Diagrammatik: Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld [1. Aufl.] 9783839412978

Die Erforschung der epistemologischen Potenziale diagrammatischer Zeichen stellt eine Schlüsselaufgabe der gegenwärtigen

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Diagrammatik: Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld [1. Aufl.]
 9783839412978

Table of contents :
Inhalt
Danksagung
1. Einleitung
2. Grundzüge der Diagrammatik
2.1 Diagrammatik und Diagramme
2.2 Ansätze, Theorien und Methoden
2.3 Charles S. Peirce’ Konzept der Diagrammatik
Übergang 1: Diagrammatik, Kultur und Welterzeugung
3. Gegenstandsfelder der Diagrammatik
3.1 Sprachszenen: Linguistik und Literaturtheorie
3.2 Imaginäre Handlungsräume: (Rollen-)Spiel und Kulturtheorie
3.3 Virtualisierung: Medientheorie und der Computer als Medium
3.4 Denkbilder und mentale Relationen: Diagrammatik und Film
3.5 Anschauliches Denken: Bildwissenschaft und Kunstgeschichte
4. Grenzgänger der Diagrammatik
Übergang 2: Das Medium des ›inneren, geistigen‹ Auges
4.1 Susanne K. Langer, Edmund Husserl und Hans Blumenberg
4.2 Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Michel Foucault
4.3 Jean Piaget, Ulric Neisser und Niklas Luhmann
Schluss
Nachweise der Bildzitate
Literatur

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Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik

Matthias Bauer (Prof. Dr.) lehrt Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität Flensburg. Christoph Ernst (Dr. phil.) ist Medienwissenschaftler an der Universität Erlangen-Nürnberg.

Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld

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© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: robertmichael / photocase.com Korrektorat: Miriam Vincke, Bünde und Linda Krenz-Dewe, Bremen Satz: Alexander Masch, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1297-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Danksagung | 7 1. Einleitung | 9 2. Grundzüge der Diagrammatik | 17 2.1 Diagrammatik und Diagramme | 17 2.2 Ansätze, Theorien und Methoden | 26 2.3 Charles S. Peirce’ Konzept der Diagrammatik | 40 Übergang 1: Diagrammatik, Kultur und Welterzeugung | 82

3. Gegenstandsfelder der Diagrammatik | 109 3.1 Sprachszenen: Linguistik und Literaturtheorie | 109 3.2 Imaginäre Handlungsräume: (Rollen-)Spiel und Kulturtheorie | 138 3.3 Virtualisierung: Medientheorie und der Computer als Medium | 163 3.4 Denkbilder und mentale Relationen: Diagrammatik und Film | 194 3.5 Anschauliches Denken: Bildwissenschaft und Kunstgeschichte | 220 4. Grenzgänger der Diagrammatik | 263 Übergang 2: Das Medium des ›inneren, geistigen‹ Auges | 263 4.1 Susanne K. Langer, Edmund Husserl und Hans Blumenberg | 283 4.2 Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Michel Foucault | 306 4.3 Jean Piaget, Ulric Neisser und Niklas Luhmann | 319

Schluss | 337 Nachweise der Bildzitate | 343 Literatur | 347

Danksagung

Eine forschungsorientierte Einführung in die Diagrammatik zu schreiben, ist ein Experiment. Experimente brauchen ein Umfeld, das sie zulässt und begleitet. Die Ideen in dieser Form vorzulegen wäre unmöglich gewesen, wenn nicht – über verschiedene Universitäten, Institutionen und Lebensbereiche hinweg – eine ganze Reihe von Menschen uns ein solches Umfeld gewährt hätten. Ein herzlicher Dank von Christoph Ernst geht an Kay Kirchmann für die umsichtige Betreuung schwieriger Projekte; Heike Paul, Antje Kley, Michael Lackner und Clemens Kauff mann für unverbrüchliche Unterstützung, nicht nur im Ringen mit Institutionen und Verwaltung; Ilja Srubar, Joachim Renn und Peter Isenböck für eine Vielzahl direkter und indirekter Inspirationen; Annette Thüngen für weit mehr als nur Hilfe bei alltäglichen Problemen, und allen anderen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Ein besonderer Dank gilt zudem den Studierenden im Hauptseminar »Diagramme in Film und Fernsehen« im Wintersemester 2009/2010, die durch ihr Interesse und Nachfragen viel geholfen haben, manchen Punkt klarer zu machen. Ein ebenso herzlicher Dank von Matthias Bauer geht an die Bereitschaft von Susanne Marschall und Fabienne Liptay, sich immer wieder auf umständliche Darlegungen zur Diagrammatik einzulassen – nicht zuletzt im »Interdisziplinären Forschungszentrum Neurowissenschaft« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dessen Sprecher Christian Behl stets für die Sektion Bildwissenschaft eingetreten ist und so die konzeptionelle Arbeit an den Schlüsselbegriffen der Kultur- und Kognitionswissenschaft ermöglicht hat. Nicht weniger hilfreich waren die Arbeitsbedingungen, die mir Thomas Koebner am Mainzer Seminar für Filmwissenschaft und Stephan Füssel beim Auf bau des Medienschwerpunkts an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz verschaff t haben. Schließlich gilt es all den Studierenden in Mainz, Basel und Flensburg zu danken, denen ich mit Peirce, Goodman und Ricœur zugesetzt habe.

1. Einleitung

Ein Begriff macht die Runde: Diagrammatik. Mit zunehmender Häufigkeit taucht dieser Begriff in kultur- und medienwissenschaftlichen Erörterungen auf und zieht Kreise: von der Bildwissenschaft bis zur Informatik, von der Mathematik bis zur Gehirnforschung. Was aber ist ›Diagrammatik‹? Die Gattungslehre der Schaubilder? Das Regelwerk sprachlicher Beschreibungen? Oder jene Kunst des Schlussfolgerns, die durch Gedankenexperimente beflügelt wird? Der Grundbegriff scheint klar zu sein. Diagramme sind visuelle Darstellungen, die Beziehungen respektive Verhältnisse aufzeigen: die Stimmverteilung bei einer Wahl, die Zimmeraufteilung in einem Gebäude oder die Entwicklung von Aktienkursen in einem bestimmten Zeitraum. Dabei sind die Relationen und Proportionen, die Strukturen und Funktionen, die Diagramme vor Augen führen, prinzipiell veränderbar – auf dem Papier, am Computer oder kurzerhand im Kopf. Mittels Diagrammen können verschiedene Konfigurationen eines Sachverhaltes oder einer Ereignisfolge durchgespielt und miteinander verglichen werden, um zu praktischen oder theoretischen Schlussfolgerungen zu gelangen: welche Parteien eine Mehrheitskoalition bilden können, wie sich ein Gebäude einrichten oder umbauen lässt und welche Risiken eine Börsenspekulation birgt. Wie diese Beispiele belegen, kann sich die Diagrammatik keineswegs in einer Gattungslehre der Schaubilder erschöpfen. Sie muss dem Umstand Rechnung tragen, dass Menschen fähig sind, aus visuellen Darstellungen, die Beziehungen oder Verhältnisse zeigen, weiterführende Überlegungen abzuleiten und gestalterisch tätig zu werden. Kann man diese Fähigkeit mit der Beherrschung einer Grammatik vergleichen? Unter ›Grammatik‹ versteht man heute das Regelwerk einer Sprache, das ein Mensch beherrschen muss, um sich anderen Menschen mitzuteilen. Ursprünglich war mit diesem Begriff – in dem das griechische Wort für ›Buchstabe‹, ›gramma‹, steckt – aber auch die Fähigkeit gemeint, einen Text sinnvoll auslegen zu können, also die Fähigkeit, die Zeichen der Schrift zu deuten: »Ein Grammatiker (grammatikos) war derjenige, der sich durch die Beherrschung dieser Kunst in seinem Wissen und Den-

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D IAGRAMMATIK ken vom Analphabeten unterschied.«1 Folgerichtig wurde mit ›Grammatik‹ vom 2. bis 12. Jahrhundert in etwa das bezeichnet, was man heute ›Philologie‹ oder ›Sprach- und Literaturwissenschaft‹ nennt – Disziplinen, deren Schlüsselqualifikation die Fähigkeit zur Textkritik darstellt.2 Insofern Texte Zeichenkonfigurationen sind, kann man sagen, dass die Grammatik ein Teil der Semiotik, der allgemeinen Lehre von den Zeichen, den Zeichenhandlungen und ihrer Bedeutung ist. Nun gibt es sicherlich keine Schulgrammatik der Bildauslegung, die man wie das Regelwerk der Sprache lehren und lernen könnte. Gleichwohl werden auch Bilder häufig als Zeichen behandelt (was nicht heißt, dass sie sich in der Zeichenfunktion erschöpfen). Und manchmal ist es sogar möglich, für bestimmte Genres und Kunstepochen Regeln der Bildkomposition und -interpretation auszumachen. Umso nahe liegender ist die Annahme, dass mit ›Diagrammatik‹ zunächst einmal das Regelwerk der Schaubilder, und, davon abgeleitet, die Fähigkeit zum anschaulichen Denken gemeint ist, die gewisse Entwurfshandlungen einschließt. Diese Annahme kann sich auf die Bedeutung der griechischen Silbe ›dia-‹ berufen. Man kann sie mit ›auseinander‹, ›durch‹ und ›zwischen‹ übersetzen; zuweilen entspricht ihre Bedeutung auch dem Präfix ›zer-‹, wie beim deutschen Verb ›zerlegen‹. Diagramme zerlegen einen Zusammenhang in seine Teile und setzen dem Betrachter damit die Struktur dieses Zusammenhangs auseinander; indem diese Art der Zerlegung zwischen den Zusammenhang und den Betrachter tritt, werden ihm im Wechselspiel von Ansicht und Einsicht, von Überblick und Durchblick Erkenntnisse vermittelt. Am auffälligsten ist diese Form der Erkenntnisvermittlung bei den sogenannten Explosionszeichnungen, bei denen die Oberfläche eines Gegenstandes aufgesprengt wird, damit man sehen kann, wie er inwendig zusammengesetzt ist. So richtig es ist, dass sich die Diagrammatik mit den Formen und den explikativen Funktionen solcher Schaubilder beschäftigt, so ergänzungsbedürftig erscheint diese Bestimmung, wenn man bedenkt, dass mit dem Aufzeigen einer Struktur oder Konfiguration zumindest implizit auch das Anzeigen von Rekonfigurationsmöglichkeiten erfolgt. Diagramme operieren an der Schnittstelle von Wahrnehmung und Einbildungskraft, von Sinnlichkeit und Verstand. Ergänzungsbedürftig ist die Annahme, dass die Diagrammatik lediglich eine Gattungslehre der Schaubilder sei, aber auch, weil es andere Formen der Veranschaulichung gibt, die ähnliche Funktionen erfüllen, obwohl es keine Bilder, sondern Wort-Konfigurationen, also Texte sind. In einem weiteren Sinne gehören zum Gegenstandsbereich der Diagrammatik daher einerseits die mentalen Operationen, die sich vor dem geistigen Auge abspielen, und andererseits prinzipiell alle Medien, die diesen Operationen einen Anschauungs- und Spielraum zur Verfügung stellen. 1 | Köller: Philosophie der Grammatik, S. 18. 2 | Vgl. Köller: Philosophie der Grammatik, S. 19ff.

1. E INLEITUNG Abbildung 1: Leonardo da Vinci, Explosionszeichnung eines automatischen Radschlosses

Ein Phänomen, das in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit verdient, ist die sogenannte Schriftbildlichkeit.3 In diesem Format sind Figurengedichte wie das folgende verfasst, das von Eugen Gomringer, einem Vertreter der konkreten poesie, stammt:4 schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen

Ist dieses Gedicht ein Text oder ein Bild? Besteht es aus Zeichen, die ihrem Gegenstand ähnlich oder unähnlich sind? Wer solche Fragen stellt, kommt dem erweiterten Begriff der Diagrammatik auf die Spur. Zunächst kann man sagen, dass die dreizehnfache Wiederholung ein und desselben Wortes witzlos wäre, wenn diese Wiederholung nicht mit einer räumlichen Anordnung einhergehen würde, durch die inmitten des Gedichtes demonstrativ eine auslegungsrelevante Lücke entsteht. Mindestens ebenso wichtig wie die Schriftzeichen, die das Wort ›schweigen‹ bilden – ein Wort, das keinerlei Ähnlichkeit mit seiner Bedeutung hat – ist also die zweidimensionale Konfiguration der Wortwiederholung, die aufzeigt, was das Wort meint: den Verzicht auf die Artikulation sprachlicher Laute, der Verzicht auf Rede und Mitsprache, auf die Teilnahme an Diskurs und Dialog. Das Gedicht benennt seinen Gegenstand nicht nur, es führt die3 | Vgl. dazu die Arbeiten von Sybille Krämer. 4 | Gomringer: konkrete poesie, S. 58.

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D IAGRAMMATIK sen Gegenstand vor Augen anhand einer Zeichenkonfiguration, bei der es sowohl auf die bedruckte wie auf die unbedruckte Fläche ankommt. Kurzum: Das Figurengedicht ist ein Diagramm aus Zeichen und Leerzeichen. Sagt man nun, das Gedicht veranschaulicht, wovon es handelt, so bedeutet dies erstens: Das Gedicht ist ein kunstvoll arrangiertes Schaubild, das seinem Gegenstand insofern ähnelt, als es die Vorstellung, die mit dem Begriff des Schweigens verbunden ist, in Szene setzt. Das ist zweitens umso verblüffender als das Gedicht keineswegs aus bildlichen Zeichen besteht. Anders als bei lautmalerischen Ausdrücken wie ›Kuckuck‹ oder ›Ticktack‹ kann man nicht behaupten, dass es in Gomringers Gedicht irgendeine Ähnlichkeit zwischen Laut- und Vorstellungsbild gibt. Allerdings kann man drittens behaupten, dass die Anschaulichkeit dieses Gedichts im Schriftbild angelegt ist. In dieser Hinsicht gibt es eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Textgestalt und Bedeutungsgehalt, zwischen Schrift- und Vorstellungsbild. Diese Ähnlichkeit ist nicht naturgegeben, sondern kunstvoll hergestellt und entzieht sich viertens der EntwederOder-Logik von Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff: Das Gedicht ist ein ästhetisches Gebilde, das eine intellektuelle Wirkung entfaltet, indem es eine Erkenntnis vermittelt, die nicht auf abstrakten Überlegungen, sondern auf der Beobachtung von konkreten Beziehungen beruht. Beziehungen zu beobachten heißt, konjekturale Erfassungsakte zu vollziehen, die Wahrnehmung und Wissen verdichten. Man muss nicht nur die Lücke im Text wahrnehmen, man muss auch einen Rückschluss von dieser Beobachtung auf das lexikalische Wissen vornehmen, auf das die Buchstabenfolge ›schweigen‹ rekurriert. Dieser Zusammenhang existiert nicht im Text, sondern, genau genommen, nur im Kopf von Autor und Leser. Daher kann man aus dem Beispiel fünftens ableiten, dass ein diagrammatisch verfasster Text wie Gomringers Gedicht ein merkwürdiges Wechselspiel zwischen dem Darstellungsvermögen der Schrift(bildlichkeit) und dem Vorstellungsvermögen der Leser auslöst. Es scheint, als ob das Gedicht dem Leser leibhaftig bzw. materialiter vor Augen führt, was ihm auch idealiter vor dem geistigen Auge steht: die Bedeutung des Begriffs ›schweigen‹.5 Offenbar ist es Gomringer durch einen geschickt inszenierten Medienwechsel gelungen, eine Abwesenheit zu vergegenwärtigen. Der Dichter hat das Kunststück fertiggebracht, eine Kognition – Schweigen ist die Nicht-Artikulation hörbarer, sprachlicher Laute – sichtbar zu machen, also in eine visuelle Perzeption zu übersetzen. Zu beachten ist dabei, dass Kognition und Perzeption keineswegs trennscharf voneinander abzuheben 5 | Wenn ›schweigen‹ als »Begriff« bezeichnet wird, so deshalb, weil es für den aktuellen Erklärungszusammenhang nicht darauf ankommt, ob mit der Buchstabenfolge die Wortart der Verben oder der Substantive gemeint ist. Entscheidend ist allein die intellektuelle, begriffliche Vorstellung, die mit dem sprachlichen Zeichen verbunden wird.

1. E INLEITUNG sind: Im sinnlichen Auffassen liegt bereits ein Erfassen; im Erfassen ein Anschauen. Hinzufügen muss man freilich, dass diese Erklärung nur für Leser gültig ist, die der deutschen Sprache mächtig sind. Einem Menschen, der nur in englischer oder französischer Sprache verfasste Gedichte verstehen kann, wäre die Pointe der diagrammatischen Zeichen-Konfiguration nur zu vermitteln, indem man die Buchstabenfolge ›schweigen‹ durch die Buchstabenfolge ›silence‹ ersetzt. silence silence silence silence silence silence silence silence silence silence silence silence silence silence

Worte wie ›silence‹ oder ›schweigen‹ sind symbolische Zeichen, bei denen die Zuordnung von Gestalt und Bedeutungsgehalt ausschließlich durch Konvention geregelt ist. Das gilt für das Lautbild ebenso wie für die Verschriftlichung der Klanggestalt. Das Verhältnis von Laut und Vorstellung ist im Fall der symbolischen Zeichen durch Arbitrarität bestimmt. Anders verhält es sich bei den ikonischen Zeichen, bei denen dieses Verhältnis auf Similarität (Ähnlichkeit) und bei den indexikalischen Zeichen, bei denen es auf Kausalität (Folgerichtigkeit) beruht. Als Folge von Feuer verweist der Anblick von Rauch auf seine Ursache. Rauch ist ein Anzeichen (Index) für Feuer. Als Abbild eines menschlichen Gesichts ähnelt das Passfoto seinem Gegenstand. Das Passfoto ist ein Ikon; es ähnelt dem Gesicht. Manche Zeichen sind zugleich ikonisch und indexikalisch, beispielsweise der Abdruck eines nackten Fußes am Strand. Der Abdruck verweist auf eine bestimmte Ursache und erlaubt den Rückschluss, dass eine Person barfuß über den Strand gelaufen ist; der Umriss von Ferse, Sohle und Zehen ist ein Abbild des linken oder rechten Fußes dieser Person. Sowohl die indexikalische als auch die ikonische Lesart der Fußspur stellen eine Konjektur, eine Verdichtung von Wahrnehmung und Wissen, Beobachtung und Ableitung dar. Grundsätzlich gilt, dass es praktisch keine Bezugnahme (Referenz) ohne Schlussfolgerung (Inferenz) geben kann: Der Mensch schließt von dem, was er sieht auf das, was er kennt, und legt, was er weiß, in das hinein, was ihm vor Augen steht. Um zum Beispiel die Bedeutung eines onomatopoetischen Ausdrucks wie ›Ticktack‹ zu erfassen, muss man vom Laut auf eine Bedeutung schließen, also auf das Wissen rekurrieren, dass eine Uhr, wenn auch leise, entsprechende Laute von sich gibt. Von dieser Eigenart aller Texte und Bilder, Zeichen und Zeichenkonfigurationen handelt die Semiotik. Ihr Name stammt von dem epikureischen Philosophen Philodemus, der unter semiosis jede Schlussfolgerung aus Zeichen verstand. Dieselbe Auffassung liegt auch der modernen, pragmatisch orientierten Semiotik des amerikanischen Philosophen Charles

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D IAGRAMMATIK Sanders Peirce zugrunde.6 Im Kern dieser Semiotik steht die Diagrammatik. Sie folgt der Leitidee, dass jede vernünftige Schlussfolgerung auf ein Beobachten von Beziehungen zurückgeführt werden und insofern diagrammatisch verfahren kann. Bei einem Syllogismus etwa gilt es, das Verhältnis zu beobachten, in dem die Prämissen zueinander stehen. Denn aus diesem Verhältnis wird die Konklusion abgeleitet. Anders gesagt, die Konklusion ›Sokrates ist sterblich‹ ergibt sich aus der logischen Beziehung zwischen ›Sokrates ist ein Mensch‹ und ›Alle Menschen sind sterblich‹. Von diesem weitreichenden Gedanken, dass jede vernünftige Schlussfolgerung auf ein Beobachten von Beziehungen zurückgeführt werden kann, wird in diesem Buch noch oft die Rede sein. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass es bei der Semiotik im Allgemeinen wie bei der Diagrammatik im Besonderen stets um Vermittlungsakte geht, die man als ästhetikologisch bezeichnen muss, weil sie etwas mit der Anschaulichkeit des Denkens zu tun haben. Nicht nur, dass Zeichen in die Sinne fallen müssen, um bestimmte Vorstellungen und Gedanken auszulösen. Vielmehr erfordert jede Form der Selbst- oder Fremdvermittlung von Bedeutung eine Mitwirkung der Einbildungskraft, die durch ikonisch strukturierte Medien bzw. Medienformate erleichtert und gesteigert werden kann. Gomringers Gedicht ist nur ein Beispiel dafür, wie Medien oder Medienformate Informationen vermitteln, indem sie mit der sinnlichen Wahrnehmung auch das Denken in eine bestimmte Form, nämlich in die Vollzugsform der Anschaulichkeit, bringen. Generell kann man gerade an Sprachkunstwerken erkennen, dass die Konfiguration der Zeichen genauso auslegungsrelevant ist wie die lexikalische Bedeutung der einzelnen Zeichen. Offensichtlich wird dies im Figurengedicht, das den Anschauungs- und Spielraum der Schriftbildlichkeit zugleich nutzt, vor Augen führt und ins Bewusstsein hebt. Das Bewusstsein aber ist der Ort, an dem sich der Wirklichkeitssinn und der Möglichkeitssinn des Menschen, seine Wahrnehmung und seine Einbildungskraft, sein Wissen und sein Vorstellungsvermögen verschränken. Und deshalb liegt der kreative Clou der Diagrammatik darin, dass man anhand einer Konfiguration, die bestimmte Verhältnisse oder Zusammenhänge anzeigt, verschiedene Rekonfigurationen durchspielen kann. Anders gesagt: Die Rekonfigurationen sind in der Konfiguration bereits virtuell angelegt. Insofern die Konfiguration ein layout von Beziehungen darstellt, ist sie nicht nur im rein technischen Sinne ein display, sondern auch im performativen Sinne: ein dis-play, ein Angebot zur spielerischen Rekonfiguration der Verhältnisse. So genügt eine kleine Veränderung an der Textgestalt von Gomringers Figurengedicht, um eine neue Bedeutungsgestalt zu erzeugen:

6 | Vgl. Deledalle: »Semiotik als Philosophie«, S. 35, Peirce: Collected Papers, 5.484.

1. E INLEITUNG schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schreien schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen schweigen

Es ist nicht nötig, den Effekt dieser Manipulation (respektive Interpolation) zu kommentieren, um die Virtualisierung verständlich zu machen, die sich mit der Diagrammatik verbindet. Die Diagrammatik verknüpft das Wechselspiel von Kon- und Rekonfiguration mit dem Konzept des Gedankenexperiments, dem Konzept der heuristischen Fiktion, dem Konzept der Modellierung und Simulation von Sachverhalten oder Ereignisfolgen und mit anderen Verfahren, die zwischen Theorie und Praxis vermitteln und einen Regelkreis von anschaulichem Denken und Probehandeln, von Entwurfshandlungen und Erkenntnisprozessen, von Ermittlungs- und Vermittlungsakten begründen. Dank dieses Regelkreises ist die Diagrammatik weit mehr als nur die Lehre von der Gattung der Schaubilder. Tatsächlich beschäftigt sie sich mit allen »Weisen der Welterzeugung« (Nelson Goodman), die auf das Wechselspiel von Medienformat und mentaler Operation, von Perzeption und Kognition, von Kommunikation und Konstruktion setzen. Es ist klar, dass niemand all diese Weisen der Welterzeugung überblicken und erschöpfend darstellen kann. Der Versuch, die Umrisse der Diagrammatik zu skizzieren und ihre interdisziplinäre Genese nachzuzeichnen, der auf den folgenden Seiten unternommen wird, ist daher notgedrungen elliptisch oder – um aus der Not eine Tugend zu machen – als Aufforderung zum fächerübergreifenden Dialog zu verstehen. Da es in den einzelnen Kapiteln jeweils nur darum gehen kann, die Relevanz der Diagrammatik für die Kultur- und Medienwissenschaften an- und aufzureißen, ist das layout dieser Einführung darauf angelegt, dass diese Kapitel von anderen fort- oder umgeschrieben, also rekonfiguriert werden. Ansonsten würden sich die Verfasser in einen performativen Widerspruch zu ihrem Gegenstand verwickeln. Auch dieses Buch kann nur ein display im doppelten Sinn des Wortes sein. Im ersten Abschnitt werden die Grundzüge der Diagrammatik erläutert. Im Mittelpunkt steht der Entwurf der Diagrammatik als einer für alle kultur- und medienwissenschaftlichen Zusammenhänge bedeutsamen Form des anschaulichen Denkens und Schlussfolgerns. Dieser Entwurf stammt im Wesentlichen von Charles Sanders Peirce und kann anhand seiner Auseinandersetzung mit Immanuel Kants Konzept einer schematisch verfahrenden Einbildungskraft rekonstruiert werden. Im zweiten Abschnitt werden die kultur- und medienwissenschaftlichen Gegenstandsfelder der Diagrammatik erörtert: Sprach- und Literaturszenen, Spiele und Computer-Prozesse, Filme, Bilder und Kunstwerke. Die Erörterung dieser Phänomene soll die Relevanz der Diagrammatik an konkreten Beispielen verdeutlichen und zeigen, wie ihre Grundzüge in verschiedenen Forschungsbereichen wiederentdeckt werden können.

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D IAGRAMMATIK Im dritten und letzten Abschnitt werden Grenzgänger der Diagrammatik vorgestellt. Der Blick richtet sich hier auf ausgewählte Querbezüge zwischen dem diagrammatischen Konzept des anschaulichen Denkens und verwandten Theorieentwürfen. Zur Sprache kommen Edmund Husserl und Susanne K. Langer, Hans Blumenberg und Niklas Luhmann, Jacques Derrida, Michel Foucault und Gilles Deleuze. Eingegangen wird außerdem auf die Parallelen zwischen Diagrammatik und Schema-Theorie. Im Übergang vom ersten zum zweiten sowie vom zweiten zum dritten Abschnitt werden Überlegungen referiert, die das Konzept der Diagrammatik erweitern und vertiefen. Zum einen geht es unter Verweis auf Nelson Goodman und Paul Ricœur um das Verhältnis von Diagrammatik, Kultur und Welterzeugung; zum anderen um das ›Medium‹ des ›inneren‹ oder ›geistigen‹ Auges. Neben den bereits genannten Autorinnen und Autoren wird an mehreren Stellen des Buches auf Sprach- oder Medienphilosophen wie Ludwig Wittgenstein oder Vilém Flusser verwiesen, die zwar keinen expliziten Beitrag zur Diagrammatik geleistet haben, deren Schriften jedoch voller Implikationen für dieses Konzept stecken. Ihre Gedanken sind immer dann von Bedeutung, wenn es um das Wechselspiel von Entwurfshandlungen und Schlussfolgerungen geht, das Zeichen und Medien in Szene setzen. Zu diesen Medien zählen nach Peirce auch und gerade die Vorstellungen, die zwischen einem Zeichen und seiner Bedeutung, zwischen Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff vermitteln. Für Peirce sind Vorstellungen einerseits Medien des anschaulichen Denkens, andererseits aber auch Gegenstände dieses Denkens, da prinzipiell jede Vorstellung zum auslösenden Zeichen weiterer Vorstellungsprozesse und Deutungsakte werden kann. Als Folge dieser Sicht der Dinge unterläuft die Diagrammatik sowohl die Entweder-Oder-Logik von Innen- und Außenwelt als auch die Dichotomie von materiellen und mentalen Bildern oder Zeichen. Ebenso quer steht die Diagrammatik zu den Begriffs- und Theoriebildungen in den Kultur- und Medienwissenschaften, die ausschließlich an den Traditionen und Konventionen einer und nur einer Disziplin orientiert sind. Aus diesem Grund kommt es bei der vorliegenden Einführung, die sich an fortgeschrittene Studierende sowie an mit dem Thema befasste Forscherinnen und Forscher richtet, sowohl auf die Profilierung der Diagrammatik als auch darauf an, ihre Probleme und Lösungsansätze in die Diskurse der Fachwissenschaften zu übersetzen. Wie jede Übersetzung ist dies ein nicht immer leichtes Unterfangen. Das Versprechen, das mit ihr verbunden ist, liegt in der interessanten Perspektivierung bekannter Fragestellungen und in der Hoffnung, neue Fragestellungen zu entdecken. Insofern handelt es sich bei diesem Buch um eine Einführung, die nicht nur etwas Bestehendes ordnen, sondern auch Neues erschließen möchte – eine, wie man sehen wird, für die Diagrammatik durchaus typische Operation.

2. Grundzüge der Diagrammatik

2.1 D IAGR AMMATIK UND D IAGR AMME Die Diagrammatik ist ein Entwurfs- und Erkenntnisverfahren, das eine besondere Beziehung zu Diagrammen unterhält. Im engeren Sinne geht das Konzept der Diagrammatik auf den amerikanischen Pragmatisten und Semiotiker Charles S. Peirce zurück. Nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Editionslage seiner Schriften ist Peirce’ Konzept der Diagrammatik lange Zeit ein Spezialthema geblieben. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Allein die Frage, ob sich der Begriff Diagrammatik auf eine Theorie der Diagramme bezieht oder ob sich dahinter eine Theorie verbirgt, die sich vom Begriff Diagramm ableitet, ansonsten aber unabhängig von dieser Bild- bzw. Zeichenklasse Bedeutung beansprucht, ist in den kultur- und medienwissenschaftlichen Applikationen der Diagrammatik unklar geblieben.1 Tatsächlich berührt diese Frage eine Grundsatzunterscheidung in der Beschäftigung mit dem Thema. Es ist möglich, das Projekt einer Diagrammatik entweder (a) von der Betrachtung konkreter Diagramme her zu entwickeln. Oder man kann die Betrachtung konkreter Diagramme (b) aus den theoretischen Prämissen einer allgemeinen Diagrammatik ableiten. Im ersten Fall wird die Diagrammatik bottom up aus der Analyse ihrer Manifestationen in Diagrammen gewonnen. Im zweiten Fall beschreibt die Diagrammatik top down ein allgemeines Entwurfs- und Erkenntnisverfahren, das in Diagrammen (und noch anderen Zeichenkonfigurationen) zur Anwendung kommt. Der Unterschied zwischen beiden Zugangsweisen liegt in dem, was 1 | Vgl. Shin: The Iconic Logic, S. 20. Die Autorin vermerkt skeptisch: »One consensus reached among Peircean scholars is that Peirce’s meaning of ›diagrams‹ is much broader than our naive use of ›diagram‹. But substantially informative answers to the question: ›What does Peirce mean by ›diagram‹?‹ have not been forthcoming in the history and philosophy of logic in spite of their importance.« Vgl. auch Shin: The logical Status.

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D IAGRAMMATIK man mit einer Diagrammatik erforschen möchte: Während die Diagrammatik im ersten Fall eine Theorie von Eigenschaften darstellt, die sich dem gängigen Verständnis nach an materiell realisierte diagrammatische Strukturen knüpfen, steht im zweiten Fall ein erkenntnistheoretischer Prozess im Vordergrund, welcher sich vorrangig mit mental realisierten diagrammatischen Schlussfolgerungen verbindet. Bildet in der ersten Variante die Geschichte und Ästhetik der Bild- und Zeichenklasse ›Diagramm‹ den Gegenstand des Forschungsinteresses, geht es in der zweiten Perspektive um das Wissen, das ein als ›Diagrammatik‹ bezeichnetes Entwurfs- und Erkenntnisverfahren hervorbringt. Peirce hat mit seiner Theorie des »diagrammatic reasoning« eine Theorie vorgelegt, die der zweiten Perspektive auf Diagramme verpflichtet ist. Er beschreibt das Konzept des »diagrammatic reasoning« als eine allgemeine Form des Schlussfolgerns. Jenseits einer Gattungstheorie des Diagramms versteht Peirce unter ›Diagrammatik‹ somit ein Entwurfsund Erkenntnisverfahren, das mit der Ausbildung einer bestimmten Form der Ähnlichkeit eines Zeichens (Ikonizität) in Verbindung steht, sich prinzipiell aber nicht nur in Diagrammen manifestiert. Im Folgenden wird ›Diagrammatik‹ im Einklang mit Peirce als ein Entwurfs- und Erkenntnisverfahren erörtert, bei dem es vor allem auf die Operationen des anschaulichen Denkens ankommt. Damit wird die erste Perspektive, in deren Fokus die Zeichengattung des Diagramms und die ihr entsprechenden Medienformate stehen, allerdings nicht verworfen. Der Unterschied zwischen den beiden Betrachtungsweisen liegt schlicht und ergreifend darin, dass die Anwendungsfälle der erweiterten Perspektive nicht nur Diagramme einschließen. Die Erforschung der Zeichenklasse des Diagramms ist gleichwohl einer der wichtigsten Anwendungsbereiche der Diagrammatik. Als Theorie eines Entwurfs- und Erkenntnisverfahrens geht die Diagrammatik jedoch über gattungstheoretische Fragen zum Diagramm hinaus.

I.

Mentale und materielle Diagramme

Der Gattung des Diagramms eng verwandte Bild- und Zeichenklassen wie Karten, Schemata, Skizzen und Pläne sind in der Perspektive der Diagrammatik genauso relevante Gegenstände wie es CAD-Bilder, Baupläne, sprachliche Figuren, literarische Texte, Spiele, Zeichnungen, Gemälde, Photographien und bewegte Bilder, ja sogar Musikstücke sein können. Ein solcherart erweitertes Gegenstandsfeld ist allerdings nur noch in begrenztem Maße mit den gängigen Klärungs- und Definitionsversuchen des ›Diagramm‹-Begriffs vereinbar.2 In jüngster Zeit wurde das Diagramm zum Beispiel ausführlicher 2 | Aspekte des Designs und der didaktischen Aufarbeitung von Informationen werden z.B. in der Literatur zu Infographiken verhandelt, vgl. Fraefel: Infografik, Liebig: Die Infografik.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK durch den Linguisten Christian Stetter diskutiert. Weniger mit Blick auf Peirce als vielmehr im Rückgriff auf die Symboltheorie Nelson Goodmans schreibt Stetter: »Was also macht ein Diagramm zum Diagramm? Es ist [...] die exhibitive Darstellung eines Sachverhalts mit graphischen Mitteln.«3 Und: »Diagramme sind [...] graphische Abkürzungsverfahren für komplexe Schematisierungen. Sie bewahren ein Minimum an ästhetischer Anschauung, das wir benötigen, um zu verstehen, wovon die Rede ist, vor allen Dingen, um uns von abstrakten Sachverhalten in buchstäblichem Sinn ein Bild machen zu können.«4 Bestimmungsversuche des Diagramms nehmen auch die Philosophen Frederik Stjernfelt und Sybille Krämer sowie der Gestaltungswissenschaftler Heiner Wilharm vor. Nah am Verständnis von Charles S. Peirce bewegt sich Frederik Stjernfelt, wenn er Diagramme als eine Subklasse von ikonischen Zeichen begreift, und zwar »as that special sort of icons which represent the internal structure of those objects in terms of interrelated parts, facilitating reasoning possibilities.«5 Sybille Krämer konzentriert sich auf die pragmatische Dimension der Diagrammatik, wenn sie feststellt: »Der operative Kern der Diagrammatik besteht in der Performanz einer in ihr angelegten Modellbildung. Eine diagrammatische Visualisierung vollzieht und zeigt, was sie beschreibt und steht auf diese Weise dem Beschriebenen zugleich Modell.«6 Heiner Wilharm hingegen stützt seine Bestimmung auf die Fähigkeit zur Komplexitätsreduktion, die Diagrammen häufig zugeschrieben wird. Wilharm geht davon aus, dass das Diagramm eine graphische Darstellung ist, die sich auf einen entweder in anderer semiotischer Form schon formulierten oder aber begrifflich fassbaren Sachverhalt bezieht und in einem praktischen Anwendungszusammenhang steht, der sich aus der Komplexitätsreduktion ergibt, die in einem Diagramm vorgenommen wird.7 Auffällig ist, dass alle vier Bestimmungsversuche – im Einklang mit Peirce – die Charakteristika der Ikonizität, also der Ähnlichkeit des Diagramms zu seinem Objekt, als Ausgangsbasis verwenden. Die Ikonizität des Diagramms zeichnet sich demnach durch den Aufbau eines rudimentären, auf die Darstellung der Grundrelationen des Objekts beschränkten Darstellungssystems aus. Dieses Darstellungssystem hat eine ausstellende Funktion, steht in einem pragmatischen Anwendungszusammenhang und kann als ein Schema genereller Beziehungsmerkmale angesehen werden. Diagramme sind demzufolge eine Zeichenkategorie, die als regelgeleitetes Muster für weitere einzelne Anwendungsfälle und für die Produktion weiterer Zeichen oder Schlussfolgerungen verwendet werden. 3 | Stetter: »Bild, Diagramm, Schrift«, S. 122. 4 | Stetter: »Bild, Diagramm, Schrift«, S. 125. 5 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. ix. 6 | Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 88. 7 | Wilharm: »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte«, S. 123f.

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D IAGRAMMATIK Keine Frage, alle diese Definitionen treffen den Sachverhalt, rekurrieren aber auf die fragwürdige Vorentscheidung, das Diagramm als Zeichengefüge oder Medienformat zu behandeln, welches dem Menschen als Teil der Außenwelt ›leibhaftig‹ vor Augen steht. In den Hintergrund rückt dabei, dass auch das Denken – insbesondere das anschauliche Denken, das sich vor dem inneren, geistigen Auge abspielt – diagrammatisch verfährt. Für die Diskussion der Diagrammatik als Entwurfs- und Erkenntnispraxis ist es jedoch unerlässlich, die Frage nach der ontologischen Existenzform des Diagramms einzublenden. Möglich ist dies auf Grundlage der kognitionswissenschaftlichen Forschung zu Diagrammen. In diesen Ansätzen geht man von zwei komplementären Erscheinungsformen aus: Einerseits gibt es »[e]xternal diagrammatic representations: These are constructed by the agent in a medium in the external world [paper, etc.], but are meant as representations by the agent«; andererseits gibt es »[i]nternal diagrams or images: These comprise the [controversial] internal representations that are posited to have some pictorial properties.«8 Die Unterscheidung zwischen extern-materiellen Realisierungen von Diagrammen im Sinne der kulturellen Manifestation des Diagramms als Zeichenklasse mit einer kulturellen Geschichte sowie spezifischen Verwendungskontexten einerseits und intern-mentalen Realisierungen von Diagrammen im Sinne von Gedankenbildern mit Funktionen in schlussfolgernden Prozessen andererseits ist kein Spezifikum der kognitionswissenschaftlichen Forschung. Vielmehr findet sie sich auch im Bereich der Kultur- und Medienwissenschaften. Wichtig ist, dass sie beide Seiten in den Blick nimmt – also auch und gerade den Aspekt des »diagrammatic reasoning«. Problematisch wirkt allerdings, dass dadurch ein Subjekt/Objekt-Dualismus aufgerufen zu sein scheint.9 Diese Problematik lässt sich jedoch entschärfen, wenn man die Unterscheidung als Bedingung der Möglichkeit eines Zusammenspiels zwischen extern-materiellen Zeichen (oder Zeichen-Konfigurationen) und intern-mentalen Operationen begreift – das heißt als Voraussetzung eines Prozesses, der bestimmte kognitive, insbesondere heuristische Funktionen erfüllt. In den Blick geraten so gerade die Momente der Semiose, die für ihre Auffassung als Entwurfs- und Erkenntnisverfahren entscheidend sind: die sogenannten Interpretanten. Gemeint sind damit die Vorstellungen, die zwischen einem Zeichen und seiner Wahrnehmung einerseits und dem Bezugsobjekt oder Referenten des Zeichens andererseits vermitteln – dergestalt, dass der Zeichenträger – von Peirce Repräsentamen genannt – mit Bedeutung aufgeladen wird. Während sich die Kognitions8 | Shin/Lemon: »Diagrams«, S. 2, vgl. auch Chandrasekaran (Hg.): Diagrammatic reasoning, S. xvii. 9 | Die Unterscheidung zwischen extern-materiellen und intern-mentalen Diagrammen lebt, mitsamt ihrer metaphorischen Implikationen, in der Unterscheidung zwischen Landkarten und mentalen Karten (»mental maps«) weiter.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK wissenschaft vornehmlich für die neuronalen Korrelate der Interpretanten interessiert und dabei von der Konstruktivität des kognitiven Apparates respektive von der Plastizität des Gehirns ausgeht, kommt es für die Kultur- und Medienwissenschaften vornehmlich auf die Frage an, wie die Bildung entsprechender Vorstellungen durch Artefakte, Diskurse und Medien angeregt und beeinflusst wird und welche Rolle die Kommunikation solcher Vorstellungen bei der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit spielt. Diese kognitive Dimension der Kultur ist in den Kultur- und Medienwissenschaften in den letzten Jahrzehnten unter dem Eindruck subjektkritischer Philosophien arg ins Hintertreffen geraten. Pointiert formuliert: Ausgehend von der systemtheoretisch etablierten Differenz zwischen Bewusstsein und Kommunikation hat man sich fast ausschließlich auf die Kommunikation konzentriert. Die kultur- und medienwissenschaftliche Relevanz der Diagrammatik liegt aber nicht zuletzt darin, dass sie das Augenmerk wieder verstärkt auf die mentalen Operationen und damit auf die Schnittstelle von kognitivem Apparat, Medienperformanz und kulturellem Kontext lenkt. In der Metaphorik vieler kultur- und medienwissenschaftlicher Theoriebildungen deutete sich in den letzten Jahren bereits ein gewisses Interesse für diese Schnittstelle an. Metaphern wie »mentale Karte«, »Mapping«, »Schema« oder »Schematisierung« umkreisen kognitive Leistungen, wie sie für die Diagrammatisierung von Vorstellungen durch entsprechende Zeichen-Konfigurationen charakteristisch sind. Im Mittelpunkt stehen dabei – wie in der Semiotik von Peirce – pragmatische Überlegungen. Zeichen, Medien und Diskurse werden als Handlungsoptionen, also als Mittel der – nicht nur intellektuellen oder imaginären – Weltauslegung und -gestaltung begriffen.

II. Diagrammatik und Wissenstheorie In der Forschungsliteratur zum Thema Diagrammatik wird aus der Unterscheidung zwischen intern-mentalen und extern-materiellen Diagrammen häufig eine disziplinäre Aufgabenteilung abgeleitet. Sofern sich die Diagrammatik mit diagrammatischen Operationen beschäftigt (und diese zu den intern-mental realisierten Größen gezählt werden), gilt sie als ein Geschäft der Philosophie des Geistes oder der Kognitionswissenschaften. Die Kultur- und Medienwissenschaften befassen sich dagegen mit der Geschichte und Ästhetik der diagrammatischen Strukturen im Sinne extern-materieller Diagramme. Während die empirisch-naturwissenschaftlichen Fächer also die epistemologischen Grundkompetenzen, die in den Gegenstandsbereich einer allgemeinen Diagrammatik fallen, untersuchen, wird den interpretativ verfahrenden kulturwissenschaftlichen Fächern die Aufgabe zugewiesen, die Anwendungsfälle einzelner, jeweils besonderer diagrammatischer Strukturen zu systematisieren und die Performanz der Diagrammatik zu entfalten.

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D IAGRAMMATIK Diese Aufgabenteilung ist nicht übermäßig hilfreich. Im Einklang mit der Grundintention von Peirce’ Semiotik ist zu berücksichtigen, dass innerhalb der Diagrammatik selbst der semiotische Übersetzungsprozess zwischen intern-mentalen Prozessen und extern-materiellen Strukturen (und vice versa) – mithin zwischen Bewusstseins- und Kulturleistungen – eines der zentralen Probleme und Erklärungsziele der Diagrammatik darstellt. Beispiele, wie die auf Computer Aided Design gestützte Konstruktion und Verhaltenssimulation eines Flugzeugs, demonstrieren, dass es in der Diagrammatik, verstanden als Entwurfs- und Erkenntnisverfahren, darum geht, aufzuzeigen, wie An- und Einsichten durch Medien vermittelt werden und inwiefern der menschliche Geist seine Umwelt aktiv modelliert und transformiert, um zu Schlussfolgerungen zu gelangen. Die Leistung diagrammatischer Operationen ist nicht auf die intern-mentale Seite, die Leistung von Schaubildern nicht auf die extern-materielle Seite beschränkt. Vielmehr bildet die Durchdringung von kognitiven Potenzialen (intern-mentalen Diagrammen) und kulturellen Formen (extern-materiellen Diagrammen) den Gegenstand der Diagrammatik. Die Diagrammatik ist ein Konzept, das die disziplinäre Trennung der Gegenstandsbereiche unterläuft. Interpretiert man die Diagrammatik strikt naturalistisch oder strikt kulturalistisch, verliert man ihre spezifische Leistung aus den Augen, die nicht zuletzt darin besteht, die Interdependenz beider Seiten beobachtbar zu machen. Das hat Konsequenzen für den Begriff des Wissens. Die spezifische Form des für die Diagrammatik typischen visuellen Wissens lässt sich nicht durch eine dualistische Konzeption von Wissen erfassen.10 Dualistisch wäre eine Position, die davon ausgeht, dass es auf der einen Seite den Bereich eines kognitiv repräsentierten Wissens gibt, und auf der anderen Seite seine Anwendungsfälle. Als eine Theorie der Auseinandersetzung des Geistes mit in Medien verkörperten Zeichen hebt die Diagrammatik jedoch auf eine Modalität des Wissens ab, die eine solche dualistische Auffassung unterläuft, weil es stets um die prozedurale Vermittlung von Kompetenzen geht, die sich performativ, also aus der Praxis der Konfiguration und Rekonfiguration ergeben. Im Fall der Diagrammatik ist daher mit Emergenzphänomenen zu rechnen, die nicht deklarativ zu regeln sind. Eine ›Grammatik‹ ist die Diagrammatik also insofern, als sie – dem Regelwerk der Sprache vergleichbar – unendlich viele Konfigurationen und Rekonfigurationen erlaubt. Nicht vergleichbar ist sie dem Regelwerk der Sprache hingegen, weil sie nicht auf ein bestimmtes Medienformat wie die Sprache oder die Schrift restringiert ist. Die Diagrammatik hat eine prozedurale Form von Wissen zum Gegenstand, welche nicht isoliert von kultureller und medialer Praxis gesehen werden kann, weil sie erst aus den Anwendungsfällen dieser Praxis 10 | Vgl. Schnettler/Pötzsch: »Visuelles Wissen«.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK hervorgeht.11 Eine diagrammatische ›Kompetenz‹, so könnte man diese Überlegung zuspitzen, ist keine von der Praxis abgelöst zu beschreibende Kompetenz. Sie manifestiert sich als eine performative Kompetenz.12 Die Diagrammatik ist keine logische Entfaltung von bereits vorformuliertem Wissen, sondern sie ist das Erzeugen von neuem Wissen im praktischen Umgang mit medial verkörperten Zeichen – sie ist ein Konzept der Transformation von Wissen. Zu den Besonderheiten der Diagrammatik gehört es daher, kein der Empirie vorgelagertes Regelwissen zu beschreiben, das zuerst in idealer Form und als Grundlage aller seiner Anwendungsfälle im Geist angelegt ist und dann in einem zweiten Schritt zur Anwendung kommt. Die Diagrammatik ist für die Kultur- und Medienwissenschaften vielmehr ein Konzept, das aufzeigt, wie Wissen in actu formuliert wird. Als eine Theorie, die ihr Augenmerk auf die Übersetzung zwischen kognitiven Potenzialen und kulturellen Formen legt, gehört die Diagrammatik im Konzert der kultur- und medienwissenschaftlichen Ansätze in den Kreis solcher Theorien, die, in Bezug auf wissenstheoretische Probleme, weder einem naturalistischen Reduktionismus noch einem kulturalistischen Relativismus, weder einem ausschließlich logisch-formalen noch einem ausschließlich ästhetisch-historischen Zugang das Wort reden.

III. Kultur- und medientheoretische Aspekte der Diagrammatik Aus Sicht der Kultur- und Medienwissenschaften ist es grundlagentheoretisch nicht nur möglich, sondern sinnvoll, die Diagrammatik als Teil einer ›Logik der Kulturforschung‹ zu verstehen, die über bestimmte Zeichenkonfigurationen, Medienformate und Diskursformationen prozessiert.13 Anwendungspragmatisch betrachtet bewährt sich die Diagrammatik in allen Fällen, in denen solche Figuren und Formen eingesetzt werden, um die Struktur und Funktion von Sachverhalten oder Ereignisfolgen rational, also anhand ihrer Grundzüge und Bezugsverhältnisse, zu veranschaulichen. Ein solcher Fall ist zum Beispiel die Konstruktion eines Passagierflugzeuges mittels Computer Aided Design (CAD) und Simulation. Die konkreten und abstrakten Bilder, die der Rechner vom Flugzeug erstellt, sind Modelle, an denen man bestimmte Situationen (etwa das Start- und Landeverhalten der Maschine) durchspielen, aber auch – jederzeit und kostengünstig – Veränderungen vornehmen kann, die dann wiederum getestet werden können. Denkbar wäre, dass die Simulation extremer 11 | Wissenstheoretisch ausgearbeitet findet sich dies grundlegend bei Renn: »Wissen und Explikation« sowie im Rahmen einer pragmatischen Grundlegung der Gesellschaftstheorie bei Renn: Übersetzungsverhältnisse, S. 235ff., S. 283ff. 12 | Vgl. dazu Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. 13 | Vgl. Wirth: »Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung«.

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D IAGRAMMATIK Wetterverhältnisse Risiken aufzeigt, die es erforderlich machen, die Konstruktion der Tragflächen grundlegend umzugestalten; denkbar wäre auch, dass auf diesem Wege die Auslastungsgrenzen des Flugzeugs optimiert werden. Geändert werden dabei immer die Parameter der Konstruktion, das heißt das relationale und proportionale Gefüge der Bauteile zueinander. Die Konfiguration wird rekonfiguriert. Einige Rekonfigurationen ergeben sich aus materialtechnischen, andere vielleicht aus ökonomischen und wieder andere womöglich aus ästhetischen Erwägungen. Da das Modell die Grundzüge und Eigenschaften des Flugzeugs aufweist und ausstellt, kann man anhand des Modells die Probe auf praktisch jeden Akt der Konstruktion machen. Die mentalen Operationen werden also nicht nur intersubjektiv sichtbar, sondern auch empirisch belastbar, da sie Rückschlüsse auf das reale Verhalten der Maschine zulassen, die nach dem Plan angefertigt wird, der am Computer entworfen und in seinen Konsequenzen vor Augen geführt wird. Die Schlussfolgerungen, die sich aus diesem Beispiel ableiten lassen, lauten daher: Diagrammatische Operationen sind auf der Ebene der Darstellung (a) sehr häufig mit dem inneren Aufbau und der abstrakten Funktionslogik von Gegenständen, Sachverhalten und Ereignisfolgen befasst. Diese Darstellungen erlauben auf der Ebene ihrer Verwendung (b) die praktische Veränderung der im Diagramm ausgestellten Relationen, so dass sie (c) zu Medien eines anschaulichen Denkens werden, in dem Fakten und heuristische Fiktionen, Daten und Hypothesen gegeneinander abgewogen werden können. Diese heuristische Funktion der Diagrammatik involviert drei einander wechselseitig ergänzende Prinzipien. Als erstes ist das Evidenzprinzip zu nennen: Eine diagrammatische Konfiguration – sei sie nun als Bleistiftzeichnung auf dem Papier, als Pixel-Konfiguration auf dem Bildschirm oder nur als Vorstellung im Kopf ›materialisiert‹ – illustriert, aus welchen Elementen und Relationen ein Gegenstand, ein Sachverhalt oder ein Ereigniszusammenhang besteht. Nahegelegt werden damit die Schlussfolgerungen, die der Konfiguration inhärent sind. Man sieht zum Beispiel nicht nur, wie ein Flugzeug konstruiert wird, man sieht auch, was daraus offensichtlich folgt. Dem Evidenzprinzip entspricht daher die Schlussfolgerungsform der Deduktion. Nahegelegt werden mit der Veranschaulichung von Elementen und Relationen aber auch bestimmte Möglichkeiten der Rekonfiguration des Gegenstandes, Sachverhalts oder Ereigniszusammenhangs. Angesprochen ist damit das Virtualitätsprinzip der Diagrammatik, in dem ihre heuristische Funktion beschlossen liegt. Man sieht nicht nur, wie die Dinge beschaffen sind; man sieht – zumindest vor dem ›geistigen Auge‹ – auch, wie man sie verändern könnte. Das dargestellte Gefüge setzt hypothetische Vorstellungen frei und verweist damit auf die Schlussfolgerungsform, die Peirce Abduktion genannt hat. Allerdings stellt sich die Frage, welche praktischen Auswirkungen die Rekonfiguration haben würde, wenn man sie in die Tat umsetzen würde.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Mit dieser Frage kommt drittens das Kontinuitätsprinzip der Diagrammatik ins Spiel. Dieses Prinzip besagt, dass die diagrammatische Darstellung respektive Vorstellung in einem unauflöslichen Zusammenhang mit der Realität steht. Zumindest als regulative Idee muss das Kontinuitätsprinzip Geltung beanspruchen, wenn die Konfiguration oder Rekonfiguration Aufschluss über den Gegenstand, Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang geben soll, der ihr Bezugsobjekt bildet. Mit anderen Worten: Das diagrammatische Modell muss Schlussfolgerungen nach Art der Induktion erlauben. Es muss wie ein Fall behandelt werden können, der anderen Fällen analog ist, was nur vorkommen kann, wenn das Modell in das Kontinuum der Erfahrungen eingebettet ist. Dass der einzelne Mensch die Welt diskontinuierlich erlebt, ist kein Einwand gegen das Kontinuitätsprinzip. Als Prinzip des Denkens ist es unabhängig von der Aktstruktur des Erlebens zu denken. Aufschlüsseln lässt sich diese Paradoxie wiederum an einem Modell: dem Modell des Traumes, in dem sich zwar das subjektive Erleben aus dem Zusammenhang der Erfahrung löst, durch den die Permanenz dieses Zusammenhangs aber nicht in Frage gestellt wird. Kein vernünftiger Mensch nimmt ernsthaft an, dass die empirische Welt verschwindet, solange er schläft und träumt. Vielmehr denkt er sich diese Welt als einen Zusammenhang, der objektiv besteht, also unabhängig davon, ob er persönlich diesen Zusammenhang aktuell erlebt. Genauso ist es mit dem Kontinuum, in dem diagrammatische Darstellungen und Vorstellungen stehen. Obwohl die Fläche, die zum Beispiel eine Karte einnimmt, in gewisser Weise von der Umwelt abgetrennt ist, erlaubt sie die Bildung konsistenter Vorstellungen, die sich auf diese Umwelt projizieren lassen. Eine solche Projektion anhand von Korrespondenzen und Analogieschlüssen setzt (stillschweigend) voraus, dass sowohl der Anschauungsraum der Karte als auch ihre Projektionsfläche – das Territorium – in das Kontinuum der Erfahrungen eingebettet sind. Letztlich ist es daher die wechselseitige Verschränkung der drei Prinzipien, dank der die diagrammatische Veranschaulichung abstrakter Verhältnisse und Funktionen nicht nur mentale Operationen der Umgestaltung, sondern auch konkrete Rückschlüsse auf die Welt der Erfahrung erlaubt – Rückschlüsse, die zunächst zwar immer hypothetisch sind, aber empirisch getestet werden können. Es ergibt sich ein produktiver Regelkreis aus Konfiguration und Deduktion, abduktiver Rekonfiguration und Induktion, der durch Zeichen und Medien in Form gebracht wird. Folgerichtig müssen diagrammatische Operationen als Schlüsselverfahren einer jeden Kultur betrachtet werden, in der die Welt nicht einfach nur als gegeben hingenommen, sondern als Gestaltungsaufgabe wahrgenommen und begriffen wird. Zeichen und Medien erscheinen somit als Mittel der konstruktiven Weltauslegung, ja der Welterzeugung, wobei man ihr Verhältnis dahingehend bestimmen kann, dass Medien Zeichensysteme verwenden. Aus dieser Verhältnisbestimmung folgt: Zeichen sind Medien (insofern sie

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D IAGRAMMATIK Vorstellungen vermitteln, die bedeutsam sind), aber nicht alle Medien sind Zeichen. So würde man zum Beispiel den Computer nicht unbedingt als ein Zeichen ansehen. Zwar kann man den Begriff des Computers und all das, was dieser Begriff subsumiert, metaphorisch als Zeichen verwenden – etwa wenn man sagt: ›Ich bin nicht Multitasking-fähig‹ – nüchtern betrachtet ist der Computer aber kein Symbol, sondern ein Medium, mit dessen Hilfe Zeichen erzeugt, gespeichert und – falls der Computer mit anderen Computern vernetzt ist – übermittelt werden können. Freilich ist die Art und Weise, die den Computer hinsichtlich der Erzeugung, Speicherung und Übermittlung von Zeichen von anderen Medien unterscheidet, von erheblicher Bedeutung für die Kultur, die sich dieses Mediums bedient. Der Computer erweitert nicht nur den Anschauungsraum, den analoge Schrift- und Bildmedien (einschließlich der »Schriftbildlichkeit«, die Karten und andere diagrammatische Visualisierungen auszeichnet) eröffnen, er fungiert – viel stärker noch als der handschriftlich verfasste Text, die manuelle Skizze usw. – als ein multimedial strukturierter Operationsraum, in dem die Rekonfiguration einer bestimmten Gestalt algorithmisch programmiert und gleichsam automatisch ablaufen kann. Daraus folgt aber nicht, dass der Computer das für die Diagrammatik wichtigste Medium wäre. Er ist nur das derzeit aktuellste Medium, anhand dessen sich die kulturelle Bedeutung der Diagrammatik verdeutlichen lässt.

2.2 A NSÄT ZE , THEORIEN UND M E THODEN Das Forschungsfeld, das sich um Diagrammatik und Diagramme knüpft, ist in den letzten Jahren in Bewegung geraten. Während vor kurzer Zeit noch mit der gebotenen Vorsicht in Erwägung gezogen wurde, der viel zitierte »iconic turn«14 könne sich als ein »diagrammatic turn«15 erweisen, spricht man kaum fünf Jahre später von einem »diagrammatische(n) Hype«16. Vom Mainstream der theoretischen Debatte in den Kultur- und Medienwissenschaften ist das Thema Diagrammatik zwar lange Zeit unbeachtet geblieben. An sich ist es aber beileibe nicht neu. Die Kunstgeschichte beschäftigt sich seit längerem mit der Diagrammatik, ebenso die Philosophie, die Literaturwissenschaft und die Wissenschaftsgeschichte. Gleiches gilt für die in verschiedenen Fächern beheimatete Semiotik. In semiotischen Diskursen findet sich die bisher komplexeste und für kul-

14 | Zur neueren Prominenz bildtheoretischer Forschung in der Kultur- und Medienwissenschaft vgl. für einen ersten Überblick die einschlägigen Sammelbände Bohn (Hg.): Bildlichkeit, Boehm (Hg.): Was ist ein Bild?, Maar/Burda (Hg.): Iconic Turn, Maar/Burda (Hg.): Iconic Worlds. 15 | Vgl. Bogen/Thürlemann: »Jenseits der Opposition von Text und Bild«, S. 2. 16 | Vgl. Schmidt-Burkhardt: »Wissen als Bild«, S. 163.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK tur- und medienwissenschaftliche Zwecke brauchbarste Theorie der Diagrammatik. Entgegen der Rhetorik mancher neuerer Forschungsbeiträge liegt die Aktualität der Diagrammatik für die Kultur- und Medienwissenschaften in keiner Neuentdeckung, sondern in einer Wiederentdeckung begründet. Die Herausforderung, die sich mit der Diagrammatik in den Kulturund Medienwissenschaften verbindet, ist nicht durch die Frage umrissen, wie eine allgemeine Theorie der Diagrammatik neu entworfen werden könnte. Stattdessen geht es darum, die existierenden Theoriebestände und Forschungsansätze so zu modifizieren, dass sie für aktuelle kulturund medienwissenschaftliche Fragestellungen fruchtbare Ergebnisse liefern. Bevor man Desiderate sieht, wo keine bestehen, zum Beispiel das völlige Fehlen einer kohärenten Theorie der Diagrammatik konstatiert,17 ist es ratsam, existierende Ansätze aufzuarbeiten und auf kultur- und medienwissenschaftliche Forschungskontexte zu beziehen. Das Ziel eines Überblicks über den Forschungsstand ist es, auf Grundlage bestehender kultur- und medienwissenschaftlicher Ansätze die Forschungskontexte und Problemhorizonte vorzustellen, in denen die Diagrammatik Anwendung gefunden hat. Damit geht das Bestreben einher, einige der Grundprobleme zu identifizieren, auf welche in den Kultur- und Medienwissenschaften mit Hilfe der Diagrammatik Antworten gesucht werden. Realisierbar ist das in einem zweistufigen Verfahren. Zunächst erfolgt eine kurze Übersicht über die existierende kultur- und medienwissenschaftliche Forschung im engeren Sinne. Anhand dieser Grundprobleme soll im weiteren Verlauf dieser Einführung dann der Kern an relevanten kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungskontexten mit dem großen Kreis der Forschungen zur allgemeinen Diagrammatik in Verbindung gebracht werden. Für den engeren Bestand an Forschung ist zu beobachten, dass die Diagrammatik in den Kultur- und Medienwissenschaften von ihrem Gegenstand her und als Theorie Aufmerksamkeit auf sich zieht: Einerseits wird durch die Beschäftigung mit der Diagrammatik nicht nur die lange Zeit etwas stiefmütterlich behandelte Zeichenklasse der diagrammatischen Zeichen samt ihrer Varianten neu betrachtet. Andererseits bietet die Diagrammatik interessante theoretische Forschungsperspektiven, die mit den Positionen der gängigen kultur- und medienwissenschaftlichen Theorien abgeglichen werden können. Grob unterteilt, ist es daher 17 | Vgl. Mersch: »Visuelle Argumente«, S. 104: »Zwar existiert noch keine allgemeine Theorie des Diagrammatischen – sie wäre erst zu schreiben […]«, oder Heßler/Mersch: »Bildlogik«, S. 31: »Tatsächlich existiert keine generelle Theorie der Diagrammatik«. Die Arbeiten von Hoffmann: Erkenntnisentwicklung und Stjernfeldt: Diagrammatology, die auf Charles S. Peirce’ Diagrammatik verweisen, zeugen vom Gegenteil. Richtig ist an dieser Feststellung aber nichts desto weniger, dass eine übergreifende Verknüpfung der Diagrammatik mit Forschungsperspektiven und Problemstellungen der Kultur- und Medienwissenschaft aussteht.

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D IAGRAMMATIK möglich, drei Forschungsströmungen zu identifizieren, die das Thema innerhalb der Kultur- und Medienwissenschaften in miteinander verzahnter und ineinander übergehender Form aufgegriffen haben.

I.

Diagrammatik und die Hybridität des Diagramms

Die erste dieser Strömungen ist mit der gattungstheoretischen Betrachtung von Diagrammen verknüpft. Ihr Ansatz besteht darin, Diagramme als ein Bild- und Zeichenphänomen zu deuten, das weder eindeutig als Bild noch eindeutig als Schrift zu klassifizieren ist. Die Diskussion steht im Kontext der übergreifenden bildtheoretischen Forschung, wie sie in den Kultur- und Medienwissenschaften in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Unter dem Dach der Bildwissenschaft, die sich als ein interdisziplinär angelegtes Unternehmen zur Klärung von Grundproblemen der Bildtheorie versteht,18 finden kunst- und wissenschaftsgeschichtliche Forschungen zum Diagramm zusammen.19 Die Ausgangsthese dieses Ansatzes besteht in der Annahme, dass Diagramme strukturelle Eigenschaften besitzen, die Erkenntnispraxen befördern, welche sowohl der Schrift als auch dem Bild zuzuordnen sind, als solche aber über Schrift und Bild hinausgehen. Diagramme gelten als »Hybride«20 von Schrift und Bild, in denen Eigenschaften beider Darstellungssysteme ausgeprägt sind. Aus den formalen Eigenschaften von Diagrammen lässt sich so auf eine funktionale Perspektive schließen: Gezeigt werden soll, wie sich aus der Erörterung der formalen Spezifika der Bild- und Zeichenklasse ›Diagramm‹ kulturelle Funktionen ableiten lassen. Diese Funktionen werden historisch und gegenwartsbezogen an18 | Vgl. zur allgemeinen Verortung der Bildwissenschaft im Konzert der kulturund medienwissenschaftlichen Fächer Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft, Sachs-Hombach/Rehkämper (Hg.): Bild, Bildwahrnehmung, Bildverarbeitung. Zu den mit einem solchen Anspruch einhergehenden Verwerfungen mit etablierten Bildwissenschaften, wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, vgl. Sachs-Hombach: »Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen«, S. 65f. 19 | In der Kunstgeschichte oder Wissenschaftsgeschichte hat man sich seit längerem mit Diagrammen befasst. Ein Überblick über die Verwendung von Diagrammen von der Antike bis in die Neuzeit findet sich zum Beispiel bei Bonhoff: Das Diagramm. Die Gattungstheorie des wissenschaftlichen Diagramms, insbesondere des neuzeitlichen Funktionsdiagramms, ist Gegenstand bei Gormans: »Imagination des Unsichtbaren«. Dennoch ist zu beobachten, dass die Anbindung dieser Fächer durch das Entstehen der interdisziplinären Bildwissenschaft enger geworden ist. Das demonstrieren mustergültig die Arbeiten des Kunsthistorikers Steffen Bogen, insbesondere Bogen: »Schattenriss und Sonnenuhr«, Bogen: »Verbundene Materie«, Bogen: »Repräsentative Maschinenzeichnungen« und Bogen: »Träumt Jesse?«. Einen Überblick über die bildwissenschaftliche Forschung bietet Bucher: »Das Diagramm in den Bildwissenschaften«. 20 | Mersch: »Visuelle Argumente«, S. 97, S. 104.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK hand der gesellschaftlichen Teilbereiche Kunst und Wissenschaft nachvollzogen. Problematisiert wird auf diese Weise die Privilegierung der »Super-Medien«21 Schrift und Bild, was in einer Befragung von gängigen Unterscheidungen wie Sagen/Zeigen, Diskursivität/Ikonizität, Skripturalität/Piktoralität, Sequenzialität/Simultaneität, Linearität/Nicht-Linearität sowie Repräsentation/Präsentation zum Ausdruck kommt, die mit der Schrift/Bild-Differenz assoziiert werden.22 Wesentlich durch den Rückgriff auf phänomenologisch geprägte Theorien und Methoden abgestützt, wird die Diagrammatik in diesem Forschungsfeld als Überschussphänomen gegenüber Schrift und Bild ins Spiel gebracht. Identifiziert wird das Phänomen eines ›Diagrammatischen‹, das als Summe aller Merkmale des Diagramms anzusehen ist. Der Kunsthistoriker Steffen Bogen schreibt zum Beispiel: »Mit dem Begriff ›diagrammatisch‹ soll eine spezifische Eigenschaft von Medialität bezeichnet werden, die weder in der Logik der Schrift noch in einer Phänomenologie des (Einzel-)Bildes aufgeht.«23 Die phänomenologische Exposition dieses ›Diagrammatischen‹ wird dann auf die diskursive Differenz zwischen Wissenschaft und Kunst bezogen. Das ›Diagrammatische‹ erscheint kulturhistorisch als ein gleichermaßen epistemisches Phänomen in wissenschaftlichen Diskursen wie als ästhetisches Phänomen in den Künsten – also als ein Phänomen, das weder ausschließlich dem einen oder anderen Bezugsdiskurs zuzuordnen ist. Das ›Diagrammatische‹ ist also ein Kriterium, um die Austauschbewegungen zwischen Wissenschaft und Kunst zu betrachten.24 Der Ansatz erlaubt die Identifikation und Analyse der diskursiven Potenziale, über die das ›Diagrammatische‹ in der Wissenschaft und der Kunst verfügt.25 Hervorgehoben wird vor allem die Möglichkeit, mit Hilfe diagrammatischer Strukturen unsichtbare Relationen ›sichtbar‹ zu machen. Zu solchen unsichtbaren Relationen sind zum Beispiel Phänomene wie die Planetenbahnen zu zählen, deren Relationen in der Neuzeit zum Gegenstand vielfältiger theoretischer Spekulationen geworden sind.26 Die diagrammatische Darstellung von Gegenständen, die der primären Anschaulichkeit entzogen sind, korrespondiert hier mit induktiven oder experimentellen Verfahren der Wissensgewinnung. Auf der Grundlage unzureichender Informationen wird im Diagramm eine Verallgemeinerung vorgenommen, die das Phänomen der Planetenbahnen nicht nur 21 | Bogen/Thürlemann: »Jenseits der Opposition von Bild und Text«, S. 1. 22 | Vgl. Bogen/Thürlemann: »Jenseits der Opposition von Text und Bild«, Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 79ff. 23 | Bogen: »Schattenriss und Sonnenuhr«, S. 75. 24 | Vgl. u.a. Bogen: »Schattenriss und Sonnenuhr«, Gormans: »Imagination des Unsichtbaren«, aber auch Bonhoff: Das Diagramm. 25 | Vgl. z.B. für die Wissenschaftsgeschichte Bredekamp: Darwins Korallen. 26 | Das Beispiel der Planetenbahnen gehört zu den Standardbeispielen der Forschung. Vgl. Gormans: »Imagination des Unsichtbaren«, S. 59ff.

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D IAGRAMMATIK darstellt: Der Gegenstand wird in der Darstellung als diskursiver Gegenstand erst erzeugt. Man spricht dann von der Konstruktion »epistemischer Dinge« bzw. »Wissensdinge«.27 Ein gewisses Problem dieses Ansatzes liegt freilich in der Bewertung des ›Diagrammatischen‹. Die Diagrammatik droht, aus einer Gattungstheorie des Diagramms hergeleitet zu werden.28 Das führt zu dem Problem, dass diagrammatische Erkenntnisverfahren für alle möglichen Arten von Zeichen wie auch Karten etc. Geltung beanspruchen.29 Mehr noch: Spricht man von Diagrammatik, muss die Phänomenalität des ›Diagrammatischen‹ nicht einmal eine explizite sein. Man muss es also nicht mit etwas zu tun haben, das sofort als ›Diagramm‹ erkannt würde, um einen für die Diagrammatik als Erkenntnisprozess relevanten Sachverhalt zu beschreiben. Wie verhält es sich aber dann mit dem ›Diagrammatischen‹? Um was für eine Größe handelt es sich bei diesem Begriff? Ist das ›Diagrammatische‹ wirklich vollständig bestimmt, wenn man die Struktureigenschaften von Diagrammen betrachtet? Zweifelsohne kann man die Diagrammatik als Summe einer Gattungstheorie des Diagramms auffassen. Die Grundintention der kulturund medienwissenschaftlichen Forschung, ›diagrammatische‹ Phänomene aller Art, wie zum Beispiel auch Karten oder Skizzen, in die Erörterung der Diagrammatik einzubinden, steht dazu aber in einem gewissen Widerspruch. Einen Ausweg aus der zu engen Rückkoppelung an die Gattung des Diagramms besteht darin, das ›Diagrammatische‹ als ein definierendes Merkmal von Schrift und Schriftlichkeit aufzufassen. Das ›Diagrammatische‹ ist einer der Unterschiede, durch welche die Schrift vom Bild und der (mündlichen) Sprache abgegrenzt ist. Auf diese Weise lässt sich illustrieren, dass der explizite, historisch überlieferte Typus des Diagramms als Bild- und Zeichengattung von einer generellen Form des ›Diagrammatischen‹, welche man auch als das implizit Diagrammatische in der Schrift bezeichnen könnte, auseinander gehalten werden sollte.30 Die Schrift, und nicht das Bild, ist seit der Antike der mediale Erscheinungskontext von Diagrammen (zumindest in der Wissenschaft). Das bedeutet nicht, dass ›Diagrammatisches‹ nicht auch in Bildkontexten, etwa beim Arrangement der Bilder in den Fenstern mittelalterlicher 27 | Vgl. Rheinberger: Experimentalsysteme. 28 | Diese Gefahr droht ansatzweise in Formulierungen wie denen bei Mersch: »Visuelle Argumente«, S. 106: »Man kann deshalb sagen, dass die diagrammatischen Hybride ein neues Genre bilden, das in einem strikten Sinne weder dem Bildlichen noch dem Schriftlichen angehört, auch nicht ›zwischen‹ ihnen liegt, sondern Logik und Ikonik bzw. Visualität und Diskursivität miteinander verschränkt.« 29 | Funktionale Kriterien, die das ›Diagrammatische‹ auszeichnen, erarbeitet auch die kognitiv orientierte kommunikationswissenschaftliche Forschung zur diagrammatischen Kommunikation und Visualisierung. Vgl. u.a. Gurr: »Effective Diagrammatic Communication«, Larkin/Simon: »Why a diagram«. 30 | Stetter »Bild, Diagramm, Schrift«, S. 122.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Kathedralen, von Bedeutung wäre.31 Doch der primäre Funktionskontext einer gattungstheoretischen Herangehensweise an Diagramme leitet sich von der Verwendung im Kontext des Mediums Schrift ab. Innerhalb der Schrift erfüllt das ›Diagrammatische‹ eine »textsubstituierende«32 Funktion. Die Analyse der Darstellungspotenziale des ›Diagrammatischen‹ kann hierdurch mit einer konkreten diskursiven Funktion assoziiert werden. Diagramme erscheinen unter kultur- und medientheoretischen Gesichtspunkten als »visuelle Komprimierungsversuche eines Wissens, das sprachlich nur mit erheblichem Mehraufwand zu vermitteln wäre«.33 Die Idee, Diagramme als Hybride von Schrift und Bild aufzufassen, verwandelt sich auf diese Weise in eine Analyse, welche die Funktion des ›Diagrammatischen‹ in der Kultur als eine Funktion innerhalb der medialen Darstellungssysteme Schrift und Bild untersucht. Da historisch eine enge Bindung zwischen Diagrammen und Textmedien besteht, ist die Schrift als primäres Bezugsmedium des ›Diagrammatischen‹ anzusetzen.34 Die Ausdeutung der Funktion des ›Diagrammatischen‹ innerhalb der Schrift ist daher Gegenstand eines zweiten Forschungskontextes, in dem die Diagrammatik in den Kultur- und Medienwissenschaften Verwendung gefunden hat.

II. Diagrammatik und Schriftbildlichkeit Das Stichwort lautet ›Schriftbildlichkeit‹.35 Maßgeblich durch die Philosophin Sybille Krämer geprägt, versteht man unter diesem Begriff die Betrachtung der bildlichen Dimension der Schrift.36 Entgegen der Gewohnheit wird Schrift hier nicht als »verschriftete Sprache« begriffen, sondern als ein »lautsprachenneutrales« Medium mit charakteristischen visuellen Merkmalen.37 Vorgenommen wird damit eine Akzentverlagerung von der 31 | Vgl. Bogen: »Träumt Jesse?«. 32 | Gormans: »Imagination des Unsichtbaren«, S. 52. 33 | Gormans: »Imagination des Unsichtbaren«, S. 52. 34 | Vgl. auch die Forschung zur Funktion von Bildillustrationen in Texten, etwa Kunze: Vom Bild im Buch, Schön: Das Schaubild, Robin: Die wissenschaftliche Illustration, Stückelberger: Bild und Wort. 35 | Vgl. Grube/Kogge/Krämer (Hg.): Schrift, Strätling/Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. 36 | Vgl. Krämer: »Sagen und Zeigen«, Krämer: »Schriftbildlichkeit«, Krämer: »Operative Bildlichkeit«, Krämer: »Operationsraum Schrift«, Krämer: »Sichtbarkeit der Schrift«, Krämer: »Schrift als Hybrid«. Krämers Ansatz wird inzwischen verschiedentlich fruchtbar aufgegriffen und weitergeschrieben, so in dem Versuch, eine auf die Diagrammatik gestützte Ästhetik der Gegenwartskultur zu entwickeln, den Dirk Rustemeyer (Diagramme) vorgelegt hat, dabei allerdings auf eine systematische Erörterung von Peirce’ Diagrammatik verzichtet. 37 | Vgl. Harris: »Schrift und linguistische Theorie«, S. 67f., Krämer: »Sprache und Schrift«.

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D IAGRAMMATIK Schrift als Kommunikationsmedium zur Schrift als Wahrnehmungsmedium.38 Dies rückt alle möglichen nicht-sprachlichen Schriftphänomene in den Blick, die von Prozessen der Kombination und Transformation von Schrift bis hin zum Bereich der Verwendung von Schrift in formalen Sprachen reichen.39 Gemeinsam haben diese Phänomene, dass sie eine ›operationale‹ bzw. ›operative‹ Nutzung von Schrift prägen: »Die Schrift eröffnet […] einen in der phänomenalen Wahrnehmbarkeit und handgreiflichen Materialität zweidimensionaler Anordnungen wurzelnden Raum des operativen Umgangs mit Zeichen: Schrift ist ein Mittel, um eine formatierte Fläche nicht nur für Belange der Kommunikation, sondern auch der Kognition nutzbar zu machen.«40 Beschrieben werden durch den Ansatz visuelle »Funktionsräume«41, in der Schrift als »Instrument kognitiven Problemlösens«42 in Erscheinung treten kann. Die Schrift wird dadurch in den Kontext sog. »nützlicher Bilder« bzw. »Gebrauchsbilder« gerückt,43 und das ›Diagrammatische‹ wird als einer der zentralen Mechanismen aufgefasst, mit denen man in diesen ›Funktions-‹ bzw. ›Operationsräumen‹ arbeitet.44 Verwendung findet ein Begriff des ›Diagrammatischen‹, der über den herkömmlichen gattungstheoretischen Begriff von Diagramm hinausgehen soll.45 Das ›Diagrammatische‹ ist in diesem Forschungsansatz ein Schlüsselbegriff für solche Operationen, in denen schriftliche und bildliche Eigenschaften in der Schrift interagieren. Es ist einer der organisierenden Faktoren für die Verknüpfung von Textelementen, die durch Linien oder Pfeile miteinander in Verbindung gebracht werden. Durch ›Diagrammatisches‹ wird ein topologisches Ordnungsprinzip in die Schrift eingebracht, das den visuellen ›Funktionsraum‹ dieses Mediums zu einem Ort eines mit bildlichen Mitteln realisierten Argumentierens und Schlussfolgerns macht. Das ›Diagrammatische‹ kann als eine Größe begriffen werden, mit deren Hilfe das aus der Textlinguistik bekannte Phänomen der ›Text38 | Vgl. Krämer: »Sichtbarkeit der Schrift«. 39 | Die Beschäftigung mit Phänomenen, in denen die Grenze zwischen Sprache und Schrift als einer materiellen Dimension ausgehandelt wird, hat in der Literaturwissenschaft eine lange Tradition, vgl. u.a. Greber: Textile Texte, Greber/ Ehlich/Müller (Hg.): Materialität und Medialität von Schrift, und wird seit den grundlegenden Sammelbänden von Gumbrecht/Pfeiffer: Materialität der Kommunikation und Gumbrecht/Pfeiffer: Schrift auch zunehmend medientheoretisch gedeutet, vgl. Gropp: Szenen der Schrift. 40 | Krämer: »Operationsraum Schrift«, S. 32. 41 | Krämer: »Operationsraum Schrift«, S. 32. 42 | Krämer: »Operationsraum Schrift«, S. 26. 43 | Vgl. zur Kategorie der Gebrauchsbilder Majetschak: »Sichtvermerke«, vgl. Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 94f., vgl. auch Boehm: »Zwischen Auge und Hand«. 44 | Vgl. Krämer: »Operationsraum Schrift«, S. 32ff. 45 | Krämer: »Operationsraum Schrift«, S. 38.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK deixis‹,46 also der inhaltlichen Organisation von räumlichen Informationen wie oben/unten, vorher/nachher, hier/dort etc., von der Ebene der Kommunikation auf die Ebene der Wahrnehmung verschoben wird. Die Relationen zwischen abstrakten Einheiten (bzw. Begriffen) stehen in einer sichtbaren Beziehung zueinander, wodurch visuell argumentative (›propositionale‹) oder quasi-argumentative (›subpropositionale‹) Aussagen getroffen werden. Bezieht man diese Aussagen auf die pragmatische Ebene einer soziokulturellen Praxis, gewinnt dieser Vorgang einen modellbildenden Charakter.47 Das ›Diagrammatische‹ leistet die Visualisierung möglicher Relationen (im Fall der Textdeixis durch die räumliche Anordnung inhaltlicher Elemente) – ein Phänomen, das sich noch verstärkt, wenn es um die Visualisierung abstrakter Beziehungen geht, die der primären Anschaulichkeit entzogen sind. Durch solche Implikationen überschreitet der Ansatz eine Erörterung der Phänomenalität des ›Diagrammatischen‹ als der Summe diagrammatischer Phänomene und greift über auf die für die Diagrammatik typische Erörterung von Erkenntnisprozessen. Dennoch besteht ein Problem des Ansatzes darin, dass der visuellen Dimension der Schrift ein operativer Status eingeräumt wird, nicht aber der klassischen Inhaltsdimension der Schrift als verschrifteter Sprache. Gestützt ist diese Entscheidung auf die Prämisse, die kommunikationstheoretische Betrachtung der Schrift als verschrifteter Sprache von der wahrnehmungstheoretischen Dimension der Schrift abzukoppeln. Kommunikation wird von Kognition unterschieden.48 Die kommunikative Funktion der Schrift soll die Rolle einer Repräsentation von Sprache einnehmen. Der wahrnehmungsbezogenen Funktion der Schrift wird hingegen die Rolle einer Präsentation im Sinne der Hervorbringung von Inhalten zugesprochen. Kommunikation und Wahrnehmung in dieser Form zu trennen, ist jedoch eine problematische Angelegenheit. Empirisch ist es zum Beispiel eher fragwürdig, den (nicht näher geklärten) Begriff von ›kognitivem Problemlösen‹ der Ebene der ›Schriftbildlichkeit‹ vorzubehalten. Die kommunikative Funktion der Schrift wird als ein Vermittlungsgeschehen begriffen, in dem die Schrift als Medium vollständig hinter die Repräsentation von Sprache zurücktritt. Die Schrift ist demnach ein neutrales Me46 | Die Schriftbildlichkeitsforschung hat bisher einen Bogen um die Textlinguistik gemacht. In Fragen wie denen der Textsortenerkennung berührt sie aber Bereiche, in denen diese – wohl durch die starke Unterscheidung zwischen der Schrift als Kommunikations- und der Schrift als Wahrnehmungsmedium begründete – methodische Entscheidung sehr problematisch ist. Vgl. zur Textsortenlinguistik zum Beispiel Diewald: Deixis und Textsorten. 47 | Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 88. 48 | Vgl. Krämer: »Operationsraum Schrift«, S. 26: »Unter dem Aspekt der Funktion von Sprachen dienen Schriften der Kommunikation und weniger der Kognition. Schrift ist ein Medium der Verständigung und weniger ein Instrument des kognitiven Problemlösens.«

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D IAGRAMMATIK dium zum Transport der Sprache. Das ist Schrift aber nie gewesen. Auch als Repräsentation von Sprache erlaubt die Schrift das Entwerfen alternativer Sprachräume kognitiven Handelns und Problemlösens. Kognitives Problemlösen als exklusives Merkmal einer wahrnehmungstheoretischen Betrachtung der Bildlichkeit der Schrift anzusetzen und hierüber eine Abgrenzung gegenüber der kommunikationstheoretisch relevanten Verwendung von Schrift aufzubauen, führt dazu, der Schrift ihre dezidiert kognitiven Eigenleistungen bei der Repräsentation von Sprache abzusprechen. Diese Feststellung hat Rückwirkungen für das Verständnis von Diagrammatik. Die Diagrammatik ist nicht nur für die Wahrnehmungsfunktion der Schrift im Rahmen von ›Schriftbildlichkeit‹ von Bedeutung. Vielmehr ist sie auch auf der Ebene der Kommunikationsfunktion von Schrift im Rahmen von ›verschrifteter Sprache‹ ein wichtiges Erkenntnisverfahren. Dementsprechend ist die Diagrammatik eine auch für die Standardbetrachtung von Schrift als Kommunikationsmedium in der Literaturwissenschaft oder in der Linguistik interessante Theoriebildung.49 Am Beispiel der Eingrenzung der Geltung der Diagrammatik auf die Wahrnehmungsebene von ›Schriftbildlichkeit‹ erkennt man die Nachwirkungen eines formalen Ansatzes, in dem von diagrammatischen Strukturen über die Abstraktion eines ›Diagrammatischen‹ auf die Diagrammatik geschlossen wird. Dieser Ansatz legt sein Augenmerk auf ein sichtbares und damit extern-materiell realisiertes ›Diagrammatisches‹. Ausgeklammert wird der gesamte Phänomenbereich der Anwendung der Diagrammatik auf die Schrift als inhaltlichem Kommunikationsmedium – doch das wird der Sache nicht gerecht. Auch im Kontext der Erforschung des Mediums Schrift ist die Diagrammatik für beide Dimensionen der Schrift wichtig, also für die kommunikationstheoretische Betrachtung der Schrift als verschrifteter Sprache und für die wahrnehmungstheoretische Betrachtung als lautsprachenneutraler Schrift. Umgekehrt wirft die Einschränkung auf den expliziten Bereich der Wahrnehmung die schwierige Frage nach einer Klärung des Status’ der impliziten intern-mental realisierten Diagramme auf, wie sie in Schlussfolgerungen oder Gedankenexperimenten vorkommen. Diese Variante des Diagrammbegriffs ergibt sich aus der Inhaltsdimension der Schrift als Kommunikationsmedium. Sie muss als epistemologischer Sachverhalt unabhängig von jener Form des ›Diagrammatischen‹ gedacht werden, die sich in extern-materiellen Diagrammen manifestiert.50 Bei allen Kritikpunkten ist der Ansatz, die Diagrammatik in den Kontext der Erörterung von Phänomenen wie Schriftbildlichkeit oder operative Ikonizität zu stellen, außerordentlich wichtig. Der Ansatz erlaubt es, die These zu vertreten, dass sich die Diagrammatik in ein bestehendes Darstellungssystem einschreibt. Ein ›reines Diagrammatisches‹ anzuneh49 | Vgl. für die Literaturwissenschaft Bauer: Schwerkraft und Leichtsinn. 50 | Vgl. zu Theorie und Begriff des Gedankenexperiments einführend Wunschel/ Macho: »Mentale Versuchsanordnungen«.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK men, das als ›drittes‹ Phänomen eigenständig zwischen Schrift und Bild oszilliert, scheint jedenfalls nicht sinnvoll zu sein. Was es gibt, sind diagrammatische Verwendungspraxen dieser Darstellungssysteme, die aufgrund ihrer Funktionen historisch eine formale Eigenschaft ausgebildet haben, die gattungstypologisch als ›diagrammatisch‹ klassifiziert werden kann. Die Form des ›Diagrammatischen‹ folgt seiner Funktion in einem Darstellungssystem. Was das ›Diagrammatische‹ innerhalb von Schrift und Bild leistet, bringt Sybille Krämer auf den Punkt, wenn sie schreibt: »Das Diagrammatische ist ein operatives Medium, welches infolge einer Interaktion innerhalb der Trias von Einbildungskraft, Hand und Auge zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn vermittelt, in dem Unsinnliches wie beispielsweise abstrakte Gegenstände und Begriffe in Gestalt räumlicher Relationen verkörpert und damit nicht nur ›denkbar‹ und verstehbar, sondern überhaupt erst generiert werden. Die Signatur unserer Episteme verdankt sich in vielen Hinsichten den Kulturtechniken des Diagrammatologischen – bliebe dies nun implizit oder explizit.« 51

Die Rolle des ›Diagrammatischen‹ bei der Ausbildung einer ›operativen‹ Dimension innerhalb der Schrift als einer Interaktion zwischen Einbildungskraft, Hand und Auge, Sinnlichem und Sinn bestimmt seine kulturelle Leistung. Allerdings besteht in der Forschung zur Schriftbildlichkeit eine gewisse Unklarheit, welche Formen unter den Oberbegriff des ›Diagrammatischen‹ fallen sollen. Inzwischen gelten »Schriften, Diagramme bzw. Graphen und Karten« wie auch kleine Skizzen und einfache Linienstrukturen als relevante Gegenstände.52 Das hierfür in Anschlag gebrachte – sehr treffende – Kriterium der ›Operationalität‹ ist als Begriff für das Zusammenspiel von Wahrnehmung, Denken und Handeln nicht nur diagrammatischen Strukturen wie Diagrammen oder Karten vorbehalten. Etwas künstlich wirkt aber die Unterscheidung zwischen den »operativen Bildern«, welche Gebrauchsbilder bzw. Wissensbilder aller Art umfassen (z.B. Computersimulationen), und der »operativen Bildlichkeit«, welche sich exklusiv auf zweidimensionale Bilder beschränken soll.53 Das Grundproblem bleibt: Was ist der Geltungsbereich einer Diagrammatik?

III. Diagrammatik und anschauliches Denken Auf dieses Problem sucht eine sehr heterogene dritte Forschungsströmung eine Antwort, indem sie die Diagrammatik als Teil jener Erkenntnisoperationen auffasst, durch welche innerhalb von Darstellungssystemen wie der Schrift oder dem Bild eine operative Dimension hervorgebracht wird. Diese operative Dimension ist ihrerseits aber unabdingbar auf die Form des Wissens bezogen, die durch ›Diagrammatisches‹ dargestellt wird. 51 | Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 105 (im Orig. kursiv). 52 | Vgl. Krämer: »Operative Bildlichkeit«, insb. S. 95. 53 | Vgl. Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 95, Anm. 6.

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D IAGRAMMATIK Zu den Kernbestandteilen einer Theorie der Diagrammatik gehört das Problem, dass die Überlagerung von kultureller Form und kognitivem Prozess sich idealer Weise, nicht aber notwendig, in einer Überlagerung anhand von internen ›diagrammatischen‹ Erkenntnisprozessen und externen ›diagrammatischen‹ Strukturen realisiert. Dieses Problem reicht in erkenntnistheoretische Grundprobleme hinein, von denen zwei besonders wichtig sind: Zum einen das spezielle Problem, inwieweit es empirisch gehaltvoll sein kann, von ›intern-mentalen‹ Diagrammen zu sprechen; zum anderen das übergreifende Problem, inwiefern im Fall der Diagrammatik sinnvoll von einem Innen/Außen-Verhältnis auszugehen ist. Sehr plausibel lässt sich zum Beispiel behaupten, dass die Diagrammatik in den Bereich von Theorien fällt, die sich mit der ›Exteriorität des Geistes‹ beschäftigen. Sie wäre also als Teil eines Erkenntnisprozesses anzusehen, der sich konstitutiv in Medien realisiert und in dem die Unterscheidung von Subjekt und Objekt aufgehoben ist.54 Die Diagrammatik scheint in den Grundlagenbereich der kulturellen Phänomene zu fallen, in denen Erkenntnisse nicht nur in Auseinandersetzung mit Darstellungssystemen gewonnen werden, sondern in denen das Wissen von diesen Darstellungssystemen abhängt, also nicht unabhängig von seinen kulturellen und medialen Manifestationen gedacht werden kann. Die Diagrammatik ist demnach kultur- und medienwissenschaftlich dadurch bedeutsam, dass sie eine Form der aktiven Auseinandersetzung des Menschen (als psychisches System) mit seiner Umwelt erfasst, in der mentale Inhalte erst durch die aktive Nutzung bestimmter Zeichensysteme hervorgebracht werden. Die Diagrammatik ist also eine Theorie, welche hilft, das Austauschgeschehen zwischen mentalen Erkenntnisprozessen und externen Medien, zu denen komplexe semiotische Darstellungssysteme wie die Schrift zu zählen sind, zu beschreiben. Die Einschätzung des theoretischen Status der Diagrammatik erlaubt es, das Verhältnis von Diagrammatik zu Diagrammen neu zu bestimmen. Wenn die Diagrammatik ein allgemeines Erkenntnisverfahren darstellt, das sich in spezifischen diagrammatischen Strukturen verfängt und dort zur Anwendung gebracht wird, lässt sich die schwierige Frage, welche Strukturen als Korrelate der Erkenntnisprozesse dienen, in die These übertragen, dass man es im Fall der Erkenntnisprozesse mit kulturindifferenten, also universalistischen, Prozessen zu tun hat, bei Diagrammen dagegen mit historisch akzidentiellen Formen, die sich potenziell auch anders ausprägen können. Indirekt kann diese These dadurch geprüft werden, dass man die Verwendung von Diagrammen in interkultureller Perspektive untersucht. Kulturvergleichende Arbeiten sind seit langem mit der Frage befasst, inwieweit kognitive Prozesse kulturspezifisch geprägt sind. Kulturverglei54 | Koch/Krämer (Hg.): Schrift, Medien, Kognition, vgl. auch das Dissertationsprojekt von Jan Wöpking zum Thema »Diagramme als kognitive Artefakte« am Exzellenzcluster Topoi in Berlin.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK chende Arbeiten, die sich mit Fragen der Diagrammatik befassen, sind in der deutschsprachigen Forschung allerdings sehr rar. Dort, wo sie durchgeführt wurden, fördern sie aber für die übergeordnete Diskussion sehr interessante Erkenntnisse zu Tage. Der Sinologe Michael Lackner hat in einer Reihe wegweisender Aufsätze die Verwendung von Diagrammen in China sowie ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem (west-)europäischen Kulturkreis erforscht. Beispiele aus dem Mittelalter (Song-Dynastie) sowie aus der Zeit der Jesuiten-Mission (Ende des 16. Jahrhunderts) zeigen, dass die Europäer Diagramme zur Visualisierung von abstrakten Fakten verwendeten, die Chinesen Diagramme dagegen zum Auswendiglernen und zur Exegese kanonischer Texte benutzten.55 Ohne Kenntnis des Textes blieben die chinesischen Diagramme weitestgehend nutzlos. Das europäische Konzept eines Diagramms, das zwar innerhalb von schriftlichen Texten erscheint, sich aber nicht auf die Exegese eines Textes bezieht, sondern eine über die Schrift hinausgehende bzw. diese ergänzende Darstellung von Fakten anbietet, sorgte dementsprechend für kulturelle Missverständnisse.56 Dass im China dieser Zeit das ›Diagrammatische‹ zwar zur Illustration von Text, nicht aber als eigenständige Form der Darstellung innerhalb der Schrift verwendet wurde,57 zeigt die Unterschiede in der kulturspezifischen Verwendung des ›Diagrammatischen‹. Es sagt aber wenig über das Wissen, das mit dem ›Diagrammatischen‹ assoziiert wurde. Auch wenn sich die Inhalte und Verwendungen des ›Diagrammatischen‹ unterscheiden, ist das Wissen, das mit dem ›Diagrammatischen‹ assoziiert wird, offenbar ein ganz ähnliches gewesen. Im chinesischen Kulturkreis findet sich nicht nur eine Verwendung von vergleichbaren Formen von Diagrammen (v.a. Stemmata), sondern auch eine Reflexion auf die durch Diagramme ermöglichte geistige Arbeit des kombinatorischen InBeziehung-Setzens im Sinne einer sich im Geist wandelnden Form. Ausschlaggebend ist, dass diese Reflexion auf eine Form des diagrammatischen Denkens mit der Form des Diagramms korrespondiert.58 Die Unterschiede in der konkreten Praxis der Verwendung des Diagramms gehen einher mit großen Ähnlichkeiten in der reflexiven Bewertung 55 | Vgl. insb. Lackner: »Jesuit Memoria«, S. 210ff. Sehr aufschlussreich wäre es, diese Forschung mit der reichhaltigen Literatur über die Geschichte der Diagramme in den verschiedenen Epochen des europäischen Kulturkreises sowie ihren systematischen Funktionen in der Wissenschaft u.a. Elkins: The Domain of Images, Heninger: The Cosmographical Glass, Maas: »Zur Rationalität des vermeintlich Irrationalen«, McDonald-Ross: »Scientific Diagrams«, Müller: Visuelle Weltaneignung, Siegel: Tabula, S. 49ff. in Verbindung zu bringen. 56 | Vgl. Lackner: »Argumentation per diagramms«, Lackner: »Diagrams«, Lackner: »Jesuit memoria«, Lackner: »La position d’une expression«, Lackner: »Was Millionen Wörter nicht sagen können«. 57 | Vgl. zum Vergleich auch Raible: »Von der Textgestalt«. 58 | Vgl. Lackner »Was Millionen Wörter nicht sagen können«, S. 225ff.

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D IAGRAMMATIK kognitiver Leistungen. Somit ist es eine sehr reizvolle Fragestellung der kulturvergleichenden Forschung, nicht nur kulturell divergente Verwendungen von Diagrammen deskriptiv zu beobachten, sondern auch nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Reflexion auf die Diagrammatik als einer Erkenntnisoperation abzuheben. Während sich solche Reflexionsbewegungen im Westen in der philosophischen Beschäftigung mit mathematischen und vor allem geometrischen Fragen finden, zeichnet sich für den chinesischen Kulturkreis der Bereich der Prognostik und Vorhersage als zentraler Ort dieser Reflexionen ab. Zwar ist es stets geboten, aus kulturellen Unterschieden und Gemeinsamkeiten keine vorschnellen Schlussfolgerungen über vermeintliche transkulturelle anthropologische Konstanten oder gar Universalien zu ziehen, man sollte sich dieser Frage aber vor dem Hintergrund einiger anderer Ansätze nicht verschließen, die für die kultur- und medienwissenschaftliche Adaption der Diagrammatik von Bedeutung sind. Dazu gehört insbesondere die fachphilosophische Rezeption der Diagrammatik, welche in einem für die deutschsprachige Forschung wegweisenden, zunächst aber wenig rezipierten Sammelband mit dem Titel Diagrammatik und Philosophie Anfang der 1990er Jahre einen ersten Höhepunkt gefunden hat.59 Weite Teile der neueren Debatte um die Diagrammatik sind in den Beiträgen dieses Bandes bereits angelegt. Die Untersuchung der didaktischen Funktion von diagrammatischen Zeichen wird in Richtung der Diagrammatik als eines in der Philosophie unterschätzten Erkenntnisverfahrens erweitert. Die Diagrammatik gerät dabei von zwei Seiten in den Blick: einmal aus Richtung der historischen Selbstbefragung der Philosophie, in der Probleme der Diagrammatik häufig im Kontext von Geometrie und Mathematik erscheinen,60 und einmal aus Richtung der systematischen Frage nach dem erkenntnistheoretischen Status des inneren bzw. geistigen Auges, welches mentale Diagramme variiert. Letzteres prägt den für die neuere Diagrammatik-Forschung sehr wichtigen Versuch des Philosophen Frederik Stjernfelt, die Diagrammatik von Peirce mit der Phänomenologie Edmund Husserls, insbesondere mit dessen Begriff der eidetischen Variation, zusammenzudenken.61 Er liegt aber auch den für die Peirce-Rekonstruktion nicht weniger grundlegenden Forschungen der Philosophen Michael H. Hoffmann62 und Ahti-Veikko Pietarinen63 zugrunde, bei denen die Diagrammatik in ihren Anschlüssen zur Mathematik und Logik aufgearbeitet wird. Diese philo59 | Vgl. Gehring u.a. (Hg.): Diagrammatik und Philosophie. 60 | Vgl. für Platon z.B. Ueding: »Die Verhältnismäßigkeit der Mittel«, für die Geometrie generell Greaves: The Philosophical Status, Hoffmann: Erkenntnisentwicklung. 61 | Vgl. Stjernfelt: Diagrammatology. 62 | Vgl. Hoffmann: Erkenntnisentwicklung. 63 | Vgl. Pietarinen: Signs of Logic.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK sophischen Arbeiten stellen maßgebliche Grundlagen für die Rezeption der Peirce’schen Diagrammatik in den Kultur- und Medienwissenschaften dar. Sie bilden ein sehr gutes Fundament, um einen Begriff von Diagrammatik zu entwerfen, der sich mit den weiteren kultur- und medienwissenschaftlichen Forschungshorizonten verbinden lässt.64 Von hier aus lassen sich auch die angrenzenden Forschungsfelder bestimmen, allen voran die Frage nach dem Status von visuellem Wissen,65 die nicht nur in der Bildwissenschaft eine Rolle spielt.66 Selbstredend gehören aber auch konkrete thematische Bereiche dazu, nicht zuletzt das kulturell überaus reiche Phänomen der Karte und der Kartographie, das in den Kultur- und Medienwissenschaften inzwischen ein sehr breites Forschungsfeld bildet.67 Das Problem der mentalen Karten bildet hier einen der wichtigsten Rückbezüge zur Diagrammatik,68 etwa mit Blick auf die mentale Karte einer Stadt.69 Zu nennen ist aber natürlich auch die durch poststrukturalistische Überlegungen zur Diagrammatik vermittelte Rezeption der Diagrammatik in der Architekturtheorie, die das Thema nicht erst seit der Wende zu raumtheoretischen Fragen (»spatial turn«) entdeckt hat,70 sowie der Theaterwissenschaft, in der das Theater sehr überzeugend als ein diagrammatisches Dispositiv beschrieben wurde.71 Vorgedacht, aufgegriffen und weitergeführt worden ist vieles von all dem auch durch den Künstler und Informatiker Gerhard Dirmoser, der seit Jahren wie kaum ein zweiter das Feld der Diagrammatik durchdrungen hat und in seinen verschiedenen Arbeiten einen sehr guten Überblick über die verschiedenen Diskurse und Anwendungsfelder der Diagrammatik gibt.72 64 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, McGinn: Das geistige Auge. 65 | Vgl. Schnettler/Pötzsch: »Visuelles Wissen«. 66 | Vgl. Heintz/Huber (Hg.): Mit dem Auge denken, Krämer: »Kann das geistige Auge sehen?«. 67 | Eine selektive Auswahl mit verschiedenen Schwerpunktsetzungen ist Bedö: »Landkarten als Werkzeuge unseres Denkens«, Bertin: Graphische Semiologie, Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick, Sick: Kartenmuster, Cosgrove (Hg.): Mappings, Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, Nohr: Karten im Fernsehen, Nöth/Schmauks: Landkarten als synoptisches Medium, Stockhammer: Kartierung der Erde. 68 | Vgl. Conrad (Hg.): Mental Maps, Downs/Stea: Kognitive Karten, Hartl: »Kognitive Karten«. 69 | Vgl. Lynch: Das Bild der Stadt. 70 | Einen guten Überblick gibt das Heft Diagramme, Typen, Algorithmen der Zeitschrift UmBau (19/2002) der Österreichischen Gesellschaft für Architektur. 71 | Vgl. grundlegend Haß: Das Drama des Sehens. 72 | Dirmoser entwicklet in seinen jüngeren Arbeiten z.B. eine Theorie der Zwischenräumlichkeit, die Gedanken u.a. von Sybille Krämer und Dieter Mersch aufgreift. Außerordentlich instruktiv zu diesem und vielen anderen Themen sind hier die umfangreichen Materialien auf http://gerhard_dirmoser.public1.linz.at.

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2.3 C HARLES S. P EIRCE ’ K ONZEP T DER D IAGR AMMATIK Das Konzept der Diagrammatik stammt in seinen wesentlichen Grundzügen von Charles Sanders Peirce. Peirce ist einer der wichtigsten Vordenker gleich zweier philosophischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts, der Semiotik und des Pragmatismus. Die Semiotik hat als die Wissenschaft von den Zeichen im 20. Jahrhundert eines der zentralen Paradigmen der geisteswissenschaftlichen Fächer abgegeben. Ähnlich wirksam war, jedenfalls im angloamerikanischen Raum, die für den Pragmatismus kennzeichnend gewordene Idee, philosophische Konzepte wie Wahrheit und Bedeutung im Rückbezug auf lebensweltliche Handlungen zu begründen.73 Peirce darf also mit Fug und Recht zu den großen Namen der Philosophie gezählt werden. Das Denken von Peirce ist allerdings nicht unbedingt leicht verständlich. Das hat seine Gründe in der schwierigen Editionslage der Peirce’schen Schriften. Ein Hauptwerk, um das herum sich die Ideen von Peirce anordnen ließen, existiert nicht. Für die breite Rezeption der Ideen dieses kreativen Denkers war dies ebenso abträglich wie die verhältnismäßig komplizierte und sperrige Terminologie, der sich Peirce bedient. Kein Wunder also, dass auch das Konzept der Diagrammatik, das Peirce entworfen hat, lange Zeit ein Spezialthema in der Peirce-Forschung geblieben ist. Dieses Konzept nimmt vor allem in der Spätphase von Peirce’ Denken eine wichtige Rolle ein. Die Diagrammatik ist eng mit Peirce’ Auffassung verbunden, wie Menschen mit Zeichen denken und handeln. Das ist ein erster wichtiger Punkt, den man hervorheben muss: Die Diagrammatik ist eine denkbar prinzipielle Angelegenheit. Der Begriff zeichnet eine allgemeine Eigenart des menschlichen Handelns mit Zeichen aus. Schon allein deshalb ist die Diagrammatik nicht auf eine bestimmte Zeichenklasse festgelegt, sondern erklärt sich aus der Art und Weise, wie mit Zeichen schlussfolgernd gehandelt wird. Eng verzahnt ist die Diagrammatik dabei mit einer kreativen Form der Schlussfolgerung, die Peirce Abduktion nennt. Im Unterschied zu den traditionellen Formen der Schlussfolgerung, der Deduktion und der Induktion, führt diese Art des Schlussfolgerns, Peirce zufolge, nicht nur zu einer Entfaltung des schon bekannten Wissens, sondern zu neuem Wissen. Und noch einen zweiten Punkt muss man hervorheben: Die Diagrammatik ist, gerade in ihrer sehr tief greifenden Bedeutung für das Handeln mit Zeichen, ein Produkt der Auseinandersetzung von Peirce mit der Philosophie Immanuel Kants. 73 | Allerdings unterscheidet sich Peirce’ Pragmatismus nachhaltig von allen simplifikatorischen Gleichsetzungen zwischen Richtigkeit und Nützlichkeit oder Handlungs- und Denknotwendigkeit. Seine Pragmatische Maxime, die noch vorgestellt werden wird, zielt auf eine Bedeutungsermittlung von Begriffen im Lichte denk- oder vorstellbarer Konsequenzen für das Handeln. Vgl. Oehler: »Einführung in den semiotischen Pragmatismus«, S. 26f.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Die Diagrammatik ist motiviert durch eine Problemstellung, die Kant in einem zentralen Kapitel zum Schematismus in der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt. Kant versucht in diesem Kapitel die Frage zu beantworten, wie Kategorien, die in der empirischen Wahrnehmung keine unmittelbare Entsprechung haben, gleichwohl auf Gegenstände der Erfahrung bezogen werden können. Die zur Vermittlung von Anschauung und Begriff erforderlichen Vorstellungen nennt er Schemata. Diese heute in erkenntnistheoretischen Kontexten fast allgemeingebräuchliche Bezeichnung taucht bereits in der Antike auf und hat in der modernen Philosophie, Psychologie und Soziologie erneut Karriere gemacht. An die Diskussion um die Schemata bei Kant knüpft Peirce sowohl in der generellen Konzeption seines Zeichenbegriffs als auch mit dem Konzept der Diagrammatik an. Eine Erörterung Kants hilft deshalb, das Peirce’sche Konzept der Diagrammatik zu entschlüsseln. Darauf aufbauend kann der Versuch unternommen werden, in der Auseinandersetzung mit Peirce zu zeigen, wie sich die Diagrammatik innerhalb eines allgemein gehaltenen kultur- und medientheoretischen Ansatzes profilieren lässt. Eine gewisse Fachsprachlichkeit ist dabei leider nicht zu vermeiden. Dennoch soll versucht werden, den anschaulichen Kern der Diagrammatik herauszuarbeiten.

I.

Der Ausgangspunkt: Diagrammatische Ikonizität

Peirce’ Semiotik geht von einem dreigliedrigen Zeichenbegriff aus. Ein Zeichen besteht nach Peirce aus einem Repräsentamen, einem Objekt und einem Interpretanten. Das Repräsentamen ist das Phänomen, das als Zeichen wahrgenommen wird, das Objekt der Gegenstand, auf den das Zeichen Bezug nimmt, und der Interpretant derjenige Aspekt des Zeichens, der Zeichenträger und Gegenstand, also Repräsentamen und Objekt, in eine Beziehung zueinander setzt.74 Um sich nun der Peirce’schen Diagrammatik zu nähern, kann man eine Trichotomie heranziehen, die Peirce entwickelt hat, um die Art und Weise zu beschreiben, in der sich Zeichen auf Objekte beziehen. Gemeint ist die berühmte Unterscheidung in Ikon, Index und Symbol. Für Peirce ist das Diagramm eine Unterklasse ikonischer Zeichen. Innerhalb der dreistelligen Zeichenkonzeption, die Peirce im Laufe seines Werkes vielfach überarbeitet hat, erscheint die Dia74 | Ohne an dieser Stelle auf Peirce’ Kategorienlehre und Logik eingehen zu können, ist festzustellen, dass Peirce den Begriff »Zeichen« (sign) nicht immer einheitlich verwendet. Sowohl die erste Stelle der Zeichenbezüge, also das Repräsentamen, ist für Peirce ein Zeichen, als auch die Gesamtheit der drei Beziehungen. Das hängt damit zusammen, dass in der Logik von Peirce die dritte Stelle des Zeichens, also der Interpretant, wieder zu einem Repräsentamen werden kann. Wenn alle drei Stellen realisiert sind, wird die dritte Stelle also wieder zur ersten, weshalb sowohl die erste Stelle als auch die Gesamtheit aller drei Stellen ein Zeichen konstituieren.

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D IAGRAMMATIK grammatik als ein Problem der Ikonizität.75 Nach Peirce sind ikonische Zeichen solche Zeichen, die ihren Objekten gegenüber Ähnlichkeit behaupten, indexikalische Zeichen sind dagegen mit ihren Objekten kausal verbunden, und symbolische Zeichen haben eine Bedeutung, die durch Gewohnheit (habit) und Konvention geregelt wird. Eine häufige Interpretation von Ikonizität besagt, dass es sich bei Ikonizität um ein Problem der adäquaten Abbildung eines Objektes durch das Zeichen handelt. Ikonizität wird als ein Problem abbildender Ähnlichkeit zu einem außerhalb des Zeichens existierenden Objekt angesehen. Darum ging es Peirce aber nicht. Für ihn ist Ikonizität keine Frage eines Identitätsverhältnisses zwischen Zeichen und Objekt, sondern eine Frage der Skalierung des Differenzverhältnisses zwischen Zeichen und Objekt. Zeichen basieren auf einem Spielraum zum Objekt, sonst wären sie keine Zeichen von einem Objekt. Eine Karte, die mit ihrem Territorium identisch wäre, wäre keine Karte mehr. Die Karte muss eine Differenz zum Territorium besitzen, damit man sich mit der Karte in einem Territorium orientieren kann.76 Ikonizität ist bei Peirce pragmatisch begründet. Es kommt Peirce darauf an, was man mit Zeichen tun kann. Deshalb sind die Zeichen für Peirce auch »Medien«.77 Nach Peirce repräsentieren Ikons ein Objekt nicht nur, sondern sie konfigurieren das Objekt in einer bestimmten Art und Weise. Interessant sind Ikons sowohl im Hinblick auf die (ästhetische) Konfiguration der Art und Weise, wie sie 75 | Die Rekonstruktion der Diagrammatik konzentriert sich auf den späten Peirce. Wenn man die Diagrammatik von Peirce herleitet, begibt man sich mit der Ikonizität in schweres Gelände. Kaum eine andere Kategorie ist in der Semiotik ähnlich umstritten gewesen. Diese Debatte kann hier nicht geführt werden. Einen Überblick über die wichtigsten Positionen gibt Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 193ff. 76 | Peirce verwendet diese Unterscheidung selbst. Vgl. Peirce: Collected Papers, 5.71: »Since, then, everything on the soil of the country is shown on the map, and since the map lies on the soil of the country, the map itself will be portayed in the map, and in this map of the map everything on the soil of the country can be discerned, including the map itself with the map of the map within its boundary. Thus there will be within the map, a map of the map, and within that, a map of the map of the map, an so on ad infinitium. These maps being each within the preceding ones of the series, there will be a point contained in all of them, and this will be the map of itself. Each map which directly or indirectly represents the country is itself mapped in the next; i.e., in the next it is represented to be a map of the country. In other words each map is interpreted as such in the next. We may therefore say that each is a representation of the country to the next map; and that point that is in all the maps is in itself the representation of nothing but itself and to nothing but itself.« Vgl. dazu auch Schönrich: Zeichenhandeln, S. 201ff. 77 | Vgl. Peirce: 76 Definitions of the Sign (MS CSP 793, 1-3. C. 1905): »As a medium, the Sign is essentially in a triadic relation, to its Object which determines it, and to its Interpretant which it determines«.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK ein Objekt darstellen, als auch im Hinblick auf die (logischen) Schlussfolgerungen, die aus dieser Konfiguration heraus über das Objekt abgeleitet werden können – also auf das, was über ein Objekt dank eines Zeichens gewusst werden kann.78 Im Fall der ikonischen Zeichen bedeutet das: Ein Ikon bildet nicht einfach ein Objekt ab. Ein Ikon ist vielmehr eine in sich schlüssige Regel, mittels derer man sich ein Bild von dem Objekt machen kann.79 Auf dieser Grundlage und als Konsequenz bestimmter logischer Überlegungen erarbeitet Peirce in A Syllabus of Certain Topics of Logic die Unterscheidung zwischen einem »reinen Ikon« (pure icon) und einem »Hypoikon« (hypoicon).80 Während das reine Ikon eher eine theoretische Möglichkeit bleibt, ist das Hypoikon ein konkret realisiertes Zeichen. Dabei sind drei Formen von Bezugnahme mittels ikonischer Ähnlichkeit auseinander zu halten: »Those [icons, MB/CE] which partake the simple qualities […] are images; those which represent the relations – mainly dyadic – of the parts of one thing by analogous relations in their own parts, are diagrams; those which represent the representative character of a representamen by representing a parallelism in something else, are metaphors.« 81

Das Bild-Ikon (image) repräsentiert sein Bezugsobjekt durch einfache Qualitäten wie gleiche Farben und Formen. Das Diagramm abstrahiert von solchen Qualitäten und repräsentiert analoge Relationen und/oder Proportionen des Bezugsobjektes. Die Metapher schließlich repräsentiert ein Bezugsobjekt, indem sie eine Ähnlichkeit dieses Objektes zu einem anderen Objekt herstellt.82 Bild, Diagramm und Metapher sind gleichsam graduelle Abstufungen im Maßstab der Schlussregel des von ihnen jeweils konstituierten Ähnlichkeitsverhältnisses. Das Diagramm zeichnet sich in dieser Dreiteilung dadurch aus, dass es nur die Grundrelationen bzw. Proportionen seines Gegenstandes darstellt. Vor diesem Hintergrund können die Anwendungsbereiche diagrammatischer Zeichen und Zeichen-Konfigurationen bestimmt werden. Zu ihnen gehören insbesondere (a) medientechnisch vermittelte Schaubilder,

78 | Aufgearbeitet hat diese Implikation der Peirce’schen Semiotik zuletzt Stjernfelt: Diagrammatology, insb. S. 28ff., S. 49ff., S. 89ff. 79 | Vgl. Peirce: Collected Papers 2.247, wo Peirce vermerkt, das Ikon sei ein »Zeichen, das sich kraft der ihm eigenen Merkmale auf das Objekt bezieht.« Vgl. Stjernfelt: Diagrammatology, S. 28ff. 80 | Auf Peirce’ Kategorienlehre soll hier nicht näher eingegangen werden. Vgl. zum Hypoikon die Analyse der Logik der Selbstrepräsentativität des Zeichens bei Schönrich: Zeichenhandeln, S. 96ff. sowie die genaue Analyse der verschiedenen Textvarianten in Farias/Queiroz: »Images, Diagrams, and Metaphors«. 81 | Peirce: The Essential Peirce, Bd. 2, S. 274. 82 | Vgl. Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 195f.

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D IAGRAMMATIK Wahrnehmungsmuster etc., (b) mentale Schlussfolgerungsprozesse, und (c) soziokulturell konventionalisierte Schematisierungen. Die erste Gruppe umfasst die traditionelle Diskussion um Diagramme als medientechnisch vermittelter Zeichenkonfiguration im engeren Sinne, also zum Beispiel die historische Rekonstruktion dieser Zeichenklasse als kulturelles Phänomen. Die zweite Gruppe, in der Diagramme als mentale Gehalte und Schlussfolgerungsprozesse begriffen werden, umfasst Denkprozesse, die sich an bestimmte Schlussverfahren (insb. die Abduktion) knüpfen. Die dritte Gruppe, in der Diagramme als sozial und kulturell konventionalisierte Größen erscheinen, umfasst kulturelle und soziologische Tatbestände wie Vorstellungsmuster oder sozioökonomische Machtkonfigurationen. Prinzipiell sind alle diese Phänomenbereiche für die Diagrammatik relevant. Will man das Peirce’sche Konzept der Diagrammatik als eine Grammatik solch heterogener Phänomene verstehen, dann ist das Kriterium der ikonischen Ähnlichkeit zu einem Bezugsgegenstand aber nicht hinreichend. Deshalb schreibt Peirce, dass »viele Diagramme […] ihren Objekten in ihrem Aussehen überhaupt nicht (ähneln); ihre Ähnlichkeit besteht nur hinsichtlich der Relation ihrer Teile.«83 Diagramme müssen ihrem Gegenstand also keineswegs im Sinne eines Identitätsverhältnisses ähnlich sein. Ähnlichkeit kann über ein Differenzverhältnis erzeugt werden: Das geschieht dann, wenn ein Diagramm Ähnlichkeit dadurch behauptet, dass es die inneren Funktionsprinzipien eines Objektes darstellt, also beispielsweise dann, wenn die Prozesse, die beim Klimawandel eine Rolle spielen, in Form eines Diagramms dargestellt werden. Der Vergleichsmaßstab für das Objekt, den ein Ikon bietet, baut dann auf einer These oder auf abstraktem Wissen über die Logik eines Gegenstandes auf.84 Dies unterstreicht die pragmatische Fundierung von Peirce’ Zeichenbegriff: Das Diagramm-Ikon entwirft in der Darstellung eine Hypothese über den Gegenstand, indem es auf andere Wissensbestände zurückgreift. Mittels des Diagramms wird eine These entwickelt, die Wissen über das Objekt entwickelt. Diagrammatische Ikonizität ist daher nicht abbildende, sondern entwerfende Ähnlichkeit. Wie in vielen konstruktivistischen Deutungen dieses Gedankens hervorgehoben worden ist, stellt das Diagramm das Objekt im Sinne der Formulierung einer Hypothese über das Objekt erst her.85 Es ist diese Hypothese, mit der dann praktisch umgegangen und gearbeitet werden kann. Terminologisch wird diesem konstruktiven Aspekt Rechnung getragen durch die Unterscheidung von Objekt und Referent. Das Objekt ist der Gegenstand, so wie er durch eine diagrammati83 | Vgl. Peirce: Collected Papers, 2.282. 84 | Das ist ein Punkt, der sehr gut in kunsthistorischen Debatten zur Diagrammatik ausgearbeitet wurde. Theoretische Überlegungen dazu bietet May: »Diagrammatisches Denken«. 85 | Wertvolle Beiträge hierzu finden sich in Heßler/Mersch (Hg.): Logik des Bildlichen.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK sche Zeichenkonfiguration für ein Bewusstsein dar- bzw. vorgestellt wird – im Unterschied zu dem Gegenstand der Erfahrungswelt, der mit dieser Gestalt identifiziert wird. Abgestützt ist diese Konstruktionsleistung, die als Konstruktion nichts anderes als eine These über die innere Logik der Teile eines Objektes ist, auf eine komplexe Gemengelage aus zeichenförmig realisiertem Vorwissen, materiellen und medialen Bedingungen sowie kulturhistorischen Vorprägungen. So etwas wie ein reines Diagramm gibt es also nicht. Vielmehr ist der Begriff des Diagramms selbst relational und mehrdimensional. Ein Diagramm kann folglich in sehr verschiedenen Formen in Erscheinung treten. Um die Dinge nicht unnötig zu komplizieren, wird im Folgenden vor allem das Zusammenwirken von medientechnisch vermittelten Zeichenkonfigurationen und mentalen Schlussfolgerungsprozessen betrachtet; die soziokulturell konventionalisierten Schematisierungen bleiben erst einmal außen vor.86 Schon die saubere Trennung der von Peirce dargelegten Typen von Ikons ist in der Praxis vielfach kompliziert – etwa dadurch, dass ein Bild-Ikon als Index verwendet werden kann (z.B. das Foto, das eine Geschwindigkeitsüberschreitung belegt). Allein der Umstand, dass ein Zeichen selten isoliert, sondern in aller Regel eingebettet in komplexe Zeichengefüge und unterschiedliche Medienformate (Texte, Diskurse, Filme etc.) auftaucht, führt dazu, dass man beständig damit rechnen muss, dass sich auch die verschiedenen Zeichenfunktionen überlagern. Metaphern zum Beispiel beruhen in vielen Fällen auf symbolischen Zeichen, die als Diagramme verwendet werden. Bei dem metaphorischen Ausdruck ›Staatsschiff‹ wird das Wort ›Schiff‹, das ein symbolisches Zeichen mit einer konkreten Bedeutung ist, zur Veranschaulichung des vergleichsweise abstrakten Begriffes des ›Staates‹ verwendet – und zwar dergestalt, dass man sich die Elemente, Relationen und Funktionen, die einen Staat ausmachen, am Modell des Schiffes vergegenwärtigen kann. Auch der Staat braucht einen Steuermann oder einen Lotsen, der ihn auf Kurs hält etc. Keineswegs muss das Diagramm also immer eine schematische Ansicht sein, die irgendjemand gezeichnet hat. Entscheidend für die Diagrammatik ist vielmehr das entwerfende Verfahren der Veranschaulichung, durch das sich Diagramme als ikonische Zeichen von Bildern und Metaphern unterscheiden: Während Bild-Ikons (Images) die sinnliche Erscheinung eines Gegenstandes in seiner spezifischen Detailfülle und Anmutungsqualität wiedergeben – oder genauer: vorgeben, eine solche Wiedergabe zu sein – und Metaphern versuchen, durch den Bezug verschiedener Erkenntnisbereiche aufeinander etwas über einen Sachverhalt auszusagen, reduzieren Diagramme den Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang, den sie vergegenwärtigen, auf wesentliche Grundzüge. 86 | Ein Diagrammbegriff, der auf dieser Facette der Peirce’schen Theorie basiert, findet sich bei Gilles Deleuze. Weiterführende Bemerkungen finden sich daher im entsprechenden Abschnitt.

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D IAGRAMMATIK Sie liefern dem Betrachter Aufschluss über die Elemente und Strukturen, Relationen und Proportionen, die einen Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang auszeichnen. Diagramme verwandeln somit eine Betrachtung in eine Beobachtung und schärfen den analytischen Blick. Dieses Prinzip diagrammatischer Veranschaulichung ist überall am Werk, wo Sachverhalte oder Ereigniszusammenhänge auf ein relationales Gefüge von Elementen reduziert werden. Unter medientheoretischen Vorzeichen ist es eine Stärke der diagrammatischen Veranschaulichungsverfahren, dass sie häufig den Zeigegestus des Bildes mit dem Rechenmodus der Zahl sowie mit dem Bezeichnungsprinzip der Sprache verbinden,87 also weniger eine synästhetische als vielmehr eine intermedial bedingte, ›ästhetikologische‹ Leistung vollbringen. Ein Kuchendiagramm beispielsweise, das die Verteilung von Wählerstimmen vor Augen führt, ist eine anschauliche Gestalt, deren Umkreis jene 100 Prozent symbolisiert, die sich aus der Aufrechnung der Stimmenanteile ergeben muss, die auf bestimmte Parteien entfallen sind. Man kann die Verhältnisse auf einen Blick übersehen, einschließlich der Zuordnung von Parteinamen und Zahlenangaben. Für den Informationswert eines materiell realisierten Diagramms ist im Unterschied etwa zu einer Zeitungsmeldung, die die gleichen Wahlergebnisse referiert, entscheidend, dass es als eine Figur im Raum in Erscheinung tritt, die genau die Proportionen besitzt, die auch seinen Bezugsgegenstand kennzeichnen. Peirce interessiert daran nun vor allem eines: Aus den Verhältnissen, die ein solches Schaubild offenbart, kann man Schlussfolgerungen ableiten (welche Parteien aufgrund ihrer Stimmenanteile in der Lage sind, eine Mehrheitskoalition zu bilden etc.). Diese Eigenart von Diagrammen schließt die Möglichkeit zur praktischen Rekonfiguration der im Diagramm dargestellten Relationen ein. Diagramme lassen sich abwandeln, um weitere Schlussfolgerungen anzustoßen. Das macht bei einem Kuchendiagramm, das lediglich die Ergebnisse einer Wahl darstellt, relativ wenig Sinn. Wichtig wird es aber bei einem Grundriss, der die Aufteilung von Wänden, Türen, Fenstern und Zimmern in einem Gebäude zu erkennen gibt. Ein solcher Grundriss erlaubt es, Baumaßnahmen am Grundriss zu planen. Die Planungen werden schnell zu Skizzen und führen über die Skizzen zu einem neuen Grundriss. Das Diagramm wird zum Medium eines sowohl anschaulichen als auch schlussfolgernden Denkens, das sich in der gedanklichen Variation der vom Diagramm aufgezeigten Elemente, Relationen und Proportionen vollzieht. Das Denken interagiert im Diagramm mit einem Medium, das nicht nur betrachtet, sondern handgreiflich manipuliert und geprüft werden kann. Die Diagrammatik gewinnt ihre kultur- und medienwissenschaftliche Gestalt also dort, wo Medien die Spielräume der verschiedenen Zeichenkon87 | Man kann hier von einem ›Logos‹ des Bildes, der Zahl und der Sprache sprechen. Vgl. Boehm: »Jenseits der Sprache?«, S. 39ff.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK figurationen als Handlungs- und Operationsräume strukturieren – dort also, wo Medien dem anschaulichen und schlussfolgernden Denken auf die Sprünge helfen und insofern heuristische Funktionen erfüllen. Die für die Diagrammatik typische, mediengestützte Interaktion von Gehirn, Auge, Hand und Schaubild kennzeichnet einen wichtigen Teil der kultur- und medienwissenschaftlichen Erforschung der Diagrammatik. Mit Peirce gilt es nicht nur, den spezifischen Wirkungszusammenhang von Zeichen und Medien genauer zu untersuchen und dabei zu berücksichtigen, dass es sehr viele Zeichengefüge in sehr vielen verschiedenen Medien gibt, die das anschauliche Denken beflügeln. Es gilt vor allem das heuristische Potenzial der Diagramme und den Bereich der diagrammatischen Schlussfolgerungen (»diagrammatic reasoning«) zu untersuchen.88 Anstatt in Diagrammen also bloß Illustrationen von Informationen zu sehen, die sich umstandslos in eine Aussage übersetzen lassen, die aus symbolischen Zeichen besteht, muss man sie als heuristische Instrumente des Denkens verstehen, deren Funktion nicht von anderen Medienformaten übernommen werden kann. Mit Peirce kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass eine jede Zusammenstellung von Fakten oder Daten, aus deren Verhältnis sich bestimmte Schlussfolgerungen ableiten lassen, diagrammatische Schlussfolgerungen involviert. Es ist diese Erkenntnis, die Peirce zunächst bei der Betrachtung mathematischer Relationen und geometrischer Figuren aufging: »The first things I found out were that all mathematical reasoning is diagrammatic and that all necessary reasoning is mathematical reasoning, no matter how simple it may be. […] This was a discovery of no little importance, showing, as it does, that all knowledge without exception comes from observation.« 89

Die Erkenntnis, dass alles Wissen auf Beobachtung beruht und dass ein Denken, das zur Hauptsache aus den diagrammatischen Operationen der Kon- und Rekonfiguration von Sachverhalten und Ereigniszusammenhängen besteht, eine Sonderform der Beobachtung darstellt, hängt natürlich eng mit der Vorstellung zusammen, dass evidente Darstellungen gewisse Schlussfolgerungen zulassen. In einer längeren Passage erklärt Peirce, was er unter Evidenz versteht, inwiefern sie mit notwendigen Folgerungen einhergeht, und warum Evidenz durch ikonische Zeichen vermittelt werden kann: 88 | Hieran schließt auch die kognitionswissenschaftliche Forschung an. Vgl. die umfangreichen Sammelbände Anderson/Meyer/Olivier (Hg.): Diagrammatic Representation and Reasoning, Chandrasekaran u.a. (Hg.): Diagrammatic reasoning, Hegarty/Meyer/Narayanan (Hg.): Diagrammatic representation and inference, und die anderen, ähnlich gelagerten Publikationen der American Association for Artificial Intelligence. Vgl. auch die Beiträge in Blackwell (Hg.): Thinking with Diagrams sowie den guten Überblick bei Blackwell: »Diagrams about Thoughts«. 89 | Peirce: »Logic, Regarded As Semiotic«, S. 91f.

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D IAGRAMMATIK »Now necessary reasoning makes its conclusion evident. What is ›Evidence‹? It consists in the fact that the truth of the conclusion is perceived, in all its generality, and in the generality the how and why of the truth is perceived. What sort of a Sign can communicate this Evidence? No Index, surely, can it be; since it is by brute force that the Index thrusts its Object into the Field of Interpretation, the consciousness, as if disdaining gentle ›evidence‹. No Symbol can do more than apply a ›rule of Thumb‹ resting as it does entirely on Habit (including under the term natural disposition); and a Habit is no evidence. I suppose it would be the general opinion of logicians, as it certainly was long mine, that the Syllogism is a Symbol, because of its Generality. But there is an inaccurate analysis and confusion of thought at the bottom of the view; for so understood it would fail to furnish Evidence. It is true that ordinary Icons, – the only class of Signs that remains for necessary inferences, – merely suggest the possibility of that which they represent, being percepts minus the insistency and percussivity of percepts.« 90

Wenn Peirce davon spricht, dass ikonische Zeichen Evidenz erzeugen, gleichwohl aber nur die Möglichkeit der Sachverhalte oder Ereigniszusammenhänge bezeugen, die sie vor Augen führen, so will er damit sagen, dass die in einem Diagramm dargelegten Verhältnisse zwar nur bestimmte Schlussfolgerungen zulassen und insofern gewiss sind, diese theoretische Gewissheit aber nicht mit der zu verwechseln ist, die sich erst ergibt, wenn man die diagrammatische Konfiguration pragmatisch in der Wirklichkeit wieder entdecken kann. In diesem Sinne offenbart der Blick auf die Straßenkarte einer Stadt, wie man dort vom Bahnhof zum Flughafen gelangen kann. Ob die Verkehrswege, die auf der Karte verzeichnet sind, den realen Gegebenheiten tatsächlich entsprechen, kann man praktisch nur vor Ort überprüfen, falls es die Stadt überhaupt gibt. Gleichwohl lässt die Karte, so wie sich die Dinge in der schematischen Ansicht, die sie von den örtlichen Gegebenheiten liefert, nur bestimmte Schlussfolgerungen zu. Wenn der Bahnhof nördlich vom Flughafen liegt, folgt daraus zwingend, dass man sich in Richtung Süden auf den Weg machen muss, wenn man mit dem Zug angekommen ist und den Anschlussflug erreichen will. In diesem Sinne zeigt das Diagramm der Verkehrswege auf einen Blick, wie die Verhältnisse beschaffen sind; in diesem Sinne ist das Schaubild evident und in diesem Sinne ist auch die folgende Bemerkung von Peirce zu verstehen: »It is therefore, a very extraordinary feature of Diagrams that they show, – as literally a Percept shows the Perceptual Judgment to be true, – that a consequence does follow, and more marvelous yet, that it would follow under all varieties of circumstances accompanying the premisses.« 91

90 | Peirce: New Elements of Mathematics, Bd. IV, S. 318. 91 | Peirce: New Elements of Mathematics, Bd. IV, S. 317.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Das besagt: Nur wenn die Prämissen falsch sind – und der Bahnhof zum Beispiel keineswegs im Norden, sondern im Osten des Flughafens liegt oder die Stadt, die auf der Karte verzeichnet ist, gar nicht existiert – führt der Stadtplan in die Irre. In sich ist er jedoch schlüssig verfasst, soll heißen: Er zeigt, was aus ihm abgeleitet werden kann. Diagramme machen somit einen speziellen Gebrauch von einer Eigenart ikonischer Zeichen, die Peirce folgendermaßen beschreibt: »An Icon is a sign which refers to the Object that it denotes merely by virtue of characteristics of its own, and which it possesses, just the same, whether any such Object actually exists or not.«92 Der amerikanische Philosoph Nelson Goodman hat diese Art der Bezugnahme Exemplifikation genannt. Exemplifikation ist nach Goodman Referenz plus Besitz, also der Verweis auf etwas anderes als das Zeichen bei gleichzeitiger Ausstellung von Strukturmerkmalen des Referenzobjektes durch das Zeichen.93 Hat man dieses Wechselspiel von Evidenz, Referenz und Inferenz der ikonischen Zeichen begriffen, ist auch der Gedanke nachzuvollziehen, dass man etwas Neues über die Welt herausfinden kann, indem man diagrammatische Schaubilder umgestaltet und dann untersucht, inwiefern diese Rekonfiguration der Elemente, Relationen und Proportionen pragmatisch mit der Wirklichkeit zu vereinbaren ist. Man kann daher sagen, dass die Diagrammatik nicht zuletzt eine Grammatik der Gedankenexperimente ist, bei der es, wie bei allen Experimenten, auf die systematische Variation der Versuchsanlage und das Überprüfen der praktischen Auswirkung dieser Variation ankommt. Festzuhalten ist also: Die Diagrammatik ist eine kulturell in verschiedenen Existenzweisen manifestierte Form der Wechselwirkung zwischen der Wahrnehmung einer Zeichenkonfiguration, dem Denken in einer Zeichenkonfiguration und dem Handeln mit einer Zeichenkonfiguration. Als kulturelle Praxis ist die Diagrammatik eine Form des anschaulichen Denkens mit Zeichenkonfigurationen. Mit dem Konzept der Diagrammatik geht es Peirce um ein anschauliches Denken, in dem aus der ästhetischen Form einer Zeichenkonfiguration logische Schlussfolgerungen mit praktischer Relevanz abgeleitet werden.

II. Die Wurzeln der Diagrammatik im Kant’schen Schematismus Ideengeschichtlich lässt sich die Diagrammatik in eine Genealogie von vergleichbaren Überlegungen zum anschaulichen Denken einordnen. Die transversale Verfassung dieses Konzepts findet schon in der Antike historische Vorbilder. Für das Peirce’sche Konzept der Diagrammatik ist die entscheidende Referenz dabei die Kritik, die Peirce an Kants Erkenntnis- und Vermögenslehre geübt hat. Peirce verfolgt die These, dass Kant 92 | Peirce: The Essential Peirce, Bd 2, S. 291. 93 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 59ff.

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D IAGRAMMATIK die Rolle der praktischen Evidenz unterschätzt und die Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, Anschauung und Begriff, Beobachtung und Folgerung übertrieben habe. Der Ansatzpunkt von Peirce ist dementsprechend das Vermittlungsgeschehen zwischen diesen Instanzen. Bei Kant knüpft sich dieses Vermittlungsgeschehen an den Begriff des Schemas. Peirce jedoch meinte: »[…] he [Kant, MB/CE] drew too hard a line between the operations of observation and of ratiocination. He allows himself to fall into the habit of thinking that the latter only begins after the former is complete; and wholly fails to see that even the simplest syllogistic conclusion can only be drawn by observing the relations of the term in the premises and conclusion. His doctrine of the schemata can only have been an afterthought, an addition to his system after it was substantially complete. For if the schemata had been considered early enough, they would have overgrown his whole work.« 94

Konstruktiv ist diese Kritik von Peirce an Kant insofern gewesen, als sie Peirce dazu veranlasst hat, das Verhältnis von Beobachtung (observation) und schlussfolgerndem Denken (ratiocination) zu überdenken und am Leitfaden des Schemas eine neue Auffassung des Zeichens zu entwickeln.95 Um dies zu verstehen, ist es notwendig, sich mit dem Problem zu befassen, das Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft lösen wollte. Als Frage formuliert, lautet dieses Problem: Wie sind synthetische Urteile a priori, das heißt vor aller Erfahrung möglich? Die Antwort, die Kant auf diese Frage gibt, läuft auf die Annahme von Kategorien hinaus, die zugleich vernünftig und geeignet sind, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen so zu ordnen, dass sie verständlich werden. Dazu müssen nicht nur die aus der Erfahrung abgeleiteten Begriffe, sondern auch die reinen Verstandesbegriffe, die vor aller Erfahrung gültig sein sollen, auf Gegenstände bezogen werden. Diese Bezugnahme funktioniert aber nur, wenn zwischen den Begriffen und den Gegenständen Vorstellungen vermitteln. Schwierig wird dies immer dann, wenn die Vorstellung des Gegenstandes keine Ähnlichkeit – Kant spricht von ›Gleichartigkeit‹ – mit den Begriffen aufweist. In diesen Fällen muss die Einbildungskraft Schemata entwickeln, die den Hiatus von Kategorie und Empirie überbrücken. Tatsächlich kann man zum Beispiel, um zunächst bei den empirischen Begriffen zu bleiben, den Begriff des Hundes auf zahlreiche Lebewesen anwenden, die sich in ihrem realen Vorkommen in vielerlei 94 | Peirce: Collected Papers, 1.35. Vgl. auch Stjernfelt: »Die Vermittlung zwischen Anschauung und Denken«. 95 | Vgl. Stjernfelt: Diagrammatology, S. 82: »Diagrams are Peirce’s heirs to Kant’s schemata; they make possible the inferring of synthetic a priori propositions, or, in Peirce’s terms, they make it possible to infer iconically about general matters.«

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Hinsicht unterscheiden. Es ist daher nahe liegend anzunehmen, dass es irgendein Verfahren gibt, das zwischen der Vielfalt der konkreten, jeweils besonderen Erscheinungen einerseits und dem allgemeinen Begriff andererseits vermittelt, indem es an den Erscheinungen die Grundzüge hervorhebt, die von kategorialer Bedeutung sind. Geht man nun davon aus, dass diese Grundzüge eine abstrakte, schematische Figur ergeben und dass die Vorstellung einer solchen Figur zwischen dem Begriff und den Erscheinungen in ihrer Mannigfaltigkeit vermittelt, kann man festhalten, dass alles Verstehen auf Vorstellungen und damit auf die Mitwirkung der Einbildungskraft angewiesen ist. Indem die Einbildungskraft Vorstellungen entwickelt, die dem Begriff zur Anschauung verhelfen und umgekehrt die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen auf jene Grundzüge verdichtet, die von kategorialer Bedeutung sind, hängt es wesentlich von ihr ab, ob sich das Denken sinnvoll auf Gegenstände beziehen lässt und ob sich konkrete Erscheinungen abstrakten Begriffen subsumieren lassen. Man muss also von einer zweistelligen Relation, die dem Verstand einfach die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen entgegensetzt, zu einer dreistelligen Relation übergehen und die Vermittlerrolle der Einbildungskraft anerkennen. Unter dieser Voraussetzung wird jede schematische Vorstellung für den Verstand zu einem Zeichen der Gegenstände – und das kann eigentlich auch gar nicht anders sein, weil sich der Verstand ja nicht mit den Gegenständen selbst, sondern nur mit den Vorstellungen, die sie auslösen, zu beschäftigen vermag. Wenn Menschen an Hunde denken, haben sie nicht etwa Hunde, sondern lediglich Vorstellungen von Hunden im Kopf. Analog verhält es sich mit der begrifflichen Ordnung der Erscheinungen: Auch sie ist letztlich eine Vorstellung, also nicht in den Gegenständen selbst, sondern in dem Bild enthalten, das sich der Verstand vom Verhältnis der Dinge zueinander macht. Sobald es um Verhältnisse geht, die im Geiste vor Augen geführt werden, vollzieht man jedoch einen Denkprozess, der diagrammatisch strukturiert ist. Betrachtet man das kurze Kapitel »Vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe«, das Kants Kritik der reinen Vernunft enthält,96 aus dem Blickwinkel der Semiotik, kann man deshalb sagen, dass es (a) einen engen Zusammenhang zwischen Schema und Zeichen gibt, insofern es in beiden Fällen auf die Vorstellungen ankommt, die zwischen Gegenstand und Begriff, Wahrnehmung und Verstand vermitteln; (b) kann man feststellen, dass eben jenes Verfahren der Einbildungskraft, das Kant als Schematismus bezeichnet, aus diagrammatischen Operationen besteht. Im Ergebnis führt dies (c) zu der Idee, dass im Grunde alle Zeichen, insofern sie Bezugsverhältnisse zwischen Gegenständen, Vorstellungen und Begriffen schaffen, als mentale Diagramme betrachtet werden können, die sich kreativ abwandeln lassen. Vor allem diese dritte Implikation bedarf der Erläuterung. Dabei kann 96 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 196-205 = A137-148; B 176-187.

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D IAGRAMMATIK man von der Erkenntnis ausgehen, dass ein Begriff nur dann auf einen Gegenstand angewendet werden kann, wenn ihm eine bestimmte Vorstellung entspricht. Kant drückt diesen Gedanken so aus: »In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letzteren gleichartig sein, d. i. der Begriff muß dasjenige enthalten, was in dem darunter zu subsumierenden Gegenstande vorgestellt wird, denn das bedeutet eben der Ausdruck: ein Gegenstand sei unter einem Begriffe enthalten. So hat der empirische Begriff eines Tellers mit dem reinen geometrischen eines Zirkels Gleichartigkeit, indem die Rundung, die in dem ersteren gedacht wird, sich im letzteren anschauen läßt.« 97

Es ist also die Rundheit, die den konkreten Teller mit der abstrakten Figur des Zirkels verbindet. In gewisser Weise impliziert diese Sicht der Dinge die Vorstellung eines Verfahrens, durch das man runde Figuren herstellen kann, nämlich mittels eines Zirkels, der kreisförmige Gebilde erzeugt, die als schematische Zeichnungen eines Tellers angesehen werden können. Diese Implikation gilt es im Auge zu behalten, wenn Kant auf die Schwierigkeit kommt, reine Verstandesbegriffe zu veranschaulichen, da ihnen in der Erfahrung nichts Gleichartiges entspricht. Kant räumt diese Schwierigkeit ohne Umschweife ein: »Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die ersteren, mithin die Anwendung der Kategorie auf die Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, zum Beispiel die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschaut werden und sei in der Erscheinung enthalten?« 98

Die Frage, die Kant damit stellt, ist von elementarer Bedeutung. Von ihrer Beantwortung hängt die Funktionstüchtigkeit seiner Erkenntnistheorie, insbesondere die Doktrin der Urteilskraft ab, die entscheiden muss, ob ein Gegenstand unter einen bestimmten Begriff fällt oder nicht. Denn dies kann der Urteilskraft, wenn es um reine Verstandesbegriffe geht, nur gelingen, wenn die Kategorie und das, worauf sie angewendet werden soll, trotz ihrer Ungleichartigkeit irgendwie vergleichbar werden. Kant hat daher keinen Zweifel, »daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß, und die Anwendung der ersteren auf die letztere möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein

97 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 196f. 98 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 197.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich sein. Eine solche ist das transzendentale Schema.« 99

Transzendental ist das Schema, weil es die Bedingung der Möglichkeit darstellt, reine Verstandesbegriffe auf Gegenstände zu beziehen, deren Vorstellung nicht unmittelbar einer bestimmen Kategorie zu subsumieren ist. Wenn man zum Beispiel auf ein Thermometer blickt und erkennt, dass die Quecksilbersäule an der Zahlenskala bis zur Marke von 21° Celsius gestiegen ist, hat man es mit der Anzeige eines bestimmten Erwärmungszustandes zu tun. Diese Erkenntnis ist aber keineswegs die Erklärung, warum man den Stand der Quecksilbersäule indexikalisch verstehen und als Temperaturanzeige interpretieren darf. Eine solche Erklärung involviert die Kategorie der Kausalität, die selbst nicht auf dem Thermometer angezeigt wird und auch sonst nirgends abzulesen ist. Ihre Anwendung bedarf vielmehr einer Reihe vermittelnder Vorstellungen, die Rückschlüsse auf den Zusammenhang von Wärme und Quecksilberausdehnung, Zahlenskala und Temperaturmessung erlauben. In diesem Sinne bilden die Vorstellungen ein ikonisches Ableitungsschema, das als Schlussregel aufgefasst werden kann: Immer wenn sich die Atmosphäre erwärmt, dehnt sich Quecksilber dergestalt aus, dass es – eingezwängt in die Hohlform der Glassäule – an der Zahlenskala des Thermometers so nach oben steigt, dass der Temperaturanstieg mit einem Blick abgelesen werden kann. Dieses Ableitungsschema ist einerseits konkreter als die abstrakte Kategorie der Kausalität, andererseits jedoch in seiner Sensualität und Materialität der Wahrnehmung gegenüber sehr reduziert, weil auf die Möglichkeiten der Vorstellung restringiert. Die Vorstellungskraft erzeugt ja nicht wirklich Gegenstände, sondern sie verschafft, mit Kant gesprochen, dem Begriff bloß jene Art von ›Bildern‹, die vor dem geistigen Auge stehen, schematische Ansichten eben. Jeder Mensch, der über Lektüreerfahrungen verfügt, kann sich diesen Unterschied von sinnlicher Wahrnehmung und schematischer Vorstellung leicht vergegenwärtigen. Wenn in einem Buch ein Schiff beschrieben wird, steht uns nicht ein konkretes Objekt der sinnlichen Wahrnehmung, sondern ein Schema vor Augen, das wir anhand der Informationen, die uns der Text liefert, mehr oder weniger plastisch ausmalen, wobei natürlich auch Erinnerungsmomente ins Spiel kommen, die sich anderen Erfahrungen verdanken. Wie immer das literarisch evozierte Schiff im Einzelnen ›aussehen‹ mag, eines ist klar: »Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft; aber«, fügt Kant hinzu, »indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden.«100

99 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 197. 100 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 199.

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D IAGRAMMATIK Das klingt kompliziert, wird von Kant jedoch sogleich an einem Fallbeispiel erläutert, das gleichsam als Probe auf das Exempel dient: »[…] wenn ich fünf Punkte hintereinander setze, . . . . . ist dieses ein Bild von der Zahl fünf. Dagegen, wenn ich eine Zahl überhaupt nur denke, die nun fünf oder hundert sein kann, so ist dieses Denken mehr die Vorstellung einer Methode, einem gewissen Begriffe gemäß eine Menge (z. E. tausend) in einem Bilde vorzustellen, als dieses Bild selbst, welches ich im letzteren Falle schwerlich würde übersehen und mit dem Begriff vergleichen können. Diese Vorstellung nun von einem allgemeinen Verfahren der Einbildungskraft, einem Begriff sein Bild zu verschaffen, nenne ich das Schema zu diesem Begriffe.«101

Aufschlussreich ist diese Erläuterung zum einen, weil Kant mit den fünf Punkten die spezifischen Möglichkeiten der Schriftbildlichkeit (Sybille Krämer) nutzt, um seinen Lesern einen bestimmten Sachverhalt vor Augen zu führen. Der Text wird so zu einem Anschauungsraum, der sich der mündlichen Rede verschließt. Man kann sich leicht ähnliche Fälle denken: Ein Architekt wird seinem Bauherren nicht umständlich in Worten darlegen, wie er sich die Anlage der Zimmer, Türen und Fenster denkt, sondern einen Grundriss zeichnen, der diese Anlage auf einen Blick zu erkennen gibt. Auf den Umstand, dass ein solcher Grundriss mitunter auch die Schwachstellen einer Planung offenbart und gegebenenfalls sogar erkennen lässt, wie das Gebäude optimiert werden kann, wird noch zurückzukommen sein. Im Augenblick geht es allein um die Unterscheidung zwischen dem Bild, das die fünf Punkte darstellen, und dem Verfahren einer Veranschaulichung, das man sich lediglich vorzustellen vermag. Zwar könnte man auch tausend Punkte auf ein Blatt Papier malen, um sich ein Bild von der Zahl tausend zu machen, besonders ökonomisch wäre das aber sicher nicht – und auch nicht notwendig. Denn offenbar kommt es nicht auf die exakte Übereinstimmung, sondern auf die prinzipielle Gleichartigkeit der Methode an. Die bloße Vorstellung davon, was es bedeuten würde, tausend Punkte malen zu müssen, genügt, um dem Begriff der großen Zahl zu einer gewissen Anschaulichkeit zu verhelfen. Das heißt: Die Vorstellung erspart die umständliche Ausführung der Methode und ist doch hinreichend für das (diskursive) Denken, das beständig hin- und herläuft zwischen Begriff, Vorstellung und Anschauung. Der Witz der Schemabildung liegt folglich gerade darin, dass sie elliptisch verfährt. Indem sie zahlreiche Details ausspart und den Blick auf die Grundzüge der Sache lenkt, hebt sie das Regelmäßige bzw. das regelmäßig Wiederkehrende und insofern Gleichartige in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen hervor. Und genau auf diese ›Komplexitätsreduktion‹ durch das Schema kam es Kant an:

101 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 199.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK »Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklige usw. gilt, sondern immer nur auf einen Teil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existieren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft, in Ansehung reiner Gestalten im Raume.«102

Wer diese Regel der Schemabildung verstanden hat, kann die Kluft zwischen den Erscheinungen in ihrer Mannigfaltigkeit und den Verstandesbegriffen überbrücken. Er muss sich nicht mit jedem Ding einzeln, Punkt für Punkt, auseinandersetzen, sondern nur noch mit dem Muster, das sie verbindet. Das gilt, wie Kant ausführt, auch für empirische Begriffe: »Der Begriff vom Hunde bedeutet eine Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vierfüßigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgendeine einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann, eingeschränkt zu sein.«103

Von zentraler Bedeutung ist an dieser Stelle das Verb ›ver-zeichnen‹. Es weckt zunächst sehr konkrete Vorstellungen, die an körperliche Verrichtungen und handwerkliche Fertigkeiten gekoppelt sind. Die Tätigkeit der Vorstellung selbst wird somit nach dem Schema der Zeichnung ausgelegt. Darüber hinaus macht das Präfix deutlich, dass es bei der auf ihre Grundzüge reduzierten Gestalt des Hundes gerade nicht um die 1:1-Entsprechung mit irgendeinem Exemplar (oder gar mit allen Exemplaren) der Gattung gehen kann. Bei einer diagrammatisch erzeugten Form der Ähnlichkeit kommt es demnach nicht etwa auf die photographisch exakte Wiedergabe, sondern auf den kartographischen Akt an, der zwar (maßstabsgerecht) ›ver-zeichnet‹, was empirisch gegeben ist, dabei aber nur die Grundzüge herausstellt und von allen anderen Einzelheiten absieht. Die kognitive Karte der Lebewesen, in der Hunde als vierfüßige Gestalten registriert sind, ist eine Abstraktion, die Überblick verschafft. Überblick aber ist schon die halbe Ordnung. Insofern die Schemata einerseits die Dinge den Kategorien und diese andererseits den Gegenständen anpassen, sind vor allem sie es, die dafür sorgen, dass man die Welt, wie sie an sich sein mag, von dem Weltbild unterscheiden muss, das wir im Kopf haben und das seinerseits zum Gegenstand der zwischenmenschlichen Verständigung wird. Das ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Nur weil das Denken von den Erscheinungen abstrahiert, ist es den Menschen möglich, sich nicht nur über diesen 102 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 199. 103 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 200.

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D IAGRAMMATIK oder jenen Hund, sondern eben auch über die Gattung ›Hund‹ zu verständigen. Es macht also Sinn, jene Schemata, die sich auf empirische Gegenstände beziehen, von den transzendentalen Schemata abzuheben, die sich auf reine Verstandesbegriffe beziehen. Empirische Schemata sind Figuren, die dem äußeren Sinn, der Anschauungsform des Raumes, unterworfen sind; transzendentale Schemata sind Operationen, die auf den inneren Sinn, also auf die Anschauungsform der Zeit, angewiesen sind. Das Schema des Hundes steht uns sozusagen als Gestalt, als abstrakte Figur vor Augen, während die Kategorie der Kausalität anhand von Vorstellungen anschaulich wird, die nach der Regel von Ursache und Wirkung gebildet werden und den inneren Sinn der Zeit ins Spiel bringen. Statt von Figur spricht Kant auch von ›Bild‹ und erklärt: »[…] das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur vermittels des Schema(s), welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig kongruieren. Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffes etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann, sondern ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen ihrer Form, (der Zeit) in Ansehung aller Vorstellungen betrifft, sofern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollen.«104

Mit anderen Worten: Das Denken bewegt sich in einem Anschauungsraum, der von der bildlichen Vorstellung empirischer Gegenstände über schematische Ansichten bis zu der Bildung von Regeln reicht, die nicht mehr durch Bilder zu erfassen sind. Am deutlichsten zeigt sich das an Phänomenen der Verräumlichung der Zeit. Das Zifferblatt einer Uhr, auf der die Zahlen in einem Kreis angeordnet sind, den zwei Zeiger unaufhörlich in stets derselben Richtung abschreiten, versinnbildlicht den regelmäßigen Ablauf von Minuten, Stunden und Tagen. Um zu erkennen, dass sich dieser Ablauf auf die immer gleiche Art und Weise wiederholt, muss man den Blick auf die Uhr allerdings mit Beobachtungsdaten verbinden, die sich nicht der Wahrnehmung der Zeigerbewegung verdanken. Ganz und gar unmöglich ist es jedoch, die verändernde Wirkung der Zeit am Zifferblatt einer Uhr ablesen zu wollen. Das Bewusstsein dieser Wirkung kann auch nicht einfach auf andere Beobachtungsdaten zurückgeführt werden. Zwar bemerkt man sehr 104 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 200.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK wohl, dass ein Baum im Verlauf des Jahres seine Blätter verliert, genau genommen sieht man den Baum aber immer nur zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand. Das Bemerken der Veränderung setzt das Schema eines zeitlichen Zusammenhangs voraus, das zu der Wahrnehmung einerseits hinzugedacht werden muss, andererseits mit ihr aber nur vermittelt werden kann, wenn es selbst der Veranschaulichung durch vermittelnde Vorstellungen zugänglich ist, die immer wieder nach dem gleichen Muster (oder Schema) gebildet werden können. Von welch zentraler Rolle das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Einbildungskraft ist, kann man, wenn schon von der Verräumlichung der Zeit die Rede ist, gerade an der Kunst des Spielfilms ermessen. Auf seine materiellen Eigenschaften reduziert, besteht der Film eigentlich nur aus einzelnen Momentaufnahmen. Um als Darstellung einer folgerichtigen Handlung aufgefasst zu werden, bedarf er der fortlaufenden Verknüpfung mit Vorstellungen, die das Angeschaute zum Beispiel auf die Kategorie der Kausalität beziehen. Die medientechnische Errungenschaft, die es möglich macht, der Veränderung eines Baumes im Zeitraffer zuzusehen, erweitert daher zwar den Anschauungsraum des Menschen, vermittelt aber nur dann eine Idee der Zeit als Verwandlungskraft, wenn man den Film auf den Begriff der Kraft bzw. der Kraftentfaltung bezieht, die in der Bewegung zum Ausdruck kommt. Eine solche Bezugnahme kann freilich nur im Kopf des Betrachters erfolgen, weil sie die Bildung von Vorstellungen oder Vorstellungsreihen erfordert, die sich dem Objektiv der Kamera entziehen. Das Wechselspiel von Aufnahme und Schnitt, Montage und Projektion, das in der Filmvorführung zur Anschauung gelangt, ist ein Mechanismus, der die Auffassungsakte des Zuschauers dergestalt lenkt, dass gewisse Gedankenbahnen gleichsam ›vorgespurt‹ werden. Dieser Spur zu folgen, heißt aber keineswegs, dass es für den Zuschauer überhaupt keinen interpretativen Spielraum gibt. Die medienwissenschaftlich entscheidende Frage lautet daher, wie die Schnittstelle zwischen dem Schematismus der Bilderfolge und ihren dramaturgischen Funktionen einerseits und der Konjektur des Zuschauers andererseits gestaltet ist – einer Konjektur, in der es um die Verknüpfung der Bilder mit Verstandesbegriffen geht. Der Spielfilm ist, im doppelten Sinn des Wortes, zugeschnitten auf die Schemata der Handlung, die Kategorie der Fiktionalität usw. Er ist dabei aber auch restringiert durch die modalen und medialen Eigenarten der Kinematographie – also beispielsweise dadurch, dass es stets dem Zuschauer überlassen bleibt, von der Großaufnahme eines Gesichtes, das im Rahmen einer bestimmten Handlungssequenz als ›reaction shot‹ fungiert, auf den Gemütszustand der dramatischen Figur zu schließen. Hierzu sind vermittelnde Vorstellungen nötig, die der Film zwar stimulieren und regulieren, aber nicht determinieren kann. Deutlich wird somit, dass jede Veranschaulichung Rahmenbedingungen und Grenzen hat. Das war schon Kant bewusst:

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D IAGRAMMATIK »Es fällt aber auch in die Augen: daß, obgleich die Schemata der Sinnlichkeit die Kategorien allererst realisieren, sie doch selbige gleichwohl auch restringieren, d. i. auf Bedingungen einschränken, die außer dem Verstande liegen (nämlich in der Sinnlichkeit).«105

Kant spricht damit einen Punkt an, der nicht nur für die Semiotik, sondern auch für die Medienwissenschaft von elementarer Bedeutung ist – kann man doch von Zeichen sagen, dass sie Wahrnehmungsweisen und Denkarten schaffen, indem sie Sachverhalte oder Ereigniszusammenhänge so konfigurieren, dass Evidenz entsteht. Wie man sehen wird, lässt sich dieser Gesichtspunkt am Modell des Theaters veranschaulichen.

III. Die ästhetikologische Verfassung des Diagramms Sucht man nach einer Möglichkeit, die Problemhorizonte und Bezugspunkte der Diagrammatik innerhalb der Kultur- und Medienwissenschaften zu identifizieren, bietet es sich an, ihre Implikationen im Hinblick auf verschiedene Kernbereiche dieser Fächer auszuarbeiten. Einen Kernbereich der Kultur- und Medienwissenschaften bilden Fragen der Kunst und der Ästhetik.106 Das kommt einer Diskussion der Diagrammatik entgegen, da sie sehr grundsätzlich an ästhetische Fragestellungen anknüpft. Hilfreich ist wiederum der historische Blickwinkel, näherhin der Umstand, dass Peirce’ Auseinandersetzung mit Kant dadurch geprägt war, dass Peirce vor der Kritik der reinen Vernunft die Ästhetischen Briefe Friedrich Schillers gelesen hatte. In ihnen wies Schiller auf die Notwendigkeit einer Vermittlung jener beiden Triebe hin, die sich zur Sinnlichkeit respektive zur Verstandestätigkeit ausprägen: der auf das Bestimmte, das Besondere und Endliche bezogene sinnliche Trieb – und der auf das Unbestimmte, Allgemeine und Unendliche gerichtete formale Trieb. Bereits Schiller hatte das Augenmerk also auf die für alle Weltgestaltung und -erkenntnis zentrale Bedeutung der ›Vermittlung‹ gerichtet. Seine Sicht der Dinge knüpfte an die (mindestens) bis auf Aristoteles zurückgehende Vorstellung an, dass man in der Materie regelmäßig wieder105 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 204. 106 | Ein alternativer Zugang zu dieser Herangehensweise über ästhetische Implikationen der Diagrammatik könnte darin bestehen, konsequenter ihre logischen Aspekte herauszuarbeiten. Dieser Ansatz müsste dann aber auch eine Diskussion der »logischen Graphen« einschließen und würde aus dem Terrain der Kultur- und Medienwissenschaften in die Gebiete der Philosophie und Mathematik führen und dort eng mit der Diskussion um die geometrische Logik verbunden sein. Vgl. Allwein/Barwise: Logical Reasoning, Barwise/Hammer: »Diagrams«, Greaves: The Philosophical Status, Hoffmann: Erkenntnisentwicklung, Pietarinen: Signs of Logic, Shin: The Iconic Logic, in kleinerem Umfang aber auch in Aufsätzen wie Brown: »Illustration and Inference«, Johnson-Laird: »Peirce, Logic diagrams«.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK kehrende, einander ähnliche Formen entdecken könne, dabei aber umgekehrt auch sehen müsse, dass nur die Form, die in einem bestimmten Material verkörpert wird, Wirksamkeit entfaltet. Das gilt für die Gestaltungsidee eines Künstlers genauso wie für die abstrakten Kategorien und Prinzipien der Erkenntnislehre, die noch bei Kant unter dem Begriff der Metaphysik firmiert. Schiller hatte allerdings, im Unterschied zu Kant, weniger die Logik als vielmehr das Wechselspiel von Ethik und Ästhetik im Sinn, als er seine Ästhetischen Briefe schrieb: Indem der Dichter an Handlungen Werthaltungen veranschaulicht, wird das Theater seiner Auffassung nach zu einer moralischen Anstalt. Man kann diesen Gedanken diagrammatisch verstehen: Die Bühnenfiguren verkörpern ethische Positionen, die im Drama zur Disposition gestellt werden. Der konfliktträchtige Handlungsverlauf zeigt dann, welche Folgen bestimmte Einstellungen haben und steht, so gesehen, im Zeichen jener Bedeutungsermittlung, die Peirce später im Rahmen seiner berühmt gewordenen Pragmatischen Maxime auf eine eingängige Formel bringen sollte: »Consider what effects, which might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of object.«107 Wie eng diese Pragmatische Maxime mit dem Konzept der Diagrammatik verbunden ist, kann man sich exemplarisch am Modell des Theaters vor Augen führen. Wenn ein Drama inszeniert wird, stellen sich die Zuschauer auf die Situation und die Figurenkonstellation ein, die im ersten Akt exponiert wird. Die Abwandlung dieser Ausgangslage in den nachfolgenden Akten macht das Schauspiel für den Beobachter im Zuschauerraum zugleich zu einem Anschauungsmodell möglicher Handlungen und zu einem Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn bei dieser Ausgangslage diese oder jene Wendung eintreten würde? Wie würde ich mich verhalten, wenn mir das geschehen würde, was sich vor meinen Augen abspielt? Insofern zu Beginn der Handlung bestimmte Relationen zwischen den Figuren und ihren Positionen vorgeführt und dergestalt ein Machtund Beziehungsgefüge ausgestellt wird, kann man also sagen, dass die Exposition des Dramas eine Art Diagramm ist. Und indem dieses Diagramm im Verlauf der Handlung bestimmte Rekonfigurationen erfährt, ergeben sich gewisse Schlussfolgerungen im Sinne der Pragmatischen Maxime. Das gilt prinzipiell selbst dann, wenn die Möglichkeit einer sinnvollen Rekonfiguration grundsätzlich in Frage gestellt wird, wie es im absurden Drama geschieht. In diesem Fall ist eben die Iteration der Ausgangssituation auslegungsrelevant. Sieht man in dieser diagrammatischen Auffassung des Dramas den tieferen Grund dafür, dass die griechischen Begriffe des Theaters und der Theorie eine gemeinsame Etymologie haben, ist es nicht schwer zu begreifen, dass nicht nur Bühnenstücke, sondern eigentlich alle Kunstwerke 107 | Peirce: Collected Papers, 5.402.

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D IAGRAMMATIK eine display-Funktion realisieren: Kunstwerke zeigen nicht nur formal bestimmte Zusammenhänge und Relationen auf – sie spielen in aller Regel auch die Rekonfiguration dieser Zusammenhänge durch.108 Beide Bedeutungen sind in dem Verb ›to dis-play‹ enthalten: das Aufzeigen und das Durchspielen, das Vor-Augen-Führen und das Auseinander-Legen. In diesem Sinne besteht ein Schauspiel nicht nur deshalb aus Bildern, weil die einzelnen Szenen oder Akte zuweilen auch als ›Bilder‹ bezeichnet werden, sondern vor allem deshalb, weil die Szenen und Akte jeweils als Schaubilder von Zuständen bzw. Zustandsveränderungen aufgefasst werden können. Die folgerichtige Entwicklung dieser Zustände, die Aristoteles in seiner Poetik als ›mythus‹ bezeichnet,109 hat so gesehen nicht nur eine affektive, sondern vor allem eine kognitive Bedeutung. Sie ist ein Ableitungsschema für Empfindungen (katharsis) und Gedanken (mathesis). Von daher gibt es im Theater auch keine strikte Trennung zwischen der sinnlichen Wahrnehmung, der Beobachtung und der geistigen Tätigkeit des Überlegens, die zu Schlussfolgerungen führt. Das Theater erscheint gerade darin als ein Modell sowohl des theoretischen als auch des pragmatischen Denkens, als es ästhetikologisch verfasst ist und das Verstehen an das Anschauen bindet: Indem es mögliche Handlungen und deren denkbare Folgen vor Augen führt, rückt es Zusammenhänge in den Mittelpunkt der (öffentlichen) Aufmerksamkeit, die sonst gar nicht – oder jedenfalls nicht in dieser Deutlichkeit – zur Anschauung gelangen würden. Es geht also auch im Theater um die Herstellung von Evidenz und damit um jene ästhetikologische Qualität, von der zunächst das Beobachten und dann, a fortiori, das sowohl anschauliche als auch schlussfolgernde Denken abhängen.110 Tatsächlich kann man in der Entwicklung der modernen Semiotik bei Peirce auch den Versuch sehen, ausgehend von Gottfried Wilhelm Leibniz und Alexander Gottlieb Baumgarten den Erkenntnisprozess ästhetikologisch zu fundieren. Zu denjenigen, die zu dieser Rückkopplung von Sinnlichkeit und Verstand beigetragen haben, gehörte ausgerechnet ein Zeitgenosse jenes Kant, dem Peirce später vorwerfen sollte, Sinnlichkeit und Verstand zu sehr voneinander abgekoppelt zu haben. Gemeint ist der Mathematiker und Philosoph Johann Heinrich Lambert. In Bezug auf die Ästhetik stellt Lambert in seinen Schriften fest: »Ein Zeichen muß nämlich in die Sinnen fallen, hingegen muß die Sache, die es anzeigt, nicht zugleich mit in die Sinnen fallen […].«111 Damit 108 | Das gilt zumindest für die Tradition einer reflexionstheoretischen Bestimmung der Kunst, deren derzeit aktuelle Wendung sich in Niklas Luhmanns Systemtheorie findet: Kunst zeigt, auf Basis welcher Unterscheidungen Formen gebildet werden und stellt zugleich die Möglichkeit aus, dass andere Formen hätten gewählt werden können. Vgl. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. 109 | Aristoteles: Poetik, S. 29. 110 | Vgl. im Kontext auch Haß: Das Drama des Sehens. 111 | Lambert: Anlage zur Architectonic, § 651.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK wird die klassische Definition des Zeichens – aliquid stat pro aliquo – an eine ästhetische Differenz gekoppelt: Das aliquid muss in die Sinne fallen; das aliquo braucht lediglich – gemäß der Zeichengestalt – vorgestellt zu werden. In Bezug auf die Logik fügte Lambert aber noch hinzu: »Ein Zeichen ist überhaupt ein Principium cognoscendi und bezieht sich auf ein denkendes Wesen, welches sich die Verbindung zwischen dem Zeichen und der dadurch bedeuteten Sache wenigstens überhaupt vorstellet, um aus jenem auf dieses zu schließen.«112 Damit ist erstens klar, dass ein Zeichen vermittelnder Vorstellungen bedarf, um als Zeichen für eine Sache angesehen werden zu können, und zweitens deutlich ausgesprochen, dass dieser durch Vorstellungen vermittelte Gegenstandsbezug den Charakter einer Schlussfolgerung hat. Drittens schließlich weist Lambert auf einen weiteren wichtigen Punkt hin: »Im weitläufigsten Verstande kann man jedes Mittelglied einer Schlussrede als ein Zeichen ansehen.«113 Zum Zeichen werden dem Denken also nicht nur die Gegenstände der äußeren Wahrnehmung, sondern auch die Gegenstände der inneren Wahrnehmung, die man Vorstellungen nennt, insofern sie Schlussfolgerungen vermitteln. Damit hat bereits Lambert sehr klar den Umstand erkannt, der Peirce dazu veranlassen wird, die Vorstellungen, die zwischen Repräsentamen und Objekt, Wahrnehmung und Urteil, Beobachtung und Folgerung vermitteln, »Interpretanten« zu nennen. Die metaphysische (und anticartesianische) Pointe der Peirce’schen Semiotik, die im Konzept des Zeichens Ästhetik und Logik zusammenführt, liegt somit darin, dass sie die ontologische Differenz zwischen dem, was einem Menschen vor dem leiblichen, und dem, was ihm vor dem geistigen Auge steht, insofern aufhebt, als es im Hinblick auf die Zeichenfunktion relativ gleichgültig ist, ob die Vermittlung von einem Gegenstand der äußeren oder der inneren Wahrnehmung geleistet wird. Keineswegs also ist der Begriff des Zeichens auf intersubjektiv wahrnehmbare, materiale Objekte beschränkt. Zwar gilt, dass ein Zeichen nur insofern eine Wirkung als ›Principium cognoscendi‹ entfalten kann, als es in die Sinne fällt. Zu denken ist dabei aber neben den fünf Sinnen der Apperzeption auch an das sensorium commune der Imagination. Die beiden Anschauungsformen von Raum und Zeit umspannen sozusagen Innen- und Außenwelt mittels Vorstellungen, die nur in Ausnahmefällen Abbilder der Gegenstände, in der Regel jedoch diagrammatische Rekonfigurationen von Wahrnehmungsdaten und Erinnerungsmomenten, Medienformaten und Schemata darstellen. Für die Diagrammatik muss man also einerseits sehen, dass spezielle komplexe Zeichen Diagramme sind – andererseits aber auch begreifen, inwiefern Zeichen selbst diagrammatisch strukturiert sind bzw. diagrammatische Operationen auslösen. Jedenfalls besteht die eigentliche Vermittlungsleistung eines Zeichens darin, dass es Gegenstände und Vorstellungen in ein Ver112 | Lambert: Anlage zur Architectonic, § 678. 113 | Lambert: Anlage zur Architectonic, § 650.

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D IAGRAMMATIK hältnis rückt, aus dem sich Schlussfolgerungen ableiten lassen. Das wird in der folgenden, relationalen Definition des Zeichens von Peirce sehr schön deutlich: »A sign therefore is an object which is in relation to its object on the one hand and to an interpretant on the other in such a way as to bring the interpretant into a relation to the object corresponding to its own relation to the object.«114 Man kann diese funktionale Bestimmung des Zeichens so verstehen, dass sich die Vorstellungen, die ein Zeichen auslöst, gleichsam mimetisch zu der Art und Weise verhalten, in der das Zeichen den Gegenstand repräsentiert. Indem zum Beispiel die Blicke den Verbindungslinien zwischen den Elementen nachgehen, die ein Schaubild exponiert, gelangt das Denken auf bestimmte Bahnen und entwickelt Vorstellungen, die dem relationalen Gefüge des Diagramms korrespondieren. Das diskursive Denken beginnt in diesem Sinne buchstäblich als ein Hin- und Herlaufen, das der Augenbewegung folgt und im Zuge konjekturaler Erfassungsakte, also vermutender und verknüpfender Schlussfolgerungen, bestimmte Relationen bemerkt.115 Indem es in diesen Relationen ein Beziehungsmuster erkennt, entwickelt es aus der Beobachtung ein Ableitungsschema für Schlussfolgerungen, die sich in eine symbolische Aussage oder ein weiteres Diagramm übersetzen lassen. Ausschlaggebend für das Konzept der Diagrammatik ist, dass dieser Prozess zu einer ›Rekonfiguration‹ der Bezugsverhältnisse führen kann, die bei der Auslegung eines Zeichens zu Bewusstsein gelangen. Tatsächlich versucht Peirce mit seinem Konzept einer Diagrammatik diese Möglichkeit systematisch zu nutzen: »Der Zweck eines Diagramms soll es sein, gewisse Relationen in einer solchen Form darzustellen, dass es in eine andere Form umgebildet werden kann, die andere Relationen darstellt, die in den zuerst dargestellten schon enthalten waren, und dieses umgebildete Ikon kann von einer symbolischen Aussage interpretiert werden.«116

Zu bedenken ist dabei, dass Diagramme oft eine Konfiguration aus ikonischen, symbolischen und indexikalischen Anteilen sind. Peirce reflektiert diesen Umstand, wenn er das Diagramm als ein Repräsentamen definiert, »which is predominantly an icon of relations and is aided to be so by conventions. Indices are also more or less used. It should be carried out upon

114 | Peirce: Semiotics and Significs, Brief vom 12.10.1904. 115 | Vgl. Tolman: »Purposive Behaviour in Animal and Men«, S. 206. Dort heißt es über das Verfahren des »cognitive mapping«: »The function and use of such a sampling or running-back-and-forth behavior, i.e. conscious awareness, will be to enhance, reinforce, throw a spot of light upon, some section or area of an environmental field.« 116 | Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 3, S. 223.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK a perfectly consistent system of representation, founded upon a simple and easily intelligible basic idea.«117 Enthalten ist in dieser Definition des Diagramms die Erkenntnis, dass Schaubilder auf der einen Seite mehrdimensionale Zeichen-Konfigurationen und Medienformate sind, auf der anderen Seite aber eben immer auch eine Entwurfsregel: Das design des Diagramms soll so beschaffen sein, dass die schematischen Ansichten Einsichten vermitteln. Das gelingt vor allem dann, wenn die Darstellung eine einfache, aber grundlegende Vorstellung davon befördert, wie der Sachverhalt oder der Ereigniszusammenhang, um den es geht, von seinen inneren Struktur- und Funktionsprinzipien her betrachtet, beschaffen ist. Die Relevanz dieser Regel erhellt nicht zuletzt aus den vielen verunglückten Diagrammen, die entweder zu viel auf ein Mal zeigen wollen und entsprechend unübersichtlich wirken oder aber lediglich das ohnehin Offensichtliche veranschaulichen, also gleichermaßen banal wie obsolet sind.118 Beispiele für das design misslungener Diagramme bestätigen ex negativo, was Peirce von einem gelungenen Diagramm fordert: die Veranschaulichung von Grundzügen. Wenn man zum Beispiel eine Luftbildaufnahme von Berlin betrachtet, die mit der Straßenführung jede Häuserzeile, Baulücke usw. erfasst, so taugt diese detailgenaue Photographie weit schlechter zur Orientierung als ein Stadtplan, der sich auf die Hauptverkehrswege konzentriert, von ihrer Umbauung absieht und lediglich schematische Vorstellungen erzeugt. Es ist die ökonomische Zurichtung des Diagramms auf Zwecke der pragmatischen Information und Orientierung, die es beim design zu beachten gilt. Im Umkehrschluss folgt daraus allerdings auch, dass man nicht ohne Weiteres von einem Diagramm auf die Realität schließen kann, sondern dass das Diagramm immer nur eine möglichst konsistente Theorie der Realität enthält. Der berühmte Merksatz des Ingenieurs und Linguisten Alfred Korzybski – »The map is not the territory it represents, but, if correct, it has a similar structure to the territory which accounts for its usefulness«119 – gilt im Prinzip für alle diagrammatischen Darstellungen. Mehr noch: Da es möglich ist, fiktive Territorien zu kartographieren, die nur in der Vorstellung existieren – das Schlaraffenland, Thomas Morus »Utopia«, Robert Louis Stevensons »Treasure Island« u.a. – bieten selbst indexikalische Angaben nicht unbedingt eine Gewähr dafür, dass ein Schaubild empirisch fundiert ist. Das gilt schon für den Grundriss des Architekten, dem man nicht ansehen kann, ob der Entwurf, den er darstellt, tatsächlich ausgeführt worden ist oder nicht. Der Preis, den man für den heuristischen Mehrwert der Diagramme ›zahlen‹ muss, liegt somit in ihrer Indifferenz gegenüber der Unterscheidung von Fakt und Fiktion. 117 | Peirce: Collected Papers, 4.418. 118 | Gerhard Henschel hat solche Diagramme in einem amüsanten Buch mit dem Titel Die wirrsten Grafiken der Welt gesammelt. 119 | Korzybski: Science and Sanity, S. 58.

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D IAGRAMMATIK Positiv gewendet bedeutet dies, dass Diagramme – wie schon das Modell des Theaters demonstriert – nachhaltig zur Virtualisierung der Realität und damit zur Exploration von Handlungsoptionen beitragen können, die ohne sie womöglich gar nicht bemerkt würden. In dieser Hinsicht ist die Diagrammatik des anschaulichen und schlussfolgernden Denkens als Pendant zu dem von Robert Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften essayistisch erörterten Möglichkeitssinn zu sehen: Der Möglichkeitssinn des Menschen bezieht sich auf die kontingenten Aspekte der Realität, zielt also auf den Spielraum der Handlung ab, der in der Struktur der Wirklichkeit angelegt ist, aber nicht bemerkt wird, und unterscheidet sich darin von einem Realitätssinn, der bloß auf das Faktische achtet. Vor diesem Hintergrund ist die Verzahnung der Diagrammatik mit der Theorie des Schlussfolgerns zu sehen, die Peirce entworfen hat. Peirce vertritt, zugespitzt formuliert, die These, dass im Grunde alles schlussfolgernde Denken diagrammatisch verfasst sei. Dieser Gedanke enthält nichts weniger als die denkbar größte Verallgemeinerung des Diagrammatikkonzepts: die Idee nämlich, dass die ikonische Zeichenklasse des Diagramms ein metaphorisches Muster (und insofern selbst ein Diagramm) des schlussfolgernden Denkens sei. Doch wie kann man sich diesem schwierigen Gedanken nähern? Und welchen Nutzen kann man aus ihm ziehen?

IV. design, layout und display: Diagrammatisches Denken Eine Möglichkeit, diese Fragen nach einem »diagrammatischen Denken«120 zu beantworten, bietet die Verknüpfung der Diagrammatik mit der Abduktion. Indem Peirce den beiden traditionellen Formen des Schlussfolgerns – der Deduktion und der Induktion – eine dritte, die Abduktion, hinzufügt und ihr Zusammenspiel kybernetisch konzipiert, buchstabiert er die display-Funktion der Schaubilder wie des anschaulichen und schlussfolgernden Denkens aus. Bekanntermaßen schließt die Deduktion top down vom Allgemeinen auf das Einzelne und die Induktion bottom up vom Einzelnen auf das Allgemeine. Die Abduktion ist nun eine Schlussfolgerung, die von einem erklärungsbedürftigen Sachverhalt ausgeht und eine Hypothese hinsichtlich einer möglichen allgemeinen Erklärungsregel aufstellt: »Abduktion ist der Prozeß, eine erklärende Hypothese zu bilden. Es ist die einzige logische Operation, die irgendeine neue Idee einführt; denn Induktion determiniert nur einen Wert und Deduktion entwickelt nur die notwendigen Folgen aus einer reinen Hypothese. Deduktion beweist, daß etwas sein muß; Induktion zeigt, daß etwas tatsächlich wirkt; Abduktion legt nur nahe, daß etwas sein kann. Ihre einzige Rechtfertigung besteht darin, daß die Deduktion aus ihrer 120 | Vgl. May: »Diagrammatisches Denken«.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Vermutung eine Voraussage machen kann, die mit Hilfe der Induktion getestet werden kann und daß, wenn wir je etwas lernen oder Phänomene überhaupt verstehen können, dies nur durch Abduktion zustandegebracht werden kann.« 121

Eine andere Definition von Peirce betont ebenfalls die Unverzichtbarkeit der Abduktion, vor allem in solchen Fällen, in denen man sich einen Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang nicht mit Hilfe der Deduktion oder Induktion aufschlüsseln kann. »The surprising fact, C, is observed; but if A were true, C would be a matter of course. Hence, there is reason to suspect A is true.«122 Notwendig ist in diesen Fällen also das probeweise Aufstellen einer hypothetischen Erklärung, deren Implikationen dann wiederum deduktiv erfasst und einem induktiven Test ausgesetzt werden können. Dieses probeweise Aufstellen einer hypothetischen Erklärungsregel kennzeichnet im Kern auch das, was Peirce als »diagrammatic reasoning« bezeichnet.123 Die Schlüsselaussage hierzu findet sich in der sogenannten Carnegie-Application. Sie lautet: »By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a percept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same percept would have the same results, and expresses this in general terms.«124

Konzentriert man sich auf den zentralen Gedankengang, dann stellt sich das diagrammatische Schließen als ein Schlussprozess in drei Schritten dar: Basierend auf einer Wahrnehmung wird (a) durch die Ausarbeitung der Grundrelationen eines Wahrnehmungsinhaltes ein Diagramm entworfen. Dieses Diagramm wird (b) zum Gegenstand einer experimentellen Rekonfiguration, welche auf die Erörterung seiner generellen Regularitäten abzielt. Die Anwendung der so gewonnenen Einsicht erlaubt schließlich (c) den Vergleich mit dem Ursprungsdiagramm, was sowohl Auskunft über mögliche Bedeutungsdimensionen des Inhalts als auch über alternative Formen der Darstellung gibt. Als solche Operation ist das diagrammatische Schließen offensichtlich Teil einer Deduktion: »Deduction is that mode of reasoning which examines the state of things asserted in the premisses, forms a diagram of that state of things, perceives the parts of the diagram relations not explicitly mentioned in the premisses, satisfies itself by mental experiments upon the diagram that these relations would always 121 | Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, S. 115. 122 | Peirce: Collected Papers, 5.189. 123 | Rekonstruktionen finden sich bei Hoffmann: Erkenntnisentwicklung, Stjernfelt: Diagrammatology, vgl. auch Pape: Die Unsichtbarkeit der Welt, S. 378ff. 124 | Peirce: New Elements of Mathematics, Bd. IV, S. 47f.

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D IAGRAMMATIK subsist, or at least would do so in a certain proportion of cases, and concludes their necessary or probable truth.«125

Das diagrammatische Schließen wird also verwendet, um aus einer gegebenen Prämisse bzw. einer gegebenen Wahrnehmung ein Diagramm zu konstruieren, mit dieser Konstruktion zu experimentieren und die daraus resultierenden Informationen sowohl in Bezug auf den Gegenstand als auch in Bezug auf das Darstellungssystem zu beobachten.126 Interessant daran ist gleichwohl eine Spannung: Denn Peirce beschreibt hier einen Schlussprozess mit einem sich notwendig ergebenden, gleichwohl aber kreativem Ergebnis, das zu einer Erkenntnis führt, die gerade nicht in den Prämissen enthalten war. Für ihn geht es in der Diagrammatik vor allem darum, »relations between the parts of the diagram other than those which were used in its construction«127 aufzudecken. Eingelagert in den deduktiven Schlussprozess ist deshalb eine abduktive Komponente, die sich aus dem probeweisen Aufstellen einer Hypothese im Abgleich mit konkreten Gegebenheiten ergibt. Wahrhaft erkenntnisfördernd ist der diagrammatische Schluss nur, wenn die Abduktion nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern von den Gegebenheiten ausgeht, die man tatsächlich beobachten kann: »Abduction consists in studying facts and devising a theory to explain them.«128 Unter dieser Voraussetzung liegt der Zusammenhang von Abduktion und diagrammatischem Schließen auf der Hand: »Ein originäres Argument oder eine Abduktion präsentiert in seiner Prämisse Tatsachen, die eine Ähnlichkeit zu der in der Konklusion behaupteten Tatsache darstellen, die jedoch ebenso gut wahr sein können, ohne daß die Konklusion es wäre, um so mehr, ohne daß sie akzeptiert würde. Wir haben also keine Veranlassung die Konklusion positiv zu behaupten, sondern werden nur dazu neigen, sie zuzulassen, insofern sie eine Tatsache wiedergibt, für die die Tatsachen der Prämissen ein Ikon bilden.«129

Entscheidend ist also, dass die Prämissen, die realen Gegebenheiten entsprechen, einen abduktiven Schluss erlauben, besser noch: wahrscheinlich machen:

125 | Peirce: Collected Papers, 1.66. 126 | Vgl. Hoffmann: Erkenntnisentwicklung, S. 123ff., Stjernfelt: Diagrammatology, S. 103ff. 127 | Vgl. Peirce: New Elements of Mathematics, Bd. IV, S. 749. 128 | Peirce: Collected Papers, 5.172. 129 | Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, S. 393f.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK »To sum up, the overall picture of the diagrammatic reasoning process is that it forms a formal deductive reasoning core, embedded, on each side, in the trialand-error of abductive trials and inductive tests.«130

Ein nicht unwesentlicher Aspekt dieser Rekonfiguration von Hypothesen- und Schemabildung in diagrammatischen Schlüssen, zu der Peirce gelangt, indem er einen Regelkreis von Abduktion, Deduktion und Induktion entwirft, betrifft das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst: »It cannot be said that all framing of hypothesis is mathematical. For that would not distinguish between the mathematician and the poet. But the mathematician is only interested in hypotheses for the forms of inference from them. As for the poet, although much of the interest of a romance lies in tracing out consequences, yet these consequences themselves are more interesting in point of view of the resulting situations than in the way they are deducible. Thus, the poetical interest of a mental creation is the creation itself, although as a part of this a mathematical interest may enter to a slight extent. Detective stories and the like have an unmistakeable mathematical element.« 131

Trotz dieser Differenzierung zwischen dem formalen Charakter der Schlussfolgerungen, an denen ein Mathematiker interessiert ist, und den eher pragmatischen Schlussfolgerungen, an denen ein Poet interessiert ist, war Peirce vollkommen klar, dass durch die Abduktion in jedem Fall »eine Vorstellung eingeführt wird, die in den Daten nicht enthalten war und die Verbindungen herstellt, die jene sonst nicht gehabt hätten. Diese Art der Synthesis ist nicht ausreichend erforscht, und besonders die enge Verwandtschaft ihrer verschiedenen Spielarten ist nicht angemessen berücksichtigt worden. Die Arbeit des Dichters oder Schriftstellers ist von der des Wissenschaftlers gar nicht so weit entfernt. Zwar gestaltet der Künstler eine fiktive Welt, doch diese ist nicht einfach willkürlich […]. Der Geometer zeichnet ein Diagramm, und das ist – wenn nicht dasselbe wie eine Fiktion – doch zumindest eine Schöpfung; und mit Hilfe von Beobachtungen an diesem Diagramm ist er in der Lage, zu synthetisieren und Relationen von Elementen aufzuzeigen, die vorher keine zwingende Verbindung zu haben schienen. Die Realitäten zwingen uns, einige Dinge sehr 130 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. 105. 131 | Peirce: New Elements of Mathematics, Bd. IV, S. 268. Die Orientierung der Diagrammatik an der Einsicht in mathematische Prinzipien kommt auch darin zum Ausdruck, dass Peirce darauf beharrt, dass ein Diagramm vorrangig Einblick in klar fassliche Relationen bietet. Vgl. z.B. Peirce: New Elements of Mathematics, Bd. IV, S. 315f.: »The pure Diagram is designed to represent and to render intelligible, the Form of Relation merely. Consequently, Diagrams are restricted to the representation of a certain class of relations; namely, those that are intelligible.« Peirce: Collected Papers, 4.531: »A Diagram is mainly an Icon, and an Icon of intelligible relations.«

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D IAGRAMMATIK eng miteinander zu verbinden, andere weniger, und das auf höchst komplizierte und für die Sinne selbst unverstehbare Weise. Doch darin liegt das Geniale des menschlichen Geistes, daß er all diese Hinweise der Sinne aufnimmt, ihnen unermeßlich viel hinzufügt, sie präzisiert und durch die Intuitionen von Raum und Zeit verstehbar macht. Intuition ist das Betrachten des Abstrakten in konkreter Form, indem Relationen auf realistische Weise hypostasiert werden. Das ist die eine und alleinige Methode wertvollen Denkens.« 132

Erneut ist es also die von Peirce gegen Kant behauptete pragmatische Kollaboration von Wahrnehmung, Anschauung und Beobachtung (Ästhetik) und Urteil, Begriff und Schlussfolgerung (Logik), die es der Semiotik erlaubt, das poietische Moment der Heuristik ebenso anzuerkennen wie die heuristische Funktion der Poetik. Wer einen Roman liest, beobachtet am Anschauungsmodell der erzählten Handlung, wie bestimmte Dinge und Ereignisse miteinander zusammenhängen, und kann, wenn es zu diesen Zusammenhängen Entsprechungen in seiner Lebenswelt gibt, pragmatische Rückschlüsse von der Geschichte auf das eigene Handeln vornehmen. Das szenographische Moment der Künste involviert die gleichen mentalen Operationen und medialen Optionen wie die kartographischen Leistungen, die man überall in den Wissenschaften findet. Schon aus diesem Grund müssen, wie Nelson Goodman schreibt, »die Künste als Modi der Entdeckung, Erschaffung und Erweiterung des Wissens – im umfassenden Sinne des Verstehens – ebenso ernst genommen werden wie die Wissenschaften«133, von denen man sagen muss, dass sie nicht nur dort, wo es um angewandte Wissenschaften geht, gewisse Fertigkeiten erfordern, die man ebenso gut der Kunst wie der Technik zuordnen kann. Forschung jedenfalls wird auch von Malern und Bildhauern, Schriftstellern und Filmemachern, Komponisten und vielen Handwerkern betrieben, die die Rekonfigurationen von Formen ausprobieren. Wenn Peirce Kant also vor allem dafür kritisiert hat, dass er das Beobachten zu sehr vom schlussfolgernden Denken abgetrennt und (anders als Lambert) nicht den ästhetikologischen Grundzug der Erkenntnis betont habe, so kann man die pragmatisch orientierte Semiotik, die er entworfen hat, insgesamt als einen groß angelegten Versuch verstehen, aus der Doktrin der Schemata Konsequenzen zu ziehen. Peirce geht davon aus, dass es stets von vermittelnden Vorstellungen abhängt, ob ein Begriff zur Anschauung gelangt und eine Wahrnehmung zu einem Urteil führt. Sieht man beide Vorgänge unter dem Gesichtspunkt des Handelns, also pragmatisch, muss man noch nachhaltiger als Kant nach Gleichartigkeiten zwischen den Kategorien und der Empirie suchen. Das von Kant als Schematismus bezeichnete Verfahren wird daher von Peirce mit seinem Konzept der Diagrammatik aufgegriffen, umgeschrieben und erweitert. Zu dieser Erweiterung gehört, dass Peirce die 132 | Peirce: Religionsphilosophische Schriften, S. 138f. 133 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 127.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Einsichten von Lambert im Grundsatz übernimmt und sowohl die Zeichen, die dem Menschen materialiter vor Augen stehen (Darstellungen), als auch die Zeichen, die ihn idealiter beschäftigen (Vorstellungen) als Diagramme begreift und an die diagrammatischen Operationen der Konfiguration (Kolligation), der Referenz und Inferenz sowie der Abduktion, Induktion und Deduktion koppelt. In ihrer mit Abstand weitesten Fassung erstreckt sich die Diagrammatik daher auf den gesamten Bereich des Beobachtens von Verhältnissen, aus denen sich gewisse und ungewisse Schlussfolgerungen ergeben. Als Sonderbereich der notwendigen Ableitung von (selbst wieder zeichenhaften) Schlüssen aus Formen wird die Diagrammatik zu einem integralen Bestandteil einer semiotischen Konzeption von Rationalität. Und tatsächlich bedeutet das lateinische Wort ›ratio‹, das im englischen Begriff ›ratiocination‹ steckt, zunächst nichts anderes als ›Verhältnis‹. Natürlich sind solche etymologischen Zusammenhänge von begrenztem systematischem Aussagewert. Im vorliegenden Fall gibt die sprachgeschichtliche Parallele dennoch einen Hinweis auf die Tatsache, dass zu einem erweiterten Begriff von Rationalität auch das anschauliche Denken gehört. Historisch in Kunst und Wissenschaft gleichermaßen ausgeprägt, kann es innerhalb des theoretischen Vokabulars seit dem 18. Jahrhundert zu nicht unwesentlichen Teilen durch das Konzept der Diagrammatik begründet werden.134 Aus Sicht von Peirce’ Zeichenbegriff jedenfalls gilt jedes Phänomen oder Ereignis als Zeichen, das vermittelnde Vorstellungen auslöst – eine Auffassung, die insofern rekursiv ist, als zu diesen Phänomenen oder Ereignissen auch die Vorstellungen gehören, die bereits als interpretierende Zeichen fungieren. Der Prozess der Semiose ist für Peirce mithin ein Vorgang, der vom iterativen Wechselspiel von Wahrnehmung, Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen lebt – ein Vorgang, in dem aktuelle Vorstellungen mit Gedächtnismomenten verknüpft und die ›ad hoc-Begriffe‹, die man sich von einem Gegenstand macht, kritisch reflektiert und modifiziert werden, bis sich eine hinreichend klare und pragmatisch relevante Vorstellung von der Bedeutung des Gegenstandes gebildet hat, dem die Beobachtungen und Überlegungen, Bezugnahmen und Schlussfolgerungen gelten. Die Initialvorstellung am Beginn dieses Schlussfolgerungsprozesses hat Peirce als immediaten oder unmittelbaren Interpretanten bezeichnet, den stets vorläufigen Schluss des Auslegungsprozesses dagegen als logischen Interpretanten. Zwischen diesen beiden Interpretanten vermitteln die dynamisch-energetischen Interpretanten. Sie werden so genannt, weil sie als Produkte des Vorstellungsvermögens von der Kraft der Anverwandlung und Umgestaltung zehren, die der Imagination eignet. Dynamisch-energetische Interpretanten, so könnte man sagen, verändern die Bedeutungsgestalt, die ein Gegenstand im Bewusstsein annimmt, gegebenenfalls auch den Verständnisrahmen, auf den er bezogen wird. Rein terminologisch kann man daher zwar zwischen dem Interpretan134 | Vgl. auch Schönrich: Zeichenhandeln, S. 390ff.

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D IAGRAMMATIK ten, der Bedeutung vermittelnden Vorstellung, und dem Repräsentamen, zu dem ein Objekt wird, das im Geiste ein anderes Objekt vertritt, unterscheiden. Insofern diese Vertretung aber bereits die Auffassung des Objekts als Zeichen voraussetzt, spielt sich die Semiose genau genommen nicht zwischen Gegenständen, sondern zwischen Vorstellungen ab, die sich allerdings so auf ihre Objekte einstellen müssen, wie es die Konfiguration des Zeichens bzw. Zeichengefüges vorgibt. Anders gesagt: Wer sich auf ein Zeichen einstellt, vollzieht insofern eine perspektivische Mimesis als er sich auf eine bestimmte Sichtweise oder Darstellungsart einlässt, die vor dem Hintergrund alternativer, kontingenter Konfigurationen steht. Aus diesem Grund ist jede Zeichendeutung auf einer sehr grundsätzlichen Ebene ein ästhetikologischer Prozess und schon von daher ein Vorgang, der nur durch das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand zustande kommen kann. Wenn es aber zutrifft, dass es keine Wahrnehmung ohne Schlussfolgerung geben kann, umgekehrt jedoch alles Denken ein Beobachten von Bezugsverhältnissen ist, dann macht es Sinn, die Interpretanten, die sich in der Mimesis erschöpfen, von jenen Interpretanten abzuheben, die Momente der Poiesis umfassen. Im ersten Fall werden lediglich die Implikationen der Ausgangsfigur evident; im zweiten Fall entsteht eine neue Figur, die zum Gegenstand weiterer Transformationen werden kann. Um diese Optionen voneinander zu unterscheiden, kann man von design, layout und display sprechen: Jedes Zeichen (sign) oder Zeichengefüge entwirft (design) Korrespondenzverhältnisse dergestalt, dass sich ihre Auslegung an der Struktur dieser Verhältnisse (layout) orientieren kann. Was an einem Schaubild offensichtlich ist, kennzeichnet alle Objekte, die im Sinne von Peirce als Zeichen aufgefasst werden können, weil sie Bezugsverhältnisse schaffen und dem Denken einen Anschauungsraum eröffnen. Solange sich die Auslegung in diesem Raum bewegt, bleibt sie dem layout der vorgegebenen Zeichenkonfiguration verhaftet. Sobald das Durchspielen (display) der Bezugsverhältnisse diesen Raum jedoch entgrenzt, ausweitet und umgestaltet, verschiebt sich mit den Relationen und Proportionen auch das intellektuelle design der Dinge. Peirce erörtert diesen Zusammenhang mittels der Unterscheidung in eine »korollariale« und eine »theorematische« Deduktion135: »A Corollarial Deduction is one which represents the conditions of the conclusion in a diagram and finds from the observation of this diagram, as it is, the truth of the conclusion; a Theorematic Deduction is one which, having represented the conditions of the conclusion in a diagram, performs an ingenious experiment upon the diagram, and by the observation of the diagram so modified, ascertains the truth of the conclusion.«136 135 | Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Hoffmann: Erkenntnisentwicklung, S. 160ff. 136 | Peirce: Collected Papers, 2.667.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Entweder verbleibt das Denken also in den Bahnen, die in einem Schaubild vorgezeichnet sind, oder es verändert die Versuchsanordnung und spielt andere Konfigurationen durch, aus denen sich neue Schlussfolgerungen ableiten lassen. Solange es sich dabei an die beobachtbaren Bezugsverhältnisse hält, kann es, rein theoretisch gesehen, nicht fehlgehen. Pragmatisch betrachtet stellt sich allerdings die Frage, ob der Rekonfiguration im Zeichen tatsächlich ein möglicher Sachverhalt oder Ereigniszusammenhang in der Erfahrung entspricht. Längst nicht jede Transformation hält der Konfrontation mit der Wirklichkeit stand. Im display-Modus dessen, was Peirce »theorematische Deduktion« nennt, operiert das Denken zunächst einmal mit heuristischen Fiktionen, betreibt also Gedankenexperimente, die der induktiven Rückkopplung mit der Empirie bedürfen. Einerseits bedarf die theorematische Deduktion einer pragmatischen Ergänzung, andererseits involviert sie Hypothesenbildungen im Sinne der Abduktion. Peirce’ Kritik an Kant, wonach dieser die beiden Vorgänge des Beobachtens und des Folgerns zu stark voneinander geschieden habe, enthält also die Idee, dass jede Deduktion von der Beobachtung bestimmter Beziehungen und Verhältnisse ausgeht, und dass die Erkenntnisse, die anhand einer solchen Beobachtung gewonnen werden können, entweder im Anschauungs- und Auslegungsraum der vorgefundenen Beziehungen und Verhältnisse bleiben, oder – bei der theorematischen Deduktion – zur systematischen Rekonfiguration dieser Beziehungen und Verhältnisse übergehen. Zurückbezogen auf das Modell des Theaters, kann man mithin dort, wo es um die Variation der Ausgangssituation, der Figurenkonstellation und der an diese Konstellation gebundenen (weltanschaulichen) Positionen geht, von einer theorematischen Leistung der Veranschaulichung sprechen. Komplementär dazu müssen sich die Rückschlüsse, die der Zuschauer von der Handlungsentwicklung auf der Bühne auf die Lebenswelt zieht, die seinen eigenen Handlungsraum bildet, an der Pragmatischen Maxime orientieren. Die nicht nur für den Umgang mit Bühnenstücken und Kunstwerken, sondern für den Umgang mit allen Beziehungsgefügen zentrale Implikation der Diagrammatik liegt somit darin, dass sie die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ebenso wie ihre literarische Reflexion auf eine Prozessstruktur zurückführt, in der einige Basisoperationen einen Regelkreis bilden, der immer wieder von Neuem in Gang gesetzt werden kann. Die Basisoperationen der Kon- und Rekonfiguration, der korrolarialen und der theorematischen Deduktion, der Induktion und der Abduktion, der Referenz und der Inferenz besitzen für die Kultur- und Medienwissenschaften und ihre jeweiligen Theoriebildungen eine transversale Bedeutung, weil sie sich nicht nur in verschiedenen Handlungsfeldern bewähren, sondern darüber hinaus geeignet sind, die Wechselwirkung zu modellieren, die zwischen materiellen und mentalen Akten der Konstruktion besteht.

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D IAGRAMMATIK Wenn ein Architekt beauftragt wird, ein Haus umzubauen, kann er anhand des Grundrisses theorematische und pragmatische Überlegungen zur Auswirkung einer bestimmten Baumaßnahme anstellen, Skizzen anfertigen und aus der vergleichenden Beobachtung dieser Skizzen bestimmte Schlüsse ziehen. Anschließend kann er die Folgerungen, zu denen er auf diesem Wege gelangt ist, wiederum in einem Modell verdichten, das weitere Aufschlüsse – etwa über den Lichteinfall – liefert und dergestalt unentwegt hin- und herlaufen zwischen Anschauungen, die ihm gegenständlich vor Augen stehen (Grundriss, Skizze, Modell etc.) und schematischen Ansichten, die nur in seinem Kopf existieren. Entscheidend ist, dass ihm sowohl die vergegenständlichten Anschauungen als auch die Vorstellungen zu Medien einer Gedankenentwicklung werden, die gerade insofern als diskursiv bezeichnet werden darf, als sie beständig zwischen den mentalen Operationen und gewissen Objekten hin- und herläuft – Objekte, die jeweils als diagrammatische Zeichen (für das zu bauende Haus) fungieren, weil sie bestimmte Relationen und Proportionen veranschaulichen. Wenn Diagramme also, der Grundbedeutung des Wortes nach, Schaubilder sind, die Relationen und Proportionen aufzeigen (display) und deren Rekonfiguration ein Durchspielen (dis-play) von Möglichkeiten erlaubt, das zunächst einmal abgekoppelt von realen Auswirkungen ist, dann bildet das Wechselspiel zwischen den mentalen Operationen der Kon- und Rekonfiguration, den theorematischen und pragmatischen Überlegungen, der Referenz und Inferenz einerseits und den medialen Optionen, die es zu ihrer Veranschaulichung und Materialisierung gibt, den Gegenstand der Diagrammatik. In den Blick kommt damit die Schnittstelle von Medien- und Kognitionsforschung, von Zeichen- und Kulturwissenschaft. Trifft es zu, dass Zeichen Wahrnehmungsweisen schaffen, und dem Denken einen »Anschauungsraum«137 eröffnen, der durch dynamisch-energetische Interpretanten nicht nur ausgelegt, sondern umgestaltet werden kann, dann lassen sich nach diesem Modell auch die Prozesse begreifen, die sich in den Medien, im kognitiven Apparat und in der Kultur des Menschen abspielen.

E xkurs: Diagrammatik und Metaphysik Während das Evidenzprinzip der Diagrammatik ad hoc einleuchtet, weil es mit der Beobachtung der Relationen zusammenhängt, die eine Zeichenkonfiguration ausstellt, und das Virtualitätsprinzip leicht nachzuvollziehen ist, weil es in der Möglichkeit zur Rekonfiguration einer jeden Konfiguration angelegt ist, entzieht sich das Kontinuitätsprinzip dem intuitiven Verständnis. Seine systematische Begründung erfordert einen erneuten Rückgang auf Peirce’ Auseinandersetzung mit Kant. Leser, die 137 | Vgl. Pape: Erfahrung und Wirklichkeit, S. 240, S. 268.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK sich für diese systematische Begründung nicht interessieren, können diesen Exkurs überspringen, sollten aber wissen, dass die Nichtbeachtung des Kontinuitätsprinzips schnell zu Fehleinschätzungen der Diagrammatik führen kann. Nicht intuitiv zu verstehen ist das Kontinuitätsprinzip der Diagrammatik unter anderem, weil es auf eine paradoxe Art und Weise mit der Kontingenz aller denkbaren Erfahrungen zusammenhängt. Es gehört daher für Peirce zu den Aufgaben der Einbildungskraft, immer wieder von Neuem die Kontinuität des Seins herzustellen und gegen die Diskontinuität des persönlichen Erlebens zu behaupten. Gerade in dieser Hinsicht ist sein Denken Kants Metaphysik verpflichtet. Dieser Zusammenhang kommt unter anderem in der folgenden Bemerkung von Peirce zum Ausdruck: »Kant (whom I more than admire) is nothing but a somewhat confused pragmatist. […] [I]n half a dozen ways the Ding an sich has been proved to be non-sensical; […]. Therefore, all references to it must be thrown out as meaningless surplusage. But when that is done, we see clearly that Kant regards Space, Time, and his Categories just as everybody else does, and never doubts or has doubted their objectivity. His limitation of them to possible experience is pragmatism in the general sense; and the pragmaticist, as fully as Kant, recognizes the mental ingredient in these concepts.«138

Um den Gedankengang, der zu dieser Auffassung führt, nachvollziehbar darzulegen, geht der Philosoph und Kognitionswissenschaftler Thomas Hünefeldt, der Peirce Auseinandersetzung mit Kant en detail nachgezeichnet hat, zunächst auf die Unterscheidung zwischen Erkenntnissen a prori und a posteriori ein, die in der Kritik der reinen Vernunft folgendermaßen begründet wird: »Daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; […]. Der Zeit nach geht also keine Erkenntnis in uns vor der Erfahrung vorher, und mit dieser fängt alle an. Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt […]. Es ist also wenigstens eine der näheren Untersuchung noch benötigte und nicht auf den ersten Anschein sogleich abzufertigende Frage: ob es ein dergleichen von der Erfahrung und selbst von allen Eindrücken der Sinne unabhängiges Erkenntnis gebe. Man nennt solche Erkenntnisse a priori, und unterscheidet sie von den empirischen, die ihre Quellen a posteriori, nämlich in der Erfahrung haben.«139 138 | Peirce: Collected Papers, 4.525 139 | Kant: Kritik der reinen Vernunft, S. 38 = B 1f.

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D IAGRAMMATIK Peirce versteht Kant nun so, dass alle Erkenntnis der Zeit nach aus der Erfahrung stammen muss und daher, wenn sie nicht unmittelbar in der Erfahrung liegt, aus ihr geschlossen sein muss. In diesem Sinne ist die Erkenntnis, wie Hünefeldt feststellt, »not determined by experience«, aber »inferred from experience«.140 Das bedeutet zum einen, dass Erkenntnisse a priori für Peirce Hypothesen darüber sind, was in jeder vorstellbaren bzw. denkbaren Welt der Fall sein kann – Hypothesen, die dann wiederum anhand der Erfahrung überprüft und gegebenenfalls geändert werden müssen.141 Akzeptiert man diese Lesart, erscheint Kant in der Tat als Pragmatist avant la lettre. Das bedeutet zum anderen, dass Peirce nicht die Auffassung teilt, auf die sich Kant durch seine Unterscheidung von Erkenntnissen a priori und a posteriori verpflichtet hatte: »The term a priori he uses to mean determined from within or involved implicitly in the whole of what is present to consciousness (or in a conception which is the logical condition of what is in the consciousness).«142 Indem Peirce das Begreifen auf das Schlussfolgern abstellt, kann er zugleich die Determination des Denkens durch Eindrücke, die das Gemüt affizieren, wie die Determination der Erkenntnis durch Begriffe vermeiden, denen unmittelbar keine Anschauung gegeben ist. Denn er ersetzt die Diskontinuität von Sinnlichkeit und Verstand durch das Kontinuum der Vorstellungen, die zwischen dem Gegenstand und seiner Bedeutung vermitteln. Vermittlung (mediation) ist offensichtlich etwas anderes als Determination. Folgt man Peirce, ist es also nicht so, dass auf der einen Seite sinnliche Eindrücke und auf der anderen Seite Begriffe stehen, so dass die Vorstellung dem Begriff zur Anschauung verhelfen muss. Vielmehr ist die Vorstellung bereits eine Schlussfolgerung aus den Erscheinungen, auf die sich der Verstand wie auf jede andere Vorstellung, die nicht unmittelbar aus der Wahrnehmung stammt, beziehen kann. Insofern nun alle Vorstellungen Interpretanten, also Inferenzprodukte sind, stehen sie zwar bereits auf der Seite der Konzepte (und nicht mehr auf der Seite der Perzepte), sind aber doch Formen der Veranschaulichung oder Vergegenwärtigung. Entscheidend ist folglich, wie man sich das Vorstellungsvermögen des Menschen denkt: entweder (a) als eine Kraft, die den Verstandesbegriffen, die a priori sind, a posteriori zu einer Anschauung verhilft, die sich auf empirische Gegenstände beziehen lässt – oder (b) als das Medium einer Vermittlung von Bedeutungen, das als Medium nur funktioniert, weil es an die Vollzugsform der Anschaulichkeit gebunden ist. Da die Einbildungskraft schlechterdings nicht unanschaulich verfah140 | Vgl. Hünefeldt: Peirces Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie, S. 33. 141 | Vgl. Hünefeldt: Peirces Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie, S. 34. 142 | Peirce: Writings, S. 246 (MS CSP 101).

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK ren kann, stellt das Ding an sich für Peirce ›etwas absolut Unerkennbares‹ (something absolutely incognizable) und damit etwas dar, das einfach gar keinen Sinn ergibt.143 Anders gesagt: Da Vorstellungen immer schon Kognitionen sind und da das Denken, insofern es mit Vorstellungen operiert, anschaulich sein muss, gibt es keine Notwendigkeit, die beiden Stämme der Erkenntnis – Sinnlichkeit und Verstand – so rigide voneinander abzusondern, dass der eine bar aller Verständigkeit und der andere bar aller Sinnlichkeit, i.e. aller Anschaulichkeit ist. Weil das Vorstellungsvermögen für Peirce das Medium einer kontinuierlichen Transformation der Objekte durch ihre Interpretanten bildet, wird die Diskontinuität zwischen den Erscheinungen und den Begriffen, die Kant im Nachhinein durch den Schematismus der Einbildungskraft überbrücken musste, in der semiologischen Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie aufgehoben. Die entscheidende Wendung gegenüber Kant, bei dem die Sinnlichkeit als Lieferant der Anschauungen fungiert, der die Verstandesbegriffe bedürfen, besteht also darin, die Anschaulichkeit als die Vollzugsform der Bezugnahme zu verstehen, die ihrerseits stets eine Schlussfolgerung darstellt. Im Ergebnis führt diese Auffassung dazu, dass Peirce zwischen zwei Arten von Objekten unterscheiden muss: solche, auf die sich das Vorstellungsvermögen ad hoc oder unmittelbar (»immediate«) bezieht und solche, die sich aus der Dynamik ihrer Tätigkeit ergeben, also nicht unmittelbar in der Erfahrung gegeben sind. Wenn man zum Beispiel auf der Straße einem bärtigen Mann begegnet, in dem man erst bei genauerer Musterung einen alten Bekannten wiedererkennt, gibt es offenbar zwei Objekte der Vorstellung: das unmittelbare Objekt des unbekannten, bärtigen Mannes und das dynamische Objekt des bartlosen Bekannten, das nicht der aktuellen Wahrnehmung, sondern der Erinnerung entstammt, die aber gleichwohl eine Erfahrung gewesen ist. Dass diese beiden Objekte denselben Referenten haben – dass es also ein und dieselbe Person ist, der zwei Vorstellungen zugeordnet werden – ist eine Schlussfolgerung, die eben das voraussetzt, was in ihr konvergiert: die Divergenz der Interpretanten. Aus Gründen der Transparenz muss man die Schlussfolgerung, obwohl auch sie eine Vorstellung darstellt, von den Vorstellungen abheben, die sich entweder auf das unmittelbare Objekt der Wahrnehmung oder auf seine allmähliche (dynamische) Identifizierung mit einem bestimmten Objekt der Erinnerung beziehen. Folgerichtig hebt Peirce den unmittelbaren Interpretanten sowohl vom logischen Interpretanten (dem vorläufigen Schluss der Vorstellungsreihe) als auch von den dynamischenergetischen Interpretanten ab, die sozusagen die Zwischenglieder der Vermittlung des unmittelbaren mit dem logischen Objekt bilden. Ihre Aufgabe besteht in der Rekonfiguration des bärtigen Unbekannten in den 143 | Vgl. Hünefeldt: Peirces Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie, S. 43.

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D IAGRAMMATIK bartlosen Bekannten. Dazu ist nicht nur erforderlich, dass man in der aktuellen Konfiguration der Wahrnehmung (Mann mit Bart), die mit den leiblichen Augen erfolgt, die andere Konfiguration ›sieht‹, die aus dem Gedächtnis stammt und einem daher auch nur vor dem geistigen Auge stehen kann. Erforderlich ist zudem, dass man sich zusätzlich vorstellt, wie die eine Konfiguration aus der anderen hervorgegangen ist, nämlich durch Bartwuchs. Auch diese Vorstellung, von der die Identifikation des bärtigen Unbekannten mit dem bartlosen Bekannten wesentlich abhängt, ist aus Erfahrungen abgeleitet. Die zwischen dem bärtigen Unbekannten und dem bartlosen Bekannten vermittelnden Vorstellungen – das heißt die dynamisch-energetischen Interpretanten der Semiose – dienen also einer Retroduktion, die den inneren Sinn der Zeit und damit eine Anschauungsform der Entwicklung involviert, die keineswegs transzendental, sondern empirisch fundiert ist. Sofern man in dieser Anschauungsform ein Schema sehen will, dient es der Einbettung der aktuellen Wahrnehmung in das Kontinuum der Erfahrungen. Innerhalb dieses Verständnisrahmens wird die aktuelle Wahrnehmung – das unmittelbare Objekt der Vorstellung: der bärtige Unbekannte – als Zeichen für das dynamische Objekt der Vorstellung aufgefasst und anhand von Erinnerungen aufgeschlüsselt, die auf seine Identifizierung mit dem bartlosen Unbekannten (i.e. dem logischen Interpretanten des Schlussfolgerungsprozesses) hinauslaufen. Abstrahiert man vom Beispiel des bärtigen (Un-)Bekannten, kann man somit über das Vorstellungsvermögen des Menschen sagen, dass es nicht nur eine spezifische Vollzugsform, die Anschaulichkeit, besitzt, sondern auch einem generellen Prinzip gehorcht. Dieses Prinzip ist aber nichts anderes als das Prinzip der Semiose selbst. Keineswegs folgt aus dieser Sicht der Dinge, dass ein Objekt, das zum Gegenstand einer Interpretation wird, dadurch in zwei Gegenstände zerfällt: das dynamische Objekt der Vorstellung und das Ding an sich. Vielmehr treten das unmittelbare und das dynamische Objekt der Vorstellung nur insofern auseinander, als es zur theoretischen Beschreibung der Semiose erforderlich ist, die Gestalt, die das Objekt im Bewusstsein durch die dynamisch-energetischen Interpretanten erfährt, von der Gestalt abzuheben, die ihm in der initialen Wahrnehmung spontan zukommt. Sobald sich dann jedoch ein logischer Interpretant gebildet hat, sieht man mit dem Gegenstand der Wahrnehmung auch seine Bedeutung – hat es also nur mit dem empirischen Objekt und nicht auch noch mit irgendeinem Phantom zu tun. Ebenso wenig wie der bärtige Unbekannte, in dem man einen bartlosen Bekannten wiedererkannt hat, eine gespaltene Persönlichkeit darstellt, sondern ein Mensch ›mit zwei Gesichtern‹ – also der gemeinsame Referent von unmittelbarem und dynamischem Objekt – ist, setzt die Vorstellungsreihe, die vom unmittelbaren über die dynamisch-energetischen zum logischen Interpretanten führt, an irgendeiner Stelle eine Vorstellung frei, die man als Ding an sich auffassen müsste. Weil die Bedeutungs(v)ermittlung, die

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK all diese Vorstellungen leisten, auf das Kontinuum der Erfahrung rekurriert, besteht darüber hinaus auch keine Notwendigkeit, das Verhältnis zwischen den Erkenntnissen a priori und den Erkenntnissen a posteriori so diskontinuierlich aufzufassen, wie es Kant getan hatte. Wie Hünefeldt dargelegt hat, tritt das Kontinuum aller denkbaren Erfahrungen bei Peirce an die Stelle des transzendentalen Ego. Statt wie Kant von der ›Einheit der Apperzeption‹, spricht Peirce daher von einer ›Einheit der Konsistenz‹ (unity of consistency): dem Kontinuum aller denkbaren Erfahrungen entspricht die Konsistenz der Gegenstände, über die man sich zusammenhängende Gedanken machen kann. Und da diese Form des (anschaulichen) Denkens von der dynamischen Vorstellungsbildung respektive von der Einbildungskraft abhängt, sagt Peirce: »The final unity of consistency is given by the conception of being, which is the force of the copula of a proposition […].«144 Es ist also letztlich der ›Begriff des Seins‹ (conception of being), der die Einheit der Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen gewährleistet und es erlaubt, von einem Kontinuum aller denkbaren Erfahrungen zu sprechen, obwohl die empirische Wahrnehmung der Welt durchaus diskontinuierlich verläuft. Da dieser ›Begriff des Seins‹ nicht nur unpersönlich ist, sondern aller persönlichen Wahrnehmung und Erfahrung, Vorstellung und Erinnerung logisch vorgelagert bleibt, stellt für Peirce das ›Ich denke‹, das nach Kant alle Vorstellungen begleiten muss, nicht die unabhängige oder gar absolute, sondern die abhängige und relative Variable des Ganzen dar, das bei ihm als regulative Idee der Semiose fungiert.145 Als Grund aller Kategorien – Peirce nennt: Qualität, Relation und Repräsentation – ist das Sein einerseits die logische Konsequenz der konsistenten Begriffsbildung, andererseits aber – und das ist nicht nur bildlich gemeint – der ›Boden der Tatsachen‹. Folgerichtig koppelt jede Proposition, die einen Sachverhalt repräsentiert, durch die Copula, die eine Relation herstellt, auf die Qualität zurück, in der sich das Sein manifestiert. Hünefeldt fasst diese Quintessenz in fünf Punkten zusammen: »1. Jeder uns vorstellbare Gegenstand besitzt eine ›Qualität‹ (quality), weil wir uns keinen Gegenstand ohne irgendwelche Eigenschaften vorstellen können. 2. Jeder von uns vorstellbare Gegenstand steht in der dyadischen Beziehung der ›Relation‹ (relation) zu einem anderen uns vorstellbaren Gegenstand, weil wir uns die ›Qualität‹ (quality) eines Gegenstandes nur relativ zu einem anderen Gegenstand vorstellen können. 3. Jeder uns vorstellbare Gegenstand steht in der triadischen Beziehung der ›Repräsentation‹ (representation) zu zwei anderen uns vorstellbaren Gegenständen, d.h. er ist ›Zeichen‹ (sign) eines ›Objekts‹ (object) in Bezug auf einen 144 | Peirce: Writings, Bd. 1, S. 352f. (MS CSP 105) 145 | Vgl. Hünefeldt: Peirces Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie, S. 93, S. 107.

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D IAGRAMMATIK ›Interpretanten‹ (interpretant), weil wir uns die ›Relation‹ (relation) eines Gegenstandes zu einem anderen Gegenstand nur im Rekurs auf einen dritten Gegenstand vorstellen können, mittels dessen diese beiden Gegenstände in ›Relation‹ (relation) zueinander gebracht werden. 4. Die Mannigfaltigkeit aller uns vorstellbaren Gegenstände muß in einem Zusammenhang stehen, der nicht selbst Ergebnis der Vermittlung durch einen uns vorstellbaren Gegenstand ist. Zwei Gegenstände können nämlich nur dann mittels eines dritten Gegenstands in ›Relation‹ (relation) zueinander gebracht werden, wenn alle drei Gegenstände in einem Zusammenhang stehen, der nicht seinerseits erst durch die Vermittlung eines weiteren Gegenstandes gestiftet werden muß. 5. Mit dem zuletzt genannten Grundsatz kommt das rekursiv-transzendentale Verfahren der Ableitung der Kategorien zu seinem Abschluß. Jeder als Bedingung der Möglichkeit dieses Grundsatzes angeführte Sachverhalt würde nämlich entweder selbst diesem Grundsatz unterstehen müssen oder aber die Grenzen des Vorstellbaren überschreiten. Dieser Grundsatz kann daher als das oberste Prinzip alles Verstandesgebrauchs gelten.« 146

Eingeschlossen in diese Zusammenfassung ist der Gedanke, dass alles Schlussfolgern ein Zusammendenken von Gegenständen oder Eigenschaften sowie ein Vermitteln von Bedeutungen ist, wie es nur unter der Bedingung der Kontinuität der Zeit möglich ist.147 Diese Voraussetzung muss dann aber auch für die Colligation stehen, die man als Basisoperation der Diagrammatik bezeichnen kann. Denn die Colligation, Relationierung oder Konfiguration ist unabhängig davon, ob und wie sie materialisiert wird, ein Zusammendenken von Gegenständen oder Eigenschaften dergestalt, dass sich aus der Beobachtung ihres Verhältnisses bestimmte Schlussfolgerungen ergeben. Wenn das Kontinuum der Zeit die logische Bedingung der Möglichkeit darstellt, so zu verfahren, erscheint das Kontinuum des (Anschauungs-)Raumes, den ein Diagramm beansprucht, als ihr ästhetisches Pendant. Das kann man gerade daran sehen, dass zeitliche Relationen dadurch diagrammatisiert werden, dass man sie in spatiale Relationen übersetzt. So kann man zum Beispiel den Verlauf der Zeit, der sich unmittelbar nicht beobachten lässt, veranschaulichen, indem man auf einer Linie einzelne Zeitpunkte markiert – nach Möglichkeit so, dass der Zwischenraum ihrem proportionalen Abstand in der Zeit entspricht. Die kursiv gesetzten Elemente dieser Formulierung machen klar, dass auch die Sprache nach dem gleichen Prinzip verfährt, da sie temporale Relationen durch Metaphern vergegenwärtigt, die auf spatiale Relationen Bezug nehmen. Sieht man sich nun die Linie auf dem Papier an, die einen Zeitraum veranschaulicht, und vergleicht sie mit einer sprachlichen Äußerung, die 146 | Hünefeldt: Peirces Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie, S. 86f. 147 | Vgl. Hünefeldt: Peirces Dekonstruktion der Transzendentalphilosophie, S. 111.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK ebenfalls einen Zeitraum vergegenwärtigt, so hat man es offenbar mit zwei verschiedenen medialen Ausprägungen (respektive Anschauungen) der Zeitvorstellung zu tun. Einen Begriff davon, wie die Zeit verläuft, vermitteln diese beiden Anschauungen gleichwohl nur, weil sie sich mit der Anschaulichkeit eines Denkens vermitteln lassen, dessen Medium Vorstellungen sind. Denn weder das Bild der Linie, auf der einzelne Zeitpunkte abgetragen werden, noch der Satz, der einen Zeitraum anhand der Wortstellung aufspannt, erzeugt unmittelbar eine Anschauung davon, wie die Zeit ›verläuft‹. Eine solche Anschauung bildet sich nur durch die dynamisch-energetischen Interpretanten, die das unmittelbare Objekt der Wahrnehmung – das Bild, den Satz – gleichsam in Bewegung versetzen. Dass das Vorstellungsvermögen dabei auf die sensomotorische Tätigkeit des Körpers, zum Beispiel auf die Muskelanspannungen rekurriert, die nötig sind, damit die Augen der Linie auf dem Blatt oder der Linearität der Schrift folgen, ist wohl wahr. Doch setzt diese sensomotorische Tätigkeit allein noch keine dynamischen Vorstellungen frei. Erst wenn sie mit jener neuronalen Aktivität einhergeht, die der produktiven oder reproduktiven Einbildungskraft entspricht, wird das Blickfeld der Wahrnehmung, in dem das Bild oder der Satz auftauchen, durch das Bewusstseinsfeld überlagert, in dem sich so etwas wie der Verlauf der Zeit ›abzeichnet‹. Das Verb ›abzeichnen‹ soll andeuten, dass es sich dabei nicht um ein image, sondern wiederum nur um ein diagram handeln kann. Selbst wenn die Linie mit den Zeitpunkten als Pfeil dargestellt ist, bildet sie den Zeitverlauf nicht ab. Bestenfalls ruft sie entsprechende Vorstellungen auf. Man kann also sagen, dass die Vorstellung vom Zeitverlauf aus der Wahrnehmung der Linie ›abgeleitet‹ werden muss. Eine aus der Wahrnehmung abgeleitete Vorstellung, die Anschauungen davon vermittelt, was im eigentlichen Sinn des Wortes gar nicht ›sichtbar‹ ist, muss allerdings gemäß der vorherrschenden Sprachregelung trotz ihrer Anschaulichkeit, als ›inferentiell‹, ›konzeptionell‹ oder ›intellektuell‹ bezeichnet werden. Es ist daher gar nicht nötig, aus dem Umstand, dass Vorstellungen zugleich sinnlich und geistig sind, irgendein Rätsel zu machen. Da die Vermittlungsleistung, die der Mensch ganz selbstverständlich in Anspruch nimmt und unentwegt nutzt, von diesem Doppelcharakter der Vorstellungen abhängt, ist sie keinesfalls ein Mysterium, sondern ein empirisches Datum. Kopfzerbrechen kann das nur dem bereiten, dessen Denken einem allzu engstirnigen Begriff von Empirie verpflichtet ist. Entscheidend für das Verständnis der semiologischen Rekonfiguration sind nun aber drei Gesichtspunkte, die eigens hervorgehoben werden müssen: 1. Weder das unmittelbare noch das dynamische Objekt der Vorstellung darf mit dem sogenannten Referenten verwechselt werden. Es ist gewissermaßen nur der Aspekt eines Gegenstandes, der durch das Zei-

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D IAGRAMMATIK chen in das Bewusstseinsfeld gehoben wird und dort bestimmte Vorstellungen auslöst. Folglich muss man die Bedeutungsgestalt, die das Objekt der Vorstellungen im Verlauf der Semiose erfährt, von dem Gegenstand abheben, auf den diese Gestalt ›projiziert‹ wird.148 2. Setzt man die Totalität aller Bedeutungen mit dem Begriff des Daseins gleich – eine Gleichsetzung, die dadurch gerechtfertigt ist, dass man sich schlechterdings keinen Zustand der Welt vorstellen kann, dem keine Bedeutung entspricht – so bildet dieser Begriff zugleich den theoretischen Grenzwert der Semiose und die pragmatische Limitation aller Handlungen. 3. Klar ist dann aber auch, dass sich dieser Spielraum des Denkens und Handelns kaum jemals vollständig wird ausschöpfen lassen, dass es also im Erleben und Erfahren der Welt immer eine Divergenz zwischen dem Begriff des Daseins und den Vorstellungen geben muss, die auf ihren logischen Interpretanten konvergieren. In diesem Sinn bildet der Begriff des Daseins einerseits zwar die logische Voraussetzung der drei Kategorien, die Peirce unterschieden hat, andererseits aber jenen ultimativen Interpreten der Semiose, der in der Praxis aller kognitiven Operationen als regulative Idee fungiert. Relevant für die Diagrammatik sind diese Zusammenhänge, weil sie auf das Kontinuum aller denkbaren Erfahrungen und auf die Konsistenz der Vorstellungsbildung angewiesen ist. Ein Anschauungsmodell möglicher Handlungen kann ein Schaubild nur sein, wenn es reliable und viable Rückschlüsse auf die Welt zulässt, also in das Kontinuum aller denkbaren Erfahrungen eingebettet ist. Dass die Beobachtung der Verhältnisse, die das Schaubild offenbart, überhaupt Folgerungen auslöst – wie reliabel und viabel sie auch immer sein mögen – hängt jedoch von der Konsistenz der Vorstellungsbildung ab. Für Peirce sind die Elemente des Kontinuums mit Valenzen ausgestattet. Ähnlich wie die Elemente des chemischen Periodensystems gehen sie – bei unterschiedlichem Sättigungsgrad – bestimmte Verbindungen ein.149 Tatsächlich kann man nur deshalb von einem Kontinuum sprechen, weil die Elemente sich immer wieder von neuem miteinander ver148 | Die Karte ist gerade deshalb eine besonders brauchbare epistemologische Metapher, weil man diese Eigenart der Semiose ihrer Funktionsweise aufzeigen kann: Denn wenn man sich eine Karte ansieht, wird der Blick immer nur auf bestimmte Aspekte des Territoriums gelenkt. Eine Karte der Bodenschätze sieht anders aus als eine Karte der Verkehrswege usw. Folglich erfassen auch die Vorstellungen, die man sich aufgrund einer Karte von ihrem Territorium macht, niemals dessen ganze Bedeutungsfülle. Setzt man die Totalität dieser Bedeutungen nun mit der Komplexität der Bezugswelt gleich, ist klar, dass die Welt im kartographischen Akt immer nur ›ver-zeichnet‹ und reduktionistisch behandelt werden kann. Die Karte ist bestenfalls eine von vielen denkbaren Versionen des Territoriums. 149 | Vgl. Deledalle: »Semiotik als Philosophie«, S. 31.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK binden. Ihre Valenz ist sozusagen die Bedingung der Möglichkeit, das Sein als Kontinuum zu denken. Die Fläche des Anschauungsraumes, den ein Schaubild beansprucht, um bestimmte Relationen zwischen bestimmten Elementen aufzuzeigen, steht stellvertretend oder sinnbildlich für dieses Kontinuum. Seine denkbaren Rekonfigurationen deuten auf Valenzen hin.150 Das aber heißt: »Diagrams are the proper epistemological means to get to know about continuous, real possibilities, because they are themselves continuous, iconic representations – they are drawn on a continuous sheet, facilitating continuous experiments with them (thus mirroring real laboratory experiments on a conceptual level), and they refer to a continuity of possible instantiations of the processes referred to by experiments, be they real or imagined.« 151

Für Frederik Stjernfelt, von dem diese Bemerkung stammt, ist somit entscheidend, dass Diagramme generelle Züge eines Sachverhaltes oder einer Ereignisfolge sichtbar machen und sowohl die notwendigen als auch die möglichen Schlüsse, die sie nahelegen, in der Konfiguration ihrer Elemente angelegt sind. »The seminal insight in Peirce is that diagrammatical reasoning representing generality by continuous shapes provides the general form of necessary and hypothetical inferences in thought. This gives the basic corollary that logical understanding is not as it might seem to be the case, deprived of observation. It is rather, the meticulous observation of general diagrams.«152

Hintergrund ist Peirce’ Überzeugung, dass Generalität oder Generalisierbarkeit rudimentäre Formen der Kontinuität darstellen. In einem 1902 veröffentlichten Artikel für Baldwin’s Dictionary konstatiert er: »True generality is, in fact, nothing but a rudimentary form of true continuity. Continuity is nothing but perfect generality of a law of relationship.«153 Der spezifische Beitrag, den Diagramme zur Gewinnung von Erkenntnissen respektive zum anschaulichen Denken leisten, besteht demnach darin, dass ihre Form verbürgt, dass die Zusammenhänge, die sie veranschaulichen, generalisierbar sind. Verbürgen kann ihre Form das deswegen, weil Schaubilder – wenn diese Formulierung gestattet ist – immer metonymisch verfasste Sinnbilder der Kontinuität darstellen. Sie zeigen pars pro toto, wie die Elemente zusammenhängen und deuten anhand der sichtbaren Relationen die Valenzen an, die ebenfalls innerhalb des kontinuierlichen Zusammenhangs liegen. Unabhängig davon, welcher 150 | Exakt dieses Kalkül liegt dem Notationssystem der »Existential Graphs« zugrunde, das Peirce entworfen hat. 151 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. 47. 152 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. xiii. 153 | Peirce: Collected Papers, 6.172.

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D IAGRAMMATIK Sachverhalt oder welche Ereignisfolge im Schaubild vergegenwärtigt wird, repräsentiert die Fläche, die das Schaubild beansprucht, Kontinuität. Entscheidend ist dabei für Peirce, dass diese Repräsentation qua Form sowohl den Zusammenhang der Elemente, ihrer Relationen und Valenzen als auch den Zusammenhang der auf sie gerichteten Beobachtungen betrifft. »To Peirce, observation is also a process necessarily infused with continuity. There is no such thing as an observation of a completely unique event or entity: already in ordinary perception, generality and continuity play a central role – e. g. in our spontaneous recognition that this or that aspect of perception is an instantiation of some general type or process.«154

Die Frage, die sich damit stellt, lautet natürlich: Muss man, um sich des heuristischen Konzepts der Diagrammatik zu bedienen, die Metaphysik teilen, die der Semiotik von Peirce eingeschrieben ist? Eine abschließende Antwort auf diese Frage kann hier nicht gegeben werden. Peirce selbst hat ja nicht mehr als A Guess at the Riddle gewagt, als das dem Menschen das Sein erscheint. Doch hat er immerhin auch die Pragmatische Maxime aufgestellt.

Ü BERGANG 1: D IAGR AMMATIK , K ULTUR UND W ELTERZEUGUNG Eine ›rein‹ philosophische Beschäftigung mit dem Begriff und dem Phänomen der Zeichen gibt es nicht. Die Disziplin, die sich der Zeichen annimmt, die Semiotik, ist weder exklusiv eine philosophische noch eine in sich homogene Disziplin. Zur Unübersichtlichkeit des Zeichenbegriffs gehört es, dass Zeichen in ganz verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten von Bedeutung sind. Zeichen spielen in Erkenntnistheorie, Sprachphilosophie, Medienphilosophie, Ästhetik oder Kulturphilosophie eine Rolle. Teils aufeinander bezogene, teils verschiedene semiotische Diskurse werden deshalb im Rahmen von Disziplinen wie Linguistik, Literaturwissenschaft, Kunstwissenschaft, Bildwissenschaft oder Medienwissenschaft gepflegt.155 Diese Unübersichtlichkeit hat nicht zuletzt historische Gründe. Die dem amerikanischen Pragmatismus entsprungene philosophische Semiotik eines Charles S. Peirce wird historisch zum Beispiel von der europäischen Tradition einer durch Ferdinand de Saussure hervorgebrachten und linguistisch geprägten Semiologie unterschieden. Diese Tradition hat die Rezeption von Peirce’ Schriften ebenso überlagert wie die behaviouristische Verkürzung des Pragmatismus durch Charles W. Morris. 154 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. 9. 155 | Einen Überblick bietet Nöth: Handbuch der Semiotik.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Zudem hat sich im Anschluss an Ernst Cassirer und seine Philosophie der symbolischen Formen eine Denkrichtung entwickelt, die sich selbst nicht der Semiotik zurechnet, deren Schlüsselbegriff – das Symbol – aber doch weitgehend gleichbedeutend mit dem Begriff des Zeichens verwendet wird. Während Symbole bei Peirce nur eine Zeichenklasse unter anderen bilden, erscheint das Symbol in der Kulturphilosophie, die Cassirers Überlegungen folgt, als die Form, durch die sich Denken und Handeln, Empfindung und Ausdruck gesellschaftlich wirksam vermitteln lassen. Eine wesentliche Gemeinsamkeit der pragmatisch orientierten Semiotik und der Symbolphilosophie besteht darin, dass die Kultur als ein kreativer Prozess der Formgebung und Welterzeugung verstanden wird. Vor diesem Hintergrund sind auch die Überlegungen von Nelson Goodman und Paul Ricoeur zu sehen, die von den Grundzügen der Diagrammatik zu den Gegenstandsfeldern der Wissenschaften überleiten, die sich mit spezifischen Kulturtechniken und Kunstwerken befassen.

I.

Diagrammatik und Welterzeugung

Nelson Goodman gilt gemeinhin als Nominalist. Daraus folgt jedoch nicht, dass seine Überlegungen grundsätzlich unvereinbar mit den Überzeugungen eines Realisten wie Charles S. Peirce sein müssen. Vielmehr treffen sich ihre Gedanken gerade dort, wo es um zentrale semiologische und medienphilosophische Fragen geht. Ebenso wenig wie für Peirce kann es für Goodman irgendeine Sicht der Dinge geben, die nicht durch Zeichen vermittelt ist: »Wir können zwar Wörter ohne eine Welt haben«, – beispielsweise das Wort ›Einhorn‹, dem kein Gegenstand der Erfahrungswelt entspricht – »aber keine Welt ohne Wörter oder andere Symbole.«156 Folgerichtig behauptet Goodman: »Wir sind bei allem, was beschrieben wird, auf Beschreibungsweisen beschränkt. Unser Universum besteht sozusagen aus diesen Weisen und nicht aus einer Welt oder aus Welten.«157 Ob man nun von Beschreibungsweisen oder von Zeichenkonfigurationen, von Diskurs- und Medienformaten oder wie Kant, auf den sich Peirce wie Goodman beziehen, von Kategorien und Schemata, Verstandesbegriffen und Anschauungsformen spricht – die Welt erscheint dem Menschen offenbar stets in Gestalt einer Version, die eine Lesart unter mehreren möglichen darstellt. Wenn man nun eine Version mit anderen Versionen vergleicht, stellt sich eigentlich immer heraus: »So wie Bedeutungen zugunsten bestimmter Beziehungen zwischen Termini verschwinden, so verschwinden Tatsachen zugunsten bestimmter Beziehungen zwischen Versionen.«158 Genau dies ist die erkenntnistheoretische Kehrseite der Diagrammatik, inso156 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 19. 157 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 15. 158 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 117.

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D IAGRAMMATIK fern die Diagrammatik eine pragmatische Bedeutungslehre bildet. Wenn man nämlich mit Peirce annimmt, dass sich aus den Relationen, die ein Diagramm veranschaulicht, Schlüsse ziehen lassen, kann man eigentlich auch nicht bestreiten, dass diese Schlüsse mit den Relationen, die ihre Grundlage bilden, verschwinden würden bzw. dass sich andere Schlüsse ergeben, wenn man die Relationen ändert. Unter dieser Voraussetzung muss man dann aber auch Goodman zustimmen, wenn er behauptet: »›Tatsache‹ ist ebenso wie ›Bedeutung‹ ein synkategorematischer Ausdruck; denn schließlich sind Tatsachen oder ›Fakten‹ offensichtlich etwas Gemachtes.«159 Daher ist es nur konsequent, von Weisen der Welterzeugung zu reden und dabei vor allem an Symbolsysteme und Medienformate zu denken. Wenn man also fragt: Wie können divergierende Diagramme oder Versionen von denselben Gegenständen, derselben Welt handeln, lautet Goodmans Antwort, dass sie entweder von keiner Welt oder von verschiedenen Welten handeln. Damit argumentiert er auf der Linie, die von Kant über Peirce zur modernen Einsicht in die Abhängigkeit aller Erkenntnisse von den Operationen des Bezeichnens und Darstellens, Veranschaulichens und Vorstellens führt, die ihrerseits wiederum in Abhängigkeit von den Eigenarten der Zeichensysteme und Medien wie den Eigenarten des kognitiven Apparates zu sehen sind. Da Goodman immer dann, wenn er von ›Welten‹ spricht, ›Weltversionen‹ meint, und die Leser seiner Schriften stets bedenken müssen, dass Zeichen- und Mediensysteme ›Weisen der Welterzeugung‹ sind, kann man in diesen Schriften Grundzüge einer Diagrammatik sehen, deren semiologische und medienphilosophische Implikaturen von enormer Tragweite sind. Das gilt insbesondere für die kleine Grammatik der ›Welterzeugung‹, die Goodman entworfen hat, indem er verschiedene Verfahren der Konfiguration und Rekonfiguration voneinander abhebt. Die beiden Basisoperationen bezeichnet er als ›Komposition‹ und ›Dekomposition‹. Zu ihnen führt Goodman aus: »Bei der Welterzeugung besteht vieles, aber keineswegs alles aus Zerlegung und Zusammenfügung, häufig aus beidem zugleich […].«160 Diese Bemerkung ist im Zusammenhang mit einer anderen Bemerkung zu sehen, die dem Verfahren der Rekonfiguration zentrale Bedeutung zumisst: »Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen.«161 Anders gesagt: »Welterzeugung beginnt mit einer Version und endet mit einer anderen.«162 Das gilt auch und gerade, wenn die Rekonfiguration dadurch zustande kommt, dass man einen Medienwechsel vollzieht. Die Kinoadaption eines Romans ist eine Rekonfiguration der erzählten Geschichte; das Buch zum Film für jeden Leser, der zunächst die Adaption 159 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 116. 160 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 20. 161 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 19. 162 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 121.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK gesehen und erst dann die literarische Narration kennengelernt hat, wiederum eine andere Rekonfiguration. Um diesen und ähnlich generierten Bedeutungsnuancen gerecht zu werden, kann man die beiden Basisoperationen der Komposition und der Dekomposition anhand weiterer Verfahren differenzieren. Goodman nennt die Gewichtung, die Ordnung, die Tilgung und die Ergänzung sowie die Deformation. Anstatt von ›Gewichtung‹ könnte man auch von ›Betonung‹ oder von ›Akzentverlagerung‹ sprechen, denn »manchmal unterscheiden sich Welten nicht so sehr im Hinblick auf die Entitäten, die sie umfassen, als vielmehr in der Betonung oder im Akzent, und diese Unterschiede sind nicht weniger folgerichtig«163 als diejenigen, die sich durch eine Dekomposition der Entitäten oder ihrer Relationen ergeben. Ein triviales Beispiel ist der Slogan, mit dem die bayerische Metropole einstmals um Verständnis für die Umbaumaßnahmen warb, die sich aus der Ausrichtung der olympischen Sommerspiele 1972 ergaben. »München wird modern.« Spötter betonten das Wort »modern« so, dass es nicht als Adjektiv, sondern – pejorativ – als Verb verstanden werden konnte. Die Entitäten (Satzteile) sind jeweils dieselben, die Bedeutung, die sich aus der Akzentverlagerung ergibt, jedoch eine ganz andere. Wie man sich denken kann, ist der Übergang vom Umgewichten zum Umordnen fließend. Auch das Ordnen trägt zum Welterzeugen bei – gerade dann, wenn es wie beim diagrammatischen Denken darum geht, Überblick und Einsicht zu vermitteln. »Welten, die sich hinsichtlich ihrer Entitäten oder in der Betonung nicht unterscheiden, können doch verschieden geordnet sein«164 , erklärt Goodman. Man könnte an den Unterschied zwischen einer chronologischen und einer nicht-chronologischen Erzählung denken, die von denselben Ereignissen handeln. Der Eindruck, den sie vom Geschehen vermitteln, ist keineswegs derselbe. Auch kann man an die Differenzen denken, die sich ergeben, wenn eine Version in verschiedene Kontexte eingeordnet wird, wie dies zum Beispiel bei der ironischen Verwendung einer Äußerung geschieht. An den Worten und ihrer Betonung ändert sich nichts, wohl aber an ihrem situativen Sinn. Was nun die beiden Verfahren der Tilgung und Ergänzung betrifft, so bedarf es keiner umständlichen Erläuterung, inwiefern das Weglassen, Auffüllen oder Ersetzen ein Umschaffen (Rekonfigurieren) ist. Historiker etwa kennen das Problem der Interpolation, der Hinzufügung von Zeichen, durch die sich die Bedeutung von Dokumenten grundlegend ändern kann. Gerade das Löschen oder Hinzufügen von Negationspartikeln wie ›nicht‹ kann den Sinn einer Aussage vollkommen ins Gegenteil verkehren. Ähnliches gilt für Zusätze, die unterdrückt werden. Auch in der Bibel steht: »Es gibt keinen Gott«, allerdings gefolgt von: »sprach der Narr«. Das Beispiel zeigt, wie eng die Tilgung und die Ergänzung mit der 163 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 23. 164 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 25.

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D IAGRAMMATIK Deformation zusammenhängen, die ebenfalls eine Weise der Welterzeugung darstellt. Man denke etwa an die Umgestaltung, die das Konterfei eines Politikers auf einem Wahlplakat dadurch erleidet, dass man seine Nase ins Groteske verlängert – insbesondere dann, wenn das Plakat mit der Glaubwürdigkeit des Kandidaten wirbt. Gemeinsam ist den Operationen des Gewichtens und Ordnens, des Tilgens und Ergänzens wie der Deformation, dass sie etwas an den Elementen, Relationen und Proportionen einer Konfiguration ändern, also mit der Gestalt auch den Bedeutungsgehalt abwandeln. Eben diese Wechselwirkung von Gestalt und Gehalt liegt aber dem heuristischen respektive poietischen Konzept der Diagrammatik zugrunde. Es verwundert daher nicht, dass Goodman vor allem an wissenschaftlichen Theorien, literarischen Texten und Kunstwerken aufzeigt, wie verschiedene Weisen der Welterzeugung unterschiedliche Weltbilder oder Versionen ergeben. Sehr anschaulich geschieht dies in einem Essay, in dem er sich mit Picassos Variationen von Velázquez’ Gemälde Las Meninas beschäftigt.165 Nicht minder überzeugend ist die Anwendung seiner kleinen Grammatik der Welterzeugung auf intertextuelle oder intermediale Rekonfigurationen. Wer das Hörbuch mit der Hörspiel-Fassung der Buddenbrooks von Thomas Mann und ihre diversen Verfilmungen untereinander vergleicht, wird immer wieder feststellen, wie wirkungsvoll selbst kleine Nuancen sind, die sich aus den Verfahren der Umgewichtung oder Umgestaltung, des Ordnens, Tilgens und Ergänzens ergeben, und außerdem bemerken, wie viele Nuancen sich aus der technischen und performativen Differenz der Medien ergeben. Unter anderem müssen die Romanfiguren auf der Leinwand durch Schauspieler verkörpert werden, die nun einmal bestimmte Staturen und Physiognomien haben, die man auch durch Maske, Kostüm und Ausleuchtung nicht beliebig verändern kann. Jede Verkörperung ist unvermeidlich eine Konkretisierung, die bestimmte Körpermerkmale und Verhaltenszüge besitzt oder hervorhebt und andere ausblendet. Wenn casting und performance gelingen, wird die Verkörperung eine Exemplifikation wesentlicher Momente sein. ›Exemplifikation‹ firmiert in Goodmans Theorie der Referenz als Bezugnahme auf (zumindest) ein Merkmal des Gegenstandes, welches das Zeichen selbst besitzt. »Exemplifikation ist Besitz plus Bezugnahme«166, und unterscheidet sich dadurch von der Ostension: »[...] während Ostension der Akt des Zeigens auf eine Probe ist, ist Exemplifikation die Beziehung zwischen einer Probe und dem, worauf sie Bezug nimmt.«167 Häufig kommen diese beiden Verfahren gemeinsam vor: Der Tuchhändler legt dem Kunden eine Stoffprobe vor, die bestimmte Eigenschaften besitzt (Exemplifikation) – Eigenschaften wie zum Beispiel das Webmuster, auf das der Händler mit dem Finger zeigt (Ostension), 165 | Vgl. Goodman/Elgin: Revisionen, S. 93ff. 166 | Goodman: Sprachen der Kunst, S. 60. 167 | Goodman: Sprachen der Kunst, S. 60.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK wenn er die Ware anpreist. Auch Filme machen sich dieses Wechselspiel zu Nutze, etwa wenn der Dialog den Zuschauer auf Merkmale hinweist, die ein Schauspieler verkörpern soll; seine Erscheinung muss belegen, was im Dialog behauptet wird. Das bedeutet zugleich, dass es der Zuschauer nicht mit einer einfachen, sondern mit einer mehrstufigen Form der Bezugnahme zu tun hat. Die Erscheinung des Mimen – ein Ensemble visueller, nonverbaler Zeichen – exemplifiziert eine Aussage – ein Ensemble auditiver, verbaler Zeichen – die als Ostension gedacht ist. Ausgespielt wird so die Intermodalität des szenographischen Mediums, die im Dienste der Veranschaulichung, der evidentia steht. Entscheidend ist nun Goodmans Erkenntnis, dass die Exemplifikation auch metaphorisch eingesetzt werden kann und damit einen Ausdruckswert erhält. Denn dadurch wird es möglich, auch abstrakte Gegenstände in den Anschauungsraum der Sinnlichkeit zu überführen. Ein ganz in Grautönen gehaltenes Gemälde kann ein Ausdruck von Melancholie oder Traurigkeit sein. Es exemplifiziert eine Stimmung nicht, indem es diese Stimmung – wie der Begriff der Melancholie – denotiert, sondern weil die Farbtöne mit entsprechenden Konnotationen versehen sind. Konnotationen aber sind nichts anderes als kulturell vermittelte Schemata. Wenn man also mit Goodman behauptet: »Was zum Ausdruck gebracht wird, wird metaphorisch exemplifiziert«168, gibt man damit ein Verfahren der Darstellung an, das dem Verfahren der Vorstellungskraft, einem Begriff zur Anschauung zu verhelfen, durchaus ähnlich ist. Während sich das (transzendentale) Schema, so wie es Kant definiert hat, jedoch auf einen reinen Verstandesbegriff bezieht und ausschließlich in der Imagination gebildet wird, geht es bei der metaphorischen Exemplifikation um eine Zurschaustellung von Stimmungen anhand von Konnotationen, die durch materiale Eigenschaften hervorgerufen werden. Für die Künste sind die Referenzarten der Exemplifikation (Probe) und der metaphorischen Exemplifikation (Ausdruck) von zentraler Bedeutung: »Was ein Portrait oder ein Roman ausdrückt oder exemplifiziert, reorganisiert eine Welt oft drastischer als das, was das Werk buchstäblich oder figurativ sagt oder abbildet; und manchmal dient das Sujet bloß als Vehikel für das Ausgedrückte oder Exemplifizierte.«169 Wenn Goodman an dieser Stelle davon spricht, dass Kunstwerke etwas figurativ sagen oder abbilden, geht er zunächst davon aus, dass sie als diagrams oder images aufgefasst werden können. Nur: darin erschöpfen sich Kunstwerke eben nicht. Vielmehr setzen sie das Moment der Evidenz exemplifikatorisch ein, um die Welt, auf die sie sich im wörtlichen oder übertragenen Sinn beziehen, einer Rekonfiguration zu unterziehen. Damit gehen sie über die Mimesis hinaus, das heißt, der Anschauungsraum, den sie eröffnen, wird zu einem Spielraum der Welterzeugung. In der Auseinandersetzung mit Kunstwerken findet sozusagen ein hypothetisches 168 | Goodman: Sprachen der Kunst, S. 88. 169 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 131f.

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D IAGRAMMATIK oder fiktionales Umgestalten der Welt statt, auf das die Betrachter, Zuhörer oder Leser dann wiederum die Probe der Pragmatischen Maxime machen können. Worauf es ankommt, ist das Reflexiv-Werden dieser Umgestaltung. Wolfgang Iser hat diese Pointe, im Anschluss an Nelson Goodman, so formuliert: »Wie die anderen Versionen von Welt, so ist auch das Kunstwerk nur eine solche; doch es zielt nicht – wie die übrigen – auf eine bestimmte Praxis, ohne dadurch schon weniger pragmatisch als die anderen zu sein. Seine Pragmatik ist, die Operationen zu exemplifizieren, durch die Welten gemacht werden.«170 Mit anderen Worten: Kunstwerke führen das Welterzeugen im status conjecturae vor Augen und stellen insofern Reflexionsmedien der Praxis dar. Das kann freilich nur gelingen, weil sie diagrammatisch verfasst sind. »Der eigentliche Inhalt des Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu sehen und zu beurteilen, ausgedrückt in einem Gestaltungsmodus, und auf dieser Ebene muß dann auch die Untersuchung der Beziehungen zwischen Kunst und Welt geführt werden. Die Kunst erkennt die Welt durch die Strukturen ihres Gestaltens (die darum nicht formal, sondern ihr eigentlicher Inhalt sind); die Literatur organisiert Wörter, die Aspekte der Welt bezeichnen, doch das literarische Werk deutet auf die Welt hin durch die Art und Weise, wie diese Wörter angeordnet sind.«171 Wie diese Darlegung des Sachverhalts durch Umberto Eco verdeutlicht, kommt es bei einem Kunstwerk auf den Gestaltungsmodus der Anordnung (Konfiguration) an – sowie darauf, dass der Leser die Kontingenz dieser Anordnung reflektiert. Folgerichtig besteht die von Iser herausgestrichene ›Appellfunktion‹ literarischer Texte wesentlich in der Aufforderung, anhand einer anschaulichen Darstellung den Raum des Möglichen zu erkunden und das Ergebnis dieser Erkundung zurückzubeziehen auf das Machbare und Wünschenswerte. Diese Vermittlung von Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn (Robert Musil) entspricht der displayFunktion, die nicht nur Romanen zukommt: Indem sie Beziehungen respektive Beziehungsmuster aufzeigen und denkbare Veränderungen imaginativ durchspielen, stehen auch Theaterstücke, Spielfilme und Werke der bildenden Kunst im Dienste einer Heuristik und Poetik, die sich nicht auf das Fiktive, sondern auf das Reale bezieht. Mit der Exemplifikation und der metaphorischen Exemplifikation hat Goodman zwei künstlerische Verfahren ausgezeichnet, durch die sich Kunstwerke von anderen Formen der diagrammatischen Konfiguration und Rekonfiguration abheben. Es mag hilfreich sein, ihre Eigenarten an einem Beispiel zu veranschaulichen, das nicht aus dem Bereich der Literatur stammt und nicht als ›Aussage‹, sondern als ›Ausdruck‹ fasziniert. Wenn man sich Edvard Munchs Radierung Der Kuss ansieht und mit dem gleichnamigen Gemälde vergleicht, das zwei Jahre später entstand, wird 170 | Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 278. 171 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 271.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK man zunächst kaum den Eindruck gewinnen, dass in diesen Bildern Weisen der Welterzeugung vor Augen geführt werden. Abbildung 2: Edvard Munch, Der Kuss (1895), Radierung auf Papier

Abbildung 3: Edvard Munch, Der Kuss (1897), Öl auf Leinwand

Offenkundig war Munch bereits in der Radierung darum bemüht, die Intimität des Kusses dadurch hervorzuheben, dass die Gesichter von Mann und Frau nicht individuell ausgeführt sind und gleichsam konvergieren. Voraussetzung dafür, dass dieser Eindruck entsteht, ist allerdings das Wechselspiel zwischen der Körperdarstellung, in der das Schema einer

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D IAGRAMMATIK innigen Umarmung zu erkennen ist, und dem Titel, der auf den Begriff bringt, was die Radierung zeigt. Das Diagramm der Körper denotiert diesen Begriff. Veranschaulicht wird aber nicht einfach der Vorgang des Küssens. Vielmehr wird dessen Intensität zum Ausdruck gebracht – paradoxerweise dadurch, dass die Radierung genau das nicht besitzt, was Menschen voneinander abhebt: Indem die Konturen der Gesichter verschwimmen, wird die Trennung der Leiber – die bis zum Hals durchgehalten wird – dergestalt aufgehoben, dass der Betrachter die Intimität und Intensität der Berührung beinahe körperlich spüren kann. Im Bild exemplifiziert wird also die Aufhebung der Individualität, metaphorisch zum Ausdruck gebracht wird die Libido, die ein Wort wie ›Kuss‹ bestenfalls evozieren, aber kaum so evident und dynamisch in Szene setzen kann wie Munchs Radierung. An dem Gemälde, das mit dem Thema der Radierung auch die Wirkung der Szene variiert, lässt sich zunächst studieren, inwiefern das Sujet den Operationen der Tilgung und Ergänzung wie der Umgestaltung ausgesetzt wird. Entfallen sind bestimmte Elemente der Kulisse – etwa die Häuserzeile jenseits des Fensters –, umgestaltet ist das Motiv des Vorhangs; ergänzt wurde die Bekleidung des Paares, dessen farbliche Gestaltung die Plastizität der Leiber und ihre reliefartige Absetzung vom Bildhintergrund tilgt. Etwas anders angeordnet sind zudem die Arme und Hände von Mann und Frau – freilich ohne etwas Wesentliches an den Grundrelationen dieser Elemente zu verändern. Obwohl der Titel von Radierung und Gemälde identisch ist und obwohl die Akzentuierung der Szene gewahrt bleibt, unterscheiden sich die beiden Versionen in mehr als einer Hinsicht. Die Radierung ist nicht nur mit Nacktheit, sondern auch mit einer gewissen Kühle behaftet und besitzt von daher eine ganz andere Atmosphäre als das Gemälde, das zugleich wärmer und düsterer wirkt. Beide Darstellungen fokussieren im Prinzip dasselbe Detail, den Kuss – während die Radierung jedoch die Differenz von Paar und Umwelt durch den Kontrast zwischen der vertikalen Achse ihrer Körper und der Querstrebe der Fensterbank wie durch andere Momente betont, hüllt der Raum das Paar auf dem Gemälde gleichsam ein und wirkt insofern geradezu osmotisch. Verstärkt wird im Gemälde mithin nicht unbedingt die Intensität des Kusses, wohl aber die Intimität der Szene; verstärkt wird so aber auch die Ambivalenz der körperlichen Vereinigung. Das Zusammenspiel von Farbe und Raumstimmung unterstreicht am innigen Kuss einen Aspekt, den man nicht ohne weiteres bezeichnen kann und daher umschreiben muss: Stärker als die Radierung legt das Gemälde dem Betrachter den Gedanken nahe, dass Mann und Frau einander geradezu verschlingen. Sieht man Radierung und Gemälde nicht nur im Zusammenhang mit den verschiedenen Holzschnitten, die Munch zum gleichen Thema angefertigt hat, sondern auch im Zusammenhang mit seiner Bilderserie Vampir, die parallel zu den Kuss-Varianten entstand, tritt diese Ambivalenz der malerischen Gestaltung noch deutlicher hervor.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Denn auch die verschiedenen Versionen der Vampirkuss-Szene beziehen ihre Wirkung aus der Diffusion von Paar und Umgebung respektive aus der Interpenetration von Vorder- und Hintergrund. Ein Übriges tut in der Vampir-Serie die farbliche Gestaltung der Haare, die an Blutsträhnen gemahnt und dergestalt die Aggressivität des Erotischen unterstreicht, die in Der Kuss nur angedeutet wird. Kurzum: Es ist stets das Zusammenspiel der Operationen, durch das ein Körperschema – das Diagramm von Kuss und Umarmung – atmosphärisch aufgeladen, symbolisch akzentuiert und zur Evokation von physiologischen und psychologischen Erregungsmomenten genutzt wird. Vollzogen werden diese Operationen an den materiellen und medialen Eigenarten von Radierung, Holzschnitt und Ölgemälde. Die formale Variation der Gestaltungsmittel verändert (jeweils in Nuancen) den Bedeutungsgehalt. Was die Bilder im Einzelnen exemplifizieren, ist jeweils das, was am Schema metaphorisch wahrgenommen werden soll. Von daher kann der kurze Exkurs in die Kunst den Blick auf die Rolle der Metapher in Goodmans Diagrammatik lenken. Abbildung 4: Edvard Munch, Vampir (1893-94), Öl auf Leinwand

Der Clou besteht darin, dass Goodman die Metapher gegen den Wahrheitsbegriff ausspielt. So behauptet er unter anderem: »Buchstäbliche Falschheit oder buchstäbliches Nichtzutreffen ist völlig kompatibel mit metaphorischer Wahrheit, wenn auch natürlich kein Garant dafür.«172 Unzutreffend ist Munchs Bilder-Serie ja insofern, als die Verschmelzung der Gesichter, die seine Radierungen, Gemälde und Holzschnitte zeigen, in der realen Welt der Körper eigentlich unmöglich ist. In dieser Welt führt kein noch so intensiver und intimer Kuss dazu, dass die Gesichter ihre 172 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 128.

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D IAGRAMMATIK Individualität verlieren. Könnte man sich diesen Eindruck beim Gemälde noch mit den (schummrigen) Lichtverhältnissen erklären, die es einem Beobachter der Szene verwehren, die Konturen von Mann und Frau deutlich voneinander abzuheben, liegt es bei den klaren Körperlinien der Radierung auf der Hand, dass der Vorgang des Kusses, rein physikalisch betrachtet, nicht richtig dargestellt ist. Offenbar ist das ›Falsche‹ daran aber beabsichtigt und Teil der ›Aussage‹, die das Kunstwerk macht. Denn im übertragenen Sinne trifft es sehr wohl zu, dass ein intensiver Kuss zugleich als intime Vereinigung und als ekstatischer Moment der Selbstentgrenzung wahrgenommen wird. Munchs Darstellung ist somit – im strengen Sinn des Wortes – nicht fiktiv, sie wird aber gerade deswegen metaphorisch verstanden, weil sie in gewisser Weise unrealistisch ist. Von daher macht es Sinn, wenn Goodman erklärt: »Ob geschrieben, gemalt oder gespielt, die Fiktion trifft in Wahrheit weder auf nichts noch auf durchsichtige mögliche Welten zu, sondern, wenn auch metaphorisch, auf wirkliche Welten«173 – in diesem Fall auf die Welt sensorischer, insbesondere erotischer Erlebnisse. Allerdings folgt aus dieser Sicht der Dinge keineswegs, dass buchstäbliche Unrichtigkeit allein hinreichend wäre, um bedeutsame Kunst zu schaffen. Entscheidend ist vielmehr, dass ein Kunstwerk, das dem Betrachter im übertragenen Sinn als zutreffend erscheint, die Bedeutungssphäre, auf die es sich bezieht, in einem speziellen, womöglich neuen Licht erscheinen lässt. Eben darin liegt für Goodman das Potenzial aller Metaphorik. Um dies zu erfassen, muss man begreifen, was er unter Etiketten und unter Schemata versteht. Falsch ist eine Aussage für Goodman dann, wenn sie auf der Fehlzuweisung eines Etiketts beruht. Zum Beispiel kann man nicht sagen: Munchs Gemälde Der Kuss sei dick. Der Begriff, auf den das Adjektiv verweist, passt nicht zum Gegenstand. Im eigentlichen Sinne ist auch die Verwendung des Etiketts ›warm‹ nicht richtig. Gleichwohl kann man aber sagen, dass Munchs Gemälde Der Kuss in dunklen, warmen Tönen gehalten ist. Die Sphäre der Bedeutungen, die durch den Begriff der Wärme abgedeckt ist, passt zu seinem Gegenstand (Sujet) wie zu seiner Farbgestaltung (Modus). Was das Gemälde durch diesen Gestaltungsmodus ausdrückt, ist sein eigentlicher Inhalt: Es stellt nicht einfach einen erotischen Akt aus, sondern es exemplifiziert die Intimität, Intensität und Ambivalenz dieses Aktes. In diesem Sinne bekräftigt es Goodmans Erkenntnis, dass an einem Kunstwerk längst nicht nur das bedeutsam ist, was es figurativ sagt oder abbildet. Vielmehr ist es die jeweils spezifische Art und Weise der Sujetgestaltung (Welterzeugung), durch die es Eindruck macht und Bedeutung erlangt. Das Schema des Kusses, das den Bildraum organisiert, ist – schon als Figur betrachtet – ein Diagramm, bei dem es auf die Relationen der Elemente (Körperteile) ankommt. Indem dieses Schema jedoch an der entscheidenden Stelle einer Rekonfiguration durch Tilgung oder Deformation unterzogen wird, erhält es eine spezifische Anmutungs173 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 129.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK oder Ausdrucksqualität, deren Reflexion den Betrachter zu bestimmten Schlussfolgerungen veranlasst. Gegenstand dieser Schlussfolgerungen ist nicht mehr das, was die Radierung oder das Gemälde zeigen, sondern was sie metaphorisch exemplifizieren oder symbolisch akzentuieren. Es wäre daher kurzschlüssig, Kunstwerke nur unter dem Aspekt der Veranschaulichung zu sehen, obwohl die Herstellung von Evidenz zweifellos ein zentrales Anliegen vieler Maler und Bildhauer, Schriftsteller und Bühnendichter war und bleibt. Goodman – der nicht nur in Harvard Philosophie gelehrt hat, sondern auch als Galerist tätig war – ist denn auch nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, dass die Reduktion der Exemplifikation auf gegenständliche Darstellungen ebenso irreführend ist wie die Gleichsetzung von Ausdruck mit Empfindung oder gar mit Gefühlsduselei: »Ein ungegenständliches Gemälde zum Beispiel kann bestimmte Formen und Muster exemplifizieren, kann eine Sehweise zeigen, die sich durch weiteres Sehen in etwa so testen läßt, wie eine vorgeschlagene Hypothese durch weitere Fälle getestet wird.«174 Ohne Peirce an dieser Stelle zu erwähnen, hebt Goodman an der Exemplifikation das Zusammenspiel von Diagrammatik, Abduktion, Deduktion und Induktion hervor, das auch schon den Begründer der pragmatischen Semiotik dazu veranlasst hatte, das wissenschaftliche Beobachten von Verhältnissen und die künstlerische Zurschaustellung von Beziehungen unter dem gemeinsamen Gesichtspunkt der Forschung zu betrachten. Welterzeugung ist für Peirce wie für Goodman vor allem Welterschließung anhand von diagrammatisch entworfenen Gestalten.

II. Analoge und digitale Symbolsysteme Für Goodman ist Kunst eine symbolische Form des Forschens und Welterzeugens. Im Rahmen dieser Konzeption hat ihn immer wieder das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft beschäftigt. Eine Möglichkeit, das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft zu bestimmen, ergibt sich aus ihrem Bezug auf die Tätigkeit des Messens und Vermessens. Die Wissenschaft erscheint in vielen Fällen als ein Versuch, die Welt exakt zu vermessen (z.B. kartographisch) und innerweltliche Zustände anhand ihrer Relationen und Proportionen quantitativ zu erfassen. Demgegenüber springen an Kunstwerken zunächst ihre Gestaltqualitäten ins Auge. Umso aufschlussreicher ist die Perspektive, die Goodman auf das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft wirft, wenn er vor allem die bildende Kunst als eine kulturelle Praxis des ›Messens im Bereich des Unmessbaren‹ betrachtet – als eine Praxis mithin, in der Symbole auf bisher unbekannte Situationen bezogen werden müssen.175 Betont wird damit der Umstand, 174 | Goodman: Vom Denken und anderen Dingen, S. 64. 175 | Neben Charles S. Peirce, Ernst Cassirer und Charles W. Morris verweist Goodman ausdrücklich auf den prägenden Einfluss Susanne K. Langers für seine Symboltheorie, vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 10, S. 211f.

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D IAGRAMMATIK dass sich Kreativität kulturell gerade dort manifestiert, wo bestehende Symbolsysteme für bis dato nicht symbolisch erfasste – das heißt noch nicht ›kartographierte‹ – Sachverhalte und Objekte umstrukturiert werden. Dieses ›Umstrukturieren‹ ist offenbar eine diagrammatische Operation, durch die der zu beschreibende Sachverhalt bzw. das zu beschreibende Objekt allererst hervorgebracht werden.176 In seinem überaus einflussreichen Buch Sprachen der Kunst arbeitet Goodman präzise Kategorien zur Beschreibung der formalen und funktionalen Eigenschaften von Diagrammen aus. Er geht davon aus, dass der Konstruktionscharakter von Repräsentationen nicht durch eine Ähnlichkeitstheorie eines Symbols, zum Beispiel eines Bildes zu seinem Objekt, erklärt werden kann.177 Zum Beleg führt er unter anderem an, dass eine Ähnlichkeitsbeziehung anderen Prinzipien folgt als eine Repräsentationsbeziehung: Ein Zwilling ist dem anderen ähnlich, repräsentiert ihn aber nicht. Wer im Rahmen einer Bildtheorie von einem Ähnlichkeitsverhältnis spricht, der spricht häufig von einem Abbildungsverhältnis. Ein Abbildungsverhältnis impliziert ein ›Verlustverhältnis‹: Das Abbild ist seinem (Vor-)Bild ähnlich, aber nicht mit ihm identisch. Nach Goodman macht das keinen Sinn. Ähnlichkeit ist für Goodman kein hinreichendes Kriterium für eine Bildbeziehung.178 Das hat folgenden Grund: Eine Ähnlichkeitsbeziehung muss symmetrisch sein. Wenn ein A einem B ähnlich ist, muss auch B A ähnlich sein. Beide Teile dieser Beziehung müssen also in einem Äquivalenz-Verhältnis stehen, wie es zum Beispiel in technischen Reproduktionsprozessen bei zwei Computern derselben Baureihe der Fall ist. Die Bildbeziehung zwischen Vorbild und Abbild ist aber asymmetrisch: Das Abbild ist dem Vorbild ähnlich, aber nicht das Vorbild dem Abbild. Das Vorbild ist das ›Eigentliche‹ und ›Authentische‹, das Abbild ist das ›Sekundäre‹ und ›Abgeleitete‹. Die Bildbeziehung kann daher nicht als Ähnlichkeitsverhältnis gedacht werden, sondern muss als konstruktiver Akt einer ›Beschreibung‹ aufgefasst werden: »Repräsentationen sind also Bilder, die etwa in derselben Weise funktionieren wie Beschreibungen.«179 Die Bildbeziehung begreift Goodman dementsprechend einerseits als das Verhältnis einer Beschreibung zu einer Klasse von Gegenständen (»Denotaten«, Objekten), und andererseits als das Verhältnis einer Beschreibung zu Etiketten der Beschreibung (bestimmte Symbole). Unabhängig davon, dass Goodman bildliche Repräsentationen von diskursiven Repräsentationen (die ›beschreibenden‹ Charakter haben) unterscheidet, sind Bilder für ihn konstruktive Akte einer Beschreibung und damit der 176 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 114: »Messen gilt […] also als ein ›konstruktivistischer‹ Grundakt.« 177 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 15ff., vgl. auch Scholz: Bild, Darstellung, Zeichen, S. 17ff. 178 | Goodman: Sprachen der Kunst, S. 16. 179 | Goodman: Sprachen der Kunst, S. 39.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Sichtbarmachung eines Objektes. De facto unterscheiden sich Bilder von anderen Formen der Beschreibung nicht durch eine naturalistische Ähnlichkeit zum Gegenstand, sondern durch ihre Eigenschaften als Symbolsysteme. Für eine Theorie der Kunst muss man deshalb die Unterschiede in den Eigenschaften von Symbolsystemen ausarbeiten und mit Beispielen aus der Kunst in Verbindung bringen. In diesem Kontext kommt Goodman auch auf das Diagramm zu sprechen. In seiner gewinnbringenden Herangehensweise an die Frage nach den spezifischen Eigenschaften von Symbolsystemen unterscheidet Goodman zunächst zwischen »Symbolsystemen« im Allgemeinen und einer besonderen Gruppe von »Notationssystemen«. Unter Notationssystemen versteht Goodman regelgeleitete und klar geordnete Symbolsysteme wie zum Beispiel die Notenschrift, die in Partituren zur Anwendung gelangt.180 Die Demarkation und Konfiguration der Zeichen folgt also jeweils einem bestimmten »Symbol-« oder »Notationsschema«:181 Das Notationssystem der Partitur zum Beispiel umfasst neben der Unterscheidung von Tonlängen und Notenschlüsseln die Anordnung der Zeichen auf oder zwischen Linien etc. Symbol- und Notationssysteme sind in zweierlei Hinsicht, nämlich »syntaktisch« und »semantisch« geordnet: Die syntaktische Ebene betrifft die Ordnung der Elemente, die semantische Ebene die Ordnung ihrer Bedeutung. Syntaktisch und semantisch geordnete Elemente können »dicht« oder »differenziert« sein. Besteht die Möglichkeit, dass zwischen ihnen ein drittes Element existieren kann, so handelt es sich um dichte bzw. analoge Systeme. Besteht diese Möglichkeit nicht, existiert also kein Zwischenraum zwischen den Elementen, dann handelt es sich um differenzierte bzw. digitale Systeme. Eines von Goodmans Beispielen ist das Thermometer. Ist es skalenlos, macht die Quecksilbersäule in unendlich möglichen Stellungen einen Unterschied. Es handelt sich dann um ein syntaktisch und semantisch dichtes System. Die verschiedenen Charaktere dieses Symbolsystems gehen ineinander über. Sie sind nicht strikt getrennt. Das Symbolsystem ist analog.182 Anders verhält es sich, wenn eine fixe Skala zur Verfügung steht oder wenn es sich um ein Digitalthermometer handelt. In diesem Fall ist von einem semantisch und syntaktisch differenzierten Symbolsystem zu sprechen. Das Symbolsystem ist digital.183 Ähnliches trifft für einen – wohl eher hypothetischen –Druckmesser ohne Ziffernblatt zu.184 Auch er ist zunächst semantisch und syntaktisch dicht. Wenn das Zif180 | Vgl. zu den Kriterien für ein Notationssystem Goodman: Sprachen der Kunst, S. 128ff. 181 | Einen guten Überblick über Goodmans Theorie der Notation sowie ihre philosophischen Implikationen gibt Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«. 182 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 112. 183 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 112. 184 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 151ff.

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D IAGRAMMATIK fernblatt dieses Gerätes jedoch unterteilt wird, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder sind die Punkte nur Hilfsmittel zur annähernden Bestimmung oder aber die Punkte differenzieren ontologisch disjunkte Gebiete. Dann zeigt der Zeiger entweder das eine Gebiet oder das andere Gebiet an. Wenn auch noch der Druckbereich (also die Objekte) disjunkt ist, erhält man ein syntaktisch und semantisch differenziertes (»vollnotationales«) Symbolsystem.185 Goodman benutzt diese Differenzierungen, um den Unterschied zwischen Symbolsystemen (analog) und Notationssystemen (digital) auszuarbeiten. Stets zu bedenken bleibt allerdings, dass die Notationssysteme aus den Symbolsystemen hervorgehen, und dass der Unterschied zwischen analog/digital ein gradueller ist, so dass es zu Übergangsphänomenen kommen kann. Das Ziffernblatt einer Uhr ist nur ein Beispiel, wie beide Möglichkeiten kombiniert werden.186 Stunden- und Sekundenzeiger können als Anzeige für den Verlauf der absoluten Zeit verwendet werden (dicht, nichtnotational). Wird jedoch dem Ablauf der Zeit eine Grenze gesetzt (›halbe Minute‹), dann kann das System notational (disjunkt bzw. differenziert) werden.187 Unter Gesichtspunkten der Anwendbarkeit liegen die Vorteile der digitalen Symbolsysteme in der Bestimmtheit und Wiederholbarkeit des Ablesens. Der Vorteil der analogen Notation liegt in der Flexibilität der Systeme. Unendliche Verfeinerung (analog) steht differenzierterer Bestimmung (digital) gegenüber.188 Gemäß seiner Idee, vor allem ästhetische (und wissenschaftliche) Handlungen als Varianten eines breiten Begriffs des ›Messens‹ zu verstehen, bezieht Goodman diese Überlegungen auf solche Situationen, in denen man aufgefordert ist, Messungen im Bereich des entweder ›Unmessbaren‹ (Kunst) oder ›Noch-nicht-Vermessenen‹ (Wissenschaft) vorzunehmen.189 Für Goodman sind es hierbei die analogen Notationssysteme, die sich für solche Operationen besonders gut eignen. In der kritischen 185 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 113. 186 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 152f. 187 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 114. 188 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 117. 189 | Vgl. zum ›Messen im Unmessbaren‹ auch Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 132: »Die Hilfsmittel des Künstlers – wörtliche und nicht wörtliche (metaphorische), sprachliche und nicht-sprachliche, denotative und nicht-denotative Modi der Bezugnahme in zahlreichen Medien – scheinen vielfältiger und eindrucksvoller zu sein, als die des Wissenschaftlers. Doch anzunehmen, Wissenschaft sei schlicht und einfach sprachlich, buchstäblich und denotativ, hieße zum Beispiel die häufig verwendeten Analogieinstrumente zu übersehen, etwa die Metapher, die beim Messen eine Rolle spielt, wenn ein numerisches Schema in einer neuen Sphäre angewandt wird, oder die Rede vom ›charm‹, ›strangeness‹ und Schwarzen Löchern in der heutigen Physik und Astronomie.« Vgl. auch Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 116, S. 118f.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK Phase der Erkundung eines ›noch-nicht-vermessenen‹ Bereichs sind analoge Symbolsysteme die Mittel der Wahl. Goodman geht aber auch davon aus, dass die analogen Systeme nach dieser »Erkundungsphase«190 durch digitale Notationssysteme ersetzt werden. Er schreibt: »Wo die Aufgabe im Wiegen und Messen besteht, da spielt das analoge Instrument seine Hauptrolle wahrscheinlich in der Erkundungsphase, bevor die Maßeinheiten fixiert worden sind; danach übernimmt ein entsprechend entwickeltes digitales Instrument seine Funktion.«191 Allerdings findet sich bei Goodman eine Ausnahme dieser Funktionszuschreibung – und diese Ausnahme betrifft die Diagramme. Nach Goodman sind Diagramme nämlich solche Symbolsysteme, die sowohl analoge als auch digitale Eigenschaften aufweisen. Wie jedes Symbolsystem folgt auch das diagrammatische klar definierten Regeln. Zwei typische Operationen, die zwischen analogen und digitalen Anteilen übersetzen, sind »Tilgung« und »Ergänzung«:192 »Die erste gibt beim Abtasten einer Kurve auf der Kurve die Positionen einiger Punkte an. Die zweite erzeugt auf Basis einiger angegebener Punkte eine Kurve oder andere Punkte auf ihr durch Interpolation oder Extrapolation.«193 Ein analoges Thermometer in ein digitales Thermometer umzuwandeln, erfordert zum Beispiel Tilgungen (zwischen den hypothetischen Werten 90.0 und 90.1 gibt es dann keine Zwischenstufen mehr).194 Mit Goodman gesprochen, gibt es also analoge (graphische) und digitale (schematische) Diagramme: Verbindet eine Kurve Punkte dergestalt mit Zahlen, dass jeder Punkt ein eigenes Symbol mit einem Denotat darstellt, ist das Diagramm rein analog. Verbindet die Kurve nur mit Zahlen versehene Punkte, ist es dagegen digital.195 Wenn ein Diagramm, das exakt die Umrisse des Denotats hat, und ein Bild desselben vorliegen, unterscheiden sich Diagramm und Bild darin, dass im Diagramm die Dicke der Linie keine Unterschiede macht, im Bild schon. Das ist ein syntaktischer Unterschied, kein semantischer.196 Mit Goodman ist also nicht die Art der Referenz auf ein Bezugsobjekt das definierende Kriterium von Diagrammen (sein Grad an ›Ähnlichkeit‹), sondern die Art der Symbolisierung durch die Eigenschaften des Darstellungssystems. Die Erörterung der spezifischen Charakteristika diagrammatischer Symbole geht bei Goodman daher weit über eine Gattungstheorie des 190 | Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 116. 191 | Goodman: Sprachen der Kunst, S. 155, vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 116. 192 | Vgl. dazu Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 27ff. 193 | Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 119. 194 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 120, Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 28f. 195 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 163, vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 120. 196 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 121.

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D IAGRAMMATIK Diagramms hinaus. In seinen Einschätzungen zur Gattungstheorie des Diagramms bleibt Goodman trotz seiner innovativen Symbolphilosophie sogar eher konservativ. In einem seiner berühmt gewordenen Beispiele argumentiert er beispielsweise, dass ein Bild des Fudschijama von Hokusai sich von einem Elektrokardiogramm darin unterscheidet, dass im Bild jedes der bildlichen Merkmale relevant ist, wohingegen im Diagramm die relevanten Merkmale begrenzt sind. Hierbei handelt es sich um die Neuauflage des alten Arguments von der Komplexitätsreduktion im Diagramm. Gegenüber einem Bild schließen diagrammatische Symbolsysteme einige der konstitutiven Merkmale eines bildlichen Schemas als kontingent aus.197 Diagramme reduzieren also die »Dichte« des bildlich-analogen Symbolsystems und übersetzen sie in Richtung der »Differenziertheit« schriftlich-digitaler Systeme. Dieser Vorgang hat für Goodman nun allerdings, und das ist originell, nichts mit einer Verringerung von Ähnlichkeit (und einem naiven Begriff von Repräsentation) zu tun, ja muss sogar, wie Goodman meint, als »Häresie« am Gedanken einer ikonischen Motivation von Symbolen aufgefasst werden.198 Die diagrammatischen Symbolsysteme lassen vielmehr gerade die Relativität bzw. Konventionalität von Ähnlichkeitsbeziehungen in und durch Symbolsysteme greifbar werden: Der Umstand, dass das Diagramm bestimmte Merkmale des Bildes weglässt, sagt nichts über die Ähnlichkeit des Bildes zu seinem Gegenstand. Vielmehr illustriert das Diagramm, dass es zwischen analogen und digitalen Symbolsystemen Übergänge und Übersetzungsbewegungen gibt. Vor dem Hintergrund seiner komplexen Kritik am Kriterium der Ähnlichkeit (bzw. »Ikonizität«) bedeutet das für Goodman, dass Diagramme illustrieren, inwiefern auch die bildlichen Symbolsysteme relativ sind und auf alle möglichen Sachverhalte bezogen werden können. Eine ›natürliche‹ Repräsentationsbeziehung, die man als »Ähnlichkeit« bezeichnen könnte, existiert nicht. Am Beispiel eines Kurvendiagramms kann man zeigen, dass die Kurve zwar als Ähnlichkeit angesehen werden kann (etwa als Ähnlichkeit in Relation zur Silhouette des Fudschijamas). Tatsächlich ist sie aber Teil eines notationalen Systems, das zwischen Punkten und Linien unterscheidet.199 Diagramme haben ein quasi-bildliches Aussehen, sind aber keineswegs immer analoge Symbolsysteme. Eine maßstabsgerechte Zeichnung ist analog, das Diagramm eines Kohlenhydrats digital; das diagrammatische Zeichen schlechthin, die Landkarte, vereinigt analoge und digitale Aspekte.200 Die kulturelle Funktion von Diagrammen ist somit in der Übersetzung zwischen analoger und digitaler Codierung zu sehen. Diese Eigenschaft bewährt sich, wo etwas Unanschaulich-Qualitatives,

197 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 213. 198 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 213f. 199 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 118. 200 | Vgl. Hölscher: »Nelson Goodmans Philosophie«, S. 118.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK das nur analog erfasst werden kann, in etwas Anschaulich-Quantitatives, das digital verfasst ist, übersetzt werden muss. Man kann daher festhalten: Goodman entwirft nicht nur eine Gattungstheorie des Diagramms, sondern diese Gattungstheorie dient dem Zweck, erkenntnistheoretische Pointen auszuarbeiten. Interessant ist, wie Goodman dabei das Diagramm als Übersetzungsphänomen zwischen analogen und digitalen Symbolsystemen konzipiert. Diagramme übersetzen das durch analoge Systeme erfasste ›Unmessbare‹ in durch digitale Systeme ›Vermessbares‹. Für diesen Übersetzungsprozess ist das Diagramm freilich nur geeignet, weil es Eigenschaften sowohl analoger als auch digitaler Symbolsysteme enthält. Die gattungstheoretische ›Hybridität‹ interessiert Goodman relativ wenig. Sie ist nur wichtig, weil das Diagramm den Konstruktionscharakter von Repräsentation als Prozess der Rekonfiguration und schrittweisen Konkretisierung (»Digitalisierung«) von Symbolsystemen beschreibt. Wie bedeutsam Goodmans Ansatz, »Digitalisierung« als »Diagrammatisierung« zu beschreiben, für die Diagrammatik ist, zeigt sich, wenn man die modellbildende Funktion des Diagramms betrachtet. Für Goodman sind zum Beispiel Modelle eine Unterklasse des Diagramms. Durch die Betonung seines modellhaften Charakters steht das Diagramm mit kulturellen Praxen des Experiments und der Simulation in Verbindung. Der Vorgang des ›Messens im Bereich des Unmessbaren‹ ist ohne eine diagrammatische Komponente nicht denkbar. Die Beweglichkeit und Manipulierbarkeit des Diagramms, also zum Beispiel die Möglichkeit, unterschiedliche Referenzialisierungen auszuprobieren, macht das Diagramm zu einer der kreativ bedeutendsten Zeichenklassen. Goodmans Theorie der ›Diagrammatisierung‹ von Symbolsystemen misst dem Prozess der Übersetzung von analog Unmessbarem in digital Vermessbares zentrale Bedeutung zu: Diagrammatisierte Symbole erlauben es ›modellhaft‹, experimentelle Referenzialisierungen durchzuführen, die für das ›Messen im Unmessbaren‹ von grundsätzlicher Bedeutung sind.201 Diese Referenzialisierungen sind zwar spekulativ oder hypothetisch, gleichwohl aber durch ihren pragmatischen Rückbezug auf die durch ein Symbolsystem hervorgebrachte Realität gekennzeichnet. Eine kultur- und medienwissenschaftliche Theorie des Modells könnte sich jedenfalls gut auf Goodmans Gedanken berufen, dass der Kern des Modellierens ein diagrammatischer ist: »Vielleicht besteht der erste Schritt, einen Großteil der wirren Wortgespinste über Modelle zu

201 | Es würde den Rahmen dieser Einführung überschreiten, die Rolle mentaler Diagramme in Goodmans Theorie zu erforschen. Ein Kandidat dafür wäre aber wohl Goodmans Begriff des »Schemas«, wie er ihn in Sprachen der Kunst u.a. im Kontext seiner Metapherntheorie entwickelt hat (vgl. Sprachen der Kunst, S. 84ff.).

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D IAGRAMMATIK zerreißen, in der Erkenntnis, daß sie als Diagramme behandelt werden können.«202 Für die Bewertung der kulturellen Eigenschaften manifestierter diagrammatischer Symbolsysteme liefert Goodman eine Schlüsseltheorie. Das betrifft nicht zuletzt die medienwissenschaftlichen Konsequenzen. Goodmans Symboltheorie spricht von der Unterscheidung zwischen analog/digital in einer Weise, die zwar nur begrenzt mit der Verwendung dieser Unterscheidung in medientheoretischen Kontexten vereinbar ist. Geht es jedoch um moderne durch Computer generierte Effekte wie Motion-Capture-Verfahren oder den Komplex der digitalen Bilder als Phänomenen entwerfender Ähnlichkeit, so spricht man über Prozesse, die dem vergleichbar sind, was nach Goodman als ›Diagrammatisierung‹ bestehender analoger Symbolsysteme zu verstehen wäre.203

III. Narration als diagrammatisches Modell Im Prinzip kann man das symboltheoretische Argument, Welterzeugung als eine Welterschließung auf Grundlage diagrammatisch entworfener Gestalten zu begreifen, auch auf die kulturhermeneutische Philosophie Paul Ricœurs beziehen. Sowohl die Vorstellungen zur Anschaulichkeit, die Ricœur in seinem Buch Die lebendige Metapher dargelegt hat, als auch die Vorstellungen zum Wechselspiel von Prä-, Kon- und Refiguration, die er in seinem dreibändigen Werk Zeit und Erzählung entwickelt hat, lassen sich mit den Leitideen und Grundzügen der Diagrammatik vereinbaren.204 Was zunächst die Metapher betrifft, so bewegt sich ihre Diskussion auch bei Ricœur an der Schnittstelle von Poetik und Heuristik: »Das zentrale Argument ist die Idee, daß sich die Metapher zur dichterischen Sprache verhält wie das Modell zur Wissenschaftssprache. Soweit man nämlich in beiden Fällen die Wirklichkeitsbeziehung betrachtet. In der Wissenschaftssprache ist nun aber das Modell hauptsächlich ein heuristisches Instrument, das vermittels der Fiktion eine inadäquate Interpretation sprengen und einer neueren, adäquateren den Weg bahnen soll.«205 Das Modell gehört somit »nicht zur Logik der Beweisführung, sondern nur zur Logik der Entdeckung.«206 Praktisch dasselbe kann man freilich von der Metapher sagen, die ein poietisches Verfahren ist, um an einem Gegenstand Züge zu entdecken, die seine eigentliche Bezeichnung verdeckt (falls es eine solche Bezeichnung überhaupt gibt). Entscheidend ist in beiden Fällen das diagrammatische Prinzip, das Ricœur zwar nicht beim Namen nennt, aber doch 202 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 165. 203 | Vgl. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 154f. 204 | Ricœur: Die lebendige Metapher, Ricœur: Zeit und historische Erzählung, Ricœur: Zeit und literarische Erzählung, Ricœur: Die erzählte Zeit. 205 | Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 228. 206 | Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 228.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK meint, wenn er auf das ›Rationale‹ der Imagination zu sprechen kommt. Jedenfalls »begründet der Isomorphismus der Relationen die Übersetzbarkeit eines Idioms in das andere und liefert eben dadurch das ›Rationale‹ der Imagination.«207 Von zentraler Bedeutung für die Diagrammatik, ihre Begriffsgeschichte und Relevanz ist der Umstand, dass Ricœur das ›Rationale‹ der Imagination an die Überlegungen koppelt, die Aristoteles in seiner Poetik zum Verhältnis von Metapher, Mimesis und Mythos angestellt hat. »Die Dichtung«, heißt es dort, »ist eine Nachahmung der menschlichen Handlungen, doch diese mimesis ist durch die Erfindung einer Fabel, einer Handlung vermittelt, die Züge der Komposition und der Ordnung aufweist, die in den Dramen des Alltagslebens fehlen. Muß man dann nicht«, fragt Ricœur, »das Verhältnis zwischen mythos und mimesis in der tragischen poiesis als dasjenige zwischen heuristischer Fiktion und Neubeschreibung in der Modelltheorie verstehen?«208 Dass in der Frage schon die halbe Antwort steckt, wird deutlich, wenn man sich ansieht, wie Aristoteles das Verhältnis von Mimesis, Mythos und Metapher entwickelt: Zunächst bestimmt er die Dichtkunst allgemein als Nachahmung (mimesis).209 Die Eigenart des Theaters besteht unter dieser Voraussetzung darin, dass die Schauspieler auf der Bühne handelnde Menschen nachahmen,210 die entweder – wie in der Tragödie – besser, oder – wie in der Komödie – schlechter als ihresgleichen im Zuschauerraum sind. Sodann rückt Aristoteles die theatrale Zurschaustellung von Handlungen in die Nähe pikturaler Darstellungen. So wie sich die Menschen über den Anblick von Bildern freuen, weil sie beim Betrachten etwas lernen und zu erschließen suchen,211 stellen sie sich auch auf das Bühnengeschehen ein. Der Vergleich legt also den Gedanken nahe, Dramen als Anschauungsmodelle zu verstehen und konjektural aufzufassen. Vorausgesetzt wird bei dieser Konjektur, dass der Mythos in sich folgerichtig verfasst ist und daher Rückschlüsse von dem Geschehen auf der Bühne auf die Lebenswelt der Zuschauer erlaubt: »Ich verstehe hier unter Mythos die Zusammensetzung der Geschehnisse, unter Charakteren das, im Hinblick worauf wir den Handelnden eine bestimmte Beschaffenheit zuschreiben, unter Erkenntnisfähigkeit das, womit sie in ihren Reden etwas darlegen oder auch ein Urteil abgeben.«212 Der Mythos ist also eine folgerichtige Konfiguration von dramatischen Figuren und Interaktionen (Reden und Handlungen), die im Fall der Tragödie

207 | Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 230. 208 | Ricœur: Die lebendige Metapher, S. 235. 209 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 5. 210 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 7. 211 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 11f. 212 | Aristoteles: Poetik, S. 19f.

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D IAGRAMMATIK ausdrücklich als Mimesis von Lebenswirklichkeit bestimmt wird.213 Was aber heißt ›folgerichtig‹ in diesem Zusammenhang? Vor allem: Nachvollziehbarkeit. Darum betont Aristoteles, dass die Handlung nicht nur in sich abgeschlossen, sondern auch so entfaltet werden muss, dass der Zuschauer erkennen kann, wie sich das Eine aus dem Anderen ergibt: die Mitte aus dem Anfang und das Ende aus der Mitte der Geschichte.214 Es ist also einerseits das Zeitschema der Reihenfolge, andererseits aber auch das Alltagswissen, das der Mensch von Handlungen besitzt, die es ihm erlauben, zu beurteilen, ob das Geschehen auf der Bühne folgerichtig entwickelt wird und der Logik von Ursache und Wirkung gehorcht. Man könnte diesen zentralen Gedanken der Poetik auch kantianisch auffassen: ›Folgerichtig‹ ist die Fabelkomposition oder Legendenbildung, wenn sie mit Verfahren der Schemabildung einhergeht, die es dem Zuschauer erlauben, das Bühnengeschehen auf die Kategorie der Kausalität zu beziehen und unter dieser Voraussetzung als Reflexionsmedium der Handlungsoptionen zu verstehen, die er selbst ›im wahren Leben‹ hat. Ob das funktioniert und zu welchen Schlussfolgerungen er auf diesem Wege gelangt, hängt stets von der Anordnung der Elemente, also davon ab, wie die Figuren und Interaktionen im Drama diagrammatisiert werden. Für Aristoteles ist die Rekonfiguration der Elemente und Relationen die Probe auf die Folgerichtigkeit der Fabelkomposition. Das geht aus seiner Bemerkung hervor, dass die Teile der Geschehnisse so zusammengefügt sein müssen, »daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht Teil des Ganzen.«215 Unmittelbar im Anschluss an diese Bemerkung stellt Aristoteles allerdings fest, dass die Folgerichtigkeit nicht – wie man vermuten könnte – davon abhängt, dass die Wirklichkeit eins zu eins abgebildet oder nachgeahmt wird. »Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, das heißt das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.«216 Einerseits muss die Lösung der Handlung also folgerichtig aus der Handlung selbst hervorgehen,217 andererseits ist der Mythos keine Wiedergabe historischer Ereignisse, sondern ein Modell der Lebenswirklichkeit. Er hält sich an die Regeln, die reale Handlungen bestimmen (Wahrscheinlichkeit, Notwendigkeit, Folgerichtigkeit), und ist doch ein Instrument der Welterkundung und -erschließung, das Handlungsspielräume aufzeigt. Kurzum: »Man muß die Handlungen zusammenfügen und sprachlich 213 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 21. 214 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 25. 215 | Aristoteles: Poetik, S. 29. 216 | Aristoteles: Poetik, S. 29. 217 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 49.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK ausarbeiten, indem man sie sich nach Möglichkeit vor Augen stellt.«218 In seiner Imagination transzendiert der Dichter die Realität, ohne ihre Gesetze zu suspendieren; auf der Bühne wird seine Fiktion in Szene gesetzt, und in der Reflexion des Zuschauers wird sie mit den Fakten vermittelt, also nach Maßgabe der eigenen Erfahrungen refiguriert. An diese Konzeption knüpft Ricœur in dem Bewusstsein an, dass der Mythos eine komplexe Metapher und die Metapher ein Mythos in nuce ist. Er kann sich auch dabei auf Aristoteles berufen, der die Metaphern für die besten hält, die a) nach den Regeln der Analogie gebildet sind219 und b), wie es in seiner Rhetorik heißt, die Dinge in ihrer Wirksamkeit vor Augen führen.220 Beides kann man auch über den Mythos sagen, der in Analogie zur Lebenswirklichkeit gebildet wird und zeigt, welche Konsequenzen bestimmte Handlungen haben. Wenn Aristoteles daher in seiner Poetik erklärt, »gute Metaphern zu bilden, bedeutet, daß man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag«221, hat er dabei vor allem an Bewegungsmomente und Verlaufsgestalten gedacht, die mit dem Schema der Zeit die Kategorie der Kausalität involvieren. Unter dieser Voraussetzung darf man das, was Aristoteles über das Drama, insbesondere über die Tragödie, sagt, nicht nur auf die Komödie, sondern, wie es Ricœur getan hat, auch auf narrative Texte und ihren Plot beziehen. Ohne an dieser Stelle im Einzelnen nachzeichnen zu können, wie er dabei Überlegungen von Augustinus und Kant einbezieht, lässt sich das Ergebnis dieser Übertragung wie folgt zusammenfassen: Ricœur nimmt an, »daß zwischen dem Erzählen einer Geschichte und dem zeitlichen Charakter der menschlichen Erfahrung eine Korrelation besteht, die nicht rein zufällig, sondern eine Form der Notwendigkeit darstellt, die an keine bestimmte Kultur gebunden ist.«222 Diese Korrelation bestimmt bereits das vorwissenschaftliche Verständnis menschlicher Handlungen insofern es jeweils zeitliche Schemata sind, die das Resultat einer Handlung an Motive und Intentionen binden und es erlauben, menschliche (Inter-)Aktionen kausal aufzufassen. Dank dieser Schemata und Kategorien erfährt die Lebenswelt eine gewisse Präfiguration, die man beim Geschichten-Erzählen stillschweigend voraussetzen kann, aber keineswegs unverändert lassen muss. Anders gesagt: Narrationen setzen nicht beim totalen Chaos, sondern bei jenem Kosmos an, der sich aus der gesellschaftlichen Konstruktion und begrifflichen Ordnung der Wirklichkeit ergeben hat. Während die Präfiguration jedoch lediglich ein loser Zusammenhang von Konzepten ist, die von Fall zu Fall zur Anwendung gelangen, erzeugt die Narration ein dichtes Gewebe von Beziehungen und Bedingungen. Es ist daher die Ver218 | Aristoteles: Poetik, S. 53. 219 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 69. 220 | Vgl. Aristoteles: Rhetorik, S. 193f. 221 | Aristoteles: Poetik, S. 77. 222 | Ricœur: Zeit und historische Erzählung, S. 87.

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D IAGRAMMATIK dichtung von Anschauungen und Begriffen, die eine folgerichtig erzählte Geschichte auszeichnet. Die literarische Konfiguration zieht also das Begriffsnetz des allgemeinen Handlungswissens zusammen und lässt am Beispiel einer besonderen Geschichte Querbezüge zwischen verschiedenen Handlungssträngen, Beziehungsmustern und Bedingungsverhältnissen hervortreten. Dank dieser Relationierung wird aus den Elementen der Präfiguration eine Art Diagramm. Obwohl Ricœur diesen Ausdruck nicht gebraucht, beschreibt er den Akt der Konfiguration auf eine Weise, die diese Umschreibung erlaubt. Entscheidend ist der Rückbezug auf Kant. Zum einen nämlich vergleicht Ricœur das »›Zusammenschließen‹, das den konfigurierenden Akt auszeichnet, […] mit dem Urteil im Sinne Kants«223; zum anderen zögert er nicht, »die Hervorbringung des konfigurierenden Aktes mit der Arbeit der produktiven Einbildungskraft zu vergleichen«224 , die dem Begriff zur Anschauung verhilft: »In der ersten Kritik werden die Verstandeskategorien zunächst von der produktiven Einbildungskraft schematisiert. Der Schematismus ist dazu imstande, weil die produktive Einbildungskraft grundsätzlich eine synthetische Funktion hat. Sie verbindet Verstand und Anschauung, indem sie zugleich verstandesmäßige und anschauungshafte Synthesen hervorbringt. Auch die Fabelkomposition erzeugt eine gemischte Verständlichkeit (intelligibilité), die aus dem besteht, was wir schon die Pointe, das Thema, den ›Gedanken‹ der erzählenden Geschichte nannten, und aus der anschaulichen Darstellung der Umstände, Charaktere, Episoden und Schicksalswendungen, die die Auflösung des Handlungsknotens bewirken. So darf man von einem Schematismus der narrativen Funktionen sprechen.« 225

Wenn aber die Fabelkomposition Schemata ins Spiel bringt, die der Urteilsbildung über das Geschehen dienen, so bleibt es der Lektüre der Geschichte überlassen, das, was man aus der Verlaufsgestalt der Erzählung schließen kann, auf die Lebenswirklichkeit zu beziehen und im Lichte der eigenen Erfahrungen zu modifizieren und zu relativieren. Daher sagt Ricœur: »Erst in der Lektüre kommt die Dynamik der Konfiguration an ihr Ziel. Und erst jenseits der Lektüre, in der tatsächlichen Handlung, die bei den überkommenen Werken in die Lehre gegangen ist, verwandelt sich die Konfiguration des Textes in Refiguration.«226 Daran ändert, wie Ricœur betont, auch die Tendenz zur Entfabelung wenig, die der modernen Erzählkunst eigentümlich ist. Eher schon könnte man sagen, dass gerade sie den diagrammatischen Grundzug der Konfiguration verdeutlicht, weil sie die Wahrnehmung der Leser unmittelbar 223 | Ricœur: Zeit und historische Erzählung, S. 109. 224 | Ricœur: Zeit und historische Erzählung, S. 109. 225 | Ricœur: Zeit und historische Erzählung, S. 110. 226 | Ricœur: Die erzählte Zeit, S. 255.

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK auf die Elemente oder Materialien lenkt, die es sinnvoll anzuordnen gilt. Bewusst wird so, inwiefern die Welt dem Menschen als Gestaltungsaufgabe entgegentritt. Sieht man den Beitrag, den Ricœurs Synthese von Kant und Aristoteles zur Diagrammatik darstellt, vor allem darin, dass er es erlaubt, Narrationen als heuristische Modelle zu verstehen, liegt es nahe, das Wechselspiel von Präfguration, Konfiguration und Refiguration einer Gegenprobe zu unterziehen: Inwiefern können Diagramme narrativ sein? Zum Beispiel dadurch, dass sie einen bestimmten Handlungsraum und -verlauf kartographisch behandeln. Abbildung 5: Charles Joseph Minard, Carte figurative des pertes successives en homme de l’Armée Française dans la campagnie de Russie 1812-1813 (1869)

Eine besonders eindrucksvolle Darstellung dieser Art ist die Carte figurative des pertes sucessives en hommes de l’Armée Française dans la campagnie de Russie 1812-1813, die Charles Minard 1861 gezeichnet hat. Dabei werden die einzelnen Verluststadien anhand der Entfernung interpunktiert, die Napoleons Truppen auf dem Marsch nach Russland und auf dem Rückzug zurückgelegt haben. Die wahrhaft erschreckende Disproportion zwischen dem ›Startvolumen‹ und dem ›Restbestand‹ wird auf einen Blick deutlich. Sukzessive nachvollzogen, also konjektural erfasst und ›zusammengelesen‹ werden müssen die Daten, die Minard mit dem Menschenverlust korreliert hat. Berücksichtigt hat er dabei einerseits historische Fakten wie die Temperaturentwicklung, andererseits aber auch geographische Gegebenheiten wie Flüsse. Wollte man alle Angaben zur Truppenstärke, zum Handlungsraum, zur Verlustgeschichte, zur Temperatur usw., die Minard in seiner graphischen Darstellung verdichtet hat, in eine historiographische Erzählung übersetzen, würde ein längerer Text entstehen, der sicher nicht halb so anschaulich wäre wie die Carte figurative. Die Korrelation von Raum und Zeit in einer Karte ist narrativ, da sie eine Verlaufsgestalt ergibt, aber doch nicht literarisch im herkömmlichen Sinn des Wortes. Sie kann zwar umständlich ausbuchstabiert werden, besticht aber gerade dadurch, dass man nur einen kurzen Augenblick

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D IAGRAMMATIK braucht, um den katastrophalen Ausgang der Geschichte und den Wahnsinn der gesamten Unternehmung zu erfassen. Interessant ist darüber hinaus, dass Minards Darstellung ikonische, symbolische und indexikalische Zeichen vereint und den Handlungsraum nicht zuletzt durch hybride Zeichen strukturiert. Jedenfalls kann man in den schematisch angedeuteten Flüssen ebenso gut images wie diagrams sehen. Schließlich zeigt gerade dieses Beispiel, wie man den Logos des Bildes mit dem Logos der Zahl und dem Logos der Sprache verbinden kann. Das wird nicht nur anhand der Korrelation von Ziffern, Buchstaben und Figuren deutlich, sondern auch daran, dass man die Kernaussage der Darstellung zugleich an den Zahlen, den Schriftzeichen und den Proportionen ›ablesen‹ kann. Minards Karte ist – wie praktisch alle Karten – ein TextBild-Gefüge, das Zusammenhänge sichtbar macht, die sich der natürlichen Wahrnehmung entziehen; ein hybrides Medium der Veranschaulichung, das den Fluss der Zeit (und der Erzählung) im doppelten Sinn des Wortes ›aufhebt‹, also stillstellt und bewahrt. Abbildung 6: Velázquez, Übergabe von Breda (1634-35), Öl auf Leinwand

Etwas Ähnliches kann man an Historiengemälden beobachten, die den Kippmoment festhalten, an dem die Geschichte eine bedeutsame Wendung genommen hat. Ein Beispiel ist Die Übergabe von Breda. Velázquez rückt jenen Augenblick in den Mittelpunkt, in dem Justinus von Nassau dem General Ambrosio de Spinola den Schlüssel der Stadt reicht. Ratifiziert wird damit eine militärische Niederlage der Niederländer, die sich ihren Gegnern nach heftigen Gefechten geschlagen geben mussten. Hervorgehoben wird an diesem Augenblick vor allem die versöhnliche Geste des Spaniers, die vor dem Hintergrund der Kriegslandschaft

2. G RUNDZÜGE DER D IAGRAMMATIK zu sehen ist. Sowohl die Konfiguration der beiden Hauptgestalten und ihrer Begleiter als auch die in der Tiefenperspektive des Gemäldes angelegte Relation von Versöhnungsgeste (Frieden) und Zerstörung (Krieg) sind also in sich narrativ verfasst. Ohne näher auf die zahlreichen Details der Komposition eingehen zu können, lässt sich daher festhalten: Die historisch präfigurierte Szene der Schlüsselübergabe wird auf dem Bild so konfiguriert, dass mit dem dargestellten Augenblick nicht nur seine reale Vorgeschichte, sondern auch seine mögliche Nachgeschichte, die Überwindung aller Feindseligkeiten, in den Blick gerät. Das Tableau besitzt somit eine retrospektive und eine prospektive Dimension, ist also weit mehr als bloß eine Momentaufnahme. Das heißt: Der Betrachter, der in den Relationen der Elemente zugleich die Vorgeschichte der Szene und die Andeutung einer grundlegenden Veränderung der Beziehung zwischen Spaniern und Niederländern entdeckt, kann die Mienen- und Gebärdensprache in eine politische Aussage überführen. Diese Rekonfiguration ist zwar ein Akt der Interpretation, tendenziell aber im Gemälde angelegt – nicht durch Worte, sondern durch das Beziehungsgefüge der Gestalten und die Anordnung der Ereignisspuren in der Landschaft. Tatsächlich kann man behaupten, dass die Komposition den Blick des Betrachters auf bestimmte Gedankenbahnen lenkt. Zum Beispiel durch das Schema der Zeit, das den indexikalischen Zeichen inhärent ist (wo jetzt Rauch aufsteigt, müssen zuvor heftige Gefechte getobt haben): Erst nachdem der Betrachter, dessen Aufmerksamkeit zunächst von den Figuren im Vordergrund der Bildanlage gefesselt wird, in die Tiefe des Bildes vorgedrungen ist und im Hintergrund der Schlüsselübergabe die Anzeichen der Verwüstung entdeckt hat, geht ihm die volle Bedeutung der Versöhnungsgeste auf. Dafür, dass sein Blick überhaupt in die Ferne schweift, hat Velázquez unter anderem durch die Anordnung der Lanzen gesorgt. Sie veranlassen den Betrachter aufzublicken und die Asymmetrie zwischen der rechten und der linken Bildhälfte zu bemerken, was nur geschehen kann, wenn seine Augen zwischen den beiden Hemisphären hin- und herwandern. Dabei kann er unmöglich die Brandspuren übersehen, die auf dieser Blickachse liegen. Gleichsam im rechten Winkel wird diese Diagonale von einer weiteren Blickachse durchschnitten, die sich ergibt, wenn man auf die Farbgebung achtet. Das Rot der beiden Wimpel, die entsprechenden Pigmente in der Andeutung brennender Gebäude und die Blutflecken auf der weiß ausgezeichneten Oberbekleidung eines niederländischen Soldaten lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die beiden Gestalten im Mittelpunkt des Tableaus. Auch wenn Die Übergabe von Breda ein großformatiges Ölgemälde ist und insofern als image klassifiziert werden muss, weist es in seiner Komposition – vor allem dort, wo sie mit der Blickführung des Betrachters zusammenhängt – diagrammatische Züge auf, deren Nachvollzug der Momentaufnahme eine narrative Tiefendimension sichert.

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D IAGRAMMATIK Die im Bild dargestellte Wendung vom Krieg zum Frieden wird dergestalt nicht nur mit einer gewissen Emphase ausgestattet, sondern zu einem Anschauungsmodell der Versöhnung. Die Figuren jedenfalls sind einander oder dem Betrachter zugewandt; keiner von ihnen blickt zurück auf das kriegerische Geschehen. In dieser Hinsicht kommen die Appellfunktion und die display-Funktion der Darstellung überein; in dieser Hinsicht geht Velázquez’ Historiengemälde deutlich über die Vergegenwärtigung eines militärischen Triumphes hinaus.

3. Gegenstandsfelder der Diagrammatik

3.1 S PR ACHSZENEN : L INGUISTIK UND L ITER ATURTHEORIE Eine diagrammatische Theorie der Literatur liegt bis heute nur in Ansätzen vor. Eher en passant klassifiziert Roland Barthes das Sprachkunstwerk »als diagrammatische und nicht imitative Struktur«.1 Das poetische Texte Zeichen-Konfigurationen sind, die den Leser dazu auffordern, in seiner Lebenswelt nach Korrespondenzverhältnissen Ausschau zu halten, ist gleichwohl ein Gemeinplatz der Forschung. Eine vergleichsweise ausführliche Reflexion dieser Zusammenhänge findet sich in einem Buch des rumänischen Schriftstellers Petru Dumitriu, das 1965 ins Deutsche übersetzt worden ist: Die Transmoderne. Zur Situation des Romans. Zwar spricht Dumitriu nicht von diagrammatischen Schlüssen – und er verweist auch nicht auf Peirce –, aber er geht doch von der Idee aus, dass die Elemente der Welt, auf die sprachliche Zeichen verweisen, im Satz und Text so relationiert werden, dass man diese Konfiguration als Schaubild verstehen muss: »Die Art und Weise, in der sich die Worte innerhalb eines Textes zueinander verhalten, entspricht der Art und Weise, in der sich die Dinge, auf die die Worte weisen, zueinander verhalten.«2 Um Missverständnissen vorzubeugen, muss an dieser Stelle sogleich der Hinweis folgen, dass man das Verb ›entsprechen‹ in diesem Zitat nicht so verstehen sollte, dass Dumitriu einem ontologischen Fehlschluss unterliegt und einen Isomorphismus von Text und Welt behauptet. Vielmehr geht er vom Modellcharakter der Literatur aus, also davon, dass die relationalen Gebilde, durch die Texte der Welt Gestalt verleihen, strukturbildende Lesarten sind, die vor dem Hintergrund kontingenter Lesarten und Schreibweisen stehen. Aus sprachwissenschaftlicher Sicht entspricht dieser Auffassung eine Bemerkung des Linguisten Jean Gérard Lapacherie, die da lautet: »Ein Gefüge aus sprachlichen Zeichen, so abstrakt diese auch sein mögen, kann stets eine Figürlichkeit hervorbringen.«3 1 | Barthes: Die Lust am Text, S. 28. 2 | Dumitriu: Die Transmoderne, S. 107. 3 | Lapacherie: »Der Text als ein Gefüge aus Schrift«, S. 72.

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D IAGRAMMATIK Keineswegs also folgt aus der Diagrammatik, insofern man sie als Poetik und Heuristik versteht, dass die Beziehungsverhältnisse in einem literarischen Text die Struktur der Wirklichkeit widerspiegeln. Die figurative Leistung der Literatur ist, wie Barthes festgestellt hat, nicht ›imitativ‹, sondern simulatorisch oder modellbildend. Diese Einschätzung ist sehr sinnvoll, wenn man bedenkt, dass Sprachkunstwerke mit der Sprache, in der sie verfasst sind, ein System voraussetzen, das seinerseits schon nicht imitativ, sondern modellbildend ist. Jurij M. Lotman hat diesen Sachverhalt mit aller wünschenswerten Klarheit beschrieben: Sprachkunstwerke sind für ihn sekundäre modellbildende Systeme, die auf dem primären modellbildenden System einer Sprache, gegebenenfalls auch mehrerer Sprachen, beruhen.4 Diese Auffassung wird der Tatsache gerecht, dass die meisten sprachlichen Zeichen, obwohl sie nicht zur Klasse der ikonischen, sondern der symbolischen Zeichen gehören, im Satz oder Text diagrammatisch behandelt werden können und dergestalt Denkfiguren oder Anschauungsmodelle erzeugen, die der Welt Kontur verleihen. Und deshalb ist es auch nur folgerichtig, dass neuere Untersuchungen zur Funktion von Karten in der Literatur bei der Analyse ihrer Orientierungsfunktion von der Geographie auf die Diagrammatik umschalten.5

I.

Texte als Anschauungsmodelle

Die Binsenweisheit, dass mündliche und schriftliche Texte aus willkürlichen respektive konventionellen Zeichen zusammengesetzt sind, ist offenbar nur die halbe Wahrheit. Denn wenn man von einem Text spricht, kommt immer auch die Etymologie dieses Wortes ins Spiel, die auf ›Textur‹ verweist. Zu einer solchen Textur wird die einfache, syntagmatische Aneinanderreihung von symbolischen Zeichen durch ein ›Gewebe‹ von Querbezügen oder Leitmotiven, die auf bestimmte Paradigmata verweisen. Literatur wird daraus, wenn dieser Zusammenhang zur Schau gestellt wird, wenn also der Text seine Machart als ›Gewebe‹ ausstellt. Das geschieht zum Beispiel in dem Sinngedicht Die große Welt, das von Gotthold Ephraim Lessing stammt und aus lediglich zwei Zeilen besteht: Die Waage gleicht der großen Welt: Das Leichte steigt, das Schwere fällt. 6

4 | Vgl. Lotman: Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 22f., S. 30. 5 | Vgl. Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume, insb. S. 77f., vgl. auch Stockhammer: Die Kartierung der Erde. Ein schönes Werk, das den Zusammenhang von Karte, Diagramm und Literatur aufgreift, ist Reif Larsens Roman Die Karte meiner Träume. 6 |Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2, S. 826.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Zunächst ist es ganz einfach der Reim oder Zusammenklang von ›Welt‹ und ›fällt‹, wodurch innerhalb der linearen Zeichenfolge ein Rück- oder Querbezug entsteht. Wer diesen Bezug erfasst, nimmt den Text nicht nur auf der horizontalen Achse der Zeichenfolge, sondern auch auf der vertikalen Achse wahr, das heißt, er erkennt, dass die beiden Worte ›Welt‹ und ›fällt‹, obwohl sie im Syntagma relativ weit voneinander entfernt stehen und obwohl sie keineswegs aus ein und demselben Bedeutungsfeld stammen, dem gleichen akustischen Paradigma angehören. Die typographische Anordnung der Worte und Zeilen unterstreicht diese Relation, was nicht so offensichtlich der Fall wäre, wenn man die Zeichen anders setzen würde, etwa so: Die Waage Gleicht der großen Welt: Das Leichte steigt, Das Schwere fällt.

Allerdings verdeutlicht diese Anordnung, wie Metrum und Rhythmus des Gedichtes beschaffen sind. Weil der Zeilenumbruch mit den Atempausen der Periode zusammenfällt, kann man – fast auf einen Blick – erkennen, wie die Worte bzw. die Sinneinheiten, in die ihre Folge zerfällt, zu betonen sind. Sinnfällig wird zudem, welche Worte im ersten Teil des Gedichtes als Vergleichsmomente fungieren und dass die Satzteile im zweiten Teil des Gedichtes antithetisch angeordnet sind. Beide Fassungen machen somit klar, dass die Zeichen, Worte, Satzteile und Sätze nicht nur absichtsvoll ausgewählt, sondern auch absichtsvoll konfiguriert bzw. diagrammatisiert worden sind. Die Hervorhebung der Rück- und Querbezüge, die sowohl auf der inhaltlichen wie auf der formalen Ebene liegen können, stellt den Texturcharakter des Gedichtes aus. Nicht ausgestellt wird dieser Charakter, wenn man das poetische Gefüge in eine prosaische Rede übersetzt, etwa dergestalt: Die große Welt ist insofern eine Waage, als auch in ihr das Schwere fällt und das Leichte nicht.

In dieser Version sind Reim und Zusammenklang, Metrum und Rhythmus, Zeilenumbruch und Bildlichkeit getilgt. Dennoch gibt es Rück- und Querbezüge, dank der auch diese Zeichenfolge als in sich sinnvolles Satzgefüge respektive als – wenn auch nur loses – Gewebe erscheint. Da die Ausdrücke ›Waage‹, ›Schwere‹ und ›Leichte‹ zu einem Bedeutungsfeld gehören, stehen sie in einer Relation, die man in der Textlinguistik als Koreferenz bezeichnet. In diese Koreferenz spielt eine Menge Weltwissen hinein, das der Text aufruft bzw. stillschweigend voraussetzt. Diese stillschweigenden Voraussetzungen nennt man Präsuppositionen. Wer nicht weiß, dass eine Waage zeigt, wie schwer oder leicht Gegenstände sind, wird den Satz kaum

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D IAGRAMMATIK verstehen können, schon gar nicht den Vergleich von ›Welt‹ und ›Waage‹, den er erläutert. Offenbar muss man also zwei Formen der Textur unterscheiden. Eine interne Textur, die sich aus der Struktur des Satzes ergibt; und eine externe Struktur, die sich aus dem empirischen Zusammenhang der Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisfolgen ergibt, auf die sich die einzelnen Worte beziehen. Koreferenz entsteht an der Schnittstelle dieser beiden Strukturzusammenhänge: dem linguistischen Text und dem empirischen Kontext. Daraus folgt unter anderem, dass es für das Verständnis eines Textes in aller Regel nicht genügt, die Bedeutungen zu kennen, die in einem Wörterbuch verzeichnet sind. Dort würde man beim Stichwort ›Waage‹ vermutlich den Eintrag ›Vorrichtung zur Messung von Gewichten‹ finden. Diese Information ›sagt‹ einem aber nur etwas, wenn man die Bedeutung der Ausdrücke ›Vorrichtung‹, ›Messung‹ und ›Gewicht‹ kennt. Um die empirische Bedeutung dieser Ausdrücke ermessen zu können, muss man wiederum mehr wissen als das, was man in einem Wörterbuch lesen könnte, wenn man dort auch diese Ausdrücke nachschlagen würde. Das ›Weltwissen‹, das erforderlich ist, um Lessings Sinngedicht zu verstehen, geht über das, was in einem Wörterbuch steht, hinaus; es umfasst nicht nur die Kenntnisse, die im semantischen Gedächtnis gespeichert sind, sondern auch und gerade die Erfahrungen, die man im Umgang mit Worten und Dingen, also beim Handeln erwirbt. Dazu gehört zum Beispiel die Erfahrung, dass schwere Dinge zu Boden fallen. Tatsächlich kann man das Bild, das Lessing verwendet, indem er das Leichte und Schwere an die Bewegungen des Steigens und Fallens koppelt, nur dann als Gleichnis für die Verhältnisse in der großen Welt verstehen, wenn man sich nicht nur mit Gewichten und Waagen oder mit leichten und schweren Dingen auskennt, sondern erfahren hat, wie es in der Welt zugeht. Erst dann nämlich ist man in der Lage zu begreifen, dass der Vergleich von ›Welt‹ und ›Waage‹ nicht unbedingt im wörtlichen, sehr wohl aber im übertragenen Sinne zutrifft. Um Lessings Sinngedicht angemessen zu verstehen, muss man also erstens auf Erfahrungen rekurrieren, die das semantische Gedächtnis übersteigen, und zweitens über die buchstäbliche Bedeutung der Worte hinaus den metaphorischen Sinn des Schweren und Leichten erfassen. Dieser Sinn für die metaphorische Verwendung sprachlicher Zeichen gehört insofern zur enzyklopädischen Kompetenz, als seine Erfassung kulturelle Kenntnisse, insbesondere Erfahrungen im Umgang mit dem literarischen Gebrauch der Sprache, voraussetzt. Erfahrungen, die auf diese Art und Weise erworben werden, kann man ›performativ‹ nennen, weil sie sich im Umgang bzw. im Gebrauch bilden; folgerichtig werden sie eher im prozeduralen als im deklarativen Gedächtnis gespeichert. Das sieht man nicht zuletzt daran, dass viele Menschen sehr wohl in der Lage sind, den metaphorischen Sinn einer sprachlichen Äußerung zu erfassen, aber kaum auf Anhieb den Begriff der Metapher bestimmen könnten.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK In der Sprach- und Literaturwissenschaft kursieren verschiedene Definitionen und Theorien der Metapher.7 Ihre Quintessenz scheint darin zu bestehen, dass die Metapher ein vertrautes Auslegungsschema auf Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisfolgen bezieht, die auf diese Weise in den Blick zu nehmen zumindest ungewöhnlich ist. Überzeugend ist diese Übertragung eines Auslegungsschemas dann, wenn sie an den Gegenständen, Sachverhalten oder Ereignisfolgen Gesichtspunkte oder Bedeutungsmomente offenbart, die zuvor nicht bemerkt worden sind. Um diese Aspekte zu erkennen, muss man sich auf die Deutungsperspektive der Metapher einlassen, also beispielsweise darauf, dass die Welt in Lessings Sinngedicht auf das Anschauungsmodell der Waage bezogen wird. Dieser rezeptionsästhetischen Herausforderung steht auf der produktionsästhetischen Seite die Herausforderung entgegen, eine Metapher zu entwerfen, die neue Bedeutungen generiert. Dazu müssen die Zeichen so konfiguriert werden, dass sie sowohl die Vermittlung des Anschauungsmodells als auch seine Übertragung auf den Gegenstand der Rede – in diesem Fall die ›Welt‹ – leisten. Wie man an Lessings Sinngedicht sehen kann, erfordert dies ein Höchstmaß an sprachlicher Prägnanz und Evidenz. Der Text ist nicht nur kurz und bündig, er ist in sich auch folgerichtig und schlüssig, anschaulich und sinnlich. Prägnanz und Evidenz sind allerdings keineswegs Eigenschaften, die nur literarischen Texten zukommen. Gerade die Metapher zeigt, dass es zwischen poetischen und prosaischen Äußerungen lediglich graduelle Unterschiede gibt.8 Ohne bildliche Ausdrücke kommt praktisch kein Text aus. Während einem diese Ausdrücke in der alltäglichen Rede jedoch einfach unterlaufen, ergeben sie sich in der literarischen Performanz aus der bewussten Verwendung und Gestaltung der Sprache. Daher werden in der alltäglichen Kommunikation zumeist lexikalisierte, ins Wörterbuch aufgenommene Metaphern verwendet; bei der literarischen Welterzeugung hingegen geht es darum, originelle Metaphern zu finden. Da man sie nicht einfach im Wörterbuch suchen kann, befand schon Aristoteles in seiner Poetik: »Denn das ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, sondern ein Zeichen von Begabung. Denn gute Metaphern zu bilden bedeutet, dass man Ähnlichkeiten zu erkennen vermag.«9 Eine andere Möglichkeit, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Entschlüsselung sprachlicher Äußerungen neben einer linguistischen auch eine enzyklopädische Kompetenz erfordert, besteht darin zu sagen, dass Begriffe nur synkategorematisch und synpragmatisch funktionieren. Sie entfalten ihre spezifische, situative Bedeutung nicht im Wörterbuch, sondern immer nur im Rahmen eines Satz- oder Textzusammenhangs, insofern dieser auf Welt- und Handlungszusammenhänge bezogen wird. Den 7 | Einen Überblick gibt Rolf: Metapherntheorien. 8 | Vgl. Bauer: Romantheorie und Erzählforschung, S. 139ff. 9 | Aristoteles: Poetik, S. 75f.

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D IAGRAMMATIK Satz- oder Textzusammenhang kann man auch als Diskurssituation, den Welt- oder Handlungszusammenhang als Rekurssituation bezeichnen. Demzufolge werden Diskurssituationen anhand von Rekurssituationen ausgelegt.10 Diskurssituationen, bei denen dies nicht auf Anhieb gelingt, erfordern eine Rekonfiguration entweder des Satz- und Textzusammenhangs oder des Welt- und Handlungszusammenhangs. Genau das scheint die Pointe origineller sprachlicher Äußerungen, insbesondere literarischer Wort-Konfigurationen zu sein. Eine originelle Metapher kann man nur verstehen, wenn man die Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisfolgen, auf die sie sich bezieht, einer Rekonfiguration unterzieht. Innovative Metaphern und andere originelle Formulierungen geben somit weit mehr zu denken, als sie buchstäblich sagen. Da sie sinnvoll nur verstanden werden können aufgrund einer Vorstellungstätigkeit, die mit der linguistischen und literarischen auch die enzyklopädische Kompetenz erweitert, erfüllen sie zugleich eine poetische und eine heuristische Funktion. In diesem Sinne entwirft Lessings Sinngedicht ein ›Weltbild‹, das nicht auf der unmittelbaren Gleichsetzung der ›Welt‹ mit einer ›Waage‹ beruht, sondern den Leser veranlasst, sich das Weltgeschehen anhand des Anschauungsmodells der Waage auszulegen. Indem er sich die Welt für einen Moment so vor Augen führt, als ob sie einer Waage gleichen würde, entdeckt der Leser ein doppeltes Verhältnis – zwischen den Gewichten auf einer Waage und den Dingen in der Welt, die selbstverständlich auch Ereignisse sein können. Entdeckt er jedoch Verhältnisse, hat er es in seiner Vorstellung mit Diagrammen zu tun. Als Schaubild der Welt offenbart die Waage am Bezugsgegenstand des Gedichtes – der sozialen Welt – bestimmte Verhältnisse oder Zusammenhänge, die ein naturgetreues Abbild (image) nicht so deutlich oder gar nicht aufzeigen könnte. Anders gesagt: Das Bild der Waage trifft zwar nicht wörtlich, aber im übertragenen Sinne auf die Welt zu, wenn der Leser zwischen den Dingen, die ihren Zusammenhang ausmachen, und der Gestalt oder Funktionsweise der Waage gewisse Korrespondenzen ausmachen kann. Diese Korrespondenzen kann man zwar nicht mit den leiblichen Augen, aber mit dem geistigen Auge entdecken, wenn man den Gedankenbahnen folgt, die im Wortgefüge des Textes an- und ausgelegt sind. Man hat es also mit einer Interaktion zwischen der literarischen Darstellung – dem Vergleich von Welt und Waage – und den Vorstellungen im Kopf des Lesers zu tun, wenn man den Text als Sinngedicht versteht. Das aber heißt: Der Sinn ist weder einfach im Text noch einfach im Kopf, sondern ein Emergenzphänomen der Interaktion von Darstellung, Vorstellung und Praxis. So wie die Darstellung respektive das Weltbild des Textes ein Diagramm aus Wörtern ist, muss man die Vorstellungen, die sie auslöst, als Rekonfigurationen dieses Schaubilds ansehen. 10 | Vgl. Barwise/Perry: Situationen und Einstellungen, S. 42f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Es ist zum Beispiel völlig klar, dass der Roman Madame Bovary, den Gustave Flaubert 1857 mit dem Untertitel Moeurs de Province veröffentlicht hat, nicht von einer historischen Persönlichkeit handelt und auch keine ethnologischen Beschreibungen landläufiger Sitten enthält, wie man sie in einer Kulturgeschichte finden könnte. Dennoch machen sich die Leser mit Hilfe dieses Romans bis heute ein gewisses Bild von den Lebenszuständen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich, abseits der Metropole, geherrscht haben. Auch wird niemand bestreiten, dass die Geschichte der Madame Bovary in gewisser Hinsicht ein Anschauungsmodell dafür ist, was passieren kann, wenn der berechtigte Wunsch, glücklich zu werden, auf Umstände und Veranlagungen trifft, die eher das Unglück befördern. In diesem Sinne ist das Buch nicht nur ein Sittengemälde, sondern eine Art Schaubild: es spielt, bestimmte Umstände und Veranlagungen vorausgesetzt, durch, was geschehen muss, wenn das Begehren einer Frau in Konflikt mit den Verhaltensregeln der Gesellschaft gerät – ein Konflikt, von dem in anderer, aber doch vergleichbarer Form auch die Romane Anna Karenina und Effi Briest handeln, die Lew Nikolajewitsch Tolstoi und Theodor Fontane verfasst haben. Man kann die Erkenntnis von Jurij M. Lotman, dass Sprachkunstwerke sekundäre modellbildende Systeme sind, also dahingehend verstehen, dass sie die Elemente des primären modellbildenden Systems – die Elemente der Sprache – so konfigurieren, dass Anschauungs- und Vergleichsmodelle entstehen – Modelle, die dann wiederum die Leser nicht nur historisch verstehen, sondern auf die eigene, aktuelle Wirklichkeit beziehen können.

II. Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit Auch wenn das Sittengemälde, das der Roman Madame Bovary darstellt, vergangene Zeiten reflektiert, ist der Widerspruch zwischen dem Wunsch, glücklich zu werden, und den Umständen, die seiner Erfüllung im Wege stehen, nach wie vor aktuell. Zudem dürften zeitgenössische Leser bei der Lektüre einer Kulturgeschichte Frankreichs, die authentisches Quellenmaterial rekapituliert, vieles von dem wiederfinden, was Flaubert in seinem Buch geschildert hat. Madame Bovary mag eine fiktive Figur sein; ihre Geschichte exemplifiziert gleichwohl realistische, weil prinzipiell mögliche Erfahrungen. Diese Bezugnahme durch Exemplifikation ist ein zentrales Verfahren aller Künste.11 Und wenn man sich daran erinnert, dass der Modellfall der Exemplifikation die Stoffprobe ist, die genau jene Textur veranschaulicht, die sie aufweist bzw. besitzt, kann man, ohne metaphorisch zu werden, behaupten, dass sich prinzipiell jede Textstruktur diagrammatisch als modellhafte Veranschaulichung oder Exemplifikation derjenigen Relationen oder Konfigurationen auffassen lässt, welche in der Struktur der Erfahrungswelt zu entdecken sind. 11 | Vgl. Goodman/Elgin: Revisionen, S. 36.

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D IAGRAMMATIK Dieses ›Entdecken‹ – darauf kommt es an – muss keineswegs ein ›Wiedererkennen‹ sein, obwohl es das in manchen Fällen ist. In vielen anderen, oft sehr bedeutsamen Fällen verhält es sich jedoch so, dass Texte ihren Lesern die Augen für Strukturen öffnen, die sie ansonsten gar nicht entdeckt hätten.12 Noch genauer müsste man vielleicht sagen, dass diese Strukturen der Welt ›unterlegt‹ werden, um sie auf eine neue, überraschende Art und Weise ›auslegen‹ zu können. Es gibt belesene Leute, die Madame Bovary besser als ihre Nachbarin kennen, und wenn diese Nachbarin sich unentwegt über den beschränkten Horizont ihres Gatten beschwert, können diese Leute den Roman von Flaubert wie eine Legende benutzen, um ihrer Nachbarin auf die Spur zu kommen. »In diesem Sinne«, so hat es Umberto Eco formuliert, »arbeiten gewisse Operationen der Kunst, die unserer konkreten Welt so fern zu sein scheinen, letzten Endes darauf hin, uns die imaginativen Kategorien zu liefern, mittels derer wir uns in der Welt bewegen können.«13 Das Verb ›liefern‹, das Eco verwendet, kann man dahingehend verstehen, dass die Lektüre eine strukturbildende Tätigkeit darstellt: »Das Erkennen von Strukturen besteht in hohem Maße darin, sie zu erfinden und aufzuprägen. Begreifen und Schöpfen gehen Hand in Hand.«14 Literarische Texte (und andere Kunstwerke) sind, so gesehen, Mittel, um die Welt zu diagrammatisieren; sinnbildlich wie durch den Vergleich mit einer Waage oder romanhaft wie in Madame Bovary. Behauptet man folglich, dass Romane Legendenbildungen sind, kann das zweierlei bedeuten: Zum einen, dass sie Mythen erzeugen, die nicht wirklich wahr sind; zum anderen aber auch, dass sie ihren Lesern Auslegungsschemata und Kategorien liefern, die sich empirisch bewähren müssen und dies in vielen Fällen auch tatsächlich tun. Es ist daher gar nicht so erstaunlich, dass man das ›Legendäre‹ zwar für das nicht ganz Glaubhafte hält, das Wort ›Legende‹ ursprünglich aber das ›Auszulegende‹ meint. In diesem Sinne gehört zu jeder Karte eine Legende, aus der hervorgeht, wie die Zeichen zu lesen sind, die das Schaubild enthält. Und in diesem Sinne kann man auch den Mythos oder ›mythus‹, wie Aristoteles die folgerichtige Entfaltung eines Handlungszusammenhangs im Drama oder auf der Theaterbühne nennt, als Legendenbildung, das heißt als Beitrag zur kognitiven Vermessung der Lebenswelt verstehen. Kein Mensch glaubt an Mythen, und doch legen wir die Welt beständig anhand von Mythen aus. Wenn Aristoteles in seiner Rhetorik sagt, dass es bei der Bil12 | In dieser Hinsicht sind Texte nach dem Modell der Metapher ›gestrickt‹: »[…] jedes Detail und der Text als Ganzes sind in verschiedene Relationssysteme integriert, wodurch sie gleichzeitig mehr als eine Bedeutung annehmen. In der Metapher bloßgelegt, hat diese Eigenschaft doch einen viel allgemeineren Charakter«, stellt Jurij M. Lotman (Die Struktur des künstlerischen Textes, S. 110) fest. 13 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 281. 14 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 37.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK dung von Metaphern darauf ankomme, die Dinge in ihrer Wirksamkeit vor Augen zu führen,15 und in seiner Poetik darauf hinweist, dass der Mythos eine komplexe Metapher und die Metapher ein kleiner Mythos sei,16 so hat er damit erstens erkannt, dass der Handlungszusammenhang der Welt sprachlich modelliert werden kann, und zweitens bemerkt, dass es bei der Modell- oder Legendenbildung entscheidend auf das Moment der Anschaulichkeit ankommt, die im Griechischen ›enargaia‹ heißt. Der lateinische Begriff der Evidenz meint fast dasselbe. Während der Akzent bei der ›enargaia‹ eher auf dem Moment der dynamischen Kraftentfaltung liegt – gilt es doch, die Dinge in ihrer Wirksamkeit vor Augen zu führen –, wird im Begriff der Evidenz das Konzept der Anschaulichkeit mit dem Konzept der Beweiskräftigkeit verschränkt. Evident ist, was einem Beobachter unmittelbar vor Augen steht und offenkundig zeigt, was der Fall ist. Wer in flagranti ertappt wird, ist als Täter überführt; seine Schuld ist evident. Diese Koppelung von Anschaulichkeit und Beweiskräftigkeit besitzt nicht nur eine juristische, sondern auch eine poetische und heuristische Relevanz. Als Peirce darauf hinwies, dass man aus den Relationen, die sich anhand eines Diagramms (intersubjektiv) beobachten lassen, Schlussfolgerungen ableiten kann, die offenkundig sind, hatte er genau diese Koppelung von Anschaulichkeit und Beweiskräftigkeit im Sinn. Seine weiterführende Erkenntnis, dass im Prinzip alle Zeichen Vorstellungen auslösen, die zwischen der Beobachtung und dem anschaulichen Denken vermitteln, bewährt sich daher nicht nur, wenn es um logische Relationen, sondern auch und gerade wenn es um ästhetische Konfigurationen geht. Jedes Zeichengefüge ist ein ästhetikologisches Gebilde, dessen Bedeutung in jenem Anschauungsraum entfaltet wird, auf den sich das sogenannte ›geistige Auge‹ richtet. Einerseits nämlich hebt das Zeichen am Gegenstand einen bestimmten Gesichtspunkt hervor, auf den man sich einstellen muss; andererseits setzt mit der Vorstellung, die das Zeichen vermittelt, eine Überlegung ein, in deren Verlauf eine Bedeutung für den Bezugsgegenstand ermittelt wird, die entweder in einen bereits vorhandenen Verständnisrahmen passt oder dazu führt, dass ein neuer ›Eintrag‹ im enzyklopädischen Gedächtnis vorgenommen wird. Zeichen zu deuten, heißt demnach erstens, eine perspektivische Mimesis zu vollziehen, und zweitens, in dem Beziehungsgefüge, das dabei ins Auge gefasst wird, ein Ableitungsschema für Bedeutungen zu erblicken, die die enzyklopädische Kompetenz erweitern können – sei es, dass dem Gedächtnis neue Erkenntnisse hinzugefügt werden, sei es dass bestehende ›Einträge‹ umgeschrieben werden. Diese Art des Kompetenzerwerbs ist bereits in der Lernsituation angelegt, von der aller Spracherwerb ausgeht. Kinder müssen zunächst begreifen, wie man sich mit Worten auf anwesende Dinge bezieht, erst dann 15 | Vgl. Arisoteles: Rhetorik, S. 193f. 16 | Vgl. Aristoteles: Poetik, S. 77.

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D IAGRAMMATIK können sie allmählich verstehen, wie man sich mittels der Sprache auch über abwesende Sachen und Personen, ja sogar über Entitäten unterhalten kann, die gar nicht zur wahrnehmbaren Körperwelt gehören. Die Spracherwerbsforschung hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte gemacht und herausgefunden, dass sich die Fähigkeit zum Sprechen und die Fähigkeit zum Denken koevolutionär und performativ in einer Sphäre der zwischenmenschlichen Interaktion entwickeln, die aus Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit besteht. Während der Kulturanthropologe Michael Tomasello, von dem der Begriff stammt, bei einer Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit in erster Linie die Lernsituation des Spracherwerbs im Auge hat, die sich aus der unmittelbaren, leibhaftigen Interaktion von Kind und Mutter ergibt,17 ist dieser Begriff für die Kultur- und Medienwissenschaften vor allem deshalb interessant, weil er den Blick auf eine zentrale Funktion der Medien lenkt: die Herstellung von telematischen Szenen der Aufmerksamkeit, die gerade nicht eine unmittelbare, leibhaftige Interaktion voraussetzen, sondern eine unter Umständen über lange Zeiträume ›zerdehnte Kommunikation‹ erlauben.18 Wichtig ist in beiden Fällen, dass die Fertigkeiten, die Menschen im Umgang mit Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit erwerben, performativ verinnerlicht werden. Um diesen Aspekt zu erfassen, ist es notwendig, kurz auf die Genese der Sprechakttheorie, wie sie die Philosophen John L. Austin und John R. Searle entwickelt haben, einzugehen. Diese Theorie verdankt dem Philosophen Ludwig Wittgenstein wesentliche Anregungen. Vor allem zwei Hinweise Wittgensteins waren dabei ausschlaggebend. Zum einen der Hinweis, dass die Bedeutung eines Wortes in vielen Fällen aus seinem Gebrauch in der Sprache erhellt,19 zum anderen der Hinweis, dass man sich, um mit dieser ›Gebrauchstheorie der Bedeutung‹ praktisch umgehen zu können, ›ansehen‹ muss, wie ein Wort situativ verwendet wird. Mit der Bemerkung, »[w]ie ein Wort funktioniert, kann man nicht erraten. Man muß seine Anwendung ansehen und daraus lernen«20, hat Wittgenstein antizipiert, worauf es bei den Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit im Spracherwerb ankommt. Dass er diesen Gesichtspunkt gerade bei seiner ›Gebrauchstheorie der Bedeutung‹ hervorheben wollte, geht aus dem Wortlaut, mit dem sie eingeführt wird, unmittelbar hervor. Jedenfalls fügt Wittgenstein dem Satz »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache«, sogleich hinzu: »Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, dass man auf seinen Träger zeigt.«21 17 | Vgl. Tomasello: Die kulturelle Entwicklung, S. 78ff. 18 | Vgl. Bauer: »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit«, Ehlich: »Text und sprachliches Handeln«. 19 | Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 262 (§ 43). 20 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 387 (§ 340). 21 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 262 (§ 43).

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Genau das geschieht, wenn ein Kind anlässlich der Benennung bestimmter Gegenstände mit den Augen der Blickrichtung respektive den Fingerzeigen seiner Bezugsperson folgt und so erkennt, auf welche Gegenstände die Benennung zutrifft. Selbstverständlich ist hier wiederum die Interaktion von Ostension und Exemplifikation am Werk, von der bereits die Rede war. Der Gegenstand, der dank einer Ostension in den Fokus einer Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit gerät, exemplifiziert die Eigenschaften oder Merkmale, an denen später auch die anderen Gegenstände identifiziert werden, für die man die gleiche Bezeichnung verwenden kann. Ob die Ostension dabei explizit durch Fingerzeige oder lediglich implizit erfolgt, ob das Kind ausdrücklich auf den Gegenstand, seine Eigenschaften und Merkmale hingewiesen wird, oder nur den stummen Blicken folgt, die seine Bezugsperson auf diesen Gegenstand richtet, ist von nachgeordneter Bedeutung. Entscheidend bleibt, dass es im Gebrauch der Sprache, also synpragmatisch, erfasst, wie Worte auf Gegenstände referieren. Kommt zu dieser Referenz dann auch noch die Inferenz hinzu, wird das Wissen um den situativen Gebrauch eines Wortes synkategorematisch erweitert: Das Kind begreift, dass die Verwendung desselben Wortes in verschiedenen Situationen unter die gleiche Kategorie fällt, also hier wie dort eine ähnliche, wenn nicht sogar dieselbe Bedeutung hat. Und es ist dieser Schluss, mit dem es nicht nur das Prinzip der Gebrauchstheorie erfasst, sondern auch eine diagrammatische Operation vollzieht. Denn es ist ja ein Rückschluss von der aktuellen Diskurssituation auf die Rekurssituation, in der sich das Kind die Verwendung des Wortes angesehen und exemplarisch klar gemacht hat, auf den es beim Spracherwerb ankommt. Im Übrigen ist es nur zu wahrscheinlich, dass eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit mehrmals iteriert werden muss, bis sich ein entsprechender Lernerfolg einstellt. Und selbstverständlich sind noch zahlreiche Details des Spracherwerbs untersuchungs- und erklärungsbedürftig. Immerhin erlaubt aber schon der gegenwärtige Erkenntnisstand die Vermutung, dass Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit in ihrer kumulativen Wirkung nicht einfach nur die mechanische Zuordnung von Lauten und Bedeutungen fördern. Vielmehr scheint der Spracherwerb ein Wissenserwerb zu sein, bei dem es sowohl um die enzyklopädische Kompetenz als auch um die pragmatische Kompetenz des Menschen geht: Im Verlauf dieses Lernprozesses werden die grundlegenden Operationen der Referenz und Inferenz exemplifikatorisch eingeübt. Sukzessive begriffen wird dabei, wie Worte synpragmatisch und synkategorematisch funktionieren. Darauf bauen nicht nur höhere kommunikative und kognitive Fertigkeiten wie das Verständnis metaphorischer Äußerungen auf, darauf baut vor allem die Fähigkeit auf, Wissen und Handlung sinnvoll zu korrelieren – die Fähigkeit mithin, einen interaktiven Gebrauch von Zeichen machen zu können, der über den sensomotorischen Vorgang des Sprechens und Hörens, Schreibens und Lesens hinaus die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit betrifft.

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D IAGRAMMATIK Der zugleich wissenssoziologische und lernpsychologische Ertrag des Spracherwerbs, der auf die modellbildende Funktion von Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit setzt, scheint somit darin zu bestehen, dass die enzyklopädische und pragmatische Kompetenz performativ, im Umgang mit Worten, Dingen und anderen Menschen erworben werden. Sieht man sich unter diesem Gesichtspunkt den Klassiker der Sprechakt-Theorie, How to do things with words von John L. Austin an, wird gerade dies deutlich. Austin ging ursprünglich von der Annahme aus, dass es sprachliche Äußerungen gibt, mit denen man lediglich eine Feststellung trifft, und andere, mit denen man eine Handlung ausführt – beispielsweise, indem man ein Eheversprechen abgibt. Später musste er einräumen, dass man auch mit Feststellungen Handlungen vollziehen kann,22 etwa mit der Feststellung: »Hiermit erkläre ich Sie zu Mann und Frau.« Äußerungen, mit denen man eine Handlung vollzieht, nannte Austin performative Äußerungen, abgeleitet von dem englischen Verb ›to perform‹,23 das man mit ›vollziehen‹, in bestimmten Zusammenhängen aber auch mit ›darstellen‹ und ›aufführen‹ übersetzen kann. Das Vollziehen ist häufig ein ›In-Szene-Setzen‹, zuweilen sogar ein gleichsam ritualisierter Akt wie die Heiratszeremonie, die bezeugt werden muss. Offenbar gelingt eine performative Äußerung nur, wenn sie a) tatsächlich beobachtet und dabei b) als ein Tun aufgefasst wird, das sich nicht in der Artikulation von Worten und Sätzen erschöpft. Insofern gehört zum Sprechakt immer eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit. Das bedeutet, dass performative Äußerungen synpragmatisch funktionieren. Darauf weist auch die Tatsache hin, dass es Austin partout nicht gelingen wollte, »für die performativen Äußerungen ein grammatikalisches Kriterium zu finden«24 , das sie von anderen Äußerungstypen unterscheidet. Austin zog aus diesem Dilemma den Schluss, dass alle Äußerungen eine performative Dimension haben und dass jeder Sprechakt wie eine Handlung zu verstehen sei, deren Erfolg nicht – oder jedenfalls nicht ausschließlich – an sprachlichen Kriterien gemessen werden kann. Stattdessen hängt der Erfolg eines Sprechaktes von den situativen Umständen, von Anschlussoperationen und vom Zusammenspiel der Akteure ab. Die Einlösung eines Versprechens hat nur bedingt etwas mit seiner Formulierung zu tun. Man muss der Formulierung Taten folgen lassen. Das gilt nicht nur für das Heiratsversprechen und den Vollzug der Ehe. Unter diesen Umständen kann sich die Sprachwissenschaft nicht darin erschöpfen, Satzbaupläne und Wortbedeutungen zu untersuchen, sie muss danach streben, den Zusammenhang von Rede und Handlung zu erschließen, und sie muss zeigen, wie die Fähigkeit, diesen Zusammenhang im Bewusstsein herzustellen, gemeinsam mit der Fähigkeit, sinnvolle Äußerungen zu bilden, entsteht. Letztlich geht es dabei um die 22 | Vgl. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 158. 23 | Vgl. Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 29f. 24 | Austin: Zur Theorie der Sprechakte, S. 109.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Fähigkeit, diagrammatische Operationen vorzunehmen. Und diese Fähigkeit entwickelt sich eben performativ in Szenen, die evident zu Tage treten lassen, wie man mit Worten auf Dinge Bezug nimmt und Menschen mit Sätzen veranlasst, dies oder jenes zu tun (einschließlich dessen, was sie ›im Kopf‹ tun). Diese Fähigkeit entwickelt sich gegen Ende des ersten Lebensjahres. Was an dieser Schwelle geschieht, hat Helga Andresen im Anschluss an Michael Tomasello wie folgt beschrieben: »Zwischen neun und zwölf Monaten vollziehen Kinder drei Entwicklungsschritte, die zusammengehören und verschiedene Komponenten eines einzigen, für die Sprachentwicklung entscheidenden Prozesses bilden. Der erste Schritt besteht darin, dass das Kind jetzt seine Aufmerksamkeit im doppelten Wortsinn teilen kann. Es erlangt nämlich die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf eine Person und auf einen Gegenstand zu richten. Vorher konnte es nur entweder auf die Person oder den Gegenstand achten, nicht auf beide zugleich. […] Die zweite Veränderung besteht darin, dass das Kind erkennt, dass sein Kommunikationspartner mit den lautlichen Äußerungen kommunikative Absichten verfolgt […]. Die dritte Veränderung vollzieht das Kind dann, wenn es erkennt, dass es selbst Lautfolgen mit den gleichen kommunikativen Absichten wie die Mutter gebrauchen kann […]. Dieser Vorgang ist nicht an Wörter gebunden, sondern beginnt häufig mit Gesten.« 25

Eine Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit hat also nicht nur einen Fokus. Einerseits bezieht sich die Aufmerksamkeit auf den Bezugsgegenstand, den das Kind – nicht selten dank ostentativer Gesten – sehen, vielleicht sogar ergreifen kann. Andererseits wird seine Aufmerksamkeit zugleich von der Bezugsperson beansprucht und so auf die Bedeutung gelenkt, die sie dem Gegenstand bzw. der Bezeichnung des Gegenstandes beimisst. Das Kind folgt den Blicken seiner Bezugsperson, es vollzieht also eine perspektivische Mimesis, was zu einer koordinierten, gemeinsamen Aufmerksamkeit und so, Wort für Wort, Szene für Szene zur Erfassung des Zusammenhangs von Bezugsgegenstand, Äußerung und kommunikativer Absicht führt. In ihrer kumulativen Wirkung ermöglichen Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit somit einen sukzessiven Übergang zum intentionalen, interaktiven Handeln. Dabei geschieht etwas, das Andresen als Triangulation bezeichnet, »weil eine Dreiecksbeziehung zwischen Kind, Partner und Objekt hergestellt wird.«26 In diesem Sinne von einer Triangulation zu reden, heißt aber anzuerkennen, dass Zeichen soziale Verhältnisse stiften, da insbesondere in der sprachlichen Kommunikation synreferenzielle Bezirke entstehen.27 Erst wer in Bezug auf diese gemeinsamen Bezugsfelder und in Bezug 25 | Andresen: Vom Sprechen zum Schreiben, S. 54f. 26 | Andresen: Vom Sprechen zum Schreiben, S. 55. 27 | Vgl. Hejl: »Konstruktion der sozialen Konstruktion«, S. 326f.

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D IAGRAMMATIK auf seine Partner handelt, ist ein zoon politikon, wie Aristoteles den Menschen aufgrund der Tatsache nannte, dass er eigentlich nur als Gemeinschaftswesen existieren kann und folgerichtig immer auch politisch handeln muss.

III. Das szenische Drama des Satzes Über die Triangulation hinaus kann man noch eine weitere Verbindung zwischen den Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit und den Satzbauplänen herstellen, die sich ein Kind performativ aneignet und zunutze macht. Es ist nämlich äußerst aufschlussreich, dass man eigentlich jede sprachliche Äußerung, die dem Grundschema des Satzbaus folgt, als ein kleines Drama auffassen kann, das in sich szenisch strukturiert ist. Darauf hat vor allem der Linguist Lucien Tesnière hingewiesen, der für seine Dependenzgrammatik bekannt geworden ist. In seinem Buch Grundzüge der strukturalen Syntax erläutert Tesnière die Leitidee dieser Grammatik so: »Der verbale Nexus, der bei den meisten europäischen Sprachen im Zentrum steht, lässt sich mit einem kleinen Drama vergleichen. Wie das Drama umfasst er notwendig ein Geschehen und meist auch noch Akteure und Umstände. Wechselt man aus der Wirklichkeit des Dramas auf die Ebene der strukturalen Syntax über, so entspricht dem Geschehen das Verb, den Akteuren die Aktanten und den Umständen die Angaben. […] Außerdem haben wir gesehen, daß die Aktanten im Prinzip Substantive und gleichzeitig unmittelbare Dependentien des Verbs sind.« 28

Wenn man also sagt: ›Schopenhauer hat Anfang des 19. Jahrhunderts ein Buch mit dem seltsamen Titel Die Welt als Wille und Vorstellung geschrieben‹, so enthält dieser Satz eine Angabe der zeitlichen Umstände und zwei Aktanten: ein Subjekt und ein Objekt. Diese beiden Aktanten sind notwendige, obligatorische Ergänzungen des Verbs ›schreiben‹. Die Valenz dieses Verbes verlangt diese Ergänzungen, da der Satz ohne sie unvollständig wäre. Demgegenüber ist die Angabe ›Anfang des 19. Jahrhunderts‹ fakultativ. Man braucht sie nicht unbedingt, um einen sinnvollen, grammatikalisch korrekten Satz zu bilden. Wichtig ist außerdem, dass der Satz ein Geschehen beschreibt, das zwar nicht hochdramatisch, aber doch insofern szenisch wirkt, als sich aus der Stellung der Worte eine gewisse Satzperspektive ergibt, auf die man sich als Zuhörer oder Leser mimetisch einstellen muss. Man könnte die Perspektive ändern und den Sachverhalt, um den es geht, nicht im Aktiv, sondern im Passiv ausdrücken: ›Das Buch mit dem seltsamen Titel Die Welt als Wille und Vorstellung wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von

28 | Tesnière: Grundzüge der Strukturalen Syntax, S. 93, S. 97.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Schopenhauer geschrieben.‹ Dank der veränderten Satzstellung erscheint der Sachverhalt in einer anderen Sicht. Das aber heißt, dass jeder Satz ein kleines Schaubild entwirft, und dass sich dieses Schaubild mit der Wortstellung ändert. Anders ausgedrückt: Ein Satz entsteht aus der Fähigkeit, Worte diagrammatisch zu formatieren und dergestalt eine Erkenntnisszene zu konfigurieren. In diesem Sinne ist die Sprache szenographisch – und genau diese Eigenschaft der Sprache wird in der Sprachkunst exemplifikatorisch eingesetzt und evident. Ein schönes Beispiel dafür findet sich im lyrischen Werk des Schweizer Schriftstellers Conrad Ferdinand Meyer. Sein Gedicht Der römische Brunnen29 lautet in der ersten Fassung: In einem römischen Garten Verborgen ist ein Bronne Behütet von dem harten Geleucht der Mittagssonne, Er steigt in schlankem Strahle In dunkle Laubennacht Und sinkt in eine Schale Und übergießt sie sacht. Die Wasser steigen nieder In zweiter Schale Mitte, Und voll ist diese wieder, Sie flutet in die dritte: Ein Nehmen und ein Geben, Und alle bleiben reich, Und alle Fluten leben Und ruhen doch zugleich.

In dieser Version macht das Gedicht relativ viele Worte um eine Szene, in der das Wechselspiel zwischen der Bewegung des Wassers und dem Fassungsvermögen des Brunnens auf den Kontrapunkt der Ruhe zuläuft. Wer sich auf diese Szenographie einstellt, kann kaum übersehen, dass sie im Ansatz der kataraktartigen Gestalt nachempfunden ist, die im Fokus der gemeinsamen Aufmerksamkeit von Autor und Leser steht. Der Redefluss ist dem Wasserfall nachempfunden. Die zweite Fassung ergibt sich aus der konsequenten Verdichtung dieser Intention: Der Springquell plätschert und ergießt Sich in der Marmorschale Grund, Die, sich verschleiernd, überfließt In einer zweiten Schale Rund; Und diese gibt, sie wird zu reich, 29 | Alle Fassungen zitiert nach: Thiel/Pratz: Blaue Segel, S. 12f.

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D IAGRAMMATIK Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und alles strömt und alles ruht.

Der Grundgedanke, dass sich die Bewegungsgestalt, der das Gedicht folgt, gleichsam selbst aufhebt, tritt in dieser Version, die deutlich an Worten spart, klarer als zuvor in Erscheinung, aber es gibt immer noch eine Reihe von Schönheitsfehlern, die das Gesamtbild trüben. So wird die Fließkraft, die ›enargaia‹, dadurch gestört, dass der Springquell schon in der zweiten Zeile an einem ›Grund‹ angekommen ist und dann doch noch sechs Zeilen weiter sprudeln muss. Auch wirkt der Ausdruck ›Plätschern‹ nicht gerade dynamisch. Man kann das Diagramm der Worte also unter szenisch-dramatischen wie unter rhythmisch-atmosphärischen Gesichtspunkten noch verbessern, und tatsächlich sind diese beiden Schönheitsfehler in der von Meyer veröffentlichten Schlussfassung ausgemerzt. Nun ist das Gedicht perfekt30: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt, Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.

Mit der ungewöhnlichen, aber treffsicheren Anfangsstellung des Verbs erhält das Gedicht einen markanten Auftakt. Zudem veranschaulicht die erste Zeile, da sie die längste ist, das Volumen des Wasserstrahls, der nach und nach die Marmorschalen füllt, so dass nun wirklich ein Sinnbild oder Denkmal der ›enargaia‹ entstanden ist, das, wie der Brunnen selbst, in der letzten Zeile auf einem festen Sockel ruht, so dass der dem Gedicht eingeschriebene Gegensatz von elementarer Bewegung und unbewegtem Stein in dem Augenblick evident wird, in dem auch das Wechselspiel von gebundener Rede und Ausdruckskraft zur Ruhe kommt. Tatsächlich könnte man die Anschaulichkeit des Poems noch steigern, indem man dem Druckbild folgende Gestalt verleiht:

30 | Nur am Rande sei darauf hinweisen, dass man die Entwicklungsgeschichte des Gedichts anhand der drei Fassungen auch als eine zunehmende Überschreibung der Szenerie verstehen kann, die dem Autor leibhaftig vor Augen stand. Der Weg führt von der Wahrnehmungsszene zur literarischen Figur, von der biographischen Situation (Romreise) zum Poem. Es ist ein Prozess der sprachlichstilistischen Verdichtung, aber auch ein Prozess der thematisch-motivischen Verengung.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Aufsteigt der Strahl und fallend gießt Er voll der Marmorschale Rund, Die, sich verschleiernd überfließt In einer zweiten Schale Grund; Die zweite gibt, sie wird zu reich, Der dritten wallend ihre Flut, Und jede nimmt und gibt zugleich Und strömt und ruht.

Zum Figurengedicht transformiert ahmt Meyers Poem die Gestalt des römischen Brunnens sogar typographisch nach. Überdeutlich wird so aber nur die Gedankenfigur, die ohnehin im Zeichengefüge steckt. Das Poem ist ein inszenierter Diskurs, in dem die Worte so diagrammatisiert sind, dass sich die ›enargeia‹ auf den Leser überträgt, sofern er nur auf die Stellung der Worte achtet. Dazu aber wird er durch Reim und Zeilenumbruch genötigt. Niemand weiß, wer diesen Kunstgriff als erster entdeckt und angewendet hat; aufmerksam wurde auf ihn jedenfalls schon Gotthold Ephraim Lessing in den Paralipomena zu seinem Laokoon-Essay – einer Abhandlung, die sich bezeichnenderweise mit dem Verhältnis von Malerei und Dichtung beschäftigt. Diese Paralipomena wurden erst nach Lessings Tod veröffentlicht. Sie enthalten den Begriff der Diagrammatik nicht ausdrücklich, wohl aber die Idee dazu. Es ging Lessing in seinem Essay um den zugleich diskursiven und figurativen Charakter der Sprachkunst, wobei er sich gegen die Auffassung wandte, dass alle Zeichen der Malerei natürlich und motiviert, alle Zeichen der Dichtung hingegen willkürlich und nicht-motiviert seien. »Die Zeichen der Poesie sind nicht lediglich willkürlich. Ihre Worte als Töne betrachtet können hörbare Gegenstände nachahmen, welches bekannt.«31 Lessing spielt hier natürlich auf die Lautmalerei, die Onomatopoetik von Worten wie ›Kuckuck‹ oder ›Ticktack‹ an. Er fährt jedoch fort: »Aber ihre Worte als unter sich verschiedener Stellen fähig, können dadurch die verschiedenen Reihen der Dinge aufeinander und nebeneinander schildern.«32 Zum Beispiel sagt Homer nicht einfach, wie ein Schild ausgesehen hat, sondern er beschreibt seine Herstellung so, dass in der Abfolge der Sätze

31 | Lessing: »Anhang zum Laokoon«, S. 265. 32 | Lessing: »Anhang zum Laokoon«, S. 265.

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D IAGRAMMATIK nach und nach die Szenen zur Schau gelangen, die das Bildprogramm des Schildes umfasst.33 Diesen Kunstgriff nennt man ›ekphrasis‹. Die Erweckung einer bildlichen Vorstellung durch anschauliche Beschreibung ist aber nur ein Sonderfall der diagrammatischen Zeichenkonfiguration, bei der es auf die Abfolge und Stellung der Wörter ankommt. Eben dies hat Lessing klar erkannt, wenn er schreibt: »Wenn also auch schon nicht die Wörter natürliche Zeichen sind, so kann doch ihre Folge die Kraft eines natürlichen Zeichens haben. Wenn nehmlich alle die Worte vollkommen so aufeinanderfolgen, als die Dinge selbst welche sie ausdrücken. Dieses ist ein andrer poetischer Kunstgriff, der noch nie gehörig berührt worden, und eine eigene Erläuterung durch Exempel verdient.«34 Das Gedicht Der römische Brunnen ist solch ein Exempel. Nicht minder einprägsame Beispiele finden sich in epischen oder dramatischen Texten, etwa in der Novelle Die Marquise von O, die Heinrich von Kleist verfasst hat. Zu Beginn der Erzählung wird geschildert, wie das Domizil der Marquise zum Schauplatz kriegerischer Auseinandersetzungen gerät: »Eben als die russischen Truppen, unter einem heftigen Haubitzenspiel, von außen eindrangen, fing der linke Flügel des Kommandantenhauses Feuer und nötigte die Frauen, ihn zu verlassen. Die Obristin, indem sie der Tochter, die mit den Kindern die Treppe hinabfloh, nacheilte, rief, dass man zusammenbleiben, und sich in die unteren Gewölbe flüchten möchte; doch eine Granate, die, eben in diesem Augenblicke, in dem Hause zerplatzte, vollendete die gänzliche Verwirrung in demselben. Die Marquise kam, mit ihren beiden Kindern, auf den Vorplatz des Schlosses, wo die Schüsse schon, im heftigsten Kampf, durch die Nacht blitzten, und sie, besinnungslos, wohin sie sich wenden solle, wieder in das brennende Gebäude zurückjagten. Hier, unglücklicher Weise, begegnete ihr, da sie eben durch die Hintertür entschlüpfen wollte, ein Trupp feindlicher Scharfschützen, der, bei ihrem Anblick, plötzlich still ward, die Gewehre über die Schultern hing, und sie, unter abscheulichen Gebärden mit sich fortführte. Man schleppte sie in den hinteren Schloßhof, wo sie eben, unter den schändlichsten Mißhandlungen, zu Boden sinken wollte, als, von dem Zetergeschrei der Dame herbeigerufen, ein russischer Offizier erschien, und die Hunde, die nach solchem Raub lüstern waren, mit wütenden Hieben zerstreute. Der Marquise schien er ein Engel des Himmels zu sein. Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leib umfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mund vorquellenden Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einer verbindlichen, französischen Anrede den Arm, und führte sie, die von solchen Auftritten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nicht ergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch völlig bewußtlos niedersank. Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen

33 | Vgl. Lessing: »Anhang zum Laokoon«, S. 134. 34 | Lessing, »Anhang zum Laokoon«, S. 298.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück.« 35

Die szenische Qualität dieses Textes ergibt sich nicht nur aus der dramatischen Handlung. Vielmehr besticht Kleists Darstellung dadurch, dass die einzelnen Ereignisse auf einen Anschauungsraum bezogen sind, so dass im ›Kopfkino‹ des Lesers eine gleichsam bühnenreife Vorstellung des Schauplatzes entsteht. Mehr noch: Der Leser wird durch den narrativen Diskurs dazu gebracht, das Hin und Her der Flucht imaginativ nachzuvollziehen, er selbst wird in eine Unruhe versetzt, die dann auf eine höchst perfide Art und Weise durch den Gedankenstrich aufgehoben wird, an dem der Erzähler eine Information ausspart, die im weiteren Verlauf der Geschichte zentrale Bedeutung erlangt. Es stellt sich nämlich heraus, dass der vermeintlich edle Retter die Ohnmacht missbraucht und die besinnungslose Marquise geschwängert hat. Paradoxerweise ist es also die durch den Gedankenstrich markierte Leerstelle, auf die der Text immer wieder zurückkommt. Was sich an dieser Stelle der Geschichte ereignet, aber verschwiegen wird, ist im etymologischen Sinne obszön: eine Szene, die nicht gezeigt werden kann. Gleichwohl ist die Leerstelle ein integraler Bestandteil der literarischen Szenographie, die somit drei Momente umfasst: (a) die Darstellung des Chronotopos, der den Schauplatz des Geschehens bildet; (b) das forcierte Hin- und Her des narrativen Diskurses, durch das sich die Dramatik des Geschehens auf die Gemütsverfassung und Vorstellungsbildung des Lesers überträgt, und (c) die Leerstelle, aus der sich alle weiteren Komplikationen der Novelle ergeben. Die allmähliche Ausfüllung dieser Leerstelle bildet den eigentlichen Gegenstand der Erzählung, wobei es Kleist auf den Widerspruch zwischen dem unschuldigen Bewusstsein der Marquise und ihrer Gewissheit, schwanger zu sein, ankam. Indem sich die Protagonistin und die anderen Figuren gemeinsam mit den Lesern an diesem rätselhaften Widerspruch abarbeiten, vollziehen sie nicht nur den (zunächst ausgesparten) Gang der Handlung, sondern auch die Konzeption nach, die Kleist in seinem Aufsatz über Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden entwickelt hatte. Unabhängig davon, ob dem einzelnen Leser dieser intertextuelle Zusammenhang bewusst wird oder nicht, kann man sagen, dass die Entschlüsselung des Rätsels, die der Marquise (und den Lesern) aufgegeben ist, nur gelingen kann, wenn sie – um im Bild zu bleiben – mit dem Gedanken schwanger geht, just von dem Teufel vergewaltigt worden zu sein, der ihr zunächst als Engel erschienen war. Die Schlussfolgerungen, zu denen die Marquise (und die Leser), so wie die Dinge liegen, gelangen muss, veranschaulichen beispielhaft, wie eine Konjektur im Wechselspiel von Szenographie, Imagination und Inferenz funktioniert. Der Text entfaltet seine Bedeutung, wie eigentlich alle Literatur, dank einer »Dialektik 35 | Kleist: Sämtliche Werke und Briefe, S. 105f.

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D IAGRAMMATIK von Zeigen und Verschweigen«36, die das Vorstellungsvermögen der Leser »zugleich reguliert und stimuliert«.37 Das aber heißt: Der Leser muss sich gedanklich in den Anschauungsraum des Textes versetzen und dort hin- und herlaufen, um mit dem Täter auch der unerhörten Begebenheit auf die Spur zu kommen, um die sich die Novelle dreht. Im Zentrum dieser Erkundungsbewegungen steht die mentale Tätigkeit der Titelfigur. Offenbar geht das rezeptionsstrategische Kalkül, das Kleist in Szene setzt, nur auf, wenn sich seine Leser den Zusammenhang der Ereignisse nicht etwa, wie man meinen könnte, am Leitfaden des Leibes, dem die Marquise selbst nicht traut, sondern anhand der Relationen auslegen, die zwischen der Textur der Erzählung und dem Welt- und Handlungswissen der Leser bestehen. Die Konjektur involviert genau jene diagrammatischen Verfahren der Rekonfiguration, die der Text am Verhalten der Titelfigur exemplifiziert. Was der Marquise (und den Lesern) zunächst wie eine Rettungsaktion erscheint, muss als Übeltat dechiffriert werden. Ist dies geschehen, kann man die Textpassage, die zitiert wurde, noch einmal mit anderen Augen lesen. Ähnlich wie ein Kippbild lassen sich dem Gedankenstrich zwei verschiedene Bedeutungen zuordnen, sobald die Leser den Plan der Bedeutungstransformation erfasst haben, den der Erzähler in der Struktur des Textes ausgelegt hat. Ist also von ›szenographischen Künsten‹ die Rede, sollte man dabei nicht nur an Gemälde, Theaterstücke oder Filme denken und stets die Rolle der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft berücksichtigen, die Szenen an Skripte und andere Auslegungsschemata koppelt. Diese Kraft wird durch jene Dialektik des Zeigens und Verschweigens mobilisiert, die allen szenographischen Künsten eignet, auch wenn sie in den verschiedenen Medien unterschiedlich realisiert wird. In Bezug auf die Notwendigkeit, einen Handlungs- und Sinnzusammenhang konjektural zu erfassen und in diesem Zusammenhang Kippmomente oder -figuren auszumachen, weichen raffiniert komponierte Gemälde, raffiniert montierte Spielfilme oder raffiniert konstruierte Texte nicht so weit voneinander ab, wie man angesichts ihrer unterschiedlichen Anmutungsqualitäten denken könnte. ›Lesbar‹ werden Kunstwerke immer nur unter der Voraussetzung, dass man in ihrem Zeichengefüge Relationen entdeckt, die sich diagrammatisch auffassen und dergestalt auf analog strukturierte Kontexte beziehen lassen.38 Zwar kommt man so nicht unbedingt den Eigenarten der einzelnen Künste, wohl aber der 36 | Iser: Der Akt des Lesens, S. 79. 37 | Eco: Lector in fabula, S. 5. 38 | Ein solcher Kontext kann – vor allem in der modernen Kunst – die Tradition sein, von der sich ein Werk per Konfiguration abhebt. Ausgestellt wird so eine Sonderform des abweichenden Verhaltens (habit-breaking); ihren Sinn gewinnt dieses Verhalten im Rückbezug auf die Schemabildung (habit-taking), mit der sie bricht.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Tatsache auf die Spur, dass Kunstwerke, unbeschadet ihrer emotionalen Wirkung, Medien der kognitiven Welterkundung und -erschließung sind, weshalb ihre genaue Beobachtung – ganz im Sinne von Peirce – Erkenntnisse vermittelt. Die Bedeutung dieser Erkenntnisse liegt nicht zuletzt darin, dass man sie nur in der Form erwerben kann, die ihr die Künste geben. Insofern bildet die Einsicht, dass Information immer eine nicht nur logische, sondern ästhetikologische Angelegenheit ist, einen Eckpfeiler der diagrammatischen Konzeption von Wahrnehmung, Vorstellungsvermögen und Denkfähigkeit.39 Weit davon entfernt, lediglich Mittel der Veranschaulichung von Sachverhalten, Ereignisfolgen und handlungsrelevantem Wissen zu sein, das sich auch anders vermitteln ließe, tragen Kunstwerke gerade durch ihre je spezifische Machart zur Erweiterung der enzyklopädischen und pragmatischen Kompetenz bei, so dass die Menschen, um es mit Nelson Goodman zu sagen »nach einer vollständigen Eliminierung des ›Künstlichen‹ mit leerem Kopf und leeren Händen dastünden.«40 Zu denken ist dabei auch und gerade an die künstlichen Zeichen, mit denen die Wissenschaften operieren, die ganz selbstverständlich als Techniken der Welterzeugung begriffen werden, etwa die Plus- und Minuszeichen der Mathematik oder die Zeichen, die das Notations- und Periodensystem der Chemie beherrschen. Auch sie sind alles andere als natürlich, auch sie dienen zugleich der Erweiterung des Wissens und der Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten. Aus dem Umstand, dass es für einige Zeichen Notationssysteme gibt und für andere nicht, folgt also ebenso wenig wie aus dem Umstand, dass einige Zeichenkonfigurationen dicht, kontinuierlich und analog, andere hingegen diskret, diskontinuierlich und digital verfasst sind, dass nur die eine Sorte heuristische Funktionen erfüllt und epistemologische Bedeutungen hat. Sie alle geben der Welt Gestalt, lassen sie als Schaubild und Gestaltungsaufgabe erscheinen.

IV. Szenographie, Kartographie, Seismographie Eine Möglichkeit, diesen Sachverhalt vergleichsweise anschaulich auszudrücken, besteht darin, eine Trichotomie von Szenographie, Kartographie und Seismographie zu bilden, die dem Umstand Rechnung trägt, dass die Diagrammatisierung von Zeichen zugleich der Veranschaulichung von Handlungszusammenhängen (Szenographie), wie der Verzeichnung von Weltzuständen (Kartographie) und der Darstellung und Auslegung von Erschütterungen (Seismographie) dienen kann.41 39 | Überhaupt sollte man bei dem Begriff der Information immer daran denken, dass ihre Übermittlung stets daran gebunden ist, dass die Sinne formatiert werden. 40 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 125. 41 | Zur interdisziplinären Bedeutung der Szenographie vgl. Bauer: »Die Szenographie« sowie Neumann/Pross/Wildgruber (Hg.): Szenografien.

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D IAGRAMMATIK Die ersten beiden Funktionen der Diagrammatik sind evident; ihre seismographische Funktion hingegen erscheint erklärungsbedürftig. Auch sie lässt sich jedoch anhand des Textauszugs aus Kleists Novelle belegen. Tatsächlich wurde ja bereits darauf hingewiesen, dass die Wortstellung und der Satzbau, die Prosodie und die Perioden dieser Passage unter anderem dazu dienen, den Leser an der Erregung teilhaben zu lassen, von der die dramatis personae erfasst werden. Keinesfalls muss es dabei immer, wie in dieser Passage, um panische Momente gehen. Grundsätzlich gilt, was Aristoteles in seiner Poetik und Rhetorik über die Erregung von Affekten sagt. Sie gelingt nicht dadurch, dass man die einzelnen Affekte einfach benennt, sondern dadurch, dass man bewegende Formulierungen wählt. Sieht man die Sache aus dem Blickwinkel der Schematheorie, deren Pointe schon in der Antike darin bestand, dass geistige und seelische Bewegungen mit körperlichen Bewegungen parallelisiert werden, beruht die literarische Erregung von Affekten wesentlich auf einer Rückkopplung zwischen der Vergegenwärtigung emotionaler Zustände im Text und der Erinnerung des Publikums an entsprechende Empfindungen. Das aber kann nur heißen, dass es auch bei der seismographischen Qualität der Literatur um Analogiebildungen geht – Analogiebildungen zwischen der Korrelation einer Diskurssituation mit bestimmten Affekten und der Korrelation der Rekurssituation mit entsprechenden Affekten, die ihr ikonisches Auslegungsschema bildet. Wie diese Gefühlsmodulation mit dem szenographischen Charakter literarischer Texte zusammenhängt, hat Horaz in seinem Brief an die Pisonen klargestellt: »Mit den Lachenden lacht, mit den Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal selbst […]. Denn die Natur formt zuerst unser Innres je nach der äußeren Lage.«42 Das Wort ›Lage‹ in dieser Übersetzung von Horaz’ poetologischer Maxime darf man durchaus im Sinne von layout und display verstehen. Der Künstler muss die Zeichen, die er verwendet, so konfigurieren, dass die perspektivische Mimesis auch eine emphatische Mimesis, ein Nachvollzug der Stimmungslage und Gemütsverfassung ist. Das vielleicht beste Beispiel für diese Art der Gefühlsmodulation stellt die Großaufnahme eines bewegten Gesichts im Film dar, die als reaction shot angelegt ist. Denn an diesem Beispiel wird unter anderem klar, wie die emphatische Mimesis mit der Funktion der sogenannten ›Spiegelneuronen‹ im sensomotorischen Kortex des Menschen zusammenhängt. Diese Neuronen ›feuern‹ beim Anblick eines tätigen oder offenkundig erregten Menschen, das heißt sie lösen Nachahmungsakte aus, die tatsächlich zur Muskelanspannung führen können und offenbar, parallel zu dieser Aktivität, auch die Einbildungskraft mobilisieren. Ein erregtes Antlitz zu sehen und im Rückschluss auf die vorgängige Handlung zu erkennen, warum es diesen oder jenen Ausdruck annimmt, ist eine Form der Kognition, die Emotion ganz einfach deshalb involviert, weil es einen Regelkreis von physiogno42 | Horaz: Ars Poetica, S. 11.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK mischer Wahrnehmung und physiologischer Erregung, von psychologischem Einfühlungsvermögen und emphatischer Mimesis gibt.43 Dieser Regelkreis lässt sich wiederum semiotisch fassen, wenn man ihn auf die Trias von unmittelbarem, dynamisch-energetischem und logischem Interpretanten bezieht. Der unmittelbare Interpretant wäre dann die sofortige Erregung einer Empfindung, deren vorstellungsmäßiger Nachvollzug im Wechselspiel zwischen der konjekturalen Erfassung des close up als reaction shot und der Erinnerung an vergleichbare Fälle einerseits Steigerungsmomente umfasst und andererseits dazu führt, dass man die Bedeutung, die das Antlitz auf der Filmleinwand vermitteln soll, versteht. Der logische Interpretant, der zum Beispiel darin bestehen kann, dass man den Gesichtsausdruck mit einem Gefühl der Beschämung identifiziert, setzt also die Bildung jener Vorstellungen voraus, die zwischen der Anschauung (der Großaufnahme) und dem Begriff der Beschämung vermitteln. Entscheidend ist, dass diese Vermittlung tatsächlich ein dynamischer und energetischer Vorgang und nicht einfach nur eine rein logische Operation darstellt. Zu bedenken ist aber auch die relative Unschärfe dieses Vorgangs. Denn es ist beinahe unmöglich zu sagen, ob dabei die Kraft des Ausdrucks auf das Gemüt des Zuschauers übertragen wird oder ob er seine Emotionalität auf das Antlitz projiziert, das ihm vor Augen steht. Aufschlussreich ist überdies, dass die gleiche Unschärferelation auch die kartographische Funktion der Künste beherrscht. Auch hier kommt es nämlich entscheidend auf jene Vermittlungsleistung der dynamischenergetischen Interpretanten an, die man mit Fug und Recht Projektion nennen kann und transitiv verstehen darf. Auf eben diese Implikatur der Diagrammatik kommt Peirce zu sprechen, wenn er der Vorstellung begegnet, dass irgendein Diagramm unmittelbar auf bestimmte Weltzustände referiert. Sein Beispiel ist die Landkarte: »You may object, that a map is a diagram showing localities; undoubtedly, but not until the law of projection is understood, nor even unless at least two points on the map are somehow previously identified with points in nature.«44 Einerseits muss der Kartenleser also Korrespondenzen zwischen dem Diagramm und seinem Bezugsfeld entdecken; andererseits hängt die Entdeckung dieser Korrespondenzen von den Gesetzmäßigkeiten der Kartographie, insbesondere vom Maßstab der Verzeichnung und von der Projektionsregel ab, die in aller Regel der Legende der Karte zu entnehmen sind. Bezogen auf die kognitive Landkarte, die ein Roman wie Madame Bovary entwirft, müsste man bedenken, dass es sich bei diesem Sittengemälde um eine romanhafte Form der Legendenbildung handelt, die man nicht umstandslos, im Maßstab 1:1, auf die historische Wirklichkeit projizieren 43 | Vgl. Rizzolatti/Sinigaglia: Empathie und Spiegelneurone sowie Wulff, »Das emphatische Feld«. 44 | Peirce: Collected Papers, 3.419.

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D IAGRAMMATIK darf. Vielmehr kommt es bei der Lektüre dieses Textes darauf an, dass der Leser sich bis zu einem gewissen Grad in die Lage der Titelfigur versetzt, um zu ermessen, wie sich die Provinzsitten auf ihr Gemüt und Verhalten auswirken. Die Bedeutungsgestalt, die bei dieser imaginären Versetzung des Lesers in die Rolle der Madame Bovary gebildet wird, ergibt sich aus der Überblendung ihrer Beschreibung im Text mit den Lebenserfahrungen, über die der Leser verfügt. Einerseits legt sich der Leser das Verhalten der Bovary aus, indem er seine Gedanken, Empfindungen und Erfahrungen auf die Figur und ihre Lebenswelt projiziert; andererseits projiziert er das Verhalten der Figur und die Grundzüge ihrer Welt auf seine Erfahrungswirklichkeit, wenn er sich diese Wirklichkeit anhand des Romans auslegt. Obwohl der Leser selbstverständlich weiß, dass die Titelfigur keine reale Person ist und ihre Geschichte legendäre Züge hat, rücken Roman und Wirklichkeit in seiner Vorstellung so zusammen, dass sich ihre Bedeutungen zu überlappen scheinen. Mithin gilt das, was Peirce zum Verhältnis von Karte und Territorium dargelegt hat, mutatis mutandis auch für die wechselseitige Projektion von Roman und Lebenswelt, die in der Lektüre erfolgt. »It is not the language alone, with its mere associations of similarity, but the language taken in connection with the auditor’s own experimental associations of continuity, which determines for him what […] is meant.«45 Mit anderen Worten: Um die Literatur als heuristisches Instrument nutzen zu können, setzt sich der Leser in seinem Möglichkeitsdenken, also im modus conjecturalis, über die Diskontinuität von Fiktion und Realität hinweg – nicht indem er diese Diskontinuität naiv ignoriert, sondern indem er sie durch Projektionen überbrückt, die zur Überblendung von Text und Welt bzw. zur Überlappung ihrer Bedeutungen führen. Diese transitive Projektion ist, wie Peirce andeutet, ›experimental‹ respektive hypothetisch. Die Projektion, dank der ein Roman zur Legende der Lebenswelt oder Erfahrungswirklichkeit wird, ist zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als eine Abduktion, dank der man bestimmte Ableitungen aus dem Text vornehmen kann, die dann – wie alle diagrammatisch fundierten Deduktionen – durch die fortlaufende Erfahrung induktiv überprüft und gegebenenfalls modifiziert werden müssen. Eine solche Modifikation käme dem gleich, was Paul Ricœur als Refiguration bezeichnet, wäre also eine Umschrift der kognitiven Karte im Lichte der Erfahrung. Leicht vorstellbar ist beispielsweise, dass sich die Projektionen eines männlichen Romanlesers, der selbst aus der Provinz stammt und die Erfahrung gemacht hat, von seiner eigenen Gattin betrogen worden zu sein, signifikant von der Projektion einer weiblichen Leserin aus dem Großstadtmilieu unterscheidet, die Flauberts Sittengemälde an ganz anderen Maßstäben misst. Da sie den Text jeweils in ein anderes Erfahrungskontinuum einbetten, werden sich sowohl ihre (moralischen) 45 | Peirce: Collected Papers, 3.419.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Lesarten der Geschichte als auch ihre Rückschlüsse auf die eigene Lebenswelt deutlich voneinander abheben. Unberührt von diesen Differenzen gilt, dass die Interpretation eines Romans Projektionen involviert, die transitiv und abduktiv, aber auch transitorisch sind, weil sich die Bedeutungsgestalt des Werkes sowohl im Verlauf der Lektüre als auch mit der Zeit ändert. Die sukzessive Multivalenz der Literatur rührt nicht nur daher, dass ein Roman wie Madame Bovary von jeder Generation neu entdeckt und anders gelesen wird; sie rührt auch daher, dass sich ein und derselbe Leser zu verschiedenen Zeiten seiner Biographie anders auf den Text einstellt und zu seiner Bedeutung verhält. Hinzu kommen die Versionen des Romans, die sich seiner intertextuellen und intermedialen Diversifikation verdanken. Dazu gehören nicht nur die Spielfilme, die dezidiert als Kinoadaptionen des Romans gedreht worden sind, sondern zum Beispiel auch Werke wie Ryan’s Daughter (GBR/USA 1970) von David Lean. In diesem Film wird der Plot der Geschichte auf eine interessante Weise abgewandelt – vor allem dadurch, dass die Story von der französischen Provinz um 1850 an die irische Küste, in die Zeit des Ersten Weltkriegs, verlegt und an die Feindseligkeiten zwischen Iren und Engländen gekoppelt wird. In gewisser Weise behandeln all diese verschiedenen Fassungen eines Stoffes zwar das gleiche Thema, sie akzentuieren es jedoch oft – nicht nur in Nuancen – anders. Sieht man sie als ›Umschriften‹ des Hypotextes, den Flauberts Roman darstellt, ergeben sie einen Hypertext; sieht man in ihnen differente Lesarten derselben Geschichte, bezeugen sie Goodmans Erkenntnis, dass jede Art der Welterzeugung von vorhandenen Welten oder Welt-Versionen ausgeht; »das Erschaffen ist ein Umschaffen.«46 Die Resultate der Rekonfiguration und Dekomposition, der Tilgung oder Ergänzung, der Neuordnung und Umgewichtung oder Deformation hängen freilich nicht nur von den Eingriffen in die Semantik und Dramaturgie der Erzählung, sondern auch von den Eigenarten der Medien ab, die zu ihrer Inszenierung gewählt werden. Das zeigt sich gerade dort, wo es um die Szenographie und ihre medialen bzw. intermedialen Eigenschaften geht. Nicht umsonst knüpft zum Beispiel Ryan’s Daughter an bestimmte Inszenierungsmuster an, die nicht von Flaubert in seinem Roman, sondern in vorangegangenen Kino-Adaptionen von Madame Bovary geprägt wurden. Die Trichotomie von Seismographie, Kartographie und Szenographie, die es bei allen künstlerischen Formen der Veranschaulichung oder Vergegenwärtigung von Sachverhalten und Ereignisfolgen zu bedenken gilt, muss also medien- und genrespezifisch ausbuchstabiert werden, wenn man sich mit kulturellen Artefakten wie Romanen und Spielfilmen, Theaterstücken oder Hörspielen sowie mit ihren intertextuellen und intermedialen Beziehungen befasst. Insofern literarisch verfasste Texte zunächst einmal Sprachkunstwerke sind, kann ihre Untersuchung bei der 46 | Goodman: Weisen der Welterzeugung, S. 19.

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D IAGRAMMATIK Diagrammatisierung der Worte, Sätze usw. ansetzen, von der die Textur des Zeichengefüges und seine konjekturale Erfassung abhängen. Entscheidend ist dabei stets die Relationierung der sprachlichen Elemente, denn sie »verwandelt die Funktion des Bezeichnens in eine solche des Figurierens.«47 – »Die Literatur organisiert Wörter, die Aspekte der Welt bezeichnen, doch das literarische Werk deutet auf die Welt hin durch die Art, wie diese Wörter angeordnet sind«,48 also durch die Konfiguration, die den Text zu einem Diagramm bzw. zu einem Ensemble miteinander verschränkter Diagramme macht. Die Diagrammatisierung oder Konfiguration von Worten, Sätzen usw. ist gleichwohl keine Eigenart der literarischen Sprachverwendung. Vielmehr beherrscht das Prinzip der Diagrammatik, wie Roman Jakobson erkannte, den gesamten syntaktisch-morphologischen Bau der Sprache; ja selbst im Lexikon der Sprache finden sich diagrammatische Züge.49 Für den interpretativen Umgang mit sprachlichen Äußerungen, mit mündlichen oder schriftlichen Texten folgt daraus jene hermeneutische Devise, die Alfred Korzybski als Vorsichtsmaßregel formuliert hat: »A map is not the territory it represents, but, if correct, it has a similar structure to the territory which accounts for its usefulness.«50 Diese hermeneutische Devise verhält sich, da sie die Diskontinuität von Karte und Territorium hervorhebt, gleichsam reziprok komplementär zu der Maxime von Peirce, derzufolge es die im Gedankenexperiment fingierte Kontinuität von Karte und Territorium ist, die der Legendenbildung pragmatische Relevanz verleiht. Daher wundert es nicht, dass auch Korzybski auf die Rolle der Projektion eingeht, wenn er zur Welthaltigkeit sprachlicher Formulierungen anmerkt: »We read unconsciously into the world the structure of the language we use.«51 Für die Literatur, von der der Literaturtheoretiker Wolfgang Iser im Anschluss an Nelson Goodman gesagt hat, dass sie die Operationen exemplifiziert, durch die Welten gemacht werden,52 müsste es somit darauf ankommen, den Lesern nicht nur diese oder jene Welt-Version, sondern auch ihre Abhängigkeit von Projektionen bewusst zu machen, die ihnen mit dem Spracherwerb bzw. im Verlauf ihrer kulturellen Sozialisation zur Selbstverständlichkeit geworden sind. In Madame Bovary geschieht dies nicht zuletzt dadurch, dass die Titelheldin ihrerseits vor allem durch die Lektüre sentimentaler Romane zur romantischen Verklärung ihrer eigenen Person, ihrer Motive und Aktionen verleitet wird – ein Problem, das die Erzählkunst seit dem Don Quijote beschäftigt und zu einem ausgezeichneten Reflexionsmedium der literarischen Welterzeugung gemacht hat. 47 | Iser: »Akte des Fingierens«, S. 133. 48 | Eco: Das offene Kunstwerk, S. 271f. 49 | Vgl. Jakobson: Form und Sinn, S. 28. 50 | Korzybski: Science and Sanity, S. 58. 51 | Korzybski: Science and Sanity, S. 60. 52 | Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 271.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Diese Art der Reflexion ist offensichtlich eine andere Form der Sprachbewusstheit als diejenige, die in der Sprach- und Literaturwissenschaft kultiviert wird. Ihre Rationalität hat Korzybski in Analogie zur Relation von Karte und Territorium folgendermaßen erläutert: »A word is not the object it represents; and languages exhibit also the peculiar self-reflexiveness, that we can analyse language by linguistic means.«53 Die Rationalität von Sprachkunstwerken liegt demgegenüber darin, dass sie die Konfiguration einer Welt mit der pragmatischen Maxime vermitteln. Sie exemplifizieren nicht nur bestimmte Strukturen und Prozesse der menschlichen Weltund Selbsterfahrung, sie spielen auch verschiedene Skripte und Verhaltensmuster im Anschauungsraum eines bestimmten Genres durch und machen so die Probe auf das Diagramm. Eine solche diagrammatische Konzeption der Literatur, die davon ausgeht, das Sprachkunstwerke einen szenographischen Diskurs entfalten, in dem Auslegungsschemata, Handlungsskripte und kontingente Weisen der Welterzeugung durchgespielt werden (display-Funktion), ratifiziert nicht nur die Eigenart poetischer Modellbildung, sondern zugleich eine zentrale Erkenntnis der Sprachwissenschaft, zu der ihr wiederum Ludwig Wittgenstein verholfen hat. Wittgenstein hatte noch in seinem Frühwerk, vor allem im Tractatus logico-philosophicus, die These vertreten, dass der Satz ein Bild der Welt sei und die Sprache ein Mittel, um Sachverhalte auszusagen. In seinem Spätwerk, insbesondere in den Philosophischen Untersuchungen, fasst er den Satz nicht mehr als image oder Abbild von Weltzuständen auf. Vielmehr gehört es zum Regelwerk der ›Sprachspiele‹, von denen Wittgenstein nunmehr ausgeht, dass auch die Frage, inwiefern diese ›Spiele‹ auf die Welt zutreffen oder projizierbar sind, zum Gegenstand sprachlicher Verhandlungen wird. Das Bezugssystem dieser Verhandlungen ist dabei stets die gemeinsame menschliche Handlungsweise, mittels derer sich die Menschen nicht nur eine fremde Sprache, sondern überhaupt alle Spiele deuten.54 So wie beim Erwerb einer Fremdsprache sowohl die Muttersprache als auch die gemeinsame Handlungsweise der Menschen zur ›Legende‹ wird, bildet diese Handlungsweise das Bezugssystem der szenographischen, kartographischen und seismographischen Sprachspiele, die gemäß der Eigenarten der Literatur veranstaltet werden. Mit diesen Eigenarten machen sich Heranwachsende im Verlauf ihrer Enkulturation performativ vertraut, also vor allem: spielerisch. Worauf es aus entwicklungspsychologischer Sicht bei dieser spielerischen Einübung in den Regelgebrauch von sprachlichen Äußerungen oder anderen ›Spielzügen‹ ankommt, ist der Umstand, dass die einzelnen Fortschritte – angefangen von den Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit, in denen sich der Spracherwerb vollzieht – stets eine soziale bzw. interaktive Dimension aufweisen. Kinder werden vor allem in Sprach53 | Korzybski: Science and Sanity, S. 61. 54 | Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 346 (§ 206).

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D IAGRAMMATIK und Rollenspielen sozialisiert, in denen sie mit den Regeln der Kommunikation auch die Regeln der Interaktion erwerben und – was ganz entscheidend ist – immer wieder auf die Probe stellen. Folgerichtig kann man weder den Spracherwerb noch die zunehmende Partizipation an der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit von der menschlichen Handlungsweise oder von der Eigenart des Menschen abkoppeln, sich in Rollenspielen und Gedankenexperimenten zu ergehen. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass sich aus den kindlichen Sprachund Rollenspielen heraus nicht nur die intuitive Gebrauchstheorie der Bedeutung ergibt, auf die Wittgenstein aufmerksam gemacht hat – also die pragmatische Kompetenz des Menschen –, sondern auch die enzyklopädische Kompetenz, zu der die sogenannten Kulturtechniken gehören. Diese Kulturtechniken erschöpfen sich keineswegs in der Fertigkeit, Texte schreiben und lesen, Gemälde deuten und Partituren verstehen zu können. Vielmehr sind diese relativ konkreten, manuell oder visuell zu vollziehenden Techniken an die vergleichsweise abstrakten Operationen der Diagrammatik gebunden. Das sieht man nicht zuletzt an den sogenannten ›funktionalen Analphabeten‹, die zwar Buchstaben identifizieren, aber nicht den Sinn literarisch verfasster Texte verstehen können. Ihre Fähigkeit beschränkt sich auf das formale Regelwerk der Sprachspiele. Schon Wittgenstein hatte aber darauf hingewiesen, dass ein jedes Spiel nicht nur Regeln, sondern eben auch einen Witz hat.55 Und diesem Witz kommt man im Falle der Literatur nur bei, wenn man zwischen den Zeilen lesen, Rück- und Querbezüge entdecken und die Konfigurationen erfassen kann, die über die Linearität der Schrift hinaus in einen Anschauungsraum führen, der in erster Linie nicht visuell oder gar manuell, sondern imaginativ und kognitiv erfasst und heuristisch genutzt wird. Mit Bezug auf die Gestalten, die sich der Mensch in diesem Anschauungsraum vor Augen führen und kreativ abwandeln kann, hat Wittgenstein gesagt: »Wenn man es für selbstverständlich hält, daß sich der Mensch an seiner Phantasie vergnügt, so bedenke man, daß diese Phantasie nicht wie ein gemaltes Bild oder ein plastisches Modell ist, sondern ein kompliziertes Gebilde aus heterogenen Bestandteilen: Wörtern und Bildern. Man wird dann das Operieren mit Schrift- oder Lautzeichen nicht mehr in Gegensatz stellen zu dem Operieren mit ›Vorstellungsbildern‹ […].« 56

Man kann in dieser Bemerkung, die deutlich macht, dass der späte Wittgenstein eher an mentale Diagramme als an Bilder denkt, wenn er den Zusammenhang von Sprachspiel, Vorstellungsvermögen und Handlungsweise reflektiert, einen Vorgriff auf die Erkenntnis von Sybille Krämer sehen, dass es einen Operationsraum der Schriftbildlichkeit gibt, dem eine 55 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 450 (§ 564). 56 | Zit. nach: Schneider: Phantasie und Kalkül, S. 342.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK spezifische Performanz und Evidenz eignet, weil dieser Operationsraum Schrift- und Druckbilder, Schau- und Vorstellungsbilder integriert. Illustrieren lässt sich diese Erkenntnis am Beispiel einer Schultafel, auf der ein Lehrer Zahlen so anordnet, dass die Schüler sehen können, wie eine Addition oder Subtraktion, eine Multiplikation oder Division funktioniert. Natürlich kann der Lehrer Tafel und Kreide auch benutzen, um ein gleichwinkliges Dreieck zu zeichnen, an dem seine Schüler bestimmte Grundsätze der Geometrie ablesen können. Das Tafelbild erweist sich dabei als ein Operationsraum, in dem das Zusammenspiel von Evidenz und Performanz in Szene gesetzt wird. Diese Sicht der Dinge verändert die Idee der Schrift. Die Schrift macht sich nämlich anders als die mündliche Rede die Zweidimensionalität der Fläche zu Nutze, ein Ausdruckspotenzial, für das es beim Sprechen und Zuhören kein Analogon gibt.57 Aus diesem Grund wird man der Schrift und ihrer Leistung nicht gerecht, wenn man sie auf die Funktion reduziert, Laute mittels Buchstaben zu repräsentieren. Eher schon kann man sagen: »Das Schriftbild kartographiert die Sprache.«58 Was aus dieser Bemerkung von Sybille Krämer folgt, hat Christian Stetter näher erläutert: »Erst die Differenzierung von Getrennt- und Zusammenschreibung erzeugt das ›Wort‹ als grammatische Kategorie, und mit dem ›Satz‹ verhält es sich entsprechend.« »Erzeugt wird somit im kontinuierlichen Gebrauch der Schrift tatsächlich ein Konstrukt: der Begriff von Sprache als eines Systems miteinander kombinierbarer arbiträrer Elemente, der seinen realen Begriff in allen Operationen hat, die wir mit dem Geschriebenen vornehmen können: Texte in Wörter auflösen, diese nach bestimmten Prinzipien ordnen, alphabetisch oder nach der Anzahl und Reihenfolge der Striche, Deklinations- und Konjugationstabellen erstellen, syntaktische Regeln zusammenstellen usf. Für all dies gibt es im Bereich oraler Kommunikation kaum Analoga.« 59

Und das hat Folgen für die Performanz: Der Redefluss bildet ein dichtes Kontinuum, das Schriftbild ist diskret verfasst und kann diskontinuierlich erfasst werden. Bei ihm kommt es auf die Räume zwischen den Buchstaben, Worten, Sätzen und Zeilen sowie darauf an, dass man die Lektüre jederzeit unterbrechen und an der gleichen oder einer anderen Stelle wieder aufnehmen kann. Beides ist wichtig: die Verräumlichung des Sinns und die Machtübertragung an den Leser, der im Gegensatz zum Hörer selbst bestimmen kann, wann und wo er was in welcher Geschwindigkeit wahrnehmen möchte. Die mündliche Rede ist, schon wegen ihres Tem-

57 | Vgl. Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 85. 58 | Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 79. 59 | Stetter: Schrift und Sprache, S. 10, S. 43.

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D IAGRAMMATIK pos, immer ein Diktat; der schriftliche Text gleicht eher einer Partitur, die der Interpretation Spielräume gewährt. Mit dem Unterschied zwischen dem Auditiven und dem Visuellen hängt, wie Sybille Krämer betont, aber noch ein weiteres Potenzial schriftlicher und schriftbildlicher Darstellungen zusammen: »Die Visualisierung ist eine Materialisierung unsichtbarer Entitäten.«60 Das fängt schon bei den Plus- und Minuszeichen der Mathematik an und geht bis zu den »Technobildern« (V. Flusser) in der Menüleiste der Benutzeroberfläche eines Computer-Programms. Über den Zweck der Kommunikation hinaus werden Ziffern und Zahlen, Lettern und andere Operationszeichen in Diagrammen eingesetzt, um kognitive Akte zu veranschaulichen. Daher kann man sagen: Die Diagrammatik verknüpft die Logik von Zahl, Bild und Begriff und beutet diese Verknüpfung heuristisch aus.61 Im Operationsraum der Schriftbildlichkeit treffen sich die szenographischen Künste mit all den anderen Weisen der Welterzeugung, die Erkenntnisse »über topologische Bezüge wie rechts/links, oben/unten, zentral/peripher« vermitteln. »Der operative Kern der Diagrammatik besteht in der Performanz einer in ihr angelegten Modellbildung: Eine diagrammatische Visualisierung vollzieht und zeigt, was sie beschreibt, und steht auf diese Weise dem Beschriebenen zugleich Modell.«62 Es ist dieses Zusammenspiel von Performanz und Evidenz, Exemplifikation und Argumentation, das Diagramme und andere schriftbildliche Formate so nützlich und so aufschlussreich macht; es ist dieses Wechselspiel, durch das die Welt dem Menschen als Schaubild und Gestaltungsaufgabe vor Augen geführt wird.

3.2 I MAGINÄRE H ANDLUNGSR ÄUME : (R OLLEN -)S PIEL UND K ULTURTHEORIE Das Verhältnis von Spiel und Kulturtheorie ist schwierig. Der enge Zusammenhang zwischen Spiel und Kultur ist seit langem Gegenstand der Kulturwissenschaft. Zu nennen sind insbesondere Debatten in der philosophischen Ästhetik, in denen versucht wird, die Kunst durch den Begriff des Spiels zu erklären.63 Die Diskussion um die Bedeutung des Spiels für die Kultur ist eng mit der Frage nach den Charakteristika von Kultur verknüpft. Seitdem im späten 18. Jahrhundert darüber diskutiert wird, was als Kultur zu gelten hat, ist der Begriff des Spiels in zweifacher Form auf die Kultur bezogen worden: Einerseits gehört das Spiel, sofern man es als Kunst betrachtet, zum Kernbereich der Kultur. In dieser Betrachtungsweise liegt das Spiel inner60 | Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 83. 61 | Vgl. Boehm: »Jenseits der Sprache?«, S. 41f. 62 | Krämer: »Schrift als Hybrid«, S. 87f. 63 | Vgl. im Rückgriff auf die Frühromantik Sonderegger: Für eine Ästhetik des Spiels.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK halb der Kultur. Das Spiel ist etwas, das in der Kultur vorgefunden und untersucht werden kann. Andererseits wird das Spiel als etwas begriffen, das Kultur begründet. Das Spiel ist eine Praxis, die nicht nur in der Kultur vorkommt, sondern auch jenseits der Kultur (etwa bei Tieren). Der Bezug auf das Spiel hilft den Kulturwissenschaften, die Grenze zwischen Natur/ Kultur (und indirekt den Begriff des Menschen) zu untersuchen. In dieser Betrachtungsweise liegt das Spiel außerhalb der Kultur. Das Spiel ist der Begriff für eine Tätigkeit, durch welche die Kultur hervorgebracht wird.64 Zum einen ist das Spiel also etwas, auf das die Kulturtheorie zugreifen kann, indem sie konkrete Spiele untersucht. Zum anderen entscheidet ein abstrakterer Begriff von Spiel in den theoretischen Diskussionen mit darüber, was den Gegenstand der Kulturtheorie bildet. Das Spiel ist ein Phänomen, das gleichermaßen innerhalb und außerhalb der Kultur liegt. ›Spiel‹ ist einer jener paradoxen Begriffe, die, nachdem sie aus etwas abgeleitet wurden, für das, woraus sie abgeleitet wurden, eine konstitutive Funktion beanspruchen.65 Im Anschluss an den Kybernetiker und Systemtheoretiker Gregory Bateson kann das Spiel deshalb als eine Operation begriffen werden, welche die Rahmenfunktion der Kultur innerhalb des Rahmens der Kultur vorführt.66

I.

Die Familienähnlichkeit der Spiele

Ein Philosoph, der das Problem, was ein Spiel ist, in besonderer Weise diskutiert hat, ist der bereits mehrfach erwähnte Ludwig Wittgenstein. In seinen Philosophischen Untersuchungen hat er am Beispiel der Schwierigkeit, begrifflich festzustellen, was die verschiedenen Spiele in der Kultur gemeinsam haben, das Konzept einer pragmatischen Sprachphilosophie entwickelt. Wittgenstein behauptet, dass Sprache auf durch »Familienähnlichkeiten« strukturierten »Sprachspielen« basiert.67 Durch den Nachweis der Unmöglichkeit, einen Oberbegriff für alle möglichen Spiele zu bilden, gelangt er zu der Erkenntnis, dass die Sprache in gewisser Weise ähnlich wie ein Spiel funktioniert und am besten anhand wesentlicher Spielzüge beschrieben werden kann. Wittgenstein geht von folgender Überlegung aus: Das Prinzip des 64 | Vgl. Huizinga: Homo ludens: »Kultur beginnt nicht als Spiel und nicht aus Spiel, vielmehr in Spiel« (S. 78); »Kultur in ihren ursprünglichen Phasen wird gespielt. Sie entspringt nicht aus Spiel, wie eine lebende Frucht sich von ihrem Mutterleibe löst, sie entfaltet sich in Spiel und als Spiel (S. 167); »Spiel ist älter als Kultur […]« (S. 9). 65 | Vgl. Baecker: Wozu Kultur?, S. 98ff., hier S. 102. 66 | In der Weiterführung des Gedankens, das Spiel sei konstitutiv für die Kultur, kann man dann aus soziologischer Perspektive behaupten, die Kultur sei ein Spiel, das den Rahmen der Gesellschaft in der Gesellschaft vorführt. Das ist eine der durchgängigen Thesen in Baecker: Wozu Kultur?. 67 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 276ff. (§ 65ff.)

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D IAGRAMMATIK Spiels, das durch die Sprache nicht auf einen Begriff gebracht werden kann, ist eines der Prinzipien, welche die Sprache selbst strukturieren. Das Spiel ist ein Begriff für Vorgänge, die innerhalb der Sprache nicht auf einen einheitlichen Begriff zu bringen sind, kann aber dennoch aus der Sprache heraus als ein metaphorisch einzuholendes Konstitutionsprinzip derselben erkannt werden. Geht man davon aus, dass die Sprache ein integraler Bestandteil der Kultur ist, findet man bei Wittgenstein eine Argumentationsfigur, in der die Rolle des Spiels in ähnlicher Weise in Bezug zur Sprache erläutert wird, wie sie sich in Bezug zur Kultur bestimmen lässt.68 Das Funktionsprinzip, das Wittgenstein ›Familienähnlichkeit‹ nennt, besagt, dass man die verschiedenen Sprachspiele durchschauen und eine gemeinsame Struktur der Sprache erkennen muss, die dennoch nicht die Vielfalt der verschiedenen Spiele auf ein Merkmal reduziert. Auf der Grundlage eines Merkmals kann das Mitglied einer Familie der ›Spiele‹ identifiziert werden. Ein anderes Mitglied der gleichen Familie wird dagegen mit Hilfe eines anderen Merkmals erkannt: »Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen.«69 Oder anders gesagt: »Und die Stärke des Fadens liegt nicht darin, daß irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, daß viele Fasern einander übergreifen.«70 Die unscharfen Ränder sprachlicher Bedeutungen konstituieren die Sprache als offenes System: »Wie würden wir denn jemandem erklären was ein Spiel ist? Ich glaube, wir werden ihm die Spiele beschreiben, und wir könnten der Beschreibung hinzufügen: ›das und Ähnliches, nennt man ›Spiel‹‹. Und wissen wir selbst denn mehr? Können wir etwa nur dem Anderen nicht genau sagen, was ein Spiel ist? – Aber das ist nicht Unwissenheit. Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind.«71 Eingebettet in konkrete Sprachhandlungen kann Bedeutung immer wieder auf neue Situationen bezogen werden. Wittgensteins Gebrauchstheorie sprachlicher Bedeutung ist für die Verknüpfung des Spiels mit der Kultur aus zwei Gründen wichtig: Erstens ermöglicht es der Hinweis auf die pragmatische Offenheit der Sprache, auch die Kultur als offenen Sinnzusammenhang zu bestimmen. Kultur besteht aus einer Vielzahl heterogener Praktiken, zwischen denen Gemeinsamkeiten erkannt und Übergänge ausfindig gemacht werden müssen. Zweitens zeigt Wittgenstein, dass es bei der Analyse der Sprache und der Kultur darauf ankommt, das Erkenntnisprinzip zu verstehen, nach dem dieser Prozess abläuft. Nachdrücklich betont Wittgenstein, dass dieses Erkenntnisprinzip eine visuelle Dimension hat: Das Erkennen von Familienähnlichkeiten 68 | Vgl. den Versuch, Peirce’ Semiotik mit Wittgensteins Spielbegriff zu verbinden, bei Pietarinen: Signs of Logic. 69 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 278 (§ 66). 70 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 278 (§ 67). 71 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 279 (§ 69).

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK zwischen den verschiedenen Arten von Spielen, also jenes Prinzip, durch welches das Spiel die Sprache strukturiert, beruht auf einer Art der Anschauung, in der auf Grundlage von Übereinstimmungen, die sich nicht auf ein gemeinsames Merkmal vereinigen lassen, dennoch auf Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Spielen geschlossen wird: »Was ist allen diesen [Spielen, CE/MB] gemeinsam? – Sag nicht: ›Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ›Spiele‹‹ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau!«72 Die eindringliche Aufforderung Wittgensteins, zu »schauen«, gibt einen Hinweis darauf, was mit diesem Erkenntnisprinzip gemeint ist: Eine sprachliche Bedeutung aus einem heterogenen Ensemble verschiedener Sprachspiele heraus zu verstehen, bedeutet, eine komplexe Schlussfolgerung durchzuführen, in der relativ zu einer Situation ein Idealbild von sprachlicher Bedeutung konstruiert wird, das sich – analog zum idealen Begriff des Spiels – pragmatisch bewähren muss. Bei der sprachlichen Bedeutung, einem elementaren Baustein jeder Theorie der Kultur, ist ein visuelles Projektionsprinzip angelegt, das ein vorläufiges Gesamtbild aus einem Ensemble erzeugt und das sich dennoch nicht auf ein einheitliches Merkmal bringen lässt. Wittgensteins Theorie steht in diesem Punkt in der Tradition des Ansatzes von Peirce, wonach alle Zeichensysteme, also auch die Sprache, diagrammatisch verwendet werden können. Insbesondere die Familienähnlichkeit kann zum Gegenstandsbereich der Diagrammatik gezählt werden.73 Doch Wittgenstein exponiert nicht einfach nur Probleme der Sprachphilosophie anhand der Schwierigkeit, den Begriff des Spiels festzuzurren. Wittgenstein definiert auch den Charakter der Sprache nach dem Muster des Spiels. Sinnfällig ist das in der Metapher des ›Sprachspiels‹. Mit dieser Metapher bringt Wittgenstein eine Analogie zwischen Sprache und Spiel zum Ausdruck, die für die Bedeutung des Spiels in der Kulturtheorie entscheidend ist. Die Plausibilität der Analogie liegt, wie von der Sprachphilosophie ausführlich diskutiert wurde, in der Vergleichbarkeit der Regelhaftigkeit von Spiel und Sprache. Wittgensteins Ausführungen legen es darüber hinaus nahe, dass noch ein zweites (weniger oft diskutiertes) Moment hinzutritt, nämlich das Moment des ›Zur-SchauStellens‹, welches Wittgenstein in seinen Ausführungen offensichtlich sehr wichtig ist.74 72 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 277 (§ 66). 73 | Auf eine in diesem Sinn ›diagrammatische‹ Struktur der Zeichensysteme hingewiesen zu haben ist eine Einsicht, die auch der Strukturalist Roman Jakobson in seinem Aufsatz »Die Suche nach dem Wesen der Sprache« an Peirce’ Semiotik in besonderem Maße gelobt und hervorgehoben hat. 74 | Vgl. hier auch Hölscher: »Wittgenstein über Bilder«.

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D IAGRAMMATIK Neben ihrer Regelhaftigkeit verfügen beide Praxen, Sprache und Spiel, über die Fähigkeit, eine Differenz zwischen der eigenen Praxis und dem Gegenstandsbereich, auf den sie verweisen, einzuführen. Diese Eigenart von Sprache und Spiel ist nur teilweise korrekt beschrieben, wenn man sie mit Begriffen wie Referenz oder Denotation belegt. Diese technischen Begriffe bringen zwar zum Ausdruck, dass die Sprache eine Bezugnahme auf Sachverhalte, zum Beispiel im Verhältnis einer Repräsentation, aufbauen kann. Referenz und Denotation beschreiben dieses Verhältnis aber vorrangig als logisches Verhältnis, auf dessen Grundlage Fragen über Identität oder Wahrheit diskutiert werden können. Entgegen dieser lange Zeit vorherrschenden Rezeption der Philosophischen Untersuchungen in der analytischen Sprachphilosophie geht es Wittgenstein aber nicht ausschließlich um eine logisch-begriffliche Relation. Wie die neuere anthropologische und kulturtheoretische Forschung gezeigt hat, begreift Wittgensteins Theorie der Familienähnlichkeit Bezugnahme auch als praktisch-sinnliche Operation.75 Diese praktisch-sinnliche Operation ist eine logische Operation im Sinne abduktiver Schlussverfahren. Zwar nur metaphorisch, der Sache nach aber auf die Beschreibung dieser diagrammatischen Operation abzielend, ist dieser Umstand erfasst, wenn man das Verhältnis der Sprache (und der Spiele) zur Welt im Anschluss an Gregory Bateson mit der Relation zwischen Karte und Territorium vergleicht.76 Mit der Karte-Territorium-Metapher ist der Umstand gemeint, dass ein Zeichen (die ›Karte‹) nicht identisch ist mit dem, was es bezeichnet (das ›Territorium‹). Gegenüber klar definierten philosophischen Relationsbegriffen wie Referenz oder Denotation hat die Unschärfe der Metapher den Vorteil, dass sie diese Bezugnahme als eine konkrete, perspektivische Orientierungsleistung beschreibt. Ähnlich wie eine Karte es ermöglicht, sich in einer Umgebung zu orientieren, ermöglicht es die Sprache, Sachverhalte perspektivisch zu ordnen. Die Sprache ist eine ›Karte‹, die ein ›Territorium‹ verzeichnet, weil sie es dank der Imagination ermöglicht, ein Vorstellungsbild von einem Territorium zu machen. Dieses Vorstellungsbild – mit Peirce gesagt, das ›Diagramm‹ – ist dahingehend ein schematisches Idealbild, als es eine rudimentäre Vorstellung des Territoriums bietet. Das Territorium wird in einer Gesamtschau erfasst, die dem Betracher Orientierung über den Sachverhalt verschafft. Das Konzept der Familienähnlichkeit, also die Exposition eines schematischen Idealbildes, ist ein wesentlicher Mechanismus von Sprachspielen, die ihrerseits jeweils in konkreten Situationen stattfinden. An ein Sprachspiel knüpfen sich Handlungen in konkreten Kontexten. Die75 | Vgl. für eine Wittgenstein-Interpretation, die in Abgrenzung zur analytischen Sprachphilosophie diese Seite des Wittgenstein’schen Denkens stark macht, Gebauer/Wulff: Spiel, Ritual, Geste, S. 14f., Gebauer: Wittgensteins anthropologisches Denken. 76 | Vgl. Bateson: Ökologie des Geistes, S. 245f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK se Kontexte werden im Prozess des Entwurfs des Vorstellungsbildes als mögliche Handlungskontexte mitbedacht. Der Schematismus des Diagramms besteht darin, eine Szene bzw. ein Szenario möglichen Handelns und möglicher Wahrnehmung zu realisieren. Eine Karte gibt nicht nur Überblick über ein Territorium, sondern sie setzt dieses Territorium immer auch in einen Bezug zu eigenen körperlichen Eingriffsmöglichkeiten. Diese Eingriffs- und Handlungsmöglichkeiten sind abhängig von den sozialen Situationen, die in der Vorstellung mit einem Szenario verknüpft werden. Als soziale Situation ist die Szene als Handlungsszene in einen narrativen Rahmen eingebunden. Jede Szene ist daher zugleich ein Szenario mit narrativem Potenzial. Bei Wittgenstein findet man also den Gedanken angelegt, dass sich die Bedeutung der Sprache als Spiel erklären lässt, weil die Sprache als Zeichensystem einen Bezug zum Bereich des imaginären Probehandelns unterhält. Die performative Beziehung von Narration und spielerischem Probehandeln zeichnet offenbar nicht nur fiktionale Erzähltexte oder die essayistische Beschreibung von Gedankenexperimenten aus. Sie scheint vielmehr grundlegend zu sein für alle Sprachspiele, in denen sich die Kultur kommunikativ oder interaktiv reflektiert. Entsprechend facettenreich ist die kulturwissenschaftliche Erforschung des Spiels, entsprechend weitgespannt der Spielbegriff, der als umbrella term zahlreiche Varianten abdecken muss.77 Eine Gemeinsamkeit der verschiedensten Varianten des wissenschaftlichen Spielbegriffs (z.B. Kultur als ›Spiel‹) besteht darin, dass Spiele nicht nur durch Regeln etc. gekennzeichnet sind, sondern auch durch eine Korrelation der für die Diagrammatik so oft bemühten Unterscheidung von Karte und Territorium. Jedenfalls besteht die Rahmenfunktion des Spiels in der Kultur und als Kultur, von der bereits die Rede war, darin, Relationen zwischen Karte und Territorium aufzudecken. Spiele sind Praxen, in denen Zeichen sowohl als mit dem Territorium deckungsgleiche Karten als auch als vom Territorium losgelöste Karten begriffen werden. In Spielen wird die Differenz von Karte und Territorium selbst befragt.78 Diesen Umstand kann man sich ganz wörtlich zu Nutze machen und exemplarisch eine Anwendung der Diagrammatik in kultur- und medienwissenschaftlichen Zusammenhängen erörtern, dem bis dato wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Während zum Beispiel die Literatur oder der Film den vielfältigsten Untersuchungen unterzogen worden sind und als die am besten erforschten ästhetischen Praktiken zählen dürfen, betritt man bei diesem Gegenstand aus kultur- und medienwissenschaftlicher Sicht 77 | Diese Vielfalt spiegelt sich im philosophischen Problem, zu definieren, was ein Spiel sei. Vgl. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 276ff. (insb. § 65-71). 78 | Vgl. Bateson: Ökologie des Geistes, S. 245ff., insb. S. 251, vgl. u.a. Baecker: Wozu Kultur, S. 70ff., Krämer: »Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität«, S. 35f.

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D IAGRAMMATIK (fast) Neuland. Gemeint ist die Erforschung von Rollenspielen, genauer: von Pen & Paper-Rollenspielen.

II. Eine kleine Theorie der Pen & Paper-Rollenspiele Neben der Verwendung von Rollenspielen in der Psychologie oder der Pädagogik werden Rollenspiele als institutionalisierte Gesellschaftsspiele in drei Gruppen unterteilt: Pen & Paper-Rollenspiele, Live-Rollenspiele und Computer-Rollenspiele. Die Umsetzung eines Pen & Paper-Rollenspieles geschieht durch das mündliche Erzählen einer Geschichte auf der Grundlage eines Regelwerks von Spielregeln bzw. durch die Beschreibung einer Spielwelt (des ›Settings‹). Live-Rollenspiele spielt man dagegen im Rahmen einer theatralischen Inszenierung des Spielgeschehens und aller Ereignisse an einem Ort (zum Beispiel einer Burg). Das Spielprinzip der Computer-Rollenspiele basiert auf Pen & Paper-Rollenspielkonzepten, zeigt aber (zum Beispiel in der Vorgabe eines klar begrenzten Spielfeldes) auch einige signifikante Abweichungen zu dieser Urform des Rollenspiels und hat sich in den letzten Jahren durch die Möglichkeiten des Internets (im Rahmen der sog. Massively-Multiplayer-Online-Role-Playing-Games, kurz MMORPG’s) als Massenphänomen etabliert. Durch ihre Realisierung im Medium gesprochener Sprache sind Pen & Paper-Rollenspiele Sprach-Spiele (bzw. Erzähl-Spiele) im eigentlichen Sinne des Wortes. Sie basieren auf einer an der dramaturgischen Logik sprachlicher Narration (wie in der Erzählung oder dem Drama) orientierten Logik. Sowohl in ihrem Spielprinzip als auch in ihren Settings gehören Pen & Paper-Rollenspiele zu den Vorläufern der Live- und Computer-Rollenspiele. Für die Forschung zur Intermedialität und zur Transmedialität des Erzählens sind Pen & Paper-Rollenspiele außerordentlich interessante Phänomene,79 weil sie die schwierige medientheoretische Frage nach einem gewissen paradigmatischen Status der Sprache für andere Medien und Medienformate aufwerfen.80 Über die Vorläuferfunktion für zeitgenössische Spiel- und Medienformate hinaus liegen die historischen Wurzeln der Pen & Paper-Rollenspiele in den Kulturformen der kontrafaktualen Inszenierung. Zwar weist bereits die Commedia dell’arte Elemente späterer Rollenspiele auf. Die eigentlichen Wurzeln reichen aber in die verschiedenen Formen der militärischen Konfliktsimulation zurück, wie sie sich zum Beispiel in Preußen seit Ende des 18. Jahrhunderts finden. Im 19. Jahrhundert lässt sich in den USA nach dem Ende des Bürgerkriegs das Phänomen des ›Historical Reenactment‹ als populäre Beschäftigung mit ›Was-Wäre-Wenn‹-Szenarien nachweisen. Die ersten Pen & Paper-Rollenspiele entstehen in den 79 | Vgl. Rajewsky: Intermedialität, Mahne: Transmediale Erzähltheorie. 80 | Die Befürwortung eines paradigmatischen Status der Sprache ist in der medienwissenschaftlichen Forschung selten geworden. Sie findet sich z.B. bei Rauscher: »Unvorgreiflicher Versuch«.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK späten 1960er Jahren aus Versuchen, Brettspiele (›Tabletops‹) für die Konfliktsimulation in variablen (kontra-)faktischen historischen Szenarien zu entwerfen.81 Die treibende Kraft bei der Entstehung der Pen & Paper-Rollenspiele ist der US-amerikanische Spielentwickler Ernest Gary Gygax gewesen. Mit einigen anderen gründet er 1966 in der Schweiz die »International Federation of Wargamers«, die sich in der Auswahl ihrer Spiel-Sujets stark auf mittelalterliche Motive konzentriert. Im Fahrwasser des in den 1960er Jahren durch die Veröffentlichung von John R. R. Tolkins Epos Herr der Ringe in den USA boomenden Fantasy-Genres dienen als Rahmenhandlung für die Konfliktsimulationen neben historischen Szenarien vor allem Motive und Charaktere aus dem Bereich der Fantasy (zum Beispiel nichtmenschliche Akteure wie Orks, Zwerge oder Elfen; in späteren Jahren hat man Pen & Paper-Rollenspiele deshalb fälschlicherweise häufig mit Fantasy-Rollenspielen gleichgesetzt). Eine Entwicklung begünstigte die Entstehung dieser Rollenspiele besonders nachhaltig: Kampfregeln wurden nicht nur für Gruppengefechte, sondern auch für individuelle Auseinandersetzungen entworfen und die Regeln dadurch für die Simulation von Aktionen einzelner Personen angepasst. Dies ermöglichte es, zunehmend auf ein konkretes Spielfeld zu verzichten. Die Spielperspektive verwandelte sich von einer Perspektive der dritten Person in eine Perspektive der ersten Person. Ein Spieler steuerte keine anonyme größere Gruppe von Figuren mehr, sondern nur noch einen Akteur, dessen Fähigkeits- und Erlebnishorizont eingearbeitet wurde. Diese Einführung einer Spielsituation aus der Perspektive der ersten Person ist ein wegweisender Schritt auf dem Weg zur Entstehung der Pen & Paper-Rollenspiele. Von hier aus war es nur ein kleiner Sprung, um die Spielregeln, die auf die persönlichen Kampffähigkeiten eines Charakters abgestellt waren, zu weiteren Regeln für die Beschreibung der fiktiven Figur (Intelligenz, Mut, Köperkraft, Talente etc.) weiterzuentwickeln und das Spiel auf diese Weise in eine Hintergrundwelt mit exakt ausgearbeiteten Beschreibungen der Geographie, Völker, Berufe etc. einzubetten. Anfang der 1970er Jahre veröffentlichte die von Gygax gegründete Firma »Tactical Simulation Rules« (TSR) das bis heute einflussreichste Rollenspiel Dungeons & Dragons. In den 1980er Jahren folgten zahlreiche auf demselben Prinzip aufgebaute Spiele. In Deutschland bekannt geworden ist vor allem das System Das Schwarze Auge. Die 1980er Jahre bescherten den Pen & Paper-Rollenspielen breiten kommerziellen Erfolg. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Beeinflussung anderer Medien durch die Pen & Paper-Rollenspiele. Es entstehen die ersten textbasierten und graphisch animierten Computer-Rollenspiele. Diese Entwicklung setzt 81 | Vgl. zur Geschichte der Rollenspiele Schick: Heroic Worlds sowie die Beiträge in Janus (Hg.): Abenteuer in anderen Welten. Im kontrafaktualen Durchspielen möglicher Szenarien liegen natürlich auch wichtige Querbezüge zu der Entwicklung von Computerspielen. Vgl. exempl. Pias: Computer Spiel Welten, S. 214ff.

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D IAGRAMMATIK sich in den 1990er und 2000er Jahren durch Filme, Handyspiele und die sich zu einer eigenständigen Form von Rollenspiel emanzipierenden MMORPG’s fort. Gegenüber den Computer- und den Live-Rollenspielen kristallisiert sich in den 1980er Jahren aber auch das Spielprinzip der Pen & Paper-Rollenspiele heraus. Dieses Spielprinzip ist – entgegen seinem auf die Schrift verweisenden Namen – in der mündlich-narrativen Verfassung der Pen & Paper-Rollenspiele zu sehen.82 Aufgrund der Tatsache, dass sie erzählt werden, kennen Pen & Paper-Rollenspiele zwei Arten von Spielern: den Spielleiter und die Spieler. Die Aufgabe der Spieler ist es, einen fiktiven Charakter in einer fiktiven Welt zu übernehmen. Mit diesem Charakter muss im Kollektiv eine Aufgabe erfüllt werden. Das erfolgreiche Bestehen dieser Aufgabe eröffnet dem Spieler Chancen zur Weiterentwicklung und Verbesserung des Charakters (der Charakter gewinnt an Erfahrung und kann sich neue Eigenschaften, Gegenstände etc. aneignen). Der Spielleiter hat die Aufgabe, die Geschichte zu erzählen, die Handlungen der Charaktere ausdrücklich oder unterschwellig zu koordinieren und über die Regeln zu wachen. Während sich die Spieler auf ihre Charaktere und deren Aktionen konzentrieren können, ist der Spielleiter der Erzähler der Geschichte und der Schiedsrichter in einem. Neben der Kooperation der Spieler ist der Spielleiter entscheidend für das Gelingen des Spiels. Dennoch ist auch die Perspektive der Spieler durch eine besondere erzählerische Herausforderung gekennzeichnet. Jeder Spieler befindet sich zunächst in einer personalen Erzählsituation, ist aber keineswegs auf die Perspektive der ersten Person festgelegt. Vielmehr hat der Spieler jede Freiheit, zwischen der Ich-Perspektive in direkter Rede als Figur der erzählten Welt und der Er-Perspektive in indirekter Rede als Erzähler außerhalb der erzählten Welt zu wechseln. Dieses Changieren zwischen der subjektiven Perspektive des Charakters und der objektiven Perspektive auf den fiktiven Charakter als Rolle setzt nicht nur ein gewisses Maß an narrativer Kompetenz auf Seiten des Spielers voraus, sondern auch reflexive Distanz: Der Spieler muss sowohl aus der Perspektive des Charakters agieren als auch die Rolle des Charakters an sich reflektieren. Ständig muss eine Evaluation der spezifischen Motive und Eigenschaften des Charaktertyps vorgenommen werden. Für den Spieler macht es zum Beispiel einen nachhaltigen Unterschied, ob man einen hochgebildeten Magier mit akademischem Hintergrund oder einen verschlagenen Streuner aus einfa-

82 | Der Begriff »Pen & Paper«-Rollenspiel ist im Grunde genommen irreführend, weil er das mündlich realisierte Spielprinzip verkennt. Stift und Papier haben bei diesen Rollenspielen vielfältige Funkionen. Sie kommen etwa bei der Charakterbeschreibung zum Einsatz und man kann sich Notizen und kleine Skizzen anfertigen. Das eigentliche Spiel aber wird, je nach Lage unter Rückverweis auf schriftliche Referenztexte, in mündlicher Erzählform realisiert.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK chen Verhältnissen spielt. Der Spieler muss den Charakter, mit anderen Worten, rollengerecht spielen. Die Ereignisse des Spiels werden durch eine Kombination von charakterspezifischen Handlungsmöglichkeiten der Spieler und zufälligen Würfelergebnissen repräsentiert. Alle möglichen Arten von Aktionen in der fiktiven Spielwelt werden durch Würfelregeln simuliert, die bis zu einem gewissen Grad unvorhersehbar sind (z.B. in Kämpfen). Die Charakterentwicklung durch die Spieler, also die steigende Erfahrung der Charaktere, führt meistens dazu, dass die Charaktere bessere Wahrscheinlichkeiten zugesprochen bekommen, eine Situation zu bewältigen. Dennoch enthalten Pen & Paper-Rollenspiele ein starkes Wahrscheinlichkeits- und Zufallselement. So ist es jederzeit möglich, dass sich ein durch den Spielleiter geplanter Handlungsverlauf durch Würfelergebnisse vollkommen ändert und sich unerwartete Situationen ergeben, auf die sowohl der Spielleiter als auch die Spieler reagieren müssen. Pen & Paper-Rollenspiele sind dabei fast immer ein fait social. Ihre Realisierung als individuelles Einzelspiel ist zwar möglich, aber eher die Ausnahme. Das Schwarze Auge sieht hierfür »Soloabenteuer« vor. Diese Solo-Szenarien sind Abkömmlinge der in den frühen 1980er Jahren in der Fantasy-Kultur populären Game Books. In diesen Büchern springt man ähnlich wie bei einem zweidimensionalen Hypertext je nach Würfelergebnis oder persönlicher Entscheidung von einem Abschnitt der Geschichte zum nächsten, um am Ende zu einem Ziel zu gelangen. Die Mehrheit der Pen & Paper-Rollenspiele findet aber kollektiv statt, also in Szenarien, die von einem Spielleiter mündlich vorgetragen werden. Dieses Spielprinzip ist seit den 1990er Jahren auf nahezu alle Arten von populärkulturellen (Sub-)Genres ausgedehnt worden. Vorherrschend sind Fantasy, Science-Fiction und Horror, es existieren aber auch Systeme mit Cyber- oder Steampunk-Hintergrund. Einen starken Anteil am Spielgeschehen haben Kampf und andere auf körperbezogene Aktionen abgestellte Handlungen (»Action«-Elemente). Die Privilegierung solcher Aktionselemente ist mit den erzählten Geschichten verknüpft, zum Beispiel durch die Handlungsschemata des Krimis, der Tragödie, des Dramas oder der Komödie. Bei zeitgenössischen Pen & Paper-Rollenspielen wie Das Schwarze Auge können die Aktionselemente aber auch völlig in den Hintergrund treten (etwa in einem Kriminal- oder Intrigen-Szenario). Ob die Voraussetzungen dafür gegeben sind, hängt nicht zuletzt von der Erfahrung des Spielleiters, der Spieler und der zugrunde gelegten Spielwelt bzw. des jeweiligen Settings innerhalb dieser Spielwelt ab. Als Hintergrundwelt, in der die Szenarien angesiedelt sind, kreieren Pen & Paper-Rollenspiele entweder neue Spielwelten wie Dungeons & Dragons, Das Schwarze Auge, Shadowrun, Earthdawn, oder sind Teil des Franchise von großen Filmproduktionen wie Star Wars, Star Trek, Alien etc. bzw. Romanzyklen; zu Herr der Ringe gibt es zum Beispiel das Middle-Earth-Role-Playing-System, kurz MERS. Schließlich können sie auch Regeln für modulare Welten bzw. Settings liefern, die mit diesen Regeln

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D IAGRAMMATIK jeweils gespielt werden können, so zum Beispiel das Generic-UniversalRole-Playing-System, kurz GURPS, das mit einem Regelbuch eine Vielzahl von Genres und Settings von Science-Fiction über Fantasy bis zu kontrafaktualen Geschichten bedient. Bei Pen & Paper-Rollenspielen gibt es deshalb in der Regel drei Typen von Veröffentlichungen: Zum Ersten die Spielregeln, die sich auf die Abwicklung der Charaktergenerierung, der Konflikt- und Handlungssimulation und eine ganze Reihe anderer Geschehnisse (Zufallsgeneratoren für Ereignisse auf Reisen, Wetter etc.) beziehen. Zum Zweiten die Spielhilfen, welche die Beschreibung der Spielwelt leisten und Hintergrundinformationen über historische Ereignisse, Gesellschaftsstruktur, Charakterklassen etc. enthalten. Und zum Dritten die Spielmodule (auch »Abenteuer« genannt), die in sich abgeschlossene oder zu umfassenden Kampagnen zusammengefasste Musterszenarien sind und den Spielleiter einerseits von der Notwendigkeit befreien, sich für jedes Treffen die Geschichte selbst auszudenken, und andererseits die paradigmatische Anwendung der Regeln des Spiels illustrieren. Ein zentrales Merkmal der Pen & Paper-Rollenspiele besteht darin, dass ihr Spielprinzip multimodal umgesetzt wird. Das Ganze eines Pen & Paper-Rollenspiels ergibt sich aus der Verbindung mehrerer Typen von Spielen. Nach der Unterscheidung des Soziologen und Philosophen Roger Caillois lassen sich Spiele in vier Untergruppen unterteilen, die ihrerseits auf zwei Grundprinzipien reduziert werden können: Die vier Organisationsformen von Spielen sind Agon (Wettkampf), Alea (Zufall), Mimikry (Maske) und Ilinx (Rausch).83 Die ersten beiden Typen, also Agon- und Alea-Spiele, organisieren eine Entscheidung, die zweiten beiden Typen, also Mimikry- und Ilinx-Spiele, organisieren eine Verwandlung.84 Pen & Paper-Rollenspiele kombinieren beide Kategorien. Sie enthalten Elemente aus Agon-, Alea- und Mimikry-Spielen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, kann das Spielprinzip der Pen & Paper-Rollenspiele in einer ersten theoretischen Annäherung so beschrieben werden: Pen & Paper-Rollenspiele basieren auf dem Prinzip der Mimesis. Im Modus des Als-ob nimmt der Spieler eine fiktive Rolle an, die zufälligen oder nach Wahrscheinlichkeit ermittelten Entscheidungen ausgesetzt wird. Die Konsequenzen der aleatorischen Entscheidungen verlassen den Bereich des Spiels (im Unterschied zum Glücksspiel) aber nicht, sondern betreffen ausschließlich den fiktiven Charakter, den man im Spiel übernommen hat. Positive wie negative Entscheidungen wirken sich nur auf den Status des Charakters aus und müssen als solche von Spielleiter und Spieler mitbedacht werden. Pen & Paper-Rollenspiele basieren daher auf Regeln zur Organisation der aleatorischen, auf Zufälle und Wahrscheinlichkeiten bezogenen Ereignisse, die durch die sog. Regelbücher geliefert werden. Daneben liefert ein 83 | Vgl. Caillois: Die Spiele und die Menschen, S. 18ff. 84 | Vgl. Gebauer/Wulff: Spiel, Ritual, Geste, S. 198ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Pen & Paper-Rollenspiel aber auch mimetische, auf die Etablierung einer fiktiven Welt bezogene Regeln und Beschreibungen, die durch die Spielhilfen dargelegt werden. Während die aleatorischen Regeln vorrangig für die Ausgestaltung der Handlungsmöglichkeiten des Charakters verwendet werden, strukturieren und beschreiben die mimetischen Regeln und Texte den Handlungskontext des Charakters. Das Konzept des Rollenspiels lässt es also zu, dass innerhalb des Spiels zum Zwecke der Realisierung und Beschreibung eines Teilaspektes des Spiels verschiedene Spielprinzipien und Regeln eingesetzt werden können. Pen & Paper-Rollenspiele sind deshalb in hohem Maße modular aufgebaut. Das Ganze des Rollenspiels ergibt sich aus einer Summe verschiedener Spielprinzipien, die ihrerseits auf unterschiedliche Kulturpraxen verweisen. Die bei Caillois aufgezählten Typen (bis auf die Ilinx-Spiele, die bei den Live-Rollenspielen integriert werden) kommen bei Pen & PaperRollenspielen allesamt vor. Diese Metaposition des Rollenspiels zeigt, dass der kommunikativ als ›Spiel‹ markierte Sonderbereich des Spiels im Pen & Paper-Rollenspiel explizit auf einer Reflexion der Rahmenfunktion von Spielen in der Kultur basiert: Rollenspiele greifen auf den Bereich des semiotischen Probehandelns in der Kultur zurück. Die Integration der verschiedenen Spielprinzipien – am auffälligsten die aleatorischen und mimetischen – stehen unter dem Primat, zur Realisierung des fiktiven Als-ob zweckmäßig sein zu müssen: Spezifische Probleme des Spiels (wie zum Beispiel Kampfsimulationen) werden dann unter Rückgriff auf das Repertoire anderer kulturell tradierter Spielkonzepte gelöst. Unter medientheoretischen Gesichtspunkten ist insbesondere die sprachliche Realisierung der Pen & Paper-Rollenspiele wichtig. Die problembezogene Integration von verschiedenen Spielkonzepten in das Pen & Paper-Rollenspiel kompensiert dabei die potenzielle Unendlichkeit an Handlungsmöglichkeiten durch die Als-Ob-Markierung einer Kommunikation.85 Prinzipiell sind in Pen & Paper-Rollenspielen alle Regeln und Hintergründe verhandelbar. Die reflexive Rahmenfunktion der Pen & Paper-Rollenspiele kann deshalb darin gesehen werden, dass die soziale Konventionalität von sprachlich kommunizierten Regelbildungen, insbesondere von solchen Regeln, die sich auf fiktionale Welten beziehen, vor Augen geführt wird. Die besondere Erzählsituation eines solchen ›Sprach-Spiels‹ führt auf Seiten der Spieler zum Beispiel dazu, nicht nur implizit den logischen Status ihres Als-ob-Diskurses und alle daraus entstehenden Konsequenzen, wie zum Beispiel die Realisierung der Kommunikation als indirekter Sprechakt, zu reflektieren. Vielmehr leitet diese Reflexion über zu einem expliziten (und häufig kontroversen) Diskurs über die Normativität der Regeln, die das mündlich realisierte Spiel ordnen.86 Spielleiter und Spieler müssen begreifen, dass alle Regeln des Pen & Paper-Rollenspiels (im 85 | Vgl. Gebauer/Wulff: Spiel, Ritual, Geste, S. 192ff. 86 | Vgl. Searle: Ausdruck und Bedeutung, S. 51ff., S. 80ff.

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D IAGRAMMATIK Unterschied zum Computer-Rollenspiel) als konventionalisiert anzusehen sind. In Anlehnung an den Philosophen John R. Searle handelt es sich bei den Regeln des Pen & Paper-Rollenspiels um konstitutive Regeln, die das, was sie regeln erst hervorbringen. Diese Regeln zeichnen sich im Unterschied zu regulativen Regeln dadurch aus, dass sie nicht auf eine Praxis verweisen, die bereits existiert, sondern das, was sie ordnen, erst ermöglichen. Als solche haben konstitutive Regeln imperativen Charakter.87 Im Pen & Paper-Rollenspiel erzeugen die konstitutiven Regeln des Sprach-Spiels vor allem einen imaginären Handlungsraum, der zwar konventionalisiert, aber nicht völlig beliebig ist: Im Hinblick auf das Prinzip der Mimikry-Spiele muss dieser Handlungsraum auf einer stimmigen fiktiven Welt beruhen und im Hinblick auf das Prinzip der Alea-Spiele plausible Simulationsregeln für Aktionen in dieser Welt bieten. Imaginäre Handlungen erhalten in Pen & Paper-Rollenspielen also erst durch die Kombination von verschiedenen Spielprinzipien eine Gestalt. Die Integration und Kombination verschiedener Spielkonzepte und Narrative zielt darauf ab, den Realitätsgehalt der Handlungsmöglichkeiten in der Spielwelt zu erhöhen. Das ist der Punkt, an dem die Diagrammatik Relevanz für diese Spiele gewinnt. Pen & Paper-Rollenspiele sind kulturelle Praxen, die eng mit der diagrammatischen Dimension der Kultur verknüpft sind. Zu dieser Diagnose kann man gelangen, wenn man Wittgensteins Sprachphilosophie heranzieht: Als ›Sprach-Spiel‹ wird das Spielfeld im Pen & Paper-Rollenspiel imaginär im mündlichen Gespräch der Spieler mit dem Spielleiter hervorgebracht. Dem Spielleiter muss es gelingen, mit den narrativen Mitteln der Normalsprache eine ›Karte‹ für ein fiktives ›Territorium‹ zu entwerfen, auf dem die Spieler dann die Sprache als Medium sozialen Probehandelns nutzen können, um in der gemeinsamen Erzählung mit dem Spielleiter das Spiel umzusetzen. Der Spielleiter liefert die Projektion eines layouts für die Erzählperspektive der Spieler, die dann – ganz im Sinne der von Wittgenstein beschriebenen praktisch-sinnlichen Dimension des Sprachspiels – zum display der perspektivischen Handlungsmöglichkeiten ihres Charakters wird. Zugleich liegt hierin der generative Charakter der Spielperformanz begründet: Die fiktive Welt bekommt durch die Erzählung der Beteiligten eine Gestalt. Wie bei jedem Bezug auf fiktive Sachverhalte wird in der Erzählung auf eine fiktive Welt referiert und der Sachverhalt doch erst im Akt dieser Referenz hervorgebracht. Die Aktionen der Spieler in der Spielwelt und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Spielwelt, wie sie durch den Spielleiter repräsentiert werden, sind es, welche der fiktiven Welt eine Gestalt geben und auf die fiktive Welt zurückwirken. Hierbei handelt es sich um eine interessante Anwendung der Triade zwischen Fiktivem, Faktualem und Imaginärem, wie sie der Literatur87 | Vgl. Searle: Sprechakte, S. 54ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK theoretiker Wolfgang Iser als Konstitutionsprinzip literarischer Imagination beschrieben hat.88 Betrachtet man das Pen & Paper-Rollenspiel Das Schwarze Auge, stellt man leicht fest, dass diese fiktiven Welten offensichtliche Bezüge zur faktischen Geographie und Geschichte Europas unterhalten. Zusammengehalten werden das Fiktive und das Faktische durch die im Erzählen performativ freigesetzten, imaginären Potenziale der Spieler und des Spielleiters. Das Imaginäre gewinnt im Zusammenspiel von fiktiven und faktischen Anteilen der mimetischen Weltbeschreibung eine Gestalt und bringt zugleich die Spielwelt in der Einbildungskraft hervor. Dieser Akt aber ist eine diagrammatische Operation par excellence: Das kartographische layout des Spielleiters wird zum display einer auf die Perspektive der ersten Person zugeschnitten Wahrnehmung, welche als Handlungsrahmen des Charakters variiert und transformiert werden muss. Dieses Kreieren eines alternativen imaginären Handlungsraums bringt allerdings ein Problem mit sich: Das Pen & Paper-Rollenspiel verlagert das in anderen Spieltypen materiell vorhandene Spielfeld auf die Achse des Vorstellungsvermögens. Pen & Paper-Rollenspiele finden auf einem imaginären Spielfeld statt. Daraus resultieren Probleme in Bezug auf die mimetische Plausibilität und die normative Verbindlichkeit der fiktiven Welt. Jeder Spieler stellt sich die vom Spielleiter geschilderte Situation in der fiktiven Welt anders vor und kommt auf andere Ideen für mögliche Handlungen. Diese mitunter starken Abweichungen muss der Spielleiter kompensieren und in einem plausiblen Szenario zusammenhalten – mithin eine Rahmenvorstellung zur Hand haben, die ihm und den Spielern klare sensomotorische Orientierungs- und moralische Handlungsvorgaben bietet. Dieses Problem der imaginären Realisierung des Spielfeldes auf Basis konstitutiver Regeln – also das Fehlen eines materiellen Bereichs, auf dem die möglichen Aktionen der Spielfiguren klar umgrenzt sind – kann methodisch erfasst werden, wenn man für das Pen & Paper-Rollenspiel zwischen Spielfeld und Spielraum unterscheidet. Dieser Differenzierung nach bezieht sich der Begriff ›Spielfeld‹ auf die als verbindlich anerkannte fiktive Wirklichkeit, in der das Rollenspiel gespielt wird. Der Spielraum dagegen umschreibt die Möglichkeiten, die innerhalb dieser Wirklichkeit gegeben sind – also das gesamte Spektrum der möglichen Handlungen und Ereignisse. Sowohl die performative Ausgestaltung des Spielfeldes als auch das Ausfüllen des Spielraumes sind im Pen & Paper-Rollenspiel zwar Akte der Einbildungskraft, orientieren sich als solche aber an den zur Verfügung stehenden mimetischen und aleatorischen Regeln – also dem gesamten Komplex der zur Verfügung gestellten Hintergrundinformationen über die Spielwelt – einschließlich der Vorschriften, wie bestimmte Aktionen in der Spielwelt umgesetzt werden können. Diese Regeln ermöglichen 88 | Vgl. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 18ff.

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D IAGRAMMATIK nicht einfach das Spiel, sondern sind in hohem Maße situationsspezifisch zugeschnitten. Sie beschreiben also einzelne funktionale Teilbereiche des Rollenspiels. Die mimetischen und aleatorischen Regeln gewinnen ihre Qualität als Ordnungsprinzipien für die imaginäre Handlung in einer fiktiven Welt, wenn das imaginäre Spielfeld externalisiert und auf ein konkretes Spielfeld zurückbezogen werden kann – dann also, wenn die ›Karte‹ der Erzählung nicht bloß auf ein imaginäres ›Territorium‹ verweist, sondern wenn das Territorium als Spiel materiell realisiert ist. Diese Funktion übernehmen im Pen & Paper-Rollenspiel Grundrisse, Pläne und Karten.

III. Analysen: Grundrisse, Pläne und Karten im Pen & Paper-Rollenspiel Diese drei Medien sollen daher im Folgenden als Anwendungsfälle der Diagrammatik im Pen & Paper-Rollenspiel näher vorgestellt werden. Entfaltet werden kann das Material, das die Pen & Paper-Rollenspiele bieten, am Beispiel von Das Schwarze Auge. Grundrisse, Pläne und Karten werden dabei auf drei Ebenen des Spiels bezogen: (a) auf die individuelle Ebene der körperlichen Spielräume der Charaktere, (b) auf die Ebene der kollektiven Objektivierung größerer strategischer Planungen und (c) auf die Ebene der Vorstellung der fiktiven Spielwelt als solcher. Beginnen kann man bei dem mimetischen Problem, das sich aus der Darlegung und Anwendung von aleatorischen Regeln in einem imaginären Spielfeld ergibt. Da diese Regeln über das Wohl und Weh der Spielfiguren entscheiden, ergibt sich nämlich die Schwierigkeit, Spielfeld und Spielraum nicht nur imaginär, sondern auch materiell miteinander in Bezug zu setzen. Die imaginäre Überlagerung von Spielfeld und Spielraum wird in diesen Fällen durch die Verwendung von diagrammatischen Zeichen, insbesondere von Plänen und Karten, realisiert. Diese supplementäre Verwendung von diagrammatischen Zeichen in anderen Medien bildet durch die Exposition eines Handlungsrahmens allererst die Grundlage für sinnvolle und plausible Aktionen der Spieler. Das Pen & Paper-Rollenspiel verwendet hierfür vor allem Grundrisse von Gebäuden und unterirdischen Strukturen. Der Spielraum der möglichen Handlung, der bei körperlichen Handlungen stets den Seitenblick auf die Einschränkungen der aleatorischen Regeln erfordert, wird durch die Verwendung dieser Medien so eingegrenzt, dass die Anwendung der aleatorischen Regeln erleichtert wird. Für das Rollenspiel macht es einen Unterschied, ob Spielleiter und Spieler wissen, wo im Raum ein Tisch steht oder wo eine Fluchtmöglichkeit ist. Erst dann ist es möglich, plausibel einzuschätzen, welche Kampfaktion möglich ist oder wie schwer eine Würfelprobe auf die mögliche Flucht sein muss. Aufgrund der detaillierten Informationen über das gesamte Szenario, die solche Pläne, Grundrisse und Karten enthalten, stehen sie allerdings zumeist nur dem Spielleiter zur Verfügung.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Es ist sehr interessant, die Entwicklung solcher Grundrisse, Pläne und Karten in einem typischen Pen & Paper-System wie Das Schwarze Auge über die letzten 25 Jahre nachzuvollziehen. Zum Beispiel fällt auf, dass die frühen Pläne höchst rudimentäre Skizzen waren, die sehr schematisch, das heißt in der Regel linear und klar differenziert, Handlungsverläufe vorgeschrieben haben. In späteren Entwicklungsstufen des Pen & Paper-Rollenspiels verwandelt sich die Gestaltung dieser Medien nachdrücklich: Aus eng an der Gattung des Diagramms orientierten Medien zur Abwicklung von Handlungsverläufen werden durch Hinzunahme von Elementen, die aus der europäischen Kulturgeschichte entlehnt wurden, Medien zur Exposition von Szenarien. Betrachtet man zum Beispiel den Plan eines frühen Burgverlieses aus dem Spielmodul Der Wald ohne Wiederkehr, stößt man auf ein für den Evolutionsstatus des damaligen Rollenspiels typisches »Dungeon«. Abbildung 7: Spielplan aus dem Abenteuermodul Der Wald ohne Wiederkehr (1984)

Die Einschränkung möglicher Handlungsoptionen durch die Spieler ist in diesem Fall mit einer Konkretisierung möglicher Verläufe der Erzählung korreliert. Der Grundriss bietet einen Überblick über alle Räume des Verlieses, also auch über alle denkbaren Ereignisse, die jeweils in den Beschreibungstexten zu den im Grundriss eingezeichneten Zahlen erläutert werden. Auch wenn es nicht sofort ersichtlich ist – hier wird die virtuelle Karte einer stets nur selektiv und partiell realisierten Handlungsfolge in dem Verlies geliefert. Sehr schön veranschaulicht wird diese narrative Funktion einer Illustration aller möglichen, aber in der Praxis des Spiels nur partiell verwirklichten Bewegungsrichtungen und Ereignisfolgen in einem frühen Spielmodul mit dem Titel Durch das Tor der Welten. Hier werden die Spieler durch ein Dimensionsportal auf die Spitze eines riesi-

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D IAGRAMMATIK gen Baumes verschlagen, den sie dann sukzessive hinabklettern müssen. Von der Ereignisfolge her ebenfalls nach dem Prinzip der Bewegung in Verliesen aufgebaut, bietet das Spielmodul neben dem schematischen Plan des Baumes noch ein Metaschema, das noch einmal explizit die im Grundriss angelegten möglichen Wege der Spieler wiedergibt. Abbildung 8: Spielplan aus dem Abenteuermodul Durch das Tor der Welten (1985)

Von anderer Art ist dagegen eine Karte aus dem neueren Spielmodul Aus der Asche (2005), die den gleichen Zweck erfüllt. Hier geht es nicht um das Ausheben des Verlieses eines Schwarzmagiers, sondern in geringfügiger Variation des Themas um den Einbruch in einen Turm, der einem Schwarzmagier gehört. Schon der erste Blick macht klar, dass die illustrativen Elemente im Vordergrund stehen. Die Spieler können frei überlegen, wie und in welchem Geschoss sie in den Turm eindringen und sich dort anschließend frei bewegen. Die möglichen Bewegungsvektoren und Handlungsoptionen sind relativ frei wählbar. Aus einem linearen Ablaufplan für das Geschehen hat sich die Verwendung des Grundrisses in die nicht-lineare Veranschaulichung eines Gebäudes gewandelt. Geboten wird die Beschreibung eines Schauplatzes möglicher Aktionen. Während die Komplexität dieser möglichen Handlungen im ersten Fall stark eingeschränkt ist, ist sie im zweiten Fall deutlich höher. Die Grundfunktion des Grundrisses für das Spiel bleibt gleichwohl erhalten: In beiden Fällen bekommt der Spielleiter den Handlungsort relativ klar vor Augen geführt und vermag auf dieser Grundlage zu beurteilen, ob eine bestimmte Aktion möglich oder unmöglich ist. In beiden Fällen, also sowohl bei den Plänen aus der Anfangszeit wie aus der Gegenwart von Das Schwarze Auge, steht die Orientierung der Spieler nach Maßgabe ihrer körperlichen Beobachtungsperspektive und Handlungsmöglichkeiten im Vordergrund.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Abbildung 9: Plan eines Turms aus dem Abenteuermodul Aus der Asche (2005)

Indem sie einen klaren Vorstellungsrahmen für die aleatorischen Regeln bieten, erleichtern die Grundrisse einerseits die perspektivische Mimesis, die für das Gelingen des Pen & Paper-Rollenspiels als Sprach-Spiel so wichtig ist. Andererseits sind die drei frühen Grundrisse aus Das Schwarze Auge eindeutig auch als layout einer möglichen Handlungsfolge und Ereigniskette konzipiert. Sie zeigen alle möglichen Routen der Spieler. Der Unterschied zwischen den restringierten linearen Möglichkeiten des frühen Rollenspiels gegenüber den offenen nicht-linearen Möglichkeiten des aktuellen Rollenspiels ist signifikant: Wo die frühen Beispiele sich noch an der narrativen Logik des Schriftmediums der frühen Game-Books orientieren, schalten die aktuellen Beispiele auf eine nach der Logik des Bildes realisierte Illustration eines Szenarios um. Typisch ist dieses Wechselspiel zwischen Karte und Bild auch für diejenigen Karten im Pen & Paper-Rollenspiel, die nicht die Implementierung plausibler Handlungsmöglichkeiten der Charaktere aus der Perspektive ihrer fiktiven körperlichen Wahrnehmung unterstützen, sondern sich eher der Exposition eines Gesamtszenarios widmen. Steht im ersten Fall das Angleichen von aleatorischen Regeln, welche vorrangig die körperlichen Attribute und daraus resultierende Handlungsmöglichkeiten beschreiben, im Vordergrund, so geht es im zweiten Fall um eine nähere Charakterisierung der mimetischen Regeln. Prototypisch erfüllt ist diese Funktion von den im Fantasy-Genre üblichen Landkarten, etwa der Landkarte von Mittelerde aus Herr der Ringe. Die Aufgabe dieser wohl bekanntesten Fantasy-Karte ist es, die an Homers Odyssee orientierte epische Aventiure der Protagonisten in das feindliche

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D IAGRAMMATIK Land »Mordor« vorstellbar zu machen.89 Was im Roman an Reiseetappen und Gefahren angelegt ist, gewinnt hier anschauliches Potenzial. Die Referenzialisierung des erzählten Geschehens wird erleichtert. Die gleiche Funktion – dieses Mal allerdings mit der Volte, dem Spielleiter als Ablaufplan des Geschehens vorzuliegen – erfüllen frühe Karten in Das Schwarze Auge. Wiederum kann anhand neuerer Beispiele gezeigt werden, dass sich die Darstellung von der Illustration der begrenzten Möglichkeiten des narrativen Geschehens zur szenischen Illustration eines Welthintergrundes wandelt. Typisch dafür sind zum Beispiel Stadtpläne, welche gleichzeitig der ästhetischen Illustration und der Exposition eines Hintergrunds für mögliche Handlungen dienen. Oft wird dies dadurch umgesetzt, dass es Karten ein und derselben Stadt mit und ohne Legende gibt. Hinzu kommt aber bei solchen Karten, die nicht mehr kleine Strukturen wie Gebäude, sondern mittelgroße Räume wie Städte oder Regionen darstellen, noch etwas anderes: Diese Karten verfolgen nicht mehr nur das Ziel, aleatorische mit mimetischen Regeln in der körperlichen Deixis zu verorten, sondern übernehmen weltkonstituierende Zwecke. Wie weit diese Funktion geht, wird zum Beispiel in Szenarien deutlich, die in einer Traumwelt spielen, wo die Charaktere entweder selbst träumen oder in die Träume eines Anderen eindringen. Eine frühe Traum-Karte eines Zwergenkönigs bietet das Spielmodul Im Traumlabyrinth. Die Träume des Königs werden hier auf verschiedenen Plateaus angesiedelt, die von den Charakteren erforscht werden müssen. Offensichtlich ist, dass gerade die Veranschaulichung möglicher Bewegungsrouten in einer surrealen Traumwelt dem Spielleiter die Aufgabe erheblich vereinfacht. Erkennbar ist an dieser Karte, dass Mittelraumkarten in Das Schwarze Auge primär die mimetische Exposition von imaginären Handlungsräumen im Sinne einer Rückbindung des Spielraums an ein konkretes Spielfeld leisten. Mit der Konkretisierung und Regulierung des Spielraums durch die plausible Anwendung von aleatorischen Regeln, die aus der Perspektive der ersten Person realisierte Handlungen beschreiben, hat das nichts zu tun. Derartige Mittelraumkarten können aber diese Funktion erfüllen. Das ist dann der Fall, wenn es im Rahmen des Spiels notwendig wird, den Charakteren aus ihrer jeweils individuellen Perspektive den Gesamtüberblick über ein Geschehen aus der Perspektive der dritten Person zu geben – also immer dann, wenn die Charaktere im Spiel (etwa in ihrer Eigenschaft als Kommandanten in einer Schlacht oder bei der Planung einer Belagerung) strategische Entscheidungen treffen müssen. In diesem Fall kann aus einem Stadtplan, der primär der Illustration einer Stadt und ihrer Infrastruktur dient und damit mimetische Funktionen erfüllt, schnell ein Spielfeld im Wortsinn werden.

89 | Vgl. auch Moretti: Kurven, Karten, Stammbäume.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Abbildung 10: Traumkarte aus dem Abenteuermodul Im Traumlabyrinth (1990)

Abbildung 11: Karte eines Schlachtfeldes aus dem Abenteuermodul Schlacht in den Wolken (2004)

In Das Schwarze Auge existieren eine ganze Reihe solcher Szenarien, zum Beispiel in den Spielmodulen Mehr als 1000 Oger (1988) oder Rausch der Ewigkeit (1999). In diesen Szenarien werden jeweils Schlachten simuliert. Mit Hilfe von Spielcountern müssen die Spieler Einheiten auf einem explizit mitgelieferten Spielfeld in einer Weise hin und her bewegen, die sich kaum noch von üblichen Gesellschaftsspielen wie Risiko (oder weniger bekannten Schlachtsimulationen wie Battle-Tech) unterscheidet. Für die Abwicklung solcher Schlachten werden aleatorische Regeln bemüht. Es muss also ein umgrenztes Spielfeld vorhanden sein, das im Unterschied zu den Grundrissen von Gebäuden den Überblick auf das Geschehen aus der Perspektive der dritten Person möglich macht. Der »ikarische

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D IAGRAMMATIK Blick«90, den diese Karten bieten, ermöglicht ein Spiel auf und mit der Karte, was als eine kulturhistorische Referenz auf die Urform des Rollenspiels in der Praxis militärischer Sandkastenspiele anzusehen ist. Denkbar ist die Abwicklung einer solchen Schlacht aber auch ohne Spielcounter. In diesem Fall dient die Karte, wie in einem Beispiel aus dem Spielmodul Schlacht in den Wolken (2004), ausschließlich zur Orientierung des Spielleiters und der Spieler, etwa um die Position von Truppeneinheiten im Fall einer Belagerung in der Karte einzuzeichnen. Weltweit darf die Spielwelt von Das Schwarze Auge als eine der am präzisesten ausgearbeiteten Rollenspielwelten betrachtet werden. Angesiedelt ist Das Schwarze Auge auf dem für die Verhältnisse von Rollenspielen relativ kleinen Kontinent »Aventurien«, der sich auf dem Planeten »Dere« befindet. Auf diesem Kontinent existieren eine ganze Reihe von Reichen, die gemessen an der europäischen Geschichte von einem antiken bis zu einem frühneuzeitlichen Entwicklungsstand alle Gesellschaftsformen aufweisen und rund um das – unverhohlen an das Heilige Deutsche Reich römischer Nation erinnernde – »Mittelreich« gruppiert sind. So findet sich eine Wikinger-Kultur (»Thorwal«) im Norden, eine osteuropäische Kultur im Nordosten (»Bornland«), ein aufgeklärtes humanistisches Reich im Südwesten (»Horasreich«), ein Wüstenvolk (»Kalifat«) im Süden und Südosten sowie eine Plantagen- und Sklavenhalterkultur im tiefen Süden (»Al-Anfa«). Daneben existieren noch eine ganze Reihe anderer menschlicher und nicht-menschlicher Reiche oder verlorene Hochkulturen, die u.a. von Elfen, Zwergen, Trollen, Orks und Goblins bewohnt werden. Hochdetailliert beschrieben sind alle diese Kulturen Aventuriens in einer ganzen Reihe von Spielhilfen, die eine exakte Darstellung der Geschichte und Kultur der jeweiligen Völker sowie eine umfängliche kartographische Dokumentation der jeweiligen Regionen liefern. Herausgegeben werden alle diese Informationen durch die Spielredaktion von Das Schwarze Auge, die auch eine offizielle Geschichtsschreibung des Kontinents unterhält. Dieser extrem hohe Detailgrad steht im Einklang mit dem Konzept von Das Schwarze Auge als eines sog. »Low-Fantasy«-Spiels. Bei dieser Form des Pen & Paper-Rollenspiels sind die Eingriffsmöglichkeiten der Spieler in die Hintergrundwelt sehr begrenzt. Die Spieler in Das Schwarze Auge sollten zum Beispiel nicht zum Kaiser eines der großen Reiche avancieren. In »High-Fantasy«-Spielen, wie zum Beispiel Advanced Dungeons & Dragons, ist die Spielwelt in der Regel deutlich weniger komplex beschrieben und damit die Eingriffsmöglichkeit der Spieler höher. In Low-Fantasy-Spielen existieren eine Vielzahl von mimetischen Vorgaben, die bei den Handlungen der Spieler berücksichtigt werden, während High-Fantasy-Spiele eher lose Informationen für Rahmenhandlungen bieten, die vom Spielleiter aufgefüllt werden. In beiden Formen des Fantasy-Rollenspiels sind 90 | Vgl. Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick, S. 25.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK die Spielräume, mithin: die virtuellen Eingriffsmöglichkeiten der Spieler, unterschiedlich ausgeprägt. Der Möglichkeitsraum im Low-Fantasy-Spiel ist ein ›erschlossener‹ Möglichkeitsraum, während es sich im High-Fantasy-Spiel um einen ›unerschlossenen‹ Möglichkeitsraum handelt. Um das eigene Spektrum zu erweitern und auch High-Fantasy-Elemente in das Spiel einzubeziehen, hat die Redaktion von Das Schwarze Auge in den 2000er Jahren begonnen, die Nachbarkontinente von Aventurien in die Spielwelt von Das Schwarze Auge aufzunehmen. Konsequenterweise wurde diese Entscheidung aber auch als eine intradiegetische Entwicklung, also als eine Entwicklung innerhalb der fiktiven Geschichte von Aventurien selbst, konzipiert. Die verschiedenen Reiche Aventuriens sind demnach zu Entdeckerkulturen geworden, welche über den eigenen Kontinent hinausgreifen, was sich auch im Design und in der Verwendung der Karten im Spiel niederschlägt. An den Weltkarten, die in Das Schwarze Auge geliefert werden, ist insbesondere die daraus resultierende perspektivische Brechung von ›Karte‹ und ›Territorium‹ aufschlussreich: Die Karten repräsentieren nicht nur das Spielfeld Aventurien und die angrenzenden Gebiete, sondern sie geben dieses Territorium im jeweiligen Stand der Kartographie auf dem Kontinent Aventurien wieder. Diese Verwendung von an historische Quellen der europäischen Geschichte angelehnten Spielmaterialien ist eines der typischen Merkmale des Low-Fantasy-Konzeptes von Das Schwarze Auge. Spielleiter und Spieler können im Grunde nur die Gestalt Aventuriens als objektive Informationen begreifen. Der ›Realitätsgehalt‹ der anderen Kontinente unterliegt einer Verzerrung, die für das Spiel zu berücksichtigen ist.91 Das ist von Bedeutung, weil der virtuell unendliche Spielraum dadurch auf ein ›aventurisches‹ Weltbild verpflichtet wird. Die mimetischen Hintergrundinformationen, mit welchen die Welt Aventurien beschrieben und dargestellt werden, sind keineswegs nur Erzählungen über einen fiktiven Kontinent. Für ein Spiel, das auf einer Vielzahl verschiedener Regelarten und Spielprinzipien beruht, und dessen Status als Sprach-Spiel sich dementsprechend direkt aus dem kontrafaktualen Potenzial der Als-ob-Setzungen der verschiedenen Sprachspiele der Normalsprache ergibt, haben diese Beschreibungen normativen Charakter – was eine diagrammatische Schlussfolgerung erforderlich macht: Die Abduktion, die das Als-Ob-Szenario etabliert, ist eine Schlussfolgerung auf mögliche Regelbildungen. Sie wird auf Grundlage von mimetischen Beschreibungen vorgenommen und ermöglicht es, anschließend deduktiv den Kontinent Aventurien als Spielraum zu erfassen. Die Aufgabe der Grundrisse, Pläne und Karten ist es also, in spezifischen Fällen den Spielraum zum Spielfeld zu konkretisieren. 91 | Man spricht bei diesen Arten der virtuellen Welt auch von einer persistenten Welt. Diese Welten verfügen über ein objektives Eigenleben, in dem sich in einer geordneten Form Dinge ereignen, ohne dass die Spieler darauf Einfluss haben können.

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IV. Diagrammatik und Pen & Paper-Rollenspiele Die Operation des Zur-Schau-Stellens eines virtuellen Spielraums im Sinne einer Plausibilisierung von abstrakten Regeln für konkrete Möglichkeiten bildet die wichtigste Brücke der Pen & Paper-Rollenspiele zur Diagrammatik. Sie unterstreicht die Rolle der Diagrammatik als Schlüsseltheorie, wo immer es in der Kultur und Kulturtheorie um die Operationen der Konjektur und Projektion geht. Die Diagrammatik trägt zur Analyse eines epistemologischen Mechanismus bei, der in Praxen wie dem Pen & PaperRollenspiel gegenwärtig ist. Eingedenk des paradoxen Status des Spiels, als Phänomen innerhalb und als Begründungsfaktor außerhalb der Kultur zu stehen, kann dieser Mechanismus nicht nur als ein Sachverhalt innerhalb der Kultur angesehen werden: Vorausgesetzt, das Spiel überschreitet und fundiert die Kultur, handelt es sich um einen elementaren Mechanismus von Kultur. Kulturtheoretisch ist es eine der erstaunlichsten Eigenschaften des Pen & Paper-Rollenspiels, zum Zweck seiner Realisierung auf verschiedene Formen von Spielen zurückzugreifen. Das Spielprinzip dieser Spiele setzt sich modular aus verschiedenen Spielen zusammen. Ein Pen & PaperRollenspiel ist nicht, wie zum Beispiel ein psychologisches Rollenspiel, ausschließlich als das simulatorische Durchspielen von Möglichkeiten einer denkbaren tatsächlichen Handlung anzusehen. Sein modularer Aufbau erfordert ein erhebliches Maß an Spielkompetenz in anderen Spielen, und zwar vom einfachen faktualen Sprachspiel bis zum abstrakten fiktionalen Gesellschaftsspiel. Ein Effekt dieses Aufbaus ist es, dass das Pen & Paper-Rollenspiel als ein Spiel im klassischen Sinne, wie es Caillois untersucht hat, nicht existiert. Das Spiel ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel verschiedener Spiele. Mit anderen Worten: Pen & Paper-Rollenspiele sind Spiele, die nach dem Prinzip funktionaler Ausdifferenzierung konzipiert sind. Jede Aufgabe, die im Pen & Paper-Rollenspiel erfüllt werden muss, wird durch ein anderes Spiel und dadurch auf eine andere Weise erfüllt und erst in der Kommunikation performativ realisiert. Pen & Paper-Rollenspiele sind somit das perfekte populärkulturelle Komplement der funktional ausdifferenzierten modernen Gesellschaft. Dem entspricht fast selbstredend ihr Gegenstand, also das imaginäre Durchspielen von verschiedenen Rollen, die natürlich immer auf real existierende soziale Rollen zurückbezogen werden müssen. Die Diagrammatik bewährt sich – hierfür sind Grundrisse, Pläne und Karten nur die unmittelbar greifbaren Phänomene – wenn es darum geht, eine für das Spiel spezifische Aufgabe zu bewältigen, die Operationen der Orientierung, Konjektur oder Projektion erfordert. Der imaginäre Spielraum wird gleichsam zu einem konkreten Spielfeld diagrammatisiert. Einerseits begrenzt dies den Möglichkeitshorizont und unterwirft ihn einer Regelhaftigkeit. Andererseits dichtet sich diese Begrenzung der Möglichkeiten niemals vollständig ab. Prinzipiell bleibt die Option einer Revision

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK des Spielfelds und des Entwurfs eines neuen Spielfelds bestehen. Peirce’ Konzept der diagrammatischen Schlüsse beschreibt einen für das Funktionieren von Pen & Paper-Rollenspielen elementaren Mechanismus, insofern dieses Konzept die Interaktion von imaginärem Spielraum und konkretem Spielfeld zu erläutern vermag. Die Szene ist ein Schlüsselbegriff der Analyse von Pen & Paper-Rollenspielen. Die szenographischen Qualitäten der Grundrisse, Pläne und Karten in Pen & Paper-Rollenspielen sind nicht ohne Weiteres mit denen der Literatur und denen des Films vereinbar. Mit beiden teilen sie den Mechanismus der Etablierung eines Anschauungsraumes. Die Anschauungsräume werden in den Pen & Paper-Rollenspielen aber in Richtung der Möglichkeit weiterentwickelt, als operative Handlungsräume zu fungieren. Man vollzieht nicht die Handlungen einer Figur nach, sondern man handelt selbst. Diese Eigenart der Pen & Paper-Rollenspiele macht diese Spiele kulturell so wichtig. Nachdem die computergestützten MMORPG’s die Pen & Paper-Rollenspiele wirtschaftlich und sozial marginalisiert haben, muss daran erinnert werden, dass es die ›analogen‹ Spiele waren, die erstmals unterschiedliche Medienformate integriert haben. Der immense Erfolg der Pen & Paper-Rollenspiele in den 1980er Jahren darf als Ausdruck des Bedürfnisses nach einer Form der sozialen Interaktion gelten, für welche die Virtualisierung sozialer Rollen sowie das gestiegene Bewusstsein für deren theatralen Charakter die entscheidenden kulturellen Referenzphänomene darstellten. Vergleichsweise einfach dürften hier deshalb Theorien der performativen Aushandlung von Identität anzuschließen sein, wie sie unter anderen Judith Butler in ihrer Gendertheorie entwickelt hat. Ausschlaggebend für den Erfolg von Pen & Paper-Rollenspielen dürfte wohl gewesen sein, dass die performative Seite dieser Spiele sich nicht nur auf die Simulation sprachlicher Performativität bezieht. Pen & Paper-Rollenspiele simulieren immer auch körperliche Handlungen. Die den Grundrissen, Plänen und Karten inhärente Szenographie dient – darin einem Storyboard oder einem Comic nicht unähnlich – zur Veranschaulichung von körperlichen Handlungsmöglichkeiten. Dieser Umstand war es, der von den Computer- und Videospielen, die nahezu in den gleichen Entstehungszeitraum fallen,92 in idealer Weise aufgegriffen werden konnte. Wo die Pen & Paper-Rollenspiele körperliche Handlungen noch mit den Mitteln der Einbildungskraft ausagieren, erlauben Computer- und Videospiele in zunehmendem Maße konkrete körperliche Aktionen. In der Linie dieser Entwicklung zeichnet sich ab, dass die Diagrammatik als mentale Operation eine körperliche Aktion elementar miteinschließt. Aus der Perspektive der Diagrammatik ist Bewusstsein verkörpertes Bewusstsein. Die logische Schlussfolgerung – das hat Peirce, wie sich nicht nur an seinem Begriff des Interpretanten erkennen lässt, sehr genau gesehen – ist nicht ohne eine dynamisch-energetische Komponente denkbar. 92 | Vgl. dazu Pias: »Children of the Revolution«, Pias: »Wenn Computer spielen«.

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D IAGRAMMATIK In die gleiche Richtung denkt Wittgenstein mit seiner Akzentuierung der sprachlichen Bezugnahme als praktisch-sinnlicher Operation in einem narrativ geprägten Handlungsszenario. Pen & Paper-Rollenspiele sind als Rollenspiele stets Handlungsspiele, was eine Doppelung zwischen narrativer Handlung und körperlicher Handlung impliziert. Ihr Erfolgsgeheimnis bestand darin, sensomotorische Handlung und perspektivische Narration zu verknüpfen. Darin sind sie eine multimodale und multimediale Angelegenheit. Ihr Spielprinzip konnte von den digitalen Medien mit ihren Möglichkeiten, sensomotorische Interfaces zu kreieren, adaptiert werden. Wenn in Computerspielen der Immersionseffekt über den Belohnungseffekt einer gelingenden sensomotorischen Handlung entsteht, dann liegt der seit jeher kontrovers diskutierte Immersionseffekt von Pen & Paper-Rollenspielen in der Korrelation von sensomotorisch inszenierter Handlung und narrativ inszenierter sozialer Rolle.93 Entscheidend ist bei Pen & Paper-Rollenspielen aber weniger der Belohnungseffekt einer gelingenden Handlung selbst (etwa der Faszination eines geglückten Würfelwurfs). Vielmehr ergibt sich dieser Belohnungseffekt aus den narrativen Konsequenzen der Handlung. Die enorme narrative Komplexität, die in Pen & Paper-Rollenspielen aufgebaut wird, ist hierbei ausschlaggebend.94 Sie besteht gerade darin, dass die Handlungen innerhalb der Narration potenziell unabsehbare Folgen haben, dass Narration und Handlung interagieren. Genauer: Der szenographische Diskurs von Pen & Paper-Rollenspielen liegt in der diagrammatischen Parallelisierung von Handlung und Narration in der fiktiven Narration. Und exakt dies haben die digitalen Medien mit ihren Möglichkeiten zum Entwurf medialer Operationsräume für sich nutzbar gemacht.

93 | Wer sich mit Rollenspielen auseinandersetzt, galt lange Zeit als sonderbar. Wie nur wenige Spielformen sind Rollenspiele pathologisiert worden. Inzwischen existieren psychiatrische Ambulanzen für süchtige MMORPG-Spieler (so an der Universitätsklinik Mainz). Zu den Diskussionen, welche die Einrichtung solcher Ambulanzen begleitet haben, gehört auch die kontroverse Debatte über das Suchtpotenzial von Pen & Paper-Rollenspielen. Neben den Suchtgefahren von Spielen generell wäre aus kultur- und medienwissenschaftlicher Perspektive zu fragen, inwiefern die diagrammatische Kombinatorik, die auch in Pen & PaperRollenspielen wirksam ist, irrationale und absurde Züge annehmen kann, so etwa wie es die Inszenierung eines heiß laufenden diagrammatischen Bewusstseins in Ron Howards A Beautiful Mind (USA 2001) zeigt. 94 | Das mediale Komplement dieser narrativen Komplexität ist die Fernsehserie, deren psychosoziale Konsequenzen seit den 1950er Jahren Gegenstand ganz ähnlicher pathologisierender Diskussionen über mögliche Suchtwirkungen angestoßen haben.

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3.3 V IRTUALISIERUNG : M EDIENTHEORIE UND DER C OMPUTER ALS M EDIUM Auf die sozialen und kulturellen Veränderungen, die durch die Verwendung von Computern ausgelöst wurden, ist mit Beschreibungen wie »Informationsgesellschaft«, »Wissensgesellschaft«, »Netzwerkgesellschaft« oder »Medienkulturgesellschaft« reagiert worden. Neuere Medientheorien sehen den Bruch zwischen analogen und digitalen Medien zwar längst nicht mehr als eine so fundamentale Zäsur an, wie dies noch vor ca. 20 Jahren der Fall war.95 Doch auch die wissenschaftsintern geführte Spezialdiskussion um die Diagrammatik ist durch Diskurse zu den kulturellen Effekten der »Digitalisierung« beeinflusst. Die Überlegungen zu einem ›diagrammatic turn‹, wie sie im Überblick über die Forschung zitiert wurden, sind sogar ausdrücklich vor dem Hintergrund der Entwicklung digitaler Medien formuliert. Steffen Bogen und Felix Thürlemann sprechen vom Effekt des »angeblichen Übergang[s] von einer schriftdominierten Kultur zu einer Kultur der Bilddominanz als Folge der Digitalisierung der Medien und der damit einher gehenden globalen Vernetzung der Individuen.« Und weiter: »Gerade im Bereich der digitalen Medien scheinen aber vor allem Diagramme – mehr noch als Bilder, von denen im ›iconic turn‹ die Rede ist – an Bedeutung zu gewinnen, und man könnte sich fragen, ob es nicht angebrachter wäre, von einem sich abzeichnenden ›diagrammatic turn‹ zu sprechen.«96 Geäußert wird hier erstens die Vermutung, dass die Diagrammatik elementar mit den digitalen Medien verflochten ist, und zweitens die Idee, dass es sich bei dieser Verflechtung um einen bildtheoretischen Sachverhalt handelt. Gibt es also einen inhärenten Bezug der Diagrammatik zum Computer? Und was, so wäre überdies zu fragen, zeichnet die Diagrammatik im Hinblick auf die Frage nach der Digitalisierung der Bildproduktion aus? Aus systemtheoretischer Sicht geht der Soziologe Dirk Baecker davon aus, dass die Einführung eines neuen Mediums wie des Computers zu einem Überschuss an kulturellen Kommunikationsmöglichkeiten führt. Die Praxen des Umgangs mit dem neuen Medium erzeugen in spontaner Weise neue »Kulturformen«, in die das ›neue‹ Medium eingebettet ist. Solche Kulturformen sind durch Gewohnheit und Wiederholung stabilisierte Arten des Umgangs mit dem ›neuen‹ Medium: Einerseits basieren sie auf einer Auswahl aus den Kommunikationsmöglichkeiten, die das Medium bietet, andererseits erzeugen sie im Gebrauch mit dem Medium ihrerseits neue Kommunikationsmöglichkeiten, die sich in der Ausbildung neuer Umgangsformen mit dem Medium oder dem Entstehen wei-

95 | Vgl. z.B. die Beiträge in Schröter/Böhnke (Hg.): Analog/Digital. 96 | Bogen/Thürlemann: »Jenseits der Opposition von Text und Bild«, S. 3.

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D IAGRAMMATIK terer ›neuer‹ Medien niederschlagen (wie im Fall von Computern u.a. an der Herausbildung des Internets abzulesen ist).97 Aber wie kann diese Perspektive auf den Zusammenhang von Diagrammatik und digitalen Medien bezogen werden? Zur Diskussion steht die These, dass die Diagrammatik mit Kulturformen assoziiert ist, die für die ›Neuen Medien‹, die durch Computer möglich geworden sind, typisch sind oder sogar auf ihnen basieren – dass die Digitalisierung der Medien also ihr kulturelles Komplement in diagrammatischen Praxen findet. Daher gilt es zu klären, was den Computer als Medium auszeichnet. Den Computer kann man auf zwei Weisen zum Medium erklären: Einerseits durch seine Möglichkeiten zur Vernetzung,98 andererseits durch seine Möglichkeiten zur Veränderung von Zeichensystemen. Die Diskussion um die Diagrammatik konzentriert sich, wie Bogen und Thürlemann schreiben, vor allem auf den zweiten Aspekt. Die Diagrammatik wird in die Nähe der digitalen Bildproduktion gerückt. Wie man sehen wird, ist diese Diskussion ihrerseits Teil einer umfassenderen Bewegung, die unter dem Stichwort Virtualisierung zum Gegenstand der Forschung geworden ist.

I.

Digitale Medien und die Kulturformen operativer Ikonizität

Im Einklang mit vielen Positionen in der Medientheorie hat der Soziologe Niklas Luhmann in seiner rudimentären Theorie des Computers das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe als eines der kennzeichnenden Merkmale der Funktion des Computers in der Kultur ausgemacht.99 Luhmanns Beobachtung zielt auf die Instanz des ›Befehls‹, mit dem sich die Maschine steuern (und so zum Medium machen) lässt. Die technische Tiefenstruktur des Computers bleibt für jede Hermeneutik verschlossen, was umgekehrt die kulturelle Oberfläche zum Zentralphänomen des digitalen Mediums und seiner Varianten macht. In gleicher Weise lässt sich auch die Mensch-Computer-Interaktion als eine Relation zwischen dem Programmcode und der Darstellungsebene betrachten. Diese Relation wird als eine »Notation«100 gefasst, die auf einer radikalen Form von Übersetzung beruht und in eine »neue Art von Schriftlichkeit« mündet.101 Eine erste Verbindung von Diagrammatik und Computer ergibt sich demnach aus der Annahme, die Schnittstelle des Graphic-User-Interface 97 | Vgl. Baecker: Studien zur nächsten Gesellschaft, S. 7ff. 98 | Diesen Aspekt klammern wir im Folgenden aus, vgl. dazu Winkler: Docuverse. 99 | Vgl. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 304f. Rekonstruiert wird Luhmanns Theorie unter Berücksichtigung der relevanten Forschungsliteratur bei Ernst: »Revolutionssemantik und die Theorie der Medien«. 100 | Vgl. Robben: Computer als Medium, hier S. 12f. 101 | Robben: Computer als Medium, S. 15.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK basiere auf einer diagrammatischen Relation. Die Überlegung ist einfach: Elektronische Datenverarbeitung operiert im digitalen Code. Dieser Code besitzt eine höchst begrenzte Anschaulichkeit. Um mit ihm umgehen zu können, bedarf es Benutzeroberflächen, die den Nutzer von der Kenntnis der Tiefenstruktur der elektronischen Datenverarbeitung entlasten. Auf dem Bildschirm des Computers erscheinen nicht endlose, von kryptischen Steuerzeichen durchsetzte Kolonnen von 0 und 1, sondern Menüleisten und Eingabefenster, Texte, Bilder und Töne, die per Maus, Touchpad und Tastatur konfiguriert und rekonfiguriert werden können. Ohne Benutzeroberfläche wäre die Nutzung des Computers nur wenigen Spezialisten möglich. Mit dem Interface ist der Computer zu einem Medium für jedermann geworden. Kulturell wirksam wurde die technische Operation der Digitalisierung im Computer aber nur, weil sie, paradox formuliert, auf der Ebene ihrer Steuerung auf eine spezifische Art und Weise in Kulturformen ästhetisiert worden ist: und zwar durch den Rückgriff auf analoge Formen der Veranschaulichung und Schlussfolgerung. Wer diesen Gesichtspunkt nicht beachtet, unterschlägt die Leistung der Mediendesigner und Medienkünstler – und übersieht die kognitionswissenschaftliche Implikation, die in der Digitalisierung steckt. Eine Möglichkeit, diese Implikation herauszuarbeiten, bietet die Relationale Semantik, deren zentrale Idee sich schon bei Aristoteles findet: Der Mensch legt sich das Unbekannte anhand des Bekannten aus. Neue Fälle werden auf alte Fälle bzw. auf das Schema zurückgeführt, welches aus diesen Fällen konjektural entwickelt wurde. In diesem Sinne wird auch jede Diskurssituation anhand von Rekurssituationen interpretiert, letztlich also anhand der kulturell tradierten individuellen und kollektiven Erinnerung. Folglich liegt auch die Übersetzungsleistung der Benutzeroberflächen zu einem erheblichen Teil darin, dass die Schaltflächen, deren Anklicken bestimmte Operationen auslösen, mit Zeichen versehen werden, die auf analoge Operationen verweisen, welche der Benutzer aus anderen kulturellen und medialen Konstellationen kennt: das Ausschneiden und Zusammenfügen, das Speichern und Löschen, das Einfärben und Ausdrucken etc.102 Einige dieser Zeichen bestehen in Textverarbeitungsprogrammen wie Microsofts Word oder Apples Pages aus Initialen wie F, K oder U für die Fettmarkierung, Kursivierung oder Unterstreichung von Eingaben. Andere Zeichen weisen die Formen von Diagrammen oder Piktogrammen auf, die ein Schema – etwa das der links- oder rechtsbündigen Textformatierung – unmittelbar vergegenwärtigen oder per Analogieschluss, also mittelbar, erlauben, den operationalen Sinn der Schaltfläche zu erfassen. Diese Art der Veranschaulichung durch Zeichen, die zugleich Abbreviaturen und Auslöser von Operationen unterhalb der Benutzeroberfläche sind, ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie zwischen dem Nutzer 102 | Vgl. Bogen/Thürlemann: »Jenseits der Opposition von Text und Bild«, S. 4.

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D IAGRAMMATIK und dem Apparat eine Art der Interaktion erlaubt, die nicht nur dem materiellen Prozess der elektronischen Datenverarbeitung, sondern auch der mentalen Informationsverarbeitung ein Gesicht gibt. Ablesen lässt sich dies nicht zuletzt an der metaphorischen Verwendung einiger für die Computernutzung typischer Termini in Zusammenhängen, die der elektronischen Datenverarbeitung zwar analog gedacht werden können, aber auf einer ganz anderen ontologischen Ebene liegen. »Du hast wohl Deine Festplatte gelöscht« muss sich ein vergesslicher Mensch sagen lassen. Das aber heißt in anthropologischer Perspektive: Nachdem der Mensch die Tiefengrammatik des Diskurses, den er mit und mittels des Computers führen kann, anhand ihrer Diagrammatisierung durch Schriftzeichen und Schaubilder erlernt hat, die sie auf bekannte Rekurssituationen zurückführen, wird die ›Umgangssprache‹ des Computers ihrerseits zu einem Reservoir von Rekurssituationen. Die Lektion besteht also erstens darin, dass der umfassende Erfolg der Digitalisierung von Analogiebildungen und Analogieschlüssen abhängt, die diagrammatisch vermittelt werden. Die Lektion umfasst zweitens die Erkenntnis, dass neue Medienformate und Diskursformationen in ihrer Initial- und Implementierungsphase den Rekurs auf bekannte Formen und Formate brauchen, ihrerseits aber drittens dadurch zur Remodellierung dieser Formen und Formate beitragen, dass sie metaphorisch behandelt werden können. Diese Einsicht hatte Marshall McLuhan, lange bevor es den Personal Computer, die Benutzeroberflächen und Killer-Applikationen wie die Email gab, in die Formel – the medium is the message – gefasst.103 McLuhan wollte mit dieser Formel nicht nur sagen, dass (a) ein neues Medium zunächst in den Verständnisrahmen alter Medien eingefasst wird (wie es zum Beispiel der Fall ist, wenn man das Kino als ›Lichtspieltheater‹ bezeichnet). Er wollte mit seiner Formel auch sagen, dass (b) jedes Medium zum Modell oder zur Metapher werden kann, wie in diesem Fall das Theater. Vor allem aber wollte er darauf hinweisen, dass (c) Medien keine neutralen Instanzen der Informationsvermittlung, sondern aktive Mitspieler der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit sind. Medien prägen kulturell variable Verhaltensmuster aus, indem sie die Sinne und den Verstand des Menschen in Form bringen respektive formatieren – eine Konsequenz, die Sybille Krämer herausgearbeitet hat, wenn sie McLuhans Satz neu formuliert: »Das Medium ist nicht einfach die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.«104 Das Theater lässt die Welt als ein Schauspiel erscheinen und fokussiert die Wahrnehmung auf Handlungsschemata; das Buch trägt nachhaltig zur Logifizierung der menschlichen Erfahrung und dazu bei, dass man überhaupt auf die Idee kommen kann, die Verstandesbegriffe von

103 | Vgl. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 13ff. 104 | Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, S. 81 (im Orig. kursiv).

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK der sinnlichen Erfahrung abzuheben. Die Benutzeroberflächen wiederum verstärken den Trend zur ikonischen Weltauslegung und Weltgestaltung. Dieser Trend ist es, der die Diagrammatik als das Schlüsselphänomen operativer Ikonizität in die Nähe zu den ›neuen‹, digitalen Medien und ihrer Theorie rückt. Der Modus der durch diese Medien vermittelten Information, Interaktion und Kommunikation wird von der Schrift, die in der Gutenberg-Galaxis die entscheidende Matrix der zeichenhaften Weltauslegung und Weltgestaltung war, umgestellt auf durch Video- und Audiodateien multimedial erweiterbare Formate der Schriftbildlichkeit. Bilder werden auf dem Computerbildschirm nicht mehr primär – wie bei der Buchillustration – als Unterbrechungen, Auflockerungen und Ergänzungen der Schrift wahrgenommen. Vielmehr ist der Bildschirm selbst als ein Bilderrahmen oder Fenster mit fraktaler Architektur angelegt, in dem sich immer neue Fenster oder Rahmen übereinander lagern, welche teilweise unveränderbare, teilweise veränderbare Texte und bewegte oder unbewegte Bilder enthalten können. Viel stärker als bei einem Druckerzeugnis, das der Leser manuell nicht verändern (höchstens zerstören) kann, präsentiert sich der Computerbildschirm als Operationsraum einer Konfiguration, die vom Nutzer jederzeit per Tasteneingabe oder Mausklick rekonfiguriert werden kann. Schon allein dadurch wird eine ikonische Form der Rationalität evoziert, die Rückwirkungen auf die persönliche wie auf die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit haben muss. Die Welt wird als ›komputierbar‹ vor Augen geführt. So problematisch Juxtapositionen wie ›Sein oder Design‹ auch sein mögen, sie reflektieren den Umstand, dass ein Medienwandel immer auch als ein Mentalitätswandel interpretiert werden muss. Die für die Diagrammatik relevante Pointe liegt auch hier wieder darin, dass die neue kulturelle Praxis der Manipulation von Weltbausteinen auf einer Analogiebildung beruht. Denn das Design des Anschauungs- und Operationsraumes, den der Bildschirm eröffnet, basiert »auf der Vorstellung des Screens als Schreibtischfläche in einer Büroumgegbung, auf der Papier abgelegt wird.«105 Inspiriert war diese Idee nicht nur von der alltäglichen Erfahrung eines ›Schreibtischtäters‹, sondern vom Stufenmodell der kognitiven Entwicklung des Kindes, das der Lernpsychologe Jérôme Seymour Bruner entwickelt hat. Bruner zufolge setzt diese Entwicklung mit einer enaktiven bzw. sensomotorischen Phase ein, in der die Objekte mit der Hand erfasst und manipuliert werden. Dem folgt eine präoperationale bzw. ikonische Phase, in der den Handgriffen und Körperbewegungen abgeschaute, analoge Vorstellungen gebildet werden. Erst in der dritten, symbolischen Phase kommt es dann zur begrifflichen Erfassung der Welt sowie zu einer reflexiven Einstellung auf das eigene Tun.106 Als der Informatiker Alan Kay 1969 für die Learning Research Group bei Xerox Parc begann, ein intuitives Konzept für die Erlernung und Nut105 | Pratschke: »Interaktion mit Bildern«, S. 70. 106 | Vgl. Bruner: »Process of Cognitive Growth«.

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D IAGRAMMATIK zung eines Mediums zu entwickeln, hatte er – eingedenk von Bruners Modell – den wegweisenden Einfall, die Interaktion von Mensch und Gerät nicht nur auf symbolische, sondern auf ikonische Zeichen abzustellen, die insofern enaktiv oder präoperational sind, als sie sensomotorische, manuelle und intellektuelle Prozesse vergegenwärtigen oder versinnbildlichen können.107 Erreicht werden sollte dadurch, dass die aktuelle Konfiguration des Bildschirms mit dem Zwischenstand der Dinge stets auch die geistige Zusammenschau der Verhältnisse widerspiegelte. In Kays Worten: »[…] the image on the screen is always a faithful representation of the user’s illusion. Manipulating the image in a certain way immediately does something predictable to the state of the machine (as the user imagines the state).«108 Anders gesagt: Der Bildschirm zeigt nicht nur, wie es mit den Dingen steht, die den Nutzer geistig beschäftigen, er ›reflektiert‹ auch diese Beschäftigung selbst, insofern er jede Veränderung, die ihm ›mitgeteilt‹ wird, augenblicklich durch einen Akt der Rekonfiguration ›ratifiziert‹. (Das gilt selbstverständlich auch für den Akt des ›Rückgängigmachens‹, wenn der Nutzer die entsprechende Schaltfläche anklickt.) Prinzipiell ist diese Form der Ratifikation intellektueller Prozesse jedem Medium möglich, das über ein display verfügt: Auch die Handschrift verzeichnet auf einem Blatt Papier – einschließlich Durchstreichungen, Ausradierungen etc. – einen gedanklichen Prozess. Und selbst wenn man der Auffassung zuneigt, dass Pinselstriche eher eine écriture automatique als einen begrifflich gesteuerten Prozess der Vorstellungsbildung in Szene setzen, wird man einräumen müssen, dass sich in der Konfiguration, die auf einer Leinwand erscheint, bestimmte Ideen manifestieren, so unbewusst sie auch am Werk gewesen sein mögen. Gerade die Medien der Kunst zeichnen sich in aller Regel durch eine enge Verbindung von szeno- und seismographischen Zügen, von pikturalen und expressiven Momenten aus und erlauben (hypothetische) Rückschlüsse auf Erregungszustände, die sich der Schreib- oder Malweise – sei es intentional, sei es nicht-intentional – mitgeteilt haben. Ein Verständnis von Diagrammatik, das nur auf ihre als ›diagrammatisch‹ erkannten medialen Formate und Manifestationen rekurriert, greift aber zu kurz. Diagrammatische Schlüsse spielen sich im Geiste auch dann ab, wenn sie nicht zur Anzeige gebracht werden. Die mit dem Verb ›to display‹ bezeichnete Vollzugsform des anschaulichen Denkens, die in der imaginären Rekonfiguration von mehr oder weniger schematischen Gestalten besteht, ist nicht auf ein display angewiesen. Es gilt daher, den Akt der Kommunikation vom Akt der Kon- und Rekonfiguration zu unterscheiden, gleichwohl aber anzuerkennen, dass die Medien, die zur Kommunikation eingesetzt werden, eine konstruktive Rolle spielen und auf den Akt der Kon- und Rekonfiguration zurückkoppeln. 107 | Pratschke: »Interaktion mit Bildern«, S. 73. 108 | Kay: »Computer Software«, S. 42.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Versteht man diagrammatische Operationen dergestalt als einen Übersetzungsprozess, in dem Mentales und Materielles miteinander verwoben sind, erscheint die Medienevolution als ein Prozess der Erweiterung von Wahrnehmungs-, Speicherungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten von Zeichen, der durch die technische Entwicklung eines zunehmend intermodalen displays vorankommt. Die Benutzeroberfläche des ComputerBildschirms, die zugleich Anschauungs- und Handlungsraum, Projektions- und Simulationsfläche ist, markiert nicht nur den Höhepunkt dieser Entwicklung. Sie spiegelt an der Diagrammatik vor allem den Aspekt der ›Grammatizität‹ wider, indem sie das Kon- und Rekonfigurieren von Datensätzen, die intermodal veranschaulicht werden können, als regelgeleitetes, intersubjektiv nachvollziehbares Handeln inszeniert. Ob sich das Verhältnis von Diagrammatik und digitalen Medien medientheoretisch hieran anknüpfend bestimmen lässt, hängt wesentlich davon ab, auf welche gesellschaftlichen Teilbereiche man blickt. In der Wissenschaft, Architektur, Medizin oder im Ingenieurwesen haben diese Kulturformen erhebliche Veränderungen hervorgerufen. Ähnliches gilt für die Kunst und Populärkultur wie für ihre Medien, allen voran Film und Fernsehen. Doch was wäre ein Dachbegriff, der es erlauben würde, das Gemeinsame dieser Konsequenzen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen besser zu begreifen und in den Horizont der Diagrammatik zu rücken?

II. Stichwort ›Virtualisierung‹ Ein Angebot ist mit dem in den letzten Jahren etwas in Misskredit geratenen Begriff der Virtualisierung zur Hand. Speziell bei der digitalen Bildproduktion handelt es sich um einen Teilbereich der mit der Nutzung des Computers als Medium assoziierten Formen von Virtualisierung. Zwar wird dieser Einschätzung in bildwissenschaftlichen Argumentationen unter Verweis auf abgewirtschaftete Begriffe wie ›Virtuelle Realität‹ widersprochen.109 Doch lohnt ein zweiter Blick. Es ist nämlich eine fragwürdige Prämisse, dass Virtualisierung ein exklusives Ergebnis der Nutzung des Computers als Medium wäre und infolgedessen auf den Computer reduziert werden könnte. Im Einklang mit poststrukturalistischen Theorien kann behauptet werden, dass Virtualisierung eine generelle Eigenart von Zeichensystemen ist. Virtualisierung ist ein allgemeiner semiotischer Prozess, der auch unabhängig vom Computer als Medium vonstatten gehen kann. Computer sind (unter anderem) deshalb als ›Medien‹ zu betrachten, weil sie neue 109 | In der Tat ist diese Kritik so lange berechtigt, wie die Hyperrealitätsdebatte der 1970er-1990er Jahre die Zielscheibe bildet. Vgl. z.B. Schneider: »Wissenschaftsbilder«, S. 189ff. Allerdings ist es falsch, die generelle Diskussion um Virtualität und Virtualisierung auf die Schlagwörter Virtuelle Realität und Hyperrealität zu beschränken.

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D IAGRAMMATIK Möglichkeiten zur praktischen Bearbeitung von Zeichensystemen bieten. Virtualisierung ist durch digitale Medien wie den Computer aber nicht kausal bedingt. Sie wird durch diese Medien verstärkt. Die Verbindung zwischen Virtualisierung und Computer liegt also in dem Umstand begründet, dass die Verwendung des Computers als Medium neue Möglichkeiten zur Transformation von Zeichensystemen bietet. Was aber ist Virtualisierung? Im Zuge der Debatte um die ›virtuelle Realität‹ ist der Begriff zum Gegenbegriff von ›Realität‹ avanciert. Als ›virtuell‹ galt das, was dem ›Cyberspace‹ als einer alternativen Realität zugehörte. Die Medientheorie der letzten dreißig Jahre hat Virtualisierung deshalb oft als einen Prozess der Entsubstanzialisierung und Immaterialisierung von Realität betrachtet. Virtuelle Realitäten gelten als Simulationen der Realität, die auf einer ontologischen Illusion beruhen.110 Mit Virtualität ist ursprünglich jedoch etwas anderes gemeint. Virtualität bedeutet nicht, dass ›Virtuelles‹ inexistent wäre.111 Virtualität bezeichnet diejenigen Bereiche des Wirklichen, die noch nicht konkretisiert sind. Das Virtuelle ist ein Feld der Möglichkeiten, wie sie von einer zur Zukunft hin offenen und unabgeschlossenen Wirklichkeit her gedacht werden müssen. Das Virtuelle ist etwas, das sich innerhalb des Realen und Wirklichen auftut. Virtualität ist ohne einen Bezug zur Realität nicht denkbar.112 Wer von virtueller Realität spricht, muss angeben können, woher er weiß, dass es sich um eine virtuelle Realität handelt. Es ist also sinnvoll, den Begriff der Virtualität nicht als Gegenbegriff zur Realität zu begreifen, sondern als eine Form von Möglichkeit, die in der Realität selbst gegeben ist. Einen Ansatz dazu hat Gilles Deleuze vorgelegt. Deleuze geht davon aus, dass die korrekte Unterscheidung nicht zwischen Realität und Virtualität verläuft, sondern zwischen Aktualität und Virtualität. In Differenz und Wiederholung vermerkt er: »Das Virtuelle steht nicht dem Realen, sondern bloß dem Aktuellen gegenüber.«113 Hinter dieser Einschätzung steckt Deleuze’ Überlegung, mithilfe von Virtualität zwei verschiedene Begriffe von ›Möglichkeit‹ in Anschlag zu bringen: Demnach existiert ein Feld aus wirklichen Möglichkeiten (»Potenzialitäten«) und ein Bereich der möglichen Möglichkeiten, die zwar nicht aktualisiert, aber dennoch real sind (»Virtualitäten«). Deleuze schreibt daher: »Das Virtuelle besitzt volle Realität, als Virtuelles.«114 110 | Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, S. 1147f., insb. Anm. 434. 111 | Abgeleitet wurde der Terminus aus lat. virtus (›Wirkkraft‹, ›der Kraft nach‹) und spielte in der scholastischen Philosophie des Mittelalters eine Rolle. 112 | Ein wichtiges, von der Euphorie gegenüber den digitalen Medien in den 1990er Jahren getragenes, nichts desto weniger aber lesenswertes Buch zum Thema ist Lévy: Becoming Virtual. 113 | Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 264. 114 | Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 264. (im Orig. kursiv)

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Deleuze verfolgt hier ein strukturalistisches Argument. In der strukturalistischen Tradition wird zwischen der Ebene der aktualisierten Manifestation von Elementen einer Struktur, zum Beispiel der performativen Anwendung von Wörtern in einer Sprache, und einer Ebene der virtuellen Existenz dieser Elemente, auf der sie als in Differenz zueinander stehende Einheiten in einer Struktur existieren, also zum Beispiel der Gesamtheit der sprachlichen Elemente und ihrer Beziehungen untereinander, unterschieden.115 Die konkrete Verwendung eines Wortes in einer Sprache führt demnach dazu, dass sich eine bestimmte Menge an Kombinationsmöglichkeiten ergibt, um einen korrekten Satz zu bilden. Die Umsetzung dieser Möglichkeiten ist ein Prozess der Realisierung: Es findet eine Konkretisierung in der Struktur klar festgelegter Möglichkeiten statt.116 Doch es existieren nicht nur die Möglichkeiten, die vom konkreten Wort her gedacht werden können. Es gibt auch all die Möglichkeiten, in die das Wort innerhalb der Verhältnisstruktur des Sprachsystems eingebunden ist. Diese Möglichkeiten sind als »Spuren« aller möglichen Verhältnisse der Sprache am konkreten Wort immer mit realisiert, aber als reale Möglichkeiten in der gegebenen Situation nicht aktualisiert.117 Deleuze stellt daher fest: »Die Struktur ist die Realität des Virtuellen«.118 In der typisch poststrukturalistischen Überformung dieses Gedankens wird die Struktur als eine unabgeschlossene Struktur betrachtet. Aus der Perspektive von Deleuze’ »Transzendentalem Empirismus« unterliegt die Struktur einer von der Praxis ausgehenden Veränderung. Die Struktur ist zur Praxis hin geöffnet. Die realen Aktualisierungen von Sprache sind nicht einseitig vom Sprachsystem abhängig, sondern wirken aus der Praxis auf das Sprachsystem zurück. Erst so entfaltet Deleuze’ Unterscheidung zwischen wirklichen Möglichkeiten (»Potenzialitäten«) und möglichen Möglichkeiten (»Virtualitäten«) ihren ganzen Sinn: Wäre die Ebene der performativen Anwendung der Sprache nur eine Realisierung eines in sich selbst voll konstituierten Sprachsystems, gäbe es keinen Platz für Virtualität. Alle Möglichkeiten wären voll konstituiert (zum Beispiel als Kompetenz eines Sprechers). Die Analyse würde nur die bereits konstituierten Kombinationsregeln nachvollziehen. Im Gegensatz dazu geht Deleuze davon aus, dass sich durch Aktualisierungen die Möglichkeitshorizonte einer Struktur ändern können. Die performativen Anwendungen der Sprache können dazu führen, dass Äußerungen möglich werden, die zuvor als unmöglich erachtet wurden. 115 | Vgl. auch Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation, S. 19ff. 116 | Vgl. Lévy: Becoming Virtual, S. 26. 117 | Ganz ähnlich liest man in Derridas (Die unbedingte Universität, S. 25) Überlegungen zu einer »Politik der Virtualisierung«: »Nicht, daß die Virtualisierung ihrer Struktur nach etwas völlig Neues wäre: Sobald es eine Spur gibt, hat die Virtualisierung schon begonnen.« 118 | Deleuze: Differenz und Wiederholung, S. 265.

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D IAGRAMMATIK Das Virtuelle ist für Deleuze also deshalb real, weil es vom Offenen der Struktur, von ihrer inneren Transformationsfähigkeit, her gedacht werden muss. Man kann sagen: Die Offenheit der Struktur ist ihre Virtualität. Virtuell sind zum Beispiel die Möglichkeiten, die dafür sorgen, dass in ereignishaften Aktualisierungen bisher Unmögliches möglich und bisher Mögliches unmöglich werden kann.119 Am leichtesten findet man Beispiele für diesen Begriff von Virtualität in allen Arten der Transformation, Permutation, Rekombination und Veränderung einer Struktur. Übersetzt man den – reichlich abstrakten – Begriff der ›möglichen Möglichkeiten‹ in eine etwas plastischere Sprache, dann kann Virtualität als ein Problemkomplex verstanden werden, der eine konkrete Entität oder Situation begleitet, und nach einer Lösung verlangt, die nicht bereits in den Möglichkeiten der Situation enthalten ist. Das klingt kompliziert, ist aber eine alltägliche Angelegenheit: Programmierer lösen mit ihrer Arbeit ein Problem, indem sie eine klare Vorgabe machen, wie sich Möglichkeit und Wirklichkeit in einem Computer als Verhältnis von Recheneinheit, Programmcode und Benutzeroberfläche zueinander verhalten. Wenn das Programm in die praktische Anwendung geht, können jedoch plötzlich Probleme eine Rolle spielen, mit denen niemand gerechnet hat. Während das Verhältnis von Recheneinheit, Programmcode und Benutzeroberfläche ein klar determiniertes Kontinuum aus wirklichen Möglichkeiten bildet, kann die konkrete Anwendung des Programms Möglichkeiten offenbaren, die einer Lösung bedürfen, welche im Layout des Programms nicht enthalten ist. Das Suchen nach einer solchen Lösung ist dann keine Realisierung von bereits wirklichen Möglichkeiten, sondern die Aktualisierung von neuen Lösungen für Probleme, die zuvor als unmöglich erachtet wurden.120 Vor diesem Hintergrund hat der Medienphilosoph Pierre Lévy im Anschluss an Deleuze einen einfachen Begriff von Virtualisierung vorgeschlagen. Virtualisierung ist für Lévy die Umkehrung des Prozesses der Aktualisierung: »Virtualization is not a derealization (the transformation of reality into a collection of possibles) but a change in identity, a displacement of the center of ontological gravity of the object considered.«121 Virtualisierung besagt nach Lévy, dass eine Entität oder Situation zu bisher nicht für möglich erachteten Möglichkeiten tendiert: »Actualization proceeds from problem to solution, virtualization from a given solution to a

119 | In diesem Sinne können Aktualisierungen den Charakter eines »Ereignisses« haben. Vgl. dazu Seel: »Ereignis«, sowie die Beiträge in Rölli (Hg.): Ereignis auf Französisch. 120 | Vgl. zu diesem Beispiel Lévy: Becoming Virtual, S. 25, sowie die Formulierung: »[…] the real resembles the possible whereas the actual responds to the virtual« (ebd., S. 171). Vgl. im Kontext auch Maresch: »Virtualität«. 121 | Lévy: Becoming Virtual, S. 26.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK (different) problem.«122 Während Aktualisierung eine Lösung für Probleme bietet, ist Virtualisierung also der Prozess der Problematisierung von Lösungen. Mit diesem Ansatz erfassbare Virtualisierungsprozesse spielen in der modernen Gesellschaft eine zunehmend wichtige Rolle. Die Gesellschaft stellt ihre Prozesse mehr und mehr auf die Kalkulation und Kontrolle von wahrscheinlichen Möglichkeiten ab. Die Wirklichkeit wird aus der Komplexität ihrer Möglichkeiten heraus begriffen. Das Ziel dieser Möglichkeitsreflexion ist keine Ersetzung der Realität, sondern eine Verschiebung des Blicks auf das Wirkliche, Reale und Substanzielle. Die Reflexion der möglichen Zustände eines realen Sachverhalts erfolgt zum Beispiel zum Zweck des besseren Verständnisses und einer Kontrolle derjenigen Möglichkeiten, die sich als mögliche Alternativen im Wirklichen finden.

III. Digitale Bilder, Technobilder und Diagrammatik Was hier pauschal für die Gesellschaft diagnostiziert wird, schlägt sich in den verschiedenen Teilbereichen der Gesellschaft natürlich unterschiedlich nieder. Eine sehr prominente Diskussion, die quer durch verschiedene Teilbereiche läuft, ist die bereits erwähnte Diskussion um digitale Bilder. Die Digitalisierung des Bildes ist eines der wichtigsten Beispiele, anhand dessen Virtualisierungsprozesse betrachtet werden können. In der Debatte um die digitalen Bilder schält sich aber auch sehr klar die Natur der Virtualisierung heraus. Der mediengeschichtliche Blick macht deutlich, dass die digitalen Verfahren der Bildproduktion nicht entwickelt wurden, um eine neue Wirklichkeit zu schaffen, sondern um sich in ein neues Verhältnis zur existierenden Wirklichkeit zu setzen. Aus dem Umstand, dass die digitalen Bilder ein phantasmagorisches Potenzial aufweisen – dass sie also illusionäre Scheinwelten aufbauen können – folgt keineswegs, dass die Realität im Zeitalter der digitalen Bildproduktion verschwindet. Die Tatsache, dass digitale Bilder (wie analoge Bilder auch) bearbeitet werden können, resultiert in keinem Verlust der Realität, sondern in ihrer veränderten Betrachtung. Wenn nun in den letzten Jahren die Diagrammatik in ein zunehmend enger werdendes Verhältnis mit den digitalen Bildern gerückt wird, ist 122 | Lévy: Becoming Virtual, S. 27. Soziokulturell bildet sich Virtualisierung nach Lévy als zunehmendes »detachment« (ebd.), das heißt als eine zunehmende Loslösung von insbesondere räumlichen Strukturen ab. Bei aller Kritik, die Lévy an der jargonhaften Verwendung des Begriffs der ›virtuellen Realität‹ äußert, folgt auch er relativ unreflektiert der Immaterialisierungs- und Deterritorialisierungs-Debatte. Als virtuell gilt für ihn zum Beispiel ein Wirtschaftsunternehmen dann, wenn es ohne Substanz und festes Zentrum auskommt, seine räumliche Organisation an keinem festen Ort mehr ist, sondern durch Medientechnologie auf verschiedene Orte verteilt ist, räumlich also aufgelöst, aber dennoch zeitlich stabil operiert (vgl. ebd., S. 26f.).

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D IAGRAMMATIK wenigstens ansatzweise zu definieren, was digitale Bilder sein sollen. Für die vorliegenden Zwecke reicht hierzu eine einfache Unterscheidung aus: Digitale Bilder können in digital abgetastete Bilder und algorithmisch generierte Bilder differenziert werden.123 Digital abgetastete Bilder sind eingescannte Bilder, Bilder eines Magnet-Resonanz-Tomographen oder digitale Photographien. Algorithmisch generierte Bilder sind Graphiken, die auf der Grundlage statistischer Daten vom Computer erzeugt werden. Zu ihnen gehören z.B. die fotorealistischen Effekte im modernen Kino, die durch Computer Generated Imagery entstehen. In pragmatischer Hinsicht ist ferner zu betonen, dass beide Typen von digitalen Bildern sehr häufig als Gebrauchsbilder verwendet werden, die etwas über die Realität herausfinden sollen. Das gilt zum Beispiel für die Fotos von Weltraumsonden oder für die Anwendung digitaler Bildgebung in der Medizin.124 Digitale Bilder sind also sehr oft eine Form der Problematisierung von gegebenen Sachverhalten. Besonders in ihrer explorativen Verwendung wird der Bezug dieser Bilder zur Virtualisierung deutlich. Als ein Kernprozess der Virtualisierung können zum Beispiel die bereits erwähnten Simulationsverfahren betrachtet werden.125 Generiert man am Computer das Modell eines Flugzeugs und setzt es virtuell allen nur erdenklichen (simulierten) Wetterverhältnissen aus, um die Möglichkeiten und Grenzen seiner Aerodynamik zu testen, dann ist das eine alltägliche problembezogene Anwendung von digitaler Technologie. Zeigen sich in den Simulationen strukturelle Schwächen des Designs, bietet der Computer umfängliche Manipulations- und Transformationsmöglichkeiten, um Veränderungen am Entwurf vorzunehmen und einen neuen Testlauf zu starten. Virtualisierungsprozesse können also nicht nur durch digitale Medien sehr effizient umgesetzt werden: Simulationen folgen dem diagrammatischen Zusammenspiel von design, layout und display. Doch nicht erst die digitalen Bilder, sondern bereits der Prozess der Virtualisierung selbst unterhält einen sehr grundlegenden Bezug zur Diagrammatik. Deshalb sind nicht gleich alle Virtualisierungsprozesse diagrammatischer Art. Es ist aber nicht übertrieben zu behaupten, dass die Diagrammatik zu den Kulturpraxen gehört, die der Virtualität in Zeichensystemen eine kulturelle Gestalt gegeben haben, lange bevor der Computer als Medium zum Einsatz kam. Die kulturellen Praxen des simulierenden »vor-

123 | Griffig ausgearbeitet wird diese Differenzierung bei Schröter: »Wirklichkeit«, S. 204ff. Sie prägt aber auch andere Diskurse zu digitalen Bildern, z.B. Mitchell: The Reconfigured Eye. 124 | Vgl. Schröter: »Wirklichkeit«, S. 206f. 125 | Vgl. jenseits der Medientheorie von Jean Baudrillard, in der der Simulationsbegriff sehr prominent diskutiert wurde, die wegweisenden Forschungsarbeiten von Gramelsberger: Computerexperimente, Gramelsberger: Semiotik und Simulation, Gramelsberger (Hg.): From Science to Computational Science.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK stellenden Herstellens«126 können als ein Teil diagrammatischer Virtualisierungsprozesse betrachtet werden. Die Relevanz der Diagrammatik ergibt sich also nicht aus den digitalen Bildern, vielmehr gehören die digitalen Bilder einer übergeordneten Geschichte der diagrammatischen Virtualisierung an. Vor diesem Hintergrund ist es möglich, den Austausch zwischen Diagrammatik und digitalen Medien anhand der Diskussion digitaler Bilder exemplarisch zu vertiefen. Prinzipiell sind in dieser Frage sehr unterschiedliche Zugänge möglich: Erhebt man die Diskussion um die digitalen Bilder zum Brennglas der Diskussion um den Zusammenhang von Diagrammatik und digitalen Medien, kommt die Diagrammatik unter medientheoretischen Vorzeichen auf mindestens zwei verschiedene Weisen ins Spiel: Zum einen kann geltend gemacht werden, dass sowohl die digital reproduzierten Bilder als auch die algorithmisch generierten Bilder einen technischen Bezug zur Diagrammatik unterhalten. Digitalisierung ist eine Codierung von analogen Einheiten in digitale Einheiten und die Arbeit mit diesen Einheiten. So gesehen wäre die Digitalisierung ein Prozess der Diagrammatisierung von Zeichensystemen. Der Computer ist eine leistungsfähige Maschine zur Transformation analoger in digitale Zeichensysteme und ihrer Weiterverarbeitung. Bereits dieser Prozess der Codierung vom analogen in den digitalen Code könnte als ein diagrammatischer Vorgang aufgefasst werden. Zum anderen ist es möglich zu behaupten, dass die digitalen Bilder dort zum Gegenstand der Diagrammatik werden, wo sie sich als manipulierbare, veränderbare und transformierbare Bilder erweisen, die im Hinblick auf ihre pragmatischen Anwendungsmöglichkeiten geprüft werden müssen. Digitale Bilder können – wie vor ihnen schon die Bilder des Films (Montage) oder der Photographie – operativ bearbeitet und verändert werden. Das Konzept der Diagrammatik beschreibt in diesem Fall die Prozesse der Schemabildung in Bezug auf ein praktisches Problem, das in den Transformations- und Veränderungspraxen des operativen Umgangs mit digitalen Bildern bearbeitet wird. Die Frage lautet somit, ob man die Diagrammatik mit der technischen Struktur oder dem pragmatischen Anwendungshorizont in Verbindung bringt. Diese Unterscheidung hat Ähnlichkeiten mit der durch den Medientheoretiker Lev Manovich in seiner Theorie der Neuen Medien ausgearbeiteten Differenzierung in einen »Computer-Layer« und einen »Cultural-Layer«.127 Manovich beschreibt mit dieser Unterscheidung allerdings kein Ver126 | Dies ist eine berühmte Formulierung aus Martin Heideggers Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes«, vgl. Heidegger: Holzwege, S. 94: »Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstellenden Herstellens.« 127 | Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 45ff.

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D IAGRAMMATIK hältnis von unsichtbarer und alltagspraktisch unzugänglicher, technischer Tiefenstruktur und sichtbarer und zugänglicher, kultureller Oberflächenstruktur der Neuen Medien. Sein Ziel ist es, zu zeigen, dass Neue Medien auf einer unauflöslichen Interaktion zwischen Maschine und Mensch basieren. Computer-Layer und Cultural-Layer sind nicht nach Tiefe und Oberfläche geschichtet, sondern liegen auf einer (praktischen) Ebene. Für Manovich ist das Pragmatische der Neuen Medien infolgedessen dort zu finden, wo Technik und Denken in konkret zugänglichen, das heißt transformierbaren und veränderbaren Zeichensystemen aufeinander bezogen werden.128 Ein Autor, der dieses Argument lange vor Manovich und der aktuellen Diskussion um digitale Bilder vorgebracht hat, ist der Medienphilosoph Vilém Flusser, welcher die Problemlage anhand seines Begriffs des Technobildes verhandelt. Das Technobild gilt ihm als das kommende Leitmedium, welches die Schrift ersetzen wird.129 Hervorgebracht werden Technobilder durch alle Arten von audiovisuellen Bildmedien (Flusser diskutiert v.a. die Photographie), später auch durch den Computer. Das besondere Kriterium der Technobilder ist ihre Eigenschaft, Bilder von Begriffen zu sein. Das bedeutet, dass Technobilder nicht einfach nur auf einen Sachverhalt referieren. Um ein Technobild zu machen und verstehen zu können, benötigt man einen Begriff von der Sache. Als Bilder von Begriffen sind die Technobilder einerseits Produkte der Vorstellung über die mögliche Gestalt der Sache, andererseits das Ergebnis eines von den Medien automatisch abgewickelten Prozesses. Flusser zufolge ereignet sich dieses Zusammenspiel aus menschlicher Einbildungskraft und maschineller Automatisierung auf der Basis eines den Technobildern zugrunde liegenden »technischen Textes«.130 Ein »technischer Text« ist nach Flusser eine in gängigen Zeichensystemen wie der Sprache, der Schrift oder Bildern codierte Menge an begrifflichem Wissen, auf welche das Medium, das die Technobilder herstellt, zurückgreift. Dieser technische Text kann sowohl als implizites wie auch als explizites Wissen vorliegen und sowohl lose gekoppelte Ideen wie auch fest gekoppelte Vorschriften umfassen. Eine implizite Menge lose gekoppelter Ideen sind zum Beispiel diejenigen kulturell tradierten Wissensbestände um Perspektivität und Motivik, auf denen die durch die Photographie hergestellten Technobilder beruhen. Eine explizite Menge fest gekoppelter Vorschriften hingegen wären die Daten einer mathematischen Statistik oder andere Formen operativer Schriften, die vom Computer automatisiert berechnet werden können. Wichtig ist am technischen Text, dass er

128 | Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 45ff. In diese Richtung argumentiert auch Kogge: »Lev Manovich«, S. 309f., der sogar von einem »digital pragmatism« spricht. 129 | Vgl. Flusser: Die Schrift. 130 | Vgl. Flusser: Kommunikologie, S. 137ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK als eine Menge von begrifflichem Wissen erscheint, auf welche die Medien bei der Herstellung von Technobildern zurückgreifen.131 Diese Grundidee, dass Technobilder graduell unterschiedlich explizite Formen von Wissen visualisieren, ist sehr wichtig. Flusser hebt mit ihr hervor, dass nicht die technische Struktur der Erzeugung der Technobilder das Entscheidende an diesen Bildern ist, sondern die Praxen ihres Gebrauchs.132 Diese pragmatische Relevanz für den Menschen nennt Flusser die lebensweltliche »Bedeutung« der Technobilder. Unzweideutig schreibt er: »[…] die Definition [der Technobilder, MB/CE] soll auch zeigen, daß die Spezifität der Technobilder weder in ihrer Methode zu suchen ist, mit der sie erzeugt werden (durch die Apparate), noch in dem Material, aus dem sie gemacht sind (zum Beispiel Kathodenröhren), noch in ihrer Struktur (zum Beispiel, daß manche abrollen), sondern in ihrer Bedeutung.«133 Diese lebensweltliche Bedeutung ist nach Flusser kein singuläres Ergebnis der digitalen Medientechnologie. Technobilder gab es auch schon vor dem Computer. Flusser definiert: »Technobilder sollen nicht nur technisch erzeugte Bilder (wie Mikrofilme, Diapositive, Videobänder, Photographien durch Teleskope usw.) heißen, sondern auch mehr oder weniger traditionell erzeugte Bilder, falls sie Begriffe bedeuten (wie blueprints, Designs, Kurven in Statistiken, oder die im vorliegenden Text enthaltenen Skizzen).«134 Dass Flusser in diesem Zitat als paradigmatische Beispiele für Technobilder, die nicht durch Neue Medien erzeugt wurden, Blaupausen (Diazotypie), Designs, Kurven in Statistiken oder Skizzen – also Diagramme – nennt, ist kein Zufall.135 Für Flusser haben diese Zeichen eine besondere Qualität, die darin besteht, einerseits abstraktes Wissen zu externalisieren und sichtbar zu machen, andererseits ein pragmatisches Modell für mögliche Handlungen abzugeben. In ausdrücklicher Referenz auf die Unterscheidung zwischen Karte und Territorium vermerkt er: »Beispielsweise ist eine Röntgenaufnahme eines gebrochenen Arms (eine ›Landkarte‹

131 | Flussers Ausführungen sind zweifelsohne nicht unproblematisch. So kann man sich zum Beispiel darüber streiten, ob implizites Wissen sinnvollerweise ›begrifflich‹ genannt werden kann. 132 | Flussers Medienphilosophie enthält, obwohl phänomenologisch geprägt, viele Anleihen an pragmatisches Gedankengut. 133 | Flusser: Kommunikologie, S. 139f. 134 | Flusser: Kommunikologie, S. 140. Flusser schreibt an dieser Stelle weiter: »Was ein Bild zu einem Technobild macht, ist nicht, daß es technisch erzeugt wurde […], sondern daß es nicht Szenen sondern Begriffe bedeutet – nicht die Mondoberfläche, sondern Begriffe astronomischer Texte, welche Bilder bedeuten, die sich die Autoren dieser Texte von der Mondoberfläche zu machen versuchten.« 135 | Gerade im Hinblick auf eine kulturtechnische Lesart der Diagrammatik im Rahmen der Thesen zur operativen Bildlichkeit wäre es reizvoll, Flussers Begriff des Technobildes noch einmal grundsätzlich neu zu lesen.

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D IAGRAMMATIK also) zugleich auch ein Modell für den Arzt, wie der Arm zu behandeln ist (also ›prospektiv‹) […].«136 Es bietet sich daher an, die Relevanz der Diagrammatik für digitale Medien nicht vorrangig aus der technischen Funktionsweise der Medien, sondern aus der Frage herzuleiten, wie in der Kultur mit diesen Medien praktisch umgegangen wird. Wie facettenreich dieses Gegenstandsfeld ist, soll ein kurzer Ausflug in das Grenzgebiet zwischen Fernsehen, digitaler Bildproduktion und kultureller Mythenbildung illustrieren.

E xkurs: Diagrammatik, Mythen und das Rätsel der P yramiden Die Diskussion, die sich um Diagrammatik und digitale Bilder knüpft, wird derzeit in ihrer überwiegenden Breite auf die Anwendung von digitalen Bildern in der Wissenschaft bezogen. Das ist nur zu verständlich, entstand die Diagrammatik doch zunächst als eine Erkenntnistheorie. Dennoch ist die Wissenschaft nur ein Teilbereich soziokultureller Virtualisierungsprozesse. Will man mit der Idee ernst machen, digitale Bilder als ein Schlüsselphänomen von Virtualisierung zu begreifen, dann ist es für die Kultur- und Medienwissenschaften nicht ausreichend, sich auf nur einen, mit der Kunst vielleicht zwei gesellschaftliche Teilbereiche zu beziehen. Entgegen kommen dürfte eine thematische Erweiterung auch all jenen Ansätzen innerhalb der Kultur- und Medienwissenschaften, die nicht direkt mit erkenntnistheoretischen Fragen befasst sind, sondern sich stärker für eine kulturkritische Herangehensweise interessieren. Es ist deshalb eine reizvolle Angelegenheit, die Diskussion um Diagrammatik und digitale Bilder einmal aus dem Kontext der Selbstaufklärung des Wissenschaftssystems herauszulösen und zu fragen, wie sich die Diagrammatik in der Populärkultur manifestiert. Ansätze zu einer solchen kulturkritischen Perspektive finden sich ebenfalls bei Flusser. Flusser ist oft (und zu Recht) dafür kritisiert worden, dass sich bei ihm ein zu großer Optimismus gegenüber den ›neuen‹ Medien und ein zu großer Pessimismus gegenüber den ›alten‹ Medien verschränken. Ein Beispiel ist seine Forderung nach einer neuen Einbildungskraft bzw. »Technoimagination«,137 welche der Funktionsweise der Technobilder gerecht werden soll.138 Diese Forderung zehrt von dem altbekannten medienkritischen Topos der kognitiven Überforderung des Menschen durch die Einführung von 136 | Flusser: Kommunikologie, S. 139. Zweifelsohne ist Flusser mit dieser Definition des technischen Bildes einer der wichtigeren Pioniere der gegenwärtigen Diskussion um digitale Bilder. Weitere Impulse in diese Richtung haben zu einem frühen Zeitpunkt die Stuttgarter Schule der Semiotik um Max Bense, Elisabeth Walther-Bense und Frieder Nake, aber auch der mit Flusser befreundete Informationsästhetiker Abraham Moles geliefert. 137 | Vgl. Flusser: Kommunikologie, S. 209ff. 138 | Vgl. Flusser: »Eine neue Einbildungskraft«.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK zu ihrem Zeitpunkt jeweils ›neuen‹ Medien. Dahinter steckt die Überlegung, dass sich kulturelle Schlüsselkonzepte wie Kritik und Rationalität, die Flusser zufolge an die Medien Sprache und Schrift gebunden sind, noch nicht in adäquater Form in die Ära der Neuen Medien übersetzt haben. Die Einführung Neuer Medien stellt für die Gesellschaft einen Schock dar, dessen Verarbeitung Zeit braucht. An das ehemalige Leitmedium Schrift gebundene Formen der Kommunikation brechen zusammen, können aber nicht sogleich durch neue Formen ersetzt worden. Unter dieser Voraussetzung bildet sich in der Übergangszeit eine neue Klasse von »Litterati« heraus, welche die Sprache der Neuen Medien beherrscht, und einer Klasse von »Ilitterati« entgegentritt, welche diese Sprache nicht versteht.139 Daraus resultiert eine Glaubwürdigkeitskrise von schriftlich kommuniziertem Wissen, wie es in der Wissenschaft üblich ist. Rationalität und Kritik sind also als schriftliche Rationalität und Kritik in eine Legitimationskrise geraten. Flussers kulturkritische These ist zweifellos problematisch: Dass wissenschaftliches Wissen Legitimationsschwierigkeiten hat, ist beileibe kein neues Phänomen – und es ist schon gar keines, das unmittelbar auf einen Medienumbruch zurückgerechnet werden kann. Medien spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle, aber nicht als begründende Faktoren. Trotzdem sollte man die Grundidee nicht vorschnell entsorgen. Die Fragen, die Flusser stellt, lauten: Was ist mit den Lösungen, die durch die Wissenschaft angeboten und vorwiegend schriftlich kommuniziert werden? Wie werden diese Lösungen problematisiert? Welche Rolle spielen die digitalen Neuen Medien und ihr Bezug zur Diagrammatik? In Überbietung der Forderung nach einer »Kritik der ikonischen Vernunft«140 wäre also die mit Flusser zu stellende Frage: Gibt es eine Art Dialektik der diagrammatischen Aufklärung? Geprüft werden kann diese Frage am Gegenstandsfeld pseudowissenschaftlicher Diskurse, in denen sich eine Transformation von wissenschaftlichen Fragestellungen in populärkulturelle Mythen vollzieht. Beispiele für solche Transformationen sind schnell gefunden. Diese Mythen sind in der Regel strukturgleich gestrickt und haben klar identifizierbare historische Vorbilder. Einer der bekanntesten zeitgenössischen Mythen ist der sogenannte Cydonia-Mythos. Demnach existieren auf dem Mars die Monumente einer untergegangenen Mars-Kultur, namentlich ein riesiges menschenähnliches Gesicht und zahlreiche Pyramiden. Aufgenommen von den Marssonden der US-amerikanischen Mariner- und Viking-Missionen werden diese Informationen (wie könnte es anders sein) von der NASA systematisch geheim gehalten. Der historische Vorläufer dieses Mythos ist die Ende des 19. Jahrhunderts geführte Debatte um die Existenz von künstlichen Kanälen auf dem Mars. Bereits in dieser Zeit wurde aus unscharfen Beobachtungen von symmetrischen Strukturen auf die Existenz 139 | Vgl. Flusser: Medienkultur, S. 45ff. 140 | Vgl. Heßler/Mersch: »Bildlogik«.

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D IAGRAMMATIK einer hoch entwickelten Kultur geschlossen. Damals wie heute hat die Verbesserung in der Beobachtungstechnologie zwar den Mythos in Erklärungsnot gebracht – einen Verschwörungstheoretiker schrecken hochauflösende Aufnahmen durch neuere Mars-Missionen, die das vorgebliche Gesicht und die Pyramiden als natürliche Felsformation entlarven, aber wenig. Mit sehr ähnlichen Versatzstücken wie der Cydonia-Mythos arbeiten auch aktuelle Neuauflagen des Atlantis-Mythos. Seit vielen Jahren hallt das Echo einer Ende des 19. Jahrhunderts in okkultistischen und theosophischen Kreisen, so bei Helena Blavatsky und Rudolf Steiner, beliebten These durch die Medien, dass einst eine heute verlorene Hochkultur existierte, deren Nachfahren frühe Zivilisationen wie Ägypten oder die Kulturen in Meso- und Südamerika bei ihren Bauwerken inspirierte. Meist mit dem verlorenen Atlantis identifiziert, fahndet man nach den Spuren dieser Hochkultur heute vor allem anhand der Pyramiden von Gizeh und der Sphinx. Als Zeitraum für den Untergang der alten Hochkultur und die Gründungszeit der neuen Kulturen wird dabei eine Vorzeit um das Jahr 10.500 v. Chr. ins Auge gefasst. Sowohl der Cydonia- als auch der Atlantis-Mythos weisen zahlreiche Parallelen in der narrativen Struktur der Deutungsschemata zu ihren historischen Vorbildern (sowie untereinander) auf. Dazu gehört, dass die Vertreter dieser Mythen sich als Außenseiter stilisieren, die gegen ein dogmatisches Herrschaftssystem ankämpfen und die ›Wahrheit‹ suchen. Dazu gehört auch, dass (was für sich genommen schon interessant genug ist) auf eine verlorene Hochkultur referiert wird, die als Missing Link bei der Erklärung vermeintlich in der Wissenschaft unklarer Phänomene und Probleme helfen soll. Etwas weniger bekannt ist dagegen, dass diese selbstredend mehr an Spekulation als an Fakten interessierten Diskurse auch eine gemeinsame diagrammatische Signatur teilen. Anhand dieses Aspektes populärer Mythen kann man dem Problem auf die Spur kommen, wie ein diagrammatisches Interpretationsschema mit dem Prozess kultureller Mythenbildung, der im vorliegenden Fall auf technische Virtualisierungsprozesse abgestützt ist, zusammenspielt. Dazu ist es freilich nötig, Mythen nicht nur als etwas Narratives, sondern auch als etwas Anschauliches zu begreifen. Aristoteles’ Begriff des ›mythus‹ als eines am Theater geschulten diagrammatischen Ableitungsschemas für Empfindungen und Gedanken, findet eine indirekte Ergänzung durch eine Verbindung des Mythos-Begriffs mit dem Kant’schen Schematismus im Werk des Philosophen Jean-Luc Nancy. Nancy geht davon aus, dass der Mythos eine Struktur ist, die sich der Unterscheidung von Fakt und Fiktion entzieht. Mythisches Denken begreift Nancy als »das Denken einer gründenden Fiktion oder einer Gründung durch die Fiktion.«141 Mythen erklären faktische Weltzusammenhänge über fiktionale Begründungsmuster, die sich ihrerseits aber 141 | Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 114 (im Orig. kursiv).

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK gegenüber der Validierung ihrer Begründung abdichten. Mythen etablieren einen begründenden Zusammenhang, postulieren aber gleichzeitig die Uneinholbarkeit dieses begründenden Zusammenhangs. Für Nancy sind Mythen daher sich als geschlossen darstellende, tatsächlich aber offene und mit sich selbst nicht-identische Figurationen. Diese These kann anhand pseudowissenschaftlicher Mythen nachvollzogen werden. Der Cydonia- und der neuere Atlantis-Mythos sind darin ›pseudowissenschaftlich‹, dass sie die jeder Wissenschaft inhärente Möglichkeit, das von der Wissenschaft angebotene Erklärungsmodell könnte auch anders (kontingent) sein, zum Ausgangspunkt einer Spekulation machen, in der just diese Möglichkeit der Kontingenz wissenschaftlicher Lösungsvorschläge virtualisiert wird. Zurückgegriffen wird dazu auf wissenschaftliche Verfahren, die unter Umgehung konsistenter argumentativer Verfahren auf der narrativen Ebene durch fiktionale Elemente wie komplexe ›Was-wäre-wenn‹-Szenarien ersetzt werden. Der Prozess der für wissenschaftliche Verfahren kennzeichnenden Verwandlung von Möglichkeit in Wahrscheinlichkeit ist so arrangiert, dass eine Lösung für das Ausgangsproblem im Sinne einer plausiblen Wahrscheinlichkeitseinschätzung dank einer neuen Möglichkeit virtualisiert bleibt. Durch diese innere Verschiebung sind populäre Mythen gegenüber Kritik abgeschlossen, gegenüber ihrer permanenten Erweiterung aber offen. Moderne Mythen sind also Möglichkeitsexpositionen, die sich gegen eine auf Fakten gestützte Negation der sie begründenden Möglichkeit abdichten. Als Figurationen sind Mythen aber keine ausschließlich narrativen Muster. In Anlehnung an die vermittelnde Leistung der Schemata bei Kant begreift Nancy mythische Figurationen vielmehr auch als ikonische Figurationen, welche die Anschauung eines anonymen ›Anderen‹ (z.B. eines anderen Menschen oder der Natur) vermenschlichen und dadurch als Teil ihres Begründungszusammenhangs exponieren.142 Mythen erzählen nicht nur etwas, sondern ihre Erzählung basiert auf der Einsicht in die Perspektive eines ›Anderen‹. Dieser ›Andere‹ muss kein Mensch sein, sondern kann als anonyme Instanz verschieden besetzt werden. Im Fall der pseudowissenschaftlichen Mythen handelt es sich bei dem Anderen um die normative Regularität der Rationalität und Plausibilität wissenschaftlicher Erklärungsmuster, die in Begriffen wie Objektivität und Wahrheit soziokulturell manifestiert ist. Für moderne pseudowissenschaftliche Mythen ist es daher fundamental wichtig, ein visuelles Kernphänomen zu haben, das sich im Rahmen eines als ›wissenschaftlich‹ etikettierten Beweisverfahrens ausspielen und so in ein narratives Deutungsmuster überführen lässt. Die mythische Narration entsteht also aus einer ›methodischen‹ Auslegung eines visuellen Kernphänomens, welches zugleich als die gründende Fiktion des Mythos

142 | Vgl. Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, S. 120ff.

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D IAGRAMMATIK fungiert. Populäre pseudowissenschaftliche Mythen sind daher häufig Mythen der Sichtbarkeit und der visuellen Evidenz.143 Hier kommt Flussers kulturkritische Idee ins Spiel: Die Mythenbildung erfolgt unter Einsatz aller verfügbaren Medien. Dieser Einsatz zielt auf die Herstellung visueller Evidenz ab. Ein Riss besteht aber dort, wo dieser medientechnische Einsatz nicht mehr in schriftlich vorgeprägte Argumentationsmuster der Wissenschaft (also z.B. Verfahren der Textkritik, der hermeneutischen Rationalität etc.) eingebunden ist. Zwischen Bildund Schriftevidenz klafft eine Erklärungslücke, die Flussers Forderung nach einer neuen Einbildungskraft im Sinne eines ›kritischen‹ Umgangs mit Technobildern plausibel werden lässt. Geht man davon aus, dass Technobilder diagrammatische Bilder sind, müssten es also diagrammatische Verfahren sein, die in der populären Mythenbildung eine fundamentale Rolle spielen. Man kann diese diagrammatische Komponente sehr schön am Beispiel der in verschiedenen Büchern und Fernsehdokumentationen vorgetragenen These aufzeigen, der Bau der Pyramiden in Gizeh sei nur als Verweis auf eine mythische Urzeit um das Jahr 10.500 v. Chr. zu erklären.144 Diese These ist genauso gestrickt wie der Cydonia-Mythos zum angeblichen Mars-Gesicht und den Pyramiden auf dem Mars und wurde auf der Grundlage einer diagrammatischen Referenzialisierung mit der Sternenkonstellation des Orion entwickelt.145 Dieser sogenannten ›Orion-Korrelations-Theorie‹ zufolge sind die Pyramiden angeblich präzise nach dieser Sternenkonstellation ausgerichtet. Dank der Projektion der architektonischen Proportionen auf den Sternenhimmel ergeben sich Vergleichsmöglichkeiten mit dem altägyptischen Osiris-Mythos, der wiederum als Gründungsmythos der ägyptischen Kultur eine Referenz auf den ›Anfang der Zeit‹ enthält, die ihrerseits in einen Zeitraum jenseits der Anfänge der ägyptischen Zivilisation fällt, also mindestens vor das Jahr 5.000 v. Chr. Nicht nur, dass mit der Beobachtung des Sternenhimmels und der Analyse seiner Funktionsmechanismen hier so etwas wie eine Urszene

143 | Hierin knüpfen sie direkt an die Verbindung von visueller Argumentation und Evidenz an, wie sie für die Geschichte der Objektivität seit dem 19. Jahrhundert typisch ist. Vgl. Datson/Galison: Objektivität. 144 | Exemplarisch sei hier eine Dokumentation für die Reihe History’s Mysteries des TLC-Discovery-Channels mit dem Titel Genesis in Stone (Roel Oostra, USA 1995) herangezogen, an der auch der Westdeutsche Rundfunk beteiligt war. 145 | Vorgetragen wurde diese These in einer ganzen Reihe von Büchern, zuerst durch den Ingenieur Robert Bauval, inzwischen in einer über Ägypten hinaus generalisierten Form, seit den 1990er Jahren auch durch den britischen Journalisten Graham Hancock. Vor allem letzterer bietet aktuell nur einen Aufguss von Thesen, die sich bei anderen Autoren des Genres, wie Johannes von Buttlar, Erich von Däniken, Zecharia Sitchin und vielen anderen, seit langer Zeit finden.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK diagrammatischen Denkens überhaupt rezitiert wird146 – Untersuchungen über die Proportionen der Pyramiden füllen inzwischen Bibliotheken. Die Pyramiden gelten als in Stein gehauene mathematische Modelle, die es genauer zu erforschen gelte. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: Man behauptet, die symmetrische Ausrichtung nach Ost-West und Nord-Süd setze ein Wissen über die Kugelgestalt der Erde voraus. Die Cheops-Pyramide soll die Kreiszahl Pi in ihren Proportionen enthalten, und ein mathematisches Modell der nördlichen Hemisphäre im Verhältnis 1:43.200 sein. Zufall sei das natürlich nicht. Vielmehr müsse die Möglichkeit ernst genommen werden, dass die Pyramiden als ein »advanced system of mathematics – a technology at a time when this isn’t suppose to have existed« anzusehen wären.147 Was folgt aus dem vorliegenden Rätsel? Für die Protagonisten folgt: »primitives just emerging from the stone age«148 könnten hier nicht am Werk gewesen sein. Die Ägypter seien deshalb eine so hoch entwickelte Kultur gewesen, weil sie sich auf das Wissen einer anderen, verlorenen Kultur abgestützt hätten. Das diagrammatische Phänomen, um das sich die These von dieser Atlantis-Gizeh-Orion-Verbindung dreht, besteht also darin, die CheopsPyramide als mathematisches Modell zu begreifen, dessen Proportionen zum Diagramm eines Mythos werden: Die Pyramiden sind demnach in der vermeintlich exakten diagrammatischen Ausrichtung ihrer Proportionen auf das Sternenbild des Orion als visuelle Veranschaulichungen des Osiris-Mythos zu betrachten. Interpretiert werden die Pyramiden somit als diagrammatische Veranschaulichungen eines Mythos, der auf eine uneinholbare Zeit vor dem eigentlichen Beginn der Geschichte referiert. Dieser These zufolge wurden die Pyramiden von den Ägyptern mit dem Ziel gebaut, den Mythos architektonisch ins Bild zu setzen. Selbstredend gilt: Der Ansatz, Bauwerke wie die Pyramiden als Schaubild-artige »Rätsel in Stein«149 zu interpretieren, ist auch für einen seriösen Zweig der archäologischen Forschung charakteristisch. Die Relationen von historischen Gebäuden werden (wie z.B. die Kathedralen als Versinnbildlichungen der Bibel etc.) mit mythischen Erzählmustern verbunden. Diese erst einmal plausible Ausgangskonstellation wird aber da zum Rätsel, wo die Referenz zwischen Bauwerk und Mythos unklar ist. Medientheoretisch ist diese – für die Diagrammatik-Forschung generell höchst interessante – Kreuzung aus mythologischen, astronomischen, geographischen und architektonischen Elementen dann von Interesse, 146 | Vgl. Bogen: »Schattenriss und Sonnenuhr«. 147 | Robert Bauval in Genesis in Stone. 148 | Graham Hancock in Genesis in Stone. 149 | Das ist der Titel einer Dokumentation des ZDF, die sich mit der Erforschung der Sphinx befasst, dabei kritisch auch auf die Orion-Thesen eingeht und in der Reihe Sphinx ausgestrahlt wurde (Rätsel in Stein, Martin Papirowski, Louise Wagner-Roos, GER 2007).

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D IAGRAMMATIK wenn zur Veranschaulichung der Beweisführung die Simulationspotenziale technischer Medien verwendet werden. Mit den operativen Mitteln der digitalen Bildbearbeitung in Computer Generated Imagery (CGI) wird die Verknüpfung der architektonischen Proportionen mit dem Mythos, wie im vorliegenden Fall zum Beispiel durch den Vergleich mit Sternenbildern, anschaulich durchgespielt und die hypothetische Spekulation visualisiert. In pseudowissenschaftlichen Dokumentationen wird die Erzeugung von Evidenz fast vollständig durch das In-Szene-Setzen von Ähnlichkeitsrelationen übernommen. Die Rekonfiguration der exponierten Relationen des Diagramms trägt die Beweislast der möglichen Schlussfolgerungen. Ausgeklammert bleibt aber der narrative Teil des kulturellen Kontextes, also der Rückgriff auf die Geschichte. Im Fall der Orion-These ignorieren die Protagonisten des Diskurses zum Beispiel die gesamte Geschichte der Evolution des Pyramidenbaus in Ägypten. Der Vergleich der aus den Proportionen der Cheops-Pyramide extrapolierten Relationen mit dem Sternenbild des Orion und die Verknüpfung der dabei auszumachenden Ähnlichkeiten mit dem altägyptischen Osiris-Gründungsmythos führen somit zu einer in sich selbst geschlossenen, deduktiven Konstellation, die von den Protagonisten der These zum Gegenstand eines digital realisierten Gedankenexperiments gemacht wird. Ihre Frage lautet: Was folgt aus der Rekonfiguration der Teile? Hier spielt die Abduktion eine Rolle, die, wie sich zeigen wird, aus der Interpretation der Pyramiden als Diagramm eines Mythos ein neues mythisches Diagramm hervorgehen lässt. Die Protagonisten der Orion-Korrelations-Theorie gehen bei der Rekonfiguration von folgendem Problem aus: Die Ähnlichkeit zwischen den Pyramiden und dem Orion-Sternenbild wird zwar geltend gemacht, aber es ergibt sich für die Zeit des Pyramidenbaus keine perfekte Symmetrie. Diese erzielt man, wenn man die Eigenbewegung des Firmaments, also die schwankende Eigenrotation der Erde (Präzession), einrechnet und die Gesamtkonstellation nicht nur als räumliches, sondern auch als zeitliches Arrangement begriffen wird: Überblendet man das Gizeh-Arrangement mit dem Sternenhimmel, so ergibt sich eine perfekte Symmetrie um das Jahr 10.500 v. Chr. Zu allem Überfluss lässt sich eine äquivalente Form angeblich auch für die Sphinx nachweisen – bei Graham Hancock, in der typischen Manie der Suche nach einem verborgenen Muster, sogar noch für eine ganze Reihe anderer, über den ganzen Globus verteilter Bauwerke. An dieser Stelle kippt das Diagramm eines Mythos um in ein neues mythisches Diagramm: Denn wie erklärt man dieses (von der seriösen Forschung widerlegte) Phänomen?150 Abhilfe bietet nicht der Rückgriff auf wissenschaftliche Deutungsschemata, sondern auf Mythen, im vor150 | An Publikationen sind u.a. zu nennen: Lawton/Ogilvie-Herald: Giza – The Truth; Legon: »The Orion Correlation«; Malek: »Orion and the Giza Pyramids«. Besonders unschön für die Vertreter der These ist der Umstand, dass ihre evaluierten Daten bei korrekter Berechnung durch den Computer zu einem völlig ande-

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK liegenden Fall auf den Atlantis-Mythos. Die Pyramiden in Ägypten gelten den Mythomanen als Monumente einer vorzeitlichen Kultur mit enormem Wissensstand (und mehr »Weisheit« als sie der gegenwärtigen Zivilisation zugestanden wird). Diese Kultur ist um das Jahr 10.500 verschwunden und hat, der These zufolge, zahlreiche Kulturen rund um den ganzen Erdball zu ihren Bauwerken inspiriert. Der neue (alte) Mythos lautet also: Es gibt ›wissenschaftliche‹ Beweise für eine hoch entwickelte, mythische Urkultur, die eine Botschaft der Weisheit in Gestalt der architektonischen Schaubilder der frühen Zivilisationen in die Gegenwart transportiert hat.151 Die Protagonisten der Orion-Korrelations-These kreieren selbst einen Gründungsmythos, der sich als Mythos der Objektivierung entzieht.152 Kultur- und medienwissenschaftlich aufschlussreich ist, dass diese Verklammerung eines mythischen Schaubilds und des Schaubilds eines Mythos methodisch auf allen drei Ebenen des Peirce’schen Diagrammbegriffs verortet werden kann. In seiner performativen Entfaltung basiert dieses Kippbild auf dem Zusammenspiel von digital erzeugten und rekonfigurierten Relationen, Vorstellungsgehalten und Erzählmustern. Dieses In-Szene-Setzen der Beweisführung ist jedoch kulturell dahingehend als ein neues mythisches Schaubild zu betrachten, als es aus seiner gegen sich selbst verschobenen Logik heraus zum Schaubild eines neuen Mythos wird, der – als Mythos – soziokulturell wirksame Deutungsschemata produziert. Es ist deshalb vermutlich richtig zu argumentieren, dass hier ein gegenläufiger Prozess am Werk ist: Während die Wissenschaft Fik-

ren (diagrammatischen) Ergebnis führen. Eindrucksvoll dokumentiert ist das auf http://digilander.libero.it/paolopi/index.htm. 151 | Allein bei einem solchen Argument, bei dem Phänomene einer parallelen und unabhängigen Evolution der Kulturen auf ein einheitliches Deutungsschema reduziert werden, sollten die ideologiekritischen Alarmglocken läuten. Die Vision, Atlantis als Hort einer überlegenen (›arischen‹ – so bei Blavatsky und Steiner) Kultur anzusehen, ist denkbar alt und ihre Folgen, zumal im Deutschland der Zwischenkriegszeit, sind bekannt. Es ist eine gut dokumentierte Tatsache, dass führende Nationalsozialisten fest an die Existenz einer hoch entwickelten arischen Rasse aus Atlantis geglaubt haben. 152 | Zu den unerfreulichen Aspekten der Argumentation der Beteiligten gehört es z.B., jede Art von Kritik sofort als Reaktion einer engstirnigen, dogmatischen und potenziell faschistoiden Wissenschaftlerclique anzusehen, die das ›wahre Wissen‹ unterdrücken möchte. Hier erweist sich der Diskurs als offen paranoid: Jede wissenschaftlich begründete Kritik wird als Versuch einer Marginalisierung und Diskriminierung durch eine größere und mächtigere Instanz (die ›Wissenschaft‹) angesehen, die sich selbst untreu geworden ist, weil sie, wie sie es tun sollte, nicht einmal die Möglichkeit in Erwägung ziehen will, dass ihr Bild der Geschichte falsch sein könnte.

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D IAGRAMMATIK tionen in Fakten übersetzt, verwandelt die Pseudowissenschaft Fakten in Fiktionen. Dennoch ist das nur die halbe Wahrheit.153 Wissenschaft und Pseudowissenschaft trennt ein wesentlicher Unterschied: Die Wissenschaft übersetzt auch zwischen Potenzialität und Virtualität, wohingegen pseudowissenschaftliche Diskurse sich in der Virtualität einbunkern: Wo die Wissenschaft virtuelle Möglichkeiten in die Plausibilität einer ›Wahrscheinlichkeit‹ kontrollierbarer und erwartbarer Möglichkeiten depotenziert, übersetzen pseudowissenschaftliche Diskurse Virtualität in die Plausibilität einer ›Wahrscheinlichkeit‹ im Sinne von unkontrollierbaren und nicht-erwartbaren Möglichkeiten. Wirkliche Möglichkeiten werden in einen Raum möglicher Möglichkeiten vorschoben und einer unaufgelösten Ambivalenz aus Fakt und Fiktion überlassen. Diese immer schon verschobene Möglichkeit enthält eine direkte Referenz auf die Kontingenz wissenschaftlichen Wissens: Es ist ja stets ›möglich‹, dass das alternative Erklärungsmuster doch stimmt und die Wissenschaft sich, wie so oft in ihrer Geschichte, geirrt hat.154 Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft liegt also in der ›Politik der Möglichkeit‹, die sie betreiben. Rationalität zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, wie sie mit Möglichkeiten umgeht. Und hier zeigen die pseudowissenschaftlichen Diskurse ihre Irrationalität: An die (begründete) aporematische Haltung wissenschaftlicher Skepsis anknüpfend, derzufolge jede Lösung reversibel ist, wird die Frage nach der alternativen Möglichkeit in eine rhetorische Skepsis verwandelt, die nicht mehr an ihrer Beantwortung interessiert ist, sondern eine Geschichte fortschreiben will, aus der jede kritische Rückfrage eskamotiert ist.155 Die Analyse der mythopoetischen Logik des pseudowissenschaftlichen Diskurses zeigt, dass die Protagonisten in einem Punkt stark und in einem Punkt schwach sind: Stark sind sie darin, aus der digitalen Inszenierung der Kombinationsmöglichkeiten von Formen und Relationen einen Möglichkeitsraum narrativer Beziehungen zu eröffnen. Schwach sind sie, wenn es darum geht, diesen Möglichkeitsraum narrativer Konsequenzen als Schlussfolgerungen zu validieren und den Rückbezug auf den kulturhistorischen Kontext und das gesicherte Wissen zu leisten. Es entsteht eine Diskrepanz zwischen der in sich kohärenten Logik des Diagramms und dem Kontext seiner Verwendung für schlussfolgernde Zwecke. Diese Diskrepanz ist es, die Flusser als einen Riss zwischen der Kultur des Technobildes und der Kultur der Schrift beschreibt, und die zum 153 | Vgl. für eine Kritik der gängigen Gegenüberstellung von Mythos und Logos auch Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 18f., S. 54ff. 154 | Eine gerne verwendete Analogie der Vielzahl ›alternativer‹ Forscher ist es, die Geschichte von Galileo Galilei als Paradigma ihrer eigenen Situation zu rezitieren. 155 | Vgl. hier auch Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 204f., S. 219f., S. 319f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Platzhalter kulturkritischer Bemühungen wird. Das diagrammatische Technobild figuriert in einer solchen Lesart als eine dekontextualisierte Erkenntnispraxis. Sie ist das Produkt des technologischen Logos des Computers, der eine ihm eigene Realität kreiert. Indifferent gegenüber kritischer Validierung ist es die ikonische Vernunft der digitalen Visualisierungen, die in Aberglauben umschlägt. Wissen wird durch visuelle Evidenz ersetzt und das Produkt eines technologischen Positivismus zur Maschinerie eines neuen mythologischen Scheins.

IV. Der Computer als diagrammatisches Medium? Durch das Beispiel der Verwendung von digitaler Bildlichkeit im Rahmen einer pseudowissenschaftlichen Dokumentation wird die Fähigkeit des Computers angesprochen, auf effiziente Weise diagrammatische Zeichensysteme zu formalisieren und zu prozessieren. Diese kulturkritische Herangehensweise macht als kulturtheoretische Aussage Sinn. Auf der medientheoretischen Achse bleibt der Bezug des Computers zur Diagrammatik aber natürlich unterbestimmt. Es scheint, als verfahre der Computer besonders diagrammatisch. Als Gewährsmann für diese These kann erneut Vilém Flusser bemüht werden. Herrscht in Flussers früheren Schriften eine negative Sicht auf die neuen Medien wie Fernsehen oder Film vor, ändert sich dies mit dem Computer. Das hängt bei Flusser eng mit den durch die Vernetzung des Computers gegebenen dialogischen Potenzialen zusammen. Diese Diskussion, die sich heute als Diskussion um die Medientheorie des Internets von der Theorie des Computers abgekoppelt hat, hat bei Flusser aber noch eine Ergänzung gefunden, die gerne als bildtheoretisches Argument gelesen wird: Nicht nur die Vernetzung der Rechner macht den Computer begrüßenswert. Verschlagwortet unter den »projizierenden« und »komputierenden« Qualitäten der Technobilder spricht Flusser dem Computer das Potenzial zu, eine Kultur des »Entwerfens« denkbar werden zu lassen.156 Diese zweite Sicht auf den Computer gibt so etwas wie eine frühe Matrix einer Theorie des Computers im Horizont der Diagrammatik ab. Was ist nun der Kern dieser Diskussion? Zunehmend tritt für Flusser der Umstand hervor, dass Computer nicht nur aufgrund ihrer Möglichkeiten zur Vernetzung Medien sind, sondern auch aufgrund ihrer spezifischen Art, Zeichen zu digitalisieren. Der Computer ist in der Lage, sehr verschiedene Zeichensysteme zugänglich zu machen, also im Revier verschiedener Medien zu wildern (›Medienintegration‹), wie umgekehrt die anderen Medien auf die Möglichkeiten der Digitalisierung der Zeichen durch den Computer zugreifen. Doch es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Der Computer muss nicht zwingend als Medium verwendet werden. Er kann auch als Maschine zur Steuerung anderer Maschinen eingesetzt werden. 156 | Vgl. Flusser: Vom Subjekt zum Projekt, insb. S. 9ff.

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D IAGRAMMATIK Eine hohe Flexibilität bei der Integration von Zeichensystemen geht einher mit hoher Flexibilität operativer Handlungen, die mit dieser Integration gesteuert werden können. So ist es möglich, die automatischen Rechenprozesse der vermittelnden semiotischen Modellbildung mit der steuernden Maschinensprache zu verschalten. Aufgrund seines Potenzials zur Modellbildung ist der Computer in der Lage, empirisch relevante Steuerungsvorgänge zu kontrollieren. Er kann als ein Medium zur Weltrepräsentation in maschinellen Prozessen verwendet werden. Zum Beispiel kann ein Roboter mit Modellrepräsentationen verschiedener Umwelten ausgerüstet werden, damit er in jeder denkbaren Umwelt effektiv zu agieren in der Lage ist. Aufgrund seiner Verwendung als multimodaler Operationsraum und als Steuerungsinstrument ist der Computer als das ›performative‹ Medium schlechthin beschrieben worden.157 Computer gelten als Medien eines Probehandelns, das auf Virtualisierungsprozessen basiert – mit nicht nur semiotischen, psychischen etc. Folgemöglichkeiten, sondern auch konkret materiellen Realvorgängen.158 Geht man davon aus, dass Medien Zeichen als Formen zugänglich machen, dann kann man die These vertreten, dass audiovisuelle Medien wie der Film oder das Fernsehen Zeichensysteme in ihrer ikonisch-indexikalischen Dimension adressieren, der Computer Zeichensysteme aber in ihrer diagrammatisch-symbolischen Dimension. Diese Differenz ist nicht nur durch den Unterschied der BildIkons und der Diagramm-Ikons beschrieben. Von einer diagrammatischsymbolischen Dimension zu sprechen bedeutet, die Verwendungsweisen mitzubedenken. Gemeint ist nichts weniger als die von Peirce erarbeitete These einer diagrammatischen Grundstruktur aller Zeichen! Zu bedenken ist dabei, was nach Peirce die Qualität der Semiose als diagrammatischem Prozess ausmacht: die Möglichkeit zum semiotischen Probehandeln. Die Möglichkeit, dass Zeichen ein Probehandeln erlauben, das von den unmittelbaren Folgen in der Wirklichkeit abgelöst ist, ist eine pragmatische Konsequenz aus dem diagrammatischen Handlungsspielraum der Zeichen. Zeichen haben der Welt gegenüber immer einen ›diagrammatischen Modellcharakter‹. Der Medientheoretiker Hartmut Winkler hat dies in einer nahezu perfekten Zusammenfassung des Peirce’schen Grundgedankens so formuliert: »Zeichen sind Schemata. Sie verdoppeln nicht die Welt, sondern sie liefern ein knappes, strukturiertes Raster, das die extensive Vielfalt der Welt reduziert, strukturiert und lesbar macht. Zeichen sind dem Bezeichneten gegenüber auf spezifische Weise verdichtet;

157 | Vgl. Winkler: »How to do Things with Words, Signs, Machines«. Ein Beispiel von Winkler ist eine Cruise Missile, die sich auf Grundlage einer einprogrammierten dreidimensionalen Karte im Raum bewegen kann und in der Lage ist, sich an das Terrain anzupassen und autonom zu agieren. 158 | Diese Bestimmung des Computers ist als eine Grundbestimmung aller Medien zuletzt durch Hartmut Winkler stark gemacht worden.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK die Erfahrung mit vielen konkreten Pferden (und die Erfahrung mit Äußerungen über Pferde) mündet in das abstrakte Konzept ›Pferd‹.«159 Der Computer ist demnach ein diagrammatisches Medium, weil er nicht bloß diagrammatische Zeichen verarbeitet: Computer mediatisieren die diagrammatische Dimension der Semiose selbst.160 Die große Parallele zwischen dem Computer als Medium und der Diagrammatik scheint darin zu liegen, dass die Digitalisierung von Zeichensystemen operative Möglichkeiten im Umgang mit diesen Zeichensystemen ermöglicht, die funktional mit der diagrammatischen Verwendung von Zeichensystemen vergleichbar sind. Diese These vom ›diagrammatischen Medium Computer‹ kann in einer eher technischen Variante und einer eher anthropologischen Variante formuliert werden. Die erste These wäre nichts weniger als eine Neuformulierung der Debatte um Künstliche Intelligenz. Sie besagt, dass der Computer durch die Automatisierung seiner Prozesse selbst in der Lage ist, diagrammatisch zu operieren. Der Computer funktioniert diagrammatisch. Die zweite These besagt, dass der Computer nur das effizienteste Medium ist, um diagrammatische Zeichenpraxen in der Kultur anzuwenden. Der Computer greift auf die ganze Breite der Darstellungspotenziale von Zeichensystemen in ihrer diagrammatischen Funktion zurück und privilegiert durch seine Möglichkeiten der Digitalisierung zunehmend die diagrammatische Dimension der Semiose. Beide Thesen werden dort, wo sie anklingen, für die Ebene der Darstellung und der Technik formuliert. Seltener wird dagegen der Aspekt der Verwendung bedacht. In dieser Perspektive lautet die Frage: Wie ist das diagrammatische Probehandeln, das immer ein Probehandeln mit Zeichen in Medien ist, mit den durch die Computer ermöglichten Formen des Probehandelns verflochten? Und das provoziert eine zweite Frage: Was ist ein 159 | Winkler: »Zeichenmaschinen«, S. 213f. 160 | Diese sehr tief greifende These hat kybernetisch inspirierte Autoren wie Niklas Luhmann dazu veranlasst, im Computer dasjenige Medium zu sehen, das nicht einfach Teilaspekte der Semiose, sondern die Semiose selbst technisch operationalisiert und deshalb aus der gesellschaftlichen Kommunikation herausfällt. Solch globale Einschätzungen führen allerdings nicht sehr weit. Der Computer ist allein deshalb kein universelles Medium, sondern in seiner Eigenschaft als Medium partikular, spezifisch und begrenzt, weil er Zeichensysteme integriert und in die digitale Form übersetzt. Der Computer digitalisiert andere Medien, indem er sie unter seinen Bedingungen in Szene setzt und durch den digitalen Code eine performative Hervorbringung ihrer Leistungen erlaubt. Aber ebenso wenig, wie die diagrammatische Dimension der Semiose alle Funktionen der Semiose umfasst, gibt es Anlass, davon auszugehen, der Computer sei der Endpunkt der Mediengeschichte, gilt doch auch das Umgekehrte: Andere Medien machen sich die Digitalisierung der Zeichen zu Nutze und verändern auf diese Weise ihre eigenen Performanzen. Vgl. den Ansatz der Beiträge in Engell/Neitzel (Hg.): Das Gesicht der Welt.

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D IAGRAMMATIK Kriterium, das es erlaubt, zwischen dem semiotischen Probehandeln und dem empirischen Handeln zu unterscheiden? Hartmut Winkler hat dieses Kriterium darin gesehen, dass das semiotische Probehandeln reversible Folgen hat, das praktische Handeln dagegen irreversible Folgen.161 Dieses Kriterium ist prinzipiell richtig. Dennoch muss man betonen, dass es nur als graduelle Unterscheidung plausibel ist.162 Daher ist es notwendig, semiotisches Probehandeln nicht als per se reversibel zu bezeichnen, sondern (im Einklang mit Peirce’ Pragmatischer Maxime) nur dann, wenn die Bedeutung des Probehandelns bereits in den Möglichkeitshorizont möglicher irreversibler empirischer Folgen eingerückt ist. Schon der Begriff des Probehandelns zeigt, dass sich die Bedeutung dieser Handlungen aus der Möglichkeit nicht-probehafter empirischer Handlungen ergibt.163 Eine Zwei-Welten-Ontologie, die zwischen einer ›ersten Welt‹ der empirischen Handlungen und einer ›zweiten Welt‹ der semiotischen Handlungen strikt unterscheidet, hilft nicht weiter.164 Vielmehr kommt es darauf an, die Übersetzung zwischen der zweiten 161 | Vgl. u.a. Winkler: »Zeichenmaschinen«, S. 213f. 162 | Es ist zwar nur eine Vermutung, aber die Frage nach Reversibilität hängt wohl auch von der Art des Systems ab, das die Handlungen ausführt. Für das Bewusstsein des Menschen gilt das Kriterium zum Beispiel nicht ohne Weiteres. Das Gehirn kann nicht problemlos zwischen den Folgen einer symbolischen und einer praktischen Handlung unterscheiden. Es stimmt, dass die Furcht vor körperlichen Schmerzen als ein Ausdruck primärer Selbsterhaltung oberste Priorität hat und man infolgedessen irreversible empirische (körperliche) Handlungen zu vermeiden versucht. Zu bedenken bleibt aber: Die zeitweilig non-verbal kommunizierte Ablehnung eines Kindes durch die Eltern oder die zeitweilige Perspektivenlosigkeit im Beruf – beides reversible Zustände mit semiotischem Charakter – können für das zeichenverarbeitende Bewusstsein härtere Langzeitfolgen (inklusive körperlicher Reaktionen) haben als ein bei einem Überfall unwiederbringlich herausgehauener Schneidezahn. Zugespitzt formuliert: Die Existenz der psychosomatischen Medizin ist der beste Beweis, dass das Bewusstsein als verkörpertes Bewusstsein die Zeichenrealität (z.B. Perspektivenlosigkeit) als körperlichen Sachverhalt, also empirisch-konkret, interpretieren kann. Die ›pragmatische‹ Schlussfolgerung lautet also, dass auch die Zeichenhandlungen je nach Bezugssystem (einem Roboter oder einem Computer sind Beleidigungen, außer in Filmen wie 2001 – Odyssee im Weltraum, egal) sehr wohl unmittelbare, irreversible Folgen haben können. 163 | In letzter Konsequenz bietet wohl auch der Begriff des Spiels keine echte, sondern nur eine rhetorische Alternative, die überdies den Nachteil hat, in vielfältiger Hinsicht vorbelastet zu sein. Theoretisch interessant würde es werden, gelänge es, eine konsequente pragmatische (!) Lesart von Jacques Derridas Konzept der Iteration zu entwickeln und diese Lesart auf das hier unterstellte Abhängigkeitsverhältnis der Probehandlung von der Handlung zu beziehen. 164 | Das gilt umso mehr, wenn man den Gedanken in eine evolutionstheoretische Perspektive einrückt. Zu diskutieren wären dann Thesen wie die in Eibl: Kultur als Zwischenwelt.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Welt der Zeichenhandlungen und der ersten Welt der empirischen Handlungen zu beschreiben – und zwar gemäß der Pragmatischen Maxime so, dass die Konkretisierung der Bedeutungen der Begriffe der zweiten Welt aus der Evaluation der möglichen Folgen von Handlungen mit ihnen in der ersten Welt hervorgeht. Der kritische Punkt, an dem sich die in der Frage nach der Darstellung und der Technik halbwegs plausible These einer strukturellen Verbindung zwischen Diagrammatik und Computer bewähren muss, betrifft genau diese Schlussfolgerung auf mögliche praktische Wirkungen. Wie also ist die angenommene diagrammatische Dimension des Computers auf das bezogen, was Helmut Pape einmal sehr schön als den ›dramatischen Reichtum der konkreten Welt‹ bezeichnet hat?165 Der Computer ist das bisher leistungsfähigste Medium zur Kalkulation dieser lebensweltlichen Offenheit. Und es gibt keinen Grund, die Metapher des ›Offenen‹ neoromantisch als Uneinholbarkeit des Konkreten etc. zu idealisieren und prinzipiell in ein Jenseits der technologischen Berechenbarkeit zu verlegen. Wie steht es aber mit diesem immanent Offenen der Praxis in der empirischen Welt? Zunächst ist zu bedenken: Aus dieser Offenheit bezieht die Logik des diagrammatischen Schließens bei Peirce ihren abduktiven Charakter. Deshalb lautet die Vermutung, dass hier ein Problem liegen könnte. Im Kern geht es bei diesem Problem um die Frage, ob die operativen Eingriffsmöglichkeiten, die ein Computer in ein Zeichensystem erlaubt, eine Umgestaltung der Relationen nicht nur dahingehend vorsehen, dass alle im Diagramm angelegten Möglichkeiten durchgespielt werden, sondern dass – aus dieser Kalkulation selbst – neue Verwendungsregeln abgeleitet werden können, die sich auf konkrete performative Praxen beziehen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Regeln nicht nur als Vorschriften angesehen werden, die einen bestimmten Möglichkeitsraum determinieren, sondern als Empfehlungen, die in der Praxis miterzeugt werden, also performativ aktualisiert werden. Der Computer behandelt Regeln auf der technischen Ebene nach einem Ableitungsschema, in dem die Regel den Raum des Möglichen definiert. Computerregeln sind konstitutive Regeln, die Bedingungen angeben, was erfüllt sein muss, damit etwas in Gang kommt. Für das Verhalten der Benutzer wird daraus ein Set von abgeleiteten Regeln erzeugt, die ebenfalls einen Möglichkeitsraum definieren, in dem agiert werden kann.166 Diese Regeln sagen aber nichts über die möglichen Verhaltensregeln der Nutzer, die sich im Umgang mit dem Medium formulieren. Solche Regeln haben einen anderen Status: Es sind keine Vorschriften, die einen klar definierten Möglichkeitsraum eröffnen, sondern performativ realisierte und in der Praxis durch die Wiederholung einer Formänderung unterworfene Empfehlungen, deren Möglichkeit zwischen der Anwen165 | Pape: Der dramatische Reichtum. 166 | Vgl. Searle: Sprechakte, S. 54.

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D IAGRAMMATIK dung und der Regel liegt. Der Verdacht liegt deshalb nah, dass der Computer den Handlungsraum zwischen einem Faktum und einer Regel nicht kreativ im Sinne der Abduktion (die ja von einem Faktum auf eine mögliche Regel schließt) füllen kann, weil er nur einen unzureichenden Begriff für performative Regeln hat (und damit auch für implizites Wissen). Diagrammatisch im Sinne der Möglichkeit diagrammatischer Schlüsse ist der Computer also nicht aus sich heraus.167 Damit wären Hinweise dafür gesammelt, dass der Computer selbst zu so etwas wie diagrammatischen Schlüssen nicht fähig ist. Anders sieht es mit der These aus, der Computer sei das mit Abstand leistungsfähigste Medium, um die Diagrammatik in der Kultur zugänglich zu machen – was einschließt, sie unter seine medialen Bedingungen zu stellen. Digitale Medien haben die für die Diagrammatik günstigen medienkulturellen Bedingungen vervielfacht. Allenthalben werden zum Beispiel vormals ikonisch-indexikalische Kontexte in diagrammatisch-symbolische umgearbeitet (was nicht besagt, dass die ursprüngliche Gestalt verloren geht, sondern nur, dass sie ihren Charakter ändert und Teil anderer Kulturpraxen wird). Für die Plausibilität dieser These gibt es eine Vielzahl an Gegenstandsfeldern, die teilweise schon behandelt wurden. Ein Bereich ist das Spiel – wobei das Spiel als eine kulturelle Ausprägung der generellen virtuellen Dimension in Zeichensystemen anzusetzen ist und umgekehrt die Virtualisierung sich privilegiert in Spielen manifestiert. Wenn Virtualisierung als eine Problematisierung von Lösungen (oder noch neutraler: von Aktualisierungen) betrachtet werden muss, dann ist das Spiel dahingehend virtuell, als es reversibel Möglichkeiten ausprobiert, die im Realen virtuell gegeben sind, aber an das Reale gebunden bleibt. Zum Ausdruck kommt diese Rückbindung in der Möglichkeit, dass aus Spiel schnell Ernst werden kann, also zum Beispiel in einem Rollenspiel das Als-ob-Szenario einer Fiktion nicht mehr alle Handlungen der Spieler zu legitimieren vermag (was in Pen & Paper-Spielen keine seltene Situation ist). Wenn irgendwo, dann wird die Plausibilität der These, der Computer sei das bisher vielleicht effizienteste Medium zur Verfügbarmachung der diagrammatischen Dimension der Zeichen, am Beispiel des Spiels deutlich. Je nach Spielbegriff können auch die Simulationen der Wissenschaft als Spiele angesehen (und von dort aus auf die Kunst zurückbezogen) werden. Wenn also schon die These, dass der Computer selbst nicht 167 | Ob dies eine prinzipielle Grenze des Computers ist oder nicht, wird sich zeigen. Derzeit bieten Computer aber nur in sehr begrenztem Maße die Möglichkeit, Dargestelltes und mögliches Regelfolgen im Umgang mit dem Dargestellten im Sinne der kreativen Möglichkeit aufeinander zu beziehen, dass sie Hypothesen über neue Regelbildungen aus der Praxis heraus entwickeln. Die neuere, differenzlogisch geläuterte, Phänomenologie umschreibt diesen Umstand mit der Möglichkeit, zu einem »Antworten«, in dem man sich »responsiv« »findet«. Vgl. Waldenfels: Grenzen der Normalisierung, S. 214ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK diagrammatisch ›denkt‹, problematisch ist, scheint die abgeschwächte These, dass diagrammatische Schlüsse dennoch innerhalb der vom Computer zur Verfügung gestellten Zeichensysteme allgegenwärtig sind, nicht grundsätzlich falsch. Die Besonderheit des Mediums Computer liegt in den durch die multimedialen Möglichkeiten eröffneten Möglichkeiten zur Koordination von Wahrnehmung, Denken und Handeln anhand der operativen Veränderbarkeit von Zeichen. Eine Möglichkeit, diese Koordination von Wahrnehmung, Denken und Handeln zu beschreiben, wäre es, Computerspiele wie die Guitar Hero-Serie als diagrammatische Spiele zu begreifen. Angesichts des layouts der Spiele liegt es nah, Nelson Goodman heranzuziehen und den symbolischen Gehalt dieses Spiels als digitales Notationssystem anzusehen. Goodmans symboltheoretischen Digitalisierungsbegriff im Rücken müsste man dann den medientheoretischen Digitalisierungsbegriff anführen und auf die digitalisierte Instrumentenspur hinweisen, mit der das digitale Notationssystem in Guitar Hero verknüpft wird. Aus dem digitalen Notationssystem wird das Spielfeld eines Computerspiels. Symbolische und technische Digitalisierung finden, wie in vielen Computerspielen, zueinander. Was für die Darstellungsebene noch gut funktioniert, wird auf der Praxisebene problematischer. Das Spiel kommt erst in Gang, wenn man versucht, die Vorgaben auf dem Spielfeld möglichst genau mit der eigenen Handlung auf dem Instrumenten-Controller abzugleichen. Der Spaß am Spiel ergibt sich unter Rückgriff auf das verkörperte implizite Wissen, immer komplexere Notationsfolgen bewältigen zu können und in Kombination mit der Musik so etwas wie ein Flow-Erlebnis zu erzeugen, also ein Äquivalenzverhältnis von körperlicher Anforderung und zur Verfügung stehenden Bewältigungskompetenzen.168 Eine zweite, interessantere Möglichkeit wäre es, die Auseinandersetzung der Diagrammatik mit Computerspielen dort zu untersuchen, wo die diagrammatische Koordination von Wahrnehmung und Handlung unterschiedlich komplexe Schlussfolgerungen mit abduktivem Charakter impliziert. Ein Beispiel sind Ego-Shooter, in denen aus der kartographischen Anordnung des Spielfeldes und den regulär möglichen Vollzügen in diesem Spielfeld auf die Möglichkeit unmöglicher Handlungen geschlossen wird – also auf die systematischen Begrenzungsregeln der Handlungsmöglichkeiten auf dem Spielfeld. In solchen Reflexionen auf die Grenzen eines Spiels wird ein Vorstellungsbild von in den gegebenen Relationen möglichen und unmöglichen Handlungen entwickelt, das anschließend einer praktischen Überprüfung unterzogen wird. Diese Reflexion auf die Grenze der möglichen Handlungen setzt voraus, dass die Anordnung des Spiels von ihrem inneren Funktionsprinzip her erschlossen wird. Aus den Regeln und Möglichkeiten der 168 | Mit anderem Akzent funktionieren die Sim-Serie oder Tetris nach einem ähnlichen Prinzip.

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D IAGRAMMATIK sichtbaren räumlichen Relationen wird auf die Regeln und Möglichkeiten des Spiels selbst geschlossen und nach Variationsmöglichkeiten gesucht. Angestrebt ist also eine Möglichkeit, das Spiel gewissermaßen ›auszuspielen‹, was eine strategische Variante des schlussfolgernden Rätsellösens darstellt. Im Rückgriff auf das mentale Modell, welches gleichermaßen eine anschauliche Vorstellung vom Spielfeld und eine abstrakte Hypothese über das Spielprinzip enthält, erarbeitet man sich die Struktur des Spiels dank experimenteller praktischer Proben: »The user is trying to build a mental model of the computer model.«169 Lev Manovich hat in Computerspielen daher einen paradigmatischen Anwendungsfall des Abgleichs einer schematischen, mental realisierten Hypothese mit praktischen, materiell realisierten, experimentellen Handlungen gesehen und dies als nichts weniger als die kulturelle Konsequenz aller Neuen Medien betrachtet.170 Solche Anschlüsse der Medientheorie der digitalen Medien in das breite Feld der Game Studies zeigen rudimentär, welche Bedeutung die Diagrammatik bei der Erforschung dieser Medien haben kann. Weitere Bereiche sind Legende: Die Digitalisierung der Schrift durch TabletComputer und Smart-Phones, also der Siegeszug der Gestensteuerung, wären zu nennen, die Digitalisierung der Musik, die bereits bei Guitar Hero angesprochen worden ist, die Digitalisierung der Architektur und vieles, vieles mehr. Prinzipiell aber steht zu vermuten: Auch wenn bei seiner Steuerung diagrammatische Zeichen eine grundlegende Rolle spielen, ist der Computer dennoch nicht selbst diagrammatisch. Der Computer multipliziert und potenziert vielmehr die Anwendungsbereiche diagrammatischer Kulturformen.

3.4 D ENKBILDER UND MENTALE R EL ATIONEN : D IAGR AMMATIK UND F ILM Viele Diskurse, die sich um den Computer als Medium entsponnen haben, entfalten sich bereits mit Blick auf den Film. Dies gilt auch für den Zusammenhang von Diagrammatik und Film. Die Rezeption der Diagrammatik für die Filmtheorie ist, ähnlich wie im Fall des Computers, heute durch die Diskussion um den Zusammenhang von Diagrammatik und digitaler Bildlichkeit beeinflusst. Die digitale Bildproduktion als diagrammatisches Verfahren zu begreifen, ist eine Möglichkeit, um die Digitalisierung des Films im Sinne der kulturwissenschaftlichen Medienwissenschaft zu entschlüsseln. Bisher unverbunden mit der bildwissenschaftlich inspirierten Perspektive ist die in ihrer Breite oft diffuse, selten konkrete, überwiegend implizite, mitunter aber sehr fruchtbare Rezeption der Diagrammatik in der Geschichte der Filmtheorie. Zwei Diskurse sind für die Anwendung der Diagrammatik auf den 169 | Manovich: The Language of New Media, S. 223. 170 | Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 210f., S. 216, S. 222f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Film wichtig, aber auseinanderzuhalten: Die Diagrammatik findet einerseits als ein bildwissenschaftlich inspirierter Teilbereich der Semiotik Eingang in die Filmtheorie. Andererseits stellt die Diagrammatik als ein in der Filmtheorie verhandelter Sachverhalt ein unabhängig von der Bildwissenschaft – und sogar bis zu einem gewissen Grad unabhängig vom Spezialgebiet der (Film-)Semiotik – hervorgebrachtes Forschungsfeld dar. Die beiden Diskurse können miteinander vermittelt werden, wenn man vor allem den Spielfilm als ein Medium auffasst, das die Eigenarten der audiovisuellen Bewegtbildmedien mit den Regeln der narrativen Diskursformation, die durch Genreformen wie Melodram, Western, ScrewballComedy etc. spezifiziert werden, kombiniert. Der Spielfilm ist ein Produkt dessen, was man heute Medienkonvergenz nennt: Zum einen weil er intermodal verfasst ist und mehrere Sinne anspricht. Zum anderen weil er materialiter auf den äußeren Sinn, die Anschauungsform des Raumes, und idealiter auf den inneren Sinn, das heißt die Anschauungsform der Zeit, angewiesen ist. Nur wenn die auf der Filmrolle aneinander gereihten Momentaufnahmen (vierundzwanzig bis fünfundzwanzig Aufnahmen pro Sekunde) auf eine Leinwand projiziert und als (mehr oder weniger folgerichtige) Darstellung eines Ereigniszusammenhangs aufgefasst werden, gelingt es dem Spielfilm, Geschichten zu erzählen. Daher gehört zum Medienformat des Spielfilms ein technischer Medienapparat, der im Falle des Kinos aus Licht, Bild- und Tonaufzeichnung, Schnittplatz und Vorführraum, einschließlich der in ihm installierten Geräte zur Bild- und Tonwiedergabe (Projektor, Projektionsfläche, Lautsprecher etc.) besteht. Für die folgenden Überlegungen ist diese technische Seite des Medienapparats allerdings von untergeordneter Bedeutung. Zwar beeinflusst sie die Produktion und Rezeption von Spielfilmen, insofern ihre Ausstrahlung im privat genutzten Fernsehprogramm keinesfalls das gleiche Medienereignis erzeugt wie ihre öffentliche Vorführung im Kino. Dennoch soll es hier ausschließlich um die diagrammatische Dimension des Spielfilms gehen, die sich aus der Kopplung des Medienformats mit dem kognitiven Apparat des Menschen ergibt. Nicht berücksichtigt werden auch die Aspekte der Distribution, die aus der Einbettung des technischen Medienapparates in ein bestimmtes, in der Regel ökonomisch reguliertes Mediensystem wie die Filmindustrie resultieren. Die historische Erforschung der Wechselwirkung von Mediensystem, Medientechnik, Medienformat und kognitivem Apparat dürfte am meisten von einer diagrammatischen Analyse des Spielfilms profitieren, die an der Schnittstelle von Bildkomposition und Filmmontage einerseits und Bildwahrnehmung und Filmdeutung andererseits ansetzt. Es ist die Gestaltung dieser Schnittstelle, die über die Form der diagrammatischen Operationen entscheidet und daher nicht nur für die je persönliche Interpretation eines Films, sondern auch für die Wechselwirkung zwischen der filmischen Narration und der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit den Ausschlag gibt.

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D IAGRAMMATIK

I.

Film, Denken und Diagrammatik

Die erste relevante Ebene innerhalb dieses Verständnisrahmens betrifft das Phänomen, dass Schaubilder im Film zunächst als Bildinhalte auftauchen können – beispielsweise dadurch, dass eine Sternenkarte in das Panoromafenster des Raumschiffs eingeblendet wird, in dem die Handlung stattfindet. In solchen Fällen erfüllen Schaubilder deiktische und dramaturgische Funktionen: Sie zeigen, in welchen Weltzusammenhang der Handlungsgort eingebettet ist, welche Bewegungs- und Handlungsmöglichkeiten den dramatis personae offen stehen. Dadurch erwecken sie Erwartungen, die sich auf den Fortgang der Geschichte beziehen. Veranschaulicht werden auf diese Weise also Aspekte, die sonst auf andere, weniger filmische Art und Weise vermittelt werden müssten. Die Inszenierung macht sich das Evidenzprinzip der Diagrammatik zu Nutze, wobei dem Zweck der Zuschauerorientierung über den Chronotopos des Dramas vorrangige Bedeutung zukommt. Das Schaubild hilft dem Zuschauer, eine kognitive Karte von der diegetischen Welt des Films respektive ein mentales Modell von den Handlungsmotiven und -optionen zu entwerfen, die aus der Struktur des Chronotopos resultieren. Eben dadurch kommt jedoch auch das Virtualitätsprinzip der Diagrammatik ins Spiel. Die Sternenkarte, die auf dem Borddisplay des Raumschiffs erscheint, erlaubt es dem Zuschauer nicht nur deduktiv das Raumschiff im Weltall zu ›lokalisieren‹, sondern auch – abduktiv – zu überlegen, in welche Richtung sich die Handlung entwickeln könnte, welche Gefahren im All lauern usw. Zum Beispiel könnte sich auf dem Display die Flugbahn eines Kometen abzeichnen, der mit dem Raumschiff zu kollidieren droht. Dergestalt stellt das Schaubild der Sternenkarte denkbare Rekonfigurationen der aktuellen Handlungskonfiguration zur Disposition. Indem der Zuschauer die weitere Entwicklung unter den Vorzeichen verfolgt, die ihm dadurch mitgeteilt worden sind, dass die Sternenkarte zugleich die Struktur des Handlungsraumes und das in ihr angelegte dramatische Potenzial vor Augen führt, kann er – induktiv – erkennen, ob und wie dieses Potenzial aktualisiert wird: Im letzten Moment weicht das Raumschiff einer Kollision mit dem Kometen aus, verliert bei diesem riskanten Manöver jedoch den Kontakt zur Bodenstation und driftet in die unendlichen Weiten des Alls ab. Selbst diese unendlichen Weiten sind jedoch, soweit es die Diagrammatik der filmischen Narration betrifft, dem Kontinuitätsprinzip unterworfen, dem die Aktualisierung des dramatischen Potenzials jeder Konfiguration oder Rekonfiguration unterliegt. Tatsächlich spielt das Kontinuitätsprinzip in der Theorie und Praxis des Spielfilms eine herausragende Rolle, da es sowohl die Bildkomposition und Montage als auch die Filmwahrnehmung und -auslegung bestimmt. Jump Cuts und andere Fehlanschlüsse der Montage bestätigen die Regel, dass die Aufnahmen so aneinander geschnitten sein müssen, dass der Zuschauer sie konjektural als Kontinuum zeitlich aufeinander folgender Momente einer Handlung

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK bzw. mehrerer, thematisch und dramaturgisch aufeinander bezogener Erzählstränge auffassen kann. Die Möglichkeit, mittels bewegter Bilder Geschichten zu erzählen, hängt also von der Einhaltung dieses Kontinuitätsprinzips ab. Bezieht man diese Notwendigkeit auf den Verständnisrahmen der Diagrammatik, erhält das Kontinuitätsprinzip noch eine weitere, metaphysische Bedeutung: Die Kontinuität des Films kann mit der Kontinuität des Bewusstseins in Verbindung gebracht werden. Die Schnittstelle von Diskursen zur Diagrammatik und von Diskursen zum Film liegt daher in der Frage nach dem Verhältnis von Bewusstsein und Film. Die Diagrammatik ist ein Konzept, das dieses Verhältnis – im Rahmen einer semiotischen Begrifflichkeit – zu beschreiben hilft. Für die Semiotik von Charles S. Peirce liegt die Bedingung der Möglichkeit, mittels Zeichen Zusammenhänge darzulegen, die über die Zeichenkonfiguration hinausweisen und es dergestalt erlauben, aus der Zeichenkonfiguration generelle Rückschlüsse abzuleiten, im Kontinuum aller denkbaren Erfahrung beschlossen. Hierzu muss man sich jedoch die kognitive Pointe der Kontinuitätskonzeption von Peirce klar machen: Wenn der Zuschauer in der Filmwahrnehmung und -auslegung darauf vertraut, dass sich das Ganze der Narration aus der geregelten Abfolge seiner Einzelteile, das heißt aus der Montage der bewegten Bilder ergibt,171 der Sinn dieses Ganzen jedoch die reine Sukzession übersteigt, bedeutet dies, (a) dass man den Verstehensprozess eines Films semiotisch reformulieren kann. Jede Aufnahme ist, wie jeder Tonimpuls, ein Input, der zu einer spontanen Vorstellung – also zu einem unmittelbaren Interpretanten – führt. Die konjekturale Auffassung der Bilder setzt entsprechend ihrer Montage und ausgehend von den sich ständig erneuernden Impulsen eine Dynamik und Synergetik von Interpretanten frei. Neben aktuellen Wahrnehmungsmomenten involvieren diese Interpretanten auch Erinnerungsbilder, Empfindungen und Gedanken, durch die das filmische Geschehen mit Bedeutungen aufgeladen wird, die sich nicht mehr auf die Inszenierung allein zurückführen lassen. Das aber heißt, (b) dass die Filmauslegung mittels dynamisch-energetischer Interpretanten auf das Kontinuitätsprinzip verweist – diesmal allerdings nicht auf der Ebene der Inszenierung, sondern auf der Ebene ihres kognitiven Nachvollzugs. Dem Kontinutitätsprinzip wohnt somit eine spezifische Prozessstruktur inne. Sowohl die filmische Narration als auch ihre Konjektur – die im Vorstellungsvermögen des Zuschauers ablaufende Auslegung der Bildkomposition und Filmmontage – haben jeweils die gleiche performative Gestalt: So wie sich die einzelne Momentaufnahme des Spielfilms zum Sinn der Geschichte verhält, verhält sich der einzelne Interpretant zum Resultat der Konjektur, und so wie jedes bewegte Bild auf das Kontinuitätsprinzip der Inszenierung bezogen ist, ist jeder Auffassungsakt auf die 171 | Mitgedacht ist dabei die Bewegung, die sich in der Mise en scène durch Kamera- und Figurenbewegungen ergibt.

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D IAGRAMMATIK regulative Idee der Kontinuität aller denkbaren Erfahrungen bezogen. Anders gesagt: Der Film auf der Leinwand unterhält einen Bezug zum Film im Kopf des Zuschauers: Film ist immer eine Entäußerung des Prozesses der Vorstellungsbildung des Zuschauers. Abbildung 12: Indizien eines Fehltritts: Fußspuren in Ryan’s Daugther (1970) von David Lean

Abbildung 13: Die Halluzination der Eifersucht in Ryan’s Daughter (1970) von David Lean

Abbildung 14: Die »Liebes«-Grotte in Ryan’s Daughter (1970) von David Lean

Zu einer sich selbst fortschreibenden selbstreferenziellen Operation wird dies dann, wenn der Film den Prozess der Vorstellungsbildung in einer dramatischen Figur zur Darstellung bringt und dabei wiederum die Prozessstruktur exemplifiziert, die ihm innewohnt. Diese reflexive Konstellation ist zum Beispiel in einer Sequenz von David Leans Ryan’s Daughter (GBR/USA 1970) gegeben, in der die Zuschauer gemeinsam mit dem Ehemann der Titelfigur entdecken, dass sie entgegen ihrer Treuebekundungen doch eine Aff äre ein- und fremd-

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK gegangen ist. Der von Robert Mitchum dargestellte Dorflehrer Shaughnessy bemerkt bei einem Schulausflug Fußspuren am Strand der irischen Küste, die auf ein geheimes Treffen seiner Frau mit einem Liebhaber hinweisen. Wichtig an der Inszenierung dieser Entdeckung ist, dass Lean nicht nur die indexikalischen Zeichen, also die Fußabdrücke im Sand zeigt, die im Übrigen klar erkennen lassen, dass es sich bei dem Liebhaber seiner Frau um den Kommandanten der englischen Besatzungstruppen handelt. Lean zeigt auch die non-verbalen Reaktionen, die Mitchum verkörpert, um dem Zuschauer eine Vorstellung von den Gedanken und Empfindungen zu vermitteln, die Shaughnessy dazu treiben, den Fußspuren bis zu jener Grotte zu folgen, die im Film symbolisch für den sexuellen Vollzug der Untreue steht. Entscheidend ist jedoch, dass Lean in einer Einstellung die aktuelle Wahrnehmung des Protagonisten mit seiner Vorstellung überblendet: Der Zuschauer sieht nicht nur, wie Shaughnessy in dem Augenblick, in dem ihm das ganze Ausmaß seiner Entdeckung bewusst wird, am Strand steht – er sieht auch, was Shaughnessy die Eifersucht in diesem Augenblick vor das geistige Auge stellt: Den Moment der (vorgängigen) Liebeshandlung, in dem seine Frau und ihr Liebhaber an die gleiche Stelle gekommen sind. Eine einzige Einstellung zeigt also zwei Zeitpunkte und stellt damit zugleich die aktuelle Konfiguration der Entdeckungshandlung und die virtuelle Rekonfiguration ihres Objekts, den Ehebruch, dar. Anders gesagt: Der Film gibt zugleich die äußere Gestalt des Protagonisten und seine Einbildung, die von ihm halluzinierte Szene, wieder. Bildet diese halluzinierte Szene die Fremdreferenz der Darstellung, so besteht ihre Selbstreferenz darin, dass dieses ›Denkbild‹ das Virtualitätsprinzip der diagrammatischen Weltauslegung vor Augen führt: Nachdem der Zuschauer nachvollzogen hat, wie gewisse Anzeichen Vorstellungen auslösen, die sich alsbald zu einem bestimmten Verdacht verdichten, und der Film dergestalt das Verfahren der Konjektur, das seine Wahrnehmung und -auslegung dominiert, ad oculos demonstriert hat, präsentiert der Film dem Zuschauer das Resultat der Semiose, die ihr Agent auf der Ebene der Handlung vollzieht: die emphatische Vergegenwärtigung der Schlussfolgerung, zu der beide kommen müssen: der Agent und der Rezipient.172 Indem der Film den Schlussfolgerungsprozess der Semiose in actu in Szene setzt und offenbart, was sich im Kopf (des betrogenen Protagonisten) ereignet, macht er vom Evidenzprinzip der Diagrammatik Gebrauch, um in nuce das Virtualitätsprinzip als eine dem Kontinuitätsprinzip immanente Dimension zur Darstellung zu bringen. Zumindest kann man die Stelle im Film, an der das Liebespaar imaginiert wird, und den Augenblick, in dem ersichtlich wird, dass die Fußspuren in die sexuell konnotierte Grotte führen, als Verweis auf die Kontinuität sehen, die sowohl bei der Handlungsdarstellung als auch bei der Vorstellungsbildung zugrunde gelegt wird. 172 | Vgl. Bauer: »Evidenz und Konjektur«.

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D IAGRAMMATIK Veranschaulicht wird in dieser Szene darüber hinaus, wie Abduktion, Deduktion und Induktion ineinandergreifen; wie das, was sich unmittelbar aus der Spur ableiten lässt – der deduktiv gebildete unmittelbare Interpretant – abduktiv Vermutungen auslöst, denen der Protagonist im körperlichen wie im geistigen Sinne nachgeht – bis die dynamisch-energetischen Interpretanten ihn und den Zuschauer, der Shaughnessys Gedankengang folgt, an den Punkt führen, an dem die induktive Schlussfolgerung – nach Peirce der logische Referent der Semiose – nicht mehr zu vermeiden ist. Eine solche semiotische Beschreibung des Denkprozesses lässt am Spielfi lm deutlich werden, inwiefern das Kontinuitätsprinzip der Diagrammatik metonymisch funktioniert. Sieht man die alte rhetorische Figur der Metonymie als eine Form der Bezugnahme, die auf Kontiguitätsrelationen beruht, kann man sagen: So wie jedes einzelne Bild eines Films in einer doppelten Kontiguitätsrelation zu den vorangegangenen und zu den nachfolgenden Bildern steht, die durch den Schnitt nicht etwa aufgehoben, sondern bekräftigt wird, ist auch der gesamte Film in einer Kontiguitätsrelation zur audiovisuellen Welt- und Selbstwahrnehmung des Menschen zu sehen. Zudem werden die Kontiguitätsrelationen zwischen den Bildern beim Spielfilm in aller Regel logisch, als kausal auseinander hervorgehend konzipiert (Konsekutivität), zumal der Zuschauer die Bilder (und ihre Montage) im Laufe der konjekturalen Erfassung auf Handlungsskripte und andere, in sich folgerichtig verfasste Schemata bezieht. Diese Skripte und Schemata machen aber ihrerseits nur Sinn, weil sowohl die empirische Welt der menschlichen Handlungen als auch die inszenierte Welt der Filmhandlung in das Kontinuum aller denkbaren Erfahrungen eingebettet sind, das der metaphysische Begriff des Seins impliziert.

II. Anschauungsmodelle: Diagrammatik und die Grammatik der Filmsprache Allem Anschein nach muss man, um einen Spielfilm als Handlungs- und Sinnzusammenhang auffassen zu können, annehmen, dass die Abfolge der Bilder den Kriterien der Kontiguität und Konsekutivität genügt. Andernfalls müsste man bestreiten, dass Spielfilme intentionale Gebilde sind, die folgerichtig inszeniert werden und entsprechende Rückschlüsse vom Gezeigten auf das Gemeinte zulassen. Zwar kann es hier und da Anschlussfehler geben, gerade der Umstand, dass diese Lücken oder Sprünge in der Kontiguität und Konsekutivität als ›Fehler‹ bezeichnet werden, ist jedoch ein deutlicher Hinweis auf die produktions- und rezeptionästhetische Relevanz der beiden Kriterien. Folgerichtig entspricht ihrer Beachtung in der konjekturalen Auffassung des Films durch den Zuschauer seitens der Filmemacher die Erkenntnis: »Die Filmsprache wurde in dem Augenblick geboren, als Filmemacher erstmals den Unterschied erkannten zwischen dem beliebigen Aneinanderreihen von Bildern in unterschiedlichen Sta-

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK dien der Bewegung und der Anordnung solcher Bildsequenzen in der Absicht, Bezüge zwischen ihnen herzustellen.«173 Tatsächlich kann man diese Formulierung des Filmwissenschaftlers Daniel Arijon als Paraphrase der Grundregel aller Diagrammatik verstehen. Mit »Anordnung […] in der Absicht, Bezüge […] herzustellen« paraphrasiert Arijon die Grundregel der Konfiguration. Das gilt auch, wenn man das Wort ›Filmsprache‹ als Metapher versteht. Arijon selbst spezifiziert diese Metapher, wenn er sagt: »Jede Sprache basiert auf einer allgemein akzeptierten Konvention. Eine Sprachgemeinschaft einigt sich darauf oder lernt, bestimmten Symbolen bestimmte für alle Mitglieder verbindliche Bedeutungen zuzuordnen. Wer eine Geschichte erzählen oder Ideen verbreiten will, muß zuerst die Symbole lernen und die Regeln, nach denen sie miteinander kombiniert werden. Doch all dies – Symbole, Bedeutungen, Regeln – befindet sich in ständiger Weiterentwicklung. Künstler oder Philosophen können die Sprachgemeinschaft beeinflussen, indem sie neue Symbole und Regeln einführen und alte ausmustern. Dem Kino ist dieser Prozeß nicht fremd.«174

Tatsächlich findet sich der Vergleich des Films mit einer Sprache, durch die sich die Menschen beeinflussen lassen, bereits bei David W. Griffith, dem Pionier der kinematographischen, melodramatisch grundierten Narration, der bei seinen Montagen stets auf die Fähigkeit der Zuschauer zur Konjektur gesetzt hat. Arijon akzentuiert an diesem Vergleich zwei dialektisch aufeinander bezogene Momente: die Konventionalität und die Kreativität der Sprache. Die Konventionalität ergibt sich aus dem Umstand, dass die meisten sprachlichen Zeichen symbolisch sind; die Kreativität aus dem Umstand, dass sich die Regeln, nach denen diese Zeichen konfiguriert werden können, abwandeln lassen. Unbeschadet der Möglichkeit, die Zeichen der Sprache so zu konfigurieren oder zu rekonfigurieren, dass Schau- und Denkbilder entstehen, muss man jedoch sagen, dass die Rede von der Sprache des Films metaphorisch bleibt, weil es, streng genommen, weder ein Lexikon noch eine Grammatik der Bilder gibt. Trotz dieses gewichtigen Unterschieds hebt der Vergleich eine Gemeinsamkeit zwischen der sprachlichen und der filmischen Welterzeugung hervor, die für ihre diagrammatische Auffassung wesentlich ist: So wie die Konfiguration der Worte dem Zuhörer oder Leser eine bestimmte Sichtweise oder Einstellung auf den Gegenstand der Rede nahelegt – Linguisten sprechen in diesem Zusammenhang von einer Satzperspektive175 – steht auch die Montage der Bilder, die im Film stets an bestimmte Kamerawinkel und Einstellungsgrößen gebunden sind, im Zeichen einer 173 | Arijon: Grammatik der Filmsprache, S. 11. 174 | Arijon: Grammatik der Filmsprache, S. 11. 175 | Vgl. Polenz: Deutsche Satzsemantik.

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D IAGRAMMATIK narrativen Optik, die den Zuschauer zu einer perspektivischen (und emphatischen) Mimesis veranlasst. Der Vergleichspunkt, auf den es bei der Metapher ankommt, die den Film als eine Art von Sprache darstellt – auch die Metapher erzeugt ja eine bestimmte Sicht der Dinge, auf die man sich einstellen muss – ist somit der perspektivische Charakter, der die Filmkunst mit der Mal- und Dichtkunst trotz ihrer unterschiedlichen Materialität verbindet. Die Medialität des Films liegt unter anderem darin, dass er den Gegenständen, Sachverhalten oder Ereignisfolgen, die er vermitteln soll, immer eine spezifische Wahrnehmungsgestalt geben muss. Diese Form prägt den Bedeutungsgehalt der Vorstellungen, die sich der Zuschauer von diesen Gegenständen, Sachverhalten oder Ereignisfolgen machen kann. Nicht nur die subjektive, auch die objektive Kamera zeigt immer nur bestimmte Ausschnitte aus einem bestimmten Winkel in einer bestimmten Einstellungsgröße, so dass es dem Film (und dem Zuschauer) grundsätzlich unmöglich ist, dem Dargestellten gegenüber einen archimedischen Standort zu beziehen. Eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen dem filmischen Diskurs und der sprachlichen Deskription oder Narration liegt also in der Vermittlung von Betrachtungsweisen. Erfasst werden durch diese Diagrammatisierung auch jene Zeichen, die nicht ikonisch sind. Folgerichtig bemerkt der Filmwissenschaftler Peter Wollen in seinem Buch Signs and Meaning in the Cinema, dass viele Diagramme »symboloid features« aufweisen und der Vorteil der von Peirce entworfenen Semiotik gerade darin liege, dass sie mit der wechselseitigen Durchdringung der verschiedenen Zeichenklassen rechnet.176 Ein Beispiel wäre der Film Blade Runner (Ridley Scott, USA 1982): Nachdem der Androiden-Jäger Deckard (Harrison Ford) von Roy Batty (Rutger Hauer) hoffnungslos in die Enge getrieben worden ist, dann aber – wider Erwarten – von seinem Gegner gerettet wird und genauso ungläubig wie der Zuschauer erkennen muss, dass der Kampfroboter im Grunde genommen menschlicher als Deckard selbst agiert, setzt der Regisseur das anspielungsreiche Symbol einer weißen Taube ein, um die Szene mythopoetisch aufzuladen. Wenn der Zuschauer die Mensch-Maschine daraufhin figuraltypologisch auf das Vorbild des Erlösers bezieht und Battys Exitus in den Kontext der christlichen Himmelfahrt rückt, ergibt sich für den Film insgesamt ein zusätzliches Deutungsschema, das insbesondere das Verhältnis des Kampfroboters zu seinem Erzeuger, dem Großindustriellen Eldon Tyrell (Joe Turkel), in einem neuen Licht erscheinen lässt. Roy Batty nämlich hatte Tyrell in einem Akt der promethischen Auflehnung getötet, nachdem ihm klar geworden war, dass er und die anderen Androiden auf eine endliche Lebenszeit programmiert sind. Sein eigenes Ende ist, so gesehen, Sühneopfer und Abschluss eines Konfliktes, der als denkwürdige Rekonfiguration des Dramas erscheint, das in 176 | Wollen: Signs and Meaning, S. 83f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK der Bibel anhand der Konfiguration von Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist durchgespielt wird. Das symbolische Zeichen der Taube fungiert in Verbindung mit dem Umstand, dass Roy Batty Gnade vor Recht ergehen lässt, als Auslöserreiz einer Allegorese, die nicht auf eine naive Identifizierung, sondern auf einen differenzierten Vergleich von Prätext und Film hinausläuft. Das Symbol der Taube gibt dem Zuschauer zu denken, weil es in einem bestimmten Bezugsverhältnis steht. Grundlage der Allegorese als einer Sonderform der Konjektur ist das Diagramm der Beziehungen, das im Verlauf der Filmhandlung zwischen Batty, Tyrell und der Taube angelegt wird – ein Diagramm, das ikonische mit symbolischen Zeichen verbindet. Neben Peter Wollen ist in Deutschland der Filmwissenschaftler KarlDietmar Möller als Pionier einer diagrammatisch konzipierten Filmtheorie und -analyse zu nennen. Auch Möller geht vom perspektivischen Zuschnitt des Films und von den Kontiguitätsrelationen aus, die eine jede Montage zwischen den Aufnahmen der Kamera stiftet. In einem 1978 publizierten Aufsatz konstatiert er: »Eine Sequenz ist also eine Folge von Einstellungen, aber nicht jede beliebige Folge von Einstellungen ist eine Sequenz. Eine Theorie der Filmsequenz muss darüber Auskunft geben, worin die Zusammenhänge, die Sequenzen von beliebigen Einstellungsfolgen unterscheiden, bestehen können.«177 Seine eigene Theorie beruht auf der These, »daß die Grundlage der filmischen Repräsentation der Realität (auch fiktiver ›Realitäten‹) die Modellierung ist, und daß die Art und Weise der Repräsentation der Themen durch die Form der Themen selbst begrenzt ist.«178 Der zweite Teil dieser Bemerkung soll offenbar besagen, dass es Themen gibt, die ihrer Form nach filmaffin sind, und andere, von denen man dies nicht behaupten kann. Dieser Auffassung entspricht Peirce’ Überzeugung, dass ein Zeichen (Repräsentamen) dem Vorstellungsvermögen, das Interpretanten entwickelt, eigentlich nur eine Form übermittelt.179 Die Aktionsform der Verfolgungsjagd, der Gerichtsverhandlung und ähnlicher Ereignisabläufe ist filmisch, die Aktionsform der Buchlektüre, bei der es vergleichsweise wenig zu sehen gibt, nur dann, wenn sie eine dramaturgische Funktion erhält, die das Hinsehen lohnt. Der erste Teil von Möllers Bemerkung wird von ihm selbst durch folgenden Zusatz erläutert: »Die Grundlage für eine Theorie der Syntax des Films als Modellierung der Realität liefert die Diagrammatik von Charles Sanders Peirce.«180 Denn: »Diagramme bilden modellierend Beziehungen zwischen Objekten ab, die – um es mit einem Wortspiel von Peir177 | Möller: »Diagrammatische Syntagmen«, S. 70. 178 | Möller: »Diagrammatische Syntagmen«, S. 74. 179 | Diese Überzeugung hat einerseits mit dem Wechselspiel von Transduktion und Induktion, sowie andererseits damit zu tun, dass sich mit der Form eine Kraft mitteilt, die sich in den dynamisch-energetischen Interpretanten auswirkt. 180 | Möller: »Diagrammatische Syntagmen«, S. 75.

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D IAGRAMMATIK ce auszudrücken – ›imaginable or imageable‹ sind.«181 Eine Möglichkeit, diese Formulierung, derzufolge Diagramme Beziehungen modellierend abbilden, zu verstehen, ergibt sich aus jener Stelle, an der Peirce auf die illusionäre Phase der Semiose zu sprechen kommt, die diagrammatische Zeichen-Konfigurationen auslösen: »Icons are so completely substituted for their objects as hardly to be distinguished from them. Such are the diagrams of geometry. A diagram, indeed, so far as it has a general signification, is not a pure icon; but in the middle part of our reasoning we forget the abstractness in great measure, and the diagram is for us the very thing. So in contemplating a painting, there is a moment when we lose the consciousness that it is not the thing, the distinction of the real and the copy disappears, and it is for the moment a pure dream – not any particular existence, and yet not general. At that moment we are contemplating an icon.182

Möller geht zwar nicht explizit auf diesen Aspekt der Filmwahrnehmung und -deutung ein. Er legt die Fiktionalität des Spielfilms aber ganz im Sinne von Peirce pragmatisch aus, wenn er erklärt: »Diagramme repräsentieren allgemeine komplexe Objekte, das heißt: mögliche Erfahrungen.«183 Insofern ein Spielfilm diagrammatisch verfasst ist, konfiguriert er nicht nur die aktuelle Wahrnehmung des Zuschauers im Kino, sondern auch die Wahrnehmung, die sich auf die Welt außerhalb des Kinos richtet – dergestalt, dass der Zuschauer in dieser Welt die Probe auf das Welt-Modell des Films machen kann und es im Lichte seiner eigenen Erfahrung rekonfigurieren kann. Am Werk ist hier wiederum das Wechselspiel von Evidenz-, Virtualitäts- und Kontinuitätsprinzip. Allerdings gibt es noch einen weiteren Grund, warum Möller von »mögliche(n) Erfahrungen« spricht. Auch dieser Grund findet sich bei Peirce, den Möller mit der Bemerkung zitiert: »The where and the when of the particular experience, or the occasion or other identifying circumstance of the particular fiction to which the diagram is to be applied, are things not capable of being diagrammatically exhibited. Describe and describe and describe, and you never can describe a date, a position, or any homaloidal quantity.«184 Peirce bekräftigt in diesem Zitat seine Auffassung, dass der Wert der ikonischen Zeichen einzig und allein im Aufzeigen denkbarer Verhältnisse liegen kann, dass sie also – im Unterschied zu den indexikalischen Zeichen – nicht zu erkennen geben, ob diese Verhältnisse tatsächlich bestehen oder nicht. Eben dies ist der tiefere Sinn seines Wortspiels mit 181 | Möller: »Diagrammatische Syntagmen«, S. 76, unter Bezug auf jene Stelle in den Collected Papers, an der Peirce behauptet, dass Zeichensysteme ohne ikonische Zeichen unmöglich sind. Vgl. Peirce: Collected Papers, 2.278. 182 | Peirce: Collected Papers, 3.362. 183 | Möller: »Diagrammatische Syntagmen«, S. 79. 184 | Peirce: Collected Papers, 3.419.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK ›imaginable‹ und ›imageable‹. Es verweist auf die Anschaulichkeit des Vorstellungsvermögens, gibt damit aber auch zu bedenken, dass dieses Vermögen, für sich betrachtet, keine Macht zur Beglaubigung der Verhältnisse besitzt, die sie zur Erscheinung bringt. Erst die pragmatische Rückkopplung von Einbildungskraft und Beobachtungsgabe, Möglichkeitssinn und Wirklichkeitssinn gibt Aufschluss über die Realität der virtuellen Verhältnisse, die das Vorstellungsvermögen etabliert. Genau das Gleiche kann man im Übrigen auch von der Sprache sagen, insofern jeder Satz, mit Ludwig Wittgenstein zu reden, lediglich ein Modell von Sachverhalten oder Ereignisfolgen darstellt, dem allerdings auch die Bedingungen zu entnehmen sind, unter denen er auf die Welt der Erfahrung zutrifft.185 Analog ist bei der diagrammatischen Bild-Montage und der durch Filme bestimmten Vorstellungsbildung zu berücksichtigen, dass sie dem Zuschauer zunächst einmal immer Anschauungsmodelle von Sachverhalten und Ereignisfolgen liefern. Vor diesem Hintergrund gelingt es Möller dann auch, die Metapher von der Filmsprache zu spezifizieren: »Im Film gibt es keine Sätze, keine Worte, keine Verben. Aber in den Filmbildern kann gezeigt werden, was in der Sprache durch Verben repräsentiert wird: Geschehnisse, Prozesse, Handlungen, Akte.«186 Die Diagrammatik wäre demnach eine entscheidende Instanz bei der Verkettung des Logos des Bildes mit dem Logos der Sprache im Medium Film – und darin genau die Instanz, die ein Denken mit dem Film möglich macht. Ablesbar ist diese Funktion der Diagrammatik nicht zuletzt im Produktionsprozess des Films selbst. Die filmische Repräsentation von Geschehnissen und Handlungen, (Inter-)Aktionen und Prozessen ist eine äußerst komplexe, arbeitsteilig organisierte Kunst, die einen hohen logistischen Aufwand erfordert. Von daher verwundert es nicht, dass sich in den Archiven der Filmemacher und Produktionsfirmen vielfach Planskizzen, Schnittmuster und andere Diagramme finden. John L. Fell hat sich eingehend mit diesen graphischen Visualisierungen beschäftigt. In seinem Aufsatz »Structuring Charts and Pattern in Film« präsentiert er nicht nur aufwendig gezeichnete Diagramme zur Koordination von Geschichte, Gesang und Tanz, die Auskunft über das Verhältnis von Handlung und Musik in klassischen Hollywood-Filmen wie Follow the Fleet (Mark Sandrich, USA 1936) oder Roberta (William A. Seiter, USA 1935) liefern.187 Zudem reproduziert er einige aufschlussreiche Skizzen, die der Regisseur King Vidor in seinem Buch On Film Making (1972) verwendet hat. Sie beziehen sich unter anderem auf Vidors Adaption von Tolstois Roman Krieg und Frieden (War and Peace, USA 1956), die vor der historischen Ku185 | Vgl. McGinn, Das geistige Auge, S. 163. 186 | Möller: »Diagrammatische Syntagmen«, S. 88. Selbstverständlich bezieht sich diese Klarstellung nicht auf die Tonspur des Films, sondern ausschließlich auf die Bildkomposition und -montage, da ja im Figurendialog oder durch Voiceover sehr wohl ganze Sätze mit Verben artikuliert werden. 187 | Vgl. Fell: »Structuring Charts«, S. 372.

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D IAGRAMMATIK lisse von Napoleons Russland-Feldzug spielt. Eines der Diagramme zeigt, wie die Makro-Aktion des Krieges mit den Mikro-Aktionen des Melodrams zusammenhängt, in das die Hauptfiguren des Films – Nicholas, Pierre, Andrey und Natasha – verwickelt sind. Fell bemerkt dazu: »The angled lines look like obstacles or incidents of high intensity.«188 So gesehen sind sie ein Beispiel dafür, wie die Form einer diagrammatischen Zeichenkonfiguration Vorstellungen von Dynamik und Energie vermittelt. Abbildung 15: Schema zur Makro- und Mikrohandlung in War and Peace (1956) von King Vidor

Ein anderes Schaubild verdeutlicht die Infrastruktur der Figurenkonstellation in War and Peace. Abbildung 16: Schema der Figurenkonstellation in War and Peace (1956) von King Vidor

188 | Fell: »Structuring Charts«, S. 373.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Fell hebt in seinem Kommentar einige wesentliche Züge dieses Diagramms hervor. Jeder der männlichen Protagonisten »is most impor tantly affiliated with Natasha; only Pierre and Andrey are in touch with one another. Some are immersed in other relationships; some figures, such as Mary, Sonya, Anatole and Count Rostov, ser ve as intermediaries between the central characters. Vidor says the value of the model rested in its contribution toward simplifying major story points; impor tant relationships require impor tant scenes. The drawing lacks any time dimension, so that we have no sense of cause-effect-experience, the way the relationships fitted into Napoleon’s defeat earlier. But such a limitation carries its own narrative force. Like ourselves, players in character-based fiction which boasts some density often behave in the shadow of memory as well as the light of ›action‹. Nastasha responds both to past and present, all situated timeless in the char t.« 189

Obwohl das Schaubild also rein spatial differenziert ist und lediglich einen Anschauungsraum entwirft, wird es durch den inneren Sinn der Zeit und das Wissen des Betrachters um Handlungszusammenhänge belebt. Diagramme wie die von King Vidor verwandten stehen zwar in einer engen Wechselwirkung mit den Illustrationen, die ein Storyboard enthält, sind aber anders als die Bilder dieses Medienformats keine Zeichnungen von konkreten Szenen, Figuren- und Kamerabewegungen, die den Panels in einem Comic ähneln, sondern Skizzen, die der Reduktion komplexer Bild- und Handlungszusammenhänge auf wenige abstrakte Elemente und Relationen dienen. John L. Fell rückt sie deshalb in die Nähe der Bifurkationsmatrix, die der französische Narratologe Claude Bremond für die Analyse narrativer Texte entwickelt hat.190 Demnach verzweigt sich die Handlung unentwegt anhand der in einer dramatischen Situation angelegten Optionen, da in aller Regel immer nur eine Option realisiert wird, von deren Erfolg oder Misserfolg der weitere Spielraum der Figuren (und der Erzählinstanzen) abhängt.191 Im Übrigen versäumt es Fell nicht, auf das Schema des mythopoetischen Master-Plots hinzuweisen, den Joseph Campbell aufgrund einer Synopse zahlreicher Heldensagen und Götterlegenden entworfen hat. Tatsächlich haben sich viele Hollywood-Regisseure – eines der bekanntesten Beispiele ist George Lucas bei seiner Star Wars-Serie (USA 1977-2005) – an diesem mythologischen Handlungs- und Erzählmuster orientiert. Bedenkt man, dass der englische Ausdruck ›plot‹ ursprünglich den von der Umwelt abgesteckten, landwirtschaftlich bestellten Boden meint, und dass noch heute die speziellen Drucker, die Architekten zur Aus189 | Fell: »Structuring Charts«, S. 373ff. 190 | Vgl. Bremond: »The Logic of Narrative Possibilities«. 191 | Vgl. Fell: »Structuring Charts«, S. 376.

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D IAGRAMMATIK gabe von Grundrisszeichnungen verwenden, die am Computer entstanden sind, ›plotter‹ heißen, stößt man auf den engen Zusammenhang von Chronotopos und Narration, von Figurenkonstellation, Fabelkomposition und Diagrammatik. Abbildung 17: Campbells Kreis-Schema der mythischen Heldenreise (nach Vogler 1997)

Unabhängig davon, ob Schaubilder wie Campbells Kreisschema eher die Konsekutivität der Handlung verdeutlichen, die mehrere Phasen und Sphären durchläuft, oder wie Bremonds Bifurkationsmatrix die Kontingenz der Erzählung in den Vordergrund rücken – stets geht es diesen Schaubildern darum, mit dem Spielraum der Figuren auch das Handlungsfeld abzustecken, in dem sich eine literarische oder szenographische Narration bewegt. Die räumliche Ordnung kann zur Gliederung der erzählten Zeit und zur Organisation der Schnittfolge im Film, aber auch dazu beitragen, dass die Inszenierung auf das Orientierungsbedürfnis der Zuschauer abgestimmt wird. Sowohl die Übersetzung eines Romans in ein realisierbares Drehbuch als auch die Inszenierung dieses Skripts werden, wie in War and Peace, durch Schemata strukturiert, die für praktische Zwecke entworfen wurden, gleichwohl jedoch nicht nur Aufschluss über den szenographischen Prozess des Geschichten-Erzählens, sondern auch über den kartographischen Akt liefern, den man als ›mind-mapping‹ bezeichnet.

III. Der Film als Reflexionsmedium des Denkens Interessanterweise zeichnen sich weiterführende Überlegungen dort ab, wo exakt diese kognitive Funktion materieller und ideeller Diagramme im Film selbst reflexiv verhandelt wird. Durch die steigende Komplexität des Films bilden sich Formen der medienreflexiven Bezugnahme auf seine

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK eigenen Verfahren aus.192 Eine Konsequenz dieser Veränderung in der Ästhetik des Films ist die zunehmende Reflexion der Verkettungsmöglichkeiten von Bildern zu Narrationen. Kontiguität, Kontinuität und Konsekutivität werden zu einem Thema im Film, was in ein zunehmendes Problembewusstsein für die filmische Konfiguration des Verhältnisses von Handlung und Denken mündet. Beschrieben hat diese Entwicklung unter anderem Gilles Deleuze. Deleuze’ Entwurf zu einer Filmphilosophie ist ein in ihrer Konsequenz fast einmaliges Projekt. Auch innerhalb des Gesamtwerkes von Deleuze nehmen die beiden Bücher Das Bewegungs-Bild (1983) und Das Zeit-Bild (1985) einen besonderen Platz ein. Ihre Grundmotive sind innerhalb des Deleuze’schen Werkes aber nicht singulär. Eine der Fragen, der man auch in Deleuze allgemeinen Ausführungen zur Diagrammatik begegnet, ist die Frage nach den technischen Bedingungen und materiellen Organisationsformen von Denken. Deleuze vertritt die These, dass der Film gegenüber der Philosophie, der Wissenschaft und der Kunst eine autonome theoretische Praxis ausbildet.193 Der Film ist in der Lage, sich in ein Verhältnis zu seinem Außen (Fremdbezug) wie auch zu seinen eigenen Verfahren (Selbstbezug) zu setzen und über diese Bezugnahmen eine eigene reflexive Praxis zu formulieren. Aus der Perspektive der den Film beobachtenden Philosophie stellt sich somit das Problem, die Theorie des Films als eine im Film selbst angelegte Theorie zu verstehen.194 Deleuze’ Filmphilosophie ist der Versuch, diese ›Theorie‹ des Films in philosophische Begriffe zu übersetzen, was Deleuze durch eine Art cross-cutting zwischen den Philosophien von Charles S. Peirce und Henri Bergson realisiert.195 Von Peirce übernimmt er, wenn auch in einer zuweilen idiosynkratischen Manier, einige Grundgedanken der Semiotik; von Bergson die Idee einer unaufhörlichen Bewegung der Materie, die das Welt-Geschehen als Meta-Film erscheinen lässt.196 Dies erlaubt es ihm, die Bewegungs- und Zeitbilder des Kinos in eine genealogische Perspektive zu rücken. Deleuze ordnet die Filmgeschichte in zwei Phasen. Die erste Phase ist die des »Bewegungsbildes« (wie es vor allem in den Hollywood-Studios realisiert und durch den italienischen Neorealismus ab 1947 problematisch wurde). In dieser Zeit sind die Verfahren des Films am Paradigma der körperlichen Wahrnehmung und Bewegung des Menschen orientiert, das Deleuze als »sensomotorisches Schema« bezeichnet. Die zweite Phase ist 192 | Vgl. dazu auch die Beiträge in Kirchmann/Ruchatz (Hg.): Medienreflexion im Film. 193 | Diesen Gedanken entwickelt auch Rustemeyer: Diagramme, S. 181ff. 194 | Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 358f. In verschiedenen Beiträgen haben Lorenz Engell und Oliver Fahle diesen Punkt herausgearbeitet. 195 | Vgl. hier etwa Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 86ff. 196 | Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 24ff.

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D IAGRAMMATIK die des »Zeitbildes« (das in den Avantgarde- und Autorenfilme nach 1947 auftaucht): Die filmischen Verfahren lösen sich zunehmend vom sensomotorischen Schema ab und werden zu autonomen, nicht länger an der menschlichen Wahrnehmung und Bewegung orientierten Verfahren, die Welt zu beobachten und zu ordnen. Das Zeitbild geht aus dem Bewegungsbild hervor und schreibt sich in dieses ein. Das Bewegungsbild ist mit dem Beginn der Ära des Zeitbildes also nicht verschwunden, sondern wird durch das Zeit-Bild ergänzt und transformiert. Ähnlich wie in der Kunst der Schritt von der perspektivischen Malerei in die abstrakte Malerei oder in der Literatur der Schritt von der geschlossenen Erzählung in die Selbstreflexivität der Metafiktionalität ist dieser Paradigmenwechsel ein Prozess des Reflexivwerdens der filmischen Verfahren des Films selbst. Diese Selbstreferenz schafft die Grundlage für die Ausbildung jener, nach Deleuze, eigenständigen ›theoretischen‹ Art und Weise des Films, die Welt unter selbst hervorgebrachte Konzepte zu stellen. Im Film entstehen durch die zunehmend aufkommenden Zeitbilder komplexe reflexive Konfigurationen, in denen das Verhältnis von Bewegung und Zeit als Verhältnis von Handlung und Denken behandelt wird. Für Deleuze ist dies Ausdruck einer konsequenten, fast teleologischen Entwicklung, auf die der Film von Anfang an zusteuert. Ein Beispiel wäre die als ›reaction shot‹ angelegte Großaufnahme eines Gesichtes, in dem sich die Gemütserregung einer Figur zu ›spiegeln‹ scheint. Solche Bilder – Deleuze nennt sie Affektbilder197 – zielen auf die Vermittlung innerer Zustände durch die Entäußerungen von Zeichen ab. Wo die Vermittlung gelingt, wird das Gesicht, das die Kamera abbilden kann, zum Schaubild psychischer Befindlichkeiten und die Leinwand insgesamt zu einem seismographischen display. Die innere psychische Reaktion gerät in ein Spannungsverhältnis zur äußeren möglichen Handlung: Anstatt die Außenwelt der Wahrnehmung festzuhalten, konstituiert sich im Film ein emphatisch grundierter, synreferenzieller Bezirk. Technische und imaginäre Projektion etablieren eine Erlebnisdimension, die an die intuitive Erfahrung der Dauer gekoppelt ist. Bereits in der Ära des Stummfi lms wird im Kino also explizit die Differenz von innerem psychischem Zustand und äußerer konkreter Handlung thematisiert und damit die Grundlage für das etabliert, was in späteren Phasen immer konsequenter ausgearbeitet wird. Teils ausdrücklich, teils unterschwellig ist Deleuze hier ähnlich gelagerten Überlegungen anderer Filmtheoretiker verpflichtet, unter anderem denen Béla Balázs’. Bereits 1930 wies Balázs in seinem Buch Der Geist des Films auf die Bedeutung von Henri Bergsons Unterscheidung zwischen physikalischer Zeit und phänomenologischer bzw. psychologischer Dauer für den Film hin:

197 | Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 123ff., S. 143ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK »Eine Melodie, sagt Bergson, besteht wohl aus einzelnen Tönen, die zeitlich hintereinander folgen, aber die Melodie hat trotzdem keine Ausdehnung in der Zeit. Denn im Sinn des ersten Tons ist der letzte bereits zugegen, und beim letzten Ton ist der erste noch deutend gegenwärtig. Das eben macht jeden Ton zum Teil einer Melodie, die als Form wohl eine Dauer, einen Ablauf hat, aber nicht in der Zeit allmählich entsteht, sondern von vornherein als Ganzes da ist. Denn nicht die Töne sind es, sondern ihre (hörbare) Beziehung ist die Melodie. Die Beziehung aber ist nicht zeitlich. Sie ist in einer anderen, einer geistigen Dimension.«198

Und Balázs fügt hinzu: »Wie die Melodie zur Zeit, so verhält sich die Physiognomie zum Raum.«199 Zum Schlüsselbegriff der Filmästhetik erhebt Balázs die Physiognomie hier, weil die Großaufnahme an sich unbelebte Gegenstände aus dem sie umgebenden Raum der Körper heraus in eine geistige Dimension hebt, in der sie eine anthropomorphe Gestalt annehmen, die ihrerseits wiederum einen symbolischen Gehalt besitzt. So wie aus dem Gesicht des Menschen, physiognomisch betrachtet, ein Antlitz wird, in dem sich seelische Vorgänge spiegeln, werden die sprachlosen Dinge im Stummfilm dadurch beredt, dass sie in der gleichen Dimension wie die lautlose Mienen- und Gebärdensprache der Menschen erscheinen. Insofern Balázs also in der physiognomischen Einstellung das Prinzip der filmischen Weltdarstellung und ihrer Wirkung sieht, ist seine Filmtheorie eine Theorie der Gestaltqualitäten. Diese Qualitäten werden nicht unmittelbar im Bildraum selbst, sondern in einer geistigen Sphäre verortet, die durch das Wechselspiel der Projektion zustande kommt. Einerseits sieht der Zuschauer den Film gestalthaft, wenn er seine Empfindungen auf die Schatten projiziert, die über die Leinwand huschen; andererseits besteht die Kunst von Regisseur und Kameramann, Lichtsetzer und Schauspieler darin, diese emphatische Auffassung durch die perspektivische Zurichtung der Filmwelt nahezulegen. Diesem Effekt dienen Aufnahmewinkel und Einstellungsgröße, Licht- und Schattenwurf, Mimik, Gestik und Proxemik, aber eben auch der Schnitt und die Montage der Bilder, da sie mit dem Rhythmus der Erzählung den Rhythmus ihrer Wahrnehmung und Deutung bestimmen. Deleuze wird dieser Sicht der Dinge in seiner Filmphilosophie eine weiter ausgreifende, nicht auf das Modell des Stummfilms beschränkte Wendung geben, die besonders auf das Virtualitätsprinzip der Diagrammatik abhebt. In Bildern wie den Großaufnahmen eines menschlichen Gesichts kommt reflexiv zum Ausdruck, dass das für die filmische Darstellung generell konstitutive Beziehungsgefüge zwischen sichtbarem und unsichtbarem Bild als ein visueller »Bedingungszusammenhang« anzu-

198 | Balázs: Der Geist des Films, S. 17. 199 | Balázs: Der Geist des Films, S. 17. Wenn Balázs die Melodie im Anschluss an Bergson als hörbare Beziehung bestimmt, fasst er sie der Idee nach als Diagramm auf.

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D IAGRAMMATIK sehen ist.200 Diese Differenz zwischen den aktuell sichtbaren Einstellungen und den virtuellen Folgebildern ist für Deleuze’ Filmphilosophie sehr wichtig.201 Die Einheit dieser Differenz aus sichtbarem und unsichtbarem Bild bildet ein Ensemble, nach welchem der Film seine Vollzüge organisiert und zum Beispiel Bewegung erzeugt oder Raum aufteilt. Beeinflusst durch den Strukturalismus, richtet Deleuze sein Augenmerk auf die Frage, wie sich ein Filmbild verkettet bzw. wie die differenziellen Relationen, aus denen heraus ein Filmbild seine Bedeutung erhält, organisiert werden, was für Deleuze immer die Frage nach dem Verhältnis von Wahrnehmbarem und Denkbarem enthält.202 Das Filmbild ist eine Art »operatives Schema«203, in dem Wahrnehmbarkeit in Denkbarkeit übersetzt wird.204 Das Funktionsprinzip des Filmbildes kann nach Deleuze daher unter Rückgriff auf die Kant’sche Frage nach der Übersetzung von Anschauungen in Begriffe erläutert werden: Filmbilder basieren auf einem Austauschgeschehen zwischen aktueller bildlicher Evidenz (›Bild‹) und reflexiver konjekturaler Schlussfolgerung (›Begriff‹) auf mögliche Folgebilder. Ein zentrales Anliegen der Filmphilosophie ist es daher, zu begreifen, wie sich dieses Verhältnis gestaltet: »Die Beziehung Film – Philosophie ist die zwischen Bild und Begriff. Es gibt jedoch im Begriff selbst eine Beziehung zum Bild, und im Bild eine Beziehung zum Begriff: der Film hat beispielsweise immer ein Bild des Denkens, der Denkmechanismen konstruieren wollen. Deshalb ist er nicht im Geringsten abstrakt – im Gegenteil.«205 Auch wenn sich der Film in diese Richtung entwickelt, der Prozess der Verkettung von sichtbarem und unsichtbarem Bild beginnt nach Deleuze nicht als rationaler oder logischer Prozess. Die konjekturalen Schlussfolgerungen auf ein nach den Prinzipien der Kontiguität, der Kontinuität und der Konsekutivität zu erwartendes nächstes Bild orientieren sich in aller Regel am Leitfaden der körperlichen Wahrnehmung, das heißt, der Zu200 | Vgl. auch Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 88. 201 | Vgl. Bauer: »Evidenz und Konjektur«, S. 179ff. 202 | Vgl. im Kontext auch Rustemeyer: Diagramme, S. 181ff., hier insb. S. 185. 203 | Vgl. Rustemeyer: Diagramme, S. 73. 204 | Werkimmanent weist diese Herangehensweise an das Filmbild einige wichtige Parallelen zu den ästhetischen Ausführungen in Deleuze’ Buch Francis Bacon auf. Knapp gesagt: Entscheidend ist der Gedanke, dass das Diagramm der Wahrnehmung eine schematische Form gibt, ohne dass das Bild deshalb dem Regiment der Sprache unterstellt wird. Vgl. auch die Rekonstruktion bei Schaub: Gilles Deleuze im Kino sowie den Versuch, Deleuze’ Filmphilosophie von der Peirce’schen Diagrammatik her weiterzudenken bei Ernst: Diagrammatische Denkbilder (Habilitationsprojekt an der Universität Erlangen-Nürnberg/in Vorbereitung). Eine ähnliche Position wie Deleuze vertritt auch Jean-Luc Nancy in seiner Kritik des Kant’schen Schematismus, vgl. Nancy: Am Grund der Bilder, insb. S. 140. 205 | Deleuze: Unterhandlungen, S. 96, vgl. auch S. 80f., S. 84f.; Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 270ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK schauer projiziert die seiner Leiblichkeit entsprechende Deixis in den Anschauungsraum des Filmes und legt sich dessen Struktur anhand dieser Deixis aus. In der Ära des Bewegungsbildes besteht das Grundprinzip des Films darin, die Verknüpfung der Filmbilder am Leitfaden des Leibes und seiner Deixis zu orientieren, und mit in ihren Kombinationsmöglichkeiten dadurch logisch begrenzten Folgebildern zu verknüpfen. Bewegung wird zu einem homogenen, abgeschlossenen Vorgang. Diese Art der Übersetzung zwischen sichtbarem und unsichtbarem Bild wird nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend vom sensomotorischen Schema abgekoppelt. Diesen Prozess einer Dezentrierung der Bildverkettung wertet Deleuze als zunehmende reflexive Brechung: Indem Bilder entstehen, die nicht mehr auf das sensomotorische Schema bezogen sind, beginnt der Film die Differenz zwischen real gegebenem und potenziell möglichem Folgebild zu reflektieren. Vorbereitet wird das Aufkommen solcher Zeitbilder in den filmischen Avantgarden nach dem Zweiten Weltkrieg und bei Alfred Hitchcock. Als Übergangsform zwischen dem Bewegungs- und dem Zeitbild entsteht ein »mentales Bild«, das explizit Züge des Peirce’schen Diagrammbegriffs trägt, wenn Deleuze schreibt, es handele sich um »ein Bild, das sich Relationen zum Gegenstand«206 nimmt bzw. um ein »Relationsbild«207, welches »in ein neues Verhältnis zum Denken [tritt], in ein direktes Verhältnis, das von dem der anderen Bilder ganz und gar verschieden ist.«208 Gemeint ist hiermit die gleiche Entwicklung, welche für die Großaufnahme des Gesichts zu konstatieren ist, nämlich das Auseinandertreten von Wahrnehmung und Körper. Wenn in Filmen wie Hitchcocks Rear Window (USA 1954) die Kamerabewegung eine eigenständige Rolle in der Etablierung des Netzes der narrativen Beziehungsgefüge des Films spielt, dann ist das geistige Auge des Zuschauers als eigene Instanz im Film angesprochen und eingebunden. Die imaginären Potenziale des Zuschauers werden, nach Deleuze, ein Teil des Films. Der Hintergrund dieses Gedankens ist eine Umdeutung des Kontinuitätsprinzips: Waren die Formen der Bewegungsbilder noch auf ein begrenztes und homogenes Möglichkeitsfeld des sensomotorischen Schemas gestützt, so virtualisiert sich der Film jetzt: Das Möglichkeitsfeld der am sensomotorischen Schema orientierten Anschlüsse vom realen zum potenziellen Bild verwandelt sich in ein Bewusstsein, das auf die Differenz zwischen aktualem und virtuellem Bild abhebt. Der Film beginnt, auch die Dimension der möglichen Möglichkeiten, also der Virtualität, in seine Ästhetik aufzunehmen.

206 | Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 266. 207 | Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 273. 208 | Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 266.

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IV. Digitale Bilder, Diagrammatik und die Medientheorie des Films Diese Wendung kann man weiterdenken, wenn Deleuze’ Ansatz in den Kontext des technologischen Fortschritts gerückt wird, der den Film im Zuge der Digitalisierung erfasst hat. Mit der neueren Diskussion um Verfahren der digitalen Bilder im Film zeichnet sich eine Rezeption der Diagrammatik ab, die explizit werden lässt, was in der genealogischen Betrachtung der Filmkunst durch Deleuze angelegt ist: eine Problematisierung der Indexikalität des filmischen Bildes. Eine Prämisse vieler Diskurse zur digitalen Bildlichkeit im Film ist es, von einem Zurückweichen der kausalen Referenz des filmischen Bildes auf eine ›photographierte‹ Wirklichkeit durch die generativen Verfahren digitaler Bildlichkeit auszugehen. Digitale Bilder, so die Überlegung, akzentuieren verstärkt die Konstruktivität des Films. Eine Schlussfolgerung, die aus dieser Prämisse abgeleitet wird, lautet, dass Film und Denken, genauer: Film und Einbildungskraft, eine neue Synthese ausbilden. In der bewährten Manier eines provokanten Manifestes dargelegt hat diese Sicht der britische Regisseur Peter Greenaway.209 Greenaway zufolge setzen erst die durch den Computer produzierten Bilder die Potenziale des Films frei. Der herkömmliche Film wird durch den Computer überwunden, weil er durch die vom Computer ermöglichten Bilder aufgehoben und absorbiert wird. Die Überlegung gipfelt in der These, der Film sei in der Lage, sich von indexikalischen Referenzen auf eine vorfilmische Wirklichkeit zu befreien und direkt mit der Einbildungskraft zu verkoppeln. Die Aufgabe des Films besteht nicht (mehr), wie Siegfried Kracauer in seiner Theorie des Films behauptet hatte,210 darin, die äußere Wirklichkeit zu erretten. Nach Greenaway gilt nunmehr das Umgekehrte: Der Film ist das Medium der Errettung der inneren Wirklichkeit. Der Film wird als Bildmedium zurückgeführt auf das Ursprungsmedium: die Malerei, die Greenaway als Ausdrucksform der Phantasie des Malers auffasst. Der analoge Film, technisch noch auf eine Abbildung von Wirklichkeit fixiert, ist also nur eine Vorstufe auf dem Weg zu seiner digitalen Apotheose im freien Spiel der Einbildungskraft. In solchen Thesen schwingen problematische Einschätzungen nicht nur über den Film, sondern vor allem über den Computer mit. Der Computer gilt als das digitale Universalmedium, das eine radikale Zäsur auch in der Geschichte des Films bedeutet. Doch das ist keineswegs ausgemacht. Ohne dass die vielen Beiträge zur digitalen Bildlichkeit des Films pauschal mit Greenaways Manifest verrechnet werden können,211 ist seine Position dennoch symptomatisch, weil sie zeigt, wie kritisch es ist, die 209 | Greenaway: »Das Kino neu erfinden«. 210 | Vgl. Kracauer: Theorie des Films. 211 | Einen Überblick über den Diskussionsstand bietet Kloock (Hg.): Zukunft Kino.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Zäsur, welche die digitalen Bilder für den Film bedeuten, von der Frage nach der Medialität des Mediums abzulösen. Die Diskussion um digitale Bilder im Film erfordert es, sich über die Medialität des Films in Abgrenzung zur Medialität des Computers Gedanken zu machen. Greenaways programmatische Äußerungen finden in der Medientheorie ein Echo in den Schriften Lev Manovichs und Vilém Flussers. Manovich teilt Greenaways Überlegung, dass der Film sich seiner »indexical identity« entledigt und zu einem »subgenre of painting« wird.212 Allerdings begründet Manovich diese These anders als Greenaway. Für Manovich stellen die Eigenschaften des Computers als Medium keineswegs einen radikalen Bruch mit der Medialität der analogen Medien dar. Die Neuen Medien sind das Ergebnis zweier Entwicklungen, die seit dem 19. Jahrhundert parallel verlaufen, die Entwicklung effizienterer Maschinen zur automatischen Kalkulation von Zeichen (v.a. Zahlen) und die Entwicklung immer effizienterer Speichermedien für Zeichen.213 Beide Entwicklungen finden Manovich zufolge nicht erst im Computer zusammen, sondern bereits im Film. Der Film ist demnach nicht das Medium vor den ›Neuen Medien‹, sondern er ist – und zwar technisch wie kulturell – das erste Neue Medium. Manovich begründet dies durch die Überlegung, dass der Film als ein Medium bewegter Bilder mit der Montage auf einem Verfahren basiert, gespeicherte Bilder in diskrete Einzelbilder aufzuteilen und zu einer Form der Darstellung zu verknüpfen, die von der Wahrnehmung des Menschen abgelöst ist.214 Die technische Struktur des Films organisiert diskrete Elemente und lässt sie auf der kulturellen Oberflächenstruktur als Einheit erscheinen. Der technischen Struktur des Films entspricht deshalb kulturell, wenn auch sehr grob, ein digitales Symbolsystem, das vom produktionsästhetischen Standpunkt bereits auf diagrammatische Praxen zurückgreift, bevor diese Praxen durch den Computer als Medium verfeinert werden.215 Diese Grundeinschätzung des Films gibt der Diskussion um digitale Bilder eine andere Richtung, was sich auch in der Bewertung der kulturellen Aspekte der Digitalisierung des Films niederschlägt. Die Ursache dafür ist der pragmatische Zuschnitt von Manovichs Theorie, den sie mit Vilém Flussers Konzept der Medienevolution gemeinsam hat. Die lebensweltliche »Bedeutung« der Neuen Medien, also auch die des Films, ergibt sich, gemäß des Kontinuitätsprinzips der Diagrammatik, erst aus dem, was man praktisch mit ihnen machen kann, also aus der Frage, wie die technische und die kulturelle Ebene miteinander in Beziehung gesetzt 212 | Manovich: The Language of New Media, S. 295. 213 | Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 25f., dazu auch Kogge: »Lev Manovich«, S. 299f. 214 | Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 148f. 215 | Vgl. Rustemeyer: Diagramme, S. 181, Rustemeyer vermerkt gar: »Von allen Künsten weist der Film in seiner Zeichenstruktur wohl die stärksten diagrammatischen Züge auf.«

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D IAGRAMMATIK werden. Manovich trägt eine Flussers Konzept des Technobilds nahezu analog verlaufende Argumentation vor: Die kulturelle Implikation der Neuen Medien besteht darin, dass die Prozesse der operativen Rekonfiguration von Zeichensystemen pragmatisch zugänglich werden. Manovich und Flusser gehen also beide davon aus, dass Film und Computer nicht zwei unterschiedlichen Epochen angehören. Sie sind Teil einer übergreifenden Entwicklung, die Flusser in den Praxen der Kartographie und der technischen Zeichnung, also im Diagramm beginnen lässt. Die Intuition beider Theoretiker ist es also, dass eine Klasse von Bildern existiert – die Technobilder – welche der diagrammatischen Ikonizität verpflichtet sind, noch bevor diese Bilder durch eine indexikalische Ikonizität erweitert und zum Kernelement dessen wurden, was man später ›Neue Medien‹ genannt hat. Eigentümlich ist dieser Debatte die Referenz auf den Zusammenhang von Diagrammatik und digitalem Bild. Blue- oder Green-Screen-Verfahren sind prototypische Verfahren einer diagrammatischen, digitalen Bildproduktion im Film.216 Sie basieren auf einem Begriff von einem Bild, das als schematisches Bild im Computer transformiert und dann in den Film eingefügt wird. Das Phänomen diagrammatischer Ikonizität, und nicht der Zusammenbruch der Indexikalität, ist für Manovich und Flusser also das medientheoretische Phänomen, das es im Fall der Verwendung digitaler Bilder im Film zu denken gilt.217 Der Bruch zwischen analogen und digitalen Medien relativiert sich in dieser Perspektive ein Stück weit – was kritische Gegenfragen provoziert. Ist es zum Beispiel nicht so, dass die für die Neuen Medien so zentrale Möglichkeit zur operativen Rekonfiguration und praktischen Manipulation des Bildes erst durch die Interaktivität des Computers und seiner Ableger ermöglicht wurde? Liegt also der Entwicklungsschub im Übergang von alten zu neuen Medien nicht darin, dass die Passivität des Rezipienten in digitalen Medien zugunsten aktiver Eingriffsmöglichen aufgehoben wurde?218 Das Problem bei dieser These ist die Kategorie der Interaktivität selbst. Sie setzt einen Dualismus von Produzent (aktiv) und Rezipient (passiv) voraus, der im Subjekt/Objekt-Schema seine Ursprünge hat. Interaktiv ist ein Medium demnach dann, wenn der Rezipient aktiv haptisch handeln kann. Nach Manovich ist das eine naive Betrachtung der Neuen Medien. Sein Argument lautet, dass Neue Medien eine systematische Verbindung von »sinnlicher Rezeptivität« und »intellektueller Aktivität« ermöglichen, die auf einer Doppelstruktur von technischem Medium und artifiziellem An-

216 | Einen Überblick über diese Verfahren bietet Flückiger: Visual Effects. Vgl. zu einer Interpretation dieser Verfahren in Richtung der Diagrammatik auch Bauer: »(Don’t) Say Yes«, S. 92f. 217 | Vgl. Manovich: The Language of New Media, S. 296ff. 218 | Vgl. die Beiträge in Bieber/Leggewie (Hg.): Interaktivität.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK schauungsraum basiert.219 Im Fall des Computers ist diese Verbindung sehr effizient realisiert, findet sich aber bereits im Film als einem Reflexionsmedium des Denkens. Von dieser Verbindung zwischen Wahrnehmung, Denken und Handeln aus führt der Weg zurück zu Deleuze’ Filmphilosophie. Deleuze war es nämlich, der die Voraussetzung und Konsequenz der Zeitbilder, wie zum Beispiel dem ›mentalen Bild‹ bei Hitchcock, in einer aktiven Einbindung der kombinatorischen und schlussfolgernden Potenziale des Zuschauers gegeben sah. Gemäß der Prämisse, dass das Medium Film die Kontinuität des Denkens reflexiv zugänglich machen kann, kommt es im Film zu einer Reflexion der Grenze zwischen materiellem und mentalem Bild, externem und internem Bild, die den Film im 20. Jahrhundert zum privilegierten Medium des Denkens werden lässt. Der Zuschauer ist gezwungen, neben den Figuren auch die Gesamtheit der unsichtbaren Selbst- und Fremdbezüge der Bilder mit zu betrachten, in welche diese Figuren eingebettet sind.220 Die Imagination ist Teil des filmischen Bildes und ihr nicht äußerlich.221 Auf diese Weise gewinnt der Film eine neue Qualität: Aus einem bildlichen Medium der Bewegung wird er zu einem diagrammatischen Medium des Denkens. Was sich in dieser Hinsicht mit der Klasse der »mentalen Bilder« im Übergang vom Bewegungs- zum Zeit-Bild in den 1950er Jahren abzeichnet, findet nach Deleuze seinen Höhepunkt in der in den 1960er Jahren entstehenden Klasse der sog. »Denkbilder«, die Deleuze unter anderem mit Filmen wie Teorema (Pier Paolo Pasolini, ITA 1968) oder auch 2001 – A Space Odyssey (Stanley Kubrick, GBR/USA 1968) assoziiert.222 Deleuze präzisiert anlässlich seiner Diskussion des Denkbildes auch seine Ausführungen zum diagrammatischen Charakter des Filmbildes an sich: Als ein »in sich bewegliches« und »sich selbst bewegendes« Bild sei das Filmbild, so schreibt er, seit jeher »weder figurativ noch abstrakt«223 gewesen, was eine weitere Paraphrase der Peirce’schen Bestimmung des Diagramms darstellt – dieses Mal allerdings um die reflexive Schleife erweitert, dass die filmische Bildanordnung es nun selbst ist, die eine Zirkulation von Bild und Begriff ausbildet und diesen Kreislauf als ein geschlossenes »Theorem« präsentiert, welches die filmischen Vollzüge insgesamt als »theorematisch« ausweist.224 219 | Auf diesen Punkt bringt es Kogge: »Lev Manovich«, S. 309f. 220 | Vgl. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 272. 221 | Mit sehr viel Geschick könnte man, zieht man die kognitionswissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Ansätze zur Diagrammatik zu Rate, hier vielleicht sogar Brücken in die kognitive Filmwissenschaft bauen. Vgl. etwa Currie: Image and Mind, S. 141ff., S. 164ff. 222 | Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 205ff., S. 244ff. 223 | Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 205. 224 | Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 226, vgl. auch S. 209ff., insb. die Bezüge zum mentalen Bild bei Hitchcock (S. 214).

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D IAGRAMMATIK Frühe Formen einer solchen Ästhetik erkennt Deleuze bereits in Sergej Eisensteins Konfliktmontagen. Nach dem Muster der Metapher setzt Eisenstein divergente Bedeutungsbereiche miteinander in Beziehung und hebt sie im Hinblick auf eine dritte Bedeutung auf. Allerdings distanziert sich Deleuze von der bei Eisenstein angelegten Dialektik: Das Verhältnis von Film und Bewusstsein, wie es der Film mit seinen Mitteln im Denkbild konzipiert, ist nicht auf ein »Ganzes« hin ausgerichtet, in dem sich die Gegensätze aufheben, sondern auf das »Offene« der Differenz von Aktualität und Virtualität. Ein diagrammatisches ›Theorem‹, wie es das Denkbild formuliert, ist eine sich beständig revidierende Hypothese darüber, wie ein »Problem« gelöst werden kann. Die Gesamtheit eines filmischen Bildensembles, also des Beziehungsgefüges aus realen und potenziellen, aktuellen und virtuellen Bildern, stellt sich als ein »Innen« dar, das auf ein als »Problem« markiertes »Außen« verweist.225 Deleuze versteht die Denkbilder des Films also als nach den Prinzipien der Diagrammatik verfasste technomediale Konfigurationen, in denen begriffliches Wissen ins Bild gesetzt und dort rekonfiguiert wird. Durch diese Art der Virtualisierung wird der Film für den Zuschauer als ein »geistiger Automatismus«226 erfahrbar: Der Vollzug von Denkoperationen im Film eröffnet dem Denken des Menschen einen Anschauungsraum für die Evaluation von veranschaulichten Denkmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund der Diagrammatik ist es nicht verwunderlich, dass Deleuze seine abstrakten Erörterungen über das Denkbild – also über einen schlussfolgernden Prozess in und mit dem Medium Film – im Zusammenhang mit einem »Kino des Körpers« diskutiert, welches das Verhältnis von Gehirn und Körper zum Thema hat. Kulturell eingeschrieben, diesen Umstand hat Deleuze genau gesehen, ist den Denkbildern ja stets die, semiotisch durch den Begriff des dynamisch-energetischen Interpretanten markierte, Dimension des körperlichen Handlungsvollzugs. Die Veranschaulichung von Denkmöglichkeiten mündet in eine körperliche Aktion. Und genau dieser Aspekt der operativen Rekonfiguration wird in den digitalen Varianten der Neuen Medien konsequent weiterentwickelt. In den Film selbst aber gelangt dies durch den Rückgriff auf die operativen Möglichkeiten zur Bearbeitung der Filmbilder durch die digitalen Bilder. Dort, wo Deleuze auf das »elektronische« bzw. »Tele- oder VideoBild« und seine Effekte auf das Kino zu sprechen kommt, ist er sich zwar über die Konsequenzen noch im Unklaren, er sieht aber zutreffend, dass nicht nur die Möglichkeiten zur Rekonfiguration des filmischen Bildes in den digitalen Bildern nochmals gesteigert werden, sondern dass diese Möglichkeiten sich in einer Potenzierung der Virtualität des Bildes, also in perfektionierten Praxen des Modellbildens und der Evaluation von Möglichkeiten niederschlagen werden. Seine These lautet: Die Verquickung 225 | Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 227. 226 | Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 233, S. 430ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK von Aktualität und Virtualität im Zeitbild ist in den avantgardistischen Praxen des Films angelegt, weshalb man im Umkehrschluss sagen kann: Der Film nimmt die digitalen ›Neuen Medien‹ nicht vorweg, er ist, und zwar als diagrammatische Praxis, ein ›Neues Medium‹.227 Nichts macht diese medientheoretische Einschätzung des Films deutlicher, als die relativ kohärente Wiedereinschreibung der Prinzipien des »mentalen Bildes« und des »Denkbildes« in die digitalisierten Formen des Bewegungsbildes, wie sie im populären Kino (Science-Fiction, Fantasy) der späten 1970er Jahre zu finden sind. Zunehmend wird auf die Möglichkeiten der digitalen Bildproduktion zurückgegriffen, um eine neue Form ikonischer Ästhetik entstehen zu lassen. In aller Regel sind digitale Bilder strikt nach den Gesetzen der Kontiguität, der Kontinuität und der Konsekutivität eingesetzt. Dennoch ist die häufig als hyperrealistisch bezeichnete Form der Ikonizität dieser Bilder konstitutiv auf eine Reflexion der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit abgestellt. Die enorme Steigerung der Komplexität an bildlicher Dichte, wie sie beispielsweise aus der Ästhetik der Schlachtszenen in Peter Jacksons Lord of the Rings (USA/NZE, 2001-2003) oder Roland Emmerichs Weltuntergangsszenario 2012 (USA, 2009) bekannt ist, spielt konstitutiv mit der Frage, was im Bild an Darstellung möglich ist. Diese Übersteigerung von Ikonizität in Richtung einer digitalen Ästhetik des Erhabenen soll Parallelen zur Malerei aufweisen. De facto ist sie, etwas überspitzt gesagt, aber nicht der Malerei, sondern der technischen Zeichnung verpflichtet, insofern sie auf einer technischen Interpretation der Möglichkeiten des Filmbildes als Diagramm beruht. Die analytische Dimension des Denkbildes wird so zu einer Analytik der Möglichkeiten des Bildes selbst. Kurzum: Das Filmbild wird in dieser Ästhetik als layout eines Möglichkeitsfeldes begriffen, das in der Rekonfiguration der Elemente und Perspektiven einen begrifflich abstrakten Sachverhalt modelliert, also elementar auf Prozesse wie die Veranschaulichung von begrifflichem Wissen um physikalische Prinzipien angewiesen ist. Die berühmten Bullet-Time-, oder besser noch: Frozen-Time-Szenen aus Filmen wie The Matrix von Andy und Larry Wachowski (USA/AUS 1999) konzipieren ein multiperspektivisches Bild, das seine ikonische Dichte gerade daraus bezieht, dass es als eine diagrammatische Konfiguration gedacht wird, die rekonfiguriert werden kann. Ganz generell gewinnt der Begriff der Szene – neben den klassischen analytischen Kategorien wie Kadrierung, Einstellung und Montage – für die Filmtheorie zunehmend an Bedeutung. Die unter Bedingungen von Blue- oder Greenscreen-Verfahren entwickelten Szenen verwandeln das avantgardistische Konzept des Zeitbildes von einer Szene des Möglichen im Bild in eine Szene des mit dem Bild Möglichen und schreiben die Ästhetik 227 | Vgl. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 339f. Speziell Lev Manovich hat, das wäre allerdings ein eigenes Kapitel, darauf hingewiesen, dass diese avantgardistischen Praxen in Medienformaten wie dem Videoclip weiter entwickelt wurden.

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D IAGRAMMATIK des theorematischen Entwurfs, wie sie für die Denkbilder in der Ära des Zeitbilds typisch ist, wieder in eine neue Zirkulation des Bewegungsbildes ein.228 Charakteristisch hierfür sind die als »mindgame-movies« bezeichneten »Gedankenspielfilme« des sog. »postklassischen« Hollywoodkinos der letzten ca. 25 Jahre (wie etwa Donnie Darko, USA 2002)229 mitsamt ihren Rückgriffen auf Verfahren der digitalen Bildproduktion und ihrem auffälligen Interesse für konjunktivische Erzählformen. Jenseits überkommener Hoch- vs. Subkultur- oder Avantgarde- vs. Mainstream-Differenzierungen bilden sie die konsequenten Fortschreibungen dessen, was Deleuze »mentale Bilder« und »Denkbilder« nennt. Spätestens dann, wenn man auch dieser These zustimmt, gilt es in Rechnung zu stellen, dass Deleuze die »mentalen Bilder« und die »Denkbilder« als diagrammatischen Sachverhalt untersucht hat, ohne dass in den entsprechenden Filmen in aller Regel auch nur ein einziges Mal eine Karte oder ein Diagramm sichtbar ist. Der Punkt ist: Worauf es Deleuze ankommt, ist die filmphilosophische Konsequenz des als »Denkbild« bezeichneten Schlussfolgerungsprozesses auszuloten, der in der Interaktion mit dem Medium entsteht und im Medium reflexiv verhandelt wird. Deleuze möchte die kulturelle Logik dieser Bilder untersuchen – eine Logik, die diagrammatisch sein kann, ohne auf ein als diagrammatisch konventionalisiertes Zeichen oder Bild verweisen zu müssen.

3.5 A NSCHAULICHES D ENKEN : B ILDWISSENSCHAF T UND K UNSTGESCHICHTE In der Diagrammatik, soviel dürfte inzwischen klar geworden sein, geht es um alle Formen und Operationen des anschaulichen Denkens – eines Denkens mithin, das ästhetikologisch verfasst ist und sich im Vorstellungsraum jener Anschaulichkeit abspielt, die sich weder auf Kants Begriff der Anschauung noch auf den Bereich der Bilder beschränken lässt, welche dem Menschen leibhaftig vor Augen stehen. Der Medien- bzw. Kunstwissenschaftler und Psychologe Rudolf Arnheim hat diesem anschaulichen Denken ein grundlegendes Buch gewidmet. Darin stellt er einleitend fest: »Ein Ding im Raume sehen, heißt, es in seinem Zusammenhang sehen.«230 Später generalisiert Arnheim diese Feststellung: »Allgemeiner kann man sagen, daß alles Sehen darauf herauskommt, Beziehungen zu sehen; und die Beziehungen in der Wahr-

228 | Grundüberlegungen zu einer am Avantgarde-Kino (u.a. Michael Haneke) entlang orientieren Theorie der Diagrammatik finden sich bei Rustemeyer: Diagramme, insb. S. 190ff. 229 | Vgl. Elsaesser: Hollywood heute, S. 237ff. 230 | Arnheim: Anschauliches Denken, S. 61.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK nehmung sind keineswegs einfach.«231 Das hängt damit zusammen, »[…] dass die Erscheinungsweise eines Dings im Gesichtsfeld von seinem Ort in der Gesamtstruktur des Feldes abhängt und von deren Einfluß oft durchgreifend verändert wird. Wenn ein visuelles Element aus seinem Zusammenhang herausgenommen wird, erscheint es als ein anderes Ding.«232 Im Alltag wird dieser Zusammenhang selten bemerkt, weil die meisten Dinge dem Menschen dort in einer fest gefügten Gestalt begegnen, dank der es möglich ist, sie schematisch aufzufassen. In der Kunst werden diese Schemata jedoch vielfach irritiert und variiert, so dass man sagen kann: »Kein Seherlebnis zeigt so deutlich wie das Ringen mit einem Kunstwerk, daß es bei den anscheinend so einfachen Vorgängen des Sehens oder Betrachtens immer um ein aktives Formschaffen geht.«233 Wirklich kreativ wird dieses aktive Formschaffen allerdings erst, wenn man nicht nur in verschiedenen Sachverhalten oder Ereignisfolgen das gleiche Muster erkennt, sondern dieses Muster auch produktiv abwandelt. »Wahrnehmen«, stellt Arnheim fest, »besteht im Auffassen wesentlicher Züge, zur Lösung eines Problems aber muß man an dem gegebenen Zustand Beziehungen und Gruppierungen ändern, Auswahlen treffen und Akzente verschieben können, um eine neue Konfiguration zu schaffen, in der sich die Lösung ermöglicht.«234 Damit hat Arnheim das Virtualitätsprinzip der Diagrammatik auf den Punkt gebracht. Zudem hat er gesehen, dass es der Dialektik von Konfiguration und Rekonfiguration keineswegs darauf ankommt, dass die Figur, die von diesen Operationen betroffen ist, auf einen Gegenstand referiert. »Der Charakter der Denkoperationen hängt nicht davon ab, ob das Denkobjekt anwesend ist oder nicht.«235 Intellektuell manipuliert werden Zeichen und Vorstellungen, nicht die Gegenstände selbst. Aus demselben Grund dürfen diagrammatische Operationen nicht reifikatorisch behandelt werden: Da sie nicht die Sache selbst, sondern das Modell der Sache betreffen, sind ihre Resultate gemäß der Pragmatischen Maxime zu behandeln. Während also das Virtualitätsprinzip eng mit der heuristischen Funktion der Diagrammatik zusammenhängt, korrespondiert der Pragmatischen Maxime das Bewusstsein um den Zeichencharakter des anschaulichen Denkens. Von daher ist es prinzipiell problematisch, wenn der Zeichencharakter einer Operation oder eines Artefakts auf die Referenz oder Repräsentation verkürzt wird. Ein Großteil der polemischen Abwehr der Semiotik durch Kunst- und Bildwissenschaftler beruht auf einer Vorstellung von Semiotik, die man eigentlich nur als Karikatur bezeichnen kann, weil sie sich ausschließlich auf das Verhältnis von Repräsentamen und Bezugsobjekt 231 | Arnheim: Anschauliches Denken, S. 61. 232 | Arnheim: Anschauliches Denken, S. 61. 233 | Arnheim: Anschauliches Denken, S. 44. 234 | Arnheim: Anschauliches Denken, S. 187. 235 | Arnheim: Anschauliches Denken, S. 216.

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222

D IAGRAMMATIK konzentriert. Ausgespart bleibt dabei die komplexe Dynamik der Interpretanten, die keineswegs schematisch oder gar teleologisch konzipiert werden kann. So sehr es im alltäglichen Umgang mit Zeichen vor allem darauf ankommt, ihre Bedeutung oder ihren logischen Interpretanten festzustellen, so weit ist das Spektrum der Möglichkeiten, die sich aus der Synergetik von Vorstellungen und Empfindungen, Gedanken und Erinnerungen, bewussten und unbewussten Impulsen ergeben. So ist dem Kunsthistoriker Horst Bredekamp ohne Einschränkung zuzustimmen, wenn er sagt: »Bilder, visuelle Phänomene haben eine nichtberechenbare Kraft. Zumindest eine Semiologie, die glaubt, die Bedeutung von Zeichen zu kennen und gleichsam grammatikalisch erschließen zu können, greift zu kurz.«236 Ebenso richtig bleibt freilich, dass eine Semiotik, die mit den dynamisch-energetischen Interpretanten gerade die Kraft der Bilder betont, ästhetische Sensationen und Emotionen freizusetzen, die nicht ins kognitive Schema passen, erheblich mehr zu bieten hat, als eine Referentensemantik. Wer die Semiose als einen nicht-finalistischen, kontingenten und kreativen Prozess denkt, hat weder ein Problem einzuräumen, dass sich Kunstwerke nicht in ihrer Verweisfunktion erschöpfen, noch damit, dass die Arbeit an Bildern zwar konjekturale Erfassungsakte und Inferenzmomente einschließt, deswegen aber nicht unbedingt auf einen logischen Interpretanten konvergieren muss. Vielmehr kann es gerade die Divergenz der durch ein Kunstwerk ausgelösten Affekte, Assoziationen und Analogieschlüsse sein, die den Reichtum und die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung ausmacht.

I.

Eine kurze Kunstgeschichte des Diagramms

Inzwischen gibt es eine Reihe von Hinweisen darauf, dass gerade die Verschränkung von schematischen und nicht-schematischen, von metaphorischen und diagrammatischen Zügen nachhaltig zu dieser Wirkung beiträgt, dass also die Kraft oder Dynamik der Kunst insbesondere aus ihrer Fähigkeit resultiert, mehrdeutige Zeichenspiele zu inszenieren. Um einige dieser Zeichenspiele näher zu erläutern, empfiehlt es sich allerdings, zunächst kurz auf die Rezeption des Diagrammbegriffs und der Diagrammatik in der Kunst- und Bildwissenschaft einzugehen. Als Pionierleistung auf diesem Feld kann die 1993 veröffentlichte Dissertation der Kunsthistorikerin Ulrike Maria Bonhoff gelten: Das Diagramm. Kunsthistorische Betrachtungen über seine vielfältige Anwendung von der Antike bis zur Neuzeit. Bonhoff geht von Wortbelegen in altgriechischen und altlateinischen Schriften aus, in denen der Begriff ›Diagramm‹ als eine Bezeichnung auftaucht, die sowohl geometrische Figur oder Bauinschrift, gesetzliche Verordnung oder kartographische Aufzeichnung, als auch Tabelle

236 | Bredekamp: »Im Königsbett der Kunstgeschichte«, S. 47.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK oder Schema meinen kann.237 Bei aller Varianz scheint diesen Begriffsverwendungen gemeinsam zu sein, dass es sich um Zeichenkonfigurationen mit einer pragmatischen Funktion handelt. Die Durchsicht der philosophischen Quellen liefert weitere Aufschlüsse. Bei Platon wird das mathematische Denken als eine Reihe logischer Operationen verstanden, die – für sich betrachtet – sehr abstrakt und unanschaulich sind, aber anhand von Schaubildern sichtbar und nachvollziehbar dargestellt werden können.238 Noch konkreter spricht Aristoteles von diagrammata, wenn es um geometrisch geführte Beweise geht, also etwa darum, anhand von Figuren zu belegen, dass die Basiswinkel in einem gleichschenkligen Dreieck gleich sind. Der Manipulation der Figur entsprechen Denkschritte oder Erkenntnismomente. Diagramme werden damit an der Schnittstelle von Theorie und Evidenz verortet. Evidenz aber ist bei Aristoteles mit Praxis assoziiert: Zum einen, weil sich das Offenkundige in aller Regel nachvollziehen und nachmachen, also mimetisch behandeln lässt; zum anderen, weil Aristoteles auch die Beweisführung als eine Tätigkeit versteht, die intellektuelle und manuelle Operationen umfassen kann: »Die Beweise der Diagrammata findet man durch wirkliche Tätigkeit«,239 also beispielsweise dadurch, dass man sich anhand der Rekonfigurationen einer Figur bestimmte Transformationsregeln erschließt. Gemeint ist damit offenbar eine Tätigkeit, die mit dem manuellen Nachzeichnen von Figuren beginnen kann, die algebraische Formeln wie x2 + y2 = z2 veranschaulichen. Das kann mit dem Finger entlang der Linien, mit Kreide oder Bleistift oder einfach nur durch Augenbewegungen und Beobachtungen geschehen. Später kann das Nachzeichnen, das zum gedanklichen Nachvollzug führt, in den Dienst der Exploration gestellt und mit Entwurfshandlungen verbunden werden. Bis heute hat sich die Idee, die in dieser Didaktik und Heuristik steckt, im Begriff der Evidenz erhalten: der augenscheinliche Beweis dessen, was der Fall ist, stellt eine Schussfolgerung dar, die unmittelbar aus der konjekturalen Auffassung des Sachverhalts folgt, der einem vor Augen steht. Trotz Platon und Aristoteles scheint der philosophische Diskurs der Antike zum Diagramm ausgesprochen elliptisch zu sein. Bonhoff kann vor allem technische Applikationen wie die angewandte Geometrie namhaft machen: Der Grundriss, der Handwerkern bei ihrer Tätigkeit als Maßstab und Vorbild dient, oder die Skizze, die es auszuführen gilt. »Die mittelalterliche Bauhüttengeometrie, die zum großen Teil auf der von den Griechen kommenden und von den Römern betriebenen praktischen Geometrie beruht, bezieht sich ebenso wie diese auf praktisch-handwerkliche Probleme und bedient sich der geometrischen Anschauung.«240 237 | Vgl. Bonhoff: Das Diagramm, S. 7. 238 | Vgl. Bonhoff: Das Diagramm, S. 14. 239 | Zit. nach Bonhoff: Das Diagramm, S. 20. 240 | Bonhoff: Das Diagramm, S. 69.

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D IAGRAMMATIK Mit der Zeit differenzieren sich zwei Medienformate aus: die Musterzeichnung und die Entwurfszeichnung. »Während die Musterzeichnung lediglich beispielhaft das fertige Ergebnis zeigt, fällt der Entwurfszeichnung die Aufgabe zu, die Regeln, die sich mit der Entwurfslehre eines Baukörpers oder -gliedes beschäftigen, unmittelbar zu veranschaulichen. Diese Entwurfsregeln, die von jedem Baumeister oder Steinmetzen beherrscht werden mußten, finden in gotischer Zeit ihren literarischen Niederschlag.«241 Bild und Text treten damit in ein Interaktionsverhältnis, können aber auch leicht entkoppelt werden. Wer die literarische Beschreibung lesen (und verstehen) kann, kommt zur Not auch ohne Zeichnungen aus. Verringert wird in diesem Fall das Moment der Evidenz; gesteigert wird hingegen die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Sonderwissen der Schriftkundigen bildet. Verstärkt werden kann diese Tendenz durch eine Aufgabenteilung zwischen Planung und Ausführung, die zu einer Splittung der diagrammatischen Kompetenz führt. Konstitutiv für den Ingenieur und seine Tätigkeit ist, dass er Gebrauch vom Virtualitätsprinzip macht, wenn er seinen Entwurf durch Rekonfigurationen optimiert; konstitutiv für den Handwerker ist umgekehrt, dass er sich strikt an die Konfiguration hält, die ihm als Blaupause ausgehändigt wird. Diese Differenzierung wird auch dadurch nicht aufgehalten, dass der Rechenunterricht in der Neuzeit immer mehr Bevölkerungskreise erreicht und ein kultureller Wandel eintritt: »Die geometrische Vorstellungskraft wird von der arithmetischen abgelöst, ohne jedoch von ihr verdrängt zu werden, was die weitere Entwicklung der Geometrie als Wissenschaft beweist.«242 Während sich die Berufsrollen von Ingenieur und Handwerker komplementär ausdifferenzieren, orientieren sich die Künstler an der Vorstellung, dass Formen und Forschen Hand in Hand gehen sollen. Geradezu prototypisch erscheint in dieser Hinsicht Albrecht Dürer, der sich zugleich für die theoretische und für die ästhetische Seite der Geometrie interessiert. Bonhoff verweist auf seine mathematische Schrift zur Messkunde, auf die Vier Bücher von menschlicher Proportion und auf die Zeichnungen im Dresdner Skizzenbuch.243 Im Hintergrund steht die Auseinandersetzung mit Vitruv, im Vordergrund der ebenfalls schon aus der Antike bekannte Versuch, den menschlichen Körper, seine Gliedmaßen und Bewegungen schematisch zu erfassen. Bezeichnenderweise geht auch Dürer von einer festen geometrischen Grundfigur zu einer arithmetischen Erfassung über, um diese beiden Verfahren der Schematisierung schließlich zu kombinieren.244 Messdaten hält Dürer in Tabellen fest, ihre Relevanz für die Proportionslehre veranschaulicht er in Diagrammen. »Formal gesehen ist Dürer damit der erste Künstler, der die moderne Form des Dia241 | Bonhoff: Das Diagramm, S. 69. 242 | Bonhoff: Das Diagramm, S. 102. 243 | Vgl. Bonhoff: Das Diagramm, S. 106, S. 123. 244 | Vgl. Bonhoff: Das Diagramm, S. 124.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK gramms, das heißt die visuelle Umsetzung einer tabellarischen Form in ein Koordinatensystem bereits vor 450 Jahren gebrauchte und seine Vorteile der schnellen Erfassung des Themas erkannte. Auch der Schüler war nun in der Lage, mit Hilfe der Tabelle und des Diagramms die Maße in der künstlerischen Darstellung umzusetzen.«245 In der Didaktik setzt Dürer also auf das Evidenzprinzip der Diagrammatik, während ihn das theoretische Interesse in den Proportions- und Bewegungsstudien dazu treibt, den Abstraktionsgrad der geometrischen Formen und Figuren sukzessive zu steigern. Seine Forschung »gipfelt formal gesehen in der völligen Auflösung des Körpers in nur drei Kuben und deren Verschiebung.«246 Zum Inbegriff der frühneuzeitlichen Bewegungs- und Proportionslehre ist allerdings nicht eine Zeichnung von Dürer, sondern das Diagramm des sogenannten ›Vitruvmannes‹ geworden, das Leonardo da Vinci entworfen hat. In diesem Schaubild, das im Original als Le proporzioni del corpo umano firmiert, wird der Aktionsraum des Menschen auf die beiden Grundformen von Kreis und Quadrat bezogen. Was jedoch sofort ins Auge fällt, ist der Umstand, dass die Darstellung an einer Figur zwei Bewegungsphasen zeigt. »Die Vereinigung der beiden Schlüsselfiguren Kreis und Quadrat in einer Zeichnung und gleichzeitig die Visualisierung der zwei Positionen führt konsequenterweise zu einer Darstellung, die zwei Arme und vier Beine hat. Unzweifelhaft beinhaltet dies ein ›cinematographisches‹ Element.«247 Abbildung 18: Der sog. ›Vitruvmann‹: Menschenbild und Bewegungsdiagramm

245 | Bonhoff: Das Diagramm, S. 125. 246 | Bonhoff: Das Diagramm, S. 143. 247 | Bonhoff: Das Diagramm, S. 156.

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D IAGRAMMATIK Die Zeichnung wird zu einem virtuellen Bewegungsbild, was man auch so formulieren kann, dass sie ein narratives Intervall ausstellt. Indem der Künstler zwei Bewegungsphasen übereinander blendet, stimuliert er Vorstellungen von einem Geschehen. Das Kunststück, einen Zeitverlauf anhand von zwei Momentaufnahmen zu vergegenwärtigen, kann freilich nur gelingen, weil Leonardos Zeichnung beides ist: image und diagram; Abbildung eines Menschen und Schaubild seiner Beweglichkeit.248

II. Piktoriale Darstellung und diagrammatische Bildauslegung Das ist der springende Punkt: Bonhoffs Geschichte der handwerklichen und künstlerischen Verwendung von Diagrammen läuft auf das hinaus, was der Kunstwissenschaftler Steffen Bogen und der Philosoph Frederik Stjernfelt ausdrücklich festhalten: die Erkenntnis, »dass visuelle Artefakte immer schon bildlich und diagrammatisch zugleich sind.«249 Dieser Formulierung von Bogen entspricht Stjernfelts Bemerkung: »all pictures, also in the ordinary art-history-meaning of the word, are also diagrams […].«250 Man kann sich dies zunächst so vorstellen, dass jedes dichte, gegenständliche Gemälde eine szenische Darstellung ist, in der man das Schema ihrer Konfiguration erkennen kann – ein Schema, das unter Umständen genauso auslegungsrelevant sein kann wie die Szene, die im Vordergrund der Betrachtung steht. Schaut man sich zum Beispiel das Gemälde Der Sturz des Ikarus an, das gemeinhin Pieter Breughel zugeschrieben wird, so hat man es mit einem zentralperspektivisch angelegten Landschaftstableau zu tun, das eine Fülle farbiger Details aufweist und nur am Rande auf die antike Sage verweist, die der Maler vermutlich in der Vermittlung durch Ovid (Metamorphoses VIII) kannte. Innerhalb dieses Tableaus fallen jedoch zwei Relationen auf, die besondere Aufmerksamkeit verdienen: Zum einen wird nur der Augenblick aus dem Geschehen herausgegriffen, in dem Ikarus auf die Oberfläche des Meeres trifft und bereits bis zur Hüfte im Wasser versunken ist. Bemerkenswert ist, dass dieser Augenblick der Katastrophe nicht im Mittelpunkt von Breughels Konfiguration steht, sondern marginalisiert wird. Man muss den Bruchpiloten geradezu suchen, weil sich das Gemälde statt seiner auf ganz gewöhnliche Menschen fokussiert, die ihrer alltäglichen Arbeit in zeitgenössischen Gewändern nachgehen. Das Heroische wird also an den Rand gedrängt, zumal jeder Hinweis auf Daedalus, die andere Hauptfigur des Mythos, fehlt, und auch nichts von der legendären Flugmaschine zu erkennen ist, die der geniale Künstler konstruiert haben soll. 248 | Eine diagrammatische Deutung liefert auch Rustemeyer: Diagramme, S. 64ff. 249 | Bogen: »Schattenriss und Sonnenuhr«, S. 168. 250 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. 278.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Abbildung 19: Pieter Breughel (?), Der Sturz des Ikarus (Öl auf Leinwand. um 1665)

Zum anderen ist der Betrachter natürlich versucht, dem Bild in seiner Vorstellung die Sturzbahn des Ikarus einzuzeichnen, der ja der Sonne zu nahe gekommen und – Hochmut kommt vor dem Fall – in die Tiefe gestürzt war. Sobald man jedoch die Linie dieser Sturzbahn imaginativ nachvollzieht – der Szene also im Geiste ein entsprechendes Schema einzeichnen möchte – stößt man auf den merkwürdigen Umstand, dass die Sonne im Hintergrund des Gemäldes bereits ebenfalls zur Hälfte im Meer versunken ist, dass sie also nicht, wie es die Kenntnis der Sage erwarten lässt, im Zenit steht und ihre volle Strahlkraft entfaltet. Diese Konfiguration von Sonne und Ikarus widerstreitet dem kulturellen Wissen und stellt innerhalb des Bildes ein Rätsel dar, das man nur erfasst, wenn man es gleichsam diagrammatisiert, das heißt als ein Beziehungsgefüge auffasst, in dem die Erinnerung an eine Geschichte – im doppelten Sinn des Wortes – ›aufgehoben‹ ist. Um das Rätsel zu lösen, kann der Betrachter verschiedene Vermutungen anstellen: So könnte dem Maler ein Fehler unterlaufen sein, als er zwei distinkte Zeitpunkte (der Absturz des antiken Helden und der Untergang der Sonne) in seiner Momentaufnahme des Geschehens zusammenfasste. Ebenso gut könnten entweder die untergehende Sonne oder der untergehende Ikarus Interpolationen, also nachträgliche Einfügungen, sein. Vielleicht war das Bild ursprünglich einfach nur ein Landschaftspanorama in der Dämmerung, mit dem sich jemand einen Spaß erlaubt hat, als er an den Rand des Bildes zwei nackte Beine malte. Vielleicht unterstützt die paradoxe Konfiguration von Ikarus und Sonne aber auch die Tendenz zur Marginalisierung des Mythos, die das Bild durchgehend bezeugt. Breughels Gemälde wäre dann die bewusste Rekonfiguration oder Deformation der allegorischen Lesart, der die Sage traditionell unterzogen wird. Denn wenn es Ikarus ist, der just in dem Moment ins Meer stürzt, in dem die Sonne untergeht, dann liegt sein Fall womöglich anders als es seine Zurückführung (Retroduktion) auf den Frevel des Hochmuts nahelegt.

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D IAGRAMMATIK In diesem Sinne eröffnet das Gemälde nicht nur einen breiten Anschauungsraum, in dem mythopoetische Anspielungen ebenso Platz finden wie die Vergegenwärtigung der nicht-heroischen Arbeits- und Lebenswelt. In diesem Sinne eröffnet es der Auslegung des Betrachters auch einen Spielraum, der wesentlich damit zusammenhängt, dass sich der Maler nicht bloß reproduktiv, sondern produktiv mit der literarischen Überlieferung auseinandergesetzt und mit dem Erzählgerüst auch die Moral der Geschichte abgewandelt bzw. in Frage gestellt hat. Der dem Bild diagrammatisch eingeschriebene Widerspruch zu der Folgerichtigkeit, die den antiken Mythos auszeichnet (Hochmut kommt vor dem Fall), gibt viel zu denken, ohne eindeutig aufgelöst werden zu können. Es ist aber klar, dass sowohl die Entdeckung dieses Widerspruchs als auch die abduktive Suche nach einer Erklärung diagrammatische Operationen involviert, und dass diese Operationen nicht willkürlich ausgeführt werden, sondern in Analogie zu den Relationen, die das Gemälde tatsächlich exponiert. Was Bogen allgemein über visuelle Artefakte sagt, trifft also auch auf dieses Kunstwerk zu: Es ist bildlich und diagrammatisch, dicht und disjunkt, flächig und spatial organisiert. Ebenso gilt die Folgerung, die Stjernfelt aus diesem Befund zieht: »Art is thus diagrammatically underdetermined in a way analogous to the metaphorical underdeterminacy of poetry – which is why it calls for interpretation: many different diagrams and metaphors may call for application in experimenting analytical picture observation. Thus analysis of art (but this goes for any analytical process) involves a crucial abductive component – abduction being the Peircean prerequisite for any gaining of new knowledge. Abduction makes a guess at an unexplained phenomenon by suggesting a general law or state of affairs which would have the phenomenon in question as necessary consequence […].« 251

Allerdings scheint es in der Kunst vielfach darauf anzukommen, die Imagination der Betrachter anzuregen, den Akt der Hypothesenbildung jedoch – autopoetisch – zurückzulenken auf die Machart der einzelnen Artefakte. Der Versuch, die Schemata in einer piktorialen Szene zu erfassen, dient keineswegs immer dem Zweck, ein Rätsel zu lösen. Und selbst wenn das der Fall ist, kann der Reiz des Unternehmens gerade darin liegen, dass sich das Rätsel nicht lösen lässt – der Versuch, ihm auf die Spur zu kommen aber zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Komposition des Werkes führt.

251 | Stjernfelt: Diagrammatology, S. 279.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Abbildung 20: René Magritte, Das Reich der Lichter (1954), Öl auf Leinwand

Ein surreales Bild wie René Magrittes Gemälde Das Reich der Lichter kann nur deshalb als ›surreal‹ aufgefasst werden, weil es eine reale Szene inkorporiert, der es widerspricht. Inkorporiert ist in diesem Fall die reale Szene eines Hauses, wie man sie entweder bei Tag oder bei Nacht sehen kann. Im Bild wird diese Szene jedoch sowohl als Tag- wie als Nachtszene ›ausgeleuchtet‹. Man könnte auch sagen: das Bild stellt eine Juxtaposition von Wahrnehmung und Wissen dar. Es liefert dem Betrachter eine Anschauung, die zwei miteinander unvereinbare Begriffe involviert: Tag und Nacht. Da der Betrachter weiß, dass diese beiden Begriffe nicht zugleich die reale Wahrnehmung eines Hauses bestimmen können, erscheint ihm das Gemälde surreal und rätselhaft. Die den Begriffen geschuldete Differenzlogik von Tag und Nacht stimmt nicht mit der Identifizierung der ihnen zugeordneten Anschauungsformen überein – doch um dieser Paradoxie gewahr zu werden, muss die Konfiguration von Tag und Nacht in einer Szene auf die Wissensordnung der natürlichen Wahrnehmung bezogen werden. Ohne diesen Vergleich – der eine diagrammatische Operation darstellt – könnte das Gemälde nicht als eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Entweder-Oder-Logik der Sprache gedeutet werden. Es exponiert ein Rätsel oder einen Widerspruch, seine eigene Logik liegt jedoch nicht darin, dass der Betrachter dieses Rätsel auflöst, sondern darin, dass er die Trennschärfe der Begriffe in Frage stellt, die das Bild in einer Anschauung zusammenfasst. Wie man an den Kunstwerken von Breughel und Magritte sehen kann, macht es Sinn, Gemälde nicht nach der Entweder-Oder-Logik zu behandeln, die durch die Unterscheidung von image und diagram nahegelegt wird. So wie die Schriftbildlichkeit ein hybrides Phänomen darstellt und ein Text, der ausschließlich aus symbolischen Zeichen zusammengesetzt

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D IAGRAMMATIK ist, gleichwohl die ikonische Qualität der Figürlichkeit aufweisen kann, kommt es bei gegenständlichen Gemälden auf das Wechselspiel von Szene und Schema an. Diese Sicht der Dinge wird erleichtert, wenn man sich image und diagram nicht nur als distinkte Bildformate vorstellt, sondern bedenkt, dass diagrammatische Operationen und szenographische Akte Hand in Hand gehen. So richtig es ist, dass Diagramme klare Zwecke haben, weil sie etwas sichtbar machen und Überblick schaffen,252 so multifunktional sind die diagrammatischen Operationen, die sich anlässlich der Konfrontation mit Kunstwerken in der Imagination eines Betrachters vollziehen können. Umgekehrt gilt für den Prozess der Bildkomposition, dass die Linienführung Skizzen und Schemata folgt, die auf der Leinwand angelegt sind, im Verlauf der Ausführung des Werkplans aber zunehmend überlagert und verdeckt werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass die Bildherstellung, anstatt einem vorgegebenen Muster zu folgen, ein solches Muster allererst hervorbringt und – wie bei den drip-paintings von Jackson Pollock – Gestalten erzeugt, die man gleichsam als choreographisches Abbild der Dynamik verstehen kann, die den Produktionsprozess vorangetrieben hat. Pollock lief mit Farbeimer, Pinsel oder Stock an den Seiten einer auf den Boden gespannten Leinwand entlang, auf die er die Farbe tropfen ließ, zuweilen aber auch schleuderte oder schüttelte. Bezeichnenderweise musste er sich lange Zeit gegen den Vorwurf wehren, dass seine Gemälde gar keine Konzeption hätten und lediglich ein Produkt des Zufalls wären, »inhaltsleere Explosionen sich ungesteuert entladener Energie. […] In einem Interview äußerte er 1951, dass er aufgrund seiner Erfahrung sehr wohl in der Lage sei, den Farbfluss zu kontrollieren.«253 Für Pollock waren seine drip-paintings Bewegungsbilder, an deren Entstehung das Körpergedächtnis maßgeblich beteiligt war. Die einzelnen Handgriffe, die Geschwindigkeit, mit der sie ausgeführt wurden, und der Abstand zur Leinwand, der ihren Aktionsradius bestimmte, beruhten auf Erfahrungen, die er in langjähriger Arbeit verinnerlicht hatte. In dieser Hinsicht ähneln sie den enaktiven Schemata, die keiner Reflexion bedürfen, um wirksam zu werden. Das heißt freilich nicht, dass sich der Malakt ohne Beteiligung des Bewusstseins, gleichsam automatisch, vollzogen hätte und Pollocks Gemälde keinerlei intentionale Bedeutung hätten. Eher schon sind sie anschauliche Beispiele dafür, wie wichtig die dynamisch-energetischen Momente in produktions- wie in rezeptionsästhetischer Hinsicht sind.

252 | Vgl. Bredekamp/Schneider/Dünkel: »Diagrammatik«, S. 192. 253 | Emmerling: Jackson Pollock, S. 68f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Abbildung 21: Jackson Pollock, Comet (1947) Öl auf Leinand

Wenn der Kunstwissenschaftler Leonhard Emmerling über das Gemälde Comet sagt, dass sich eine weiße Kurve »wie die Spur eines Kometen am Nachthimmel«254 durch die opake Verdichtung zahlreicher Farbschichten zieht, so geht es ihm bei diesem Vergleich sicherlich nicht darum, das Bild mit einem bestimmten Gegenstand zu identifizieren oder gar auf einen logischen Interpretanten (Abbild einer Kometenbahn) festzulegen. Vielmehr gehört der Vergleich zu den dynamisch-energetischen Interpretanten, an denen sich die Übertragung einer Kraft vom Bild auf den Betrachter bemerkbar macht, die allein durch die Form der Komposition geleistet wird. Dem Erregungsmoment der Farbkurve entspricht die Erregung der Einbildungskraft – diese Kraft zu spüren ist mindestens genauso wichtig, wenn nicht wichtiger als die Referenzialisierbarkeit des Bildobjekts. Indem der Betrachter unentwegt zwischen der Beobachtung des Gemäldes als Zeichenkonfiguration und den eigenen Vorstellungsbildungen hinund herläuft, verhält er sich auf eine nicht teleologische Art und Weise kreativ, das heißt, er geht produktiv mit einer ästhetischen Sensation um, die zunächst einmal eine sinnesphysiologische Wirkung des Kunstwerks darstellt und als solche auch keiner weiteren Auslegung oder Rechtfertigung bedarf. Faszinierend ist die Vielfalt der Kompositionen, die sich mit dem Verfahren des drip-painting erzeugen lassen. Faszinierend ist aber auch, wie Emmerling diese Kompositionen beschreibt und voneinander abhebt.

254 | Emmerling: Jackson Pollock, S. 70.

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D IAGRAMMATIK »In Number 32, 1950, setzt Pollock eine Vielzahl von Knotenpunkten, die in immer neuen Anläufen bestimmt worden zu sein scheinen. Nicht der Schwung einer großen, vereinheitlichenden Linie wie in Mural oder Summertime dominiert hier die Bildgestalt, sondern die Relation gesondert verorteter Energiezentren, die in Verbindung zu anderen Energiezentren stehen. Die Bildfläche ist weder durch einen einheitlichen Rhythmus noch durch die Überlagerung und Verdichtung der Farbschichten strukturiert; vielmehr scheinen unabhängig voneinander an unterschiedlichen Stellen im Bild autonome Farbzentren zu explodieren.« 255

Selbst wenn man die drei genannten Bilder nicht vor Augen hat, kann man ihrer literarischen Rekonfiguration entnehmen, welche Rolle die Diagrammatik auch und gerade in der Betrachtung ungegenständlicher Malerei spielt. Zugespitzt formuliert könnte man sagen: Um so geringer die Referenzialisierbarkeit einer Komposition ist, desto intensiver wird in ihr nach Relationen und Mustern, Bezugsverhältnissen und Schemata gesucht – nicht, um doch noch eine gegenständliche Bedeutung zu finden, sondern um die Machart des Kunstwerks selbst konjektural zu erfassen und sich dergestalt ein Erlebnis zu verschaffen, dessen Wert in der Vollzugsform der Bilderfahrung selbst liegt. Will man sich damit nicht zufrieden geben, kann man in Kunstwerken, die abstrakte Muster erzeugen und ihre eigene dynamisch-energetische Genese reflektieren, Beiträge zur Entwicklung des menschlichen Ausdrucks- und Wahrnehmungsvermögens sehen. »Ein ungegenständliches Gemälde zum Beispiel kann bestimmte Formen und Muster exemplifizieren, kann eine Sehweise zeigen, die sich durch weiteres Sehen in etwa so testen läßt, wie eine vorgeschlagene Hypothese durch weitere Fälle getestet wird.«256 Charakteristisch für visuelle Artefakte scheint somit eine Dialektik von Figuration und Defiguration zu sein, die in vielfältiger Weise in Wechselwirkung mit den diagrammatischen Operationen der Kon- und Rekonfiguration geraten kann. Eine Möglichkeit, sich dieser Dialektik zu nähern, bietet der für alle Bildbetrachtung zentrale Begriff der ikonischen Differenz.

III. Ikonische Differenz, Medialität und Plastizität Der Kunst- und Bildwissenschaftler Gottfried Boehm hat diesen Begriff – was aus Sicht der Diagrammatik gar nicht allzu verwunderlich ist – an einem Modell entwickelt, das gar nicht aus dem Bereich der Mal-, sondern der Sprachkunst stammt. In seinem Buch Die Verklärung des Gewöhnlichen hatte der Philosoph Arthur C. Danto die Metapher, einen Gedanken von Aristoteles aufgreifend, als eine rhetorische und poetische Figur bestimmt, die einen unvollständigen Schluss darstellt.257 Eben durch diese Unvollständig255 | Emmerling: Jackson Pollock, S. 72f. 256 | Goodman: Vom Denken und anderen Dingen, S. 64. 257 | Vgl. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, S. 258ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK keit bezieht sie jedoch den Hörer oder Leser in den Aufbau der Bildlichkeit ein und gibt, wie Boehm es ausdrückt, »affektiven Resonanzen« Raum.258 Eine Metapher erzeugt Allusionen, legt Spuren und setzt paradoxe Zirkularitäten in Gang, die das anschauliche Denken, das sie befördert, produktiv machen. Ihre Bildhaftigkeit »lässt sich, Einzelbeobachtungen zusammenfassend, als ein Phänomen des Kontrastes kennzeichnen. Der Kontrast resultiert gerade aus den überraschenden Wortfolgen, aus Brüchen, Inversionen oder unüberbrückbaren geistigen Sprüngen. Was immer sich im sprachlichen Bild fügt, seine innere Differenz wird doch als eine einzige Sinngröße erfahrbar: etwas wird als etwas sichtbar und plausibel.«259 Es ist dieser Kontrast zwischen der inneren Differenziertheit und Heterogenität einerseits und der Homogenität und Ganzheitlichkeit dessen, was der bildliche Ausdruck insgesamt zeigt, andererseits, der es Boehm erlaubt, das Modell der sprachlich verfassten Metapher auf die Verfassung zu übertragen, die gemalte Bilder auszeichnet. Die Kontraste, die dabei zunächst ins Auge fallen, »betreffen Unterschiede der Helligkeit, der Farbe, das Verhältnis von Fläche und Tiefe usf.«260 So wichtig diese Kontraste sind, grundlegender ist ein anderer Unterschied, der das Bild als Medium betrifft. »Was uns als Bild begegnet, beruht auf einem einzigen Grundkontrast, dem zwischen einer überschaubaren Gesamtfläche und allem was sie an Binnenereignissen einschließt. Das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen (der Farbe, der Form, der Figur etc.) beinhaltet, wurde vom Künstler auf irgendeine Weise optimiert.«261 Zwei Gesichtspunkte sind an dieser Beschreibung gesondert hervorzuheben: Zunächst geht es um eine wichtige Implikation des Begriffs der ›überschaubaren Gesamtfläche‹, da er zwar auf Gemälde, Zeichnungen und Photographien, aber nicht auf Plastiken oder Filme zutrifft, weil man sie nicht ›auf einen Blick‹ als Ganzes wahrnehmen kann, sondern verschiedene Ansichten einer Konjektur ›im Geiste‹ unterziehen muss, bevor man sie als ›Ganzes‹ betrachten kann – eine Betrachtung, die so nur in der Vorstellung möglich ist. Ein weiterer Aspekt betrifft die Implikatur der Beschreibung. Wenn Boehm davon spricht, dass der Künstler das Verhältnis zwischen dem anschaulichen Ganzen und dem, was es an Einzelbestimmungen enthält, optimiert, dann kommt es bei dieser Optimierung offenkundig auf die Konfiguration der Elemente und ihrer Qualitäten an, also auf die Anordnung der Farben, Formen und Figuren. Insofern der Gesamteindruck von den Relationen und Proportionen respektive von den Kontrasten abhängt, die sich aus dem Verhältnis von Figur und Hintergrund, Helligkeit und Dunkelheit, Mitte und Rand etc. ergeben, hängt die Wirkung der Malkunst von diagrammatischen Operationen ab. Das 258 | Boehm: »Die Wirklichkeit der Bilder«, S. 29. 259 | Boehm: »Die Wirklichkeit der Bilder«, S. 29. 260 | Boehm: »Die Wirklichkeit der Bilder«, S. 29. 261 | Boehm: »Die Wirklichkeit der Bilder«, S. 29f.

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D IAGRAMMATIK gilt, wie dargelegt wurde, selbst für nicht gegenständliche Gemälde, da auch sie bestimmte Beziehungen, Verhältnisse und Muster exemplifizieren oder als Abweichungen von solchen Mustern konfiguriert werden. Zur weiteren Profilierung der ikonischen Differenz dient Boehm, wiederum in Anlehnung an Danto, das offenbar in allen Bildern angelegte Wechselspiel von Transparenz und Opazität.262 »Opak ist alles Materielle am Gemälde, seine dingliche Seite, die Fraktur des Farbauftrags udglm. Der Künstler richtet die materiellen Verhältnisse allerdings so ein, daß in diesem Undurchsichtigen etwas Sichtbares aufsteigt, ein Anblick oder Durchblick eröffnet wird, sich die opake Bildfläche transparent zeigt auf etwas Gemeintes und Gezeigtes hin, auf Sinn.«263 So sorgt zum Beispiel die zentralperspektivische Anordnung der Farben, Formen und Figuren dafür, dass ein gegenständliches Gemälde trotz der Zweidimensionalität der Leinwand ›Tiefe‹ gewinnt und den Eindruck erweckt, der Betrachter könne Einblick in einen dreidimensionalen Raum nehmen. Interessant ist, dass Opazität und Transparenz arbeitsteilig organisiert werden können. So verdeutlichen pointilistische Gemälde, wie sehr der Gesamteindruck des Gegenständlichen vom Abstand zwischen Bild und Betrachter sowie von der konjekturalen Auffassung des Bildes durch den Betrachter abhängt. Wer zu nahe an die Leinwand tritt, verliert das Bild sozusagen aus dem Auge und sieht nur noch Farbpigmente. Erst das Zusammenspiel zwischen der Konfiguration dieser Pigmente, die entsprechende Schemata involviert, und der Fähigkeit des Betrachters, einen Stand- oder Blickpunkt einzunehmen, von dem aus sich ihm diese Konfiguration im doppelten Sinn des Wortes ›erschließt‹, lässt das Bild zu einem Zeichen für bestimmte Objekte oder Objektkonstellationen werden. Von daher ist die Zeichenhaftigkeit der Kunst am Pol der Transparenz zu verorten, also dort, wo das Medium unsichtbar wird, während seine Medialität und Materialität gerade umgekehrt am Pol der Opazität ins Auge sticht. Fasst man den Grundkontrast und die ikonische Differenz anhand der Polarität von Opazität und Transparenz als eine Spannung zwischen den materiellen Elementen des Bildes und ihrer jeweils konkreten Relationierung auf, kann man auch nicht gegenständliche Gemälde diagrammatisch verstehen. So ist ein drip painting nicht zuletzt ein Bewegungsdiagramm, das die Dynamik und Energie seiner Herstellung exemplifiziert. Es stellt gewissermaßen die Prozessstruktur dieser Herstellung aus. Zudem kann es als Medium einer Reflexion über die Begrenzung und Entgrenzung der Malerei durch Raum und Zeit aufgefasst werden. Denn einerseits sind die Bewegungen des Farbauftrags in den Spuren, die sie auf der Leinwand hinterlassen haben, stillgestellt – andererseits stößt der Anschauungsraum der Leinwand gleichwohl die Bildung von Vorstellungen an, die nur der innere Sinn der Zeit entfalten kann, indem er diese Spuren mit Bewegungsschemata verknüpft, so dass der Betrachter zum Beispiel aus der 262 | Vgl. Danto: Die Verklärung des Gewöhnlichen, S. 243 263 | Boehm: »Die Wirklichkeit der Bilder«, S. 33.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Plastizität des Farbauftrags auf die Geschwindigkeit schließen kann, in der er vonstattengegangen ist. Schließlich gibt es Bilder, welche die Polarität von Opazität und Transparenz gleichsam diskursiv behandeln, indem sie den Betrachter zwingen, mit den Augen und im Geiste ständig hin- und herzulaufen zwischen Figuration und Defiguration. Problematisiert wird dadurch in einem Kunstwerk wie Klaus Wellners Kohlezeichnung Figur X die ›Lesbarkeit der Welt‹ (Hans Blumenberg), die aus der Zusammenarbeit von Sinnlichkeit und Verstand, Erinnerungsvermögen und Einbildungskraft resultieren soll. Indem das Gemälde Ansätze von Konturen exponiert, zu denen sich der Betrachter assoziativ verhalten kann, verführt es ihn zum ›Gestaltensehen‹, irritiert und blockiert diese Rezeption aber zugleich durch die Unschärferelationen, die es ebenfalls aufweist. So gesehen wirkt Wellners Kohlezeichnung beinahe wie eine visuelle Paraphrase der Beschreibung, die Boehm im Anschluss an Danto liefert, wenn er von »affektiven Resonanzen«, »Allusionen« und »paradoxen Zirkularitäten«, von »Brüchen, Inversionen oder unüberbrückbaren Sprüngen« spricht,264 um darzulegen, was geschieht, wenn das Heterogene homogenisiert und zu einem in sich schlüssigen Gesamteindruck verdichtet wird. Abbildung 22: Klaus Wellner, Figur X, Ausschnitt (2008), Kohlezeichnung

Die von Aristoteles wie von Kant kritisierte Schlussform der Metabasis – der logisch nicht gerechtfertigte Übergang von einer Kategorie zu einer anderen Kategorie – weist die Metapher, zugespitzt formuliert, als ein produktives Missverständnis und die gegenständliche Auffassung eines gemalten Bildes als Kurzschluss aus – als ein Sich-Hinweg-Setzen über das Disparate, nicht Figurative, Opake und Widerständige am Material. Die ikonische Differenz zwischen der Auffassung des Bildes als transparentem Medium und als opakem Material, als Projektionsfläche für Vorstellungen und als ein Ding, das eigentlich gar nichts darstellt und nur 264 | Boehm: »Die Wirklichkeit der Bilder«, S. 29.

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D IAGRAMMATIK aus Leinwand und Pigmenten besteht, wird an Kunstwerken wie denen von Klaus Wellner offenbar. Sie verweisen auf den Zusammenhang von Abduktion und Seduktion, der in der Verführungskraft der Anschaulichkeit begründet ist, aber dialektisch entfaltet wird. Diesen Zusammenhang kann man sich als ein Spektrum von Möglichkeiten denken. Das eine Extrem stellen Bilder dar, die so konfiguriert sind, dass sie scheinbar in der Transparenz aufgehen, weil ihr Betrachter den kategorialen Unterschied zwischen dem Objekt der Darstellung und ihrem Referenten übersieht und beide ad hoc miteinander identifiziert. Das andere Extrem stellen Bilder dar, die so opak wie möglich wirken sollen und sich jeder figurativen Auffassung zu entziehen suchen. Der Spielraum zwischen diesen beiden Extremen ist in der modernen Kunst weidlich ausgeschritten worden, gewiss aus unterschiedlichen Gründen, doch immer so, dass es Steigerungsmomente der Plastizität sind, die vom Opaken zum Transparenten führen. Dialektisch an dieser graduellen Abstufung ist, dass der Betrachter einerseits mit der Zunahme der Plastizität und Transparenz dazu verführt wird, nicht zu überlegen, wie hypothetisch seine Gestaltenbildung ist, umgekehrt aber durch die Abnahme der Plastizität und Transparenz dazu verleitet wird, an dem Gebilde, das ihm vor Augen steht, Gestalten auszuprobieren respektive einen Sinn hinter der Defiguration auszumachen, der nicht ›im Bild‹ selbst steckt, sondern in der Beziehung, die es zu anderen Bildern, zur Tradition und zur Kunstgeschichte unterhält. Auch dies ist eine diagrammatische Lesart, die auf Relationen setzt, auch dies ist der Versuch, angesichts einer Wahrnehmung, die unanschaulich geworden ist, Bezugsverhältnisse und -schemata zu entwickeln, die es erlauben, sich einen Begriff vom Sinn solcher Kunst zu bilden. Es ist daher immer ein Spiel mit der Zeichenhaftigkeit, eine Verführung zum Deuten, durch die Bilder ihre Wirkung entfalten. Das Wirkungsprinzip besteht darin, die Dynamik und Energetik der Interpretanten auszulösen und zu steigern, indem die Bildung eines logischen Interpretanten erschwert oder verhindert wird.265 Es ist also, semiotisch gesagt, der vermeintliche Zusammenfall zwischen dem unmittelbaren und dem dynamischen Objekt der Vorstellung, der ein Bild als plastisch und transparent erscheinen lässt, während es umgekehrt gerade die Unmöglichkeit ist, das unmittelbare und das dynamische Objekt in der Wahrnehmung zur Deckung zu bringen, die jede figurative Lesart in einen Regress treibt, den man nur dadurch aufheben kann, dass man auf die Defiguration und damit auf die Opazität reflektiert. Ein Ergebnis dieser Diskussion der ikonischen Differenz besteht somit in der Erkenntnis, wie seduktiv sowohl figurative als auch non-figurative Bilder sind. Die einen, weil sie den Betrachter dazu verführen, das Objekt mit dem Referenten zu verwechseln; die anderen, indem sie ihn 265 | Wozu die Bestimmung des Witzes als Fähigkeit, im Unähnlichen Ähnliches zu sehen, bestens passt.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK dadurch, dass die Inferenz bei keiner Referenz verfängt, zu immer neuen Abduktionen treiben. Ein weiteres Ergebnis liegt in der Erweiterung der diagrammatischen Matrix durch die Operationen der Figuration und Defiguration. Die Figuration hängt offenkundig mit dem Evidenzprinzip, die Defiguration mit dem Virtualitätsprinzip der Diagrammatik zusammen: Damit ein Sachverhalt augenscheinlich und sinnfällig wird, muss er als eine Figur konturiert werden, die sich aus dem Kontinuum der Erfahrungen respektive aus dem Bewusstseinsstrom der Erlebnisse herausschälen lässt. In vielen Fällen ist diese Diskrimination die Voraussetzung dafür, dass man den Sachverhalt analytisch behandeln und als Konfiguration von Einzelteilen auffassen kann. Zur Rekonfiguration des Sachverhalts ist es in aller Regel nicht nur notwendig, die Figur aus ihrem Kontext zu lösen, sondern ihre Konturen gleichsam mit einem Weichzeichner zu behandeln. Sieht man die Rekonfiguration nämlich als eine Art von Metamorphose an, bedarf es dazu einer gewissen Auflösung der gegebenen Form. Zwar ist das Amorphe beim Gestaltwandel nur ein Schwellenzustand, die Umwandlung der einen Figur oder Konfiguration in eine andere führt aber notwendigerweise über diesen Schwellenzustand. Beim sogenannten Morphing – dem computergestützten Wandel digital erzeugter Gestalten im Film – wird der Prozess der Metamorphose durch das Zielbild gesteuert, in welches das Ausgangsbild sukzessive umgeformt bzw. überführt wird. Doch längst nicht alle Metamorphosen sind in dieser Weise teleologisch und algorithmisch strukturiert. Das beste Beispiel dafür ist der Wandel von Wahrnehmungsgestalt und Bedeutungsgehalt, der sich für gewöhnlich im Rahmen einer Semiose vollzieht, da dieser Inferenzprozess – von Ausnahmen abgesehen – indeterministisch, kontingent und ergebnisoffen ist. Eine nicht zu unterschätzende Funktion von Kunstwerken liegt darin, den Menschen immer wieder an diesen indeterministischen Charakter der Selbst- und Weltauslegung zu erinnern. Und das ist auch der Grund, warum ideologisch zementierte Politsysteme den Spielraum von Kunst und Literatur beschneiden, würde die Nutzung dieses Spielraums diese Zementierung doch aufweichen. Selbst ein Roman, der die bestehenden Verhältnisse lediglich abbilden würde, involviert mit dem Vorstellungsvermögen der Leser unweigerlich den Wirklichkeits- und den Möglichkeitssinn und aktualisiert damit das subversive Potenzial der zunächst bloß imaginären, eben deshalb aber auch unkontrollierbaren Rekonfiguration der Verhältnisse. Ähnlich ist es mit dem Diagramm der Macht, das selbst in den Bildern steckt, die sich in den vermeintlich engen Grenzen der Historienmalerei bewegen und scheinbar lediglich Fakten widerspiegeln. In der illustren Gesellschaft, die Adolf Menzel in seinem Meisterwerk Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci porträtiert, fällt eine Figur dadurch aus dem Rahmen, dass sie dem König nicht andächtig lauscht, sondern gelangweilt die Decke des Festsaals mustert. Innerhalb des von rötlichen Farbtönen dominierten Tableaus entsteht so eine Relation, die nicht ins Bild,

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D IAGRAMMATIK das heißt in die Selbstdarstellung des Potentaten als Künstler passt. Wer das Gemälde nur historisch als eine szenographische Repräsentation der höfischen Kultur auffasst und das Diagramm übersieht, das sich aus der Juxtaposition zwischen dem Ensemble und der subversiven Figur ergibt, hat nur einen Teil seiner Bedeutung realisiert. Aufschlussreich ist dieses Beispiel nicht nur aufgrund der ironischen Akzentuierung einer politisch korrekten Darstellung, die nur dem Betrachter aufgeht, der innerhalb der Figurenkonstellation die Ausnahme von der Regel bemerkt, die von den Zuhörern Ergebenheit verlangt. Aufschlussreich ist dieses Beispiel auch, weil es auf den Emanzipationsdiskurs des 19. Jahrhunderts verweist, der den Kontext der Bildentstehung bildet. Vier Jahre nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 ruft Menzels Gemälde eine Szene in die kollektive Erinnerung der Zeitgenossen, bei der es vor allem auf ihren historischen Abstand von der Gegenwart ankommt. Der in Preußen stets als Vorbild apostrophierte Friedrich II. wird einerseits gemäß der Vorstellungen inszeniert, die seine offiziöse Darstellung als erster Diener des Staates bestimmen; nahegelegt wird durch das Gemälde andererseits aber ein Vergleich dieses Geschichtsbildes mit der Gegenwart, die keineswegs im Zeichen eines bequemen Einverständnisses der preußischen Regierung mit ihren Untertanen steht, also nicht von Harmonie, sondern von Disharmonie geprägt ist. Ob der kunstsinnige König im Rahmen dieser Konstellation als Gegenbild seiner Nachfolger oder als Vorläufer ihrer unglaubwürdigen Selbstdarstellung fungiert, ist eine Frage, die getrost offen bleiben kann. Entscheidend sind die diagrammatischen Operationen, mit denen die Korrespondenzund Kontrastrelationen erfasst werden, da sie es sind, die das Gemälde zu einem keineswegs eindeutigen Denkmal verflossener Größe und unpolitischer Verehrung machen, die spätestens nach 1815 zu einer Repressionskultur geworden war. Diese eminent politische Erfahrung bildet den außerhalb des Bildraums liegenden Bezugspunkt von Menzels scheinbar privater Innenansicht der Macht. So speziell dieser Fall einer szenographischen Vergegenwärtigung sein mag, so generell lässt sich über Diagramme sagen, dass sie immer auch im Hinblick auf ihre diskursive Rolle betrachtet und bewertet werden müssen. Konsequenterweise stellt das Diagramm daher für den Kunsthistoriker Felix Thürlemann eine Diskursform dar, »die darauf abzielt, Strukturen der Inhaltsebene auf der Ausdrucksebene möglichst direkt sichtbar zu machen.«266 Zu denken wäre bei dieser funktionalen Bestimmung zunächst an Explosionszeichnungen, in denen die Oberfläche der Dinge aufgesprengt wird, um dem Betrachter Einblicke in die Struktur und Funktion der Sache zu gewähren. Thürlemanns Definition streicht damit einen zentralen Aspekt der Diagrammatik heraus: die Visualisierung von Gegenständen und 266 | Thürlemann: Vom Bild zum Raum, S. 182.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Zusammenhängen, die nur sichtbar werden, wenn man unter die Oberfläche der Dinge dringt und ihr Inneres nach Außen kehrt. Außerdem ist bei ihm ausdrücklich davon die Rede, dass Diagramme Diskursformen sind, die im Rahmen von Deskriptionen, Narrationen und Argumentationen wichtige Rollen spielen können. Das Spektrum reicht von der einfachen Illustration bis zur Fundierung des gesamten Diskurses, wie es bei wissenschaftlichen Abhandlungen der Fall sein kann. Die meisten Diagramme tauchen im Kontext von Diskursen auf, die als Text-Bild-Medien verfasst sind und – wie die Betriebsanleitung – praktischen Zwecken dienen. Innerhalb dieser Medienkonstellation verhalten sich Schrift und Zeichnung komplementär in Bezug auf die Informationsvermittlung. Ein Bild sagt oft mehr als tausend Worte; ein abstraktes Diagramm bedarf der konkretisierenden Erläuterung durch Ziffern oder Lettern. Spezifisch scheint dabei die Fähigkeit von Diagrammen zu sein, den Logos des Bildes mit dem Logos der Zahlen und dem Logos der sprachlichen Begriffe zu verknüpfen. Darauf hat Gottfried Boehm hingewiesen.267 Es ist also nicht nur so, dass Schaubilder regelmäßig in Texten auftauchen, die so zu hybriden Diskursen werden. Denn viele Diagramme sind, auch isoliert betrachtet, hybride Medienformate, in denen anschauliche Figuren mit Zahlen und Begriffen versehen werden – wie bei der Karte, die Ortsnamen und Höhenangaben und zudem eine Legende aufweist, die neben dem Maßstab ein Glossar der verschiedenen Farbkodierungen, Abkürzungen usw. enthält. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Zusammenhang die Verdichtung der Daten. Gerade dies hebt Boehm hervor, wenn er bemerkt: »Diagramme sind wirkliche, wenn auch betont kognitive Bilder, weil sie eine ganz unglaubliche Veranschaulichung abstrakter Zahlengrößen zustande bringen können.«268 Ebenso bemerkenswert wie diese darstellerische Leistung ist der Umstand, dass Boehm Diagramme ausdrücklich als ›wirkliche‹ Bilder qualifiziert, wenn auch funktional eingegrenzt auf den Zweck der Kognition. Diese Eingrenzung darf man freilich nicht so verstehen, dass unter sie nur jene Ableitungen fallen, die Peirce als »corollarial« bezeichnet hat. »Ihn interessierten Diagramme hinsichtlich ihrer Potenz, als Medien des Denkens zu fungieren.«269 Dabei sind den Schaubildern, die einem materialiter vor Augen stehen, die mentalen Modelle funktional äquivalent, die im Rahmen von Gedankenexperimenten erzeugt werden. Konzentriert man sich auf die Medien und Anschauungsmaterialien, die das Genre der Diagramme bilden, ist oft nur schwer zu entscheiden, ob man sie als TextBild-Systeme auffassen oder – wie dies Felix Thürlemann und Steffen Bogen vorgeschlagen haben – nach der Devise tertium datur behandeln soll. Auf der einen Seite gibt es zweifellos hybride Formate, in denen sich Linearität und Spatialität überlagern; auf der anderen Seite kann man mit 267 | Vgl. Boehm: »Jenseits der Sprache«. 268 | Boehm: »Jenseits der Sprache«, S. 42. 269 | Bredekamp/Schneider/Dünkel: »Diagrammatik«, S. 192.

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D IAGRAMMATIK einigem Recht behaupten, dass viele Diagramme quer zum Text-Bild-Binom liegen,270 weil sie im eigentlichen Sinne weder (Ab-)Bilder (Images) noch Texte (mit einer entsprechenden Syntax) sind.

IV. Intermediale Rekonfiguration Man ist daher gut beraten, auch auf Diagramme die an Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit gemahnende Regel des Bildtheoretikers William J. T. Mitchell anzuwenden, derzufolge man sich Bilder am besten »als eine weitverzweigte Familie vorstellt, die sich zeitlich und räumlich auseinandergelebt und in diesem Prozeß grundlegende Veränderungen durchgemacht hat.«271 Folglich gibt es Verwandtschaftsverhältnisse ersten, zweiten und dritten Grades, die sich genealogisch erklären lassen. Ähnlichkeiten können sich dabei sehr wohl auch unter entfernten Verwandten ergeben, beispielsweise anhand von ›diagrammatischen Merkmalen‹, die deshalb noch lange nicht zu einer eigenen Spezies hypostasiert werden müssen. Anstatt nach einer archetypischen Form, dem Stammvater aller Diagramme, zu suchen, lassen sich im Rahmen einer solchen Konzeption funktional äquivalente oder analoge Ausprägungen auffinden. So können Thürlemann und Bogen »nicht nur unstrittige Diagrammformen wie Infographiken oder mittelalterliche Kosmosdarstellungen analysieren, sondern auch Interfaces von Computerprogrammen und diagrammatisch strukturierte Gemälde. Ein solcher Ansatz geht davon aus, dass die diagrammatischen Bildanteile logisch relevante Ordnungsstrukturen sind, die sich vom Rest des Bildes wie ein Skelett abtrennen lassen.«272 Sieht man den Prozess der Skelettierung wiederum als eine Form der Defiguration, stellt sich in vielen Fällen heraus, dass es dabei um eine Reduktion auf das geht, was man den Plot der Bilder nennen könnte. Die Defiguration wird damit zur Voraussetzung einer intermedialen Rekonfiguration. Exemplarisch vorgeführt hat dies Peter Greenaway in seinem Nightwatching-Projekt, das anlässlich von Rembrandts 400. Geburtstag umgesetzt wurde. Dabei wurde das berühmte Rollenporträt der Amsterdamer Bürgerwehr auf ein Erzählgerüst zurückgeführt, das sich einerseits mit dem Rembrandt-Mythos verknüpfen und andererseits in andere Medienformate übersetzen ließ: eine multimediale Ausstellung im Rijksmuseum, einschließlich Katalog, ein Drehbuch und einen Spielfilm. Verbunden waren diese verschiedenen Inszenierungen durch den Plot, der dem Gemälde eingeschrieben erscheint, wenn man es diagrammatisch als eine Konfiguration von Handlungsmotiven und -schemata ›liest‹. Begünstigt wurde diese Lesart zum einen durch den dramatischen 270 | Vgl. Bredekamp/Schneider/Dünkel: »Diagrammatik«, S. 194. 271 | Mitchell: »Was ist ein Bild?«, S. 19. 272 | Bredekamp/Schneider/Dünkel: »Diagrammatik«, S. 194.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Charakter des Rollenporträts sowie zum anderen dadurch, dass es Rembrandt verstanden hatte, Subplots auf die Leinwand zu bannen, indem er verschiedene Momentaufnahmen eines komplexen Geschehens, die eigentlich nur nacheinander möglich sind, nebeneinander stellte. So war es ihm, um nur ein Beispiel zu nennen, möglich, die Befehlskette zu veranschaulichen, die, nach einer zeitgenössischen Quelle zu schließen, das Sujet des Gemäldes bildet: »Der junge Herr von Pumerlandt befiehlt als Hauptmann seinem Leutnant, dem Herrn von Vlaardingen, seine Bürgerkompagnie ausrücken zu lassen.« Tatsächlich kann man auf dem Gemälde eine entsprechende, an den Leutnant gerichtete Befehlsgeste des Hauptmanns, und den Beginn einer kollektiven Bewegung sehen, die sich als Truppenformation deuten lässt. Diesem Kunststück, einen mündlichen Befehl und seine Befolgung in einem stummen Bild zu vergegenwärtigen, entspricht die kongeniale Fähigkeit Greenaways, inmitten der Figurenkonstellation ein Mündungsfeuer zu entdecken und diesen ›soundtrack‹ mit der zündenden Idee zu verbinden, dass man das Gemälde von diesem Detail her als malerische Entlarvung einer Verschwörung aufschlüsseln könnte, deren Opfer der Vorgänger Pumerlandts gewesen sei. Damit verschafft Greenaway sich einen Prätext zur intermedialen Rekonfiguration des Gemäldes, aus der man zumindest dreierlei folgern kann:273 Die diagrammatische Lesart von Bildern erlaubt es, (a) in ihrem scheinbar ausschließlich durch Gleichzeitigkeit bestimmten Anschauungsraum distinkte Zeitmomente und damit ein narratives Intervall zu entdecken; die diagrammatische Lesart von Bildern erlaubt es außerdem, (b) dieses Intervall gemäß der Verfahren auszumalen, die Nelson Goodman als ›Weisen der Welterzeugung‹ beschrieben hat: Komposition und Dekomposition, Gewichtung oder Umgewichtung, Ordnung, Tilgung und Ergänzung sowie Deformation; die diagrammatische Lesart von Bildern erlaubt es schließlich, (c) nicht nur die piktoriale Konfiguration eines Sachverhaltes oder einer Ereignisfolge intermedial zu behandeln, also analoge oder derivate Versionen in anderen Medien zu inszenieren. Vielmehr kann der Plot zugleich in ein Netzwerk von Querbezügen gerückt werden, das sich wiederum als Hypertext auffassen lässt.274 So hat Greenaway Beziehungen zwischen der Nachtwache (1639-42), seinem Film The Draughtman’s Contract (1982) dem Zapruder-Video von John F. Kennedys Ermordung (1963) und Michelangelo Antonionis Blow up-Movie (1966) hergestellt,275 indem er Rembrandts Plot auf das Genremuster von Detektivgeschichte und Kriminalroman bezogen und anhand des Indizienparadigmas ausgelegt hat. Sein Nightwatching-Projekt ist dergestalt selbst zu einem paradigmatischen Fall der Medienkunst geworden, 273 | Vgl. Bauer: »Die Nachtwache als Bilderrätsel und Tagtraum«. 274 | Eine ähnlich gelagerte Art der Interpretation von intermedialen Relationen wird bei Rustemeyer: Diagramme vorgeschlagen, vgl. insb. S. 63ff. 275 | Vgl. Greenaway: Nightwatching, S. 3.

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D IAGRAMMATIK an dem sich die Performanz und Relevanz der diagrammatischen Operationen gleichsam in Reinkultur studieren lassen. Dass die Diagrammatisierung von Bildern in vielen Fällen eine Narrativierung darstellt, bei der bestimmte Elemente und Relationen, die im räumlichen layout der Bilder angelegt sind, in ein display von Vorgängen überführt werden, die in der Zeit ablaufen, lässt sich auch an der Ausführliche[n] Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche beobachten, die Georg Christoph Lichtenberg in mehreren Lieferungen unternommen hat. In der Vorrede zu dieser Unternehmung bemerkt Lichtenberg: »Hogarths Werke zu erklären, gibt es, glaube ich, nur zwei Wege. Auf dem ersten sagte man etwa bloß mit kurzen und dürren Worten, was die Dinge bedeuten, und machte besonders auf solche aufmerksam, die jemand, der nicht mit dem Lande des Künstlers, oder noch nicht mit dessen Genie bekannt ist, entweder ganz übersehen, oder wenn er sie auch bemerkt hätte, doch nicht gehörig verstanden haben würde. Man könnte ihn, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, den prosaischen nennen. Dann gibt es aber auch einen poetischen. Auf diesem müßte nicht allein alles das auch geleistet werden, was auf jenem geleistet wurde, sondern obendrein in einer Sprache und überhaupt in einem Vortrage, den durchaus eine gewisse Laune belebte, die mit der des Künstlers so viel Ähnlichkeit hätte, als möglich, und immer mit ihr gleichen Gang hielte. Was der Künstler da gezeichnet hat, müßte nun auch so gesagt werden, wie Er es vielleicht würde gesagt haben, wenn er die Feder so hätte führen können, wie er den Grabstichel geführt hat. Mitunter könnte auch den Hieben, die er dem Laster und den Torheiten seines Vaterlandes damals so reichlich mitteilte, durch eine kleine Wendung eine Richtung gegeben werden, daß etwas davon auch auf neuere Köpfe fiele; nur versteht sich, nicht auf individua, sondern immer auf Klassen.« 276

Lichtenberg diskutiert in diesen Zeilen avant la lettre ein Kernproblem der intermedialen Poetik, nämlich die Frage, wie man den Geist eines Kunstwerks in einem Medium reproduzieren soll, das nicht über die gleichen Aussage- und Ausdrucksmöglichkeiten wie das Medium verfügt, in dem sich das Original materialisiert hat. Ebensowenig wie Spielfilme sich darin erschöpfen können, den Wortlaut einer Romanvorlage zu reproduzieren, da sie dazu nicht die Zeit haben und die Geschichte vornehmlich durch Bilder erzählen müssen, bestimmt auch im Fall von Lichtenbergs literarischer Erläuterung der satirischen Kupferstiche das Ausgabemedium die Form der Übersetzung bzw. Übertragung. Lichtenberg muss sich und seinen Lesern daher zunächst einmal Klarheit über die Eigenart der Kupferstiche – und das heißt vor allem – über den in ihrer Struktur angelegten Rezeptionsmodus verschaffen. Daher sagt er über den poetischen Weg der Erläuterung:

276 | Lichtenberg: Erklärung, S. 660f.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK »Auf diese Weise erläutert, würde Hogarth nicht bloß jedem verständlich, sondern der Geist eines jeden schon durch den Vortrag der Erläuterung, selbst wider seinen Willen, zu der Stimmung gebracht, in welcher allein man des großen geistigen Genusses fähig ist, den diese Blätter gewähren können. Dieser Weg ist nun freilich schwer, aber gerade der, den ich (fast möchte ich hinzusetzen: leider!) eingeschlagen habe.« 277

Und wie so viele nach ihm, die einen Medienwechsel vollzogen haben, war auch schon Lichtenberg klar, welchem Vorwurf er sich durch die poetische Lizenz aussetzen würde, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, Bilder, die einer fremden Kultur entstammen, nicht nur einer anderen Kultur verständlich zu machen, sondern auch den Ausgabebedingungen eines anderen Mediums anzupassen. »Noch muß ich einem Vorwurf begegnen, den man mir schon ehemals gemacht hat: als hätte ich in Hogarths Werken Absichten gefunden, an die er selbst nie gedacht hätte. Das mag sein. Aber was schadet dieses in einer Schrift, die, ob sie gleich hauptsächlich da ist, Licht über des großen Künstlers Werke zu verbreiten, doch zugleich ihren eigenen Gang geht? Mag ich doch hinzugedacht haben, was ich will, wenn ich nur nichts weggedacht oder wegerklärt habe von dem, was da ist.« 278

Wie aber verfährt der Dichter nun konkret bei seinem zur Konfabulation neigenden, nacherzählenden Auslegen der Kupferstiche? Im Wesentlichen diagrammatisch, indem er zwischen den Bildern einer Folge zunächst im Geiste und dann in der poetischen Beschreibung sogenannte ›Vergleichungs-Linien‹ zieht. Belegen lässt sich dies unter anderem anhand der beiden folgenden Zitate: »Eben so wie wir eine Vergleichungs-Linie von dem Sessel der Kandidaten der Verwesung nach dem Reise-Koffer gezogen haben, läßt sich eine von dem Stuhle des Kandidaten des Galgens nach einem anderen Koffer ziehen, der rechter Hand im Vordergrund steht.« 279 »Wir haben von einer Vergleichungs-Linie gesprochen, die sich von dem henkbaren Quacksalber und Konsorten nach diesem verdächtigen Winkel ziehen lasse.« 280

Wirklich anschaulich wird die diagrammatische Operation, eine Vergleichungs-Linie zwischen Bildern zu ziehen, aber erst, wenn man sie an den Kupferstichen selbst vor Augen führt.

277 | Lichtenberg: Erklärung, S. 661f. 278 | Lichtenberg: Erklärung, S. 664f. 279 | Lichtenberg: Erklärung, S. 797. 280 | Lichtenberg: Erklärung, S. 800.

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D IAGRAMMATIK Abbildungen 23/24: William Hogarth, Before and After (1736),

Ausgespart ist zwischen diesen beiden Bildern der Beischlaf, um den sich der Herr in der ersten Szene bemüht, ohne der Dame – der zweiten Szene nach zu schließen – die Ehre oder Treue zu erweisen, die sie für jene Gunst erwartet zu haben scheint. Durch die Vergleichungs-Linien kann so nicht nur der Verlauf, sondern auch die Moral der Geschichte erschlossen werden. Die konjekturale Auffassung der Bilder, die bei jeder Comic- oder Manga-Lektüre am Werk ist, wird durch die Vergleichungs-Linien als das erfasst, was sie ist: eine diagrammatische Operation der Relationierung von Elementen über Leerstellen hinweg, eine Überbrückungshilfe der Einbildungskraft, die durch das Sujet und die elliptische Machart der Bilder zur Bildung entsprechender Vorstellungen angeregt wird. Obwohl der Betrachter die beiden dramatischen Personen der Bildgeschichte nicht in flagranti ertappt, genügt ihm der aus dem Vergleich resultierende Beweis des Augenscheins, um sich im Kopf ein Bild davon zu machen, was der Zeichner in seiner Darstellung ausgespart hat. Interessant ist das Beispiel also gerade, weil es in diesem Fall die Imagination des Betrachters ist, durch die das Evidenzprinzip der Diagrammatik unter der Voraussetzung Geltung erlangt, dass die Images signifikante Indizien enthalten.

E xkurs: Gehirnkarten, neuro-images und das Problem der Metabasis Weiterführend problematisieren lässt sich dieses Evidenzprinzip gerade an den epistemischen Bildern der Wissenschaft, die als Images ›verkauft‹ werden, obwohl sie eigentlich diagrammatische Konfigurationen sind. Besonders auffällig ist dies bei den Produkten der sogenannten bildgebenden Verfahren, die scheinbar einen unmittelbaren Einblick in die Schaltzentrale des Nervensystems gewähren. Allerdings kann man den Erkenntnisanspruch der bildgebenden Verfahren nur realistisch einordnen, wenn man sich kurz mit der Geschichte der Gehirnforschung und ihren Modellen beschäftigt:

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Seitdem sich der Mensch Gedanken darüber macht, was in seinem Kopf geschieht, hat er versucht, den Bau und die Arbeitsweise des Gehirns so anschaulich wie möglich darzustellen. Es ist klar, dass diese Darstellungen lange Zeit eher illusionäre Vorstellungen vom Gehirn als anatomische Befunde illustriert haben; es ist aber auch klar, dass viele Darstellungen trotz ihrer offensichtlichen Unzulänglichkeiten einen heuristischen Wert als Anschauungsmodelle haben (oder hatten), weil sie die Forscher auf weiterführende Gedanken bringen (oder brachten). Wer daher eine Zeitreise durch die Geschichte der Kopfbilder und Gehirnkarten unternimmt, stößt einerseits auf abstruse, längst überholte Vorstellungen, andererseits aber auch auf erstaunlich weitsichtige und erhellende Darstellungen, die als wertvolle Erkenntnisinstrumente gewürdigt werden müssen. Dabei sind die Kopfbilder und Gehirnkarten stets im Austausch mit den praktischen Möglichkeiten der Veranschaulichung zu sehen, die es zu ihrer Entstehungszeit gab. In dieser Hinsicht ist es möglich, von einer regelrechten Koevolution zwischen der Theoriebildung und den Techniken der Bildherstellung zu sprechen, zumal wenn man bedenkt, dass der Begriff der »Theorie« von einem griechischen Verb abgeleitet ist, das so viel wie »anschauen« und »durchschauen« meint. Man mag darin eine Voreinstellung zu Gunsten der visuellen Wahrnehmung erkennen, die nicht immer vorteilhaft gewesen ist. Umgekehrt hat die aktuelle Forschung zeigen können, dass die meisten Gehirnareale, die mit der Verarbeitung visueller Informationen beschäftigt sind, auch an der Imagination beteiligt sind,281 weshalb es vermutlich einen engen anatomischen und funktionalen Zusammenhang zwischen der Perzeption und Reflexion optischer Reize einerseits und der Konzeption von Theorien oder Anschauungsmodellen andererseits gibt. Zudem verweist die Imagination – bezeichnet man sie mit dem altmodischen, aber sehr zutreffend die Verbindung von Intellektualität, Dynamik und Energie herausstellenden Ausdruck ›Einbildungskraft‹ – auf die sogenannte ›Vermögenslehre‹, die zu den zentralen Konzepten der Gehirnforschung gehört. Die produktive Spannung, die zwischen der philosophisch inspirierten Vermögenslehre und der praktisch orientierten ›Lokalisationstheorie‹ besteht, zählt zu den entscheidenden Faktoren, die es der Wissenschaft ermöglicht haben, über spekulative Vorstellungen hinauszugelangen und exakte Darstellungen davon zu entwickeln, was sich an welchem Platz im Kopf abspielt, wenn wir bestimmte Empfindungen haben, bestimmte Überlegungen anstellen oder bestimmte Handlungen ausführen. Die Vermögenslehre hat sich aus dem Versuch entwickelt, diesen Varianten der geistigen Tätigkeit Zuständigkeitsbereiche zuzuweisen und Aufschluss darüber zu erlangen, welchen Geltungsanspruch sinnliche Wahrnehmungen, Verstandesbegriffe oder Vernunftschlüsse, theoretische und praktische Erwägungen, ethische und ästhetische Urteile haben. Zu diesem Zweck schrieb Immanuel Kant seine drei berühmten 281 | Vgl. Linke: Kunst und Gehirn, S. 22, S. 60.

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D IAGRAMMATIK Kritiken der reinen Vernunft (1781), der praktischen Vernunft (1788) und der Urteilskraft (1790); zu diesem Zweck verwies er auf die Wechselwirkung von Sinnlichkeit und Verstand282 sowie von Einbildungskraft und Erinnerungsvermögen.283 Die Lokalisationstheorie wiederum ist nicht zuletzt der Versuch, diese theoretische Abgrenzung verschiedener Vermögen und Zuständigkeitsbereiche in der praktischen Vermessung von Kopf und Gehirn, also an anatomischen Befunden, nachzuvollziehen. Ihre Anfänge, insbesondere die von Kants Zeitgenossen Franz Joseph Gall entwickelte »Schädellehre« – später »Phrenologie« genannt – sind eher dubios; ihre späteren Erfolge hingegen von grundlegender Bedeutung für die moderne Kognitionswissenschaft. Die Leitidee der Lokalisationstheorie, dass man das Gehirn unter funktionalen Gesichtspunkten kartographieren und für bestimmte Aufgaben spezialisierte Areale demarkieren kann, bestimmt nach wie vor den Fortschritt der Wissenschaft, vor allem die Weiterentwicklung der sogenannten bildgebenden Verfahren, zu denen die Magnet-Resonanz- und die Positronen-Emissions-Tomographie gehören. Ein Rückblick auf die Vorläufer dieser Darstellungstechniken macht aber auch deutlich, dass alle Versuche, sich eine Vorstellung von der geistigen Tätigkeit des Menschen, dem Aufbau und der Arbeitsweise seines Gehirns zu bilden, zwischen zwei problematischen Verfahren hin- und herlaufen: der Reduktion und der Metabasis. Einerseits geht es darum, die phänomenale Welt des persönlichen Erlebens und damit das Reich der Bedeutung auf die funktionale Struktur des zentralen Nervensystems und die molekularen Prozesse zurückzuführen, die – mit Kant zu reden – die Bedingung der Möglichkeit dafür bilden, dass der Mensch die Welt im Idealfall als einen Sinnzusammenhang erlebt, in den sein eigenes Dasein eingebettet ist. Andererseits führt kein Weg unmittelbar von den Ionen und Neuronen zu den Vermögen der sinnlichen Wahrnehmung und begrifflichen Ordnung, der Einbildung und Erinnerung, die diesen Sinnzusammenhang stiften und das menschliche (Er-)Leben bedeutsam machen. Man hat es also nicht nur mit dem synaptischen Spalt und den Transmittern der elektrochemischen Erregung zu tun, man hat es auch mit der synoptischen Kluft zwischen der naturwissenschaftlichen Erklärung und dem Reich der Bedeutung zu tun, als das dem Menschen die gesellschaftlich verfasste Lebenswelt im Alltag erscheint – zumal dann, wenn er die Künste als Mittel der Erlebnissteigerung und damit als alltagsrelevante Verfahren verstehen will, die menschlichen Kenntnisse lustvoll zu erweitern. Die eigentliche Schwierigkeit und Herausforderung sowohl der Natur- als auch der Geisteswissenschaften liegt darin, dass diese synoptische Kluft bislang nur mit einem Gedankensprung (Metabasis) zu überbrücken ist.284 Umso aufschlussreicher ist es, im historischen Rückblick festzustel282 | Vgl. Kant: Kritik der reinen Vernunft. 283 | Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. 284 | Vgl. Bauer: »Spiegel, See und Strom«, S. 239ff.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK len, dass sich das Spannungsverhältnis von Reduktion und Metabasis bereits in den Werken von Aristoteles findet, der annahm, dass unter der Schädeldecke des Menschen eine Vorrichtung zur Körperkühlung untergebracht sei.285 Dieser Annahme zufolge war das Gehirn lediglich so etwas wie der Eisschrank des Leibes – und in der Tat kommt es ja in fast allen Lebenslagen darauf an, einen kühlen Kopf zu bewahren! Abbildung 25: Zeichnung aus: Hans von Gersdorff, Feldbuch der Wundartzney (1517)

Anstatt über diese Vorstellung zu spotten, sollte man bedenken, wie einflussreich gerade dieser Philosoph in der Wissenschaftsgeschichte gewesen ist. Seine kardiozentrische Theorie, derzufolge das Herz das Zentralorgan des Menschen und der Sitz der Seele ist, blieb viele Jahrhunderte lang das Paradigma der Forschung. Vor allem aber stammt der Maßstab, an dem sich noch heute jede Schlussfolgerung bewähren muss, von Aristoteles. Er nämlich war es, der den Gedankensprung, die Metabasis, als unzulässige Operation herausgestellt und damit ein Prinzip der Vernunft etabliert hat,286 dem alle rationalen Selbst- und Weltbilder genügen müssen – einschließlich der modernen Gehirnkarten und ihrer Auslegung. Doch wie verschaffte man sich früher überhaupt einen Einblick in das menschliche Gehirn, wie fand man heraus, dass unter der Schädeldecke nicht der Eisschrank des Leibes, sondern das Zentrum des Nervensystems sitzt? 1517 wurde in Straßburg ein Buch mit dem Titel Feldbuch der Wundartzney veröffentlicht. Sein Verfasser, Hans von Gersdorff, hatte vierzig Jahre lang Entzündungen behandelt, Brüche geschient oder Amputationen durchgeführt und dabei unter anderem das hier gezeigte Gerät zur 285 | Vgl. Oeser: »Geschichte des Gehirn-Bewusstseins-Problems«, S. 4f. 286 | Vgl. Aristoteles: Vom Himmel, 266a.

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D IAGRAMMATIK Entfernung eines Teils der Schädeldecke entwickelt. Es funktioniert im Prinzip wie ein Korkenzieher: Erst wird eine Schraube, die in einer entsprechenden Vorrichtung sitzt, in den Schädel getrieben, dann nach Umlegen der Schmetterlingsmuffe wieder herausgedreht – zweifellos für keinen der Beteiligten ein Vergnügen. Aber was war durch das Loch in der Schädeldecke zu sehen, was konnten die Ärzte jener Zeit erkennen? Methoden, das Gewebe zu untersuchen, gab es damals ebenso wenig wie Mikroskope. Umso erstaunlicher ist es, was man damals bereits alles wusste und vermuten konnte. Eine anschauliche Darstellung dieses Vermutungswissens stellt das Ventrikel- oder Kammermodell des Gehirns dar, wie es die folgende Abbildung zeigt: Abbildung 26: Zeichnung von Johann Dyrander aus: Lorenz Fries, Spiegel der Artzney (1517)

Angefertigt wurde dieses Diagramm 1537 für Johann Dyrander, wobei der Zeichner Johann Eichmann auf eine Darstellung zurückgriff, die bereits 1517 in Lorenz Fries’ Buch Spiegel der Artzny erschienen war. Die Buchstaben beziehen sich auf die Aufgaben, mit denen das Gehirn beschäftigt ist, etwa auf den Seh- oder auf den Tastsinn. Die zur Lösung dieser Aufgaben erforderlichen Fähigkeiten sind auf drei Gehirnkammern oder -ventrikel verteilt: Die Einbildungskraft und das Sensorium commune, wo die verschiedenen Wahrnehmungen zusammenlaufen, sitzen im vorderen Ventrikel; der Verstand befindet sich im mittleren und das Gedächtnis im hinteren Ventrikel. Anschaulich deutet sich im Kammermodell des Gehirns an, was später durch das Zusammenwirken von Vermögenslehre und Lokalisationstheorie entfaltet wird: der Versuch, mit der anatomischen Struktur auch die funktionale Gliederung des Gehirns zu erfassen. Während die Ärzte sich zunehmend für die organische Substanz des

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Gehirns, also für die materielle Grundlage des Empfindens, Denkens und Handelns interessierten, waren die Philosophen der Frühen Neuzeit und der Aufklärung mit der ideellen Natur des Geistes beschäftigt. Ein wichtiger Streitpunkt ergab sich für sie aus der Frage, ob die Gehirnkammern zunächst nur Hohlräume seien, die erst nach und nach mit Erfahrungswissen angefüllt würden – oder ob sie bereits bei der Geburt bestimmte Vorstellungen zur begrifflichen Ordnung der mannigfaltigen Sinneseindrücke enthielten. Während John Locke die Ansicht von der tabula rasa vertrat, beharrte Gottfried Wilhelm Leibniz darauf, dass es zumindest einige angeborene Ideen geben müsse, da ein Hohlkopf überhaupt keine Erfahrungen machen und folglich auch nichts dazulernen könne. Kant spitzte diesen Streit auf die Frage zu, ob es so etwas wie eine geistige Ausstattung des Menschen vor aller Erfahrung geben könne. Für ihn entscheiden die beiden Anschauungsformen der Zeit und des Raums a priori darüber, wie dem Menschen die Welt der mannigfaltigen Sinneseindrücke erscheint, die der Verstand begrifflich zu ordnen sucht, wobei er den Regeln der Vernunft gehorchen soll. Wie die Welt an sich, jenseits der Anschauungsformen und Verstandesbegriffe, beschaffen ist, über die der Mensch verfügt, kann nach Kant kein Sterblicher wissen – und deswegen macht man sich vernünftigerweise auch keine Gedanken über Fragen, die man zwar stellen, aber nicht beantworten kann. In Kants Lesart kommt der Vernunft die Aufgabe zu, den Verstand davon abzuhalten, seine Befugnisse zu überschreiten. Das Begriffsvermögen des Menschen ist beschränkt, strebt jedoch nach umfassender Erkenntnis. Entsprechend groß ist die Versuchung, sich mit einem Gedankensprung über grundlegende Unterschiede und Verstandesschranken hinwegzusetzen. Daher gelangt auch Kant zu dem Schluss, dass die Metabasis eine Gefahr darstellt. Vice versa darf sich der Mensch in seiner Welterfahrung und Selbstbestimmung aber auch nicht von anderen Gewalten als der Vernunft beschneiden lassen, wenn er dem Begriff des Menschen gerecht werden will. Zu denken ist dabei nicht nur an politische Mächte, die ihre Untertanen am Vernunftgebrauch hindern und so in Unfreiheit halten; zu denken ist dabei auch an den Einfluss von Wissenschaftlern, die ihre Befugnisse überschreiten und zum Beispiel bestreiten, dass es die Freiheit des Willens gibt. Für Kant wäre diese Leugnung eine Metabasis, ein unberechtigter Gedankensprung. Denn die Willensfreiheit des Menschen ist für ihn eine Idee der Vernunft. Ihr durchaus pragmatischer Sinn ist damit in einem Bereich jenseits des Gebiets verankert, das die Verstandesbegriffe und a fortiori die Forschung erschließen können. Unter dieser Voraussetzung kann es Fälle geben, in denen die Gefahr der Metabasis mit der Gefahr des Reduktionismus zusammenfällt. Ein solcher Fall war die Phrenologie, die annahm, man könnte die Begabungen und die Charaktereigenschaften eines Menschen an seiner Schädelform abtasten. Ähnlich wie die Physiognomie, die seinerzeit Johann Caspar Lavater entwickelt hatte – also die Vorstellung, dass man moralische

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D IAGRAMMATIK Schlüsse aus der Gesichtsform des Menschen ziehen könnte –, war die Phrenologie eine Irrlehre, deren Hauptfehler darin bestand, viel zu weitreichende Folgerungen aus einer viel zu schmalen Basis abzuleiten. Über den schlechten Leumund, den die Phrenologie ihrem Begründer Franz Joseph Gall eingebracht hat, sollte man allerdings nicht vergessen, dass es eben dieser Gelehrte war, der die moderne Anatomie, Histologie und Physiologie nachhaltig angeregt hat. Gall erkannte in der Faserstruktur des Gehirns das Bau- und Funktionsprinzip, das alle geistigen Tätigkeiten strukturiert. An diese Entdeckung konnten die Forscher der nächsten Generation, allen voran Johannes Müller, anknüpfen. Müller und seine Schüler – unter ihnen Hermann von Helmholtz und Ernst Brücke, in dessen Wiener Labor Sigmund Freud ausgebildet werden sollte – fanden heraus, wie die Gehirnfasern (recte: Nervenzellen) energetisch arbeiten. Dabei wurde ihnen klar, was bereits einige mittelalterliche Philosophen vermutet und mit dem Begriff der »Transduktion« bezeichnet hatten:287 Was immer unsere Sinne erregt, wird an der Peripherie des zentralen Nervensystems in unspezifische elektrochemische Erregungsmuster umgewandelt. Das heißt, vereinfacht ausgedrückt: In den Leitungsbahnen des Gehirns wird nur die Stärke der Reizung sowie ihr Herkunftsort, nicht aber ihr Auslöser oder irgendein Bild davon registriert und transportiert, was die Sinne konkret erregt hat. Helmholtz folgerte aus dieser Erkenntnis, dass im Anschluss an die Transduktion, die dem Subjekt der Wahrnehmung nicht bewusst wird, eine ebenfalls unbewusste Schlussfolgerung stattfinden muss,288 ein Rückschluss von der gehirninternen Erregung auf ihre externe Ursache – vermittelt durch Erinnerungen an ähnlich gelagerte Fälle. Wenn aber an der Peripherie des zentralen Nervensystems, beispielsweise auf der Netzhaut des Auges, eine unspezifische Kodierung der Umweltreize erfolgt und das Gehirn zunächst eine Hypothese über die Bedeutung der Erregungszustände bilden muss, die eine Reizung ausgelöst hat, so korrespondiert der Transduktion eine Abduktion, von der alle weiteren Formen der kognitiven Informationsverarbeitung abhängen: Deduktion und Induktion, Inferenz und Referenz. Die Transduktion ist – von Ausnahmen abgesehen – präkognitiv: »Wir haben keinerlei Bewußtsein davon, wie unsere Netzhaut visuelle Erregung verarbeitet oder was

287 | Vgl. Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 87. 288 | Vgl. Helmholtz: Schriften zur Erkenntnistheorie, S. 153: »Unsere Empfindungen sind eben Wirkungen, welche durch äußere Ursachen in unseren Organen hervorgebracht wurden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich wesentlich von der Art des Apparates ab, auf den gewirkt wird. Insofern die Qualität unserer Empfindungen uns von der Eigentümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als Zeichen derselben gelten, aber nicht als Abbild.«

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK der Hirnstamm oder das Kleinhirn gerade tun.«289 Die Abduktion ist in der Regel subkognitiv. Sie wird erst dann bewusst wahrgenommen, wenn jene Hypothesenbildung Schwierigkeiten bereitet, die Hermann von Helmholtz als ›unbewusste Schlussfolgerung‹ bezeichnet hatte. Fragt man sich nun, worauf die Hypothesenbildung überhaupt rekurrieren kann, wenn die Spezifität der Reizung durch die Transduktion verloren geht, so kommt eigentlich nur das Gedächtnis in Frage. Der Gehirnforscher Gerhard Roth drückt diesen Sachverhalt metaphorisch aus: »Das Gedächtnis ist damit unser wichtiges ›Sinnesorgan‹. Es ist zugleich aber […] nur ein Glied im Kreisprozeß von Wahrnehmung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Erkennen, Handeln und Bewerten.«290 Genau dieser Kreisprozess steht im Mittelpunkt der pragmatisch orientierten Semiotik, deren Modell die Erforschung von Zusammenhängen ist, die mit einer Hypothesenbildung beginnt. Der Weg führt von der Transduktion und Abduktion über die korollariale und theorematische Deduktion bis zur Induktion, wobei man noch einmal den empirischen Test von der Pragmatischen Maxime abheben kann, die als Gedankenexperiment abläuft. Dass Peirce die Abduktion tatsächlich nicht nur als Komplement von Deduktion und Induktion, sondern auch als Pendant der Transduktion aufgefasst hat, kann man daran sehen, dass er bereits den Akt der Wahrnehmung als einen semiotischen Prozess konzipiert: als einen Vorgang, der Inferenzmomente einschließt. Seine Argumentation rekurriert auf Erkenntnisse der Sinnesphysiologie; sein »Lieblingsbeispiel ist der ›Blinde Fleck‹, den jeder auf der Netzhaut hat, also der Umstand, daß es eine Stelle auf der Netzhaut gibt, an der man offenkundig nichts sehen kann. Dies versteht Peirce als Beweis dafür, daß Wahrnehmung mit Schlußfolgerung zu tun hat, weil wir sonst in unserer Wahrnehmung ein ›Loch‹ hätten. Daß uns aber unser Wahrnehmungsfeld homogen erscheint, ist Ergebnis einer Folgerung, die jene Lücke einfach ›ausfüllt‹, so Peirce.«291 Im Rahmen der Erläuterung, aus der dieses Zitat stammt, verwendet Alexander Roesler sogar ausdrücklich die Terminologie von Helmholtz. Bezugspunkt ist die Frage, warum der Inferenzcharakter der Perzeption – der im Übrigen dazu führt, dass man Perzeption und Kognition nicht trennscharf voneinander scheiden kann – im Allgemeinen nicht bemerkt wird. »Zum einen liegt das«, wie Roesler ausführt, »daran, daß ein Wahrnehmungsurteil Ergebnis einer unbewußten Folgerung ist, und zwar ist es unbewußt, ›weil es nicht als Schlußfolgerung erkannt wird; die Konklusion wird akzeptiert, ohne daß wir wissen, wie.‹292 […] Zum anderen besteht zwischen ›normaler‹ Abduktion und Wahrnehmungsurteil der 289 | Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 198. 290 | Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, S. 242. 291 | Roesler: »Vermittelte Unmittelbarkeit«, S. 115, unter Bezugnahme auf Peirce: Collected Papers, 5.220. 292 | Unter Bezug auf Peirce: Collected Papers, 8.65.

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D IAGRAMMATIK Unterschied, ›daß wir nicht die geringste Vorstellung dessen bilden können, was es heißen würde, das Wahrnehmungsurteil zu verneinen (to deny).‹«293 Wie diese Bemerkungen belegen, ratifiziert die semiotische Konzeption von Perzeption und Kognition, von Transduktion und Abduktion die Resultate der zeitgenössischen Sinnesphysiologie. Für die Entwicklung dieser Disziplin ist während des gesamten 19. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit Kant von zentraler Bedeutung. Sie beginnt lange vor Helmholtz mit Arthur Schopenhauer, der dem Begriff der Anschauung eine spezifische Wendung gibt. Wenn die Anschauung, wie Kant behauptet hatte, ein Produkt der schematisch verfahrenden Einbildungskraft ist, die den abstrakten Verstand mit einer konkreten Vorstellung versorgt, dann muss, folgert Schopenhauer, jede Anschauung, die etwas zu verstehen gibt, mehr als bloße Empfindung, nämlich eigentlich schon Erkenntnis sein.294 Mit anderen Worten: Die Imagination des Menschen ist intellektuell, die Vorstellungsbildung ein ästhetikologischer Prozess, bei dem die Vermittlung von Erkenntnissen nicht von der Vermittlung von Anschauungen zu trennen ist. Schopenhauer kam es darauf an, die Intuition zu widerlegen, dass die empirische Wahrnehmung nicht konjektural sei, also weder Schemata noch Schlussfolgerungen involviere. Wir meinen für gewöhnlich, unmittelbar zu sehen, was der Fall ist, und halten die Anschauung für rein sensual, weil uns die Rolle, die der Intellekt im Wahrnehmen spielt, nicht bewusst wird. Schopenhauer wies nun zunächst darauf hin, dass sich dieser Eindruck leicht als Trugschluss entlarven lässt, wenn man einmal nicht das Sehen, sondern zum Beispiel das Tasten als Testfall nimmt, und damit jenen Sinn, mit dem alles Begreifen beginnt. »Im Finstern betasten wir ein Ding so lange von allen Seiten, bis wir aus dessen verschiedenen Wirkungen auf die Hände die Ursache derselben als bestimmte Gestalt konstruiren können.«295 Ein weiterer Vergleich, den Schopenhauer bringt, ist ebenso aufschlussreich: »Wie wir nämlich wähnen, die Dinge unmittelbar dort wo sie sind, wahrzunehmen, während es doch wirklich im Gehirn geschieht; so glauben wir auch den Schmerz eines Gliedes in diesem selbst zu empfinden, während dieser ebenfalls im Gehirn empfunden wird, wohin ihn der Nerv des affizierten Theiles leitet. Daher werden nur die Affektionen solcher Theile, deren Nerven zum Gehirn gehen, empfunden, nicht aber die, deren Nerven dem Gangliensystem angehören, es sei denn, daß eine überaus starke Affektion derselben auf Umwegen bis ins Gehirn dringe, wo sie sich doch meistens nur als dumpfes Unbehagen und stets ohne genaue Bestimmung dieses Ortes zu erkennen giebt. Daher auch werden die Verletzungen 293 | Roesler: »Vermittelte Unmittelbarkeit«, S. 125, unter Bezug auf Peirce: Collected Papers, 5.186. 294 | Vgl. Schopenhauer: »Ueber die vierfache Wurzel«, S. 66f., sowie ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 30. 295 | Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 35.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK eines Gliedes, dessen Nervenstamm durchschnitten oder unterbunden ist, nicht empfunden. Daher endlich fühlt wer ein Glied verloren hat, doch noch bisweilen Schmerz in demselben, weil die zum Gehirn gehenden Nerven noch dasind.« 296

Schopenhauer argumentiert hier naturwissenschaftlich und inauguriert damit einen Diskurs, der in Helmholtz’ Schriften kulminiert. Sowohl in Helmholtz’ Handbuch der physiologischen Optik als auch in seinen erkenntnistheoretischen Aufsätzen knüpft er an Schopenhauer an: Auch für Helmholtz führt kein unmittelbarer Weg vom Empfinden zum Erkennen und Begreifen, stets braucht es einen Umweg über Anschauungen, die zugleich sensual und intellektual sind. Die Einbildung operiert an der Schnittstelle von Sinnlichkeit und Verstand, es sind die von ihr produzierten Schemata, die den Spalt zwischen Affektion und Kognition überbrücken. Schopenhauers Lehre von der Anschauung des Verstandes ist für alle Schaubilder von grundlegender Bedeutung. Sie impliziert, dass man das Prinzip der Schaubilder nicht aus dem Medium ableiten kann, in dem sie sich materialisieren lassen. Das Prinzip steckt im Kopf. Festzuhalten bleibt somit: Es gibt (a) die Transduktion, die unspezifische Umwandlung und Weiterleitung der Sinnesreize an der Peripherie des zentralen Nervensystems; es gibt dann (b) die zuweilen bewusste und zuweilen unbewusste Abduktion, also die zunächst rein hypothetische Spezifikation der Erregung (mit Hilfe des Gedächtnisses), und es gibt (c) die Verfahren der Induktion und Deduktion, bei denen mehr oder weniger bewusst bzw. reflektiert von einem Fall auf andere oder von der Regel auf die Fälle geschlossen wird, die unter dieselbe Regel fallen. Neue Vorstellungen und Darstellungen ergeben sich dieser Auffassung zufolge aus dem Wechselspiel von Abduktion, Induktion und Deduktion. Das Spiel beginnt mit einer Hypothese darüber, was der Fall ist, die an der Erfahrung überprüft und bei anhaltender Bestätigung in eine Regel übersetzt wird, die es gestattet, eine Vielzahl gleicher Fälle auf dieselbe Art und Weise zu behandeln respektive zu erklären. Das bedeutet zum Beispiel, dass eine bestimmte Vorstellung oder Darstellung davon, was im Kopf geschieht, ein exploratives Verhalten in Gang setzt, durch das die Konturen dieser Auffassung nach und nach schärfer werden. Die anfangs noch großen Leerstellen in diesem Bild schrumpfen in dem Maße, in dem der Mensch die einzelnen Indizien in einen schlüssigen Zusammenhang bringt, den man als Legende – das heißt: als Regel der Auslegung – für weitere, ähnlich gelagerte Fälle benutzen kann. Bei dieser Art der Legendenbildung gehen Abduktion, Induktion und Deduktion Hand in Hand. Genau das kann man an der Evolution der Gehirnkarten sehen. Noch im 19. Jahrhundert führte die Verbindung von Vermögenslehre und Lokalisationstheorie zu spekulativen, phantasievoll ausgemalten Gehirn-

296 | Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, S. 37.

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D IAGRAMMATIK karten, weil es keine Möglichkeit gab, die mehr oder weniger willkürlich formulierten Hypothesen induktiv zu überprüfen. Abbildung 27: Phantasiekarte der Gehirnareale aus dem 19. Jahrhundert

Je mehr die Forscher jedoch mit den Methoden der Anatomie, Histologie und Physiologie über das Organ des Empfindens, des Denkens und der Verhaltenssteuerung (induktiv) herausfanden, desto geringer wurden die weißen Flächen auf der Karte, desto genauer konnte man (abduktiv) einzelne Gehirnareale anhand ihrer Form und Funktion voneinander abgrenzen und Vermutungen darüber aufstellen, wie man aus den erlangten Erkenntnissen weitere Untersuchungen (deduktiv) ableiten könne. Abbildung 28: Otfried Foersters Reizergebnisse, lokalisiert durch Cécile und Oskar Vogt (1926)

Sieht man sich diese Gehirnkarte von Cécile und Oskar Vogt aus dem Jahre 1926 an, die auf umfangreichen Reizungsexperimenten beruht, die Otfried Foerster durchgeführt hatte, wird deutlich, wie weit die Vermessung der terra incognita der Kognition in den gut hundert Jahren vorangeschritten war, die zwischen Gall und Foerster liegen. Zwar sind einige

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Areale noch nicht funktional bestimmt, aber formal bereits klar von anderen unterschieden, weil man zwischen ihnen und bestimmten motorischen Handlungen funktionale Korrelationen entdeckt hat. Diese Region ist mit der Rumpfdrehung, jene mit rhythmischen Kau-, Leck-, Schluckund Schmatz-Bewegungen und wieder eine andere mit der Artikulation von Grunz- und Krächzlauten befasst. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner hat darauf hingewiesen, dass Vogt und seine Frau im Unterschied zu ihrem Lehrer Paul Flechsig, einem bekennenden Monarchisten, eine ausgesprochen demokratische Vorstellung vom Gehirn hatten, da seine Funktionsweise in ihrer Darstellung einer arbeitsteilig organisierten modernen Gesellschaft ohne Oberhaupt gleicht.297 Sofern sie die Staatsform zur Legende ihrer Gehirnkarte machten, gingen die Vogts deduktiv vor; insofern sie Foersters Reizversuche berücksichtigten, induktiv. Die Idee jedoch, dass der Zellverband, aus dem das Gehirn besteht, irgendeiner ›Regierungsform‹ bedürfe, ist zunächst nichts weiter ein abduktiver Schluss, der sich aus dem Vergleich von Zellpopulation und sozialer Gemeinschaft ergibt. Neben den Vogts war es seinerzeit vor allem Korbinian Brodmann, der die sogenannte cytoarchitektonische Einteilung der Großhirnrinde vorantrieb und dabei entdeckte, dass der Rindenaufbau bei allen Säugetieren prinzipiell gleich ist. Voraussetzung war die Anfertigung zahlreicher Hirnschnitte, die in einer festgelegten Reihenfolge unter dem Mikroskop betrachtet wurden, um so etwas wie Demarkationslinien zwischen verschiedenen Zellverbänden erkennen zu können. Insgesamt verzeichnete Brodman 52 zu Feldern geordnete Zellverbände. Die hier verwendete Darstellung zeigt ihre Verteilung in der medialen Hemisphäre. Abbildung 29: Cytoarchitektonische Einteilung der Hirnrinde durch Korbinian Bordmann (1909)

297 | Vgl. Hagner: Geniale Gehirne, S. 237f.

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D IAGRAMMATIK Abbildung 30: Schnitt durch die Basis der Großhirnhemisphäre; aus: Nauta/Feirtag (1990)

Einen ganz anderen Eindruck vermittelt dieses Diagramm eines Schnitts durch den Atlas. Es ähnelt eher einem Grundriss als einer Landkarte. Veranschaulicht wird ein bestimmtes Bauprinzip, nämlich die Umlagerung eines Kerns über der vorderen Kommissur, die in der Bildunterschrift als eine »breite Straße weißer Substanz« bezeichnet wird.298 So exakt der Schnitt auch ist – der Sinn der einzelnen Fachtermini bedarf einer umgangssprachlichen Vermittlung, die ihrerseits auf anschauliche Vergleiche und bildliche Vorstellungen angewiesen bleibt. In diesem Sinne erinnert die Beschriftung des Schaubilds daran, dass das Medium der Sprache dank seiner Metaphorizität eine Quelle von Bildern ist, die unsere Vorstellungen vom Gehirn genauso prägen wie die verschiedenen Visualisierungstechniken. 1885 erfuhr der spanische Mediziner Santiago Ramón y Cajal von einem Farbstoff aus Silbersalzen, den der italienische Arzt Camillo Golgi entwickelt hatte, um Zellen und Zellverbände für das menschliche Auge sichtbar zu machen. 1890 gelang es Ramón y Cajal mit diesem Verfahren den Zellverlauf im Gehirn und im Rückenmark nachzuzeichnen.299 Er konnte zeigen, dass die Nervenenden getrennte, anatomisch nicht miteinander verbundene Einheiten bilden. Er folgerte daraus, dass die Verknüpfung der Nervenenden über den synaptischen Spalt hinweg immer wieder von neuem hergestellt werden müsse – einen Spalt, der zuerst von dem deutschen Anatom Wilhelm Waldeyen-Hartz beobachtet worden war. Cajal und Golgi teilten sich 1906 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie. Die hier abgebildete Zeichnung offenbart die Vielfalt der Ner-

298 | Vgl. Nauta/Feirtag: Neuroanatomie, S. 261. 299 | Vgl. Robin: Die wissenschaftliche Illustration, S. 44.

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK venzellen im Kleinhirn eines Säugetiers, und zwar in der Region, in dem die Muskeltätigkeit geregelt wird. Abbildung 31: Santiago Ramón y Cajal, Zelltypen im Kleinhirn eines Säugetiers (1894)

Abbildung 32: Francis LeRoy, Neuron mit Synapsen (1988)

Inzwischen werden mit Hilfe des Elektronenmikroskops und des Computers, der sich dazu bestimmter Falschfarben bedient, Bilder wie das folgende möglich. Zu sehen ist ein Neuron, dessen Kern von dem bräunlich eingefärbten Zytoplasma umgeben ist.300 Die Endknöpfchen der Dendri300 | Vgl. Robin: Die wissenschaftliche Illustration, S. 46f.

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D IAGRAMMATIK ten stellen den Kontakt zum Somabereich der Rezeptoren her, während die Signale über den Axon an andere Nervenzellen weitergeleitet werden. Abbildung 33: Mikrographie einer Transmitterdiffusion (1988)

Wie die rund fünfzig verschiedenen Neurotransmitter, die inzwischen bekannt sind, den synaptischen Spalt überbrücken, zeigt der voranstehende Photomikrograph: Die Diff usion der Transmittermoleküle erscheint als länglicher Fleck zwischen dem Axon in der linken und dem Dendriten in der rechten Bildhälfte. Abbildung 34: Schematische Darstellung von Neuronen-Verschaltungen bei McCulloch/Pitts

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK Da es sich bei der Signalleitung im Gehirn um elektrochemische Vorgänge handelt, lag es nahe, die Synapsen als Relaisstationen aufzufassen und auf der Grundlage dieser Abduktion einen Schaltplan des Gehirns zu entwickeln – eine Art der Veranschaulichung, in der bereits die gesamte Computer-Metaphorik der Kognitionswissenschaft beschlossen liegt. In der folgenden Darstellung von McCulloch und Pitts – sie stammt aus dem Jahr 1943 – geht es um verschiedene Möglichkeiten der Neuronenverschaltung. Bei dieser Darstellung sind die einzelnen Verschaltungen allerdings noch nicht in das Netzwerk integriert, das man sich folgerichtig wie einen Schaltplan vorstellen kann. Wie Hagner anmerkt, gingen diesem Typus von Gehirnmodell »diagrammatische und generalisierte Maschinen- und Körperbilder« voran, durch die man sich schon in den 1930er Jahren eine schematische Vorstellung vom konditionierten Reflex gebildet hatte.301 Den Wert der kybernetischen Gehirnmodelle sieht Hagner in ihrer antiphysiognomischen Einstellung dem Untersuchungsobjekt gegenüber302 – eine Einstellung, die im Unterschied zu den neueren, bildgebenden Verfahren vor leichtfertigen Reifikationen bewahrt, weil sie ersichtlich nicht dem Similaritätsprinzip der Neuroimages verpflichtet ist. Hier ein weiteres Beispiel für die antiphysiognomische Einstellung der kybernetisch fundierten Diagrammatik: Abbildung 35: William Grey Walter, Schaltplan eines Nervenmodells (1963)

Dieser Schaltplan eines Nervenmodells von Grey Walter hat praktisch keine Ähnlichkeiten mit einem histologischen Schnitt oder mit der Mikrophotographie einer Synapse. Man denkt bei seinem Anblick eher an ein Transistorradio als an Gehirnkarten, wie sie Vogt oder Brodmann erstellt haben. Als das Buch, in dem dieses Diagramm zu finden ist, 1963 veröffentlicht wurde, waren es die Leitbilder der universalen Turing-Maschine, der Feedback-Schleife und der digitalen On/Off-Logik, an denen sich viele 301 | Hagner: »Bilder der Kybernetik«, S. 390. 302 | Vgl. Hagner: »Bilder der Kybernetik«, S. 394ff.

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D IAGRAMMATIK Gehirnforscher orientierten. In der Folge entstand der Gedanke, neuronale Vorgänge am Computer zu simulieren und das Gehirn mit einem Rechner zu vergleichen, der bestimmte Eingaben verarbeitet und prozessiert. Vor allem die Forschungen zur künstlichen Intelligenz und der sogenannte Konnektionismus knüpfen an dieses Paradigma an. Eine weniger abstrakte, dafür aber gerade unter diagnostischen Gesichtspunkten äußerst aufschlussreiche Perspektive haben der Gehirnforschung inzwischen die bildgebenden Verfahren eröffnet. Das Spektrum reicht von der Elektro-Encephalographie (EEG) über die Kernspin-Tomographie und die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) bis zur funktionellen Magnetresonanz-Tomographie (f-MRT). All diese Verfahren veranschaulichen anatomische Sachverhalte und physiologische Vorgänge, die nicht im natürlichen Wahrnehmungsfeld des Menschen liegen und mit bloßen Augen nicht zu sehen sind. Zum Beispiel zeigen sie wie diese Kernspin-Tomographie den Unterschied zwischen einem Gehirn mit und ohne Läsion. Rechts die Auswirkungen eines Schlaganfalls – der betroffene Bereich ist nur noch schwarz und hebt sich damit deutlich von der gleichen Zone der Frontal-, Parietalund Temporallappen im gesunden Hirn links ab. Sichtbar wird dies, weil ein Kernspin-Tomogramm die Dichte der Wasserstoffkerne aufzeichnet und in Hell-Dunkel-Kontraste umsetzt. Abbildung 36: Kernspin-Tomogramm zweier Gehirne; rechts ein Patient mit Schlaganfall

Eine weitere, wichtige Methode ist die Positronen-Emmissions-Tomographie (PET), die lokale Gehirnaktivitäten verzeichnet. Der Versuchsperson wird ein Molekül injiziert, das mit harmlosen und kurzlebigen radioaktiven Atomen (Sauerstoff-15 oder Stickstoff-13) versetzt ist, die in den Zellkernen positiv geladene Teilchen (Positronen) freisetzen. Je nach dem Tracer-Farbstoff, der dabei verwendet wird, können so Veränderungen der lokalen Durchblutung, des Zucker- oder Sauerstoffwechsels indiziert oder, wie in diesem Bild, die mit der Hör-, der Seh-, der Sprech- und der Denkaktivität verbundenen Erregungszustände im Gehirn lokalisiert und in ihrer Intensität veranschaulicht werden. Was dabei freilich nicht in den Blick kommt, ist die Wechselwirkung von Exzitation und Inhibition, ist

3. G EGENSTANDSFELDER DER D IAGRAMMATIK das Zusammenspiel zwischen der dargestellten Gehirnregion und anderen Arealen des zentralen Nervensystems sowie der Zeitverlauf, aus dem die Momentaufnahme herausgelöst ist. Abbildung 37: Michael Posner, Funktionales Tomogramm der linken Gehirnhälfte

Daher gilt auch für diese Schaubilder, was bereits auf Dryanders Ventrikelmodell zutraf: Alle Vorstellungen, die sich der Mensch von sich, von seiner Umwelt und von seinem eigenen Erkenntnisapparat macht, sind heuristische Instrumente zur Entwicklung vorläufiger Interpretationen im Rahmen der natürlichen Anschauungsformen, auf die alle künstlichen Verfahren, Techniken und Medien der Bilderzeugung zugeschnitten sein müssen. So wie das Ventrikelmodell oder die von Hand gefertigten Gehirnkarten, denen umfangreiche Reizversuche und Untersuchungen am Gewebe zugrunde lagen, erweitern die avancierten Verfahren des neuro-imaging die Wahrnehmung des Menschen, ändern aber nichts am Prinzip der Visualisierung, demzufolge jedes Bild einen Verständnisrahmen und jede Karte eine Legende braucht. Naiv ist daher die Annahme, die von den jeweils neuesten technischen Errungenschaften erzeugten Bilder seien keine Konstrukte, sondern die Sache selbst. Erstens wäre es, um bei den neuro-images zu bleiben, reduktionistisch, den komplexen, komplizierten und dynamischen Vorgang der Wahrnehmung allein mit dem Hinweis auf ein Schaubild erklären zu wollen, das bestimmte Erregungsmuster im Gehirn aufzeigt. Und zweitens würde man einen unberechtigten Gedankensprung, eine Metabasis, vollziehen, wollte man aus dieser Darstellung ableiten, welche Bedeutung der Gegenstand der Wahrnehmung im Verlauf des Interpretationsprozesses erhält, der noch ganz andere Ebenen der Signalverarbeitung und -auslegung einschließt. Vor allem aber folgt aus dem Umstand, dass man dieses oder jenes mit einem bildgebenden Verfahren zeigen kann, noch lange nicht, dass all das, was nicht zur Darstellung gelangt, gar nicht existiert oder irrelevant wäre. Was die Bilder niemals zeigen und was doch stets bedacht werden muss, wenn man aus ihrer Betrachtung irgendwelche Schlussfolgerungen zieht, ist ihre Unzulänglichkeit.

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D IAGRAMMATIK Genau genommen muss man daher die legitime Form der Reduktion, die es der Naturwissenschaft gestattet, einfache Erklärungen und allgemeine Gesetze für eine Vielzahl von (zusammengesetzten) Erscheinungen zu finden, von jener illegitimen Form des Reduktionismus abheben, die sich nicht nur aus der Simplifikation der Probleme, sondern auch aus der Simplifikation der Problemlösung ergeben kann. Solange noch gar nicht ausgemacht ist, wie man von der molekularbiologischen Beschreibung der Gehirntätigkeit in das Reich der Bedeutungen gelangt, dessen wir uns im Erleben bewusst werden, ist jeder Sprung von einer Ebene zur nächst höheren eine Metabasis, die mit dem oft leichtfertig gebrauchten Begriff der Emergenz nur unzureichend kaschiert wird. Für die Diagrammatik folgt aus dieser knapp gefassten Geschichte der Gehirnbilder zum einen, dass die bildgebenden Verfahren leicht zur Verwechslung von image und diagram und damit zu reifikatorischen Folgerungen führen können, bei denen mentale Modelle verdinglicht und ontologische Differenzen ignoriert werden. Der beste Schutz gegen Kurzschlüsse dieser Art besteht in der Entwicklung eines semiotischen Bewusstseins für die Ergänzungsbedürftigkeit ikonischer durch indexikalische Zeichen sowie in der Einsicht, dass Komplexitätsreduktion und Defiguration zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Zum anderen macht der Exkurs in die Wissenschaftsgeschichte der Gehirnforschung die heuristische Funktion der antiphysiognomischen Visualisierung deutlich, die gerade Diagramme zu leisten vermögen. Da ihre Konstruktion mit Abstraktion und Defiguration einhergeht, können sie die seduktive Kraft der Bilder selbst dort minimieren, wo es um die Plastizität des Organs geht, zu dessen Vermögen die Einbildungskraft gehört.

4. Grenzgänger der Diagrammatik

Ü BERGANG 2: D AS M EDIUM DES › INNEREN , GEISTIGEN ‹ A UGES Die Perspektive der Wissenschaftsgeschichte erarbeitet die diagrammatischen Grundlagen der wissenschaftlichen Praxis. Die Wissenschaftsgeschichte deckt aber auch die Vorgeschichte der Diagrammatik als einer semiotischen Theorie auf. Es ist wohl bekannt, wenn auch wenig erforscht, inwiefern die Diagrammatik – nicht nur bei Peirce – aus der Auseinandersetzung der Semiotik mit den Natur- und Ingenieurswissenschaften resultiert. Die avancierten Techniken des neuro-imaging und andere computergestützte, bildgebende Verfahren machen deutlich, wie elementar wichtig ein diagrammatisches Verständnis epistemischer und heuristischer Visualisierungsprozesse in den Wissenschaften sein kann. Ein solches Verständnis bewahrt den Betrachter nicht nur vor naiven Reifikationen, es schärft seinen Blick auch für die seit der Frühen Neuzeit vermehrt zu beobachtende Verwendung von graphischen Darstellungen als Explorationsmedien der Forschung. Aus Sicht der Wissenschaftsgeschichte sind »visual displays more than a simple matter of supplying pictorial illustrations for scientific texts. They are essential to how scientific objects and orderly relationships are revealed and made analyzable.«1 Zu den Eigenarten dieser Konturierung der Gegenstände durch visuelle Darstellungen, die bis zur Konstruktion von Entitäten gehen kann, gehört es, dass sie den Dualismus von materiellen und mentalen Bildern unterläuft. Geradezu paradigmatisch ist in dieser Hinsicht die Astronomie, insofern das ptolemäische und das kopernikanische Weltbild Konzepte darstellen, mit denen bestimmte Perzeptionen erzeugt werden, die sich in unterschiedlichen Welt-Versionen niederschlagen. Nelson Goodman hat diese Merkwürdigkeit am Beispiel der Sternbilder erläutert. »Ein Sternbild wird nämlich nur dadurch eines, dass es aus allen Konfigurationen 1 | Lynch: »The external Retina«, S. 154.

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D IAGRAMMATIK ausgewählt wird […]. Wie wir also Sternbilder dadurch erzeugen, daß wir bestimmte Sterne und nicht andere herausgreifen und zusammenbringen, so erzeugen wir auch Sterne dadurch, daß wir bestimmte Grenzen ziehen und nicht andere. Es gibt keine Vorschrift, nach der der Himmel in Sternbilder oder andere Gegenstände aufgeteilt werden muß.«2 Ist das Sternbild aber erst einmal erzeugt, prägt es den Blick auf den nächtlichen Himmel. Der Beobachter entdeckt dort das Bild wieder, das er im Atlas der Astronomie kennengelernt hat, er sieht das Firmament (Territorium) genau so, wie es in der Sternenkarte ver-zeichnet ist. Zugespitzt formuliert: Er hat seiner Wahrnehmung ein Muster eingebildet, das sich mehr der Imagination als der Perzeption verdankt. Und er hat nur die Alternative, entweder ein anderes Bild in den Himmel zu projizieren oder den Blick abzuwenden. Anders gesagt: So wie in jeder Wahrnehmung ein Urteil steckt, enthält sie auch ein Vorstellungsbild. Und da es oft unmöglich ist, zu entscheiden, was zuerst da war – die Perzeption oder die Imagination – macht es wenig Sinn, das, was man sieht, entweder ausschließlich der Außen- oder der Innenwelt des Bewusstseins zuzuordnen oder angeben zu wollen, was an der Sache nur für das ›geistige Auge‹ und was an ihr nur für die ›leiblichen Augen‹ sichtbar ist. Dennoch gibt es Unterschiede zwischen dem Wahrnehmen und dem Vorstellen, die für die Diagrammatik von besonderer Bedeutung sind, weil sie das anschauliche Denken einerseits – mit dem Evidenzprinzip – auf das Beobachten zurückführen und andererseits – durch das Virtualitätsprinzip – mit dem Möglichkeitssinn verbinden. Gerade die Wissenschaftsgeschichte erweist sich als aufschlussreiche Annäherung an diese Eigenart des anschaulichen Denkens.

I.

Heuristische Modelle und epistemische Bilder

Während man in den Explosionszeichnungen, die Leonardo da Vinci angefertigt hat, die Vorläufer der modernen Körperbilder sehen kann, die unter die Oberfläche der Haut, ins Innere des Organismus, eindringen, beginnt die Vermessung des Himmels, die zu den Sternenkarten und Bewegungsdiagrammen der kopernikanisch aufgeklärten Astronomie führt, mit einem Rückgriff auf die Antike. 1595 versucht Johannes Kepler seinen Studenten in Graz die Konstellation von Saturn und Jupiter anhand der Figur eines Dreiecks transparent zu machen, dessen Schenkel einen Kreis einfassen und ihrerseits von einem weiteren Kreis umschlossen werden. Kepler wollte das Welträtsel der Planetenbahnen more geometrico lösen und legte mit seinem Mysterium Cosmographicum 1597 einen ersten Versuch dazu vor. Dabei dienten ihm die sogenannten Platonischen Körper – Tetraeder, Kubus und Oktaeder, Ikosaeder und Dodekaeder – als Legende. Doch dieser Annäherungsversuch erwies sich schon bald als zu schematisch. 2 | Goodman: Vom Denken und anderen Dingen, S. 60.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK 1609 veröffentlichte Kepler dann sein Hauptwerk, die Astronomia Nova, die nicht mehr auf dem Modell der Platonischen Körper aufgebaut war, sondern den Beobachtungsdaten von Tycho Brahe Rechnung trug, die Kepler selbst in den sogenannten Rudolfinischen Tafeln – benannt nach dem damaligen Kaiser des Habsburgerreiches – in Prag zusammengestellt und ausgewertet hatte. Die Beobachtungsdaten ergaben von sich aus jedoch keine sinnfällige Gestalt. Keplers Versuche, sie auf die Figur des Kreises zu beziehen, die als Abbild der göttlichen Vollkommenheit angesehen wurde, schlugen fehl. Der Kreis war als Muster der Vereinheitlichung nicht geeignet – wohl aber, wie Kepler nach langen vergeblichen Berechnungen widerstrebend einräumen musste, die als mangelhaft geltende Figur der Ellipse, von ihm selbst nur abfällig als ›detractio‹ (Mangel) bezeichnet. Auch die Ellipse stimmte mit den Planetenbahnen nur annäherungsweise überein – sie bot jedoch das beste denkbare Modell zur Erklärung des eigenartigen Umstands, dass sich die Sterne zuweilen schneller und zuweilen langsamer zu bewegen schienen – je nachdem, ob sie in die Nähe eines der beiden Brennpunkte der Ellipse gerieten oder sich von diesen Punkten, deren Wirkung Kepler noch magnetisch erklären wollte, entfernten. Erst Isaac Newton gelang es dann, mit der universalen Gravitation die Kraft anzugeben und mathematisch zu modellieren, die alle Bewegungen im All erklären konnte, einschließlich des Wechsels von Ebbe und Flut auf der Erde. Der zeitgenössische Skandal seiner Naturphilosophie lag darin, dass Newton zwar die Wirkung der Schwerkraft exakt berechnen und so ihre Realität nachweisen konnte, sich aber strikt weigerte, ihre Ursache mit einer bestimmten Substanz zu identifizieren. »[…] die Gravitation ist eine causa mathematica, und die Frage, ob und inwieweit sie noch eine physikalische Erklärung zuläßt, wird bewußt offengehalten.«3 Denn, so Newton, hypotheses non fingo. Seitens anderer Philosophen, allen voran Gottfried Wilhelm Leibniz, brachte ihm dies den Vorwurf ein, mit der Schwerkraft eine qualitas occulta zu propagieren. Tatsächlich hatte Newton jedoch ein in sich absolut schlüssiges Diagramm der Weltdynamik entworfen, das mathematisch nicht zu beanstanden und sogar imstande war, Ereignisse wie den Verlauf von Kometenbahnen zu erklären, die 1687, als seine Philosophiae Naturalis Principia Mathematica erstmals veröffentlicht wurden, noch gar nicht eingetreten waren. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Publikation der Philosophiae den Durchbruch der diagrammatischen Methode der Weltvermessung und -berechnung markiert.4 Überhaupt ist dem Wissenschaftshistoriker Herbert Butterfield darin zuzustimmen, dass die wissenschaftliche Revolution zu Beginn der Neuzeit, die in Newtons Leistung kulminierte, »the whole diagram of the physical universe and the very texture of human life« ebenso grundlegend wie 3 | Dijksterhuis: Die »Mechanisierung des Weltbilds«, S. 488f. 4 | Vgl. Bauer: Schwerkraft und Leichtsinn, S. 122ff., S. 165ff.

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D IAGRAMMATIK nachhaltig verändert hat.5 Ausgangspunkt war das, was Hans Blumenberg als »das kopernikanische Diagramm« bezeichnet hat6 – eine Konfiguration, die im Wesentlichen eine Rekonfiguration, eine Umschrift der von Ptolemäus im Almagest dargelegten Sternenkarte war. Sie wurde für Kepler wie für Newton zum Leitbild der eigenen Forschung. Es ist daher alles andere als ein Zufall, dass sich Peirce, der als junger Wissenschaftler selbst gravimetrische Untersuchungen durchgeführt und in einer Sternwarte gearbeitet hatte, ausgerechnet auf Kepler beruft, wenn er den Zusammenhang von Abduktion, Diagrammatik und Induktion erläutert: »Zum Beispiel fand Kepler, dessen Denken stets ein Vorbild wissenschaftlichen Schließens (reasoning) bleiben wird, auf einer bestimmten Stufe, daß die beobachteten Längenpositionen des Mars, die er lange vergeblich an eine Umlaufbahn anzupassen strebte, so lagen, wie sie (innerhalb der möglichen Beobachtungsfelder) liegen würden, wenn der Mars sich in einer Ellipse bewegen würde. Die Tatsachen ähnelten also insoweit einer Bewegung auf einer elliptischen Umlaufbahn. Kepler schloss nun daraus nicht, daß der Orbit wirklich eine Ellipse sei; er gewann jedoch den Eindruck, daß diese Idee vieles für sich habe, und entschloß sich, auf der Grundlage dieser Hypothese tatsächliche Prognosen über Breitenpositionen und Parallaxen zu stellen und zu überprüfen, ob diese bestätigt würden oder nicht. Dies war eine Abduktion. Eine Abduktion ist darin originär, daß sie als einzige Art von Argument eine neue Idee in Umlauf bringt.«7

Zu beachten ist, wie nachdrücklich Peirce auf dem Umstand besteht, dass Kepler die Ellipse nicht als Vor- oder Abbild, sondern als Modell verstanden und wie konsequent er die induktive Probe auf die Stichhaltigkeit dieses Modells gemacht habe: »Als Kepler festgestellt hatte, daß die elliptische Umlaufbahn den Planeten auf die richtigen Längenpositionen brachte, schlug er zweierlei Wege ein, um die Hypothese zu überprüfen. Zunächst einmal war es ja stets vergleichsweise leicht gewesen, Hypothesen zu finden, die ungefähr die Länge angaben, wenn auch nicht bis zu dem Genauigkeitsgrad, den Tycho Brahes Beobachtungen hatten. Aber wenn diese Hypothese auf die Breitenpositionen angewandt wurde, hatte man immer festgestellt, daß recht komplizierte Zusatzhypothesen von geringer Wahrscheinlichkeit (verismilitude) nötig wurden – Schwankungen oder Kippungen der Umlaufbahn – um die Breitenposition annähernd darstellen zu können. Kepler unternahm die Berechnung der Breitengrade von seiner elliptischen Theorie aus, ohne zu wissen, ob die Berechnung mit den Beobachtungen über-

5 | Butterfield: The Origins of Modern Science, viii. 6 | Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt, S. 115. 7 | Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, S. 393f.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK einstimmen würde oder nicht. Doch man stellte fest, daß dies in höchst bewundernswertem Maße der Fall war.« 8

Das abduktiv erstellte Anschauungs- und Berechnungsmodell hatte sich induktiv, also empirisch, bewährt und konnte daher für weitere Deduktionen in Anspruch genommen werden. Wie angemessen die paradigmatische Rekonstruktion des Erforschungsprozesses, die Peirce an Kepler vorgenommen hat, tatsächlich ist, lässt sich an einer Aussage von Kepler selbst belegen, der gegenüber einem Briefpartner bemerkt: »Ihr meint, daß ich mir irgendeine gefällige Hypothese ausdenke und mir selber bei ihrer Ausschmückung gefalle, sie dann aber erst an Beobachtungen prüfe. Da täuscht ihr euch aber sehr. Wahr ist vielmehr, daß ich, wenn eine Hypothese mit Hilfe von Beobachtungen aufgebaut und begründet ist, hernach ein wunderbares Verlangen verspüre zu untersuchen, ob ich darin nicht irgend einen natürlichen wohlgefälligen Zusammenhang entdecken kann. Aber nie stelle ich zuvor ein abschließendes Urteil auf.« 9

Kepler antizipiert damit nicht nur die Methodologie, die in Newtons Diktum hypotheses non fingo steckt, er stellt auch klar und deutlich den Zusammenhang von Beobachtung und Folgerung heraus, der es Peirce erlaubt, von ›diagrammatic reasoning‹ zu sprechen. In der Geschichte der Schaubilder markieren die Zeichnungen von Kepler und die Diagramme von Newton Meilensteine der visuellen Selbstaufklärung des Menschen über den Kosmos – wobei die Zeit in der klassischen Mechanik noch als reversibel gedacht wird. Diese Vorstellung wird im 19. und 20. Jahrhundert durch die Thermodynamik, die Evolutionstheorie und die Relativitätstheorie rekonfiguriert. Im Ergebnis wird das mikro- und makrokosmische Weltgeschehen auf einen irreversiblen Zeitpfeil bezogen. Dieser Vorstellung entspricht die Anschauungsform des Films, zu dessen Vorläufern nicht nur die kinematographischen Bewegungsstudien eines Eadweard Muybridge, sondern auch die ›Bildergeschichten‹ der Evolutionstheorie gehören, die der Veranschaulichung metamorphotischer Prozesse dienen. »Wie keine andere Darstellungsform konnte die Bildsequenz das zentrale Postulat der Evolutionstheorie, die Wandlungsfähigkeit des Lebendigen zeigen«,10 schreibt die Wissenschaftshistorikerin Julia Voss, die sich eingehend mit den graphischen Darstellungen zu den Werken von Charles Darwin befasst hat. Aufschlussreich ist, dass die Bildsequenz, die aus Momentaufnahmen verschiedener Entwicklungsstadien einer Spezies oder eines Organs besteht, nicht nur als Illustration der Evolutionstheorie, sondern als Argu8 | Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, S. 395f. 9 | Kepler in einem Brief an Fabrizius, zit. n. Nádor: »Die heuristische Rolle«, S. 557. 10 | Voss: »Augenflecken und Argusaugen«, S. 77.

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D IAGRAMMATIK ment zur Widerlegung der Einwände genutzt wurde, die seitens der Naturtheologen gegen diese Theorie vorgebracht worden waren.11 Überzeugen vermochte ein solches Argument nur, wenn der (äußere) Anschauungsraum der Bildsequenz durch den (inneren) Sinn der Zeit gleichsam belebt und in Bewegung versetzt wurde, wenn also die Momentaufnahmen dynamisch aufgefasst und die Leerstellen zwischen ihnen in einer Art Gedankenfilm überbrückt wurden – offenbar eine komplexe, diagrammatische Operation der Einbildungskraft. Nicht das einzelne Bild fungiert als Argument, wohl aber das aus mehreren Bildern konfigurierte Diagramm, das kinematographisch, als Zeitraffer-Studie aufgefasst wird. Mit anderen Worten: Nur weil die unbewegten Bilder der Sequenz auf der ›Leinwand‹ des geistigen Auges in Bewegung versetzt und auf den Kontext der zeitgenössischen Debatte bezogen wurden, konnten sie eine diskursive Funktion erfüllen. Selbstverständlich darf man sich das innere oder geistige Auge nicht bildlich vorstellen. Wie jede andere, metaphorisch gemeinte Wendung erzeugt auch die vom inneren Auge ein Anschauungsmodell, dem unmittelbar keine Erfahrung entspricht. Umso aufschlussreicher erscheint es, wenn ingenieurwissenschaftlich gebildete Gelehrte wie Eugene S. Ferguson und kritisch geschulte Philosophen wie Colin McGinn auf diese epistemologische Metapher zurückgreifen.

II. Das ›Medium‹ des ›inneren Auges‹: Technische Information und Vision Eugene S. Ferguson beschäftigt sich in seinem Buch Engineering and the Mind’s Eye mit dem Zusammenspiel von Vorstellung, technischer Zeichnung und praktischer Ausführung. »Schon seit über 500 Jahren verwenden Ingenieure Zeichnungen, wenn sie Handwerkern zeigen wollen, was sie im Sinn haben. […] Bei dieser Beschreibung ist das entscheidende Wort zeigen. Die Zeichnungen haben zwei Hauptziele. Erstens zeigen sie den Entwerfern, wie ihre Gedanken auf Papier aussehen. Zweitens zeigen sie, falls sie vollständig sind, den Arbeitern, was sie zur Herstellung des Gegenstands wissen müssen. Die Zeichnungen vermitteln vor allem visuelle Information: Diese ist – bis auf Bemerkungen, die Materialien oder andere Einzelteile festlegen – nicht sprachlich, und sie ist – bis auf Maßangaben für die Teile und den Zusammenbau – nicht numerisch.«12

Ob mit oder ohne Ziffern und Lettern – die Zeichnungen, um die es geht, sind Diagramme, die Elemente, Relationen und Proportionen, Strukturen und Funktionen von Gebäuden, Geräten oder Maschinen im Grund- oder Aufriss zeigen und dergestalt Vorstellungen davon vermitteln, wie diese 11 | Vgl. Voss: »Augenflecken und Argusaugen«, S. 84. 12 | Ferguson: Das innere Auge, S. 18f.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Gebäude, Geräte oder Maschinen zu konstruieren respektive zu reparieren sind. Das Wissen, das im Entwurf der technischen Zeichnungen steht, beruht im Wesentlichen auf experimentellen Erkenntnissen und empirischen Erfahrungen.13 Im Hintergrund dieses Wissens aber steht für Ferguson, der damit das Virtualitätsprinzip der Diagrammatik anspricht, das Bewusstsein, dass sich im Prinzip jedes technische Problem auch anders lösen lässt.14 Zudem sind die Grenzen eines jeden Entwurfs kulturgebunden: »Alle erfolgreichen Entwürfe haben Vorläufer. Bei den ersten Entwürfen kommt dem visuellen Gedächtnis des Entwerfers ein besonders großer Einfluß zu.«15 Aufschlussreich ist, was Ferguson über das Verhältnis von technischen und künstlerischen Zeichnungen sagt. Obwohl sich Ingenieure nicht als Künstler verstehen, haben ihre Zeichnungen, »ob sie nun mit Bleistift und Feder am Reißbrett oder mit einem elektronischen Cursor auf dem Computerschirm erstellt werden, wichtige Eigenschaften mit den Zeichnungen und Gemälden von Künstlern gemein. Beide beginnen mit einer leeren Seite. Jeder will die Vision seines inneren Auges darauf übertragen. Die von einem Künstler bei der Gestaltung seines Bildes getroffenen Entscheidungen scheinen ganz willkürlich zu sein, werden aber durch das Ziel geleitet, dass ihre Visionen, Einsichten und Sinnfindungen anderen vermittelt werden sollen. Jeder Künstler befolgt zudem, wenn er nicht gerade besonders anarchisch ist, gewisse Regeln, die zu einer bestimmten Periode oder einem Stil oder einer Richtung gehören.«16

Gewisse Stilmerkmale oder Eigenarten einer Periode weisen aber auch technische Zeichnungen auf, etwa die des Architekten Frank Lloyd Wright. Selbst dort, wo sie (scheinbar) fehlen, gilt, dass die Vision des inneren Auges immer auch eine formale Seite hat, die dem Betrachter ebenso vermittelt werden muss wie die Materie, um die es geht. Evidenz und Prägnanz, Genauigkeit und Nüchternheit sind vielleicht keine Merkmale eines Individualstils, aber doch stilbildende Attribute technischer Zeichnungen von nicht unerheblicher kultureller Bedeutung. Die viel beschworene Technifizierung der Lebenswelt ist auch ein Resultat des alltäglichen Umgangs mit Zeichnungen, die nicht als künstlerische Darstellungen gedacht sind, sondern technisches und praktisches Wissen vermitteln. Man kann daher, wie Ferguson andeutet,17 nicht nur eine Stilanalyse solcher Zeichnungen durchführen, sondern sogar eine Stilgeschichte der Konstruktionspläne schreiben, die unfertige, tastende Skizzen ebenso berücksichtigt wie ausgefeilte Diagramme. 13 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 20. 14 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 23. 15 | Ferguson: Das innere Auge, S. 29. 16 | Ferguson: Das innere Auge, S. 33f. 17 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 36ff.

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D IAGRAMMATIK Ebenfalls berücksichtigt werden müsste im Rahmen einer solchen Stilgeschichte die soziale Dimension. »Wer den Konstruktionsvorgang beobachtet, stellt fest, daß er nicht eine völlig formale Sache ist und daß Zeichnungen und Vorgaben das Ergebnis zwischenmenschlicher Wechselwirkung sind.«18 Der isolierte Erfinder stellt die Ausnahme dar; die Regel besteht darin, dass ein Planungsstab am Werke ist, der arbeitsteilig organisiert wird. Dabei orientiert sich das Team häufig an einem ›Metaschema‹, an einem Plan des Planens. Ein solches Schema kann als Blockoder Flußdiagramm ausgeführt werden. Ferguson merkt allerdings ausdrücklich an, dass solche Diagramme stets Idealisierungen sind und dass der Konstruktionsprozess in der Realität trotz des Metaschemas nicht systematisch, sondern kontingent, non-linear und chaotisch verläuft.19 Unabhängig davon, ob sich Ingenieure an einem Metaschema orientieren oder nicht – ohne anschauliches Denken kommen sie nicht aus.20 Als Organ des anschaulichen Denkens bestimmt Ferguson das ›innere Auge‹. Es ist »der Ort unserer Bilder der erinnerten Wirklichkeit und des imaginierten Gebildes, […] ein unglaublich fähiges und differenziertes Organ. Es sammelt und deutet viel mehr als nur die Information, die durch den optischen Nerv des Auges eintritt; es speichert und verknüpft lebenslang Sinnesinformationen – die es mit Hilfe von Gesichts- und Tastsinn, Muskeln, Eingeweiden, Gehör, Geruch und Geschmack gewinnt – und stellt Beziehungen zwischen ihnen her.«21 Indem Ferguson das ›innere Auge‹ als sensorium communis beschreibt und darauf hinweist, dass seine Funktion vor allem darin besteht, Wissen aus synästhetischen Relationen zu generieren, konzipiert er das anschauliche Denken diagrammatisch. Seine neuronale Basis besteht in der Verschaltung zahlreicher Nervenbahnen und Gehirnareale, seine Resultate sind Zeichnungen, die nicht nur die Logoi von Bild, Zahl und Schrift verbinden, sondern ihrerseits wiederum synästhetisch gedeutet werden. Zumindest für den kundigen Betrachter implizieren die Zeichnungen Wissen über die Beschaffenheit der Materie, das heißt sie wecken Vorstellungen, die sich auf die Anmutungsqualität der Gebäude, Geräte und Maschinen beziehen. So kann, wer mit den entsprechenden Materialien vertraut ist, anhand einer technischen Zeichnung auch dann abschätzen, wie schwer das Gerät sein wird, wenn der Bauplan diese Angabe nicht enthält. Worauf es jedoch vor allem ankommt, ist die Fähigkeit des ›inneren Auges‹ zur Rekonfiguration der Wahrnehmung: »Die Aufgabe, einen Ort auf einer kleinen flachen Karte zu finden, setzt voraus, daß das innere Auge die in drei Dimensionen der Wirklichkeit erfahrenen Formen 18 | Ferguson: Das innere Auge, S. 41. 19 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 44f. 20 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 47. 21 | Ferguson: Das innere Auge, S. 47f.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK abändert, um das, was das optische Auge sieht, mit dem in Einklang zu bringen, was die Karte sagt. Visuelles Denken kann in dem Maße erfolgreich sein, in dem denkende Menschen über angemessene Sinneserfahrungen verfügen, die vom inneren Auge in nützliche visuelle Informationen umgewandelt werden.« 22

Mit diesen Worten bestätigt Ferguson die Erkenntnis von Peirce, dass die Deutung von Diagrammen ihre Einbettung in das Kontinuum der Erfahrungen verlangt – ein Kontinuum, bei dem es nicht nur auf die logische Konsistenz, sondern eben auch und gerade auf die ästhetische Persistenz ankommt. Ferguson illustriert die Relevanz des anschaulichen Denkens unter anderem dadurch, dass er die Naturwissenschaftler des 19. und 20. Jahrhunderts aufzählt, die in Modellen und mechanischen Analogien dachten, visuelle oder taktile Metaphern verwandten oder Schaubilder wie die nach ihrem Erfinder benannten ›Feynman-Diagramme‹ entwarfen, um sich Klarheit über die Prozessstruktur der Materie zu verschaffen und anderen ihre Konzepte darzulegen.23 Interessant ist dabei nicht zuletzt die transkulturelle Dimension der Wissensvermittlung, die technische Zeichnungen schon seit der Renaissance leisten: »Noch vor 1472, als das erste gedruckte Buch zur Technik der Mechanik erschien – es war die militärische Abhandlung von Roberto Valturio –, hatte sich in den Skizzenbüchern der Ingenieure eine eindrucksvolle, überwiegend nichtsprachliche Kenntnis der Mechanik angesammelt. Dieses Wissen konnte leicht kulturelle, sprachliche und zeitliche Grenzen überschreiten, weil es bildlich war und zur Erklärung nur weniger Worte bedurfte.« 24

Die zentralen Erfindungen und Entdeckungen dieser Zeit – der Buchdruck, die Zentralperspektive und die Projektion – deren Bedeutung für die Literatur- und Kunstgeschichte außer Frage stehen, haben auch die Geschichte der Technik und des Ingenieurwesens nachhaltig geprägt. Denn sie »ermöglichen es, eine Idee, die ein Mensch im Sinn hatte, durch materielle Mittel – Abbildungen – anderen Menschen über Raum und Zeit hinweg genauer zu vermitteln.«25 Ideen- und Mediengeschichte treten dergestalt während der Renaissance in eine neue Form der Wechselwirkung, die für das anschauliche, entwerfende und schlussfolgernde Denken – also für die Diagrammatik – eine in ihrem Ausmaß vermutlich noch nicht ausreichend erkannte und gewürdigte katalysatorische Wirkung entfaltet hat. Ein wichtiger Faktor war dabei, wie Ferguson im Anschluss an Wil-

22 | Ferguson: Das innere Auge, S. 48. 23 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 49f. 24 | Ferguson: Das innere Auge, S. 70. 25 | Ferguson: Das innere Auge, S. 79.

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D IAGRAMMATIK liam M. Ivins betont,26 die Reproduzierbarkeit bildlicher Aussagen, da sie nachhaltig zur Standardisierung und Distribution des Wissens wie dazu beitrug, dass sich ein analytischer Blick auf die Materie auszubreiten begann. Wenn die Geschichte der Naturwissenschaft und Technik vor allem eine Geschichte der Säkularisierung von Kräften ist, die zuvor okkultistisch behandelt wurden, dürfte die Rolle der Zeichnungen, die Ein- und Durchblicke vermitteln, nicht zu unterschätzen sein, da sie Wirkungszusammenhänge transparent machen und die Karriere des kausalen Denkens befördern. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang die Orthogonalprojektion, die gewöhnlich drei Ansichten eines Objekts zeigt und sich erstmals 1528 bei Albrecht Dürer findet, sowie die sogenannten ›Explosionszeichnungen‹, die Leonardo da Vinci um 1500 herum entwickelt hat, um unter die Oberfläche der Dinge zu dringen und aufzuzeigen, wie sie im Inneren zusammengesetzt sind.27 Schließlich bürgern sich, nachdem Caspar Monge im 18. Jahrhundert die darstellende Geometrie erfunden hatte, Notationssysteme mit standardisierten graphischen Symbolen ein, dank deren Verwendung die Diagramme einerseits immer komplexer werden können, andererseits aber auch einer Legende bedürfen, die zur weiteren Professionalisierung von Ingenieuren und technischen Zeichnern führt. Bezeichnenderweise macht ihre Ausbildung von einer Erkenntnis Gebrauch, die schon in den Anfängen der Diagrammatik, bei Aristoteles auftaucht: »Man lernt das Lesen von Zeichnungen wohl am besten und wahrscheinlich auch nur dann wirklich gut, wenn man lernt, solche Zeichnungen selbst anzufertigen.«28 Als Lehrbücher fungierten dabei ab 1578 die ›Theater der Maschinen‹, die Kupferstiche von mechanischen Geräten enthielten und schon bald zu mehrbändigen enzyklopädischen Werken anwuchsen.29 In den ›Theatern der Maschinen‹ wurde die Rechenkunst, wurde die Mathematisierung und Mechanisierung der Welt vor Augen geführt. Über den praktischen Nutzen in der Ingenieurkunst hinaus vergegenwärtigen sie bis heute, wie sich das neue Menschenbild des homo faber durchsetzt, der sich rational, operational und tendenziell instrumentalistisch verhält. Nicht zu übersehen ist aber auch die Schaulust (Sigmund Freud), von der die ›Theater der Maschinen‹ ihre Attraktivität beziehen – eine Lust, die weder operational noch instrumentalistisch und vermutlich auch nicht rational, sondern narzißtisch ist. Denn die intellektuelle Durchdringung der Materie, die technische Zeichnungen und Schaubilder leisten, wirft ja stets ein überaus freundliches Licht auf den Geist zurück, der zu dieser Durchdringung im Stande ist.

26 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 80. 27 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 88ff. 28 | Ferguson: Das innere Auge, S. 95. 29 | Vgl. Ferguson: Das innere Auge, S. 120ff.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK

III. Das ›Medium‹ des geistigen Auges: Propositionale Vorstellungsbilder Ferguson beschreibt die Aufgabe und Leistung des ›inneren Auges‹, er analysiert aber nicht die Eigenart der Vorstellungsbilder, die in das Bewusstseinsfeld des Menschen treten. Mit ihr hat sich Colin McGinn in seinem Buch Mindsight beschäftigt. Er geht von der Beobachtung aus, dass Vorstellungsbilder Wahrnehmungen zugleich ähnlich und unähnlich sind. Sie besitzen ähnlich wie visuelle Wahrnehmungen eine gewisse Anschaulichkeit, werden aber nicht mit den leiblichen Augen gesehen. Dennoch ist auch die Visualisierung, die das Vorstellungsvermögen leistet, eine Art von Sehen. Sein ›Organ‹ ist, in McGinns Terminologie, das ›geistige Auge‹.30 Als wesentlichen Unterschied zwischen dem geistigen Auge und dem leiblichen Auge hält McGinn fest: »Das Sehen erfordert die Präsenz eines Objekts, das Visualisieren dagegen nicht.«31 Schon aus diesem Grund kann die von David Hume vertretene Ansicht, dass sich Vorstellungen nur quantitativ von Wahrnehmungen unterscheiden, weil ihnen das Moment der ›Lebhaftigkeit‹ fehle, nicht richtig sein.32 Tatsächlich gibt es zwischen Vorstellungen und Wahrnehmungen eine qualitative Differenz. Sie besteht darin, »dass Vorstellungen gewollt werden können, aber Wahrnehmungen nicht. Ich kann mir eine Vorstellung vom Eiffelturm machen wollen und meine Absicht sofort umsetzen, doch ich kann nicht einfach beschließen, den Eiffelturm zu sehen. Diese Asymmetrie bezieht sich sowohl auf schwache wie auf lebhafte Wahrnehmungen.«33 Umgekehrt hat es Ludwig Wittgenstein ausgedrückt, auf den sich McGinn an dieser Stelle seiner Argumentation beruft: »Wir ›verscheuchen‹ nicht Gesichtseindrücke, aber Vorstellungen. Und wir sagen von jenen auch nicht, wir könnten sie nicht verscheuchen.«34 Konsequenterweise muss man sich das Vorstellen als eine mentale Handlung denken und mit Wittgenstein hinzufügen: »Vorstellungen belehren uns nicht über die Außenwelt, weder richtig noch falsch.«35 Das gilt auch für die Vorstellungen, die man sich von einem Territorium aufgrund einer Landkarte macht – sofern diese Vorstellungen nicht von Erinnerungsbildern an die leibhafte Erfahrung dieses Territoriums durchsetzt sind. Wie McGinn zeigt, besteht der entscheidende Unterschied zwischen Wahrnehmung und Vorstellung jedoch darin, dass man ihren Objekten gegenüber verschiedene Einstellungen einnimmt. Gegenüber den Objekten der Wahrnehmung verhält man sich als Beobachter; gegenüber den Objekten der Vorstellung nicht – außer in der reflexiven Einstellung auf die eigene 30 | McGinn: Das geistige Auge, S. 11. 31 | McGinn: Das geistige Auge, S. 15. 32 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 16ff. 33 | McGinn: Das geistige Auge, S. 20. 34 | Wittgenstein: Zettel, Nr. 633. 35 | Wittgenstein: Zettel, Nr. 621.

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D IAGRAMMATIK mentale Tätigkeit.36 In diesem Fall ist dann aber die Vorstellungstätigkeit selbst das Objekt der Vorstellung. Dieser Unterschied von Wahrnehmung und Vorstellung ist für die Diagrammatik besonders relevant, denn er besagt, dass es mittels Wahrnehmungsobjekten, die beobachtet werden können, möglich ist, eine Probe auf die Sinnhaftigkeit oder Stichhaltigkeit der Objektkonfiguration zu machen, die eine Leistung der Vorstellungskraft darstellt. Vorstellungen sind immer hypothetisch oder abduktiv, Wahrnehmungen erlauben jedoch deduktive und induktive Schlüsse. Die Rolle der Medien scheint nun darin zu bestehen, dass sie zwischen Vorstellungen und Wahrnehmungen vermitteln: zum einen dadurch, dass sie Einbildungen, wie anschaulich sie auch immer sein mögen, in Anschauungen übersetzen, die man (intersubjektiv) beobachten kann; zum anderen dadurch, dass sie das Vorstellungsvermögen auf Bahnen lenken, die nicht die Einbildung, sondern die Wahrnehmung gespurt hat. Zum Beispiel kann man sich viele Möglichkeiten ausdenken, sein Arbeitszimmer einzurichten. Wenn man dann aber einen Plan zeichnet, der von Beobachtungsdaten ausgeht – der Bodenfläche, die man ausgemessen hat, dem Abstand der Fenster von den Zimmerecken, der Größe des Türrahmens und des Heizkörpers – und beginnt, die Konfiguration der Möbel, die einem vorschwebt, in diesem Anschauungsraum zu lokalisieren, stellt man durch einfache Beobachtung fest, ob sie in die Realität umsetzbar ist oder nicht; das heißt, man bedient sich des Mediums einer Zeichnung, um der Pragmatischen Maxime zu entsprechen. Umgekehrt liegt der Fall, wenn man nach einer neuen Wohnung sucht und der Makler einen Grundriss vorlegt, der einen auf die Idee bringt, neben dem Schreibtisch und dem Bücherregal auch noch ein Lesesofa in dem Raum aufzustellen, welcher als Arbeitszimmer geeignet erscheint. In diesem Fall ist die Idee der denkbaren Einrichtung durch die Wahrnehmung dessen, was der Grundriss zeigt, induziert und nicht, wie im zuvor geschilderten Fall, aus der Vorstellung abduziert. Wenn daher McGinn feststellt, dass sich die kognitive Beziehung zu Vorstellungen von der kognitiven Beziehung zu Wahrnehmungen unterscheidet,37 so ist dabei vor allem an die kognitive Differenz zu denken, die zwischen der materiellen und der mentalen Visualisierung einer Vorstellung besteht. Folglich scheint eine wesentliche Leistung der szenographischen Medien darin zu bestehen, dass sie dem Denk- und Vorstellbaren, das man sich lediglich (subjektiv) einbildet, eine intersubjektiv wahrnehmbare Gestalt verleihen. Diese Art der Veranschaulichung ist offenkundig nicht dasselbe wie jene Art der Einbildung, die sich aus der mentalen Visualisierung von Gegenständen, Sachverhalten oder Ereignisfolgen ergibt – obwohl umgekehrt die Deutung auch der Wahrnehmungen, die

36 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 27. 37 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 28.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK szenographische Medien vermitteln, wiederum auf die Vorstellungen angewiesen ist, die Peirce Interpretanten genannt hatte. Man muss sich daher auch das Verhältnis von Wahrnehmungen und Vorstellungen, das Medien stiften, als einen Regelkreis denken, der immer wieder auf Erfahrung und Handlung zurückkoppelt. Was Medien zeigen, wird im Licht der Erfahrung wahrgenommen, in der Vorstellung mit Erinnerungsbildern aufgeladen und an Erwartungen geknüpft, die nachhaltig zur Deutung beitragen, da ihr Maßstab die denkbaren praktischen Folgen sind, die sich aus der Einlösung der Erwartung ergeben würden. Dieses Angewiesen-Sein der bedeutungsvermittelnden Vorstellungen auf Anschauungen einerseits und Gedankenexperimente im Sinn der Pragmatischen Maxime andererseits lässt sich auch so erklären, dass Vorstellungen nicht wirklich etwas behaupten: »Sie verhalten sich der Realität gegenüber neutral. Wenn sie irgendeine die Realität bekräftigende Macht haben sollen, müssen wir sie als wahrhaftig ansehen.«38 Man muss also zwischen der Vorstellung und ihrem Wahrheits- oder Realitätsgehalt unterscheiden. Eine Vorstellung zu entwickeln heißt nicht, das, was dabei vorgestellt wird, als wahr zu behaupten. Gesagt ist damit nicht nur, dass der Mensch kontrafaktische Vorstellungen haben kann; vielmehr kann er – auch das reduziert den Wahrheitsgehalt – in der Vorstellung von vielen Aspekten der Realität ›absehen‹, zum Beispiel von dem Kontext, in den ein Gegenstand in der Erfahrungswirklichkeit eingebettet ist, oder von den Bedingungen der ökologischen Optik und Physiologie, die seine Wahrnehmung bestimmen. »Darum können wir uns etwas vorstellen, das nicht in einer privilegierten räumlichen Beziehung zum eigenen Körper steht.«39 Anders gesagt: Das Bewusstseinsfeld, in dem Vorstellungen auftauchen, ist anders als das Gesichtsfeld strukturiert, was man unter anderem daran ›sehen‹ kann, dass es der Einbildung ohne Schwierigkeit gelingt, Objekte aus ihrer Umgebung zu lösen und in abstrakter Form vor Augen zu führen. »Das Gesichtsfeld zwingt mich zu sehen, was in ihm vorhanden ist, doch bei einer Vorstellung kann ich auswählen, was in sie aufgenommen werden soll.«40 Eröffnet wird damit jene Möglichkeit der intellektuellen bzw. imaginären Manipulation, die in der Rekonfiguration von Gegenständen, Sachverhalten und Ereignisfolgen im Geiste besteht – eine Möglichkeit, die Komplexitätsreduktion und Modellbildung, damit aber auch eine gewisse Defiguration der Objekte einschließt. Sie werden nicht nur aus ihrem Kontext gelöst, sondern auch um ihre Materialität erleichtert und bisweilen aller sinnlichen Momente und Details entkleidet. Gleichwohl stellt auch der Operationsraum der geistigen Manipulation einen Raum dar, in dem es auf spatiale Differenzen, Relationen und Proportionen ankommt: »Visuelle Vorstellungen verfügen in der Tat über einen räumlichen Modus, aber sie betten die Räumlichkeit ihrer Objekte 38 | McGinn: Das geistige Auge, S. 30. 39 | McGinn: Das geistige Auge, S. 32. 40 | McGinn: Das geistige Auge, S. 33.

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D IAGRAMMATIK nicht in jene Art von Gesichtsfeld ein, die für visuelle Wahrnehmungen konstitutiv ist.«41 Nicht minder wichtig ist freilich die andere Seite der Medaille – der Umstand nämlich, dass sich die Relevanz der Vorstellungen an ihrer probeweisen Einbettung in das Kontinuum der Erfahrungen bemisst: anhand ihres Rückbezugs auf die Komplexität der Welt, deren Tücke, wie man weiß, immer im Detail steckt. Während also das Gesichtsfeld, wie es McGinn ausdrückt, gesättigt ist, weil sich an jedem Punkt dieses Feldes irgendeine Qualität manifestiert, ist das Bewusstseinsfeld ungesättigt: »Die Wahrnehmung vergegenwärtigt die Welt als dicht, angefüllt und zusammenhängend; aber die Vorstellung ist lückenhaft, ungenau und unzusammenhängend.«42 Dieser phänomenologische Befund ähnelt dem, der sich aus dem Vergleich von analogen und digitalen Darstellungen ergibt. Analoge Darstellungen sind, wie Nelson Goodman erläutert hat, dicht, voll und nicht-disjunkt; digitale Darstellungen dagegen weder dicht noch voll, aber disjunkt. Diese Ähnlichkeit zwischen Wahrnehmungen und analogen Darstellungen einerseits sowie Vorstellungen und digitalen Darstellungen andererseits ist, wohlgemerkt, keine Identität. Sie hat aber nicht nur phänomenologische, sondern auch semiotische Folgen, weil sie mit der Differenz von image und diagram zusammenhängt. Während zumindest das gegenständliche Gemälde in seiner konkreten Gestaltung eine Wahrnehmung erlaubt, ja fordert, die man als gesättigt qualifizieren muss, erzeugt die abstrakte Gestalt, die ein Schaubild darstellt, eine Wahrnehmung, deren Sättigungsgrad offenbar wesentlich geringer ist. Eben dadurch mobilisiert es jedoch die Vorstellungskraft. Die Pointe scheint also darin zu bestehen, dass sich die Vorstellungskraft in Analogiebildungen ergeht. Auch weil der Begriff der ›Digitalisierung‹ mittlerweile für die binäre Kodierung von Information reserviert ist, sollte man sich davor hüten, den Unterschied zwischen Wahrnehmungen und Vorstellungen auf die terminologische Differenz von ›analog‹ und ›digital‹ abzubilden. Vorstellungen sind nicht digital, wohl aber im Vergleich zu Wahrnehmungen disjunkt und zur Abstraktion befähigt. Wenn aber im Zusammenhang mit Vorstellungen von Abstraktion die Rede ist, so gehört zu den Konkreta, von denen dabei abgesehen wird, in vielen Fällen der eigene Körper. Zwar kann ich mir selbstverständlich auch von diesem Körper Vorstellungen bilden – nicht zuletzt, indem ich ihn idealisiere – doch auch für diese Vorstellungen gilt, dass sie eben keine Wahrnehmungen sind. Ein Bild (image) wahrzunehmen, involviert stets Körperhaltungen und -handlungen, durch die das Bild auf eine bestimmte Art und Weise in das Gesichtsfeld tritt, weshalb das Verhältnis zwischen dem Bild und dem Leib des Betrachters die Wahrnehmung nachhaltig beeinflusst. Diagramme scheinen demgegenüber selt41 | McGinn: Das geistige Auge, S. 34. 42 | McGinn: Das geistige Auge, S. 35.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK sam ›körperlos‹ in dem Sinne zu sein, dass ihre Wahrnehmung nicht im gleichen Ausmaß von Körperhaltungen und -handlungen abhängt. Zwar kann ich auch einen schrägen Blick auf den Grundriss eines Gebäudes werfen, der die Proportionen verzerrt, und auf einer Karte nichts mehr erkennen, wenn ich mich zu weit von ihr entferne, doch das ist nicht der springende Punkt. Ausschlaggebend ist vielmehr, was man die Plastizität des Eindrucks nennen könnte, weil diese Plastizität mit einer höchst eigenartigen Paradoxie verbunden ist: Da konkrete, gegenständliche, dichte und gesättigte Bilder vergleichsweise plastische Eindrücke hervorrufen, kommt es bei ihrer Wahrnehmung primär gerade nicht auf die Plastizität des Vorstellungsvermögens an. Bei abstrakten Schaubildern, die weder dicht noch gesättigt sind, obwohl sie sich auf Gegenstände beziehen, verhält es sich genau umgekehrt: Da sie kaum plastische Eindrücke hervorrufen, kommt es bei ihrer Wahrnehmung insbesondere auf die Plastizität des Vorstellungsvermögens und damit in vielen Fällen auf die intellektuelle Bildung von Analogien bzw. auf die Projektion der Relationen und Proportionen auf ein Bezugsfeld an, das als analog strukturiert konzipiert wird. Diagramme sind – nicht im Sinne der binären Kodierung, wohl aber im Sinne von Goodman – tendenziell digital, stoßen aber gerade dadurch Analogiebildungen an. Offenkundig wird dies bei jener Form der diagrammatischen Rekonfiguration, die durch eine Metapher vorgenommen wird: Der Bezugsgegenstand wird dabei in Analogie zur Struktur des Bildspenders aufgefasst. Daher ist viel gewonnen, wenn man sich Ikonizität als ein Spektrum von Übergängen zwischen image, diagram und metaphor denkt, in dem es auf das reziproke Verhältnis von dargestellter und vorgestellter Plastizität ankommt. Je plastischer die Darstellung, desto geringer die Notwendigkeit, mittels des Vorstellungsvermögens mehr oder weniger plastische Analogiebildungen vorzunehmen. Diese Sicht der Dinge erklärt auch, warum gegenständliche Bilder die Differenz von Objekt und Referent dissimulieren. Der irrige Eindruck, dass sie etwas unmittelbar zeigen würden – dass es also keiner vermittelnden Vorstellungen bedürfte, um zu erfassen, was sie repräsentieren – resultiert aus dem Umstand, dass ihre Plastizität die Plastizität der Welt simuliert. Darauf weisen bereits die zahlreichen Künstlerlegenden hin, bei denen naive Betrachter täuschend echt gemachte Objekte spontan mit ihren Referenten verwechseln. Dass sich jede dieser Reifikationen als ein Kurzschluss erweist, belegt, dass Referenz immer auch Inferenz involviert. Schon das einfache Urteil, dass ich dies oder das wahrnehme, ist ein (abduktiver) Schluss, der in der Regel so schnell erfolgt und so zuverlässig gelingt, dass er einem erst dann zu Bewusstsein kommt, wenn er ausnahmsweise scheitert. Aus dieser, wenn man so will, semiotischen Dekonstruktion der Idee einer unmittelbaren Wahrnehmung folgt aber keineswegs, dass Bilder in ihrer Zeichenfunktion aufgehen, oder ignoriert werden dürfte, was Gottfried Boehm als ›ikonische Differenz‹ bezeichnet hat.

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D IAGRAMMATIK Eher schon kann man den Streit zwischen den Bild- und Kunstwissenschaften, denen es um die Präsenz geht, und den Kognitions- und Medienwissenschaften, denen es um die Mediation geht, entschärfen, wenn man bedenkt, dass es wesentlich vom Plastizitätsgrad einer Darstellung abhängt, ob der Aspekt der Präsenz im Vorder- oder im Hintergrund des Umgangs mit einer Darstellung steht: Die ikonische Differenz muss auf das Spektrum der ikonischen Zeichen (image – diagram – metaphor) bezogen werden. So deutlich wie McGinn dafür eintritt, dass Vorstellungen keine Wahrnehmungen sind, weist er die Annahme zurück, dass Vorstellungen auf Gedanken oder Begriffe reduziert werden können: »Zum einen kann die Begriffstheorie dem sinnlichen Moment von Vorstellungen nicht gerecht werden. […] Der geistige Zustand, in dem ich mich befinde, wenn ich mir eine visuelle Vorstellung von meiner Mutter mache, ist grundverschieden von dem Zustand, in dem ich wäre, wenn ich nur eine Reihe deskriptiver Gedanken über sie in Betracht zöge. Letzteres könnte ich in der Tat tun, ohne überhaupt in der Lage zu sein, sie mir in einer Vorstellung zu vergegenwärtigen.«43 Zum anderen kann man sich ein Objekt nicht vorstellen, während man es anschaut. »Ich kann nicht gleichzeitig eine Wahrnehmung und eine Vorstellung haben, deren Inhalt derselbe ist.«44 Ich kann aber sehr wohl eine Wahrnehmung haben und mir gleichzeitig einen Begriff von ihrem Inhalt bilden. Kurzum: »Man kann eindeutig über ein Objekt nachdenken, während man es sieht, aber man kann sich dabei von ihm keine Vorstellung bilden.«45 Wenn Vorstellungen weder auf Wahrnehmungen noch auf Begriffe reduziert werden können und folglich geistige Gebilde sui generis sind, muss man auch konzedieren, dass es für die Visualisierung, die sie leisten, ein Organ, also ein ›geistiges Auge‹ geben muss, auch wenn man dieses Auge nicht anatomisch beschreiben und im Gehirn lokalisieren kann. McGinn kommt in diesem Zusammenhang auf das Prinzip, wenn auch nicht auf den Begriff der Transduktion zu sprechen, da er die leiblichen Augen als Umwandler von Informationen beschreibt: »Sie wandeln Lichtenergie in Nervenimpulse um. Sie sind offenbar nicht selbst die Grundlage visuellen Erlebens. Diese Ehre kommt dem visuellen Kortex zu; er ist das Organ, das visuelles Erleben ermöglicht.«46 Von daher ist es kein Wunder, dass die gleichen Gehirnareale, die mit der visuellen ›Wahrnehmung‹ beschäftigt sind, auch bei der Bildung ›visueller‹ Vorstellungen aktiv sind.47 Wenn der Ausdruck ›geistiges Auge‹ auch nur eine Metapher darstellt, so muss man umgekehrt einräumen, dass die Welt im buchstäblichen Sinn des Wortes auch nicht von den Augen ›gesehen‹ wird, die 43 | McGinn: Das geistige Auge, S. 47. 44 | McGinn: Das geistige Auge, S. 48. 45 | McGinn: Das geistige Auge, S. 49. 46 | McGinn: Das geistige Auge, S. 54. 47 | Vgl. Linke: Kunst und Gehirn, S. 22, S. 60.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK links und rechts der Nase liegen. Kurzum: »[…] es gibt einen Begriff des Visuellen, für den sowohl visuelle Wahrnehmungen wie visuelle Vorstellungen Belege und Beispiele sind. Die Gattung Sehen hat zwei Arten, von denen keine der anderen übergeordnet ist.«48 Entsprechend sinnlos ist es, die Weise der Welterzeugung, die in der Imagination beginnt, der Weise unterzuordnen, die in der Perzeption beginnt. Insofern sowohl die Objekte der Vorstellung als auch die Objekte der Wahrnehmung Inferenzprodukte sind, liegt der ungemeine Vorteil des kognitiven Apparates respektive der neuronalen Plastizität gerade darin, dass sie die Bildung hybrider Gestalten erlauben. Dem anschaulichen Denken korrespondiert, was McGinn »das vorstellungsdurchsetzte Sehen« nennt.49 Erneut beruft er sich dabei auf Wittgenstein, der von der Aspekthaftigkeit des Sehens gesprochen hatte, weil man einen Gegenstand zuweilen als x und als y auffassen kann. So heißt es in den Philosophischen Untersuchungen: »Der Begriff des Aspekts ist dem Begriff der Vorstellung verwandt. Oder: der Begriff ›ich sehe es jetzt als…‹ ist verwandt mit ›ich stelle mir jetzt das vor‹.«50 Ein vorstellungsdurchsetztes Sehen ist somit ein Wahrnehmen von Aspekten, eine Beleuchtung des Gegenstandes unter Gesichtspunkten, die nicht der Perzeption, sondern der Imagination entsprungen sind. Ein Beispiel wäre die Wolkenformation, in der man die Gestalt eines Schafes sieht; ein anderes Beispiel wäre die Frauengestalt mit Augenbinde und Waage, in der man eine Allegorie der Gerechtigkeit sieht. In beiden Beispielen basiert das vorstellungsdurchsetzte Sehen auf einer Wahrnehmung, ohne sich in dem zu erschöpfen, was dem Betrachter leibhaftig vor Augen steht.51 Im ersten Beispiel scheinen Erinnerungsbilder, im zweiten Beispiel Wissensmomente zu interferieren. Von der Bedeutung der Allegorie, dem Begriff der Gerechtigkeit, kann man gewiss nicht sagen, dass er im Gesichtsfeld liegt – und auch das Schaf, das man in der Wolke sieht, gehört offenkundig eher in den Bereich der Einbildung als in den Bereich der Wahrnehmung. Umso mehr Sinn macht die Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren und dem dynamischen Objekt, das heißt zwischen der Vorstellung, die aus der Wahrnehmung einer Wolke resultiert, und der Vorstellung, die aus ihrem Vergleich mit der Gestalt eines Schafes besteht. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft das Verhältnis der Vorstellungsbilder zum Ortssinn, der etwas anderes als der äußere Sinn für die Anschauungsform des Raumes darstellt. McGinn stellt klar: »Anders als die Perzeption ist das Vorstellungsvermögen nicht lokalisierend.«52 Dadurch gewinnt die Imagination gegenüber der Wahrnehmung einen 48 | McGinn: Das geistige Auge, S. 55. 49 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 59. 50 | Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, S. 551. 51 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 59ff. 52 | McGinn: Das geistige Auge, S. 69.

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D IAGRAMMATIK Spielraum, der die Konfiguration oder Rekonfiguration erleichtert. Eine wichtige Implikation dieser Unterscheidung zwischen dem Raum der Imagination und dem Raum der Perzeption besteht darin, dass Vorstellungen keine Bilder sind, da sie – etwa im Unterschied zu Gemälden – kein materielles Medium brauchen. Da es die materiellen Eigenschaften des Mediums sind, die einem Bild bestimmte nicht-intentionale Merkmale verleihen, folgt aus dieser Differenz zudem, dass die Vorstellung verschwindet, wenn man die Intentionalität entfernt. Von Bildern oder Perzeptionen kann man das nicht ohne Weiteres sagen. Zumindest diejenigen ihrer Merkmale, die nicht-intentional sind, bleiben bestehen. Zu den Implikaturen dieser Differenzierung von Bild und Vorstellung gehört außerdem, dass man den Akt des Vorstellens leicht mit dem Objekt des Vorstellens verwechselt. Da dieses Objekt nur vor das geistige Auge tritt, indem man es imaginiert, scheint es anders als bei der Perzeption nicht nötig zu sein, eine entsprechende Unterscheidung zu treffen. Die Argumentation von McGinn liegt auf derselben Linie wie die Argumentation von Goodman. Beide lehnen die Idee ab, »dass sich etwas vorzustellen dem Anschauen eines Bildes ähnelt. (Und Gleiches gilt für das Wahrnehmen). Es gibt keine gesonderten Objekte vorstellungsbezogener Intentionalität, die getrennt wären von den üblichen Objekten, die wir wahrnehmen und über die wir nachdenken. ›Die Welt der Einbildungskraft‹ ist genau die Welt, die wir regulär bewohnen (mit ihren nicht-existenten Einhörnern und allem Übrigen). Wir lenken unseren Geist mit der Einbildungskraft nicht auf einen anderen ontologischen Bereich – jene angeblich vorhandenen inneren Bilder. Kurz, wenn ich mir eine Vorstellung vom Eiffelturm mache, dann ist der Eiffelturm mein einziges intentionales Objekt – und nicht dessen angenommene innere Nachbildung, die im Souvenirladen meiner Einbildungskraft herumsteht.« 53

Ist man das Phantom der inneren Bilder erst einmal los, kann man ohne Bedauern einräumen, dass es neben Vorstellungen, die sich ähnlich wie Perzeptionen auf sinnliche Elemente beziehen, Vorstellungen gibt, die sich auf begriffliche Elemente beziehen.54 Folglich muss es so etwas wie eine kognitive Einbildungskraft geben, die nicht auf Anschaulichkeit angewiesen ist, aber gleichwohl der Vergegenwärtigung dienen kann. Dieses Vorstellungsvermögen lässt sich mittels der Sprache so ausdrücken, dass man sich nicht etwas vorstellt, sondern sich vorstellt, dass … : »Sich-vorzustellen-dass heißt einfach nur, etwas in Erwägung zu ziehen, es sich geistig vor Augen zu führen«55 – als Denkmöglichkeit. Zum Beispiel kann man sich vorstellen, dass es nicht nur auf der Erde Leben gibt, ohne sich ein Bild davon machen zu müssen, wie extraterrestrische Lebewesen aussehen. Das Vorstellungsvermögen muss nicht un53 | McGinn: Das geistige Auge, S. 84. 54 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 145f. 55 | McGinn: Das geistige Auge, S. 149.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK bedingt szenographisch sein, es kann auch propositional verfahren (was nicht ausschließt, dass propositionale Vorstellungen ›ausgemalt‹ werden). Die Fähigkeit, eine gewisse Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, heißt so viel wie sich vorzustellen, dass eine Hypothese zutrifft. In diesem Sinne ist jede Abduktion angewiesen auf Imagination, in diesem Sinne ist jedes Gedankenexperiment ein Produkt des Vorstellungsvermögens. Sehr deutlich wird dies bei kontrafaktischen Vorstellungen, die mit faktischen Wahrnehmungen einhergehen. Ich sehe, dass sich die Zeiger auf meiner Armbanduhr bewegen, überlege mir jedoch, wie es wäre, in eine Zeitschleife zu geraten und zur ewigen Wiederholung der letzten halben Stunde verdammt zu sein. Die kontrafaktische Vorstellung greift zwar auf Erinnerungsbilder zurück, wenn ich mir den Verlauf dieser halben Stunde vergegenwärtige und ausmale, wie panisch ich reagieren würde, wenn mich dieses Schicksal tatsächlich ereilen würde, die Idee der Zeitschleife ist aber sicher keine Abbildung von Erfahrungen. Und obwohl es ein schaurig-schönes Erlebnis sein kann, sich die Folgen dieser Katastrophe auszumalen, ist der szenographische Akt des Ausmalens doch deutlich verschieden von dem Akt des propositionalen Sich-vorstellen-dass ein Mensch in eine Zeitschleife geraten könnte. Wenn aber das Erwägen einer Möglichkeit nicht dasselbe ist wie das Ausmalen dieser Möglichkeit, dann kann man nicht nur heuristische Fiktionen und Gedankenexperimente, sondern eben auch Filme wie Harold Ramis … und täglich grüßt das Murmeltier (Groundhog Day, USA 1993) oder andere Kunstwerke trotz ihrer fiktiven oder kontrafaktischen Handlung auf ihren propositionalen Gehalt hin befragen. Zum Beispiel in Bezug auf das Menschenbild, das sich daran abzeichnet, wie der Held auf die Erkenntnis, in eine Zeitschleife geraten zu sein, reagiert. Dem Film zu folgen, heißt darüber nachzudenken, wie wichtig es für den Menschen ist, nicht auf der Stelle treten zu müssen, wie eng seine Existenz mit der Irreversibilität der Zeit verknüpft ist und wie fragwürdig das vermeintliche Glück wäre, nicht zu altern. In diesem Sinne ist das Denken des Nicht-Wirklichen respektive das Sich-Vorstellen des Kontrafaktischen nicht nur eine Übung der kognitiven Einbildungskraft, sondern ein Beitrag zur Bildung von Überzeugungen – etwa der Überzeugung, dass es trotz aller offenkundigen Nachteile letztlich ein Vorteil ist, in der Zeit zu leben und nicht aus ihr heraustreten zu können.56 Diese Bildung von Überzeugungen ist offenbar ein Akt der theorematischen Deduktion: »Es ist weithin bekannt, dass eine Abduktion bei der Erzeugung der zu prüfenden Hypothesen Einbildungskraft erfordert. Doch ich meine, dass bei einigem Nachdenken ebenfalls offenkundig ist, dass dies auch für Deduktionen gilt. Wir könnten sogar sagen, die Deduktion erfordere eine Behandlung von Prämissen

56 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 158f.

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D IAGRAMMATIK als Hypothesen – und auf diese hypothetische Einstellung ist die Einbildungskraft spezialisiert. 57

Unter den Konsequenzen, die McGinn aus seiner Kritik des Vorstellungsvermögens zieht, verdient diese eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie das zentrale Medium der Kognition, Kommunikation und Konstruktion – die Sprache – und damit auch alle Sprachkunstwerke betrifft. »Sätze vergegenwärtigen Möglichkeiten. Dass sie dies tun, macht ihre Bedeutung aus. Bedeutung und Modalität hängen wesentlich zusammen. Einen Satz verstehen, heißt, die Möglichkeit zu erkennen, die er vergegenwärtigt. Die Möglichkeit, die ein Satz vergegenwärtigt, ist seine Wahrheitsbedingung – sie zeigt, unter welchen Bedingungen der Satz wahr wäre. […] Wir erfassen diese Wahrheitsbedingung, indem wir die Bedeutung der Begriffe in dem Satz erkennen und sehen, wie sie syntaktisch zusammengestellt sind. Damit haben wir eine schon im Satzbau begründete Erfassung der in dem Satz vergegenwärtigten Möglichkeiten. Was diese Möglichkeit ist, arbeiten wir heraus anhand der im Satz vorkommenden Worte und der Art ihrer Zusammenstellung.« 58

Wenn die Möglichkeit, die ein Satz vergegenwärtigt, und ihre Wahrheitsbedingung von der syntaktischen Anordnung und Zusammenstellung der Worte, also von der Konfiguration der Sprachzeichen abhängt, dann vertritt McGinn offenbar eine diagrammatische Konzeption, die mit Jurij Lotmans Auffassung, dass Sprachen primäre modellbildende Systeme und Sprachkunstwerke sekundäre modellbildende Systeme sind, kompatibel ist. McGinn selbst verweist zwar weder auf Peirce noch auf Lotman, er stützt seine Sicht der Dinge aber mit zwei Bemerkungen aus Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus: »Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken.« (4.01) und: »Einen Satz verstehen, heißt, wissen, was der Fall ist, wenn er wahr ist.« (4.024)59 Die Schlussfolgerung lautet natürlich: »Um die Bedeutung eines Satzes zu erfassen, muss ich mich meiner Einbildungskraft bedienen«60 – und zwar vor allem der kognitiven Einbildungskraft. Als weiteren Beleg dafür, dass McGinn eine diagrammatische Konzeption vertritt, kann das dritte Wittgenstein-Zitat dienen, das er als Beleg für seine Auffassung anführt: »Einen Satz verstehen, heißt, eine Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, und nicht, sich eine Vorstellung von etwas zu bilden.«61 Dieses Zitat lautet: »Im Satz wird gleichsam eine Sachlage aus-

57 | McGinn: Das geistige Auge, S. 160f. 58 | McGinn: Das geistige Auge, S. 163. 59 | Vgl. McGinn: Das geistige Auge, S. 163; vgl. Wittgenstein: Tractatus logicophilosophicus, S. 28. 60 | McGinn: Das geistige Auge, S. 164. 61 | McGinn: Das geistige Auge, S. 166.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK probiert.« (4.031)62 McGinn kommentiert: »Der Satz kann also mit einer Hypothese verglichen werden: Er vergegenwärtigt eine Möglichkeit, indem er entwirft, wie die Welt sein könnte. Wir verstehen eine Hypothese, indem wir uns vorstellen, was sie als wahr behauptet; wir verstehen einen Satz, indem wir uns seine Wahrheitsbedingungen vorstellen.«63 Analog gilt für Diagramme, die nicht sprachlich oder ausschließlich sprachlich konfiguriert sind, dass auch sie verstanden werden, indem man eine Möglichkeit in Erwägung zieht, wozu es keineswegs (immer) notwendig ist, sich irgendetwas bildlich vorzustellen. Ein Balkendiagramm zu sehen, in dem Parteikürzeln Stimmenanteile zugeordnet sind, wird zum Beispiel verstanden, indem man die Möglichkeiten einer Mehrheitsbildung im Parlament erwägt – was offensichtlich ein viel abstrakteres Sich-Vorstellen-dass ist als die Bildung der Vorstellung, wie eine Abstimmung konkret vonstatten geht, indem die Abgeordneten nach und nach zur Wahlurne schreiten.

4.1 S USANNE K. L ANGER , E DMUND H USSERL UND H ANS B LUMENBERG Dass sich Philosophen wie McGinn mit dem propositionalen Gehalt von Vorstellungen beschäftigen, wird man für selbstverständlich halten. Keineswegs selbstverständlich ist dagegen, dass Philosophen wie Nelson Goodman dem diskursiven Denken und der Wissenschaft die Künste gleichberechtigt zur Seite stellen. Zu denen, die diese Sicht der Dinge ermöglicht und vorbereitet haben, gehört Susanne K. Langer. Bekannt geworden ist sie als Vermittlerin zwischen den spekulativeren Varianten der vom logischen Positivismus geprägten angloamerikanischen Philosophie (Alfred N. Whitehead) und der kontinentaleuropäischen Variante von Kulturphilosophie (Ernst Cassirer). Weniger bekannt ist, dass Langer auch eine sehr gute Kennerin der Schriften von Charles S. Peirce war und sich intensiv mit der Phänomenologie Edmund Husserls auseinandergesetzt hat.64 Langer ist für die Diagrammatik vor allem deswegen von Bedeutung, weil ihre Unterscheidung zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen der bildwissenschaftlich akzentuierten Rezeption der Diagrammatik viele Hinweise zu geben vermag. Dies wird deutlicher, wenn man Edmund Husserl hinzuzieht und so die spannungsgeladene Grenze zwischen Semiotik und Phänomenologie berührt. Für die kultur- und medienwissenschaftlichen Ansätze zur Diagrammatik ist vor allem die Bildtheorie Husserls wichtig geworden.65 62 | Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, S. 29. 63 | McGinn: Das geistige Auge, S. 168. 64 | Vgl. Lachmann: Susanne K. Langer, S. 22f. 65 | Die grundsätzliche Bedeutung von Husserl für die Diagrammatik diskutiert Stjernfelt: Diagrammatology.

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D IAGRAMMATIK Weite Teile der jüngeren Bildwissenschaften sehen sich einer phänomenologischen Tradition verpflichtet, was nicht selten zu einer Frontstellung gegenüber einer angeblich zu textzentrierten Semiotik führt. Einen knappen Einblick in diese Diskussion bietet daher die jüngst durch den Bildtheoretiker und Philosophen Lambert Wiesing ins Gespräch gebrachte Kategorie einer ›reinen Sichtbarkeit‹ des Bildes, die sich indirekt mit Susanne Langers Kategorie der Präsentation berührt. Weniger mit dem Bild als vielmehr mit der Phänomenologie hat sich auch Hans Blumenberg intensiv auseinandergesetzt – ein Denker, der in seiner Philosophie einen für die Kultur- und Medienwissenschaften zentralen Bezugspunkt der Diagrammatik thematisiert: die Metapher. Blumenbergs Metaphorologie kreist um das mit enormer historischer Breite entwickelte Konzept der »absoluten Metapher«. Absolute Metaphern wie etwa die Metapher des Lichts für Erkenntnisprozesse sind metaphorische Konzepte, die epistemologische Großfragen in die Register der praktischen Lebenswelt zurückübersetzen. Aufschlussreich ist vor allem, dass Blumenberg die Epistemologie der absoluten Metapher als eine schematische entwirft – und das macht sie für die Diagrammatik interessant. Genau diese Frage ist es denn auch, die sich bei allen drei dieser Autorinnen und Autoren stellt: Inwiefern lässt sich in ihren Schriften am Beispiel der Diskussion einer Schematisierungsleistung vor dem inneren, geistigen Auge eine gemeinsame Referenz auf die Diagrammatik erkennen? Und inwiefern transzendiert diese Referenz nicht sogar die Differenz zwischen Semiotik und Phänomenologie? Diese Fragen werden hier nicht letztgültig beantwortet, aber die Differenzen sind vielleicht doch nicht so tief greifend, wie häufig angenommen wird.

I.

Susanne K. Langer und das Diagramm

Susanne K. Langers Philosophie schlägt einen weiten Bogen von Semiotik, Logik, Kulturphilosophie und Pragmatismus zur Phänomenologie.66 In ihrem Denken entwickelt Langer die Position eines naturalistisch begründeten »symboltheoretischen Konstruktivismus«.67 Zu den Kernelementen dieser Philosophie gehört die für die Einschätzung und Exposition der Diagrammatik wichtige Unterscheidung zwischen einer »diskursiven« und einer »präsentischen« Symbolisierung, die Langer in ihrem Buch Philosophie auf neuen Wegen entwickelt hat.68 Mit dieser Unterscheidung, die einen unmittelbaren Einfluss auf die Symboltheorie Nelson Goodmans ausübt, setzt Langer sich vom philo66 | Vgl. die Gesamtdarstellungen von Innis: Susanne Langer und Lachmann: Susanne K. Langer. 67 | Vgl. Lachmann: Susanne K. Langer, S. 50. 68 | Diese Unterscheidung ist der Bestandteil der Philosophie Langers, der bis heute am intensivsten rezipiert wird. Vgl. zum Beispiel Nöth: Handbuch der Semiotik, S. 476.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK sophischen Mainstream ihrer Zeit ab. Im Gegensatz zu den dominanten philosophischen Strömungen in den USA vor und nach dem Zweiten Weltkrieg (wie zum Beispiel dem logischen Empirismus) vertritt sie die These, dass nicht-sprachliche Formen in der Kultur weitaus wichtiger sind, als man es im Kontext des ›linguistic turn‹ wahrnehmen wollte.69 Die Versuche, durch die Formalisierung von Sprache eine Bedeutungstheorie zu entwickeln, müssen nach Langer durch die Analyse der Logik visueller Bedeutungssysteme ergänzt werden. Zu einer Bedeutungstheorie gehören nach Langer auch Bereiche der Wahrnehmung, die sich der Sprache entziehen. Denn auch diese nicht-sprachlichen Bedeutungen können logisch geordnet sein und wahrheitsfähige Schlussfolgerungen ermöglichen:70 »the limits of language […] are not the limits of symbolic projectability.«71 Das Ziel von Langers Philosophie ist der Versuch, die »symbolische Transformation« von Erfahrung zu denken und naturalistisch zu begründen. Eine der wichtigsten Fragestellungen, die Langer dabei verfolgt, ist in diesem Zusammenhang die nach der menschlichen Fähigkeit des Erkennens struktureller Ähnlichkeiten. Langer nennt diese Fähigkeit »logical intuition«.72 Diese logische Intuition liegt nach Langers Ansicht der menschlichen Fähigkeit des Symbolisierens, also der Etablierung einer Repräsentationsbeziehung zwischen einem Symbol und einem Objekt, zugrunde. Das Besondere der logischen Intuition ist es, diese Relation dahingehend zu interpretieren, dass überhaupt erst eine Analogie zwischen Symbol und Objekt hergestellt wird. Die Analogie versteht Langer aber nicht als ein Ähnlichkeitsverhältnis im Sinne einer Motivation des Symbols durch das Objekt. Um eine ›Analogie‹ handelt es sich für Langer vielmehr in dem Sinn, dass die Beziehung zwischen beiden Strukturen im Geist als Repräsentationsverhältnis hergestellt wird, das keinerlei wahrnehmbare Ähnlichkeit zwischen den Korrelaten beinhalten muss.73 Langer schließt daraus, dass Symbole kein Abhängigkeitsverhältnis zu einer vorgelagerten Realität unterhalten. Mithilfe seiner Fähigkeit zum Symbolisieren konstruiert der Mensch die Realität durch die Symbole, die er auf die Objekte bezieht, stets mit.74 Dabei grenzt Langer das Symbol sehr scharf vom »sign« ab, was etwas missverständlich ist, weil sie unter »Zeichen« nicht die Kategorie des 69 | Vgl. Lachmann: Susanne K. Langer, S. 45ff. 70 | Vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 50: »Symbolisierung ist vorbegrifflich, aber nicht vorrational. Sie ist der Ausgangspunkt allen Verstehens im spezifisch menschlichen Sinne und umfaßt mehr als Gedanken, Einfälle und Handlungen. Denn das Gehirn ist nicht bloß eine große Vermittlungsstation, eine Superschalttafel, sondern eher ein großer Transformator.« 71 | Innis: Susanne Langer, S. 43. 72 | Langer: Introduction to Symbolic Logic, S. 33. 73 | Vgl. ebd., S. 29, vgl. zudem Lachmann: Susanne K. Langer, S. 40f. 74 | Vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 61ff.

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D IAGRAMMATIK Zeichens als solche versteht, zu der auch das Symbol zählt, sondern die Klasse der »Anzeichen« bzw. »signals«, also der Peirce’schen »indices«. Während die Anzeichen auf einer Kausalbeziehung beruhen (zum Beispiel Rauch als Anzeichen für Feuer), basieren die Symbole auf einem nicht-natürlichen artifiziellen Akt des Herstellens von konventionalisierten Ähnlichkeiten. Eine von der kulturellen Praxis des Symbolisierens unabhängige Realität ist nicht zugänglich. Jede Realität verhält sich relativ zu den perspektivischen Vorgaben eines Symbolsystems. Diese Argumentationsfigur einer Konstruktion des Objektes durch das Symbol bildet den Kern von Langers »symbolischem Konstruktivismus«.75 Durch die Fähigkeit zur logischen Intuition werden Ähnlichkeiten zwischen Symbolen und Objekten im Prozess des Herstellens einer Beziehung zwischen beiden Entitäten zueinander erzeugt.76 Geist und Symbol wirken in einem generativen »Formulierungsprozeß« zusammen. Der menschliche Geist ist nach Langer deshalb immer schon als ein ›Bewusstsein-in-Symbolen‹ zu betrachten, da die Symbole erst durch den Geist ausgeformt werden.77 Als »Instrument(e) des Denkens«78 sind die Symbole nichts dem Bewusstsein Äußerliches, sondern erst im praktischen Umgang mit Symbolen entsteht Bewusstsein. Umgekehrt erhalten die Symbole durch das Bewusstsein eine Bedeutung. Bewusstsein und Symbol interagieren miteinander. Dieser Interaktionszusammenhang ist das Fundament der Kultur. Für die Diagrammatik ist an Langers Ansatz erhellend, dass sie die logische Intuition als eine in den praktischen Umgang mit Symbolen verstrickte Fähigkeit des Bewusstseins zum Erkennen struktureller Analogien zwischen Symbol und Objekt beschreibt. Für Langer ist dieser »unbewusste ›Sinn für Formen‹ […] die primitive Wurzel aller Abstraktion, die ihrerseits der Schlüssel zur Rationalität ist […]«.79 Der Prozess der Erzeugung eines Elements, welches das Herstellen einer Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Symbol und Objekt ermöglicht, zählt für Langer daher zu den grundlegenden kreativen Operationen aller Symbolgebung. Um et-

75 | Vgl. zum Beispiel Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 96ff. 76 | Hier erkennt man unschwer Ähnlichkeiten zu Peirce’ Semiotik, sollte sich aber auch der Unterschiede bewusst bleiben. Zu den wesentlichen Unterschieden gehört zum Beispiel, dass Langer die Instanz eines »Interpretanten«, den Peirce als Teil der Zeichenrelation fasst, durch die Instanz des Menschen selbst besetzt. Vgl. Lachmann: Susanne K. Langer, S. 41f. 77 | Vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 49: »Tatsächlich ist Symbolisierung nicht der wesentliche Denkakt, sondern ein dem Denken wesentlicher Akt und geht diesem voraus. Symbolisierung ist die wesentliche Tätigkeit des Geistes; und Geist beinhaltet mehr, als was gemeinhin Denken heißt.« 78 | Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 71. 79 | Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 96.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK was zu symbolisieren bringt die logische Intuition ein »logisches Bild«80 hervor, das als Vergleichsmittel zur Etablierung und Interpretation der Relation zwischen Symbol und Objekt erscheint. Beispiele, anhand derer die Operationsweise dieses »logischen Bildes« nachvollzogen werden kann, liefern bei Langer besonders Metaphern und Diagramme.81 Zwischen den Prozessen des »Abstrahierens von Formen« und des »Erfassens von Formentsprechungen« kann die intuitive Verwendung der logischen Bilder durch das Bewusstsein als Grundtätigkeit des menschlichen Geistes überhaupt angesehen werden.82 Vor allem in den Diskursen der Kunst, aber auch in heuristischen Praxen der Wissenschaft, zu denen für Langer auch die Philosophie zu zählen ist, wird diese ansonsten in unserer alltäglichen Bezugnahme auf Gegenstände unbewusst wirksame Qualität der logischen Intuition für die wissenschaftliche Reflexion zugänglich. Langer sieht in Kunst und Wissenschaft das auf dem logischen Bild beruhende Potenzial am Werk, nicht nur unbekannte Objekte und Erfahrungen unter schon vorhandene Symbole zu subsumieren. Durch die Praxis des Symbolisierens werden die bereits zur Verfügung stehenden Symbole selbst transformiert. Diese Transformation des vorhandenen Symbolbestandes dient dem Zweck, Einsichten in neue Zusammenhänge zu gewinnen, »die unabhängig davon noch gar nicht in ihrer strukturellen Identität erfahren werden«.83 Ästhetische und wissenschaftliche Diskurse repräsentieren also in besonderem Maße die Eigenart des Symbolisierens, keine Praxis der Abbildung eines Objektes, sondern eine Praxis der Herstellung des Objektes zu sein. Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund entwickelt Langer die berühmte Unterscheidung zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen. Langer geht es darum, mit den Adjektiven ›diskursiv‹ und ›präsentativ‹ zwei generelle Eigenschaften von Symbolsystemen auszuzeichnen, die in paradigmatischer Weise auf die Medien Sprache und Bild bezogen werden können – nämlich die Attribute ›sequenziell-analytisch‹ (diskursiv/Sprache) und ›simultan-integrativ‹ (präsentativ/Bild).84 Sprache und Bild sind Manifestationen diskursiver und präsentativer Symbolsysteme. Damit ist für Langer nicht ausgeschlossen, dass ein diskursives 80 | Vgl. Langer: Introduction to Symbolic Logic, S. 29ff., Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 85. 81 | Vgl. Lachmann: Susanne K. Langer, S. 41, S. 56. 82 | Zu den anthropologischen, kulturphilosophischen, aber auch die Philosophie des Geistes betreffenden Implikationen des Ansatzes von Langer vgl. Innis: Susanne Langer, Lachmann: Susanne K. Langer. 83 | Lachmann: Susanne K. Langer, S. 50. 84 | Der Begriff der »Symbolsysteme« ist hier etwas missverständlich, weil Langer zumindest bei den »präsentativen Symbolen« davon ausgeht, dass diese sich (teilweise) einer Regelhaftigkeit, die mit der Regelhaftigkeit der Sprache zu vergleichen wäre, entziehen.

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D IAGRAMMATIK Symbolsystem nicht auch präsentische Eigenschaften aufweisen kann, wie umgekehrt die präsentischen Symbolsysteme diskursive Eigenschaften besitzen können.85 Langer geht es aber vorrangig um die Differenzierung verschiedener Rezeptions- und Verarbeitungsweisen von Symbolen. Den Gewinn ihrer Unterscheidung sieht sie daher nicht in der gattungstheoretischen Zergliederung der zeichentheoretischen Eigenschaften von Symbolsystemen.86 Diskursive und präsentative Symbole unterscheiden sich zum Beispiel im Kriterium der Zeitlichkeit ihrer Rezeption. Während die Grundbedeutung eines diskursiven Symbols über einen längeren Zeitraum rezipiert wird, erschließen sich die präsentativen Symbole »unmittelbar«87. Die präsentativen Symbole können auch im Rahmen investigativer, analytischer und logischer Zusammenhänge genutzt werden. Langer will jedoch vor allem herausarbeiten, dass die beiden Symbolformen zwei verschiedene Formen von Evidenz erzeugen, die in ein Austauschverhältnis zueinander treten können. Mit den beiden Symbolformen werden von Langer deshalb unterschiedliche Wissensformen assoziiert: Die diskursiven Symbole gehören in den Bereich des expliziten Wissens, die präsentativen Symbole in den Bereich des impliziten Wissens. Langer führt an dieser Stelle eine interessante Unterkategorisierung ein: Naheliegenderweise behauptet sie, dass es präsentative Symbole gibt (hierzu gehören zum Beispiel gegenständliche Bilder, Photographien etc.), welche sich der Explikation durch diskursive Symbole entziehen.88 Weniger nahe liegend ist hingegen ihre Idee, dass es präsentative Symbole gibt, die auf explizitem Wissen beruhen, die also explizites Wissen umgekehrt wieder in ein implizites überführen. Philosophiegeschichtlich ist diese These allein schon deshalb interessant, weil das Verhältnis von implizitem zu explizitem Wissen häufig im Sinne eines Abhängigkeitsverhältnisses des impliziten vom expliziten Wissen aufgefasst wird. Implizites Wissen ist demnach von der Explikation entweder vollständig (schwacher Begriff von implizitem Wissen) oder nicht vollständig (starker Begriff von implizitem Wissen) in explizites Wissen übersetzbar. Die Frage, die sich bei Langer abzeichnet, ist aber: Was wäre unter symboltheoretischen Gesichtspunkten eine Gegenbewegung zur Explikation? Diese Rückübersetzung von diskursiv repräsentiertem Wissen in prä85 | Vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 141f. 86 | Langer bemerkt am Beispiel der ausufernden Klassifikationsbemühungen von Peirce verschiedentlich, wie problematisch ein solches Unternehmen sein kann. Vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 62. 87 | Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 68. 88 | Dies würde bedeuten, dass es auch diskursive Symbole gibt, die sich nicht in präsentative übersetzen lassen – einen Unterschied, den Langer am Beispiel der Nicht-Negierbarkeit von Bildern im Unterschied zur Sprache diskutiert. Vgl. auch Lachmann: Susanne K. Langer, S. 60ff.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK sentisch repräsentiertes Wissen gehört für Langer zur Eigenart der Diagramme. Diagramme erfüllen als Symbole den Zweck, bestehendes Wissen neu zu konfigurieren, um es auf neue und bisher unbekannte Situationen beziehen zu können. Das Diagramm ist deshalb Teil einer Erkenntnispraxis, die Langer in ihren frühen Schriften auch als »non-discursive reasoning« bezeichnet hat.89 Gattungstheoretisch betrachtet sind Diagramme also keine ›hybriden‹ Mischformen aus diskursivem und präsentativem Modus. Diagramme sind solche Symbole, die diskursiv symbolisiertes Wissen präsentativ repräsentieren und dementsprechend verarbeiten und transformieren können.90 Langer begreift symbolische Formen mit Cassirer generell als »Medien des Verstehens«.91 Diesen symbolischen Formen eignet eine »Projektion« auf die Welt, welche die Perspektive der Nutzer auf die Welt vorstrukturiert. Diese Projektion, die Langer am Beispiel der Mercatorprojektion einer Weltkarte illustriert, unabhängig davon aber als generelle Eigenschaft von Symbolsystemen betrachtet, ist eine von Symbolsystemen vorstrukturierte Ordnungs- und Sichtweise auf Sachverhalte und Objekte, die historisch, aber nicht epistemologisch kontingent ist und die innerhalb eines bestimmten kognitiven Rahmens deshalb Veränderungen unterliegen kann. Dank ihrer Eigenarten unterhalten Diagramme einen besonderen Bezug zum »logischen Bild« – also zu der Strukturvorstellung im Bewusstsein, mit deren Hilfe erst eine Symbolisierungsleistung möglich ist. Langer diskutiert dies am Beispiel verschiedener bildlicher Repräsentationsmöglichkeiten für ein Haus (Photographie, Gemälde, Bleistiftskizze, Aufrisszeichnung, Diagramm etc.). Unter Absehung von einzelnen Details repräsentiert ein Diagramm als »das einfachste der Bilder«92 eine Grundstruktur des Hauses, die auch in komplexeren Bildern enthalten ist. Das Diagramm enthält damit alles, was als Vorstellungsform eines logischen Bildes das tertium comparationis aller möglichen bildlichen Repräsentationsmöglichkeiten des Objektes, in diesem Fall des Hauses, bildet. Das Diagramm ist also eine Kategorie, die für die symbolische Überlagerung von Objekt und Vorstellungsbild wichtig ist.93 Man kann deshalb sagen, dass Langer mit der Peirce’schen Diagrammatik eine Prämisse teilt: Zwischen der Symbolgattung des Diagramms und einem Kernbestandteil der prinzipiellen Operation des Symbolisierens besteht in dem Sinn ein Zusammenhang, als eine der Grundoperationen allen Sym89 | Zit. nach Innis: Susanne Langer, S. 22. 90 | Vgl. zur Komplexität präsentativer Symbole Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 86ff., hier S. 99. 91 | Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 98. Vgl. für eine Akzentuierung des Cassirer’schen Begriffs mit Blick auf die Diagrammatik Rustemeyer: Diagramme, S. 46ff., insb. S. 56ff. 92 | Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 78. 93 | Vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 78.

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D IAGRAMMATIK bolisierens, nämlich das Erkennen von Ähnlichkeiten per »logischem Bild«, in der kulturell manifesten Gattung des Diagramms reflexiv zugänglich wird.94 An einer der Schlüsselstellen von Langers Exposition ihrer Variante der Diagrammatik heißt es demgemäß: »Whenever we draw a diagram, say the ground-plan of a house […], we are drawing a ›logical picture‹ of something. A ›logical picture‹ differs from an ordinary picture in that it need not look the least bit like its objekt. Its relation to the object is not that of copy, but of analogy […].«95 Langer ist in ihrer Terminologie zur Beschreibung diagrammatischer Operationen im Verlaufe ihres Werkes nicht immer einheitlich. Ebenso verändert sie den Zuschnitt ihrer Analysen. Zu Beginn ihres philosophischen Werkes nimmt die These breiten Raum ein, die präsentativen Formen der Symbolisierung ließen sich auf eine symbolische Logik zurückführen. Später wird dieses Projekt durch allgemeine kulturphilosophische Überlegungen ersetzt. Den Erkenntniszusammenhang eines diagrammatischen logischen Bildes expliziert Langer aber durchgängig und bezieht ihn auch in ihre umfassenden Analysen zu Ritual, Mythos, Kunst und Wissenschaft mit ein. In diesen Diskursen können die prinzipiellen Operationsmechanismen einer »symbolischen Transformation«96 als einer Auseinandersetzung zwischen Bewusstsein und Symbol nachvollzogen werden. Die von Langer als essenziell für die menschliche Kultur angesehene Fähigkeit, für neue, bis dato unbekannte Sachverhalte Symbole auf genau die Art und Weise hervorzubringen, dass der Sachverhalt bzw. das Objekt (a) durch das neue Symbol angemessen beschrieben und (b) als Sachverhalt bzw. Objekt überhaupt erst hervorgebracht wird, kann in Ritualen, in Mythen und in der Kunst reflexiv untersucht werden. Die im Diagramm reflektierbare Grundoperation des Symbolisierens ist also nicht nur eine elementare Eigenschaft allen Symbolisierens, sondern unabdingbar mit der Exposition eines ›konstruktivistischen‹ Grundzuges des menschlichen Bewusstseins verbunden. Langers Entwurf einer konstruktiven Auseinandersetzung des menschlichen Bewusstseins mit Symbolen erlaubt es, die gestaltende, dynamische und formgebende Komponente der Diagrammatik zu beschreiben. Ihre Ausführungen zu einem an diese Symbole gekoppelten diskursiven und präsentativen »Symbolismus« weist klare Ähnlichkeiten mit Peirce’ 94 | Vgl. dazu den Ansatz, das Reflexionsverhältnis von Wissenschaften, Künsten und Philosophie als kulturelles Diagramm bzw. Kulturen als Diagramme zu begreifen von Dirk Rustemeyer (Diagramme, insb. S. 15ff.). Langer wäre hier eine sehr interessante Gesprächspartnerin gewesen, zumal sich Rustemeyer u.a. auf Ernst Cassirer beruft. 95 | Vgl. Langer: Introduction to Symbolic Logic, S. 29ff., vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 85. 96 | Vgl. Langer: Introduction to Symbolic Logic, S. 22ff., vgl. Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 34ff.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Beschreibung der Diagrammatik auf. Ebenso wie für Peirce ist die Gattung des Diagramms für Langer nur der sichtbare, kulturell manifestierte Teil einer kreativen (und spezifisch menschlichen) Fähigkeit im Umgang mit Symbolen, in der Ähnlichkeiten hergestellt und auf neue Situationen bezogen werden. Was in der Gattung des Diagramms als einer präsentativen Symbolisierung diskursiv repräsentierten Wissens zum Ausdruck kommt, ist also die kulturell zugängliche Seite der Fähigkeit des Bewusstseins, mit logischen Bildern zu operieren. In Ritual, Mythos und Kunst wird die elementar kreative Fähigkeit des Menschen, Symbolsysteme (und mithin ganze Deutungssysteme der Welt) zu transformieren und auf neue Sachverhalte und Objekte hin umzustrukturieren, analysierbar. Diese Fähigkeit liegt aber auch anderen Erkenntnispraxen wie zum Beispiel der Wissenschaft und der Philosophie zugrunde. Bei aller Berechtigung, die physiologischen Grundlagen der Fähigkeiten zur Ähnlichkeits- und Mustererkennung zu erforschen, beharrt Langer dabei auf einem Vorrang der Kultur gegenüber ihrer naturalistischen Deutung: Es sind die kleinen kulturellen Praxen wie die, auf Grundlage der »Schwankungen eines winzigen Pfeiles« oder dem »gewundenen Pfad eines Stiftes« die »›Tatsachen‹ unserer Wissenschaft« zu erarbeiten,97 welche für Langer die elementaren Kulturleistungen bilden – und die ›Diagrammatik‹ zu einem Grundbestandteil einer jeden kreativen Praxis machen.

II. Edmund Husserls Bildtheorie: Reine Sichtbarkeit Die Phänomenologie, wie Edmund Husserl sie begründet hat, in eine Diskussion der Diagrammatik aufzunehmen, mag etwas überraschend sein. Traditionell stehen sich phänomenologische und zeichentheoretische Ansätze kritisch gegenüber. Neuere philosophische Bewegungen wie der im Frankreich der 1960er Jahre entstandene Poststrukturalismus haben diese Spannungen vertieft. Als einer der prominentesten poststrukturalistischen Denker hat Jacques Derrida Husserls Phänomenologie einer zeichentheoretischen Kritik unterzogen.98 Aufgrund der in den kultur- und medienwissenschaftlichen Fächern vollzogenen Rezeption des Poststrukturalismus waren solche Kritiken an der Phänomenologie, bei aller Nähe der französischen Autoren zu dem von ihnen kritisierten Zugriff, lange Zeit das Maß aller Dinge, wenn es um die Bewertung der Phänomenologie in den Kultur- und Medienwissenschaften ging. Die Phänomenologie galt als semiotisch blinde, ja in ihren eigenen Ausführungen zu semiotischen Phänomenen sogar unbrauchbare Theorie. Zwei Entwicklungen haben diesen Generalverdacht gegenüber der Phänomenologie seit der Jahrtausendwende zunehmend zerstreut: Zum einen sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen semioti97 | Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 28f. 98 | Vgl. Derrida: Die Stimme und das Phänomen.

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D IAGRAMMATIK schen und phänomenologischen Gedankengängen durch neuere Studien herausgearbeitet worden.99 Zum anderen ist innerhalb der (zu keinem Zeitpunkt homogenen) phänomenologischen Bewegung durch Autoren wie Bernhard Waldenfels eine zeitgemäße Neuformulierung dieser Philosophie erfolgt.100 Die Phänomenologie erlebte in den Kultur- und Medienwissenschaften zuletzt eine kleine Renaissance. Als ein an seinen Grundpfeilern, so zum Beispiel dem Erfahrungsbegriff, neu formuliertes und auf eine differenztheoretische Grundlage gestütztes Theorieprojekt gehören phänomenologische Gedanken wieder zum Standard der theoretischen Debatte in den Kultur- und Medienwissenschaften. Im Zuge der allgemeinen Renaissance der Phänomenologie ist auch die phänomenologische Bildtheorie produktiven Neulektüren unterzogen worden. Der phänomenologische Ansatz trägt in der für die Bildwissenschaft geführten Debatte um die ›Bildlichkeit des Bildes‹ zur Präzisierung bestehender Standpunkte bei. Gegenstand der Diskussion ist die These, Bilder seien zwangsläufig als Zeichen zu betrachten. An diese These knüpfen sich wesentliche Probleme. Es stellen sich Fragen wie zum Beispiel diese: Nimmt man Bilder als Bilder wahr, bevor man sie interpretiert? Oder interpretiert man das Bild schon als Zeichen, um es dann als Bild wahrzunehmen? Und welchen Unterschied macht es, wenn man das Bild nicht als Zeichen betrachtet? Husserl hat diese Fragen im Rahmen seiner Bildtheorie klar beantwortet: Für ihn liegt der Interpretation des Bildes als Zeichen eine Ebene der reinen Wahrnehmung des Bildes zugrunde. Mit Husserls Bildtheorie ist eine Position zur Hand, die kritisch auf das Paradigma der semiotischen Bildtheorien innerhalb der Bildwissenschaft bezogen werden kann.101 Was die Auslegung von Husserls Schriften betrifft, ist es allerdings nötig, ein wenig um die Ecke zu denken. Husserls Bildtheorie ist kein Kernbestandteil seiner Philosophie. Fragen der Bildtheorie sind für Husserl ein Prüfstein seiner Erörterungen von allgemeinen Fragen der Intentionalität und der Einbildungskraft. Das Diagramm spielt in diesen Reflexionen keine nennenswerte Rolle. Dennoch ist Husserls Bildtheorie eine für die Diagrammatik wichtige Theoriebildung. Husserls Gedanken zum Bild erlauben es, den Begriff des Bildes vom Begriff des Diagramms abzugrenzen. Und sie erlauben es, philosophische Kontexte zu behandeln, die beim Enträtseln der Eigenschaften und Funktionen des diagrammatischen Schließens weiterhelfen. Niedergelegt findet sich Husserls Bildtheorie in einer Reihe von Schriften, die in dem Band Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung der HusserlGesamtausgabe veröffentlicht wurden. Mit dem Titel Phantasie und Bild-

99 | Vgl. Stjernfelt: Diagrammatology. 100 | Vgl. z.B. Waldenfels: Bruchlinien der Erfahrung. 101 | Vgl. Wiesing: »Sind Bilder Zeichen?«, Wiesing: Artifizielle Präsenz, S. 17ff., S. 37ff., vgl. dagegen Nöth: »Warum Bilder Zeichen sind«.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK bewußtsein liegen sie auch in einer Taschenbuchausgabe vor.102 Unter der gleichen Überschrift hatte Husserl 1904/05 eine Vorlesung gehalten. Sie enthält den zentralen Bestandteil seiner Bildtheorie und wird in verschiedenen Texten von Husserl bis Mitte der 1920er Jahre weiterentwickelt.103 Die Idee von Husserl – oder besser: das Argument, das man auf der Grundlage von Husserls Philosophie stark machen kann – besteht darin, davon auszugehen, dass sich in der Wahrnehmung zuerst ein Bild konstituiert, bevor man das Bild als Zeichen verwendet. Husserl geht von einer dreifachen Struktur des Bildes aus: Bilder besitzen einen materiellen Träger, ein »Bildding«, auf dem ein »Bildobjekt« und ein »Bildsujet« wahrnehmbar sind. In der Vorlesung Phantasie und Bildbewußtsein heißt es: »Drei Objekte haben wir: 1) Das physische Bild, das Ding aus Leinwand, aus Marmor usw. 2) Das repräsentierende oder abbildende Objekt und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt. Für das letztere wollen wir am liebsten einfach Bildsujet sagen. Für das erste das physische Bild, für das zweite das repräsentierende Bild oder Bildobjekt.«104 Husserl exemplifiziert diesen Gedanken am Beispiel einer Photographie: »Z.B. eine Photographie liege vor uns, ein Kind darstellend. Wie tut es das? Nur dadurch, dass es primär ein Bild entwirft, das dem Kinde zwar im ganzen gleicht, aber in Ansehung der erscheinenden Grösse, Färbung, u.dgl. sehr merklich von ihm abweicht. Dieses hier erscheinende Miniatur-Kind in widerwärtig grauvioletter Färbung ist natürlich nicht das gemeinte, das dargestellte Kind. Es ist nicht das Kind selbst, sondern sein photographisches Bild. Wenn wir so vom Bild sprechen, und wenn wir beurteilend sagen, das Bild sei misslungen, es gleiche dem Original nur in dem oder jenem oder gleiche ihm vollkommen, so meinen wir natürlich nicht das physische Bild, das Ding, das da auf dem Tisch liegt oder an der Wand hängt. Die Photographie als Ding ist ein wirkliches Objekt und wird als solches in der Wahrnehmung angenommen. Jenes Bild aber ist ein Erscheinendes, das nie existiert hat und nie existieren wird, das uns natürlich auch keinen Augenblick als Wirklichkeit gilt. Vom physischen Bild unterscheiden wir also das repräsentierende Bild, das erscheinende Objekt, das die abbildende Funktion hat, und durch dasselbe wird abgebildet das Bildsujet.« 105

Husserls Ziel ist es, mit Hilfe dieser Dreiteilung den Konstitutionsprozess von Bildlichkeit nachzuvollziehen. Er möchte klären, wie ein Bild als

102 | Vgl. die Gesamtausgabe Husserl: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Wir folgen hier der Taschenbuchausgabe Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, geben aber in Klammern die Seitenzahl der Gesamtausgabe mit an. 103 | Gute Kommentare zu den nicht immer einfachen Texten von Husserl, liefern Marbach: »Einleitung«, und Stjernfelt: Diagrammatology, S. 289ff. 104 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 21 (19). 105 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 21 (19).

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D IAGRAMMATIK Bild entworfen wird. Dieser Konstitutionsprozess des Bildes kann als eine zweifache Unterscheidung illustriert werden. Der erste Unterschied, den Husserl macht, betrifft die Differenz zwischen dem Bildding (also dem materiellen Träger des Bildes) und dem Bildinhalt (also dem, was auf dem Bild abgebildet ist). Unter heutigen Gesichtspunkten handelt es sich hierbei um eine medientheoretische Unterscheidung: Zwischen dem Medium des Bildes, zum Beispiel einer Leinwand oder einem Fotopapier, und dem Inhalt des Bildes besteht ein Unterschied: Wir nehmen eine Photographie zunächst als ein Bild von etwas wahr und nicht als ein Stück Fotopapier. Das bedeutet, dass das Bildding hinter den Bildinhalt zurücktritt. In der Interpretation des Bildes wird nicht das Medium des Bildes wahrgenommen, also der materielle Bildträger, sondern das immaterielle Bild, also der Bildinhalt. Der zweite Unterschied baut auf dieser ersten Differenzierung auf. Sie betrifft die Unterscheidung zwischen Bildobjekt und Bildsujet. Husserl macht darauf aufmerksam, dass der häufig unspezifisch als ›Inhalt‹ markierte Bereich des Bildes, der auf einen Gegenstand außerhalb des Bildes verweist, seinerseits aus zwei Bestandteilen besteht: einem ›Objekt‹ und einem ›Sujet‹: Das Bildobjekt ist dasjenige, worin ein Bildsujet erscheint. Ein Bildsujet dagegen ist das, worauf sich ein Bild beziehen kann (das ›Thema‹). Husserl beschreibt das Bildobjekt daher so: »Darunter verstehen wir nicht das abgebildete Objekt, das Bildsujet, sondern das genaue Analogon des Phantasiebildes, nämlich das erscheinende Objekt, das für das Bildsujet Repräsentant ist.«106 Das Bildobjekt ist also das Phänomen, vermittels dessen ein Bildsujet in der Weise hervorgebracht wird, dass erkennbar ist, dass es sich um die Darstellung des Sujets und nicht um das Sujet selbst handelt. Durch die Differenz zwischen Bildobjekt und Bildsujet erkennt man folglich, dass in einem Bild das Sujet durch ein Objekt dargestellt wird. Zwischen dem Sujet und dem Objekt, das das Sujet darstellt, existiert eine Differenz, welche für die Wahrnehmung des Bildes als Bild von außerordentlicher Bedeutung ist. Husserl betont, dieser Vorgang werde in der Wahrnehmung als ein Abhängigkeitsverhältnis des Objekts vom Sujet aufgefasst. In der naiven Lesart ist das Objekt dem Sujet hinsichtlich einiger Bildkriterien ›ähnlich‹. Tatsächlich aber ist diese Ähnlichkeit nur ein Effekt des Bildobjektes. Logisch ist das Bildobjekt dasjenige, was – wie Husserl treffend schreibt – das Bildsujet »entwirft«.107 Das Bild wird also erst als ein Bild wahrgenommen, wenn erkennbar ist, dass es sich um den konstruktiven ›Entwurf‹ einer Sache handelt und nicht um die Sache selbst. Festzuhalten ist somit: a) Ein Bildsujet und ein Bildobjekt sind in einem Bildding verkörpert, und b) das Bildobjekt entwirft ein Bildsujet.

106 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 21 (19). 107 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 21 (19).

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Von diesem Prozess her wird das Bild als Bild wahrgenommen.108 Dies führt zu einer wichtigen Konsequenz, die aus Husserls Gedankengang herausgelesen werden kann. Sie bezieht sich auf den Modus, wie ein Bild infolge dieser ersten beiden Differenzierungen für die Wahrnehmung gegenwärtig wird. Das Bildobjekt bezeichnet Husserl auch als das »erscheinende Objekt«109 . Diese Erscheinung des Bildobjektes ist, wie man sieht, doppelt differenziert: Sie unterscheidet sich vom Bildding und vom Bildsujet. Sie ist also weder eine materielle Eigenschaft noch ein dargestellter Inhalt, sondern die Ebene der Darstellung selbst.110 Nach Husserl bedeutet das, dass das Bildobjekt eine Sache zeigt, die als existente Sache nicht anwesend, sondern abwesend ist. In dieser Existenzform ist das Bildobjekt ein »perzeptive[s] Fiktum« – ein Gegenstand, der nur in der Wahrnehmung existiert und in einen »Widerstreit« mit der Gegenwart der Umgebungswahrnehmung tritt.111 Husserls Ansatz besteht also darin, mit dem Bildobjekt einen Modus der Wahrnehmung zu denken, in dem das Bild für sich erscheint, nicht aber schon etwas repräsentiert. Demzufolge muss man die Erscheinung des Bildobjekts von seiner Interpretation unterscheiden: Das Bildobjekt erscheint im Modus der Präsentation, das Bildsujet dagegen im Modus der Repräsentation.112 Zeitgenössische Theorien des Bildes bezeichnen diese Erscheinungsform der Präsentation des Bildobjektes als »reine Sichtbarkeit« bzw. als »artifizielle Präsenz« und leiten hieraus den Anspruch einer Betrachtung von Bildern aus der Perspektive einer »asemiotischen Bildbetrachtung« ab.113 Das ist in der Tat die Konsequenz, die bei Husserl angelegt ist: Die Verwendung des Bildes als Zeichen wird von dieser Präsenz des Bildobjektes her entworfen. In der Wahrnehmung präsentiert das Bild, aber es repräsentiert noch nicht. Die Präsentation betrifft das Bild als Phänomen, die Repräsentation dagegen betrifft die Verwendung dieses Bildes als Zeichen. Es ist möglich, Bildobjekte als Zeichen zu verwenden, aber nicht jedes Zeichen wird dadurch zum Bild. Aufgrund der phänomenologischen Auszeichnung des Bildobjektes ist das Bild etwas vom Zeichen Unterschiedenes. Das Bildobjekt gehört einer Wahrnehmung an, in der das Bild zwar angeschaut,

108 | Eine typische reflexionsästhetische Bestimmung des Bildes könnte dann lauten, dass das Bild nicht nur etwas sichtbar macht, sondern zugleich den Modus der Sichtbarkeit selbst. Vgl. Waldenfels: Sinnesschwellen, S. 102ff. 109 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 21 (19). 110 | Probleme des Begriffs der ›Darstellung‹ in Bezug auf Husserl werden bei Wiesing: Artifizielle Präsenz diskutiert. Für die vorliegenden Zwecke reicht der Begriff gleichwohl aus. 111 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 47ff. (45ff.). 112 | Vgl. zu dieser Unterscheidung Wiesing: Artifizielle Präsenz. 113 | Vgl. Wiesing: Artifizielle Präsenz, insb. S. 70ff.

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D IAGRAMMATIK nicht aber interpretiert wird. Die Präsenz des Bildes steht vor seiner Verwendung als Zeichen. Die Phänomenologie zieht damit andere Schlussfolgerungen als die Semiotik. Für die Semiotik ist ein Bild deshalb etwas anderes als zum Beispiel die Schrift, weil es ein Objekt allein aufgrund seiner Eigenschaften darstellen kann, die Schrift dagegen immer etwas aus den Bezugsrelationen zu anderen Elementen eines Schriftsystems heraus darstellt. Für die Semiotik sind die Bilder aber deshalb immer noch Zeichen. Die Phänomenologie wendet dagegen ein, dass die Ebene der Darstellung des Bildes, die Ebene der Präsentation, nicht als ein zeichenhafter Sachverhalt angesehen werden darf. Husserls feingliedrige Unterscheidung zwischen Bildobjekt und Bildsujet sensibilisiert damit für eine sehr wichtige Frage: Wenn man feststellt, dass die Wahrnehmung eines Bildes als Bild nicht identisch ist mit der Wahrnehmung des Bildes als Zeichen, dann stellt sich die Frage, wie es dazu kommt, dass wir ein Bild als Zeichen interpretieren. Husserl liefert selbst bereits das Kriterium, um diese Frage zu beantworten: Erklärungsbedürftig ist, wie jener Prozess des Entwurfs eines ›repräsentierenden‹ Bildsujets durch den ›Repräsentanten‹ des Bildobjekts zu verstehen ist. Für die neueren phänomenologischen Theorien liegt der Fall so, dass diese Erklärung mit den Mitteln der Semiotik nicht geschehen kann.114 Aus der Perspektive einer Betrachtung der Diagrammatik schließen sich hier nun aber zwei Rückfragen an: Wenn diese Erklärung nicht mit semiotischen Mitteln geschehen kann, was ist dann der Gewinn dieser Perspektive a) für eine Betrachtung des Diagramms und b) für eine Betrachtung der Diagrammatik? Die phänomenologische Antwort auf diese beiden Rückfragen fällt zwiespältig aus. Während die phänomenologische Perspektive in der Betrachtung des Diagramms von begrenztem Nutzen ist, hält sie für die Betrachtung der Diagrammatik wichtige Antworten bereit. Gattungstheoretisch stellt sich die Frage, ob das Diagramm überhaupt ein Bild im skizzierten Sinne reiner Sichtbarkeit ist. Das Kriterium dafür, dass sich ein Diagramm als Bild qualifizieren würde, lautet so: »Bei einem Bild kommt es, schon bevor wir uns Gedanken darüber machen, was es denn bedeuten könnte und wofür man es als Symbol verwendet, zur Sichtbarmachung von etwas anderem, als dem, was materiell vorhanden ist.«115 Für den Betrachter muss in der Wahrnehmung unabhängig vom 114 | Hierbei weiß sie die Wendung der Kultur- und Medienwissenschaften zu Themenkreisen wie dem der ›Präsenz‹ auf ihrer Seite. Während früher die Zeichentheorien den avantgardistischen Gestus für sich reklamieren konnten, können es heute die phänomenologischen Theorien. So fordert Hans Ulrich Gumbrecht (Diesseits der Hermeneutik, S. 70ff.), die Betrachtung der Kultur als einer zeichenförmigen »Sinnkultur« müsse durch deren Betrachtung als asemiotischer »Präsenzkultur« ergänzt werden. Vgl. auch Mersch: Was sich zeigt. 115 | Vgl. Wiesing: »Ornament, Diagramm, Computerbild«, S. 123ff., hier S. 127.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Bildsujet etwas erscheinen. Seine Wahrnehmung richtet sich auf einen Gegenstand, den er als Bild wahrnimmt, ohne es in einen Bedeutungshorizont zu stellen. ›Präsentiert‹ das Diagramm also aus sich heraus etwas, das nicht als Zeichen wahrgenommen wird? Die phänomenologische Bildtheorie verneint diese Frage: Im Gegensatz zum Bild stellen Diagramme keine reine Sichtbarkeit her.116 Die Leistung von Diagrammen besteht nicht in ihrer Sichtbarkeit an sich, sondern in der Exposition von ähnlichen Relationen zu einem Bezugsobjekt. Ohne diese semiotische Bezugnahme auf etwas ist das Diagramm nur eine Struktur oder ein Muster. Man hat beim Diagramm gerade nicht das, was man beim Bild hat: Eine Sache, die man sehen kann, obwohl sie nicht anwesend ist.117 Diagramme sind in der phänomenologischen Perspektive also keine Bilder. Deshalb ist die phänomenologische Bildtheorie für die Diagrammatik aber nicht irrelevant. Gattungstheoretisch hilft sie, das Bild vom Diagramm zu unterscheiden. Erkenntnistheoretisch dagegen ist sie noch wichtiger, weil sie Grundfragen der Diagrammatik berührt. Deutlich wird das, wenn man an die Positionen von Peirce und Goodman erinnert. Peirce und Goodman argumentieren, dass das Bild und das Diagramm innerhalb der Geltungsreichweite des Begriffs des Zeichens zu unterscheiden sind. Bilder und Diagramme sind graduell verschiedene ikonische Zeichen. Die Phänomenologie würde nun aber dagegenhalten, dass Ikons nur eine bestimmte Art der Verwendung von Bildern und Diagrammen als Zeichen sind, sich das Bild tendenziell dieser Verwendung entzieht, das Diagramm dagegen nicht. Mit Husserl wäre also zu fragen, ob das Bild und das Diagramm nicht zwei kategorial unterschiedliche Phänomene sind: Das Bild als eine Kategorie, die unabhängig von ihrer Verwendung als Zeichen als Bild wahrgenommen wird, und das Diagramm als eine Kategorie, die nur abhängig von ihrer Verwendung als Zeichen als Diagramm wahrgenommen wird. Dieser Einwand führt an die Schwelle einer sehr weit reichenden philosophischen Problemstellung: Die Phänomenologie befragt durch ihren Ansatz nämlich nichts weniger als die Grenze der Semiose selbst – also die Grenze, an der die Phänomene der Wahrnehmung in die Formen ihrer Verwendung als Zeichen überführt werden. Diese sehr grundsätzliche Fragestellung kann man im vorliegenden Fall relativ genau anhand eines konkreten Problems untersuchen: Was erlaubt es, den Übergang vom Bildobjekt zum Bildsujet, der zugleich der Übergang vom Wahrnehmungsphänomen zum Zeichen ist, als Prozess eines Entwurfs des Bildsujets vom Bildobjekt her nachzuvollziehen? Husserl hat zwar die Notwendigkeit betont, das Bildobjekt nicht als Zeichen zu begreifen, aber die Reichweite dieses Ansatzes sieht er durchaus skeptisch. Bilder werden in der Regel als Zeichen aufgefasst. Die Geltungsreichweite von genuin ›präsentischen‹ Erscheinungsformen des 116 | Vgl. Wiesing: »Ornament, Diagramm, Computerbild«, S. 123. 117 | Vgl. Wiesing: »Ornament, Diagramm, Computerbild«, S. 123ff.

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D IAGRAMMATIK Bildes schränkt Husserl deshalb auf ästhetische Sachverhalte ein. Nur in diesen Fällen macht eine solche präsentische Erscheinungsform einen echten Unterschied. Er schreibt: »Aber damit, dass sich diese Erscheinung konstituiert hat, hat sich noch nicht die Beziehung auf das Bildsujet konstituiert. Mit einer schlichten Auffassung hätten wir also im eigentlichen Sinn noch gar kein Bild, sondern höchstens den Gegenstand, der nachher als Bild fungiert.«118 Das hier verhandelte Problem bezieht sich darauf, ob durch die reine Erscheinung des Bildobjekts bereits das Bildsujet mit hervorgebracht ist und ob nicht das Bildobjekt als eine Art von Zeichen interpretiert werden muss, damit es ein Bildsujet ›entwerfen‹ kann. Husserl forscht also nach der bewusstseinsphilosophischen Bedingung für jenen Prozess des ›Entwurfs‹ vom Objekt zum Sujet. Für die Diagrammatik ist das eine Schlüsselfrage. Die These liegt nahe, dass es sich bei jenem ›Entwurf‹ des Bildsujets, also der Semiotisierung des Bildes, um eine diagrammatische Operation handelt. Bei der Übersetzung des Bildobjekts in ein Bildsujet muss ein Bedeutungsrahmen vorhanden sein, auf den das Bildobjekt bezogen werden kann. Dieser Bedeutungsrahmen wird vom Bildobjekt her in dem Sinne ›entworfen‹, dass die Elemente des Bildes eine mögliche Interpretation (etwa durch die Behauptung von ›Ähnlichkeit‹ zu einem Bildsujet) nahe legen. Jedes Bildobjekt muss also in den Horizont einer Rekurssituation gestellt werden, von dem her sich sein Sinn erschließt – ein Sinn, der, wie die Phänomenologie betont, nicht im Bildobjekt liegt, sondern von ihm her konstruiert wird. Diese mögliche Interpretation aber ist vor ihrer Konkretisierung zunächst nur als ein idealer Bedeutungsrahmen gegeben. Es existiert das ›Schema‹ eines möglichen Bedeutungsfeldes, das ausgemessen, transformiert und umgearbeitet wird, um zu einer konkreten Interpretation zu gelangen.119 In der Husserl’schen Phänomenologie und ihrer Bildtheorie lässt sich also ein theoretischer Diskurs identifizieren, der gewisse Ähnlichkeiten zur Diagrammatik aufweist. Allerdings ist zu beachten, welche Grundlagenfunktionen die Diagrammatik in einer solchen Sicht der Dinge zugesprochen bekommt: Prinzipiell wäre jede Operation der Semiotisierung von Bildobjekten eine diagrammatische Operation. Husserls Ansatz zeigt hier Parallelen zum erweiterten Begriff des diagrammatischen Schließens bei Peirce.120 Die Diagrammatik ist eine Theorie, welche Prozesse der Semiotisierung als

118 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 25 (23). 119 | Vgl. Stjernfelt: Diagrammatology, S. 305f. 120 | Bisher am weitesten geht mit dem Vergleich zwischen Peirce und Husserl Frederik Stjernfelt. Er versucht zu zeigen, dass Peirce’ diagrammatisches Schließen zahlreiche Entsprechungen in der Husserl’schen Philosophie findet, die Stjernfelt (Diagrammatology, S. 141ff.) u.a. an den Begriffen der eidetischen Variation und der kategorialen Anschauung festmacht.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Kon- und Rekonfigurationsprozesse eines diagrammatischen Schließens beschreibt. Für die Kultur- und Medienwissenschaft ist festzustellen: Erkenntnistheoretische Überlegungen wie die, den Prozess der Semiotisierung adäquat zu erfassen, bilden für eine Theorie, in der die allermeisten Ansätze darin übereinstimmen, dass Kultur in wesentlichen Teilen ein semiotisches Phänomen ist, ein Grundlagenproblem. Doch ebenso gut können solche grundlagentheoretischen Erwägungen sehr handfeste Anwendungen erfahren. Eine Möglichkeit zeichnet sich ab, wenn man den von Husserl aufgespannten Problemhorizont in Richtung konkreter Fragestellungen weiterdenkt. Eine solche Forschungsperspektive könnte so hergeleitet werden: Wenn die Semiotisierung von Bildobjekten als eine diagrammatische Operation im Sinne der Bezugnahme auf ein ideales Bedeutungskontinuum, auf eine Art ›Bedeutungsschema‹, bezogen ist, dann könnte dieser idealisierte Bedeutungshorizont nicht einfach nur als ein Prozess des Interpretierens angesehen werden. Semiotisierung wäre vielmehr ein Prozess der Narrativierung und Dramatisierung. Idealisierte Bedeutungsschemata verweisen auf sogenannte »Standardsituationen«. Standardsituationen sind idealisierte Erzählmuster mit einem schematisierten Verlauf. Bedeutung ist in ihnen situativ und vor allem szenisch verkörpert. Aufgrund ihres hohen Grades an Generalisierung fungieren Standardsituationen als ideale Rekurssituationen beim Erfassen von Bedeutungszusammenhängen. Die diagrammatische Übersetzung zwischen Bildobjekt und Bildsujet, die Semiotisierung des Bildes, wäre kultur- und medienwissenschaftlich also dadurch relevant, dass dieser Prozess der Semiotisierung als Prozess der diagrammatischen Übersetzung in kulturelle Narrative vor sich geht.121 Dass dieses Forschungsszenario keineswegs hypothetisch ist, sondern bei Husserl selbst vorgedacht wird, zeigt ein Kommentar zu seiner Bildtheorie aus dem Jahr 1912.122 Unter der Überschrift »Bildbewusstsein und symbolisch bildliches Bewusstsein« diskutiert Husserl dort die Möglichkeit, dass der Betrachter von einem Bild derart fasziniert ist bzw. dieses Bild derart absorbiert, dass er sich selbst als Protagonist im Bild wahrnimmt. In Auseinandersetzung mit dem Bild wird in diesem Fall zusätzlich zum realen Bewusstsein der Betrachtung des Bildes als Bild ein imaginäres, ›symbolisches‹ Bewusstsein von der Betrachtung des Bildes im Bild entwickelt. Man nimmt nicht nur ein Bild wahr, sondern sich selbst als Akteur im Bild – versetzt sich also in genau den Wahrnehmungshorizont, den das Bild aufspannt. In diesem Zustand eines »modifizierten Ich«123 121 | Vgl. Bauer: »Die Szenographie«, S. 42f. Vgl. für die Bezüge zur Theorie ästhetischer Erfahrung auch Haart: »Bildbewusstsein«. 122 | Vgl. auch Stjernfelt: Diagrammatology, S. 304ff. 123 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 175 (467).

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D IAGRAMMATIK erfolgt eine Selbstwahrnehmung, die vergleichbar mit der szenischen Vorstellung von sich selbst als Akteur in der Phantasie oder im Traum ist. Die reale Betrachtung des Bildes aus der Perspektive der ersten Person wird also überlagert von einer imaginären Betrachtung des Bildes als Akteur in der dritten Person im Bild. Realitätsbewusstsein und ein vom Bild her zu denkendes ›symbolisch-bildliches Bewusstsein‹ interagieren. Für Husserl basiert diese Möglichkeit auf der Unterscheidung zwischen Bildobjekt und Bildsujet – und damit zwischen der realbewussten Anschauung des Bildobjektes und der im Modus des ›bildlich symbolischen Bewusstseins‹ vorgenommenen imaginären Anschauung.124 Dabei ist es entweder möglich, dass innerhalb des symbolischen Bewusstseins der Rückbezug auf das reale Bewusstsein ganz ausgeschaltet wird (also das Symbolische selbst wieder wie ein ›Bildobjekt‹ angeschaut wird), oder aber beide Bewusstseinsformen existieren als Unterscheidung von ›bildlichem Zuschauer‹ im Bild und ›sympathisierendem Zuschauer‹ vor dem Bild gleichzeitig.125 In beiden Fällen erfolgt die Anschauung im Modus des ›symbolisch-bildlichen Bewusstseins‹ unter Rückgriff auf Erinnerung und Einbildungskraft, also zwangsläufig unter Zuhilfenahme bekannter, standardisierter Bezugssituationen.126 Husserls Überlegungen implizieren nicht nur, dass die Diagrammatik von genereller Bedeutung bei der Semiotisierung von Bildobjekten ist. Überdies macht Husserl klar, dass dieser Vorgang Ähnlichkeiten mit der Ausbildung eines semiotischen ›quasi-Bewusstseins‹ hat. Die Semiotisierung ist ihrerseits elementar szenisch strukturiert und steht von daher mutmaßlich in engem Zusammenhang mit kulturell vermittelten Schematisierungsphänomenen wie etwa Standardsituationen. Husserls Ideen zu einem solchen ›symbolisch bildlichen Bewusstsein‹ mit szenischem Charakter zeigen, dass die Phänomenologie in ganz ähnlichen Richtungen denkt, wie es auch mit der Peirce’schen Diagrammatik geleistet werden kann. Deshalb helfen Husserls Überlegungen zum Bild gegenwärtig nicht nur, schwierige philosophische Fragen wie die nach der Semiotisierung von Bildern und den Grenzen der Zeichen anzugehen. Sie helfen auch, die Diagrammatik kultur- und medienwissenschaftlich dort als relevante Theoriebildung zu verankern, wo kognitive Operationen wie die des Gedankenexperiments mit kulturellen Grundpraktiken wie denen der Narration verbunden sind. Über die Grenzen der bildwissenschaftlichen Debatte hinweg erweist sich die Bildtheorie Husserls mithin als eine für die kultur- und medienwissenschaftliche Lesart der Diagrammatik in vielerlei Hinsicht aufschlussreiche Theorie.

124 | Vgl. Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 175 (467). 125 | Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 176 (468). 126 | Vgl. Husserl: Phantasie und Bildbewusstsein, S. 176f. (468f.).

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK

III. Hans Blumenberg und die Weltbildfunktion der absoluten Metapher Ein Autor, der mit seiner Metaphorologie gleichermaßen aus den Quellen der Hermeneutik und der Phänomenologie geschöpft hat, ist Hans Blumenberg. Nach Susanne K. Langer und Edmund Husserls ist nun aber ein drittes Mal der Argumentationsschritt zu leisten, eine Philosophie, die kaum explizit vom Diagramm spricht, in ihrer Relevanz für die Diagrammatik zu erschließen. Einfach ist das im Fall von Hans Blumenberg zwar nicht, soll hier aber trotzdem geschehen. Der Grund dafür ist: Am Beispiel von Blumenberg lässt sich die für jede kultur- und medienwissenschaftliche Anwendung der Diagrammatik elementare Frage vertiefen, welches Verhältnis die Metapher zur Diagrammatik unterhält. Blumenbergs Metaphorologie hat man als »postphänomenologisches Projekt einer Epistemologie der Metapher« gedeutet127, dessen historische Ausrichtung die Begriffsgeschichte ihrer Zeit überwindet.128 Eine solche »Epistemologie der Metapher« greift zwangsläufig ins Feld allgemeiner erkenntnistheoretischer Probleme über. Fast ebenso zwangsläufig erfordert sie eine eigenständige Methode, die als Konsequenz des philosophischen Grundgedankens anzusehen ist. Die Metaphorologie wahlweise als »Lebensweltphänomenologie« oder »Lebenswelthermeneutik«129 zu bezeichnen ist zwar etwas unpräzise, aber richtig, weil es illustriert, dass Blumenbergs »nachmetaphysischer Antireduktionismus« den Lebensweltbegriff Husserls gründlich umarbeitet.130 Blumenbergs Theorie der Metapher erstreckt sich auf ein weites Feld linguistischer, literaturtheoretischer und sprachphilosophischer Forschungen. Aus im Detail unversöhnlichen Perspektiven umkreisen viele dieser Theorien eine Problematik: Man kann die alte Figur der ›metaphorà‹, das »anderswohin tragen«, die »Übertragung«, die der Metapher ihren Namen gegeben hat, zum einen als eine sprachliche Figur (›lexikalische Metapher‹) und zum anderen als einen kognitiven Prozess betrachten (›kognitive Metapher‹). Im ersten Fall geht es um eine Übertragung von einem sprachlichen Referenzbereich auf einen anderen zum Zweck rhetorischer Persuasion. Die Metapher dient dazu, eine kommunikative Wirkung zu erzielen. Im zweiten Fall geht es um einen kognitiven Mechanismus, in dem Bewusstsein und Kommunikation eine kreative Allianz eingehen. Der metaphorische Übertragungsprozess ist Ausdruck elementarer Denkvorgänge, koppelt sich also von der Betrachtung sprachlicher Metaphern ab. Die »Metapher« ist dieser Lesart nach selbst die Metapher für einen Denk-

127 | Vgl. Rolf: Metapherntheorien, S. 243ff. 128 | Vgl. Haverkamp: Metapher, S. 19ff., S. 145ff. 129 | Vgl. Stoellger: Metapher und Lebenswelt, S. 253ff. 130 | Vgl. Wetz: Hans Blumenberg, S. 132ff.

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D IAGRAMMATIK prozess, in dem Analogien zum Zwecke der Bildung von Hypothesen etabliert werden. Die Metapher und ihre Theorie sind durch diese beiden unterschiedlichen Auslegungen in einen Dualismus von ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ verstrickt. Die lexikalische Metapher befindet sich in einem gleich zweifachen Sinn an der Oberfläche der Sprache: semantisch hinsichtlich ihrer Gestalt in konkreten sprachlichen Äußerungen, pragmatisch hinsichtlich ihrer persuasiven Potenziale. Die kognitive Metapher ist hingegen ein epistemologischer Mechanismus, der aus der »Tiefe« des Bewusstseins heraus wirkt; sie ist eine an der Schwelle zwischen Bewusstsein und Kommunikation angesiedelte kreative Art und Weise des Weltbezugs. Blumenbergs Metaphorologie verbindet beide Stränge der Metapherntheorie und entwickelt sie zu einer komplexen Philosophie der Metaphorizität. Grundlegend ist dafür eine Ausdehnung des Rhetorikbegriffs: Blumenberg zufolge ist die Rhetorik, über ihre Funktion als Redekunst hinaus, der Ausdruck einer Erkenntnisleistung des Menschen, die auf einer vorbegrifflichen Stufe pragmatisch relevante Selbstverständnisse zum Ausdruck bringt. Das wertet natürlich auch die Metapher auf, die eben nicht nur eine Sprachfigur, sondern ein Erkenntnisprinzip ist. Nach Blumenberg gibt es »absolute Metaphern«, die in der Selbstauslegung des Menschen Orientierungswissen in Fragen bieten, die aufs Ganze gehen. Dazu gehören Fragen der Einbettung des Individuums in das Weltgeschehen wie etwa die nach dem Zusammenhang zwischen dem Lebensverlauf und dem Tod, nach der Gestalt der Wahrheit oder der Form des Denkens. Fragen dieser Art stellen die Menschen nicht, um einfach Lücken innerhalb ihrer bestehenden Wissensbestände zu füllen. Diese Fragen, die niemals vollständig beantwortet werden können, sind Konsequenzen der existenziellen Situation des Menschen; es sind Grundfragen, auf die jede Kultur ihre eigenen Antworten, oder genauer: ihre eigenen absoluten Metaphern findet. Kulturell haben diese absoluten Metaphern für Blumenberg eine kompensatorische Funktion. Sie liefern Denkkonzepte zur Bewältigung drängender, aber nicht endgültig zu beantwortender Probleme. Entscheidend ist daran, wie Blumenberg die epistemologische Funktion der absoluten Metaphern erläutert: Absolute Metaphern entziehen sich der begrifflichen Explikation, weil sie ein Bild für etwas liefern, das als Begriff nicht zu haben ist – nämlich einen Begriff für das »nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität«.131 Dadurch erfüllen sie eine »genuine Funktion der Welterschließung«. Denn für Blumenberg gilt grundsätzlich: »Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ›metaphorisch‹.«132 Um diese epistemologische Qualität der absoluten Metapher sowie die besondere Art des durch sie realisierten Wirklichkeitsbezugs näher zu er131 | Blumenberg: Paradigmen, S. 25. 132 | Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 415.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK läutern, verortet Blumenberg die absolute Metapher auf einer »vorbegrifflichen« Erfahrungsebene. Absolute Metaphern, das ist die Grundthese Blumenbergs, geben »einer Welt Struktur«, bevor der »Begriff« seine Explikationsleistung vollbringt: »Die absolute Metapher […] springt in eine Leere ein, entwirft sich auf der tabula rasa des theoretisch Unerfüllbaren […]«.133 Die absolute Metapher steht also für eine Erkenntnisleistung, in der die offene Außenseite begrifflich-theoretischer Wissenshorizonte in ein Bild gesetzt und damit auf einer vorbegrifflichen Ebene beschrieben wird. Diese Vorbegrifflichkeit konzipiert Blumenberg aber nicht als eine authentische Grundschicht der Erfahrung, die durch Theorie immer nur unzureichend expliziert würde. Wenn bei Blumenberg von »Vorbegrifflichkeit« die Rede ist, dann zielt dies auf den Umstand, dass die Funktion derjenigen »Metaphorik«, die in der absoluten Metapher zum Ausdruck kommt, sich in irreduzibel ergänzender Weise zum begrifflichen Denken verhält. Sie steht nicht in Opposition zu diesem, sondern begleitet das begriffliche Denken in Erkenntnissituationen offener Epistemologie wie ein Schatten. Die absolute Metapher wird von Blumenberg also nicht als eine Notwendigkeit außerhalb, sondern innerhalb der verschiedenen Formen theoretischer Begriffsbildung (wie etwa der Philosophie) gedacht. Die absolute Metapher steht für eine kreative Dimension im Vorfeld der Begriffsbildung, in der Unverbundenes zusammengedacht (man könnte metaphorisch sagen: ›überblendet‹) wird. Hierin liegt auch der Bezug zur Diagrammatik. Er wird deutlich, wenn Blumenberg die Erkenntnisbewegung der absoluten Metapher als ein projektives Prinzip mit pragmatischem Fundament beschreibt. Die offenen Fragen, auf welche absolute Metaphern antworten, entstehen für Blumenberg aus der Offenheit der Lebenswelt selbst. Das lebensweltliche Geschehen ist durch die Faktizität eines ereignishaften ›Dass‹ ausgezeichnet, welche sich nicht »als solche« denken lässt, sondern die zu erfassen für jegliche begriffliche Explikation, wie Blumenberg schreibt, immer (und notwendig) eine »logische ›Verlegenheit‹ [darstellt, M.B./C.E.], für die die Metapher einspringt«.134 Die absolute Metapher entsteht dabei als Sedimentierung von Schlussfolgerungsprozessen, die durch eine besondere Spannung zwischen Handlungszwang und Evidenzmangel ausgezeichnet sind: »Sich unter dem Aspekt der Rhetorik zu verstehen heißt, sich des Handlungszwanges ebenso wie der Normentbehrung in einer endlichen Situation bewusst zu sein. Alles, was hier nicht Zwang ist, gerät zur Rhetorik, und Rhetorik impliziert den Verzicht auf den Zwang«.135 133 | Blumenberg: Paradigmen, S. 193. 134 | Bei der absoluten Metapher hat man es mit einer Aporie innerhalb des begrifflichen Denkens zu tun. Diese Aporie ist dem begrifflichen Denken zwangsläufig inhärent: »und solche Aporie präsentiert sich gerade dort am deutlichsten, wo sie theoretisch gar nicht ›zugelassen‹ ist« (Blumenberg: Paradigmen, S. 10). 135 | Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 413f.

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D IAGRAMMATIK Bei der näheren Ausarbeitung dieser ›übertragenden‹ Schlussfolgerungsprozesse, welche die ›Metaphorizität‹ der absoluten Metapher konstituieren, also die Bewegung der metaphorà selbst beschreiben, bedient sich Blumenberg eines Vokabulars, das diagrammatische Züge aufweist. Die »Theorie der Unbegrifflichkeit«, die Blumenberg mit der absoluten Metapher im Vorfeld der Begriffe einhergehen sieht, ist durch eine Ambivalenz an der Wurzel des Begrifflichen gekennzeichnet, welche – das ist die epistemologische Pointe Blumenbergs – ein Ausdruck produktiver Einbildungskraft ist.136 In aller Klarheit heißt es im Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit zu dieser produktiven Seite vorbegrifflicher Metaphorizität: »Nun ist in der Tat die Metapher nicht nur ein Surrogat des fehlenden, prinzipiell aber immer möglichen und deshalb einzufordernden Begriffs, sondern ein projektives Element, das sowohl erweitert als auch den leeren Raum besetzt, ein imaginatives Verfahren, das sich im Gleichnis seine eigene Konsistenz schafft«.137 Blumenbergs Verweis auf dieses »projektive Element« bzw. dieses »imaginative Verfahren, das sich im Gleichnis seine eigene Konsistenz schafft«, ist ein Hinweis auf die kreative Operation eines Zusammendenkens verschiedener Sinnbezirke in einem metaphorischen Bild. Ein solches Verfahren aber ist nichts anderes als das, was in einer Übersetzung geschieht: Auf Grundlage von strukturellen Ähnlichkeiten wird ein skizzenhaftes Drittes konstruiert, das den Vergleich zwischen den heterogenen Erkenntnisbezirken ermöglicht. Angesichts des von Blumenberg als pragmatisch fundiert angesehenen Rückhalts der absoluten Metapher in der Lebenswelt, übernimmt das »projektive Element« denn auch eine vergleichbare Funktion wie bei Peirce das Diagramm: Epistemologische und pragmatische Funktion der absoluten Metapher fallen in ihrer Funktion als projektiver Operation, die die Grundlage für begriffliche (z.B. logische) Arbeit bildet, zusammen. Bei dieser ›Projektion kraft Imagination‹ handelt es sich um eine Operation, bei der die in die Sprache verstrickte Einbildungskraft Bedeutungen so aufeinander bezieht, dass Neues daraus entsteht. Das Gleichnis setzt eine kryptische Geschichte über seinen Bezugsgegenstand ins Bild. Diese Operation einer Versinnbildlichung zu vollziehen, bedeutet, eine Überlagerung von Begriff und Bild vorzunehmen. Die Überzeugungskraft des Gleichnisses ergibt sich dabei aus der epistemologischen Qualität des erzeugten Vorstellungsbildes. Dass Blumenberg von einem Gleichnis spricht, ist daher in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Im Gegensatz zur Parabel ist das Gleichnis einerseits ein Verwandter von Metapher und Allegorie, also den Bildern angehörig und von den Geschichten abgegrenzt; andererseits ist das Gleichnis als Bild durch das Moment eines Vergleichs ausgezeichnet. Das 136 | Vgl. Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 193ff. 137 | Blumenberg: Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 429 (Hervorh. M.B/C.E.).

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Gleichnis ist also keine repräsentierende, sondern eine schlussfolgernde Operation. Ein Gleichnis bildet etwas ab, indem es zwei Bilder aufeinander bezieht. Das Gleichnis ist durch ein doppeltes Vergleichsmoment organisiert: Einerseits benötigt es wie die Metapher ein auf strukturelle Ähnlichkeit gegründetes Drittes, mit dessen Hilfe sich zwei Bilder aufeinander beziehen lassen; andererseits enthält dieses Dritte ein projektives Element, das vom Gleichnis als Bild hervorgebracht wird. Das Gleichnis ist ein anschaulicher Begriff für die in der Theorie der Metapher häufig beschriebene epistemologische Überlagerung einer sequenziellen Referenz (Vergleich zweier Bilder) mit einer simultanen Evidenz (Erzeugung eines neuen Bildes). Das Sinnbild, das auf diese Weise im Gleichnis entsteht, changiert zwischen schematischem Bild und kryptischer Geschichte, kann dadurch als Diagramm betrachtet werden und macht die absolute Metapher für die Diagammatik als einer Theorie epistemischer Szenen greifbar, sofern diese Erkenntnissituation bei Blumenberg nämlich mit dem vergleichbar zu sein scheint, was in der Metapherntheorie »scene of reference« genannt wird.138 Für diese These spricht allein der Umstand, dass die absolute Metapher für Blumenberg keine Geschichte erzählt und auch nicht nur ein Bild zeigt, sondern dass sie erzählt und zeigt; sie ›illustriert‹ im abstraktesten Sinn das ›In-Szene-setzen‹ einer basalen Erkenntnisoperation, die mittels einer Vermutung über Vergleichsmöglichkeiten zwei divergente Bilder aufeinander bezieht und daraus etwas Neues konfiguriert. Diese ›diagrammatische‹ Struktur der Metaphorizität der absoluten Metapher verweist auf eine unauflösliche Verwicklung zwischen pragmatischem Orientierungsbedürfnis und epistemologischer Spekulationskraft.139 In der Spannung zwischen Handlungszwang und Evidenzmangel gibt sich die absolute Metapher als Prozess des Erzeugens von handlungsleitenden Sinnbildern mit den Mitteln metaphorischer Projektion zu erkennen. Für Blumenberg schließen sich lexikalische und absolute Metaphorizität also mitnichten aus. Der diagrammatische Prozess der metaphorà vereint vielmehr die lexikalischen (»rhetorischen«) Metaphern mit ihren »absoluten« Verwandten. Blumenberg lässt jedoch ebenso wenig Zweifel daran, dass die Oberflächenstrukturen von lexikalischen Metaphern wie »Liebe ist eine Flamme« oder von absoluten Metaphern wie der »nackten Wahrheit« nur eine von vielen möglichen Ausdrucksformen des zugrunde liegenden Mechanismus einer metaphorà sind. Diese »Übertragung« ist keineswegs nur für die Produktion von lexikalischen oder absoluten Metaphern verantwortlich, sondern übersteigt das Projekt der Rhetorik in Richtung des Problems kognitiver Plausibilität an der Schwelle von Bewusstsein und Sprache. Blumenbergs Metaphorologie geht in der Deutung dieses Sachverhalts sehr weit: Sie verbindet die lexikalische Metapher, die absolute Me138 | Vgl. Haverkamp: Metapher, S. 60. 139 | Vgl. Recki: »Der praktische Sinn«, S. 158.

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D IAGRAMMATIK tapher und die Operation einer ›metaphorá‹ – also eine kognitive Operation, deren projektive Leistung nach Blumenberg durch die bildlichen Mittel absoluter Metaphern immer nur im Sinne einer Verlegenheitslösung objektiviert werden können. Hierin kann man die Plausibilität einer dekonstruktivistischen Anwendbarkeit der Metaphorologie erkennen. Denn der bezeichnete Sachverhalt hat Konsequenzen über die Gegenstandsebene hinaus. Ist es nicht so, dass noch die rhetorische Operation, mit der Peirce das ›Diagramm‹ in seiner Bedeutungsausdehnung von einem Gattungsbegriff zu einem Erkenntnisprinzip erklärt, ihrerseits nur die metaphorische Verlegenheitslösung für eine Erkenntnisoperation darstellt, die schlicht und ergreifend nicht auf den Begriff zu bringen ist?140 Blumenbergs Metaphorologie zeigt, dass die projektive Leistung der Diagrammatik zu den Funktionsmechanismen metaphorischer Übertragungen gehört. Der Funktionsmechanismus von Blumenbergs absoluter Metapher ist ein diagrammatischer. Konsequent ausgearbeitet gewinnt man mit Blumenbergs Metaphorologie möglicherweise das Modell einer historischen Pragmatik diagrammatischer Schlüsse. Ausdrücklich eingebunden wäre in diese Analyse aber auch der metaphorische Erregungswert der Metapher des Diagramms selbst – und sei es als eine Metapher, die ihren eigenen Funktionsprozess beschreibt.

4.2 J ACQUES D ERRIDA , G ILLES D ELEUZE UND M ICHEL F OUCAULT Ebenso wie die Hermeneutik und Phänomenologie ist der Poststrukturalismus keine homogene Bewegung. Und ebenso wie im Fall dieser Philosophien wird man vielleicht etwas verwundert sein, einen Abschnitt über Autoren wie Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Michel Foucault in einer Abhandlung über die Diagrammatik anzutreffen. Aus der Theorietradition der Kultur- und Medienwissenschaften heraus gedacht wird die Entscheidung nicht überraschen. Poststrukturalistische Ideen gehören zum festen Inventar der Kultur- und Medienwissenschaften. Ohne den Bezug auf poststrukturalistische Gedanken bleiben wichtige Paradigmen dieser Wissenschaften, so etwa Schlüsselkonzepte wie Performativität, Gender oder Medialität, unverständlich. Daher ist es sinnvoll, nach den Schnittstellen zwischen dem anschaulichen Denken der Diagrammatik und dem Poststrukturalismus zu fragen. Als eine pragmatistisch rückgekoppelte Theorie könnte die Diagrammatik zum Beispiel einen wertvollen Beitrag für die angelaufene Forschungsdiskussion um die pragmatistischen Anteile des poststrukturalistischen Denkens leisten. Eine so weitreichende Frage setzt aber voraus, erst ein140 | Hierfür ist die dekonstruktivistische Interpretation Blumenbergs, wie sie z.B. der Literaturtheoretiker Anselm Haverkamp verfolgt, der entscheidende Bezugsdiskurs.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK mal zu klären, inwiefern sich innerhalb des poststrukturalistischen Denkens selbst eine Theorie der Diagrammatik abzeichnet und auf welche Gegenstandsfelder diese Theorie bezogen wurde. Auffällig ist: Wie im Falle der Phänomenologie und Hermeneutik findet im Poststrukturalismus keine ausführliche Auseinandersetzung mit der Peirce’schen Diagrammatik statt. Und wie bei der Phänomenologie und Hermeneutik finden sich in zahlreichen Texten Hinweise und Gedanken zu wichtigen diagrammatischen Fragestellungen. Im Einklang mit dem besonderen Einfluss poststrukturalistischer Ideen haben diese Ansätze inzwischen Eingang in die sich konstituierende DiagrammatikForschung der Kultur- und Medienwissenschaften gefunden. Die Verbindungen zwischen Poststrukturalismus und Diagrammatik-Forschung sind bis jetzt eher indirekter Natur, auch wenn es inzwischen erste Arbeiten zu dem Thema gibt.141 Drei Autoren sollen ausführlicher diskutiert werden: In einer eher indirekten und programmatischen Form Jacques Derrida sowie Michel Foucault, detaillierter dafür die Arbeiten von Gilles Deleuze. Ausgeblendet wird dadurch Michel Serres, in dessen Schriften sich eine Theorie des Diagramms rekonstruieren lässt, die denen von Deleuze und Foucault nicht unähnlich zu sein scheint.142 Eine mögliche Akzentsetzung für eine nähere Beschäftigung könnte dabei das Konzept von Virtualität bilden, das Serres in seinem Werk Atlas entwickelt hat.143 Wie bei allen anderen poststrukturalistischen Autoren auch, zeigt sich aber bei einem Autor wie Serres, dass die Rezeption poststrukturalistischer Ideen für die Diagrammatik-Forschung eine erhebliche Übersetzungsleistung zwischen verschiedenen Theoriesprachen voraussetzt.

I.

Jacques Derrida: Von der Grammatologie zu einer Diagrammatologie?

Wie diese wechselseitige Bezugnahme aussehen kann, illustriert die Anlehnung an den oft zum Vordenker des postmodernen Denkens stilisierten Philosophen Jacques Derrida in der aktuellen kultur- und medienwissenschaftlichen Diagrammatik-Forschung. Derridas Grammatologie hat inzwischen ein Komplement im programmatischen Entwurf einer Diagrammatology144 bzw. einer Diagrammatologie145 gefunden. Derrida geht es mit seiner ›Grammatologie‹ um eine Radikalisierung

141 | Auf Grundlage eines poststrukturalistischen Diagrammbegriffs argumentiert z.B. die theaterwissenschaftliche Arbeit von Haß: Das Drama des Sehens. 142 | Vgl. dazu Gehring: »Paradigma einer Methode«. 143 | Vgl. Serres: Atlas, S. 111ff. 144 | Stjernfelt: Diagrammatology. 145 | Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 97f., vgl. auch Langer: »Diagrammatologie«.

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D IAGRAMMATIK und Neuformulierung der Konsequenzen des linguistic turn.146 Derrida führt den Nachweis, dass die phänomenologischen oder ontologischen Begriffe der Präsenz, der Anwesenheit oder Fülle sich als metaphysische Begriffe wesentlich einer Dynamik verdanken: einem Identifikationsverhältnis zwischen Bewusstsein und mündlicher Sprache. Die Geschichte der Philosophie lässt sich für Derrida als Geschichte der Ableitung philosophischer Ideen aus der Praxis des gesprochenen Wortes schreiben. Das mündliche Gespräch wurde daher lange als privilegierter Fall der Gegenwart von Konzepten wie Sein, Vernunft oder Rationalität betrachtet. Übersehen wird jedoch die Rolle der Schrift, die Derrida durch seine Grammatologie rehabilitieren möchte. Mit dem Begriff Schrift ist bei Derrida zweierlei gemeint: einerseits das Medium der Schrift; andererseits dient Derrida die Schrift als ein Begriff für die Performanz der allgemeinen differenziellen Verweisstruktur der Zeichen. Der Begriff Schrift bezeichnet bei Derrida also stets auch eine Struktur innerhalb der auf Zeichen beruhenden mündlichen Sprache selbst, und damit etwas, das für die strukturelle Logik aller Zeichensysteme gilt. Beide Perspektiven auf die Schrift – die Bedeutung der Schrift als Medium und die Bedeutung der Schrift als Verweisstruktur der Zeichen – ergänzen sich bei der Betrachtung des Verhältnisses von Bewusstsein und Sprache. Anhand der Ignoranz der Philosophie gegenüber der Rolle der Schrift zeigt Derrida symptomatisch auf, dass das Identifikationsverhältnis von Bewusstsein und Sprache stets auf das Medium Schrift angewiesen und in die differenzielle Verweisstruktur der Zeichen verstrickt ist. Das Verhältnis von Bewusstsein und Sprache kann seiner Ansicht nach deshalb nicht länger als Identifikationsverhältnis gedacht werden. Zwischen Bewusstsein und Sprache existiert eine fundamentale Differenz. Als in der Verweisstruktur der ›Schrift‹ mediatisiert sind Bewusstsein und Sprache einander äußerliche Systeme. Sie können sich zwar partiell überlagern, weichen aber ebenso grundsätzlich voneinander ab. Von einer Identität zwischen Bewusstsein und Sprache – zum Beispiel in einer zum Idealfall des vernünftigen und toleranten Gedankenaustausches stilisierten mündlichen Gesprächssituation unter Anwesenden – kann nicht länger als Referenzsituation für philosophische Argumente ausgegangen werden. Die Philosophie muss stattdessen aus einer Perspektive, welche die Logik der Differenz zwischen Bewusstsein und Sprache untersucht, kritisiert werden – und das leistet Derridas Denken der ›Dekonstruktion‹. Derrida hat durch seinen weithin rezipierten Ansatz nicht nur die 146 | Unter ›linguistic turn‹ firmiert nicht zwingend nur die durch den Philosophen Richard Rorty 1967 explizit so benannte Wende zu sprachphilosophischen Themen im Rahmen der analytischen Philosophie, sondern auch das äquivalente Interesse für die Sprache im Rahmen der sog. ›kontinentalen‹ Philosophie. Vgl. Rorty (Hg.): The Linguistic Turn.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Schrift als einen Gegenstandsbereich der Philosophie rehabilitiert. Sein Forschungsprogramm beeinflusste viele der bis heute maßgeblichen Grundkonzepte der Kultur- und Medienwissenschaften. In der Kulturwissenschaft wird beispielsweise die zum ›Text‹ generalisierte ›schriftliche‹ Verweisstruktur der Zeichen stellenweise zum definierenden Kriterium von Kultur schlechthin erhoben (›Kultur als Text‹). Und in der Medienwissenschaft hat die Kritik des »Phonozentrismus« aus Perspektive der Schrift entscheidenden Anteil bei der Ausbildung einer medienphilosophischen Forschungsperspektive gehabt.147 Wenngleich das mit Diagrammen und der Diagrammatik selbst noch wenig zu tun hat, ist es wichtig, diese Kritik als Hintergrundinformation einzublenden. Nur so bekommt man ein Verständnis dafür, welchen Sinn es machen kann, in der kultur- und medienwissenschaftlichen Theorielandschaft eine ›Diagrammatologie‹ einzufordern und zu positionieren. Zumindest im Fall der ›Diagrammatology‹ des Philosophen Frederik Stjernfelt ist diese Bezugnahme aber eine bestenfalls rhetorische. In Stjernfelts Rekonstruktion der Peirce’schen Diagrammatik und ihrem Abgleich mit phänomenologischen und strukturalistischen Ideen spielt Derridas Denken keine Rolle. Überhaupt fallen die Rückbezüge zum Poststrukturalismus bei Stjernfelt denkbar knapp aus. Man mag das begrüßen und es ändert auch nichts am grundlegenden Charakter von Stjernfelts Arbeit. Ebenso wenig sollte aber übersehen werden, dass Stjernfelt damit die gesamte Tradition der semiologisch motivierten poststrukturalistischen Kritik an der phänomenologischen Bewusstseinsphilosophie ausklammert und auch die Radikalisierung des Strukturdenkens im Sinne einer Prozessualisierung von Strukturen außen vor lässt. Dieses Defizit führt zu weiterführendem Diskussionsbedarf, wenn die Diagrammatik kultur- und medientheoretisch nutzbar gemacht werden soll. Einen Vorschlag in genau dieser Hinsicht hat die Philosophin Sybille Krämer unterbreitet. Krämer versteht ihre ›Diagrammatologie‹ als Kritik an der Derrida’schen Perspektive. Sie weist darauf hin, dass mit Derrida zwar einerseits die Fixierung auf die mündliche Sprache aufgebrochen und der Blick für das Medium der Schrift freigestellt worden sei; andererseits habe Derrida die Schrift durch seine auf die mündliche Kommunikationssituation bezogene Kritik gleichwohl nach wie vor aus dem Horizont ihrer Abhängigkeit von der Sprache heraus definiert. Schrift sei auch bei Derrida verschriftlichte Sprache. Die dekonstruktivistische Kritik am »Phonozentrismus« führe deshalb zu einem kultur- und medienwissenschaftlichen »Skriptizismus«, der die bildlichen Dimensionen der Schrift übersehe.148 Den Schritt in eine von der Sprache abhängige Betrachtung der Schrift könne man erst vollziehen, wenn man die Schrift nicht länger in Relation zur Sprache, sondern hinsichtlich ihrer visuellen Dimensio-

147 | Vgl. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie, S. 98ff. 148 | Vgl. Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 97.

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D IAGRAMMATIK nen betrachte, was wiederum zu einer neuen Form von ›Diagrammatologie‹ führe. Im Vordergrund steht bei Krämer damit die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Frage nach der Erzeugung von Wissen. Sie fragt: »Können wir die abendländische Episteme (auch) als eine ›diagrammatologische Vernunft‹ verstehen oder gar ausweisen? Spielen […] in das Sichtbare vergegenständlichte räumliche Strukturen und Schemata kognitiver Sachverhalte nicht nur in der Darstellung, sondern auch beim Erwerb und beim Begründen von Wissen eine grundlegende Rolle?«149 Anschließen kann Krämer dabei an die medientheoretische, der Sache nach aber auch bewusstseinsphilosophisch, kulturtheoretisch, ja sogar technikphilosophisch relevante Konsequenz der Dekonstruktion, die Wissensproduktion durch Diagramme als das Ergebnis von notwendig in Medien externalisierten Bewusstseinsleistungen zu begreifen. Denken ist für Derrida immer in Medien verkörpertes Denken und veräußerlichtes Denken. Eine ideale Innerlichkeit der Gedanken gibt es nicht, sondern der Prozess des Denkens ist insofern ein ›konstruktivistischer‹ Sachverhalt, als die Inhalte des Denkens von Medien mit hervorgebracht werden. Dies führt nicht zwangsläufig zur Position eines sogenannten »Mediengenerativismus«,150 prägt aber in entscheidendem Maße den konstruktivistischen Grundkonsens weiter Teile der kultur- und medienwissenschaftlichen Forschung. Krämers Verdacht gegenüber einer allzu schriftzentrierten Perspektive Derridas ist verschiedentlich geteilt und sogar als ein generelles Merkmal des französischen Poststrukturalismus betrachtet worden.151 Die Aufgabe, die sich hieraus für die Kultur- und Medienwissenschaften ableiten lässt, ist zum einen, neben der Schrift und dem Text vor allem die Analyse audiovisueller Medien wie den Film oder das Fernsehen, aber auch das Theater oder die Malerei in eine poststrukturalistisch akzentuierte Diagrammatologie einzubinden; zum anderen wären auch andere Diskurse als nur der philosophische zu beachten, also Literatur, Kunst, Wissenschaft, Populärkultur etc. Natürlich ist all dies mit Derridas erweitertem Schriftbegriff im Prinzip gut möglich. Dennoch ist es ein reizvolles Unterfangen, das Projekt einer ›Diagrammatologie‹ aus dem Horizont einer Kritik am ›Skriptizismus‹ Derridas herauszulösen und eine Diskussion mit denjenigen poststrukturalistischen Positionen zu beginnen, die sich ausführlicher mit der Diagrammatik auseinandergesetzt haben. Gillles Deleuze wäre ein Name für eine solche Position.

149 | Krämer: »Operative Bildlichkeit«, S. 98. 150 | Vgl. hier insb. Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 298ff. 151 | Vgl. Jay: Downcast Eyes.

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II. Gilles Deleuze: Diagramme als Metaphern für eine Methode Ein Denker, dessen Werk sich für eine andere Form von ›Diagrammatologie‹ in besonderem Maße eignet, ist Gilles Deleuze. Mit Deleuze kann das Konzept einer ›Diagrammatologie‹ wesentlich konkreter aufgefüllt werden als im Rückgriff auf Derrida. Neben Michel Serres zählt Deleuze zu den poststrukturalistischen Autoren, die am konsequentesten räumliche Begriffe mit diagrammatischem Charakter verwendet haben. Mit Derrida teilt Deleuze eine kritische Perspektive auf die westliche Ideengeschichte. Deleuze entwickelt diese Perspektive – so jedenfalls in dem mit dem Psychoanalytiker Felix Guattari verfassten Buch Tausend Plateaus – mit dem provokanten Anspruch, dass diagrammatisches Denken mit den Grundaxiomen des westlichen Denkens unvereinbar ist. Die Kritik an der Philosophie- bzw. Ideengeschichte ist bei Deleuze eine ›diagrammatologisch‹ vorgeformte. Die ›Diagrammatologie‹, die sich in Deleuze’ Schriften abzeichnet, ist dabei ein Teil des kritischen Projektes von Deleuze – ja man könnte sogar sagen, dass die Diagrammatik ein zentraler Bestandteil seiner Philosophie ist.152 Ebenso wie das Denken Derridas und anderer Poststrukturalisten, ist Deleuze’ Philosophie schwierig von der Schreibpraxis zu isolieren, in der sie verfasst ist. Deleuze begreift die Philosophie als eine Schreibpraxis, die im Unterschied zu anderen Praxen, welche einer chaotischen Welt Ordnung geben (Wissenschaft oder Kunst), auf die Erschaffung von Begriffen zielt. Philosophie ist eine kreative Tätigkeit, eine »creatio continua«.153 Die Begriffe, die in philosophischen Texten hervorgebracht werden, sollen Erfahrungen beschreiben, die anderweitig keine Gestalt bekommen würden. Doch diese Ebene der Erfahrung ist dem Begriff nicht vorgelagert. Der Begriff bringt die Erfahrung dadurch, dass er sie beschreibt, vielmehr hervor. Die Philosophie muss mit dieser kreativen Unschärferelation arbeiten: Ihre Begriffskreationen verfehlen ihre Gegenstände einerseits systematisch, andererseits erzeugt und ordnet der Begriff diese Gegenstände. Greifbarer wird diese kreative Dimension philosophischer Arbeit, wenn man sich die Begriffe ansieht, die Deleuze geprägt hat. Einer der schillerndsten Begriffe ist der des »Rhizoms«.154 In dem theoretischen Schlüsselwerk Tausend Plateuas dient dieses dezentral wachsende Wurzelwerk Deleuze und Guattari zur Charakterisierung einer Denkpraxis, die im Gegensatz zum hierarchischen, zentral strukturierten Denken nach

152 | Der Begriff der »Diagrammatology« findet sich auf Deleuze bezogen bei Knoespel: »Diagrams« sowie Langer: »Diagrammatologie«. Vgl. zur diagrammatischen Dimension in Deleuze’ Gesamtwerk die Beiträge in Blatt (Hg.): Penser par le diagramme. 153 | Vgl. Deleuze/Guattari: Was ist Philosophie?, S. 13. 154 | Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 16ff.

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D IAGRAMMATIK dem Muster des »Baums« steht.155 ›Rhizom‹ und ›Baum‹ sind für Deleuze und Guattari zwei Erkenntnisschemata, die sich in unterschiedlichen Diskursen wiederfinden lassen. Die Metaphorik des Begriffs ›Rhizom‹ soll dazu beitragen, diese Ähnlichkeiten zu erkennen.156 Weil aber diese Ähnlichkeiten evoziert werden, lassen sich die Begriffe nicht auf die Inhaltsseite des philosophischen Diskurses beschränken. Vielmehr sind diese Ähnlichkeiten nach einem diagrammatischen Verfahren metaphorischer Projektion hergestellte und konstruierte Ähnlichkeiten. Deshalb können sie nicht auf die Inhaltsseite des Diskurses beschränkt werden, sondern greifen in die Grundanlage des Textes von Deleuze und Guattari selbst ein.157 Deleuze und Guattari entwerfen in Tausend Plateaus also ein Kippbild zwischen der Praxisseite und der Inhaltsseite ihres Textes. Die Verwicklung beider Seiten ist ein ›Diagramm‹, das dazu gehörige Verfahren ›diagrammatisch‹ bzw. ›kartographisch‹: »[…] das Rhizom, das eine Karte und keine Kopie ist. […] Die Karte produziert das Gegenteil einer Kopie, weil sie ganz und gar auf ein Experimentieren als Eingriff in die Wirklichkeit orientiert ist. Die Karte reproduziert kein in sich geschlossenes Unbewusstes, sie konstruiert es.«158 Wie bei fast allen anderen poststrukturalistischen Autoren hat diese Verknüpfung von Schreibpraxis und Argumentation in Kreisen der akademischen Philosophie für wenig Begeisterung gesorgt. Nur weil ein philosophisches Argument seine literarische Formulierung bedenkt, also die Dimension der rhetorischen Konsequenz einschließt, ist es aber nicht automatisch zu disqualifizieren. Was sich im Schreiben praktisch abzeichnet, wollen Deleuze und Guattari nämlich philosophisch verallgemeinern. Die praktischen Konsequenzen, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus für ihr Schreiben reklamieren, sind Ausdruck ihrer philosophischen Ideen, die – und diese Verwicklung denkt das ›Diagramm‹ – nicht von der Ebene der Schreibpraxis abgelöst werden können. Über diese methodologische Komplikation hinaus hat das ›Diagramm‹ in Tausend Plateaus (und auch in anderen Texten von Deleuze) eine große systematische Bedeutung.159 Diese Bedeutung erschließt sich, wenn man den Kontext von Deleuze’ Gesamtprojekt hinzuzieht. Das von Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus dargestellte philo155 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 14. Interessante kulturhistorische Querverbindungen lassen sich hier mit Siegel: Tabula, S. 73ff., ziehen. 156 | Gegen den Begriff der Metapher als Bezeichnung für ihre philosophischen Konzepte haben sich die Autoren allerdings gewehrt. Vgl. Deleuze: Unterhandlungen, S. 46f. 157 | Deleuze arbeitet immer wieder mit Diagrammen, um seine Thesen zu veranschaulichen. Am konsequentesten geschieht das in seinem Buch Die Falte. Vgl. dazu Knoespel: »Diagrams«. 158 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 23f. 159 | Vgl. z.B. die ästhetischen Reflexionen in Deleuze: Francis Bacon, insb. S. 63, auf die auch Rustemeyer: Diagramme, S. 73ff. zurückgreift.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK sophische Programm möchte in seiner ganzen Radikalität dem Umstand Rechnung tragen, dass Denken prozessualen Charakter hat, ja Existenz überhaupt als zielloses Werden, also dynamisch zu verstehen ist. Zu den wichtigsten Anliegen der Autoren gehört es deshalb, qualitative Begriffe für diese prozessuale Entstehung des Empirischen zu entwickeln. Verschiedentlich wird dieses Programm von Deleuze (bewusst widersprüchlich) als »Transzendentaler Empirismus« bezeichnet.160 Dieser »Transzendentale Empirismus« zielt auf die Immanenz des konkreten Werdens des Empirischen und der Erfahrung. Verknüpft mit einer Gesellschaftstheorie, in welcher die Modernisierung als Widerstreit zwischen der Tendenz zu einer zunehmenden Abstraktion und Austauschbarkeit von Körpern, Dingen, Beziehungen etc. (»Deterritorialisierung«) einerseits und der Tendenz von Institutionen, Bürokratie etc., eine Ordnung und Stabilisierung dieser Verhältnisse zu erreichen (»Reterritorialisierung«) andererseits, beschrieben wird, begreifen Deleuze und Guattari die Ebene der Immanenz als Konfliktfeld heterogener, differenzieller Kräfteverhältnisse (zum Beispiel dem Begehren), welches durch historisch kontingente Instanzen verwaltet wird, die u.a. Subjektivierung erzwingen. Eine für das Wirken dieser (in der Deleuze’schen Terminologie) »transzendentalen« Instanzen entscheidende Schnittstelle ist die bereits von Kant aufeinander bezogene Differenz zwischen Sinnlichkeit und Begriff.161 Auch Deleuze interessiert sich für diese Differenz (und den dazu gehörigen Schematismus). Für Deleuze handelt es sich bei der Grenze zwischen Sinnlichkeit und Begriff nämlich um eine »nichtbegriffliche«162 Differenz, durch welche das Empirische, also das konkret Gegebene, erst seine Gestalt erhält. An dieser Grenzlinie gewinnt das Sinnliche seine Form und unterliegt einem Entwurfs- und Gestaltungsprozess, der in Tausend Plateaus naheliegenderweise mit dem Begriff ›Diagramm‹ in Verbindung gebracht wird. Wie so viele andere Theoretiker siedelt also auch Deleuze seine Begriffe des Diagramms und der Diagrammatik an der Bruchstelle zwischen Sinnlichkeit und Begriff an. Hier schließt der Gedankengang auch wieder zum Rhizom auf: Das Rhizom ist ein ›Diagramm‹ bzw. eine ›Karte‹, weil es einerseits als philosophischer ›Begriff‹ im Deleuze’schen Sinne ein heterogenes und mannigfaltiges Feld beschreibt, dieses Feld aber andererseits ›diagrammatisch‹ hervorbringt. Durch die Attributierung des Rhizoms als ›Diagramm‹ bzw. ›Karte‹ kennzeichnet Deleuze also auf einer performativen Ebene eine entwerfende philosophische Praxis, wie er umgekehrt den Rhizom-Be160 | Deleuze: »Die Immanenz: ein Leben«, S. 365. Vgl. dazu Rölli: Gilles Deleuze. 161 | Das ›Transzendentale‹ ist damit keine jeder Erfahrung zugrunde liegende Ebene, sondern die innerweltliche Ebene der Bedingungen, durch die Erfahrung geprägt wird, also ein Begriff der Immanenz. Vgl. dazu die ausgezeichnete Kurzdarstellung bei Härle: »Gilles Deleuze«, S. 118f. 162 | Härle: »Gilles Deleuze«, S. 119.

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D IAGRAMMATIK griff auf der propositionalen Ebene als Strukturbegriff für eine Instanz der Organisation des Empirischen in Stellung bringt.163 Als Diagramm bringt das ›Rhizom‹ den Gegenstand, den es beschreibt, entwerfend mit hervor.164 Daraus folgt: Für Deleuze ist das Philosophieren – jedenfalls dann, wenn es eine kreative Praxis des Erschaffens von Begriffen ist – eine ›diagrammatische‹ (alternativ: ›kartographische‹) Praxis. Freilich gilt: Auch der ›Baum‹ und das dazugehörige westliche Denken sind ›diagrammatische‹ Verfahren. Nichts macht das klarer als die Kritik dieses Denkens, die Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus üben. Bezeichnenderweise sind es linguistische Stemmata, welche von den Autoren als Beispiele für das durch das Erkenntnisschema des ›Baums‹ strukturierte klassisch abendländische Denken attackiert werden.165 Wenn sich Deleuze und Guattari allerdings gegen die nach diesem Schema organisierte Denkweise – etwa Vorstellungen von ›Geschichte‹ als linearem Prozess – wenden und dagegen das ›Rhizom‹ als eine nicht-lineare ›Geographie‹-Praxis in Stellung bringen, dann bedeutet dies, dass beide Denkweisen zwar gegensätzlich sind, sich aber als verschiedene Effekte der gleichen strukturellen Bedingungen lesen lassen. Sowohl die ›baumhafte‹ als auch die ›rhizomatische‹ Praxis können strukturell als ›Diagramm‹ analysiert werden. Als Begriff für soziokulturell konventionalisierte Strukturen bezeichnet das ›Diagramm‹ bei Deleuze deshalb eine besondere Form der strukturellen Vorprägung jener differenziellen und widerstreitenden Kräfteverhältnisse, durch welche Wirklichkeit hervorgebracht und geordnet wird. Diese Vorprägung ereignet sich allerdings nicht transzendental vor der Erfahrung, also unabhängig von jeder Kultur und Geschichte, sondern mit der Erfahrung und wirkt auf die Erfahrung ein – ist also kulturell eingebettet und historisch wandelbar. Näher veranschaulicht wird das in Tausend Plateaus, wenn die Autoren die Differenz zwischen Sinnlichem und Begrifflichem als Übergangsbereich von komplexen Zeichenregimen und Materiesystemen ausweisen. Die Differenz zwischen Sinnlichem und Begrifflichem wird von Deleuze und Guattari als dynamische Bewegung begriffen, in der sich erst 163 | Auch bei Foucault und Serres wird das ›Diagramm‹ zur Bezeichnung einer Praxis/Inhalts-Verwicklung verwendet. Vgl. Gehring: »Paradigma einer Methode«. 164 | Deleuze und Guattari setzen das Rhizom in Tausend Plateaus (S. 28) explizit mit dem Diagramm gleich. Anlässlich einer Diskussion der Struktur des Gehirns heißt es: »Die Differenz ist allerdings nicht nur quantitativ: das Kurzzeitgedächtnis gehört zum Typus Rhizom oder Diagramm, während das Langzeitgedächtnis baumartig und zentralisiert ist.« 165 | Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 14: »Selbst eine so fortgeschrittene Disziplin wie die Linguistik behält das grundlegende Bild des WurzelBaumes bei (Chomskys syntagmatischer Baum geht von einem Punkt S aus und wird durch Dichotomien erweitert).«

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK die »Gefüge«166 von zeichenhafter Bedeutung und materiellem Ort herausbilden.167 Die Gesamtheit der Relationen zwischen Zeichenhaftem und Materiellem unterliegt dadurch einer konfigurierenden Schematisierung. Das Diagramm ist somit eine, wie es heißt, »asignifikative«168 (bzw. amaterielle) Größe, die in Zeichen- und Materiesysteme zurückwirkt, indem sie die Relationen der Einheiten dieser Systeme anordnet. Diagramme sind rahmenbildende soziokulturelle Schemata, in denen sich semiotische oder materielle Prozesse vollziehen und konkretisieren – »abstrakte Maschinen«, die das, was semiotisch oder materiell in »konkrete Maschinen« überführt werden kann, prägen.169 Wie vergleichbare postrukturalistische Theoriemodelle fungiert das Diagramm in Tausend Plateaus daher als ein ›quasi-transzendentales Schema‹.170 Der Begriff des Diagramms gewinnt damit eine Bedeutung, die sich mit verschiedenen Begriffen von Foucault abgleichen lässt, vor allem dem des »Dispositivs«.171 Diese Tendenz wird bereits in Tausend Plateaus, dann aber vor allem anhand von Deleuze’ Ausführungen in seinem Buch Foucault klarer.

III. Deleuze und Foucault: Diagrammatik als transformative Pragmatik Michel Foucault hatte den Begriff ›Diagramm‹ in Überwachen und Strafen verwendet. Das Diagramm erscheint dort in einem ganz ähnlichen, wenn auch in seiner Bedeutungsvielfalt limitierteren Sinne als bei Deleuze und Guattari. Auch bei Foucault geht es primär um das Diagramm als Begriff für soziokulturell konventionalisierte Strukturen, in diesem Fall für die Machtverhältnisse, die das Panopticum als Modell für einen Gefängnisbau (Jeremy Bentham) hervorgebracht haben.172 In der Architektur des Panopticums erkennt Foucault ein »panoptisches Schema«,173 das der auf seine Grundprinzipien reduzierte Ausdruck einer Machtfunktion ist.174 Deleuze greift diesen Gedanken auf. So spricht er hinsichtlich Über166 | Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 193. 167 | Explizit sehen die Autoren ihren Begriff des Gefüges in einer Tradition mit den Foucault’schen Begriffen der Episteme, des Diskurses und des Dispositivs. Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 194. 168 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 191. 169 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 191ff. 170 | Vgl. dazu auch Waldenfels: Grenzen der Normalisierung, S. 56f. 171 | Vgl. Haß: Das Drama des Sehens, S. 55ff. 172 | Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 264. 173 | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 265. 174 | Stark rezipiert wurden Foucaults und Deleuze’ Diagramm-Begriff in der Architekturtheorie. Vgl. Eisenman: Diagram Diaries, Langer: »Diagrammatologie«, Heindl/Robnik: »Der Entwurf des Diagamms«, im Kontext aber auch Haß: Das Drama des Sehens.

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D IAGRAMMATIK wachen und Strafen von einer »Gefängnis-Maschine«175 als Beispiel für das Zusammenwirken von materieller und zeichenhafter Disziplinarmacht. Ein Gefängnis ist für Deleuze allerdings eine konkrete Maschine. Das bedeutet, dass der konkreten Maschine eine abstrakte Maschine zugrunde liegt, die auf Basis eines »informelle[n] Diagramm[s]« diagrammatisch operiert.176 Dieses informelle Diagramm ist eine Anordnung derjenigen heterogenen Diskurse, Interessen, Zeichen etc., die das Gefängnis als konkrete und historisch spezifische Verkörperung von Machtinteressen erst ermöglicht und in seiner sichtbaren Form hervorgebracht haben.177 Das Diagramm ist für Deleuze also ein der primären Sichtbarkeit entzogener Kristallationspunkt, der eine Anzahl von heterogenen Elementen so konfiguriert, dass sie soziokulturell wirksam werden.178 In ähnlicher Weise hatte auch Foucault in Überwachen und Strafen das »Diagramm« als einen Begriff für das verwendet, was einen Machtmechanismus in seiner »idealen Form« beschreibt, dabei aber nicht so deutlich zwischen der sichtbar-materiellen und unsichtbar-ideellen Seite des Diagramms differenziert.179 Darüber hinaus findet sich bei Deleuze verschiedentlich das Bemühen, gegenüber Foucault mit dem Begriff des Diagramms stärker das Moment der kreativen Hervorbringung und der Deterritorialisierung zu beschreiben. In Tausend Plateaus heißt es: »Die einzigen Punkte, in denen wir nicht mit Foucault übereinstimmen, sind: 1. Für uns sind Gefüge nicht in erster Linie Gefüge der Macht, sondern des Begehrens, da das Begehren immer Gefüge bildet und die Macht eine stratifizierte Dimension des Gefüges ist. 2. Das Diagramm oder die abstrakte Maschine haben Fluchtlinien, die primär sind, die in einem Gefüge keine Phänomene des Widerstands oder Gegenangriffs sind, sondern Punkte der Schöpfung und der Deterritorialisierung.«180

Das Diagramm ist ein auf abstrakte Prinzipien und Relationen bezogenes Ordnungsprinzip, das immanent kreativ und nicht universell festgelegt, sondern manipulierbar ist, dessen mögliche Permutationen aber 175 | Deleuze: Foucault, S. 59. 176 | Vgl. Deleuze: Foucault, S. 58f., Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 195: »Eine abstrakte Maschine an sich ist nicht physisch oder körperlich, und auch nicht semiotisch, sie ist diagrammatisch (sie kennt auch keine Unterscheidung zwischen künstlich und natürlich). Sie wirkt durch Materie und nicht durch Substanz, durch Funktion und nicht durch Form.« 177 | Vgl. Deleuze: Foucault, S. 60f. Das Gefängnis »[…] existiert als Dispositiv erst, wenn ein neues Diagramm, das Disziplinar-Dispositiv, es die ›technologische Schwelle‹ überschreiten lässt.« 178 | Vgl. auch Deleuze: Foucault, S. 52, S. 53, S. 56. 179 | Foucault: Überwachen und Strafen, S. 264f. 180 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 194, Anm. 37.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK dennoch einer Logik folgen, die je nach gewähltem soziokulturellem Bezugssystem variieren.181 Einer der Gründe dafür, dass Deleuze zu einer anderen Ausdeutung von ›Diagramm‹ gelangt als Foucault, könnte damit zusammenhängen, dass bei Deleuze zumindest ansatzweise eine Rezeption der Peirce’schen Ausführungen zum Diagramm stattgefunden hat. Neben Foucault wird in Tausend Plateaus auf Peirce als Einfluss für den Diagrammbegriff verwiesen. Rezipiert haben Deleuze und Guattari allerdings nur die Peirce’sche Klassifikation des Diagramms als Unterkategorie des Ikons. Die entscheidende Theorie des diagrammatischen Schließens bleibt in den direkten Bezugnahmen unberücksichtigt.182 Dennoch ist auffällig, dass die größten Unterschiede zu Foucault dort sichtbar werden, wo Deleuze und Guattari nicht über das Diagramm, sondern über diagrammatische Operationen im Sinne der Diagrammatik sprechen. Der Unterschied zu Foucault besteht darin, dass sich bei Deleuze und Guattari eine Theorie der Diagrammatik findet, die nicht einfach nur aus den Konnotationen des Begriffs »Diagramm« und seinen anhängigen Sprachspielen Kapital schlägt. Deleuze und Guattari versuchen, eine transformierende Übersetzungsbewegung auf pragmatischer Ebene, so zum Beispiel in Bezug auf die Übersetzung verschiedener »Zeichenregime« untereinander, zu denken. Sie vermerken: »[…] Transformationen, die die Semiotiken oder Zeichenregime […] auf der Konsistenzebene einer absoluten, positiven Deterritorialisierung auseinandersprengen, können diagrammatisch genannt werden.«183 Das Diagramm ist also ein inhärent kreativer Prozess in Zeichensystemen: »Das Diagramm ist grundlegend instabil oder fließend und wirbelt unaufhörlich die Materien und Funktionen so durcheinander, daß sich unentwegt Veränderungen ergeben. […] Es funktioniert niemals so, daß es eine präexistierende Welt abbildet; es produziert einen neuen Typus von Realität, ein neues Modell von Wahrheit. […] Es macht die Geschichte, indem es die vorherigen Realitäten und Bedeutungen auflöst und dabei ebensoviele Punkte der Emergenz oder der Kreativität, der unerwarteten Verbindungen und der unwahrscheinlichen Übergänge bildet. Es fügt der Geschichte ein Werden hinzu.«184

Als Teil der Kategorie einer »transformative[n] Pragmatik«185 ist das Diagramm in dieser erweiterten Bedeutung also nicht nur der idealisierte Ort der Durchsetzung eines soziokulturellen Funktionsmechanismus. Aufgrund diagrammatischer Operationen – sprich: einer prozessualen 181 | Vgl. die Abgrenzung der Operationalität des Diagramms von einer Logik der »Axiomatik« in Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 198f., vgl. auch Deleuze: Unterhandlungen, S. 52f. 182 | Vgl. Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 196. 183 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 188. 184 | Deleuze: Foucault, S. 53. 185 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 192.

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D IAGRAMMATIK Seite im Diagramm selbst – ist das Diagramm verantwortlich für kreative Prozesse der »Deterritorialisierung«, durch die Neuartiges in die Welt kommt. Das Diagramm ist, mit anderen Worten, durch die »transformative Komponente«186 diagrammatischer Operationen in Zeichen- oder Materiesystemen ausgezeichnet. Diese Prozesse, und hier liegt auch die Rückbindung an das soziokulturelle Verständnis des Diagramms als Strukturbegriff, werden von Deleuze und Guattari als praktische Prozesse begriffen. Neben ihrer Bedeutung als methodischer und struktureller Begriff ist die Diagrammatik also Teil eines denkbar radikalen Begriffs von Pragmatik, der das gesamte Ensemble der konkreten Hervorbringungen an der Schnittstelle von semiotischer und materieller Ebene beschreiben möchte: »Die Sprache beruht auf Zeichenregimen und Zeichenregime auf abstrakten Maschinen, diagrammatischen Funktionen und Maschinengefügen, die über jede Semiologie, Linguistik und Logik hinausgehen. Es gibt ebensowenig eine universelle Aussagenlogik wie eine Grammatikalität an sich oder einen Signifikanten an sich. ›Hinter‹ den Aussagen und Semiotisierungen gibt es nur Maschinen, Gefüge und Deterritorialisierungsbewegungen, die durch die Stratifizierungen der unterschiedlichen Systeme hindurchgehen und den Koordinaten der Sprache wie der Existenz ausweichen. Deshalb ist die Pragmatik keine Ergänzung der Logik, Syntax oder Semantik, sondern im Gegenteil das grundlegende Element, von dem alles abhängt.«187

Zweifelsohne treiben Deleuze und Guattari die Ausdeutung des Diagramms an eine Grenze, wohin man ihr aus den traditionellen semiotischen, symboltheoretischen oder phänomenologischen Perspektiven kaum noch folgen wird. In erweiterten kultur- und medienphilosophischen Kontexten kann ihre Perspektive aber von Gewinn sein, da die Deleuze’sche Variante einer ›Diagrammatalogie‹ nicht nur reichhaltige Verbindungen in Richtung verschiedener Forschungsgebiete wie Malerei, Literatur oder Film bietet, sondern, unter Einbeziehung Foucaults, auch das eminent wichtige Gebiet der Architektur berührt. Mit Deleuze und Foucault sind Denker aufgerufen, die das Diagramm und die Diagrammatik im Kern als eine soziokulturelle (Zeichen-)Praxis begreifen, welche tief in die Organisation von Denken, Gesellschaft und Kultur eingreift und sogar einen ihrer wichtigsten Funktionsmechanismen darstellt.188 Neben den primär epistemologischen und ästhetischen 186 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 192. 187 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 203. 188 | Vgl. Langer: »Diagrammatologie«, S. 75f., der den Diagrammbegriff bei Deleuze und Foucault so zusammenfasst: »Das Diagramm ist eine Einheitsform, die heterogene Strukturen aufeinander bezieht, ohne sie unter eine stabile Bedeutung oder eine konstante Form zu subsummieren; es steht für eine Öffnung des akademischen Diskurses auf die Vielfalt realer, alltäglich-banaler Auseinan-

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Erörterungen führt die Deleuze’sche Sichtweise eine kulturkritische Perspektive in die Diskussion ein, in der die Diagrammatik nicht als wohlgeordnetes logisches Verfahren innerhalb der Wissenschaft lesbar wird, sondern als ein Begriff für die vorläufigen, hypothetischen und entwerfenden Modulationsverfahren in soziokulturellen und ästhetischen Prozessen.

4.3 J E AN P IAGE T, U LRIC N EISSER UND N IKL AS L UHMANN Foucault und Deleuze denken in großen Zusammenhängen. Es geht ihnen um Machtverhältnisse und Diskursfelder oder um Denkbilder, die auf die Bewegung der Materie reflektieren. So reizvoll es sein mag, diagrammatische Operationen auf diese Makro-Konzepte zu beziehen, so wichtig ist es, abschließend zurückzukommen auf die Mikrostruktur des anschaulichen Denkens und seine Genese. In den Fokus der Aufmerksamkeit rückt damit noch einmal ein Begriff, der die Theoriegeschichte des Schaubilds wie ein Leitmotiv durchzieht: der Begriff des Schemas. Die moderne, pragmatisch orientierte Semiotik und das Konzept der Diagrammatik sind von Peirce in einem langwierigen und komplizierten Prozess entwickelt worden, der nachhaltig durch die Auseinandersetzung mit dem Schematismus-Kapitel in Kants Kritik der reinen Vernunft geprägt war. Der Philosoph aus Königsberg war aber keineswegs der erste, der den Schemabegriff verwandte. Vielmehr stellt die spezifische Wendung, die er dem Begriff gab, die Ausnahme von der bereits in der Antike etablierten Regel dar, in geistigen Handlungen körperliche Handlungen wiederzuerkennen und den Schemabegriff einzusetzen, um mentale und sensomotorische Aktivitäten zu parallelisieren. Bereits Xenophon wandte den Begriff des Schemas in diesem Sinne sowohl auf die Stellung und Bewegung des menschlichen Leibes wie auf die seelische Verfassung des Menschen an; Theophrast verwies dann ausdrücklich auf den Zusammenhang von Schema und Redefigur.189 In der Gymnastik werden bestimmte Figuren und Bewegungsmuster eingeübt und vollzogen; in der Rhetorik bestimmte Gedankenfiguren an bestimmte Ausdrucksformen gekoppelt; hier wie dort zielt die körperliche Handlung, zu der ja auch die Ausführung von Sprechakten gehört, auf die Gemütsbewegung ab. Besonders aufschlussreich ist die Formulierung, die Quintilian in seiner Institutio oratoria wählt, als es um die genaue Differenzierung von Redefigur und Schema geht: dersetzungen; es ist Teil einer fundamentalen Kritik an traditionellen Formen des Diskurses (Geschichte und Philosophie) und es soll, zumindest bei Deleuze, eine philosophische Reformulierung transzendentaler Kategorien bieten, die nicht mehr den Gesetzen des Begriffs (Identität und Widerspruch, Subsumption und Exklusion usw.) folgen.« 189 | Vgl. Steudel-Günther: »Schema«.

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D IAGRAMMATIK »Daher ist zunächst ins Auge zu fassen, was wir unter Figur verstehen sollen. Das Wort wird nämlich auf zweierlei Art gebraucht: einmal für jede Form, in der ein Gedanke gestaltet ist, wie sich auch die Körper, sie mögen in beliebiger Weise gestaltet sein, jedenfalls immer in irgendeiner Haltung befinden; zweitens für die Form, die im eigentlichen Sinn Schema heißt, als eine wohlüberlegte Veränderung im Sinn oder Ausdruck gegenüber seiner einfachen Erscheinungsform, so wie wir auch sitzen, uns lagern, zurückschauen.«190

An dieser Bemerkung fällt zunächst auf, dass Quintilian den Begriff des Schemas gerade nicht so verwendet, wie er heutzutage gebraucht wird. Das Schema ist für ihn nicht die Einhaltung, sondern die sinnfällige Umgestaltung der Grundfigur. Besteht diese zum Beispiel in der aufrechten Haltung des Menschen, so folgen die Körperstellungen, die von dieser Grundfigur abweichen – das Sitzen, Liegen, Bücken usw. – Schemata. Man kann diesen Gedanken so verstehen, dass bestimmte Körperhaltungen, die von der Grundfigur des Stehens abweichen, Bewegungsplänen folgen, die von Fall zu Fall kaum variieren. Schematisch an den Bewegungsabläufen ist der Umstand, dass sie Routinen der Körpermotorik betreffen, Regelfälle der Bewegung, die keiner gesonderten Reflexion bedürfen. Unter dieser Voraussetzung muss es neben der Grundfigur und ihren schematischen Transformationen noch etwas Drittes geben, nämlich Figuren, die sowohl von der Grundfigur als auch von den Schemata abweichen, z.B. die originellen Körperhaltungen, die ein Tänzer einnimmt, wenn er eine neue Choreographie entwickelt. Während die in der Standardchoreographie festgelegten Tanzbewegungen Schemata folgen, gewinnt die neue, originelle Figur durch ihre Abweichung von diesen Schemata Kontur. Das bedeutet zum einen, dass auch die Abweichung so auf das Schema bezogen bleibt, wie das Schema auf die Grundfigur; das bedeutet zum anderen, dass prinzipiell jeder Bewegungsplan – also jede schematische Transformation von einer Figur in eine andere – Spielräume besitzt, wie sie im freien Bewegungstanz genutzt werden. Analog verhält es sich mit den Redefiguren. Einerseits kann man sie als Abweichungen vom gewöhnlichen oder erwartbaren Satzbauschema betrachten; andererseits gibt es in der Rhetorik bestimmte Pläne zur Transformation dieses Satzbauschemas, die nicht unbedingt originell sind. Das zeigt sich nicht zuletzt an den sogenannten ›stehenden Redewendungen‹, die zwar eine von der Grundfigur des grammatikalisch korrekten Satzes abweichende Wortwahl oder Wortstellung aufweisen, aber keineswegs als ungewöhnliches oder gar als unerhörtes Ausdrucksverhalten wahrgenommen werden. Man kann daher im Hinblick auf Körperhaltungen und -bewegungen wie im Hinblick auf (feststehende) Redewendungen konstatieren, dass Schemata vor allem Pläne zur Transformation von Figuren sind. Das gilt 190 | Quintilian: Institutio oratoria, Buch IX.1, S. 10f.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK selbst dann, wenn man – was unter Umständen sehr schwierig oder gar unmöglich sein kann – keine Grundfigur entdecken kann. Schon Quintilian ging ja davon aus, dass sich die Körper »immer in irgendeiner Haltung befinden«. Letzten Endes ist es daher wiederum eine Frage der Konvention, ob man eine Figur – etwa die aufrechte Haltung des Menschen – vor anderen Figuren als Grundfigur auszeichnet oder nicht. In vielen Fällen geht man wohl besser davon aus, dass es ein Ensemble an Standardfiguren gibt, um dann die Schemata, die sie verkörpern, von den Schemata ihrer Transformation sowie von den Figuren abzuheben, die keinem Schema folgen.

I.

Jean Piaget: schéma und schème

Eine ähnliche Unterteilung hat der Genfer Psychologe Jean Piaget vorgenommen. In seiner genetischen Erkenntnistheorie unterscheidet er das figurative Schema (schéma) von dem operativen Schema (schème) seiner planvollen Transformation – eine Unterscheidung, die keineswegs ausschließt, dass es neben der Figur und ihrer Transformation noch ein drittes, nämlich die freie Kreation von Gestalten gibt. Das figurative Schema ist für Piaget eine Gestalt, die von der Einbildungskraft erzeugt wird, wenn die Gestalt eines bestimmten Gegenstandes der Wahrnehmung im Geiste reproduziert wird. Die Genese dieser Fähigkeit zur mentalen Reproduktion ist für Piaget aber, der damit an die antike Regel der Begriffsverwendung anknüpft, an den Vollzug sensomotorischer Akte gekoppelt. Indem Piaget die intellektuellen bzw. imaginären Akte der Gestaltenbildung als von körperlichen Akten abstrahierte und internalisierte Verfahren betrachtet, führt er das figurative und transformative Denken auf Handlungen zurück, die mit dem Leib vollzogen werden. Die genetische Erkenntnistheorie geht davon aus, dass die Fähigkeit, die Grundzüge einer Figur zu erkennen und in anderen Figuren wiederzuerkennen, ebenso wie die Fähigkeit, schematische Ansichten miteinander zu vergleichen und geistige Operationen planvoll anzugehen, in Aktionen und Interaktionen aufgebaut werden, die manuell vollzogen werden. Die geistige Manipulation der Gegenstände durch Vorstellungen verweist auf Handgriffe, die an konkreten Dingen ausprobiert und geübt werden, und resultiert insofern aus einem Wechselspiel von Internalisierung und Abstraktion. Folgerichtig leitet die genetische Erkenntnistheorie alle höheren geistigen Fähigkeiten, etwa das wissenschaftliche Erkennen, evolutionär von Formen der Konstruktion und Reorganisation ab,191 die im Kindesalter mehr oder weniger spielerisch erworben werden. Statt von Konstruktion und Reorganisation hätte Piaget auch von Konfiguration und Rekonfiguration sprechen können. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der genetischen Erkenntnis191 | Vgl. Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, S. 8.

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D IAGRAMMATIK theorie und dem pragmatischen Konzept der Diagrammatik besteht darin, dass beide Ansätze sowohl mit der Bildung als auch mit der Bedeutung von Erkenntnis befasst sind192 und der Tatsache Rechnung tragen, dass die Umbildung von Bedeutungsgestalten nachhaltig zum Erkenntnisfortschritt beitragen kann. Dass diese und andere Gemeinsamkeiten in einem systematischen Zusammenhang stehen, wird deutlich, wenn Piaget eine Unterscheidung trifft, »zwischen zwei Aspekten des Denkens, die sich zwar komplementär zueinander verhalten, aber doch voneinander verschieden sind. Der eine ist der figurative Aspekt, den anderen nenne ich den operativen Aspekt. Der figurative Aspekt des Denkens besteht in der Imitation von als statisch aufgefaßten äußeren Zuständen. Die figurativen Funktionen im kognitiven Bereich sind in erster Linie Wahrnehmung, Nachahmung und geistiges Vorstellen, das nichts anderes ist als internalisierte Nachahmung. Der operative Aspekt des Denkens bezieht sich nicht auf Zustände, sondern auf Transformationen von einem Zustand in einen anderen. Er umfaßt die Objekte oder Zustände transformierenden Handlungen ebenso wie die intellektuellen Operationen, die im Grunde Transformationssysteme darstellen. Solche Operationen sind Handlungen, die sich durchaus mit anderen Handlungen vergleichen lassen, aber reversibel sind; das heißt: sie können in beiden Richtungen ausgeführt werden […], und sie können interiorisiert werden, müssen also nicht wirklich, sondern können durch Repräsentation ausgeführt werden. Die figurativen Aspekte sind den operativen Aspekten immer untergeordnet. Jeder Zustand kann nur als Resultat bestimmter Transformationen oder als Ausgangspunkt für weitere Transformationen verstanden werden.«193

Im Ergebnis führt Piaget die Unterscheidung von schéma und schème zu einer diagrammatischen Konzeption von Erkenntnis: »Erkennen heißt, Realität zu transformieren, um zu verstehen, wie ein bestimmter Zustand zustande kommt. Durch diesen Gesichtspunkt befinde ich mich im Gegensatz zur Abbildtheorie der Erkenntnis, die Erkenntnis als ein passiv empfangenes Abbild der Realität auffaßt. Eine solche Vorstellung beruht auf einem Circulus vitiosus: um ein Abbild herzustellen, müssen wir das Vorbild kennen, das wir abbilden, aber dieser Erkenntnistheorie zufolge besteht die einzige Möglichkeit, das Vorbild zu erkennen, darin, es abzubilden […]. Die Transformationsstrukturen, aus denen Erkenntnis besteht, sind nicht Abbilder der Transformationen in der Realität, sondern nur mögliche isomorphe Modelle, unter denen zu wählen die Erfahrung befähigen kann.«194

192 | Vgl. Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, 20. 193 | Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, S. 21f. 194 | Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, S. 22f.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Wenn auch nicht der Terminologie nach wird damit die Idee eines Zusammenhangs von Diagrammatik und Pragmatik, von theorematischer Deduktion und Induktion, von Schemabildung, Beobachtung und Folgerung expliziert. Es ist die aktive Manipulation, Transformation oder Rekonfiguration der Vorstellungen im Geiste, die zugleich die Erkenntnis der Zusammenhänge und die Erkenntnis der eigenen Handlungsmöglichkeiten befördert. Klärungsbedürftig ist aus Sicht der genetischen Erkenntnistheorie vor allem das Verhältnis von Iteration und Invention. Einerseits führt nur die mehrfache Anwendung und Bewährung eines Schemas iterativ zum Aufbau von stabilen kognitiven Strukturen; andererseits muss sich der kognitive Apparat die Flexibilität erhalten, die erforderlich ist, um Neues zu entdecken und innovativ mit Altbekanntem umzugehen. Es kann ihm nicht nur darum gehen, die fortlaufenden Erfahrungen seinen Strukturen zu assimilieren; er muss sich vielmehr selbst den Erfahrungen akkommodieren, die ja keineswegs immer auf dasselbe hinauslaufen, und zu diesem Zweck die eigenen Konstrukte reorganisieren: »[…] der Übergang von einer Entwicklungsstufe zur nächsten ist immer durch die Bildung neuer Strukturen charakterisiert, die vorher nicht existierten, weder in der äußeren Welt, noch in der Seele des Subjekts. Das zentrale Problem der genetischen Erkenntnistheorie besteht in der Erklärung des Mechanismus dieser Konstruktion neuer Erkenntnisse. Dieser Mechanismus zwingt uns, Erklärungsfaktoren einzuführen, die wir als reflexive Abstraktion und Selbstregulation bezeichnen, Faktoren, die indes nur globale Erklärungen liefern.« 195

Die kybernetische Konzeption einer reflexiven Abstraktion und selbstregulativen Konstruktion, bei der die Invention von der Reorganisation der Denkfiguren und Erkenntnisoperationen abhängt, ist allerdings als Lösungsansatz, wie der Psychologe Hans Aebli und seine Mitarbeiter gezeigt haben, selbst problematisch. Aebli kritisiert an Piagets Auffassung vor allem, dass er nicht mit dem Rückbau geistiger Strukturen rechnet: »Eine einmal konstruierte Operation, ein einmal konstituiertes System, ist ein für allemal aufgebaut. Es bleibt dem geistigen Leben des Kindes einverleibt, und wir kennen keine Stelle bei Piaget, in der er annähme, daß eine solche Operation oder Gruppierung wieder verloren werden könnte.«196 Experimente zeigen jedoch, dass man sowohl die Definitivität der Strukturen als auch die Kontinuität der geistigen Entwicklung bezweifeln muss. Ebenfalls bezweifelt werden muss, dass Anschaulichkeit das Erkennen stets befördert und niemals hemmt. Tatsächlich gibt es Lernprozesse, bei denen eine gewisse Unanschaulichkeit von Vorteil ist.197 Neben dieser Relativierung der Anschaulichkeit verdient die Differen195 | Piaget: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, S. 87. 196 | Aebli/Montada/Steiner: Erkennen, Lernen, Wachsen, S. 24. 197 | Vgl. Aebli/Montada/Steiner: Erkennen, Lernen, Wachsen, S. 50.

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D IAGRAMMATIK zierung der Einbildungskraft Beachtung, die Aebli vornimmt, wenn er das Vermögen eine Vielheit von Gegebenheiten vorzustellen von der Fähigkeit abhebt, diese Gegebenheiten zueinander in Beziehung zu setzen – eine Fähigkeit, die er »Kolligation« nennt.198 Diese Differenzierung war auch schon von Peirce bedacht worden, als er den komplexen Akt der »ratiocination« gliederte. »Der erste Schritt des Schlußfolgerns besteht gewöhnlich in dem Zusammenstellen von bestimmten Propositionen, die wir für wahr halten, die wir aber bisher, wenn wir davon ausgehen, daß es sich um eine neue Schlußfolgerung handelt, noch nicht zusammen oder nicht auf dieselbe Weise miteinander vereinigt haben. Diesen Schritt nennt man Kolligation.«199 Was diesen Schritt so bedeutsam macht, ist, dass er zunächst einmal eine Abduktion darstellt. Indem Gegebenheiten, die als solche feststehen, in ein Verhältnis gerückt werden, das neue Beziehbarkeiten ergibt, erweist sich die Kolligation als heuristische Operation. Als Entwurf (design) neuer Ableitungsmöglichkeiten, die probeweise durchgespielt (display) werden können, bildet sie das Pendant der theorematischen Deduktion, die ein bestimmtes layout variiert. Praktisch ist die eine Operation von der anderen nur dadurch zu unterscheiden, dass die abduktive Kolligation nicht von einer bereits etablierten Konfiguration ausgeht, während die theorematische Deduktion offensichtlich in der Rekonfiguration eines Diagramms besteht, das bereits als Ableitungsschema für korollariale Schussfolgerungen benutzt worden ist. Bei der theorematischen Deduktion geht man von der Explikation dessen, was ein Diagramm impliziert, zur Exploration über; bei der abduktiven Kolligation schafft man ein Diagramm, dessen Implikationen die korollariale Deduktion erfasst.

II. Ulric Neisser: Ikonische Speicherung und schematische Kognition Die Denkansätze von Jean Piaget, die weitgehend mit den Überlegungen von Jerôme Seymour Bruner übereinstimmen, sind nicht nur von Hans Aebli aufgegriffen, sondern auch von dem Psychologen Ulric Neisser fortgeführt worden. Der genealogische Zusammenhang ihrer Studien wird unter anderem daran deutlich, dass Hans Aebli eine Einführung zur deutschsprachigen Ausgabe von Neissers Klassiker Cognition and Reality. Principles and Implications of Cognitive Psychology verfasst hat. Neisser geht davon aus, dass Kognition eine Tätigkeit ist, die sich auf den Erwerb und Gebrauch von Wissen richtet,200 und nicht erst jenseits der Perzeption beginnt. Vielmehr erscheint bereits die Wahrnehmung als eine durch Schemata gesteuerte Form der Strukturbildung, die mit an198 | Vgl. Aebli/Montada/Steiner: Erkennen, Lernen, Wachsen, S. 54. 199 | Peirce: Semiotische Schriften, Bd. 1, S. 222. 200 | Vgl. Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 13.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK deren Formen der Strukturbildung verschränkt ist. Aufgebaut werden in diesem Regelkreis kognitive Landkarten (cognitive maps), die einerseits durch neue Informationen jederzeit umgeschrieben werden können, andererseits aber dazu dienen, Wahrnehmungen lesbar zu machen. Kognitive Landkarten dienen also gleichzeitig der aktuellen Orientierung – z.B. von Bewegungen im Handlungsraum der Realität – und der Erinnerung, die so gesehen nichts anderes als eine Orientierung der Gedanken im virtuellen Gedächtnisraum darstellt.201 Wenn man nun fragt, wie sich das Verhältnis von Perzeptionen und Informationen zu Schemata und kognitiven Landkarten unter der Voraussetzung fassen lässt, dass Kognition (mentale) Aktivität erfordert, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass es diagrammatische Operationen sein müssen, die dieses Verhältnis begründen und gegebenenfalls verändern. Bestätigt wird diese Folgerung unter anderem durch das Modell der ikonischen Speicherung, auf das Neisser rekurriert. Neisser beschreibt diese Art der Speicherung als einen Vorgang, bei dem die (optische) Wahrnehmung an der Peripherie des visuellen Systems, auf der Netzhaut des Auges, für die Dauer von 0,5 bis 2 Sekunden ein Nachbild entstehen lässt, das nicht einfach als Abbildung eines Gegenstandes, sondern – wie Neisser ausdrücklich sagt – als ›Reizmuster‹ verstanden werden muss. Es handelt sich bei diesem Ikon also nicht um ein image, sondern um ein diagram. Folgerichtig erklärt Neisser: »Das Ikon simuliert schlicht die Information für den Rest des Nervensystems, die aufgenommen würde, wenn die wirkliche Vorlage noch da wäre.«202 Mit dem Hinweis auf den simulatorischen Charakter des Ikons trägt Neisser zum einen dem Umstand Rechnung, dass – nachdem die Vorlage nicht mehr da ist – auch keine unmittelbare mimetische Nachbildung dieser Vorlage stattfinden kann. Zum anderen aber – und das ist vielleicht noch wichtiger – kommt es bei der Weiterverarbeitung wie bei der Erinnerung der visuellen Information auch gar nicht auf das genaue Aussehen, sondern auf die Merkpunkte an, die eine (Wieder-)Erkennung des Musters erlauben. Würde die Wahrnehmung nicht diagrammatisiert, wäre kaum zu begreifen, wie das, was Piaget als ›Assimilation‹ bezeichnet hatte, überhaupt möglich sein soll, besteht diese Assimilation doch darin, das Reizmuster auf die kognitiven Strukturen – also auf Schemata – zu beziehen, die ja ihrerseits keine Abbilder (Images) sein können. Und auch der komplementäre Vorgang der ›Akkommodation‹, der Anpassung des Wahrnehmenden an die Strukturen der Realität, bliebe ein unlösbares Rätsel, wenn nicht bereits die Wahrnehmung der Realität struktur- bzw. musterbildend verfahren würde. Unter der Voraussetzung einer Interaktion, die Assimilation wie Akkommodation einschließt, verliert das Schema mithin gerade die Eigenschaft, die man vielfach mit dem Begriff assoziiert, die Vor201 | Vgl. Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 19. 202 | Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 46.

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D IAGRAMMATIK stellung nämlich, dass es starr und nicht flexibel sei: »Das Schema nimmt Information auf, wenn sie bei den Sinnesorgangen verfügbar wird, und es wird durch diese Information verändert. Es leitet Bewegungen und Erkundungsaktivitäten, die weitere Informationen verfügbar machen, und wird durch diese wiederum verändert.«203 Entscheidend ist dabei für Neisser – wie für die antiken Vorläufer der Schematheorie – die Rückkopplung mentaler und sensomotorischer Aktivität: »Wahrnehmungsschemata sind Pläne, um etwas über Objekte und Ereignisse herauszufinden […]. Eine ihrer wichtigen Funktionen beim Sehen ist es, die Erkundungsbewegungen des Kopfes und der Augen zu leiten.«204 Mit anderen Worten: Schemata steuern heuristische Handlungen, die eben nicht einfach nur in Gedanken, sondern mittels Bewegungen vollzogen werden. »Das Schema ist nicht nur der Plan, es führt ihn auch aus. Es ist ein Muster von Handlung wie auch ein Muster für Handlung.«205 Im Ergebnis führt diese Sicht der Dinge zu einem epistemologischen Modell, demzufolge geistige und leibliche Handlungen einen Regelkreis der Welterkundung und Welterschließung bilden, der zugleich offen und geschlossen ist: offen im Hinblick auf eingehende Informationen; geschlossen im Hinblick darauf, dass diese Informationen immer nur schematisch, das heißt als Reiz- und Bewegungsmuster behandelt und auch nur in dieser Form handlungsrelevant werden können. Eingeschränkt wird der durch Schemata vermitteltete Regelkreis von Wahrnehmung und Handlung zum einen durch die knappe Ressource der Aufmerksamkeit sowie zum anderen durch die Struktur der kognitiven Landkarte, in die alle Schemata eingebettet sind. Der ursprünglich durch den Verhaltensforscher Edward C. Tolman geprägte Begriff der »kognitiven Landkarte«206 wird von Neisser synonym mit dem Wort ›Orientierungschema‹ gebraucht, »um zu betonen, daß es eine aktive, Information aufsuchende Struktur ist. Statt die kognitive Landkarte als eine Art von Bild zu definieren, werde ich vorschlagen, daß räumliche Vorstellung selbst nur ein Aspekt des Wirkens der Orientie-

203 | Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 50. 204 | Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 51. 205 | Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 51. 206 | Vgl. Tolman: »Cognitive Maps in Rats and Men«. Wichtig ist, dass Tolman von ›cognitive mapping‹, also von einem proaktiven Verhalten der Welterkundung- und Welterschließung spricht. Seine Versuchstiere orientierten sich durch ein Hin- und Herlaufen im Raum, bei dem Informationen über diesen Raum eingesammelt werden – eine Tätigkeit mithin, in der man die Grundzüge des diskursiven Denkens wiedererkennen kann, denn: »The function of use of such a sampling of running back-and-forth behaviour, i.e. conscious awareness, will be to enhance, reinforce, throw a spot of light upon, some section or area of an environmental field.« (S. 206). Vgl. Tolman: Purposive Behaviour in Animals and Men.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK rungsschemata ist. Wie andere Schemata nehmen sie Information auf und leiten Verhalten.«207 Der andere Aspekt ist die Verhaltenssteuerung. Das ist nun aber der Gesichtspunkt, unter dem sich auch der Blickwinkel auf die Diagrammatik verändert, wenn man sie mit der kognitiven Psychologie korreliert. Liegt nämlich im Fokus der von Piaget und Bruner, Aebli, Neisser u.a. entwickelten Perspektive die Rückkopplung von mentaler und sensomotorischer Aktivität, von Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung, müssen offenbar auch Diagramme als ›proaktive‹ Medien der Welterkundung respektive Welterschließung verstanden werden. Sie zeigen nicht nur einfach Strukturen auf, sie zeigen immer auch Handlungsoptionen an. Vor allem aus diesem Grund ist es gerechtfertigt, von Orientierungswissen zu sprechen. Unter Zuhilfenahme jener Trichotomie, die Peirce für den Interpretanten der Semiose entwickelt hat, kann man folglich sagen: Indem Diagramme, wie alle Zeichen, das unmittelbare Objekt der Wahrnehmung in ein dynamisches Objekt der Vorstellung überführen, stimulieren sie dynamisch-energetische Interpretanten, die – wie schon der Begriff andeutet – nicht einfach nur kognitionspsychologisch, sondern physiologisch verstanden werden müssen: als ein Aktivierungspotenzial, das natürlich nicht nur exzitatorisch, sondern auch inhibitorisch behandelt werden kann. Zu zeigen, wie eine Figur strukturiert ist, heißt nicht nur Vorstellungen davon zu wecken, wie diese Figur umstrukturiert werden könnte, sondern – zumindest ansatzweise – Handlungsimpulse zu vermitteln, die darauf drängen, diese Vorstellungen in Taten umzusetzen. Wenn Diagramme also das relationale Gefüge – die Konfiguration – eines bestimmten Sachverhalts oder einer bestimmten Ereignisfolge aufzeigen und konjekturale Akte der (sukzessiven) Erfassung dieses Gefüges erfordern, lenken sie das Subjekt der Wahrnehmung auf Gedankenbahnen, die tendenziell zur Imagination eines anderen Gefüges führen und entsprechende Eingriffe in das Gefüge motivieren. Die Pragmatische Maxime erscheint unter dieser Voraussetzung nicht zuletzt als eine Inhibition der unmittelbaren Rückkopplung von Kognition und Sensomotorik, von Wahrnehmung und Handlung. Anstatt reflexhaft in das Gefüge einzugreifen, wird die Imagination umgeschaltet bzw. eingeschränkt auf die bloß mentale Vergegenwärtigung der denkbaren Folgen solcher Eingriffe. Eben diese Vergegenwärtigung erweitert aber die Begriffe, die man sich von den Sachverhalten oder Ereignisfolgen im Zustand der physiologischen und psychologischen Erregung macht. Von daher gilt für kognitive Landkarten genau das gleiche, was auch für andere Landkarten gilt: The map is not the territory – gerade aufgrund dieser Differenz jedoch ein ausgezeichnetes Medium der Welterkundung und -erschließung. Denn es ist die Differenz von Karte und Territorium, die das Planen (von Bewegungen und Handlungen) von den Bewegungen 207 | Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 91.

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D IAGRAMMATIK und Handlungen selbst unterscheidet, also einen (gedanklichen) Spielraum für den Vergleich von Bewegungs- und Handlungsoptionen anhand ihrer mutmaßlichen Folgen eröffnet. Von daher ist es nur konsequent, wenn Neisser erklärt: »Wahrnehmen ist eine zyklische Aktivität, die eine antizipatorische Phase einschließt; Vorstellen ist Antizipation«,208 und insofern nicht etwa ein Akt der Irrealisierung von Welt, sondern der pragmatischen Einstellung auf die Möglichkeiten, die in der Struktur der Realität – sei es als Chancen, sei es als Risiken – erkannt werden. Eine solche Konzeption hat zweifellos Folgen für das, was die Wissenssoziologie als ›gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit‹ bezeichnet209 – insbesondere dann, wenn man berücksichtigt, wie sehr diese Konstruktion auf Medien angewiesen ist, die zugleich Szenen und Faktoren der Welterzeugung sind: Szenen, insofern sie der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit Schauplätze bieten, auf die sich die gemeinsame Aufmerksamkeit von Beobachtern richtet, die zugleich Akteure der Weltkonstruktion sein können – Faktoren, insofern diese Schauplätze durch die Medienformate strukturiert sind, also ihrerseits als Wahrnehmungs- und Orientierungsschemata fungieren. Dass es hierbei um weit mehr als bloß um eine theoretische Vermittlung von Kognitionspsychologie, Wissenssoziologie und Medienphilosophie geht, wird klar, wenn man die Dichotomie von Szene und Schema zu einer Trichotomie von Szene, Schema und Skript erweitert: Der Zusammenhang von Schema und Skript ergibt sich aus der Erkenntnis der Kognitionspsychologie, dass jedem Wahrnehmungsmuster, das auf ein Orientierungsschema bezogen wird, auch ein Handlungsplan zugeordnet werden kann. Der Zusammenhang von Skript und Szene ergibt sich aus der Tatsache, dass prinzipiell alle Handlungen, die praktisch vollzogen werden, selbst dann, wenn sie keine dramatischen Folgen haben, beobachtet werden können. Indem man etwas tut, stellt man sich und sein Tun mehr oder weniger spektakulär zur Schau. Diese Zurschaustellung ist nun aber ein Aspekt des Handelns, der in vielen Fällen nur medienspezifisch realisiert werden kann. Selbst dann, wenn die Zurschaustellung nicht bewusst als eine Form der (Selbst-)Inszenierung vollzogen wird, wenn also die Fremdbeobachtung des eigenen Handelns weder intendiert ist noch reflektiert wird, muss man den szenischen Charakter der Handlung bedenken. Tatsächlich können Medien Handlungen und Verhaltensweisen mitunter ohne das Wissen der Akteure unter Beobachtung stellen; im Fall der ›versteckten Kamera‹ macht gerade dies den Witz der Veranstaltung aus. Entscheidend bleibt, dass eine jede Szene zugleich die Orientierungsschemata und die Verhaltensskripte der Akteure auf den Plan ruft, dass also jeder Rückschluss auf die Bedeutung der Szene eine Reflexion sowohl der Verhaltens- als auch der Wahrnehmungsmuster verlangt, die sie 208 | Neisser: Kognition und Wirklichkeit, S. 118. 209 | Vgl. Berger/Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklich keit.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK involviert. Das Problem der medialen Zurschaustellung von Aktionen, Reaktionen und Interaktionen besteht, so gesehen darin, dass Szenen eine strukturelle Asymmetrie aufweisen: Es scheint nämlich kaum möglich, die Aufmerksamkeit der Beobachter zugleich (oder in gleichem Maße) auf die Handlungspläne der Akteure – also auf die Skripte – und auf die Wahrnehmungsmuster – also die Schemata – zu lenken, die ihre Erfassung bestimmen. Offenbar kann man kaum im selben Augenblick auf die Rahmenbedingungen der eigenen Beobachtung und auf die Handlung achten, die sich auf der Szene der Beobachtung abspielt. Von diesem Paradoxon ist die Rede, wenn es heißt, dass Medien im Akt ihrer Nutzung invisibile werden. Man kann ihnen, so scheint es, Informationen nur unter der Voraussetzung entnehmen, dass man nicht beobachtet, wie die Medien selbst die Daten – und damit die Sinne und den Verstand der Beobachter – formatieren. Schaltet man von der Fremdbeobachtung der Akteure auf der Szene um auf die Selbstbeobachtung der eigenen Informationsverarbeitung, verliert man die Handlung – bzw. den Faden der Handlung – aus dem Auge. Obwohl dieser paradoxe Effekt gewiss auch etwas mit der Selektivität der menschlichen Aufmerksamkeit zu tun hat, kann man von einer Unschärferelation der Medien sprechen. Ihre szenische Qualität hängt jedenfalls von der Einstellung des Beobachters ab; sie schwindet in dem Maße, in dem er sich auf die Medienformate, das heißt auf die Rahmenbedingungen und Faktoren der Inszenierung kapriziert; und sie steigt in dem Maße, in dem gerade diese Momente im buchstäblichen Sinn des Wortes ›übersehen‹ werden. Offenbar kann man diese Paradoxie nur mittels einer Strategie der Temporalisierung auflösen, die es erlaubt, die beiden Aspekte der Beobachtung nicht nur theoretisch zu unterscheiden, sondern in einen Diskurs zu überführen, der zwischen Fremd- und Selbstbeobachtung hinund herläuft. Medienreflexion wäre genau dies: ein Diskurs, der mit dem szenisch dargestellten Drama sowohl die Skripte der Akteure als auch die Schemata der medialen Darstellung der Handlungsfolge ins Bewusstsein hebt und dem Beobachter dergestalt eine Idee davon vermittelt, wie die Medienformate die persönliche Informationsverarbeitung und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit beeinflussen (respektive beeinträchtigen). Zu einer veritablen Medienphilosophie wird diese Reflexion allerdings erst, wenn sie den paradoxen Effekt der Invisibilisierung nicht nur aufhebt, sondern auf die Erkenntnis zurückführt, dass Medien zugleich Szenen sind, die anhand von Handlungsfolgen Skripte vor Augen führen, und Faktoren der Schemabildung, die Wahrnehmungsmuster erzeugen. Aus dieser Erkenntnis folgt nämlich, dass die Medien zwar insofern dem Modell des Theaters verpflichtet sind, als sie die Wahrnehmung von Taten in die Beobachtung von Handlungsplänen überführen, diesen theatralen Grundzug der Veranschaulichung aber zumindest dort, wo sie nicht ausdrücklich als Hörspiel oder Spielfilm formatiert sind, nicht im Modus der Fiktionalität präsentieren. Dadurch erwecken Medien den – oft

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D IAGRAMMATIK irreführenden – Eindruck, dass ihre jeweils spezifische Konfiguration der Sachverhalte und Ereignisfolgen keiner Rekonfiguration bedürfte. Und genau das führt zu einem doppelten Trugschluss: zur Reifikation der Medieninhalte einerseits sowie zur Irrealisierung der theatralen Künste andererseits. Was die Medien zeigen, wird wahrgenommen, als ob es nicht konfiguriert, inszeniert und diagrammatisiert wäre – umgekehrt werden die Künste, die ihre Fiktionalität offenlegen, so aufgefasst, als ob das, was sie zeigen, nichts mit der Wirklichkeit zu tun hätte. Beides ist falsch. Ebenso wie Bühnenstücke, Hörspiele und Spielfilme (und auf etwas andere Weise Romane oder andere dramaturgisch verfasste Erzähltexte) Anschauungsmodelle von Handlungsfolgen liefern, die prinzipiell den gleichen Skripten verpflichtet sind, die auch der realen gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit ›eingeschrieben‹ sind, müssen die non-fiktionalen Darstellungen der sogenannten Informationsmedien als Formen der Legendenbildung ›gelesen‹ werden, da sie selbst dort, wo sie scheinbar nur Fakten vermitteln, bestimmte Wahrnehmungsmuster, Orientierungsschemata und Verhaltensskripte prägen.

III. Niklas Luhmann: Die Schemabildung der Medien Es ist also die Rückkopplung zwischen den Medienformaten und den kognitiven Schemata (die ihrerseits sensomotorische Implikaturen haben), die aus den Medien Faktoren der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit machen – übrigens auch und gerade dann, wenn die Medien selbst diese Faktoren thematisieren oder gar szenisch behandeln. In dem von Hal Ashby inszenierten Spielfilm Welcome Mr Chance (USA 1979) gibt es eine in dieser Hinsicht äußert aufschlussreiche Szene: Der von Peter Sellers gespielte Protagonist, der sein Leben lang nicht vor die Tür des Anwesens gelangt ist, in dem er als Gärtner angestellt war, muss sich nach dem Tod des Hausherrn eine neue Bleibe suchen. Ausgerüstet mit einer Fernbedienung macht er sich auf den Weg und stößt in der freien Wildbahn des Lebens prompt auf einige bedrohliche Gestalten. Überfordert von der Wirklichkeit, versucht Mr. Chance der Situation nach dem Muster zu entkommen, das er sich im Umgang mit dem Pantoffelkino angewöhnt hat: er versucht einfach den Kanal zu wechseln und auf ein anderes Programm umzuschalten. Die Szene versinnbildlicht die Rückkopplung von Orientierungs- und Verhaltensschema. Das Medium Fernsehen hat nicht nur nachhaltig die Weltwahrnehmung von Mr. Chance, sondern auch das Skript geprägt, dem sein Handeln folgt. Indem der Spielfilm diesen Zusammenhang an einer spezifischen Ereignisfolge aufzeigt, setzt er die Wirkungsweise der Medien in Szene. Diese Zurschaustellung erlaubt nicht nur Rückschlüsse auf die sehr persönliche Art der Wirklichkeitskonstruktion von Mr. Chance, sie eröffnet auch der womöglich selbstkritischen Reflexion des Zuschauers einen Anschauungsraum. ›Sichtbar‹ wird im Medium des Spielfilms die Demarkationslinie von Virtualität und Realität, die der naive Protago-

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK nist blindlings überschreitet – das heißt jedoch zugleich: ausgerechnet der fiktionale Modus des Spielfilms schärft den Blick für die Eigenarten der Medienwirklichkeit. Der Zuschauer erfasst, warum die Schemata, die die Wahrnehmung und Handlung von Mr. Chance steuern, nicht greifen – und begreift in der reflexiven Einstellung auf die Szene, wie sehr womöglich auch die eigene Welterfassung von Begriffen abhängt, die im Umgang mit den Medien erworben werden. Und genau diese Einsicht erweitert seine Medienkompetenz, die letztlich nicht nur ein Vermögen der Wahrnehmung, sondern ein Vermögen zur Handlung darstellt. Auf geradezu perfide Weise zeigt sich am Fehlverhalten von Mr. Chance, wie recht die Kognitionspsychologie hat, wenn sie betont, dass alle Vorstellungen auf Handlungen angelegt sind,210 und, wie die pragmatische Semiotik hinzufügt, durch Handlungen ausgelegt werden, deren Folgen man in Gedankenexperimenten antizipieren respektive simulieren kann. In dem Kapitel über ›Schemabildung‹, das Niklas Luhmann in seine Abhandlung Die Realität der Massenmedien aufgenommen hat, wird daher zu Recht behauptet, dass Schemata das Handeln keineswegs festlegen oder Wiederholungen erzwingen.211 »Gerade an Hand des Schemas überrascht die Abweichung; sie fällt auf und prägt sich dadurch dem Gedächtnis ein.«212 Nachdem Luhmann noch einmal darauf hingewiesen hat, dass Schemata seit Kant nicht als Bilder, sondern als Regeln für den Vollzug von Operationen gelten,213 bestimmt er das ›Skript‹ als den Sonderfall des Schemas. Luhmann betont, »daß zeitliche Sukzessionen stereotypisiert werden (daß man zum Beispiel eine Fahrkarte kaufen sollte, bevor man in die Bahn einsteigt) […] Nur über ein Skript kommt man dazu, Wirkungen auf Handlungen zuzurechnen.«214 Unter dieser Voraussetzung liegt es nahe, die Wirkung der Massenmedien darin zu sehen, dass sie Wahrnehmungsschemata und Handlungsskripte iterativ aufeinander beziehen. Luhmann vermutet daher, »daß die strukturelle Kopplung massenmedialer Kommunikation und psychisch bewährter Simplifikationen solche Schemata benutzt, ja erzeugt. Der Prozeß verläuft zirkulär. Die Massenmedien legen Wert auf Verständlichkeit. Aber Verständlichkeit ist am besten durch Schemata garantiert, die die Medien selbst erst erzeugt haben.«215 Neben der Verständlichkeit oder Transparenz geht es bei der Schemabildung aber auch um Ökonomie. Folgerichtig kann man Schemata bei sich selbst wie bei anderen erkennen, »wenn man sie als kognitive Routinen nimmt.«216 Obwohl die Medien also Schemata prägen, ist dies 210 | Vgl. Lenk: Schemaspiele, S. 8. 211 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 193. 212 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 193. 213 | Vgl. Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 194. 214 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 194f. 215 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 195. 216 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 203.

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D IAGRAMMATIK keineswegs ihr Privileg. Ebenso wenig kann man sie allein für die mit bestimmten Schemata oder Skripten einhergehenden Simplifikationen verantwortlich machen. Ohne Komplexitätsreduktion, das hat gerade Luhmann immer wieder betont, würde das Handeln unendlich schwierig, und daher konstatiert er auch in seinem Buch über die Realität, die Medien konstruieren: »Angesichts der Unbeobachtbarkeit der Welt und der Intransparenz der Individuen für sich und andere ist eine Schemabildung unvermeidlich.«217 Wenn von der Realität der Massenmedien in dem Sinne die Rede ist, dass man auf das Wirklichkeitskonstrukt abhebt, das Presse, Rundfunk und Fernsehen erzeugen, sollte man also erstens bedenken, dass diese Konstruktion keine Eigenart der Medien darstellt, und zweitens berücksichtigen, dass die Realität auch in anderen Handlungsbereichen simulatorische Züge aufweist. Im Theater, so Luhmann, werde die Unbeobachtbarkeit der Welt und die Intransparenz der Individuen durch Wahrnehmungsschemata und Handlungsbegriffe – im wahrsten Sinn des Wortes – ›überspielt‹. Sieht man in diesem Überspielen eine zentrale Funktion szenographischer Medien, kann man mit Luhmann sagen: »Wie das Theater versetzen auch die Massenmedien das Individuum in eine Szene außerhalb der Inszenierung.«218 Gemeint ist damit, dass ihre Wirkung eine paradoxe Voraussetzung hat: Was bei der Weltbeobachtung, die Medien zu leisten scheinen, indem sie Schemata und Skripte bilden, unbeachtet bleibt, ist der Modus der Inszenierung, von der diese Beobachtung abhängt. Um etwas transparent zu machen, muss das Medium sich selbst unsichtbar werden. Die medienwissenschaftliche Relevanz der Schematheorie, von der Otto Selz 1913, als er den Schemabegriff für die Psychologie entdeckte, noch kaum etwas ahnen konnte, ergibt sich mithin konsequent aus der Trichotomie von Szene, Skript und Schema, da das, was ein Medium zeigt, auf Handlungspläne verweist, die mit zwei Arten von Wahrnehmungsmustern zusammenhängen: dem der Akteure, das dramaturgisch relevant wird, und dem der Beobachter, dessen Relevanz sich erst erschließt, wenn der Beobachter nicht die Szene der gemeinsamen Aufmerksamkeit, sondern das Medium der Inszenierung als Faktor der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit in den Blick nimmt und auf seine eigene Prägung durch diesen Faktor reflektiert. Analog ergibt sich die kulturwissenschaftliche Relevanz der Schematheorie, wenn man bedenkt, »daß es jeweils sehr stark von kulturellen Voraussetzungen abhängig ist, wie Menschen im einzelnen begrifflich und inhaltlich ihre Welt beschreiben. Keineswegs ist eine über alle Kulturen hinweg gleiche Weltsicht zu finden. Es hängt sehr stark von unseren Schematisierungen ab, wie wir unsere Welt gliedern und verstehen.«219 217 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 203. 218 | Luhmann: Realität der Massenmedien, S. 204. 219 | Lenk: Schemaspiele, S. 27.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK Zusammengeführt werden können die medien- und die kulturwissenschaftliche Betrachtungsweise dadurch, dass man Schemata semiologisch auffasst: als Strukturbildungen, »die etwas darstellen sollen, die z.B. äußerlich durch Zeichen, ›innerlich‹ durch Vorstellungen und Musteraktivierungen vertreten werden, was immer beides auch genauer heißen mag.«220 Hans Lenk, von dem diese sachlich zutreffende, terminologisch jedoch unbefriedigende Formulierung stammt, hat versucht, eine Brücke zwischen Kognitionspsychologie und Neurobiologie zu schlagen. Indem er Schemata als Musteraktivierungen versteht, die sich ihrerseits wiederum auf Erregungsmuster im Gehirn beziehen lassen,221 deutet er eine monistische Lesart der Schematheorie an. Schemata werden von Lenk als »(hypothetisch) in Neuronenassemblies konkretisierte Modellbildungen« aufgefasst.222 Freilich muss diese Korrelation dynamisch als durch und durch kontingentes Datum bildgebender Verfahren interpretiert werden. Ein unmittelbarer Rückschluss von Bedeutungsmustern auf Erregungsmuster ist beim gegenwärtigen technologischen und philosophischen Stand der Gehirnforschung kaum möglich. Als gesichertes Wissen kann eigentlich nur gelten, dass es offenbar auf der Ebene der Neuronen wie auf der Ebene der Vorstellungen um zeitpunktabhängige Konfigurationen geht. Inwiefern sich diese Ebenen und damit die Konfigurationen aufeinander ›abbilden‹ lassen, ist eine offene Frage.223 Vermuten lässt sich immerhin, dass es auf beiden Ebenen um Prozesse der Konditionierung und Habitualisierung geht, die sich kumulativ ergeben. Zu Recht verweist Lenk daher auf Charles Sanders Peirce, den »Philosophen des Pragmatismus«224 , und auf Ludwig Wittgensteins ›Gebrauchstheorie der Bedeutung‹, wenn er schreibt: »Zeichen, Bedeutungen, ja, man kann auch sagen: Schemakonstrukte jeglicher Art und ihre Aktivierungen ›leben‹ im Gebrauch und ›leben‹ nur im Gebrauch, sind sozusagen funktionale Ereignisse oder Formen (relativ stabilisierte ›Muster‹ oder Strukturierungen), die immer wieder aktiviert werden und reaktiviert werden müssen.«225 Dass dieser iterative Prozess jene Dialektik von habit-taking und habitbreaking involviert, in der Peirce eine Parallele zwischen dem allgemeinen Naturgeschehen und der Semiose im Besonderen gesehen hat, mag ein Indikator dafür sein, dass es früher oder später tatsächlich gelingen kann, die Erkenntnisse der Kognitionspsychologie, die auf Schemata abheben, mit der Neurobiologie zu vermitteln, die ihre Korrelate erforscht. Für die lebensweltliche Relevanz der Schemata ist jedoch ein anderer Gesichts220 | Lenk: Schemaspiele, S. 27. 221 | Vgl. Lenk: Schemaspiele, S. 28f. 222 | Lenk: Schemaspiele, S. 41. 223 | Vgl. Hagner: »Bilder der Kybernetik«. 224 | Lenk: Schemaspiele, S. 56. 225 | Lenk: Schemaspiele, S. 56.

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D IAGRAMMATIK punkt maßgebend, nämlich der pragmatische Aspekt: »[…] man kann ein Diagramm nur verstehen, wenn man es irgendwie auf Handlungssituationen und Kontexte beziehen kann. Dasselbe gilt aber genauso für interne oder mentale Repräsentationen, von denen wir bislang noch gar nicht genau wissen, was sie sind.«226 Bis auf Weiteres wird man sich also damit begnügen müssen, diagrammatische Operationen unter Rückgriff auf den Zeichen-Begriff zu erläutern, dessen ›Schatten‹ der Schema-Begriff ist. Jedenfalls kann man in aller Regel davon ausgehen, dass dort, wo ausdrücklich von Schemata die Rede ist, diagrammatische Operationen eine wichtige Rolle spielen – so wie sich der Anschauungs- und Operationsraum der Diagramme ihrerseits aus der Relation von schéma und schème, anschaulichem und schlussfolgerndem Denken ergibt. Das hat, wie besprochen, mit der Genese der modernen Semiotik zu tun, seinen tieferen Grund aber in der Binnendifferenzierung des Zeichens, bei der das Repräsentamen, die Interpretanten und das Objekt unterschieden werden. Offenbar kann man die Interpretanten, die sich wiederholt bewährt haben und daher mehr oder weniger stereotyp verwendet werden, als Schemata betrachten. Erspart wird durch Schemata, so gesehen, der Aufwand, den es erfordert, dynamisch-energetische Interpretanten zu bilden. Da bereits ein logischer Interpretant – das Schema – zur Verfügung steht, bedarf es keiner besonderen Anstrengung der Imagination, um dem Repräsentamen ein Objekt zuzuweisen.227 Anders gesagt: Im Schema steckt verdichtetes, generalisierbares Wissen. In diesem Sinne definiert denn auch Jean Matter Mandler: »An event schema is a hierarchically organized set of units describing generalized knowledge about an event sequenze.«228 Besonders interessant ist, wie Mandler diese hierarchische Organisation von dem absetzt, was er als »categorical structure« bezeichnet: »[…] the hierarchy does not consist of class inclusion relations.«229 Charakteristisch sind stattdessen »part-whole-relations«, die im Fall des ›event schema‹ temporal, und im Fall des ›scene schema‹ spatial sind.230 Im ›script‹ jedoch überlagern sich temporale und spatiale Aspekte: Der ›event‹ wird an eine ›scene‹ gekoppelt, die zugleich Schauplatz und Rahmenbedingung der Ereignisfolge ist. Da es vor allem die Medien sind, die Menschen mit Skripten versorgen, entstammen viele Schemata der Weltauslegung nicht dem persönlichen Erleben. Das hat Folgen für die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, die weniger offensichtlich, in vielen Fällen jedoch wesentlich nachhaltiger sind als die Wirkungen, die den Medien aufgrund ihrer agenda-setting-function zugeschrieben werden. Ja, man 226 | Lenk: Schemaspiele, S. 133. 227 | Dieses Objekt der Vorstellung ist, daran sei noch einmal erinnert, nicht mit dem Referenten zu verwechseln. 228 | Mandler: Stories, Scripts and Scenes, S. 14. 229 | Mandler: Stories, Scripts and Scenes, S. 14. 230 | Vgl. Mandler: Stories, Scripts and Scenes, S. 14f.

4. G RENZGÄNGER DER D IAGRAMMATIK muss sogar sagen: Die Fähigkeit der Medien, die Themen- und Tagesordnung der öffentlichen Meinungsbildung zu bestimmen, ist nur deshalb so einflussreich, weil Medien auch und gerade die Art und Weise des kommunikativen und kognitiven Umgangs mit den Themen, also die Form der Meinungsbildung selbst, prägen. Damit aber kommt eine Dimension des Schemas zum Tragen, die nicht im Begriff des logischen Interpretanten aufgeht, wohl aber im Begriff des Zeichens angelegt ist. Geht man nämlich mit Peirce davon aus, dass Zeichen das Denken in Form bringen, werden Begriffe wie ›Information‹ oder ›Informationsmedium‹ seltsam doppeldeutig. Das Informieren ist ein Formatieren, Schematisieren. Und genau dies scheint die Kehrseite der Diagrammatik zu sein: Eine von ihrer Kontingenz, das heißt von der Möglichkeit zur Rekonfiguration abgekoppelte Konfiguration.

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Schluss

Worin liegt die Bedeutung der Diagrammatik für die Kultur- und Medienwissenschaften? Diese Frage kann man entweder durch den Verweis auf bestimmte Gegenstände und Anwendungsfelder oder durch den Verweis auf den aktuellen Diskurs der Kultur- und Medienwissenschaften beantworten. Da die erste Variante zu einer unsystematischen Betrachtungsweise führt, beschreiten viele Einführungen in die kultur- und medienwissenschaftliche Forschung den zweiten Weg. Doch auch auf diesem Wege lauern Gefahren. Da die Diskurse der Kultur- und Medienwissenschaften teilweise mehr damit beschäftigt sind, zwischen den einzelnen turns der Theoriebildung hin- und herzulaufen, scheinen die Diskussionen niemals bei den Gegenständen anzukommen. Stattdessen umkreisen sie immer wieder die Paradoxie, dass ein jeder Diskurs nur von dem handeln kann, was abwesend ist. Folgerichtig provoziert der Diskurs in schöner Regelmäßigkeit den notorischen Einwand der Phänomenologie: Zurück zu den Sachen, zurück zur Präsenz. Gleichwohl gibt es Indikatoren für die Aktualität der Diagrammatik, die nicht nur die Diskurse der Kultur- und Medienwissenschaften betreffen. Die Informatik wäre nur ein Beispiel für die eher technisch orientierten Disziplinen, in denen diagrammatische Operationen zunehmend thematisiert und als Herausforderung der Programmierung begriffen werden. In den Kultur- und Medienwissenschaften selbst hat sich die Beschäftigung mit der Diagrammatik bereits auszufächern begonnen – einerseits innerhalb der ihnen zugeordneten Disziplinen; andererseits entlang methodischer Vorentscheidungen wie der, sich entweder mit dem Diagramm als Medienformat der Schriftbildlichkeit oder mit dem umfassenderen Konzept des diagammatic reasoning zu beschäftigen. Diese Unterscheidung ist vor allem dadurch bedingt, dass die Zunahme der Diagramme jedem Beobachter der Medienevolution ins Auge springen muss – auch dann, wenn er noch nie etwas von Peirce gehört, geschweige denn dessen Schriften eingehend studiert hat. Mittel- und langfristig kann die Beschäftigung mit den Medienformaten der Diagrammatik aber nur sinnvoll und fruchtbar sein, wenn sie in den Kontext ihrer semiotischen Konzeption als jener Form des entwerfenden und

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D IAGRAMMATIK schlussfolgernden Denkens gestellt wird, das mit der Anschaulichkeit der Einbildungskraft im Bunde ist. Denn zumindest die kulturelle Bedeutung der Diagrammatik lässt sich nicht auf die Zunahme von Schau- und Technobildern in den Medien reduzieren. So offensichtlich diese Zunahme ist, so unvollständig wäre sie allein durch den Rekurs auf das Evidenzprinzip der Schriftbildlichkeit begriffen, das an den Medien der Schriftbildlichkeit fasziniert. Um die kognitive, kommunikative und kulturelle Bedeutung der Diagrammatik zu erfassen, muss man die Wechselwirkung zwischen dem Evidenz-, dem Virtualitäts- und dem Kontinuitätsprinzip beachten und – was vielleicht die größte Schwierigkeit ausmacht – den eigentlich längst obsoleten Widerstreit zwischen Phänomenologie und Semiologie endlich überwinden. Obsolet ist dieser Widerstreit zum einen, weil die Ergänzungsbedürftigkeit der Semiologie, die von Ferdinand de Saussure inauguriert worden war, kaum noch ernsthaft bestritten wird. In dieser Hinsicht war der pragmatic turn genauso fruchtbar wie die Erkenntnis, die Roman Jakobson zu Protokoll gab, nachdem er Peirce für die Sprachwissenschaft entdeckt hatte. Die diagrammatische Konfiguration der Zeichen, die »im ganzen syntaktischen und morphologischen Bau der Sprache offenbar und obligatorisch, in seinen lexikalischen Aspekten jedoch latent und virtuell ist, entkräftet Saussures Lehre von der Arbitrarität.«1 Ebenso wenig wie man sich in der Semiotik allein mit den symbolischen Zeichen befassen kann, die arbiträr sind, darf man die Dynamik und Energetik der Interpretanten und damit die Abhängigkeit der Referenz von Inferenzprozessen ignorieren, an denen die Imagination beteiligt ist. Folgerichtig macht es wenig Sinn, von einem Code zu reden, der keine Kontingenz kennt. Ebenso widersinnig wäre es, an den Phänomenen der Wahrnehmung die ästhetischen Qualitäten zu übersehen, die über den Objektbezug hinausweisen. Obsolet ist der Widerstreit zum anderen, weil Peirce selbst mit der Phaneroskopie eine der Phänomenologie komplementäre Betrachtungsweise entworfen hat und in seiner Forschungsarchitektur stets davon ausgegangen ist, dass die Einstellung auf das, was dem Menschen im Wahrnehmungs- respektive im Bewusstseinsfeld erscheint, den Ausgangpunkt aller Untersuchungen bilden muss. Gerade weil die Diagrammatik darauf abhebt, dass es einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Beobachten und Denken, Anschauen und Vorstellen, Begreifen und Handeln gibt, macht es keinen Sinn, Autoren wie Peirce und Husserl gegeneinander auszuspielen. Eher schon gilt es, ihre Konzepte, wie dies Frederik Stjernfelt in seinem Buch Diagrammatology versucht hat, miteinander zu vermitteln. Tatsächlich scheint diese Vermittlung ein Desiderat der Kultur- und Medienwissenschaften zu sein. Ihre Notwendigkeit lässt sich als Anfrage an die Theoriebestände nicht nur von Phänomenologie oder Poststrukturalismus formulieren: Was wäre aus ihrer Sicht die Alternative zum 1 | Jakobson: Form und Sinn, S. 28.

S CHLUSS Konzept der Diagrammatik? Durch welches alternative Konzept können die relevanten Phänomene wie die heuristischen und poietischen, kognitiven, kulturellen und kommunikativen Funktionen beschrieben und erfasst werden, die den Gegenstands- und Zuständigkeitsbereich der Diagrammatik bilden? Im Augenblick jedenfalls läuft der Diskurs der Kultur- und Medienwissenschaft, zumal dort, wo er auf den iconic turn reagiert, auf eine systematische Berücksichtigung der Diagrammatik hinaus. Zu wünschen bleibt, dass dies nicht nur dann der Fall ist, wenn es um epistemische, technische Bilder und den kartographischen Akt der Welterkundung und -vermessung geht.2 Der Vorschlag, im Rückgang auf Peirce – aber auch in dem Bewusstsein, dass sein Entwurf der Diagrammatik einer Rekonfiguration unter den Vorzeichen der Medienkonvergenz bedarf – diagrammatische Operationen als Kulturtechniken zu untersuchen, die transversal eingesetzt werden können, ist schließlich auch ein Angebot an die Systemtheorie, die seit Luhmann zur Überbetonung der Differenz von (sozialer) Kommunikation und Bewusstsein neigt. Dabei gehen die Kognitionswissenschaften längst von der kommunikativen Prozessstruktur des psychischen Systems aus! Es könnte sein, dass die Vermittlungsleistung der Diagrammatik auch hier gefragt ist: Bei der Überbrückung des Hiatus, der die subsemiotische Ebene der neuronalen Konfiguration von der semiotischen Ebene der Zeichenkonfiguration abhebt. Denn wenn die kulturelle Nutzung der digitalen Informationsverarbeitung von Analogiebildungen abhängt, liegt darin auch ein Fingerzeig für die Erforschung des Gehirns als eines Organs, das zwar operational geschlossen, energetisch jedoch auf die Einbettung in einen Organismus angewiesen ist, der seinerseits nur in einem Ökosystem existieren kann und von daher pragmatisch handeln muss. So schwierig es sein wird, Neurobiologie und Ökologie einerseits und Kulturanthropologie und Medienphilosophie andererseits aufeinander zuzuführen, so hilfreich könnte es sein, sich dabei des Erkenntnis- und Vermittlungspotenzials der Diagrammatik zu bedienen. Nicht zuletzt wegen dieser Option war es wichtig, die Genese der Diagrammatik aus dem Geist des Kant’schen Schematismus nachzuzeichnen und sowohl auf die Geschichte der Gehirnkarten als auch auf die kognitive und kulturelle Bedeutung der Spiele einzugehen, an denen der diagrammatische Grundzug der Medienevolution deutlich wird. Ob und wie sich diese Option zum Beispiel mit den Vorüberlegungen zu einer ›Logik der Kulturforschung‹ trifft, bleibt abzuwarten.3 Klar ist im Augenblick nur, dass die Nutzung dieser Option an der Idee der Semiose als Inferenzprozess anknüpfen muss, in deren Konsequenz es liegt, die Prozessstruktur der Kultur dia2 | In dieser Richtung sind die wissenschaftstheoretisch und bildwissenschaftlich inspirierten Ideen von Heßler/Mersch: »Bildlogik« aufschlussreich. 3 | Vgl. Wirth: »Vorüberlegungen zu einer Logik der Kulturforschung«.

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D IAGRAMMATIK grammatisch zu konzipieren. Verändern wird dies in the long run sicherlich auch das Konzept der Diagrammatik selbst, da es als pragmatisch orientiertes Konzept nicht losgelöst oder abgekoppelt von der kreativen Interaktion gedacht werden kann, aus der die Kultur als synreferentieller Bezirk der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit hervorgeht. Auch dafür gibt es Indizien – etwa der reflexive Charakter der Kunstbetrachtungen in einer Kultur, die als diagrammatisch begriffen wird.4 Trotzdem sollte man das Konzept der Diagrammatik nicht totalisierend einsetzen und universalistisch verstehen. Wenn die Gegenwartskultur tatsächlich eine ›diagrammatische Signatur‹ aufweist, dann kann es sich dabei doch nur um ein historisches Datum handeln. Wahrscheinlicher als dass diese Signatur den Endpunkt der Geschichte markiert, ist, dass es immer schon Konjekturen der Diagrammatik und Zeiten gegeben hat, in denen andere Konzepte maßgeblich waren. Diagrammatische Figuren und Operationen spielen, das hat die kunsthistorische Forschung in aller wünschenswerten Klarheit gezeigt, bereits in der Antike und im Mittelalter wichtige Rollen, doch gibt es auf dem Theater der Künste und Kulturen weitere, nicht weniger bedeutsame Agenten und Faktoren. So unangemessen es daher wäre, der Diagrammatik eine Monopolstellung als Schlüsselkonzept der Kultur- und Medienwissenschaften vorzubehalten, so unangemessen wäre es umgekehrt, ihre Relevanz ausschließlich für die Medienavantgarde der Gegenwart zu reklamieren.5 Angemessen und notwendig wäre stattdessen der Versuch, die Diagrammatik zugleich historisch – anhand ihrer Gegenstände und Anwendungsfelder – zu differenzieren und systematisch zu untersuchen, wie sich diese Spezifikationen zu der von Peirce behaupteten Generalität des Konzepts verhalten. Peirce hat die Diagrammatik als eine sehr allgemeine Theorie darüber entwickelt, wie Menschen mit Zeichen handeln, indem sie Anschauungsmodelle entwerfen, die pragmatische Schlussfolgerungen erlauben. Für ihn sind es diagrammatische Operationen und dynamisch-energetische Interpretanten, die zwischen Wahrnehmung, Denken und Handeln ebenso wie zwischen sozialen und psychischen Systemen vermitteln. Von zentraler Bedeutung ist dabei der Möglichkeitssinn, der die Akteure im Feld der Kultur auszeichnet. Es wäre daher ein performativer Widerspruch, wenn man das Virtualitätsprinzip der Diagrammatik stark machen und zugleich die Kontingenz der diagrammatischen Konzeption von Kultur leugnen wollte. Auch sollte man sich dafür hüten, eine

4 | Vgl. den Ansatz bei Rustemeyer: Diagramme. 5 | Allein die im Zuge der Diagrammatik wieder gestiegene Berücksichtigung von Aspekten des Designs ist als medienkulturelle Diagnose nicht neu. In der medientheoretisch akzentuierten Essayistik der 1920-1950er Jahre wird dies, und zwar teilweise unter ausdrücklichem Bezug zu Peirce, vorweggenommen. Ein Pionier in dieser Hinsicht war Max Bense, vgl. für die zeitdiagnostischen Implikationen einer ›diagrammatischen‹ Kultur z.B. Bense: Plakatwelt.

S CHLUSS Logik der Kultur zu hypostasieren, da doch bestenfalls von einer Logik der Kulturforschung gesprochen werden kann. Analoges gilt im Hinblick auf die Medienevolution: Wenn es ein Leitmotiv dieser Entwicklung gibt, so ist es die permanente Rekonfiguration der Sinne und Anschauungsformen, der Begriffe und Denkmuster durch den technologischen Fortschritt und seine Vermittlung durch Sprachbilder (Metaphern), Technobilder und Reflexionsmedien wie den Film. Der Computer, der diese Medien zusammenführt, erweitert die display-Funktion der Künste und ändert das design der Welterzeugung. Doch wer wollte abschließend sagen, was im layout seiner Möglichkeiten angelegt ist.

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Nachweise der Bildzitate

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Leonardo da Vinci, Explosionszeichnung eines automatischen Radschlosses; aus: Leonardo. Künstler – Forscher – Magier. München: Orbis 1996, S. 183. Edvard Munch, Der Kuss (Radierung auf Papier), 1895; aus: Schröder, Klaus Albrecht/Hoerschelmann, Antonia (Hg.): Edvard Munch. Thema und Variation, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 178. Edvard Munch, Der Kuss, (Öl auf Leinwand), 1897; aus: Schröder, Klaus Albrecht/Hoerschelmann, Antonia (Hg.): Edvard Munch. Thema und Variation, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, S. 179. Edvard Munch, Vampir (Öl auf Leinwand), 1893-94; aus: Weber, C. Sylvia (Hg.): Edvard Munch. Vampir. Lesarten zu Edward Munchs Vampir, einem Schlüsselbild der beginnenden Moderne, Schwäbisch Hall: Swiridorff 2003. Charles Joseph Minard, Carte figurative des pertes successives en homme de l’Armée française dans la campagnie de Russie 1812-1813 (1869); aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 176f. Velázquez, Übergabe von Breda (Öl auf Leinwand), 1634-35; aus: López-Rey, José: Velásquez. Maler der Maler. Bd. 1. Köln: Taschen 1996, S. 94f. Spielplan aus dem Abenteuermodul Der Wald ohne Wiederkehr (1984); aus: Fuchs, Werner: Der Wald ohne Wiederkehr oder Murgol der Magier der Nacht. Ein Gruppen-Abenteuer für den Meister und 3-6 Helden, München/Eching: Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. u. Schmidt Spiel & Freizeit GmbH 1984. (Kartenbeilage) Spielplan aus dem Abenteuermodul Durch das Tor der Welten (1984); aus: Fuchs, Werner: Durch das Tor der Welten oder die Gestrandeten des Sternenmeeres. Ein Gruppen-Abenteuer für den Meister und 4-7 Helden, München/Eching: Droemersche Ver-

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lagsanstalt Th. Knaur Nachf. u. Schmidt Spiel & Freizeit GmbH 1984. (Kartenbeilage) Plan eines Traums aus dem Abenteuermodul Aus der Asche (2005); aus: Falkenhagen, Lena: Aus der Asche. Das Jahr des Feuers II. Ein DSA-Gruppenabenteuer für den Spielleiter und 3-6 Helden der Erfahrungsstufe Experte, Erkrath: Fantasy-Productions 2005. (Kartenbeilage) Plan eines Traums aus dem Abenteuermodul Im Traumlabyrinth (2005); aus: Hillen, Jörg/Tillmann, Gerd: Im Traumlabyrinth. Ein Gruppen-Abenteuer für den Meister und 2-4 Helden, Eching: Schmidt Spiel & Freizeit GmbH 1990. (Kartenbeilage) Karte eines Schlachtfeldes aus dem Abenteuermodul Schlacht in den Wolken (2004); aus: Weste, Anton: Schlacht in den Wolken. das Jahr des Feuers I. Ein DSA-Gruppenabenteuer für den Spielleiter und 3-6 Helden der Erfahrungsstufen Experte. Mit Beiträgen von Momo Evers, Thomas Finn und Hadamar Freiher von Wieser, Erkrath: Fantasy-Productions 2004. (Kartenbeilage) Indizien eines Fehltritts: Fußspuren in Ryan’s Daugther (1970) von David Lean; aus: Ryan’s Daughter, Turner Entertainment. Co. 2006 Die Halluzination der Eifersucht; Ryan’s Daughter (1970) von David Lean; aus: Ryan’s Daughter, Turner Entertainment. Co. 2006 Die »Liebes«-Grotte in Ryan’s Daughter (1970) von David Lean; aus: Ryan’s Daughter, Turner Entertainment. Co. 2006 Schema zur Makro- und Mikrohandlung in War and Peace (1956) von King Vidor; aus: Fell, John L.: Structuring charts and patterns in film, in: Quarterly Review of Film Studies, 3.3 (1978), S. 374. Schema der Figurenkonstellation in War and Peace (1956) von King Vidor; aus: Fell, John L.: Structuring charts and patterns in film, in: Quarterly Review of Film Studies, 3.3 (1978), S. 374. Campbells Kreis-Schema der mythischen Heldenreise (nach Vogler 1997); aus: Christopher Vogler: Die Odyssee des Drehbuchschreibers, Frankfurt a. M.: zweitausendeins 1997, S. 302. Der sog. ›Vitruvmann‹: Menschenbild und Bewegungsdiagramm; aus: Schulz, Heribert: Geometrie der Figur. Luca Cambiaso und die moderne Kunst, Osnabrück: Verlag des Museumsund Kunstvereins Osnabrück e.V. 2007, S. 17. Pieter Breughel (?), Der Sturz des Ikarus (Öl auf Leinwand), um 1665; aus: Vöhringer, Christian: Pieter Breughel 1525/1530-1569, Köln: Könemann 1999, S. 106. René Magritte, Das Reich der Lichter (Öl auf Leinwand), 1954; aus: Krauße, Anna-Carola: Geschichte der Malerei. Von der Renaissance bis heute, Köln: Könemann 1995, S. 105.

N ACHWEISE DER B ILDZITATE Abb. 21

Jackson Pollock, Comet (Öl auf Leinand), 1947; aus: Emmerling, Leonhard: Jackson Pollock 1912-1956. An der Grenze der Malerei, Köln u.a.: Taschen 2009, S. 67. Abb. 22 Klaus Wellner, Figur X, Ausschnitt (Kohlezeichnung), 2008; mit freundlicher Genehmigung des Künstlers. Abb. 23/24 William Hogarth, Before and After (Kupferstiche), 1736; aus: Keisch, Klaus/Schuster, Peter-Klaus/Wullen, Moritz (Hg.): Fontane und die bildende Kunst, Berlin: Henschel 1998, S. 51. Abb. 25 Zeichnung aus: Hans von Gersdorff, Feldbuch der Wundartzney, 1517; aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 102. Abb. 26 Zeichnung von Johann Dyrander aus: Lorenz Fries, Spiegel der Artzney, 1517 ; aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 38. Abb. 27 Fantasiekarte der Gehirnareale aus dem 19. Jahrhundert; aus: Crick, Francis: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewusstseins, München/Zürich: Artemis & Winkler 1994, S. 116. Abb. 28 Otfried Foersters Reizergebnisse, lokalisiert durch Cécile und Oskar Vogt, 1926; aus: Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen: Wallstein 2004, S. 241. Abb. 29 Cytoarchitektonische Einteillung der Hirnrinde durch Korbinian Bordmann, 1909; aus: Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen: Wallstein 2004, S. 240. Abb. 30 Schnitt durch die Basis der Großhirnhemisphäre; aus: Nauta, Walle J. H./Feirtag, Michael: Neuroanatomie. Eine Einführung, Heidelbeg: Spektrum 1990, S. 261. Abb. 31 Santiago Ramón y Cajal, Zelltypen im Kleinhirn eines Säugetiers, 1894; aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 44. Abb. 32 Francis LeRoy, Neuron mit Synapsen, 1988; aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 46. Abb. 33 Mikrographie einer Transmitterdiffusion, 1988; aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 47. Abb. 34 Schematische Darstellung von Neuronen-Verschaltungen bei McCulloch/Pitts; aus: Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen: Wallstein 2004, S. 293. Abb. 35 William Grey Walter, Schaltplan eines Nervenmodells, 1963;

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aus: Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen: Wallstein 2004, S. 294. Kernspintomogramm zweier Gehirne; rechts ein Patient mit Schlaganfall; aus: Crick, Francis: Was die Seele wirklich ist. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Bewußtseins. München/ Zürich: Artemis & Winkler 1994, S. 148. Michael Posner, Funktionales Tomogramm der linken Gehirnhälfte; aus: Robin, Harry: Die wissenschaftliche Illustration. Von der Höhlenmalerei zur Computergrafik, Basel: Birkhäuser 1992, S. 145.

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Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7

Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)

Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

November 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika Oktober 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7

Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8

Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets Juli 2010, 266 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7

Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Oktober 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9

Thomas Weitin (Hg.) Wahrheit und Gewalt Der Diskurs der Folter in Europa und den USA September 2010, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1009-3

Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

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