nützlicher Überblick über die französischen Autoren: Jürgen Altwegg/Aurel Schmidt: Französische Denker der Gegenwart. Zwanzig Porträts. München 1987. Ein Teilbereich dieses einschlägig wichtigen Dialogs wird - besonders in seinen Schwierigkeiten - erhellend analysiert von H a n s Ulrich Gumbrecht: Deconstruction Deconstructed. Transformationen französischer Logozentrismus-Kritik in der amerikanischen Literaturtheorie, in: Philosophische Rundschau 33 (1986), S. 1 - 3 5 . Es ist neuerdings wiederholt darauf hingewiesen worden, daß dieser polemisch intendierte Begriff wohl zuerst bei Ludwig Klages begegnet.

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Methodenreflexion an der Schleiermacherschen „Einfühlungshermeneutik" sogar aktuell und grundsätzlich zu erkennen gebe. Die Inthronisation des zentrierenden Subjekts produziere bzw. ermögliche lediglich geschlossene Strukturen (der sogenannte hermeneutische Zirkel sei, so gesehen, gerade entlarvendes Symbol des herrschenden Verfahrens). Dezentrierung, „decentrement du sujet" sei das notwendige Postulat, das zugleich aus der eingestandenen oder uneingestandenen Sackgasse der Teleologie der geschichtlichen Wissenschaften herausführe. Und spezifisch auf Texte, insonderheit literarische Texte angewendet: Nur mit der Idee einer offenen Struktur könne man ihnen gerecht werden, wobei weder historisches - auch etwa biographisches Voraussetzungsdenken noch gar Determinationsvorstellungen leitend sein dürften. Nicht subjektorientierte Konstruktion von Sinn, oder gar von geschichtlicher Autor-Intention, sei die angemessene Weise des Lesens, sondern der „Text" selbst entfalte jeweils die Lektüre. In der an Derrida anknüpfenden Yale School (Paul de Man, Harold Bloom, Geoffrey Η. Hartman u.a.) 40 wird oppositiv gegen die historische Rekonstruktion einer „Bedeutung" gerade das Prinzip der De-Konstruktion gesetzt, einer subversiven Weise, den Text sich selbst immer neu „unterminieren" zu lassen. Die Vertreter dieser Schule beanspruchen durchaus, „literary criticism" zu betreiben. Und es ist offenkundig, daß sie sich sowohl gegen das interpretatorische Erbe des New Criticism stellen als auch gegen alle mit historisch-hermeneutischem Anspruch auftretenden Sinn-Bestimmungen. Die Radikalität, mit der hier Geschichte ausgeblendet wird, ist nicht zuletzt fiir diejenigen von hoher Faszination, die den „Ballast" des historisch Rekonstruierten als den „Text" zudeckend empfinden. Diese strikte Konzentration auf den einzelnen „Text" und die Negierung der historischen Dimension sind keineswegs für alle Richtungen charakteristisch, die heute unter Poststrukturalismus subsumiert werden. Die historische Funktionsanalyse von Louis Althusser etwa wendet sich zwar auch gegen die Grundauffassung vom Autor als „Herr" des Sinns seines Werks (schon 1968). Aber sein in „Strukturen" denkender Marxismus 41 setzt einen monistischen Geschichtsprozeß immer schon voraus; er negiert ihn nicht. Die Diskursanalyse Michel Foucaults ist als Analyse kollektiver Redeweisen zwar auch nicht am literarischen Werk als Werk interessiert und rechnet nicht mit Referenzen auf Sachverhalte, sondern wiederum auf vorgängige Diskurse (so schon 1966). 40

Gute, kritische Einführung von Jonathan Culler: On Deconstruction. Theory and Criticism after Structuralism. London 1983. Hierzu Urs Jaeggi: Theoretische Praxis. Probleme eines strukturalen Marxismus. Frankfurt a. Μ . 1977.

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Aber seine besondere Resonanz in Deutschland 42 rührt nicht zuletzt daher, daß seine spezifische ,Archäologie" des „Wissens" und der „Humanwissenschaften" sich methodologisch durchaus — ohne Usurpation — an historisch-hermeneutische Sichtweisen anschließen läßt. Für die 'quaestio finita' nach der Literaturwissenschaft als Geschichtswissenschaft heute sind unter den poststrukturalistischen Richtungen Diskursanalyse und Dekonstruktivismus am aussagekräftigsten. Letzterer 'erbt' vom New Criticism die Faszination, die von der totalen Konzentration auf den Einzeltext ausgeht. Aber es steckt auch ein Moment von Protest darin, der sich gegen alle die äußeren Determinationen von Textsinn richtet, wie sie seit den ausgehenden 60er Jahren vor allem von der sozialgeschichtlich und rezeptionsgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft eingefordert worden sind. Gegen den Autoritarismus der sinnsetzenden geschichtlichen Instanzen stellt sich die dekonstruktive Spielfreiheit der „Lektüre". Daß Geschichte im Hinblick auf Literatur von nicht wenigen als Einengung von Imagination empfunden wird und als Überlastung durch positives Wissen, mag unsere Gegenwart mit jenem Ungenügen am Historismus verbinden, auf das Friedrich Gundolf so resonanzreich antwortete. Wie begründet ist dieses Ungenügen heute? Die symptomatische Anziehungskraft der Diskursanalyse ist unter den poststrukturalistischen Richtungen dem Dekonstruktivismus gewissermaßen komplementär. Hier geht es zunächst gar nicht um Einzeltexte, um Literatur, vielmehr sind literarische Texte allenfalls Dokumente für kollektive Diskurse. Aber ihr jeweiliges Teilhaben an solchen Diskursen (ein Beispiel zur Illustration: Sprache des Wahnsinns im 18. Jahrhundert) ist ohne Frage aussagekräftig für die geschichtliche Position eines literarischen Textes. Und so erweist sich Diskursanalyse der Foucaultschen Richtung 43 als durchaus verknüpfbar mit Tendenzen und Programmen, die bereits Ende der 60er Jahre formuliert werden: der Einbindung von Literaturgeschichte in eine allgemeinere Kulturgeschichte. 44 Doch die schärfere Herausforderung des historischen Denkens in der Literaturwissenschaft geht von den Dekonstruktivisten aus. Und angesichts von deren Resonanz vor allem in den Vereinigten Staaten war eine Gegenreaktion fast vorhersehbar. Sie hat mittlerweile sogar als eine Gruppe zusammengefun-

Einige Aspekte bei Clemens Kammler: Michel Foucault. Eine kritische Analyse seines Werks. Bonn 1986. Dies im Gegensatz etwa zu der strikter psychoanalytisch ausgerichteten Analyse von Jacques Lacan und seiner Schule (zu den wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhängen Gottfried Teichmann: Psychoanalyse und Sprache. Von Saussure zu Lacan. Würzburg 1983). Bis ins Curriculare gehend Eberhard Lämmert: Das Ende der Germanistik und ihre Zukunft, in: Ansichten einer künftigen Germanistik. Hrsg. v. Kolbe (wie Anm. 27), S. 7 9 - 1 0 4 .

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Methodenreflexion den (mit einem Zentrum in Berkeley, unter der Führung des Shakespeare-Forschers Stephen Greenblatt), 45 die seit 1983 auch über eine eigene Quartalsschrift verfügt 46 und sich als „New Historicism" profiliert hat. 47 Das entschieden von literaturwissenschaftlichem Interesse bestimmte produktive, synthetisierende Konzept lautet: „kulturelle Poetik" („cultural poetics"). In ihr fungiert Dichtung als Medium eines „Austauschs", einer „Zirkulation" kultureller Vorstellungen (über Leben, Krankheit, Religion usw.). Der Kompromißcharakter dieser neuen 'Schule' ist ebenso offensichtlich wie für die Problemspannungen eines neuen literaturwissenschaftlichen 'Historismus' - nicht nur - in den Vereinigten Staaten symptomatisch. Die Beispielepoche (bei Greenblatt: die Shakespearezeit, im weiteren auch „Renaissance") wird wieder als geschichtliche Epoche genommen. Aber sorgfältig wird jede „intrinsische" Isolierung der literarischen Werke im Sinne des New Criticism vermieden; im Gegenteil: Text und kulturgeschichtlicher Kontext werden nach den gleichen anthropologischen Mustern interpretiert (hier ist der Einfluß Foucaults unverkennbar), der literarische Text interessiert zuvörderst im Hinblick auf den Kontext. Der Blick hinüber in die Vereinigten Staaten, aber auch zu europäischen besonders französischen — Entwicklungen des Poststrukturalismus kann dazu dienen, die verbreitete Selbstverständlichkeit historisch-hermeneutischer Traditionen in Deutschland und deren institutionelle Verfestigung auch als Problem, als 'quaestio finita' genauer zu fassen. Die literaturwissenschaftlich-methodologischen Diskussionen seit Ausgang der 60er Jahre haben den „Werk"-Begriff und die ,Autonomieästhetik" in Frage gestellt, den literarischen Kanon und die nationale Perspektive. Aber gerade die Leistungen der 'historischen Schule' sind für das Fach der germanistischen Literaturwissenschaft in Deutschland so eindrücklich präsent, daß manchem die Frage nach dem geschichtswissenschaftlichen Status fast als hypothetisch erscheinen mag. Ich nenne lediglich vier Punkte, die den gegenwärtigen Status des Faches mitprägen.

Schlüsselpublikation: Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare. Chicago, London 1980. Representations, in Berkeley erscheinend. Es gibt auch schon eine eigene Buchreihe. Aktueller Überblick in: Edward Pechter: The New Historicism and its Discontents: Politicizing Renaissance Drama, in: Publications of the Modern Language Association of America 102 (1987 [Mai]), S. 292—320. Die Gruppe um Greenblatt ist von etwas früheren, aber weniger 'durchschlagenden' Revisionsversuchen unter der gleichen Formel zu unterscheiden: etwa Wesley Morris: Toward a New Historicism. Princeton 1972. Nützliche Zwischenbilanz in: Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Dietrich Harth u. Peter Gebhardt. Stuttgart 1982.

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Literaturwissenschaft

— eine

Geschichtswissenschaft?

III Zu den wenigen Feldern, auf denen deutsche Geisteswissenschaft international immer noch eine führende Position einnimmt, gehört die historisch-kritische Edition. 49 Gerade die auch öffentliche Kritik, die an dieser Institution während der letzten Jahre geäußert worden ist 50 (und die zum Teil heftigen Reaktionen darauf), bestätigt auf ihre Weise den hohen Prestigewert, den sie für viele besitzt. Wo immer eine neue kritische Gedicht-Edition konzipiert wird - auch in anderssprachigen Philologien

sind genetische Modelle in der Diskussion, wie

sie Friedrich Beißner für Hölderlin 51 oder die Schweizer Hans Zeller und Alfred Zäch 52 für Conrad Ferdinand Meyer 53 entwickelt haben. Die neue auch visuelle Präsentationsweise, die für Hölderlin Dietrich E. Sattler realisiert hat 54 — gewiß ein Sonderfall, auch mit ideologisch-politischen Beitönen —, löste sogar langdauernde Zeitungsdebatten aus. Editionsunternehmungen zu Texten von Historikern oder Philosophen orientieren sich ebenfalls meist zunächst am literaturwissenschaftlichen Standard. In der Konsequenz ist, aufgrund deutscher Initiative, ein eigenes internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft ins Leben gerufen worden. 55 Bei alledem fußt die Neuere Literaturwissenschaft selbstredend auf den großen Leistungen der Klassischen Philologie des 19. Jahrhunderts. In kaum einem anderen Gebiet hat sich das Erbe des Historismus und des Positivismus so unverkennbar erhalten wie hier, natürlich differenziert und zum Teil unendlich verfeinert auch durch höchste Interpretationskünste der letzten Jahrzehnte; Heym, Hofmannsthal und Kafka mögen beispielhaft dafür stehen. 56 Aber auch auf Autoren zweiten und dritten Rangs hat man das Auge geworfen (Namen sollen hier nicht die Aufmerksamkeit fesseln), oder auf wenig belangreiche Texte

45

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51 52 53 54 55

56

Den besten Überblick bietet: Handbuch der Editionen. Deutschsprachige Schriftsteller [vom] Ausgang des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Bearbeitet v. Waltraud Hagen, Inge Jensen, Edith Nahler, Horst Nahler. Berlin (auch München) 1979. Beispielhaft Walter Müller-Seidel: Kritische Aspekte zur Herausgabe wissenschaftlicher Texte, in: Edition et Manuscrits. Probleme der Prosa-Edition. Hrsg. v. Michael Werner u. Winfried Woesler (Jb. f. Internat. Germanistik. Reihe A. Kongreßberichte. Bd. 19). Bern usw. 1987, S. 2 4 2 - 2 5 1 . Große Stuttgarter Ausgabe, seit 1943 (Briefe und Dokumente seit 1954 hrsg. v. Adolf Beck). Sie beide sind - es sei hier ausdrücklich vermerkt - Schweizer. Sämtliche Werke, seit 1958. Frankfurter Ausgabe, seit 1976 (zunächst zusammen mit Wolfram Groddeck). Titel: editio. Internationales Jahrbuch fiir Editionswissenschaft. Hrsg. v. Winfried Woesler. Tübingen 1987 ff. Jeweils mit unterschiedlichen Editions-Typen, abhängig von der Arbeitsweise der Autoren und dem Überlieferungsstand.

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Methodenreflexion berühmter Dichter. Die Kompliziertheit der Apparate wächst mitunter ins kaum noch Durchschaubare. Der personelle und finanzielle Aufwand ist problematisch geworden. Hat sich hier nicht auch das Gravitationsgesetz von Institutionen behauptet, die nun faktisch - jedenfalls zum Teil - einen Historismus früherer Forschungsepochen prolongieren? Eine ins unüberschaubar Pluralistische gewachsene Wissenschaftslandschaft läßt in diesem Fall nicht nur das Bedeutende neben dem Belanglosen stehen (oft innerhalb derselben Ausgabe), sondern auch das methodisch immer noch 'Frische' neben dem Obsoleten. Kaum anderswo in der Literaturwissenschaft (außer vielleicht bei den langfristigen lexikalischen Unternehmungen) stoßen sich befragte und unbefragte Geschichtswissenschaft so hart im Raum. Der historisch-kritischen Edition unmittelbar benachbart, in Einzelfällen mit ihr auch systematisch verknüpft ist der literaturwissenschaftliche Kommentar. 57 Auch seine Perfektionierung ist, auf dem Fundament einer langen, bis zu den Alexandrinern zurückreichenden philologischen Praxis, eine Errungenschaft des Historismus. Aber erst jetzt, so scheint es, wird die Ernte mit vollen Wagen eingefahren. Noch nie in der Geschichte der germanistischen Literaturwissenschaft haben so viele Texte in ausführlich oder knapp kommentierten Ausgaben — manche gleich mehrfach - zur Verfügung gestanden wie heute, von den wichtigeren mittelalterlichen Autoren über Lessing und Goethe bis zu den 'Klassikern der Moderne'. 58 Es gibt kaum eine historische Disziplin, die hier nicht unmittelbar oder indirekt mit ihren Resultaten beteiligt wäre: ob politische oder Sozialgeschichte, Prosopographie oder Sprachgeschichte, Kunstgeschichte oder auch — Literaturgeschichte. Vor wenigen Jahren erst ist ein neues Großunternehmen mit kommentierten Studienausgaben deutscher Literatur (auch Philosophie und Historie) gestartet worden, 59 unter Mitwirkung eines beträchtlichen Teils der deutschen Neugermanisten. Mancher Anhänger poststrukturalistischer Richtungen spricht achselzuckend oder auch verächtlich von einem 'letzten Aufgebot des deutschen Historismus' - und greift doch gerne zu diesen Kommentaren, nicht nur wenn die geschichtsresistente Lektüre versagt. 60

Guter Querschnitt durch die Methodologie: Probleme der Kommentierung. Kolloquien der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Referate und Diskussionsbeiträge. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald, Herbert Kraft u. Walter Müller-Seidel. Bonn-Bad Godesberg 1975. Die meisten sind, bis 1975, auch im Handbuch der Editionen (wie Anm. 46) aufgeführt und kurz charakterisiert. Bibliothek Deutscher Klassiker (Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M.), ursprünglich konzipiert als ein Pendant zur berühmten Bibliothique de la Pttiade. Bei Foucault, Lacan und anderen wird der Begriff des 'Kommentars* mitunter ausdrücklich reflektiert. Er meint dann zumeist das Erklären des Textes in dessen eigenem Horizont, abgesetzt von der eigentlichen, transzendentalen Analyse.

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Literaturwissenschaft

— eine

Geschichtswissenschaft?

Gewiß hat es in den Literaturwissenschaften immer auch eine Tendenz zur Monumentalisierung der Kommentare gegeben, besonders in der Klassischen Philologie. 61 In ihnen feiert sich das angesammelte Wissen und Können einer Disziplin gewissermaßen selbst - bewundernswert, aber wie bei mancher historisch-kritischen Ausgabe die Frage provozierend, ob das Ausgebreitete seiner erklärenden Bedeutung und seinem Aufwand nach dem Prinzip des Angemessenen noch folge. 62 Man kann sich bemühen, mit dem bequemen Slogan von „anything goes", wie es von Paul Feyerabend 63 und anderen marktsicher vertreten wurde, das faktische Nebeneinander im Sinne eines Pluralismus einfach zu konstatieren oder auch von Funktionsteilung innerhalb der Literaturwissenschaft zu sprechen. Das Unausgestandene von Wertsetzungen bleibt dabei unbefriedigend. Die dritte Beobachtung zum 'Geschichtswissenschaftlichen' in der gegenwärtigen Literaturwissenschaft betrifft etwas, das sich auf den ersten Blick uneingeschränkter Zustimmung zu erfreuen scheint. Seit mehr als zwei Jahrzehnten entwickelt sich eine fächerübergreifende Kooperation zwischen Literaturwissenschaft und anderen „historisch orientierten" 64 Wissenschaften, wie sie jedenfalls die Neuphilologien nie gekannt haben. Zwar hat das 19. Jahrhundert eine Konzeption 'altertumswissenschaftlicher' Orientierung der (Klassischen) Philologie entwickelt, deren Postulate sich zum Teil bis heute erhalten haben. 65 In den neueren Literaturwissenschaften hat sie sich nie wirklich durchgesetzt, aus höchst komplexen Gründen, die sowohl praktische Probleme der quantitativen Überschaubarkeit als auch prinzipielle Überzeugungen der Autonomieästhetik betreffen. Die interdisziplinäre Öffnung der Literaturwissenschaft seit den 60er Jahren verdankt sich nicht unwesentlich der Kritik an 'immanentisti61

62

64

^

Hier wetteifern zum Teil deutsche u n d englische Forschung, f i n d e n auch - i m erzwungenen Exil - zur Synthese, so etwa bei Eduard Fraenkels grandiosem K o m m e n t a r z u m Agamemnon des Aischylos (Oxford 1950). Schon das vorige J a h r h u n d e r t hat solche M o n u m e n t e hervorgebracht, etwa H u g o B l ü m n e r s voluminösen K o m m e n t a r zu Lessings Laokoon (Berlin 2 1 8 8 0 ) mit langen Exkursen über das W i ß b a r e , aber dann auch mit Schweigen, w o oft schon die sprachliche Formulierung Schwierigkeiten bereitet (hier spielt natürlich auch eine Rolle, d a ß der K o m m e n t a t o r primär von der Kunstgeschichte h e r k o m m t ) . Ein anderer Text des 18. Jahrhunderts, der zu einem b e w u n dernswerten D o k u m e n t von historischer Gelehrsamkeit heute A n l a ß gab: Friedrich C h r i s t o p h Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hrsg. v. Reinhard Breymayer u. Friedrich Häussermann. 2 Teile. Berlin, N e w York 1977 (Verhältnis von reinem Text zu K o m m e n t a r etwa eins zu vier). W i d e r den M e t h o d e n z w a n g . Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M . 1977. Vgl. A n m . 1. Knappe Zusammenfassung bei Gerhard Jäger: E i n f ü h r u n g in die klassische Philologie. M ü n chen 1975, S. 148 ff. Über den Stellenwert dieser 'altertumswissenschaftlichen' A u s r i c h t u n g entbrannte freilich in den 70er Jahren mancherorts ein heftiger Streit.

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Methodenreflexion

sehen' Schulen, für die ein Name wie Emil Staiger stand. Sie betrifft wohlgemerkt auch nichthistorische Disziplinen, wie die Psychoanalyse, aber vor allem unter dem weit verstandenen Begriff der 'Sozialgeschichte'66 ein breites Spektrum von der Buch- und Lesergeschichte bis zur Rechtsgeschichte, von der Bildungsgeschichte bis zur Erforschung regionaler Zentren. Immer häufiger freilich begegnen auch Ansätze zur Einbettung der Literaturgeschichte in eine modernisierte 'Kulturgeschichte' (das eben erwähnte Auftauchen der „cultural poetics" im Rahmen des aktuellen New Historicism ist symptomatisch). Der Kulturbegriff entfaltet, wie seinerzeit bereits beim Lamprechtstreit, eine hohe Anziehungskraft auch auf Literaturwissenschaftler. Für die Frühe Neuzeit hat sich dabei eine nachgerade paradigmatische Zusammenarbeit ergeben, mit entscheidender Förderung durch Institutionen wie die Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel und die - ebenfalls dort angesiedelte — Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts. Die Forschungslandschaft hat sich, auch dank anderer Förderungseinrichtungen, 67 für die Literatur vom Humanismus bis zur Goethezeit 68 in einer Weise interdisziplinär geöffnet, wie dies in der Weimarer Zeit, und noch Anfang der 60er Jahre, undenkbar gewesen wäre. Also ist der 'Sieg' der historischen Orientierung in diesen Bereichen evident? Gerade die Fülle dessen, was man aus der reichen Uberlieferung der Frühen Neuzeit erschließen' kann, das bisweilen reizvolle illustrative Nebeneinander, weckt bei manchen Skepsis und läßt in Diskussionen gelegentlich das Etikett 'Neopositivismus' anklingen. Gewiß, in Teilbereichen wie etwa literarische Gesellschaften, Emblematik, Kasualpoesie haben sich reflektierte Methodiken herausgebildet. Aber von einer umfassenden Methodik einer Kooperation der historischen Disziplinen auch nur für die Frühe Neuzeit sind wir noch um einiges entfernt. Und: Eingeschworene Verfechter poststrukturalistischer Richtungen geraten selten in die genannten Kreise (oder werden auch ferngehalten). Pluralismus bedeutet hier auch Nichtkommunikation. Das vierte Beispiel: literaturwissenschaftliche Historiographie. Sie wurde seit Ende der 60er Jahre rasch zu einem programmatischen Hauptfeld der Rehi-

Eine hilfreiche, genaue Bestandsaufnahme bietet jetzt: Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Hrsg. im Auftrag der Münchener Forschergruppe Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770-1900 v. Renate von Heydebrand, Dieter Pfau u. Jörg Schönert. Tübingen 1988. So das Zentrum fiir interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld, aber auch etwa die fächerübergreifend angelegte, von Albrecht Schöne begründete Reihe der Germanistischen Symposien der DFG (die bezeichnenderweise mit einem Barock-Symposium, 1974, begann). Daß andere Schwerpunkte auch weit darüber hinausgreifen, zeigt etwa die in Anm. 66 erwähnte Münchner Forschergruppe (die, mit Konsequenz, im ausgehenden 18. Jahrhundert ansetzt).

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Literaturwissenschaft

— eine

Geschichtswissenschaft?

storisierung der Literaturwissenschaften, besonders in Deutschland. Seit Gervinus hatten Literaturgeschichten zu den großen, repräsentativen 'Summen' (nicht nur) der germanistischen Literaturwissenschaft: gehört.69 Ein 'Schub' wurde jetzt spürbar. Gleich mehrere Autorengruppen fanden sich zusammen.70 An den existierenden Literaturgeschichten wurde — außer dem Mangel an Forschungsaktualität - vor allem die Einengung auf Gattungs- und Ideengeschichte kritisiert. Rezeptions- und sozialgeschichtliche Fundierung wurde gefordert. Hans Robert Jauß hatte sein Konzept der Rezeptionsgeschichte von Literatur unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft entwickelt.71 Die Bildung ausgewählter „synchroner Schnitte" war auch als historiographischer 'Kniff gedacht. Er hat sich im wesentlichen nicht durchgesetzt, aber breite sozialgeschichtliche Fundierung und rezeptionsgeschichtliche Ausblicke erweiterten - neben nur leicht modifizierten herkömmlichen Techniken72 - das Spektrum der Literaturgeschichtsschreibung.73 Heute steht in den neueren Literaturwissenschaften, besonders in der germanistischen, eine Vielfalt an historischen Überblicken zur Verfugung wie nie zuvor: vom schlichten annalistischen Kompendium74 über das Paukbuch75 für Studenten (oder auch Schüler), über einbändige Gesamtdarstellungen76 bis zu den großen vielbändigen Werken (auch in der DDR), die zum Teil noch nicht abgeschlossen sind.77 Nicht zu vergessen das monumentale, über die national69

70 71 72 73

74

76

Vgl. die wissenschaftskritisch angelegten Überblicke über Literaturgeschichtsschreibung von Karl Otto Conrady im Funk-Kolleg Literatur und im Grundkurs Literaturwissenschaft (wie Anm. 33/34). Meist unter dem gemeinsamen 'Dach' eines Verlags (Athenäum, Beck/Metzler, Hanser u.a.). Zuerst 1967 als Konstanzer Antrittsvorlesung, dann in dem Sammelband: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 144-207. Wie Epochencharakteristiken, Kurzbiographien, Werkbesprechungen. Aufschlußreiche Zwischenbilanz in: Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung — Zwei Königskinder? Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Wilhelm Voßkamp u. Eberhard Lämmert (= Kontroversen, alte und neue [wie Anm. 28] Bd. 11). Tübingen 1986, S. 1-122. So das vielbenutzte Kompendium von Herbert A. Frenzel u. Elisabeth Frenzel: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte. 2 Bde. München " 1 9 8 1 . 'Annalistisch' in größere historische Komplexe geordnet: Annalen der deutschen Literatur. Eine Gemeinschaftsarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Hrsg. v. Heinz Otto Burger. Stuttgart 2 1971 (charakteristischerweise zunächst nur bis 1900 reichend). Neben Frenzel (s. vorige Anm.) vor allem die illustrierte, didaktisch gut aufbereitete einbändige Literaturgeschichte von Wolfgang Beutin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1979. Der in voriger Anm. genannte Band hat die über Jahrzehnte hin erfolgreichste deutsche Literaturgeschichte von Fritz Martini ('1949) zum Teil abgelöst. Die Fülle der einbändigen (in ihrer ersten Auflage mitunter schon vor 1945 erschienenen) Literaturgeschichten soll hier nicht verzeichnet werden. So bei Hanser, Reclam, Rowohlt und (in der DDR sehr materialreich und 'repräsentativ' aufgezogen) Volk und Wissen. Die einläßlichste neuere Literaturgeschichte, von Helmut de Boor

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Methodenreflexion sprachlichen Grenzen zur Weltliteratur ausgreifende Neue Handbuch der Literaturwissenschaft,78 das 1972 zu erscheinen begann und bis heute nicht weniger als 21 Bände umfaßt. Das schwindelerregende Ausmaß der geschichtswissenschaftlichen 'Synthesen' zur deutschen, zur europäischen, zur Weltgeschichte fast jeder einschlägige Verlag, der auf sich hält, hat ja Entsprechendes anzubieten - ist zwar noch nicht erreicht. Aber an vergleichsweise gut zugänglicher literarhistorischer Information ist kein Mangel, erst recht, wenn man die reichhaltigen Kataloge von Literaturausstellungen (besonders aus Marbach und Wolfenbüttel) und nicht zuletzt die großen repräsentativen Literaturlexika ninzunimmt. 79 Eine nie gekannte Blüte der Literaturwissenschaft als Geschichtswissenschaft? Auch unter Historikern im geläufigen, allgemeineren Sinne werden ja gelegentlich Zweifel geäußert, ob sich in dem Boom an Geschichtsliteratur und historischen Ausstellungen ein genuines, reflektiertes Geschichtsinteresse rege und nicht vielmehr der Drang zum Repräsentativen, auch zum reizvoll Entfernten, zum Bunten, zum letztlich Folkloristischen. Für die Literaturwissenschaften sei noch einmal an die erörterten massiven Symptome für Geschichtsabweisung erinnert, wie sie sich seit der Jahrhundertwende periodisch zeigen und heute vor allem in den unterschiedlichen Spielarten des Poststrukturalismus faßbar werden. Sind die Quantitäten und die Varietäten der literaturgeschichtlichen Konjunktur nicht zu einem großen Teil Produkte eines eigengesetzlichen Buchmarkts und des etablierten, institutionalisierten Historismus?

IV Um diese 'quaestio finita mit der umfassenderen meines Versuchs zu verknüpfen, seien abschließend drei Teilkomplexe erörtert, in denen es um die 'differentia specifica' der Literaturgeschichte gegenüber politischer Geschichte, Sozialgeschichte usw. geht. Ich greife als erstes noch einmal das Thema Historiographie auf, nun aber weniger von der Symptomatik seiner jüngeren Konjunktur her, sondern unter der Frage, was sie in der Literaturwissenschaft spezifisch leistet. Eine Geschichtswissenschaft, die ihren Titel verdient, muß die Geschichte ihres Gegenstandes auch 'schreiben können. Was man so, mit Evidenz jedenund Richard Newald begründet (Beck), ist in den frühesten Bänden zum Teil schon überholt, in den jüngsten ohne Konkurrenz. Bei Athenaion (Hauptherausgeber: Klaus von See). So vor allem Kindlers Literatur Lexikon in 12 Bänden (1964-1970) und das zweibändige Lexikon der Weltliteratur bei Kröner (zuerst 1963 und 1968; Herausgeber: Gero von Wilpert).

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Literaturwissenschaft

— eine

Geschichtswissenschaft?

falls für viele, fast axiomatisch formulieren könnte, bringt den Literaturwissenschaftler, wenn er die Konsequenzen genauer durchdenkt, in einige Verlegenheit. Ich meine nicht nur das, was in den letzten Jahren vor allem unter Historikern an Problemkomplexen der Historiographie theoretisch und an Beispielen diskutiert worden ist:80 die notwendige Perspektivik und ihre 'Kosten'; Selektion und Wertung der Phänomene; der Konstruktionscharakter allen Geschichtsschreibens; das schwierige und wohl umstrittenste Problem der Narrativität, des Erzählenmüssens bzw. -dürfens und seine analytischen und reflexiven Alternativen.81 Vor allen diesen Problemen steht der Literaturgeschichtsschreiber grundsätzlich ebenso. Auch hier gibt es einen respektablen Diskussionsstand, etwa zur Frage einer Sozialgeschichte der Literatur als Historiographie, zu Gattungsgeschichte und zu literarischen Epochenkonstruktionen.82 Ein entscheidender Differenzpunkt scheint mir in der sehr ausufernden Debatte über literarische Historiographie durchweg zu kurz zu kommen, gerade in der Distinktion gegenüber der Allgemeingeschichte, der politischen Geschichte, der Verfassungsgeschichte, Rechtsgeschichte, Militärgeschichte, Kirchengeschichte oder auch mit besonders umfassendem Anspruch — Sozialgeschichte.83 Von Kant, in der

Idee zu einer allgemeinen

Geschichte in weltbürgerlicher

Absicht,84 stammt der auf

Hume85 sich beziehende Satz: „Das erste Blatt im Thukydides [...] ist der einzige Anfang aller wahren Geschichte." „Geschichte" meint hier, in der Epoche des terminologischen Ubergangs zum disziplinären Geschichtsbegriff,86 noch beide 80

81

82 83

84 85 86

Ich nenne nur drei Sammelbände: Geschichte - Ereignis und Erzählung. Hrsg. v. Koselleck u. Stempel (1973; wie Anm. 9); Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. v. Jürgen Kocka u. Thomas Nipperdey. München 1979 (=Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 3); Formen der Geschichtsschreibung. Hrsg. v. Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz u. Jörn Rüsen. M ü n c h e n 1982 (= Theorie der Geschichte. Bd. 4). Die Frage wird unter Historikern nach meiner Beobachtung dort, wo es um praktische Beispiele geht (etwa Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1. München 1987), oft recht ressentimentgeladen und weitab vom erreichten Niveau der Theorie verhandelt. Zum Stand vgl. exemplarisch den in Anm. 73 genannten Titel. Gedacht ist hierbei an die Diskussionen um eine Neudefinition der Geschichtswissenschaft als „historischer Sozialwissenschaft". Unter den zahllosen Titeln hierzu nenne ich als Zwischenbilanz nur Jürgen Kocka: Sozialgeschichte. Begriff - Entwicklung - Probleme. Göttingen 2 1986; außerdem Dieter Langewiesche: Sozialgeschichte und Politische Geschichte, in: Sozialgeschichte in Deutschland. Hrsg. v. Wolfgang Schieder u. Volker Sellin. Bd. 1. Göttingen 1986, S. 9 - 3 2 . Immanuel Kant: Werke in sechs Bänden. Hrsg. v. W i l h e l m Weischedel. Bd. 6. Frankfurt a. M . 1964, S. 48 (Fußnote). David Hume: Of the Populousness of Ancient Nations, in: Essays, Political, and Literary. Ed. b y T . H. Green a n d T . H. Grose. Vol. 1. London 1882, S. 414. Reinhart Koselleck: Artikel 'Geschichte, Historie' (wie Anm. 9). Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 5 9 3 - 7 1 7 , besonders S. 6 5 3 - 6 5 8 .

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Methodenreflexion Aspekte: „wahre Geschichte" als das im kritischen Vermögen (durch Thukydides verbürgt) sich Zeigende, aber eben auch als das durch Historiographie Überlieferte. Die radikale Formel postuliert das fundamentale Angewiesensein wahrer Geschichtserkenntnis auf kritische Historiographie. Unter Zurücksetzung aller 'Vorläufer' wie etwa Herodots (Hume: „intermixed with fable") repräsentiert Thukydides das kritische Prinzip: die Reflexion auf den Quellencharakter der Quellen, auf Zeitgenossenschaft und Autopsie, das Rechenschaftgeben, die bewußte Sinnkonstitution. Das Beispiel des Thukydides als des ,Anfangs" soll hier einen prinzipiellen Differenzpunkt heraustreiben. Die Antike hat, wie oft beobachtet worden ist, zwar Vorstellungen und Schemata über die Entwicklung der Poesie und der bildenden Künste besessen, aber keine im modernen Sinne verstandene Historiographie. Und in der Moderne ist, nach mancherlei Vorstufen (historia litteraria u. dgl.), die Literaturgeschichte der Kunstgeschichte (Winckelmann) gar 'hinterhergelaufen'. 87 Genealogisch betrachtet, ist Literaturgeschichte eine Ableitung der Ableitung. Was kann Literaturgeschichtsschreibung leisten? Welchen wissenschaftssystematischen Status besitzt sie? Insofern Literatur der primäre Gegenstand aller Literaturwissenschaft ist, stellt den genuinen Umgang mit den literarischen Texten zunächst die Analyse dar; darauf sich stützend die Interpretation. Es geht hier nicht um die hermeneutische Selbstverständlichkeit, daß kein Umgang mit Literatur - auch kein außerwissenschaftlicher - ohne Vorverständnisse gedacht werden kann. Stets sind, ob bei aktuell erscheinenden Texten oder bei schon 'historischer' Literatur, ästhetische Normvorgaben, Neigungen, Postulate mit im Spiel, auch etwa Vorstellungen über den Autor, seine Zeit usf. 88 Aber nach der 'Ordnung der Gegenstände' erst bestimmt sich das Interesse an solchen Vorgaben. Wer politische Geschichte treibt, Allgemeingeschichte, Sozialgeschichte, Verfassungsgeschichte, stützt sich notwendig auf Quellen. Und konsequenterweise bildet die Quellenkunde seit jeher einen Kernbereich jeglicher Historik. Aber niemand präpariert sein Bild eines Ereignisses, eines Handlungszusammenhangs, einer Sozialstruktur, eines Prozesses oder auch einer historischen 'Gestalt' nur aus Quellen. In alle Rekonstruktionsakte solcher Art gehen immer

Bezeichnenderweise ist Friedrich Schlegels Versuch, ein Winckelmann der Poesie zu werden, erst einmal Versuch geblieben; vgl. Hans Dierkes: Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung. Tübingen 1980. Dies theoretisch und in Modellstudien unabweisbar gemacht zu haben, ist gerade eine der Leistungen der Rezeptionsgeschichte.

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Literaturwissenschaft — eine Geschichtswissenschaft? schon Arbeitsresultate anderer mit ein, ja sie sind unentbehrliche Voraussetzungen. Eines der genuinsten Verfahren jedoch, solche Arbeitsresultate zu synthetisieren, ist immer wieder Historiographie, und sei es auch die kleinerer Komplexe.89 Ob mehr narrativ oder mehr analytisch-reflexiv vorgehend, eine Darstellung etwa der Vormärz-Ereignisse oder der Struktur des deutschen Bürgertums um 1890 oder des Weimarer Parlamentarismus 'repräsentiert' etwas, und nicht nur im Laienverstand. Kants/Humes Satz über Thukydides ließe sich radikalisierend weiterführen: Thukydides 'ist' der Peloponnesische Krieg.90 Die faszinierendste historiographische Darstellung der attischen Tragödie, oder der griechischen Poesie im Zeitalter des Perikles, könnte niemals einen dem Thukydides vergleichbaren Status erringen. Jedes Stück des Sophokles wäre einer solchen Monographie weit überzuordnen — ihr im Grunde nicht vergleichbar. Auch Literaturgeschichtsschreibung kann Prozesse darstellen, Entwicklungen und Tendenzen diagnostizieren, den Aufriß von Autorengruppen oder von literarischen Institutionen darbieten (Theaterwesen, Literaturkritik, Mediensysteme), sie kann epochale Gattungspräferenzen deutlich machen und große — oder auch mittelmäßige — Dichterpersönlichkeiten konturieren: wie andere Historiographie auch. Aber für die primären Gegenstände der Literaturwissenschaft, die literarischen Texte selbst, kann Geschichtsschreibung nur die Bedingungen ihrer Entstehung und Rezeption aufzeigen. Das, was im Zentrum der Literaturwissenschaft - oder auch der Kunst- und der Musikwissenschaft — steht, hat kein Pendant in den anderen Geschichtswissenschaften. Am Beispiel der Historiographie läßt sich präzisieren, was die drei geschichtsabweisenden Richtungen, von denen hier die Rede war, methodologisch abgrenzt: Von Gundolf, dem New Criticism oder der Staiger-Schule fuhren allenfalls Notbrücken, aber keine kategorial zureichenden Vermittlungen zur Historiographie. Aus poststrukturalistischer Sicht ist die „Literatur" sogar als „Unmöglichkeitserklärung der Literaturgeschichtsschreibung" bezeichnet worden. Geht es nicht letztlich um das Problem des „Individuellen"? Die seit Herder in den historischen Wissenschaften prekäre Frage stellt sich in der Tat für Litera-

Die M e t h o d e n p r o b l e m e hierbei sind (auch an Beispielen) vorzüglich herausgearbeitet in d e m Band: Historische Prozesse. Hrsg. v. Karl-Georg Faber u. Christian Meier. M ü n c h e n 1 9 7 8 (= T h e o r i e der Geschichte. Beiträge zur Historik. Bd. 2 ) ; dort auch Studien zur Kunst- u n d Literaturgeschichte. Die Einzigartigkeit dieser 'Quelle' wird durch die große Zahl der später erschlossenen Q u e l l e n kaum in Frage gestellt. Werner H a m a c h e r : U b e r einige Unterschiede zwischen der Geschichte literarischer u n d der Geschichte phänomenaler Ereignisse, in: V o ß k a m p u. L ä m m e r t (wie A n m . 7 3 ) , S. 5 - 1 5 ; hier: S. 15.

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Methodenreflexion turgeschichtsschreibung mit besonderer Schärfe. Was Antigone oder ein Gedicht Walthers von der Vogelweide oder Krieg und Frieden lesenswert macht, ist gerade das ganz und gar Unverwechselbare, Einmalige. Das nur oder überwiegend Typische, welches Historiographie am eindeutigsten fassen könnte, ist in den Künsten oft gerade das Durchschnittliche, gar Langweilige. Die Kategorie des „Individuellen" hat in der Geschichtswissenschaft international offenbar neues Interesse gefunden,92 dort steht sie in erster Linie in Kontradiktion sowohl zur 'großen Politik' als auch zur konsequenten Strukturgeschichte. In den großen Individuen, den Genies, hat sich das Interesse der Politikgeschichte wie der Literaturgeschichte getroffen, seitdem beide sich vergleichen lassen: spätestens seit Gervinus.93 Analytisch fundiert und mit epochalen Verknüpfungen versehen, können Autorenkapitel - ob den Individualitäten Goethes, Heines, Brechts oder auch eines zweitrangigen Autors gewidmet — durchaus ihre historiographische Funktion erhalten. Die Aporie des 'Springens' zum bedeutenden Einzelwerk, zum Sichtbarmachen seiner ästhetischen Individualität bleibt dadurch ungelöst. Wird hier, am Beispiel der Historiographie, eine prinzipielle Grenze der Literaturwissenschaft gegenüber den Geschichtswissenschaften erkennbar? Ist sie in der Eigenart des Ästhetischen begründet? Man kann mit guten Gründen die Position vertreten, literarische Historiographie überspanne notwendig ihre Möglichkeiten, wenn sie auch noch die ästhetische Individualität des Einzelwerks in ihren Aufgabenkatalog einbeziehen wolle; hier sei eine entschlossene Funktionsteilung mit der exemplarischen Einzelinterpretation (auch als Textgattung genommen) das einzig Angemessene. Es scheint so, als bahne sich in der Literaturwissenschaft nicht nur der germanistischen - eine solche Entwicklung bereits an. Recht bald schon nach der ersten Welle der Historiographie-Projekte und nach dem Erscheinen ihrer ersten Bände (um 1980) setzte eine komplementäre Bewegung ein: der neue Boom der Interpretationen-Sammlungen, zu Autoren, zu Epochen, zu Gattungen.94 Ist dies der Ausweg aus dem Dilemma der Literaturwissenschaft als Geschichtswissenschaft? Genau besehen, verschiebt es sich nur in seiner wissenschaftslogischen Achse. Denn nun steht nicht mehr nur die herkömmliche gattungs- und ideengeschichtliche Orientierung (der literaturwissenschaftlichen

Langewiesche (wie Anm. 83), S. 21f. mit Nachweisen. Bei ihm vor allem in der programmatischen Konzentration der Weimarer Klassik auf Goethe und Schiller. Der Bezug zu den Bedürfnissen des Unterrichts, an Schule wie Hochschule, ist evident. Hervorgehoben seien, auch wegen der Versammlung oft hochkompetenter Interpreten, die Bände des Reclam-Verlags.

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Historiographie) gegen die sozial- und rezeptionsgeschichtliche, und die mehr narrative gegen die mehr analytische: Nun hat die ganze unüberschaubare Breite der Methoden, Schulen, Zugänge gewissermaßen freies Feld. Als vor zwei Jahren ein Sammelband mit acht „Modellanalysen" der gleichen Erzählung von Heinrich von Kleist erschien (Das Erdbeben von Chili) ^ wurde dies von den einen als eine anschauliche Konkretisierung des Methodenpluralismus begrüßt; 96 andere sahen darin nur die Bankrotterklärung eines beziehungslosen Nebeneinanders: „Diskursanalyse", „Hermeneutik", „Kommunikationstheorie/ Pragmatik", „Literatursemiotik", „Institutionssoziologie", „Sozialgeschichtliche Werkinterpretation", „Theorie der Mythologie/Anthropologie" und eine mit Absicht nichtbenannte (Derrida folgende) Analyse. Meine Titelfrage scheint angesichts eines solchen - für den faktischen Pluralismus in der Literaturwissenschaft durchaus kennzeichnenden — Befundes nur noch durch persönliche Setzung beantwortbar. Historisch-hermeneutische Analysen, zum gleichen Grundtext, stehen neben radikal geschichtsnegierenden. Die Besonderheit des literaturwissenschaftlichen Gegenstandes: ein Erzähltext, dessen Reiz gerade in der Herausforderung der spielenden Imagination liegt, hat hier eine Radikalität des unmittelbaren Nebeneinanders hervorgetrieben, wie sie die Historie wohl nicht kennt. Das Schismatische der Situation ist bedenklich. Die scheinbare 'quaestio infinita erweist sich erneut als finit und dringlich. Indes, ist Literaturwissenschaft aufgrund ihres Gegenstandes nicht von einer Weite und Vielfalt, die als 'Errungenschaft' auch begrüßt werden kann? Ich möchte hier noch zwei Beobachtungen anschließen, bei denen der Vergleich mit der Geschichtswissenschaft im 'engeren' Sinne erhellend sein kann.

V Zunächst das Problem der nationalen und der universalen Perspektive. Als August Wilhelm Schlegel in den Jahren 1801 bis 1804 in Berlin seine Vorlesungen Uber schöne Literatur und Kunsth\t\i,97 und Friedrich Schlegel 1805/06 in Köln 95

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Unter dem Titel: Positionen der Literaturwissenschaft. Hrsg. v. David Wellbery. München 1985. Das Verfahren selbst ist übrigens nicht neu, ich habe es 1977 etwa auf einem amerikanischen Neuphilologen-Kongreß erlebt (in einer höchst anregenden hispanistischen Sektion zu Unamuno). Etwa um die gleiche Zeit veranstaltete ähnliches das Deutsche Seminar der Universität Basel. Mitden Teilen: Die Kunstlehre (1801-1802), Geschichte der klassischen Literatur (1802-1803), Geschichte der romantischen Literatur (1803—1804).

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Methodenreflexion

Über Universalgeschichte las, schließlich 1812 in Wien Über die Geschichte der alten und neuen Literatur, da öffnete sich für kurze Zeit eine universal ausgerichtete Alternative zu dem, was dann spätestens seit Gervinus für die nächsten Jahrzehnte dominant wurde: die entschieden nationalliterarische Ausrichtung nicht nur der Historiographie, sondern überwiegend auch der spezielleren Literaturforschung. Noch Schillers, des späteren 'Nationalautors' normative und geschichtsphilosophische Programmschrift am Eingang des 'klassischen Weimarer Jahrzehnts, Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96), spannte mit Selbstverständlichkeit den Bogen von Homer über Euripides und Horaz, Dante, Ariost, Shakespeare bis in die eigene deutsche Gegenwart. Uber die tieferen Ursachen der nationalliterarischen Einengung98 ist in den beiden letzten Jahrzehnten viel diskutiert worden, für Deutschland vor allem mit dem Blick auf die schließliche Perversion der nationalen zur völkisch-rassistischen Literaturbehandlung.99 Zwar hat es auch in Deutschland literaturwissenschaftliche Disziplinen gegeben, in denen die nationale Engperspektive von vornherein aufgelockert, ja durchbrochen war. So natürlich in der Klassischen Philologie: nicht nur weil sie allem Modernen gegenüber eine fremde, andersartige Kultur und Literatur zum Gegenstand hat, sondern weil sie schon innerhalb der Antike, zumindest von der römischen Literatur her gesehen, ohne den ständigen vergleichenden Blick zur griechischen hin als historische Wissenschaft nicht denkbar ist. Merklich erweitert ist die nationalliterarische Perspektive fast traditionellerweise — und studienpraktisch — auch in der Romanistik (und etwa der Slavistik), jedenfalls in Deutschland. Jede anspruchsvolle wissenschaftliche Beschäftigung ist gehalten, den Blick von vornherein auf mehrere romanische Sprachen und Literaturen zu halten - und die Literatur der eigenen Muttersprache ist in der Regel jedenfalls den Grundlinien nach ebenfalls präsent.100 Für die Frage nach der Literaturwissenschaft als Geschichtswissenschaft sind diese Aspekte von eminenter Bedeutung. Es geht nicht um Zusätze oder um mehr oder weniger wünschenswerte Erweiterungen. Die Entwicklung der europäischen Literaturen ist - mit Schwankungen - auf allen ihren Stufen ein höchst enger Zusammenhang gewesen, vom gemeinsamen antiken Fundament her und dann über die Jahrhunderte in gegenseitiger Beeinflussung, Abstoßung,

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Sie gilt natürlich nur der Haupttendenz nach, mit wichtigen Ausnahmen wie Hettner, der die Literatur des 18. Jahrhunderts 'europäisch' überblickte, freilich nationalliterarisch (in getrennten Bänden) darstellte. Vgl. Anm. 27. Hieraus erklärt sich auch, daß aus solchen Fächern in der Regel die bedeutendsten Komparatisten kamen; ich nenne nur Erich Auerbach, Ernst Robert Curtius und etwa Dmitrij Tschizewskij, Jurij Striedter.

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Konkurrenz. Diese Selbstverständlichkeit ist jedenfalls in meinem Fach überwiegend nur eine theoretische. Sie bestimmt nicht den Alltag der Wissenschaftspraxis, gewiß auch aus Gründen der Arbeitsökonomie. 101 Wie Geschichtserkenntnis durch nationalliterarische Engperspektive beeinträchtigt werden kann, zeigt ein so zentraler Komplex wie die Weimarer Klassik. Behandelt man Texte aus diesem Bereich etwa im Ausland, zusammen mit Studenten oder Kollegen eines guten amerikanischen Department of Comparative Literature, oder auch auf einer komparatistischen Tagung, so ist die Vorgabe 'klassisch' oft hemmend, ja irritierend. Nicht aus Klassiker-Aversion, sondern weil das - etwa an Texten von Goethe oder Schiller - konkret Beobachtete (Motive, Stilformen, Gesellschaftssicht, Geschichtsperspektive usw.) im europäischen Zusammenhang sehr viel eher als 'romantisch' erscheint. 102 Das hat selbst schon höchst aussagekräftige geschichtliche Gründe, deren man sich bewußt zu werden hat. Die Orientierung Schillers und der Frühromantiker war nicht nur europäisch, sondern ausdrücklich universal'. Und es war bekanntlich Goethe, der 1827 — besonders unter dem tiefreichenden Eindruck der zerstörerischen Kriege - von der „anmarschierenden Weltliteratur" sprach, von der „Epoche der Weltliteratur", der gegenüber „Nationalliteratur [...] nicht viel sagen" wolle. 103 Goethes Idee der Weltliteratur ist ja nicht, wie irrtümlich immer wieder angenommen wird, eine wertende Kanonisierung, eine Art weltweiter Bestenliste, sondern ein Postulat: ein Prozeß des literarischen Sich-Austauschens, der kommen muß — unter führender Beteiligung der Deutschen. 104 Die deutsche Literaturwissenschaft jedenfalls ist in diesem Prozeß nicht führend geworden, vielleicht weil ihrer Nationalliteratur die Selbstgewißheit etwa der französischen oder der englischen fehlt. Das Defizit betrifft auch den geschichtswissenschaftlichen Horizont der Disziplin. Was in den Programmen einschlägiger Verlagshäuser (etwa Winkler oder Insel) heute an übersetzter Weltliteratur leicht zugänglich angeboten wird, auch was in unseren guten Theatern selbstverständlich Fundament des Repertoires ist, von Sophokles über 101

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Sie waren faktisch mitentscheidend bei dem Scheitern des gut begründeten Studienmodells von Wolfgang Iser und Harald Weinrich: Heranbildung nicht einzelsprachlicher Philologen, sondern übergreifend orientierter 'Sprachenlehrer' und 'Literaturlehrer' (institutionelle Trägheiten und Überforderung mancher Einzelner kamen zusammen). Erhellend in diesem Zusammenhang: die auf die Ausgrenzung einer Weimarer 'Klassik' verzichtende Darstellung von Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration. Erster Teil: Das Zeitalter der Französischen Revolution 17891806. München 1983 (= de Boor/Newald [wie Anm. 77], Bd. VII/1). Hamburger Ausgabe. Hrsg. v. Erich Trunz. Bd. 12: Schriften zur Kunst. Schriften zur Literatur. Maximen und Reflexionen. Mit Anmerkungen v. Herbert von Einem u. Hans Joachim Schrimpf. Hamburg 3 1958, S. 362f. A.a.O., S. 361 („worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist").

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Methodenreflexion Shakespeare bis zu Moliere, von Tschechov über O'Neill bis zu Beckett, bestimmt jedenfalls im allgemeinen nicht den präsenten Bezugsrahmen der literaturwissenschaftlichen Forschung.105 Selbst das verdienstvolle, komparatistisch angelegte Neue Handbuch der Literaturwissenschaft106 hat mitunter sichtlich Schwierigkeiten, über die Addition nationaler Uberblicke hinauszugelangen. Können hier Literaturwissenschaftler von den Historikern lernen? Meine Sicht ist möglicherweise positiv voreingenommen. Für den Historiker scheinen Komplexe wie die Türkenkriege, die Französische Revolution oder auch die Industrialisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts viel selbstverständlicher europäische, ja weltgeschichtliche Prozesse zu sein, in denen sich auch die Forschung leichter — wenn auch mit Hemmnissen - international bewegt. Mit Programmen und mit Appellen an die Literaturwissenschaftler ist hier gewiß nichts Sinnvolles auszurichten. Vielleicht zieht die Spezifität der Gegenstände Grenzen, die nur bedingt zu überspringen sind. Auch die literaturwissenschaftliche Historiographie muß ihrer Zwecksetzung nach dort haltmachen, wo die Unverwechselbarkelt des Einzelwerks allenfalls noch durch Interpretation sichtbar gemacht werden kann. Auch die universale Perspektive stößt wohl an die Grenze ihrer Realisierbarkeit, wo das Eigengewicht des primären Gegenstands die Aufmerksamkeit fesselt: das der Literatur.107 Ein dritter Punkt: Gegenwartsliteratur und Zeitgeschichte.108 Das Problem, auffallend selten diskutiert, soll nicht einem mechanischen Messen der Literaturwissenschaft an der Historie dienen, sondern einer Präzisierung der Antwort auf die Titelfrage. Es ist oft als romantisches Erbe (nicht nur) der Literaturwissenschaften diagnostiziert worden, daß die Erforschung des Ältesten und Entferntesten als des Ursprünglichsten so lange Zeit ungewöhnlich hohe Aufmerksamkeit beansprucht hat. 109 Die Beschäftigung mit dem Neuesten, der eigenen Gegenwart Nächsten stand dazu in einem mitunter grotesken Mißverhältnis. Noch als ich selbst studierte, reichte der Horizont einzelner meiner germanisti-

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Die Bemühungen um die längst überfällige Stärkung der 'komparatistischen' Elemente in den literaturwissenschaftlichen Fächern, ja um eine Stärkung der Komparatistik insgesamt dokumentieren neuerdings regelmäßig die Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Vgl. Anm. 78. Diese noch andeutenden Überlegungen zur Kontingenz der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur sollen andernorts wiederaufgenommen werden. Für freundliche Hilfestellung besonders bei den fachhistorischen Problemen danke ich Stephan Lindner/München. Das Gewicht der frühen Sprachstufen und Literaturdenkmäler im Studium (und in der Erforschung) bildete denn auch einen Hauptkritikpunkt Ende der 60er Jahre. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das neuere Interesse der Mediävistik gerade für das Spätmittelalter.

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sehen Lehrer nach eigenem Bekunden gerade bis zu Thomas Mann. Martin Walser berichtet, daß ihm, als er zu Beginn der 50er Jahre bei Friedrich Beißner über Kafka promovieren wollte, der vorgesehene Zweitgutachter nur zugesagt habe, wenn er diesen „Kafka" nicht auch noch lesen müsse. Mittlerweile ist das Pendel, wie jeder weiß, fast ins andere Extrem umgeschlagen. Die Geschichte dieses Wandels ist noch nicht geschrieben. Ein vorzügliches Paradigma ist das jeweils letzte Kapitel in Literaturgeschichten.110 Gervinus führte seine seit 1835 erscheinende Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen111 noch bis an die unmittelbare Gegenwart heran: an Goethes Tod, der ihm das Ende des „Zeitalters der Poesie" symbolisierte und den Beginn des Zeitalters der Prosa, der Wissenschaft. Diese geschichtsdiagnostische Sicherheit der eigenen Literaturepoche gegenüber hat Literaturwissenschaft nie wieder gewonnen. Die methodologische Frage, die hinter dem letzten Kapitel der Literaturgeschichte steht, blieb so etwas wie ein blinder Fleck. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg.112 Es fehlt, zumindest in der germanistischen Literaturwissenschaft, etwas, das der Intensität und dem Niveau der Diskussion um die Methodik der zeitgeschichtlichen Forschung auch nur näherungsweise vergleichbar wäre.113 Gewiß ist in der Zeitgeschichtsforschung der einzelnen Nationen und Regionen („histoire contemporaine", „contemporary history" usw.) die enorme Differenz in der Ansetzung der jeweiligen zeitlichen Reichweite mitunter verwirrend: zwischen der Französischen Revolution und dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich bewegend, oder in der Begrenzung nach rückwärts auch noch näher an die Gegenwart heranrückend. Was den Begriff der „zeitgenössischen Literatur"114 angeht, so scheint mir unzweifelhaft, daß der Zeitraum kürzer angesetzt wird: in der Regel „seit 1945", 115 aber individuell auch etwa nur das jeweils eigene Jahrzehnt umfassend. Zwar stellt sich auch dem Literarhistoriker das Quellenpro-

Methodisch anregend Günter Hess: Die Vergangenheit der Gegenwartsliteratur. Anmerkungen zum letzten Kapitel deutscher Literaturgeschichten um 1900, in: Historizität in Sprachund Literaturwissenschaft (wie Anm. 31), S. 1 8 1 - 2 0 4 . 111 5 Bde. 1 8 3 5 - 1 8 4 2 ; die 4. Auflage, 1853, dann unter dem Titel Geschichte der deutschen Dichtung. 1 1 2 Besonders aussagekräftig für die Schwierigkeiten sind die Umarbeitungen, die Fritz Martini für seine überaus erfolgreiche Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfangen bis zur Gegenwart seit der 1. Auflage von 1949 immer wieder vornehmen mußte. 1 1 3 Der Einfachheit halber kann ich hier nur auf eine neuere Publikation hinweisen: Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein. Hrsg. v. Bernd Hey u. Peter Steinbach. Köln 1986. 1 1 4 'Zeitliteratur' ist in diesem Sinne nicht eingeführt. 11 ^ Dies nahezu kodifiziert durch das in seiner Art einzigartige Kritische Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (KLG. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff.: Loseblattsammlung) . 110

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Methodenreflexion blem, das bereits Hans Rothfels als eines der beiden Kardinalprobleme zeitgeschichtlicher Forschung - neben der Bewertung - herausgehoben hat". 116 Aber die Sperrung oder Unerschlossenheit von Dokumenten, die wichtige Vorgänge erst erklärbar und beurteilbar machen, hat in der Erforschung der Gegenwartsliteratur nur sehr bedingt eine vergleichbare Bedeutung. 117 Gerade während der letzten Jahrzehnte hat sich im literarischen Leben ein Trend zur Uberöffentlichkeit herausgebildet (durch Interviews, Vorab-Publikationen, Lesungen, Diskussionen usw.), so daß dem Literaturwissenschaftler etwa für genetische Fragen sehr viel reichlicher Quellen zur Verfügung stehen, als dies zu Autoren früherer Epochen gilt. Aber natürlich wird sich für das Verhältnis verschiedener Textfassungen, für Muster und Abhängigkeiten, für die Einzelkommentierung manches erst aus den Nachlaßmaterialien erklären; hier wird historisch-kritische Forschung zur Gegenwartsliteratur auch künftig ihre Aufgaben haben. In der Summe ist alles dies viel weniger brisant als etwa die Frage, welche Zusagen Adenauer der britischen Regierung über eine künftige Staatlichkeit Deutschlands gegeben hat - um nur ein Beispiel zu nennen. Aber in der Aufgabe der geschichtlichen Bewertung von neueren Prozessen, der Distanz ihnen gegenüber, der „Zeit, die dem Historiker zu nahe ist" (Rothfels), rücken die Erforschung der Zeitgeschichte und die der Gegenwartsliteratur einander wieder bemerkenswert nahe. Uber deren Methodik wäre ein Dialog zwischen den Fächern vielversprechend. 118 Was etwa bedeutet es auf beiden Feldern, daß Wissenschaftler einen längerfristigen Prozeß oder gar ein bestimmtes Ereignis selbst miterlebt haben oder Zeitzeugen noch befragen können? Das Wiederanschlußfinden der westdeutschen Erzählprosa Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre war ein solcher Prozeß, die Uraufführung des Marat/de Sade von Peter Weiss (1964) oder die Ausbürgerung Wolf Biermanns (1976) waren solche 'Ereignisse'. Was stellt das 'Miterleben' von gesellschaftlichen, politischen Veränderungen dar, und wie wandelt sich, auf neu erscheinende Literatur bezogen, die Weise der ästhetischen 'Wahrnehmung'? Daß ästhetische Normen sich historisch wandeln, weiß man, seitdem man etwa Poetiken genauer untersucht - also im Grunde seit den Anfängen der Literaturwissenschaft. 119 Daß die gleiche

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Sinn und Aufgabe der Zeitgeschichte (1958), in: H. R.: Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Göttingen 1959, S. 9 - 1 6 . Allenfalls verdeckte Marktprozesse, abgekartete Spiele in der Literaturkritik, interne Auseinandersetzungen in Schriftstellergruppen u. dgl. können sich überraschend neu darstellen. Meines Wissens hat ein organisiertes Gespräch dieser Art bisher nicht stattgefunden. Sie werden selbstverständlich auch in den frühen Literaturgeschichten aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon behandelt.

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dichterische Szene in unterschiedlichen Zeitaltern ganz verschiedene „Gefühle", ja „Rührungen" hervorruft, betont Schiller am Beispiel Homers schon in seiner Schrift Über naive undsentimentalische Dichtung (1795/96). 120 Leserforschung, Rezeptionsästhetik und die neuere Theorie der „ästhetischen Erfahrung" 121 haben während der letzten beiden Jahrzehnte unsere Einsichten in die Historizität der ästhetischen Wahrnehmung und damit zugleich der Bewertung und der Kanonbildung erheblich bereichert. Hier steht die rezeptionsästhetische Erforschung der zeitgenössischen Literatur vor neuen Möglichkeiten, auch in der Verknüpfung mit empirischen Verfahren. 122 Das besondere Gewicht der 'historischen Schule' in Deutschland ist gerne hauptverantwortlich gemacht worden für die schon erwähnte, charakteristisch deutsche Trennung zwischen (aktueller) Literaturkritik und (vorwiegend historisch orientierter) Literaturwissenschaft. 123 Manches ist hier in Bewegung gekommen, nicht nur durch die Phalanx der bestallten Literaturwissenschaftler, die auch Zeitungskritiken schreiben. 124 Die Berührungsängste sind geringer geworden. Aber die gelegentliche Personalunion von Literarhistoriker und Literaturkritiker löst das Problem noch nicht. In die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem kanonisierten Historischen muß, auch veranlaßt durch poststrukturalistische Provokationen, entschiedenere Wertungsfreudigkeit einkehren. 125 Und die Erforschung der zeitgenössischen Literatur sollte einige Anstrengungen des Begriffs aufbringen, um Ansätze zu einer Historik ihrer Gegenstände zu formulieren.

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Nationalausgabe. Bd. 20, S. 42SM35. Hierzu, mit historischer Typenbildung, vor allem Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt a. M. 1982. Die 'harte' empirische Literaturwissenschaft (Norbert Groeben, Siegfried J. Schmidt u.a.) steht allerdings durchweg der historisch-hermeneutischen höchst reserviert gegenüber; und vice versa. Lediglich exemplarisch genannt seien hier die Beobachtungen des im deutschsprachigen Bereich aufgewachsenen, seit langem in den USA lehrenden Joseph Strelka: Methodologie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1978. Vgl. etwa die Tagungsbilanzen: Literaturkritik - Medienkritik. Hrsg. v. Jörg Drews. Heidelberg 1977; Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft (wie Anm. 73). Wie hoch der Standard der theoretischen Orientierung inzwischen anzusetzen ist (freilich auch: wie extrem pluralistisch), zeigt der Artikel v. Renate von Heydebrand: Wertung, literarische, in: Reallexikon. Hrsg. v. Kohlschmidt u. Mohr (wie Anm. 8), Bd. 2 IV (1984), S. 828-871.

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Methodenreflexion VI Mein Versuch, auf die Titelfrage unter ausgewählten Aspekten eine etwas differenziertere Antwort zu geben, bewegte sich notwendigerweise wiederholt zwischen den Polen einer 'quaestio infinita und einer 'quaestio finita. Daß die Frage in den letzten Jahren dringlicher geworden ist und alles andere als eine akademische' Angelegenheit darstellt, hoffe ich einleuchtend gemacht zu haben. Die stark gewordenen, im einzelnen recht unterschiedlichen poststrukturalistischen Strömungen stellen die wohl wichtigste Herausforderung dar. Sie zu ignorieren oder mit bloßem Ressentiment zu belegen, ist ebenso unangemessen wie nervöse Reaktion. Die Rückbesinnung auf antihistoristische und antipositivistische Bewegungen, von Gundolf über den New Criticism bis zur 'werkimmanenten Interpretation', mobilisiert selbst schon Wissenschaftsgeschichte, um der möglichen Diagnose eine Tiefendimension zu geben. Dabei erweist sich, daß eine allzu selbstgewiß historisch sich verstehende Literaturwissenschaft gerade diejenigen Defizite mitbefördert, in die Irrationalismus, Autoritarismus und Geschichtsferne mit Vorliebe hineinstoßen. Wessen Blick vorzugsweise durch Unternehmungen wie historisch-kritische Edition, Kommentar oder Literaturgeschichtsschreibung bestimmt wird, mag jede Infragestellung des geschichtswissenschaftlichen Status als überflüssig, schädlich oder zumindest indezent ansehen. Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen 126 gehört notwendig auch zur Geschichte der historisch orientierten Wissenschaften. Bei unserer Fragestellung war es nur partiell um ein In-Beziehung-Setzen der Literaturwissenschaft zur Geschichtswissenschaft im engeren Sinne zu tun - etwa bei Historiographie oder bei Zeitgeschichte. Dabei traten mit der ästhetischen Individualität der literarischen Werke und mit der literaturkritischen Wertung von zeitgenössischer Literatur gerade Phänomene in den Vordergrund, die der Historie nicht ohne weiteres kommensurabel sind. Uber sie nachzudenken, ist eine desto dringlichere Aufgabe der Literaturwissenschaft selbst. So habe ich meinen Versuch vorzugsweise verstanden. In diesem Sinne ziehe ich in vier Thesen einige Hauptlinien noch einmal zusammen.

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Daß deren Wahrnehmung und Formulierung, als erwas Neues, gerade 'Errungenschaft' des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist, also der entstehenden Geschichtswissenschaften, hat eindrücklich Reinhart Koselleck gezeigt: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M . 1979, S. 322ff.

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1. Die Literaturwissenschaft ist in den geschichtlichen Wissenschaften jeweils so legitim und so fest verankert, wie in ihr das Bewußtsein von der konstitutiven Spannung zwischen dem historisch bedingenden Kollektiven und der unverwechselbar individuellen Eigenart des Ästhetischen lebendig bleibt. Dies wird exemplarisch vielleicht am deutlichsten erkennbar in der Historiographie. 2. Literaturwissenschaft unterscheidet sich, wie die Kunst- und die Musikwissenschaft, von den anderen historischen Wissenschaften dadurch, daß sie unverrückbar auf etwas Drittes bezogen bleibt, das sie auch historiographisch niemals selbst 'repräsentieren' kann: die Literatur und ihre Texte. Ihnen gegenüber hat Literaturwissenschaft ein rein funktionales Verhältnis. Dieses Bezogensein kann sie nur zum Schaden ihres wissenschaftlichen Status vernachlässigen. 3. Antihistoristische Tendenzen in der Literaturwissenschaft - wie sie sich durch unser Jahrhundert ziehen - können prinzipiell stets Indizien für zweierlei sein: fxir einen Rückgang des Geschichtsbewußtseins überhaupt (dann sind, unter anderen, die Geschichtswissenschaften insgesamt gefordert) oder für einen Verlust an literaturwissenschaftlicher Sensibilität gegenüber der künstlerischen, auch der spielerischen Dimension ihrer Gegenstände. 4. Eine Literaturwissenschaft, die für solche Dimensionen wach bleibt, kann es wagen, sich auf der Grundlage ihrer eigenen geschichtswissenschaftlichen Erfahrenheit sowohl der anspruchsvollen (leicht auch überfordernden) weltliterarischen Perspektive als auch der zeitgenössischen Literatur als Literaturwissenschaft zu öffnen. Insofern sie dies realisiert, ist mir um die Zukunft der Literaturwissenschaft als Geschichtswissenschaft nicht bange.

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Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion *

Pluralismus in der Literaturwissenschaft wie im Wissenschaftsbetrieb insgesamt, Pluralismus in der Kulturpolitik wie in der Literaturpflege: Wenige Prinzipien öffentlichen Handelns erfreuen sich heute einer so hohen und allgemeinen Zustimmung wie dieses. Was wäre auch eine vertretbare Alternative? Einem reglementierenden Unitarismus wird im Ernst kaum jemand das Wort reden wollen, heute weniger noch als zuvor: nachdem unter den mancherlei Debakeln des anderen deutschen Staatssystems auch das der parteigegängelten Literaturwissenschaft mit ihren Zentralinstituten und ausgeklügelten Steuerungsorganen als Debakel offenbar geworden ist. Pluralismus erscheint als einer der 'Pfeiler' westlicher Demokratie-Auffassung. Insofern meint er etwas Selbstverständliches. Aber auch das heute Selbstverständliche mußte erst errungen, durchgesetzt werden. Für die 50er Jahre wird pluralistisches Tolerieren des vielfältigen Anderen, gar als Programm vertreten, kaum als charakteristisch gelten können. Das unüberblickbar Viele und das Heterogene stellten sich noch nicht mit Schärfe als Problem. Die gesellschaftspolitischen und wissenschaftsmethodischen 'Umbrüche' der 60er und beginnenden 70er Jahre erst haben, gerade im Streit der neuen Dogmen untereinander, das Sichöffnen zur Vielfalt als demokratische Forderung hervorgetrieben. Was danach kam und noch unsere Gegenwart bestimmt, ist eine auch zweifelhafte Errungenschaft. Die Phase des theoretisch-methodischen „Aufbruchs" und der politischen „Unruhe", so resümiert Jörg Drews1 schon 1985, sei abgelöst worden „von einem so laxen wie unübersichtlichen Pluralismus der Methoden einerseits und einer politischen Grabesruhe andererseits". Auch das Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft praktiziert in jedem Jahrgang Pluralismus - dem einen vielleicht schon zu viel, dem anderen noch zu wenig. Es geht sowohl um die Gegenstände selbst, in ihrer Auswahl, als auch

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Erstpublikation in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34 (1990), S. 1 - 7 . Jörg Drews: Der erschütterte Sinn und der Tanz der Perspektiven. Zur Lage der Literaturwissenschaft, in: Merkur 439/440 (1985), S. 9 2 2 - 9 2 8 ; hier S. 922.

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Methodenreflexion um die Methoden ihrer Behandlung. Im vorliegenden Band findet man die Erstpublikation zweier Schiller-Billets ebenso wie Erörterungen zur „katholischen Mythologie" in Goethes Faust II, die Erinnerung an den Kunsthistoriker und Erzähler Carl Friedrich von Rumohr und an den vergessenen Karl Wilhelm Ferdinand von Funck, einen Mitarbeiter Schillers an den Hören, ebenso wie neue Beobachtungen zur Erzählerfigur in Stifters Nachsommer, die Präsentation des Briefwechsels zwischen Martin Heidegger und Elisabeth Blochmann ebenso wie Untersuchungen zur Einwirkung von Sherlock Holmes auf Bertolt Brecht. Solide Archivalisches steht neben der hochgespannten ideengeschichtlichen Interpretation, sorgfältige Quellenanalyse neben der persönlich gehaltenen Auseinandersetzung mit einem umstrittenen Autor unseres Jahrhunderts, Sozialund Institutionengeschichtliches neben der bis zur Antike zurückgespannten Motivgeschichte. Schon zuviel an Vielfalt? Herausgeber-Bequemlichkeit? Für jeden etwas? Dabei mag manches Aktuelle, Vielbeachtete oder auch Modische noch fehlen, etwa eine strikt semiologisch vorgehende Studie, oder auch eine diskursanalytische, oder auch ein neuestes Exempel dekonstruktivistischer Lektüre. Kein literaturwissenschaftliches Periodicum kann heute das gesamte Spektrum des von den Forschern tatsächlich Erarbeiteten auch nur näherungsweise repräsentieren (Zeiträume, Textsorten, Methoden, Ansätze'). Längst haben bestimmte 'Schulen, Richtungen, Teildisziplinen — von der Sozialgeschichte der Literatur über die Exilforschung bis zur empirischen Literaturwissenschaft — ihre eigenen Publikationsorgane geschaffen. Das ist im Prinzip nicht neu. Als im Jahre 1923 Paul Kluckhohn und Erich Rothacker die Deutsche Vierteljahrsschrifi für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte gründeten, war schon der Titel ein Programm. Mit „Geistesgeschichte" verknüpfte sich signalhaft Opposition gegen die immer noch mächtigen positivistischen und philologistischen Schulen in Deutschland, eine Opposition, die sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg besonders im Zeichen Nietzsches und des George-Kreises zu regen begonnen hatte. Die Klagen über die „Zerrissenheit" nicht nur - der Literaturwissenschaft ziehen sich durch die 20er Jahre, auch in anderen westlichen Ländern. Nicht zufälligerweise führt im Jahre 1915 der englische Politologe Harold Laski den Begriff „Pluralismus" erstmals als polemisches Schlagwort ein, gegen das normative Konzept einer staatlichen „Omnikompetenz". 2 Und seitdem ist der Begriff aus gesellschaftspolitischen Debatten nicht mehr verschwunden.

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Pluralismus. Hrsg. v. Franz Nuscheier u. Winfried Steffani. München 1972, S. 6 2 - 7 6 .

Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer

Diskussion

Was ursprünglich, bei Christian Wolff, philosophisch-ontologisch gefaßt war,3 hat sich weitgehend zum normativen Tendenzbegriff gewandelt. Was die Methodenstreite der beiden letzten Jahrzehnte in der Literaturwissenschaft und den faktischen Pluralismus der Gegenwart angeht, so kommt ein quantitatives Moment hinzu, das den Problemstand qualitativ verändert hat. Es geht zunächst um die vielbeschriebene rapide Vermehrung der Hochschulen, der Studentenzahlen, der Wissenschaftlerstellen in der Bundesrepublik wie in manchen anderen Ländern, in denen Literaturwissenschaft getrieben wird (Vereinigte Staaten und Frankreich vor allem). Aber nicht nur die interne Ausdifferenzierung und Spezialisierung schafft neue Grenzlinien, etwa durch die fatale Konzentration auf immer kleinere Zeiträume ('Vormärz', 'Jahrhundertwende'). Genau komplementär hierzu steht die 'pluralistische' Erweiterung des Literaturbegriffs um Zwecktexte, Unterhaltungsliteratur und Produkte elektronischer Medien (wie den Film). Schließlich hat die emphatisch geforderte interdisziplinäre Öffnung der Literaturwissenschaft eine Fülle von Nachbarwissenschaften neu in den Blick gerückt: von der Sozialgeschichte bis zur Linguistik, von der Philosophie bis zur Psychoanalyse. Heute besteht, bei aller Unterschiedlichkeit der Bewertung, wohl Einhelligkeit darüber, daß auch der Fleißigste und Disziplinierteste längst nicht mehr alles Wichtige aufzunehmen und zu verarbeiten vermag, das sein Fach 'betrifft'. Im Prinzip mag es dieses Problem gegeben haben, seit es Wissenschaft gibt. Doch das vergangene Jahrzehnt bescherte uns eine neuartige Erscheinungsweise des Pluralismus, die man in der Tat - mit der von Jürgen Habermas geprägten Formel - als „neue Unübersichtlichkeit" bezeichnen kann. Sie ist höchst mißbrauchbar. In ihr kann sich auch das Obskurantische tummeln. Es sind nicht nur 'mehrere' Schulen, Ansätze, Methoden, die öffentlich ihre Rechte anmelden. Es sind unübersehbar viele geworden. Sie lösen einander nicht mehr - mit Überschneidungen - ab, sondern fordern gleichzeitig ihr Recht. An der „totalen Paralyse", die Joachim Dyck der Germanistik in den 80er Jahren attestieren möchte,4 hat das Uferlose des Pluralismus erheblichen Anteil. In der Bestandsaufnahme unter dem Titel Wozu noch Germanistik? Wissenschaft — Beruf — Kulturelle Praxis' ist bereits das „noch" bezeichnend. Es geht um Akzeptanz, Relevanz, Legitimation. Jugendkulturarbeit, Erwachsenenbildung, öffentliche Kommunikation fesseln im Zeichen der Germanisten-Arbeitslosigkeit und des Technologie-Booms 3

4 5

Annahme „mehrerer Welten", gegen logischen und psychologischen Monismus; vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 7. Basel 1990, Sp. 988f. DIE ZEIT, 14. Juni 1985. Hrsg. v. Jürgen Förster, Eva Neuland u. Gerhard Rupp. Stuttgart 1989.

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Methodenreflexion

die Aufmerksamkeit. Bleibt nicht die Literatur auf der Strecke? Der Augsburger Germanistentag 1991 steht unter dem Gesamtthema „Kultureller Wandel und die Germanistik in der Bundesrepublik". Das März-Heft 1990 der Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes ist einer neuen Richtung gewidmet, die auch für die Literatur einschlägig ist und sich seit Jahren in Publikationen, Tagungen und Instituten etabliert: „interkulturelle Germanistik". Es ist deutlich, daß das Problem des literaturwissenschaftlichen Pluralismus längst in einem weltweiten Kontext steht. Die Konjunktur der 'interkulturellen Germanistik' ist dafür nur die jüngste und nachdrücklichste Bestätigung. Universaler Pluralismus und nationale oder auch ethnische, ja geschlechtliche Identitätsbildung finden dabei oft zu einem eigentümlich widersprüchlichen Verhältnis. Der neue „Multikulturalismus" besonders an amerikanischen Universitäten erzeugt, wie es Hans Ulrich Gumbrecht formuliert hat, 6 einen „paradoxen Doppelimperativ der Anerkennung und der Neutralisierung von Unterschieden". Und weiter: „Was als Manifestation von Pluralität inszeniert wird und zunächst unfreiwillig wie Uniform aussehen mag, ist vielleicht eine neue Form kultureller Vielfalt." Expansion des Pluralismus und kein Ende? Es fragt sich, ob lediglich Resignation oder auch Ignorierung des Nichtbewältigbaren als angemessene Reaktion übrig bleibt. Denn einem restriktiven Dirigismus wird kein Vernünftiger frönen wollen. Positionen, die im Pluralismus nur ein revisionistisches „Schlagwort gegen die Einheit und Geschlossenheit des Marxismus-Leninismus" sehen wollten, 7 sind gründlich kompromittiert. Eine 1990 erschienene Einführung in neuere Literaturtheorien „will und kann verbindliche Antworten nicht geben, weil die Zeit für die Synthesenbildungen und Hegemonieansprüche in den Geistes· und Gesellschaftswissenschaften abgelaufen ist".8 Bei der prekären Situation, vor die das Erscheinungsbild des literaturwissenschaftlichen Pluralismus gegenwärtig führt, empfiehlt es sich, drei Hauptschwierigkeiten zu unterscheiden. Erstens: Die 'Unübersichtlichkeit' nach innen, d. h. die Unmöglichkeit, selbst dem Spezialforscher auf manchen Gebieten einen genauen Durchblick zu verschaffen, stellt den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit selbst in Frage. Das Fundament des argumentativen Rechenschaftgebens über den Erkenntnisstand

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F.A.Z., 21. März 1990. Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Georg Klaus u. Manfred Buhr. Bd. 3. Reinbek b. Hamburg 1972, S. 854. Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hrsg. v. Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990, S. 10.

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Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion ist gefährdet. Zweitens: Auch nach außen, zum interessierten Laien hin, wird das, was in der Literaturwissenschaft erarbeitet wird, immer weniger vermittelbar. Nicht nur aufgeblasener Jargon und überzogene Terminologie schieben sich davor, sondern es entsteht auch der Eindruck bloßer pluralistischer Beliebigkeit. Drittens (und hier kann eine Diskussion vielleicht am ehesten ansetzen): Zwischen den einzelnen Richtungen und Schulen läßt sich immer häufiger hochmütiges Verweigern von Kommunikation beobachten. Das Nichtkönnen gibt sich als ein Nichtwollen. Es ist verlockend, sich mit Beschreibung und Diagnose zu begnügen. Stellt nicht der faktische Pluralismus in der Literaturwissenschaft — und in vielen anderen Fächern - den legitimen Ausdruck der Marktstruktur unserer Gesellschaften dar? Die nationalen und internationalen Germanistenkongresse, darunter der Tokyoter Welt-Kongreß 1990 mit nicht weniger als 600 Beiträgen, bieten die schlagendsten Beispiele. Der gerne als 'Sklavenmarkt' (slave market) titulierte jährliche Kongreß der Modern Language Association of America präsentiert den 'Handel' mit Methoden, Schulen, Personen und Personalstellen in ungeschminkter Deutlichkeit. Warum nicht Konkurrenz, warum nicht Wettbewerb? Es ist auffällig, wie häufig neuerdings bei der Erörterung von Methodenfragen solche Vorstellungen bemüht werden. So spricht der Dekonstruktivist Jonathan Culler ausdrücklich vom „Wetteifer" der einzelnen Richtungen (strukturalistische, phänomenologische, feministische, psychoanalytische) bei der „Hervorhebung der Rolle des Lesers und des Lesens",9 und das Plenum III des Augsburger Germanistentages 1991 trägt die Überschrift „Methodenkonkurrenz in der germanistischen Praxis". Was ist das für eine Konkurrenz? Eine mit Chancengleichheit für alle Beteiligten? Ein reiner Wettstreit der Ideen? Oder doch ein Pluralismus, bei dem einiges mehr, einiges weniger und einiges gar nicht gefördert wird - auch von der öffentlichen Hand? Wissenschaftsdarwinistische Vorstellungen, oft unterfüttert mit Wissenschaftstheorien von Popper und Albert, sind beliebt: Das Beste setzt sich schon durch. Also können wir uns bei diesem demokratischen Marktpluralismus beruhigen? Die postmoderne Unübersichtlichkeit hat auch andere theoretische Fassungen erfahren. Von Berkeley aus hat Paul Feyerabend mit richtiger Witterung für die Konjunktur höchst resonanzreich „against method" argumentiert: „Der einzige Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes (Mach, was du willst)." Und: „Theorienvielfalt ist für die Wissenschaft fruchtDekonstruktion. Reinbek b. Hamburg 1988, S. 14.

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Methodenreflexion

bar, Einförmigkeit dagegen lähmt ihre kritische Kraft". 10 Und Odo Marquard hat mit ironischer Dialektik seit Jahren die Positiva, ja die Notwendigkeit der Vielfalt verteidigt: „Bekömmlich ist Polymythie, schädlich ist Monomythie". 11 Die erkenntnistheoretische Position faßt er immer wieder in den Satz: „I like fallacy." Und verteidigend: „die Skepsis ist nicht die Apotheose der Ratlosigkeit, sondern nur der Abschied vom Prinzipiellen."12 Diese skeptizistisch-liberale Haltung hat beste wissenschaftsgeschichtliche Tradition. Aber manche der neuen Richtungen, vor allem feministische und poststrukturalistische, sind in Machtfronten hineingeraten - und haben sie noch zementiert die alle pluralistische Lockerheit a la Feyerabend oder Marquard vergeblich suchen lassen. Es gibt durchaus die lustvollen „dekonstruktivistischen Auslegungs-Vergnügungen", wie sie Eberhard Lämmert nennt. 13 Aber es gibt insbesondere in den verschiedenen poststrukturalistischen Schulen auch höchst rigide, ja intolerante Abgrenzungen. Das artikuliert sich in Einzelstudien, die auf jede Selbstexplikation verzichten und den Leser - wie es freilich frühere Schulen auch schon praktiziert haben - umstandslos in ihre Perspektive hineinzwingen. Hier wird ein Stück Inhumanität praktiziert. Doch auch prinzipiell wird solche antipluralistische Verweigerung begründet. Am Beispiel des Nicht-Dialogs zwischen Frangois Lyotard und Jürgen Habermas hat Manfred Frank gezeigt,14 wie der „Kollaps des Meinungsaustauschs" schließlich zu einer prekären Verherrlichung des „Machtkampfs" führt - oder bereits dessen Ausdruck ist. In manchen Arbeiten der letzten Jahre, die sich ostentativ von historisch-hermeneutischen Verfahren abwenden, begegnet immer häufiger der herrische Gestus des reinen 'Setzens', der auf Intersubjektivität und Nachvollziehbarkeit verzichtet. Dem liegt nicht mehr die „Kritik der repressiven Toleranz" zugrunde, mit der einst Herbert Marcuse (1966) den bürgerlichen Liberalismus attackierte. Es handelt sich um eine neue gesellschaftliche wie wissenschaftsspezifische Situation, in die der Pluralismus geraten ist. Über die Gründe des intolerant-abweisenden Reagierens lohnt es sich nachzudenken. Ist es das bloße, oft beziehungslose Nebeneinander der 'Methoden', wie es der Band Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists 'Das Erdbeben in Chili15 de10

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Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Frankfurt a. M. 1977, S. 35 und 53. Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1984, S. 98. A. a. O., S. 17. Die sog. Geisteswissenschaften: Innenansichten. Hrsg. v. Wolfgang Prinz u. Peter Weingart. Frankfurt a. M. 1990, S. 180. Die Grenzen der Verständigung. Frankfurt a. M. 1988. Hrsg. v. David E. Wellbery. München 1985.

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Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion monstriert hat? Oder ist es das nervöse Überfordertsein durch die erdrückende Fülle des auf fast allen Gebieten der Literaturwissenschaft Jahr für Jahr Erscheinenden? Oder ist es - wie man auch vermutet hat - das schiere Imponiergehabe im verschärften Kampf um Stellen und Marktanteile? Es ist zu wenig, darauf zu vertrauen, daß der gegenwärtige, höchst unbefriedigende Zustand des literaturwissenschaftlichen Pluralismus lediglich eine Zwischenphase bleibt. Ist die Hoffnung auf den vernünftigen Diskurs der Vernünftigen angesichts des neuen Autoritarismus und Irrationalismus obsolet? Ohne eine 'Mehrheit' von Perspektiven, Interessen, Meinungen hat Wissenschaft, auch Literaturwissenschaft nie existieren und zu neuen Erkenntnissen finden können. Aber welchen Pluralismus benötigen wir heute? Erzwingt nicht die Lage einen neuen literaturwissenschaftlichen Werturteilsstreit? Das bloße „anything goes" kann keine verantwortbare Devise sein. Welche Wertsetzungen erfordert die Literatur als Literatur? Und welche Bedingungen wissenschaftlicher Kommunikation über Literatur müßte ein neuer Pluralismus erfüllen? Wie verträgt sich der für viele so attraktive neue Dogmatismus mit der Wissenschaftsfreiheit, die dem Staat als selbstverständlich abverlangt wird? W i e soll ein neuer, nicht bloß 'laxer' Pluralismus aussehen?

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Nachwort

„Der Herausgeber dieser Studien befindet sich ihrem Verfasser gegenüber in der heiklen Lage, mit ihm identisch zu sein." Da sich das Kernproblem einer kurzen Rechenschaft am Schluß dieses Bandes kaum prägnanter formulieren läßt, als dies vor zwei Jahrzehnten Richard Alewyn gelang, stehe sein Satz hier voran. Der Vorschlag, eine Auswahl der zum Teil nicht mehr leicht greifbaren Studien zu Geschichte und Theorie der Literaturwissenschaft zusammenzustellen, begegnete mir in den letzten Jahren wiederholt. Aber ist ein solches Unternehmen legitim? Ist nicht manches zeitgebunden? Daß sich die Entstehungszeiten der Beiträge über fast ein Vierteljahrhundert erstrecken, stellt ein Problem und eine Perspektive zugleich dar. Wessen Promotion in das Jahr 1963 fiel und wessen Habilitation in das Jahr 1969, der gehört einer akademischen Generation an, die willentlich oder unwillentlich in eine neue, fundamentale Auseinandersetzung - nicht nur — über die Germanistik hineinwuchs. Er wurde konfrontiert mit Fragen, die ein Jahrzehnt zuvor noch kaum gestellt worden waren, jedenfalls nicht zum wissenschaftlichen, zum universitären Alltag gehörten. Die Eckdaten, vor allem seit dem Münchner Germanistentag von 1966, sind vielerörtert. Hinzu kam in meinem Fall, daß speziell die intensive Beschäftigung mit Phänomenen der Rhetorik im 17. Jahrhundert einerseits komparatistische, andererseits und vor allem sozial- und institutionengeschichtliche Fragestellungen heraustrieb. Und weiter: Mit dem Barockbegriff rückte zugleich ein bedeutendes Exempel gerade der deutschen Geisteswissenschaften in den Vordergrund. Die weitergeführte Beschäftigung mit den antiken Literaturen und auch mit der Klassischen Philologie erschloß zu den primär neuphilologischen Auseinandersetzungen ein paar zusätzliche Anregungen, die bis in den Streit um die 'Methoden hineinreichten. Zweifellos haben in den beiden Jahrzehnten, die dem Aufbruch folgten, die 'Schulen der Sozialgeschichte von Literatur und der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte spezifische Attraktivität gewonnen. Sie haben Kategorien und Fragestellungen zur Geltung gebracht, die auch einer künftigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Literatur nicht mehr verloren gehen sollten. In durchaus wichtigen Teilen sind sie auch neueren Ansätzen gegenüber

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Nachwort wie Diskursanalyse oder Intertextualitätsforschung oder 'kulturelles Gedächtnis' anschlußfähig geblieben. Noch von einer anderen Seite her hat der gelegentliche Blick in die Traditionen der Antike das wissenschaftsgeschichtliche Interesse mit geprägt: bei der Beschäftigung mit dem, was man begründetermaßen zur 'Vorgeschichte' der Literaturwissenschaft im Früh- und Hochhumanismus rechnen könnte. Die intensivierte, inzwischen zu beträchtlichen Resultaten gelangte germanistikgeschichtliche Forschung seit den 80er Jahren, die die Impulse von 1 9 6 6 und 1 9 6 8 / 6 9 endlich auch in historische Arbeit lenkte, richtete ihr Augenmerk vorzugsweise zunächst auf die Ursprünge im 19. Jahrhundert. Sie erschloß gleichlaufend auch eine Reihe von Teilkomplexen bis in die Gegenwart hinein. Seltener jedoch ging der Blick zurück ins 18. Jahrhundert (dort etwa mit Interesse für die Teilbereiche von 'Philologie' und für 'historia litteraria') oder gar ins ausgehende 15-, dann ins 16. Jahrhundert. Die wissenschaftsgeschichtliche Forschung sollte in den kommenden Jahren auch dem humanistisch-philologischen (darin auch etwa naturwissenschaftlichen) Fundament der neueren Philologien mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen als bisher. Die auf ausgewählte „Pioniere" gerichteten Studien des vorliegenden Bandes verfolgen dabei sozusagen nur einzelne Fährten, die auf größere, zum Teil durchaus schon (zum Beispiel in Universitätsgeschichten) bearbeitete institutionelle Komplexe verweisen. Eine besonders reizvolle disziplinare Tendenz, der noch genauer nachzugehen wäre, ist dabei - nicht erst seit Heyne und W o l f - die frühe Ausweitung über das 'Philologische' hinaus. Es ist das fast selbstverständliche Sichbewegen im Kontext der „monumenta", der historischen, antiquarischen usw. Es läßt sich hier, zum Teil schon programmatisch gefaßt, etwas beobachten, das im 19. Jahrhundert dann als 'Altertumswissenschaft' mit Stolz vertreten wird: durchaus ein frühes Modell dessen, was seit einigen Jahren wieder unter dem integrativen Konzept von 'Kulturwissenschaft' diskutiert wird. Durch die Beschäftigung mit Institutionengeschichte und mit traditionalen Bezügen moderner zu antiker Literatur (etwa Lessings im Verhältnis zu Seneca) sind wiederholt spezifische Interessen für methodologische Probleme der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte bestimmt worden. Ein verglichen mit der Textrezeption vernachlässigtes Feld sind die Klassiker-Bilder. Sie sind einerseits kultur- und bildungsgeschichtlich verankert, besonders in Schule und Universität (und Theater), gehören andererseits auf durchaus noch nicht hinreichend analysierte Weise zu den Determinanten auch wieder der Textrezeption. Neben der Leitgattung Literaturgeschichte sind es vor allem die Klassiker-Monographien, die im Prozeß der literaturwissenschaftlichen Paradigmenbildung und auch der Kanonisierungsprozesse die stärkste institutionelle Konstanz aufwei-

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Nachwort sen. Literaturgeschichtsschreibung erweist sich noch im Zeitpunkt ihrer theoretisch begründbaren 'Unmöglichkeit' als unentbehrlich — neben Interpretationssammlung, Anthologie oder Fernsehdokumentation. In der auswählenden Analyse von Literaturgeschichten gerade in Wendezeiten, etwa vor und nach 1945, verknüpft sich auf herausfordernde Weise eigene Schreiberfahrung mit dem Interesse für Wissenschaftsepochen unseres Jahrhunderts. Die immer stärkere Ausdifferenzierung der Methoden seit den 60er Jahren oder auch der neueren antimethodischen' Ansätze, zugleich mit der vielbeklagten quantitativen Expansion der literaturwissenschaftlichen Produkte hat zu Unternehmen der Bestandsaufnahme geführt, an denen ich mich wiederholt mit Zwischenresümees beteiligt habe (auch auf dem Hintergrund eigener Erfahrungen in der Wissenschaftsorganisation). Das Augenmerk richtete sich dabei auf Teilfelder wie die Erforschung des 18. Jahrhunderts oder auf die Lage der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft oder auf das, was etwa in der Rezeptionsforschung Neuphilologien und Klassische Philologie voneinander profitieren können. Hier ist ein Problem angesprochen, das mich in den letzten Jahren zunehmend beschäftigt hat und das sich als Leitmotiv durch eine Reihe von Beiträgen zieht: Wie läßt es sich erreichen, daß angesichts der zum Teil dogmatischer und intoleranter werdenden Auseinandersetzungen zwischen 'Methoden' und 'Schulen die Frage nicht verlorengeht, was die einzelnen Ansätze je spezifisch zu 'leisten' vermögen - was sie aufschließen können und wo ihre Grenzen liegen. Die stete Ausdifferenzierung der Methoden, die immer kürzere Dauer auch der Wissenschaftsepochen stellt spätestens seit dem Ersten Weltkrieg mit wachsender Schärfe vor das Phänomen der Pluralität, auf das Formen von Pluralismus antworten können. Zu einem verantworteten Pluralismus, der die 'Leistungen' einzelner Ansätze überprüft - und eventuell ihre partielle Anschließbarkeit —, sollte fur eine künftige Literaturwissenschaft die beständige kritische Rückbindung an die Literatur gehören, nicht nur an die gedruckte und gelesene. Die Debatten um die Kulturwissenschaft sind notwendig, nicht nur als versetzte Legitimationsdebatten, sondern gerade weil der Status der Geisteswissenschaften, und darin der Literaturwissenschaft, neu bestimmt werden m u ß angesichts der kulturellen Veränderungen unserer Gegenwart. Das Insistieren auf der Literaturspezifik der Literaturwissenschaft mag dabei getrost als 'humanistisch' kontingent eingestuft werden. Nicht von ungefähr schlägt das vorliegende Buch den geschichtlichen Bogen zu den „humanistischen Pionieren" zurück. Peter Luder mußte, als er 1462 in Leipzig seine humanistische Programmrede ankündigte, um seinen Zettel am Schwarzen Brett bangen. Ein verantworteter Pluralismus war nicht

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Nachwort einmal als Konzept in den Köpfen gegenwärtig. Gleichwohl ist zu fragen — und einige Beiträge dieses Bandes sollen auch dazu anregen —, wie weit wir es schließlich gebracht haben. Doch nur zu einem 'laxen' Pluralismus? Dem Verleger Robert Harsch-Niemeyer und seinen Mitarbeiterinnen Andrea Welzel und Birgitta Zeller danke ich für die freundliche Obhut, in die sie dieses Buch genommen haben. Michael Kruhöffer und Kai Wessel haben mit kenntnisreicher Sorgfalt an der Revision der Beiträge mitgewirkt, Editha Ernst und Bettina v. Linde-Suden haben sich um die schriftliche Form gekümmert. Die Texte sind grundsätzlich nicht aktualisiert worden, sie spiegeln den Stand ihrer Entstehungszeit wieder. Nur an ganz wenigen Stellen ist ein „Zusatz 1997" eingefügt. Doch wurde die Handhabung der Zitate und die Auszeichnung der Werktitel vereinheitlicht, ebenso - in den Grenzen des Möglichen - die Anlage der Anmerkungsapparate (die in den Originalpublikationen zum Teil ganz unterschiedlichen redaktionellen Gebräuchen unterworfen waren). Nachträgliche Querverweise zwischen einzelnen Beiträgen wurden nicht eingefugt, zumal der Band insgesamt in seiner Zusammensetzung überschaubar bleibt. Dies zumindest hofft der Herausgeber, der mit dem Verfasser auf heikle Weise identisch ist.

Ausgewählte weitere Publikationen zum Gegenstandsbereich des Bandes Rhetorik und literarische Barockforschung, in: W. B.: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 3 - 8 5 Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973 Einleitung in: Der literarische Barockbegriff. Hrsg. v. W. B. Darmstadt 1975, S. 1 - 1 3 Einleitung in: Lessing. Epoche — Werk — Wirkung. Von W. B., Gunter Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer. München 5 1987 ('1975), S. 17-36 Rezeptions- und Wirkungsgeschichte (am Beispiel von Lessings Emilia Galotti), in: Literaturwissenschaftliche Methoden im Gespräch. Hrsg. v. der Fachgruppe Germanistik. O. O. (Basel) o. J. (1979), S. 3 7 - 5 5 Literaturforschung in soziokultureller und landeskundlicher Sicht, in: Deutsch als Fremdsprachenphilologie. Tagungsbeiträge eines nordischen Germanistentreffens. Hrsg. v. DAAD. Bonn-Bad Godesberg 1982, S. 169-173 Literaturtheologie oder Literaturmythologie?, in: Theologie und Literatur. Zum Stand des Dialogs. Hrsg. v. Walter Jens, Hans Küng, Karl-Joseph Kuschel. München 1986, S. 146-162 Uber das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland, in: Epochenschwelle und Epochenbe410

Nachwort wußtsein. Hrsg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Poetik und Hermeneutik. XII). München 1987, S. 3 - 5 1 Zum Problem der Epochenillusion, a.a.O., S. 5 1 7 - 5 2 9 Einleitung in: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München 1989. Hrsg. v. W. B. (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 15), S. I X XXIV Rezension von Uvo Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman (München 2 1 9 8 9 ) , in: Poetica 22 (1990), S. 5 1 6 - 5 2 4 Einleitung (zusammen mit Christoph König) in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hrsg. v. Wilfried Barner u. Christoph König. Frankfurt a.M. 1996, S. 9 - 1 6 Deutsche Literaturgeschichte schreiben - nach der Wende, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch '96 für Estland, Lettland und Litauen. Hrsg. v. DAAD. Tartu 1996, S. 7 - 1 8

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