Deutsches Reichsstrafrecht [Reprint 2020 ed.] 9783112350102, 9783112350096

155 2 47MB

German Pages 595 [599] Year 1922

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Deutsches Reichsstrafrecht [Reprint 2020 ed.]
 9783112350102, 9783112350096

Citation preview

Grundrisse der

Rechtswissenschaft Unter MUarbet« von

Prof. Dr. Ernst v. Beling-München, Dr. Alexander ElsterBerlin, Prof. Dr. Friedrich Endemann-Setdelberg, Prof. Dr. San< F«hr»Seidelberg, Prof. Dr. Seinrich Terland-Jena, Prof. Dr. Julius v. Gierke-Salle a. d. S., Prof. Dr. Justus Wllh. Sedemann - Jena, Prof. Dr. Seinrich LehmannKöln a. Rh., Prof. Dr. Fritz Schulz-Göttingen, Prof. Dr. Claudius Freih. v. Schwerin-Freiburg i.B., Prof. Dr. Fritz Stter-SomloKöln a. Rh. herans-e-eben von den

Professoren Dr. Sans Fehr-Seidelberg, Dr. Seinrich Gerland-Jena, Dr. Justus Wilh. Sedemann-Jena, Dr. Seinrich Lehmann-Köln a. Rh.

und dem redaktionellen Leiter Professor Dr. Fritz Stier-Somlo - Köln a. Rh.

Sechzehnter Band

Berlin und Leipzig 1922

Vereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruhter & Co. vormatt G. I. Güschen'sche Verlag-Handlung I. Guttentag, Verlagsbuchhandlung n Georg Reimer u Karl I. Trübner n Vett L Tomp.

Deutsches

Reichsstrafrecht von

Dr. Heinrich B. Gerland ordentl. Professor des Strafrechtan der Universität Jena

Berlin und Leipzig 1922

Bereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Trichter

8t

To.

vormals G. A. Göschen'sche Verlagshandlung :: I. Guttentag, Verlags­ buchhandlung z Georg Reimer z Karl I. Trübuer z Beit L Lomp.

Copyright by Bereinigung wissenschaftlicher Verleger Walter de Gruyter & Co. Berlin und Leipzig 1922.

Druck von Metzger L Wittig in Leipzig.

Eduard Rosenthal in Freundschaft und Dankbarkeit

Vorwort. Ein Grundriß soll ein kurzgefaßtes Lehrbuch sein.

Er gewinnt

seine Bedeutung durch die Konzentration des Stoffes, nicht dadurch,

daß er sich dem Wissensstand derer anpaßt, die ihn benutzen sollen. Den» Aufgabe jeder Pädagogik ist es, den Lernenden zu einer höheren

Betrachtungsweise zu zwingen, nicht aber, chn auf seinem Standpunkt

zu belassen und ihn von diesem aus zu unterrichten.

Unter diesem

Gesichtswinkel bedeutet der Grundriß kein leichteres, eher ein schwereres Denn er verlangt

Hilfsmittel als das breit angelegte Lehrbuch. intensivste Mitarbeit dessen, der ihn benutzt.

Die Konzentration des Stoffes, auf die mithin im Grundriß alles ankommt, habe ich auf doppelte Art zu erreichen versucht.

Einmal ist jede kritische Polemik vermieden.

Damit ist der ganze

Ballast literarischer Nachweise überflüssig geworden, mit dem andere

Lehrbücher überreich versehen sind. Ich habe es mir genügen lassen,

Hinweise in den Zitaten zu geben, aus denen sich der Leser über den Stand der Ansichten orientieren kann.

ist mithin gekennzeichnet.

Die Kontroverse als solche

Aber ich sehe wirllich nicht die Aufgabe

unserer Wissenschaft und unserer Ausblldung darin, Kontroversen auf« zusuchen und zu erledigen.

Immerhin ist die Möglichkeit gegeben,

den einzelnen Fragen nachzugehen. Damit sind der selbständige»« Arbeit des Anfängers Möglichkeiten eröffnet, die vom pädagogischen

Standpunkt aus nicht unterschätzt werden sollten.

vm

Borwort. Ferner habe ich jede Rechtspolitik vermieden. Die Hinweise,

die sich in anderen Lehrbüchern auf die Entwürfe finden, fehlen ganz. Ich halte sie aber auch für überflüssig, ja, sogar für schädlich.

Ein

Gesetz lernt man nicht durch einzelne Hinweise kennen, die aber,

wenn sie sich auf Entwürfe beziehen, den Anfänger im Hinblick auf das eigentliche Gesetz nur verwirren können. Das, worauf es an­

kommt, ist, daß der Lernende eine gründliche, systematisch dogmatisch

geschlossene Ausbildung erhält.

Um die schwierige Aufgabe, bei

Erlaß des neuen Gesetzes völlig umlernen zu müssen, kommt der Jurist doch nicht herum.

Und auch hier kann die Vorstellung, aus

gelegenllichen Brocken bereits Kenntnisse erworben zu haben, nur

schaden.

Immerhin wird übrigens auch die gründliche Ausbildung

im Recht des Tages ein Doppeltes über den Wechsel der Gesetz­ gebung hinaus verleihen: Methode der Rechtsbenutzung und Kennt­ nis der Fülle jener grundlegenden Begriffe, die von der jewelligen

Gesetzgebung im wesenüichen nicht berührt werden.

Auf der anderen Seite bitte ich zwei positive Seiten meiner Arbeit nicht zu übersehen:

Zunächst

habe

ich

dem

besonderen Teil des Straftechtes,

in dem das eigentlicheLeben dieserRechtsmateriepulsiert,

besonderes Gewicht beigelegt.

Die Überschätzung des allgemeinen

Telles, der wir uns zurzeit noch erfreuen, und die zum Teil historisch

aus naturrechllichen Reminiszensen, zum Teil aber wohl auch aus anderen Gründen, bei denen die Bequemlichkeit nicht ganz übersehen werden kann, zu erllären ist, halte ich für Lehre und Praxis

gleich verhängnisvoll.

Vergleicht man die Judikatur unserer hohen

und höchsten Gerichte auf dem Gebiet des Zivil- und Strafrechtes

miteinander, der Vergleich fällt nicht zugunsten des Straftechtes aus. Der Grund für diese bellagenswerte, aber nicht zu leugnende Tat-

fache liegt in der weiteren, ebenfalls nicht zu leugnenden Tatsache,

daß unsere Juristen auf dem Gebiet des Strafrechtes längst nicht

so

gründlich

vorgebildet werden

wie auf

Borwort. dem des Zivilrechtes.

ix

Hier muß Abhilfe geschaffen werden.

Und dies kann nur geschehen, daß wir unsere Studierenden ganz anders intensiv mit den besonderen Lehren befassen als bisher.

Ferner fasse ich das Recht als angewandte Wissenschaft auf. Ich habe daher entscheidendes Gewicht auf das Beibringen eines

umfangreichen Entscheidungsmaterials gelegt.

Der Anfänger muß

von allem Anfang an das Recht in seiner Anwendung kennen lernen,

schon um die große Wahrheit zu begreifen, daß nicht die Theorie,

sondern der Tatbestand des Lebens das Entscheidende ist. Wer daher

diesen Grundriß benutzen will, der versäume nie, jede Entscheidung nachzuschlagen und sie so lange durchzulesen, bis er sie versteht. Nicht rezeptive, sondern produktive Arbeit verlange ich von meinen Lesern.

Dabei weise ich darauf hin, daß ich diesen Grundriß nicht nur für den Studierenden und den Anfänger in der Praxis, sondern auch für den Praktiker selbst geschrieben habe. Ich wollte in einer gedrängten

Übersicht letzterem die Möglichkeit geben, sich in allen wichtigeren Fragen rasch Bescheid holen und sich gleichzeitig zum mindesten

über die Judikatur des Reichsgerichtes informieren zu können.

Ob mir dies gelungen ist, untersteht nicht meiner Beurtellung. Im

Rechtssystem

gibt

keine Wertunterschiede

es

hinsichtlich der Wichtigkeit der einzelnen Teile.

Die ver­

schiedene Dmckart, die leider angewendet werden niußte, beruht auf Gründen der Raumersparnis, auf nichts anderem.

Ich bitte meine

jungen Leser, diese Tatsache immer berücksichtigen zu wollen. Endlich bemerke ich, daß ich die neuesten Auflagen von Liszt

und Allfeld nicht mehr benutzen konnte.

Das Reichsgesetz vom

21.12. 1921, betreffend Erweiterung des Anwendungsgebietes der

Geldstrafe und das Reichsgesetz vom

10.3.1922

über vorüber-

gehende Rechtspflegemaßnahmen in Hinblick auf das Saargebiet konnten nur noch in einem Nachtrag zur Darstellung gebracht wer­

den,

auf

den

sam mache.

ich

ausdrücklich

den Anfänger

aufmerk­

x

Vorwort.

Zum Schluß spreche ich noch meinem lieben Neffen, Herrn

Referendar Georg Eißer (Gießen) meinen herzlichsten Dank aus für die große und verständnisvolle Hilfe, die er mir durch die An­

fertigung des Inhaltsverzeichnisses bei meiner Arbeit geleistet hat. Jena, 17.3.1922.

L. 25. Gerland.

Inhaltsveyeichms. 1. Buch.

Begrifi, Geschichte und Anwendungsgebiet des Strafrechtes. 1. Abschnitt. Der Gegenstand und die Aufgabe des Strafrechtes. I. Der Begriff des Strafrechtes.

gelte

§ 1. 1. Berbrechen und Strafe......................................... § 2. 2. Der Begriff des Strafrechtes. Der Gegenstand des Grundrisses....................................................... § 3. 3. Die systematische Stellung des Strafrechtes. Objektives und subjektives Strafrecht..............

1 3

7

II. Die Funktion des Strafrechtes.

{ 4.1. DieFunktion des Strafrechtes............... § 5. 2.Die verschiedenen Strafrechtstheorien.......

9 16

in. Die Strafrechtswissenschaft.

§ 6. 1. DieAufgaben derStrafrechtswissenschaft ... § 7. 2.Literaturü-ersicht....................................... .. . .

23 27

2. Abschnitt. Dir Geschichte des Strafrechtes. § 8.

I. Allgemeiner übervlick............................................................

29

II. Die einzelnen Phasen der Entwicklung.

§ 9. §10. §11.

§12.

§13. §14. §15.

1. Das römische Strafrecht.................................... 2. Das deutsche Strafrecht im Mittelalter . . 3. Die Entwicklung bis zur Gesetzgebung Karls V. Die Carolina....................................................... 4. Die Entwicklung bis zum Untergang des Deutschen Reiches............................................. 5. Die Entwicklung bis 1869 ................................ 6. Das Reichsstrafgesetzbuch. Seine Entstehung und Fortentwicklung. . . 7. Die Entwicklung bis zur Gegenwart ....

34 36

39

42 46 47 49

3. Abschnitt. Die Strafgesetze und ihr Anwendungsgebiet. § 16. I. DaS Strafgesetz nach Inhalt und Art.............................. § 17. II. Die Entstehung und Auslegung der Strafgesetze ...

52 56

Inhaltsverzeichnis.

xn

518. 519. S § § §

20. 21. 22. 23.

III. ReichSstrafrecht und Landesstrafrecht.................... IV. Das Verhältnis des Reichsstrafrechtes zu früherem Reichsstrafrecht............................................................ V. Das zeitliche Geltungsgebiet der Strafgesetze ... VI. Das räumliche Geltungsgebiet der Strafgesetze . . VII. DaS persönliche Geltungsgebiet der Strafgesetze vill. Die Geltung der Strafgesetze in SriegSzeiten ...

Seite 58 61 61 64 69 71

2. Buch. Der allgemeine Teil. 1. Abschnitt.

Dir Irhrr vom Verbrechen. § 24.

Vorbemerkung. Der Begriff des Verbrechens und seine Einteilungen........................................................................

72

1. Kapitel.

Die Lehre vom Subjekt und Dbjekt der verbrechens. I. DaS Subjett des Verbrechens. § 25. 1. Das einzig mögliche Subjekt des Verbrechens 2. Die Zurechnungsfähigkeit. § 26. a) Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit......................... 8 27. b) Der Begriff und die Fälle der Unzurechnungsfähigkeit § 28. c) Die Bedeutung mangelnder Zurechnungsfähigkeit . II. DaS Objekt des Verbrechens. §29. 1. Das Verbrechensobjekt seinem Begriff nach . §30. 2. Die Konsequenzen des Begriffes ........................

74 75 78 82 84 85

2. Kapitel. Der Begriff des verbrechens. 1. Teil.

Das Hsndlungsverbrrchrn. I. Das Verbrechen als Handlung. §31. 1. Der Handlungsbegriff int allgemeinen .... 2. Die Lehre vom Kausalzusammenhang. §32. a) Der Kausalzusammenhang und die verschiedenen Kausalitätstheorien........................................................ § 33. b) Die sogenannte Unterbrechung des Kausalzusammen­ hanges und die mittelbare Täterschaft .................... §34. 3. Zeit und Ort der begangenen Handlung ... II. DaS Verbrechen als schuldhaste Handlung. §35. 1. Der Schuldbegriff........................................................ §36. 2. Das Gesetz und die Schuldvoraussetzung ... 3. Die verschiedenen Formen der Verschuldung

88

90 93 95

96 99

Inhaltsverzeichnis. § 37. § 38. §39. 1III. Das §40.

§ 41. § 42. §43. § 44.

xm

Seite a) Der Vorsatzbegriff und die verschiedenen Arten des Vorsatzes......................................................................... 100 ß) Die Lehre vom Irrtum.............................................104 b) Die Fahrlässigkeit................................................................ 107 Verbreche» als rechtswidrige Handlung. 1. Die Rechtswidrigkeit im allgemeinen..................... 111 2. Die einzelnen Fälle ausgeschlossener Rechts­ widrigkeit. a) Die Notwehr ......................................................................112 b) Der Notstand...................................................................... 115 c) Die übrigen Fälle ausgeschlossener Rechtswidrigkeit 119 IV. Das Berbrechen alS strafbare Handlung......................... 122 2. Teil.

Das Unterlaffungsorrdrrchrn. § 45. I. Begriff und Arten deS UnterlaffungSverbrechens . . 124 § 46. II. Die Unterlassungsverbrechen im einzelnen..................... 127

3. Kapitel. Vie verschiedenen Erscheinungsformen -es verbrechens.

JI. Vollendung und Versuch. §47. 1.Vollendung und Versuch imallgemeinen .... 129 §48. 2.Der Versuch im einzelnen.....................................131 §49. 3.Der untaugliche Versuch........................................ 135 4. Die Strafbarkeit des Versuches. §50. a) Die Strafbarkeit des Versuches imallgemeinen. . . 137 § 51. b) Der Rücktritt vom Versuch.....................................137 )II. EintSterschaft und Mittäterschaft. Tie Lehre von der Teil­ nahme. §52. 1. Allgemeines..............................................................................141 §53. 2.Eintäterschaft undMehrtäterschaft................................. 147 3. Die verschiedenen Formen der Teilnahme. § 54. a) Die Anstiftung......................................................................149 §55. b) Die Beihilfe......................................................................... 151 §56. c) Der Duchesneparagraph......................................................154 HII. Einheit und Mehrheit der Berbrechen. §57. 1. Allgemeines.............................................................................155 2. Die Lehre von der Verbrechenskonkurrenz. § 58. a) Die Realkonkurrenz.............................................................. 160 § 59. b) Die Jdealkonkurrenz.......................................................... 161 2. Abschnitt.

Dir Lehre von der Strafpflicht des Staates. 1. Kapitel.

Die Strafpflicht des Staates im allgemeinen. § 60.

I. Die verschiedenen BerbrechenSsolgen und ihre Bedeutung 164 II. Die Strafpflicht des Staates.

Inhaltsverzeichnis.

XIV

Seite

§ 61. § 62. § 63.

1. Im allgemeinen................................................................167 2. Prozessuale Bedingtheit der Ausübung der staatlichen Strafpslicht. a) Im allgemeinen................................................................169 b) Insbesondere der Antrag und die Ermächtigung des Verletzten............................................................................170 2. Kapitel.

Die Strafmittel des Staates und die Ausübung der staatlichen Strafpflicht.

I. Das Strafendstem des Strafgesetzbuches. §64. Vorbemerkung............................................................................... 175

1. Die Hauptstrafen. a) Die verschiedenen Hauptstrafeu. § 65. a) Die Todesstrafe...................................................................... 176 §66. ß) Die Freiheitsstrafen......................................... 178 § 67. y) DieGeldstrafe.........................................................................183 §68. Von Gelehrten dieser Zeit ist in erster Linie Anselm von Feuerbach zu nennen (1775—1831). Neben ihn treten Mittermaier, Henke, Klein, Köstlin, Geib, Hälschner, Wächter und viele andere. 2. Auf die Dauer ließ sich aber dieser Zustand nicht mehr halten. Theorie und Praxis hatten sich nichts mehr zu sagen, und es entstand jene befremdende Trennung beider, die auf der einen Seite zur Auffassung der Jurisprudenz als rein historischer Wissenschaft, auf der anderen Seite zur völligen Verachtung der weltfremden Theorien durch die Praktiker führte. Und da die Rechts­ wissenschaft in der Tat aufgehört hatte, eine Wissenschaft der Tat und des Lebens zu sein, so ist es nicht weiter erstaunlich, daß aus den Kreisen der Praktiker heraus ein neuer Aufschwung der Kriminalwissenschaft kam, die aber ihr Objekt nicht mehr im gemeinen Recht, sondern in den Partikularrechten suchte. Zu nennen sind für preußisches Recht namentlich Goltdammer und Oppen­ hoff. Dieser Entwicklung konnte sich auch die Theorie auf die Dauer nicht mehr verschließen. Auch sie wendet sich in der 2. Hälfte des Jahrh, mit steigender Energie dem Landesrecht zu. So veröffentlicht Berner ein preußisches, Wächter ein sächsisches System. Dies war der gefährlichste Moment in der deutschen Strafrechtsentwicklung Ging diese Entwicklung weiter, so war die Einheit im Recht verloren. Allein in diesem Moment größter Gefahr trat der welthistorische Umschwung ein. Bismarck trat auf. Der Norddeutsche Bund, das Deutsche Reich entstanden.

6. Das Reichsstrafgesetzbuch. Seine Entstehung und Fortentwicklung. I. 1. Die Wissenschaft des gemeinen Rechtes hatte, wie wir bereits hervorhoben, in der Idee an der Einheit des deutschen Strafrechtes fest­ gehalten. Allein der Zug der Zeit ging weiter. Man wollte die Rechtseinheit wie die Reichseinheit neu auflebeü lassen, und so sind eine Reihe von Privat­ entwürfen zu einem einheitlichen StGB, in der 1. Hälfte des 19. Jahrh, ver­ öffentlicht. Sie hatten ebensowenig Erfolg wie die gesetzgeberischen Versuche 18492 und ein entsprechender Antrag Bayerns beim Bundestage 1859. Ja, selbst

1 Vgl. hierzu den geistvollen, aber einseitigen Aufsatz R. Loenings in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, III, 262ff. 2 Vgl. Art. 64 der Reichsverfassung von 1849.

§ 14.

48

Entstehungsgeschichte des StGB.

der Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes überging in feinern Art. 4Z. 13 das Strafrecht, und es bedurfte erst eines Antrags Laskers, um die Gesetzgebungskompetenz des neuen Staates auf das Strafrecht aus­ zudehnen. 2. Auf Grund des Art. 4 Z. 13 der Verfassung forderte am 18.4. 1868 der Reichstag des Norddeutschen Bundes die Regierung auf, einen Entwurf eines gemeinsamen StGB, sobald als möglich vorzulegen. Bismarck beauftragte daraufhin den preußischen Justrzminister Leonhardt mit der Ausarbeitung eines Entwurfes. a) Die Arbeit wurde sofort in Angriff genommen. Friedberg, unter Mitwirkung von Ru bo und Rüdorff, stellte einen Entwurf im engsten Anschluß an das preußische StGB, von 1851 auf (E. I), der einer vom Bundesrat gewählten Kommission von Praktikern unterbreitet wurde. Diese, unterstützt durch Gutachten der bedeutendsten zeitgenössischen Gelehrten, arbeitete ihn im einzelnen um, ohne an seine eigentlichen Grundlagen zu rühren. Ihre Arbeit (E. II) ging an den Bundesrat, der einige Einzel­ heiten abänderte und den Entwurf als Vorlage (E. III) am 14.2.1870 an den Reichstag brachte. b) Der Reichstag beriet die Vorlage, nur zum Teil im Plenum, sehr rasch. Die einzige Schwierigkeit entstand über die Todesstrafe, die in der 2. Lesung abgeschafft, in 3. Lesung mit ganz geringfügiger Majorität (127 gegen 119 Stimmen) wieder hergestellt wurde. Das Gesetz wurde am 25. 5. 1870 verabschiedet und erhielt noch am gleichen Tage die Sanktion durch den Bundesrat. Am 8. 6.1870 erfolgte die Publikation. Als Tag des Inkraft­ tretens war der 1.1.1871 bestimmt. c) Die Ereignisse 1870/71 führten zur Gründung des Deutschen Reiches. Die zu diesem Zwecke abgeschlossenen Verfassungsverträge des Norddeutschen Bundes mit den süddeutschen Staaten erhoben das StGB, zum Gesetz des deutschen Bundes, § 2 des Gesetzes vom 16.4.1871 erklärte es zum Reichs­ gesetz. In Kraft getreten ist das StGB, in Süddeutschland teils am 1.1.1871, teils am 1.1.1872. In Elsaß-Lothringen wurde es bereits am 1.10.1871 einaeführt. d) Eine weitere Ausdehnung erfuhr das räumliche Anwendungs­ gebiet des StGB, durch die Einverleibung Helgolands in das Deutsche Reich (1.4.1891). Seit 1886 ist das StGB, auch in den deutschen Kolonien ein­ geführt worden. 3. Übersieht man das RStGB. als Ganzes, so stellt es sich als eine verbesserte Neuauflage des preußischen StGB, von 1851 dar. Historisch betrachtet hat es daher für Deutschland das zum Abschluß gebracht, was Preußen 1851 begonnen, Bayern 1861 fortgesetzt hatte, die Rezeption des französischen Rechtes. II. 1. Das StGB, ist seit seinem Bestehen in Einzelheiten wiederholt abgeändert und ergänzt worden, so durch die Reichskonkursordnung, die Wuchergesetzgebung und andere Gesetze mehr. Zu erwähnen ist ferner die Novelle vom 26. 2. 1876, die zu einer neuen Publikation des StGB, geführt hat, und die für die Gesamtentwicklung nicht ohne Bedeutung ist. Man hatte nämlich 1870 die Rücksicht auf den Verletzten stark betont und hatte deshalb von dem Antragserfordernis in sehr weitem Umfang Gebrauch gemacht. Die Novelle stellte sich auf einen anderen Standpunkt und unter stärkerer Betonung des Staatsgedankens wurde das Antragsrecht in einer Reihe von Fällen wieder beseitigt.

Abänderungen des StGB.

Nebenstrafgesetze.

49

2. Von weiteren No Vellen erwähne ich die sog. Lex Heinze vom 25.6.1900, durch welche die Bestimmungen, betreffend Sittlichkeitsverbrechen teils ver, teils ergänzt wurden, und die Novelle vom 19. 6.1912, die namens f dem Gebiet der EigenLumsverbrechen (§§ 370 Z. 5, 248a, 264a StGB.) wichtige Änderungen vorgenommen hat. 3. Die revolutionären Ereignisse des November 1918 haben ebenfalls das StGB, weitgehend beeinflußt, da durch die Abänderung der Staatsverfassung die die Monarchie betreffenden Bestimmungen des Gesetzes obsolet geworden sind. Auch der Friedensvertrag von Versailles ist nicht ohne Bedeutung, teils wegen der gewaltsamen Abtrennung deutscher Landesteile wie ElsaßLothringen vom Reich und des Raubes unserer Kolonien, teils wegen Be­ stimmungen wie Art. 228, betreffend die Auslieferung Deutscher an die Ententestaaten. Endlich ist auch noch die neue Reichsverfassung zu er­ wähnen, die in ihren Artikeln 7 Z. 2, 30, 36, 48, 116 Bestimmungen ent­ hält, die das Gebiet des StGB, berühren? III. 1. Neben dem StGB, treffen wir eine Fülle von Reichsgesetzen, die strafrechtliche Bestimmungen enthalten, und die mit dem StGB, zusammen das bilden, was wir das einheitliche deutsche Reichsstrafrecht nennen: Wir nennen diese Gesetze die strafrechtlichen Nebengesetze? 8* * Sie * * sind, wie gesagt, in großer Zahl ergangen. Ich erwähne die Gewerbeordnung, das Post­ gesetz, die Konkursordnung, das Handelsgesetzbuch, das Nahrungsmittel­ gesetz, das Sprengstosfgesetz, das Gesetz über den Verrat militärischer Geheim­ nisse, das Sklavenraubgesetz, das Börsengesetz, das Urheberrechtsgesetz, das Vereinsgesetz und viele andere mehr, namentlich auch die völkerrechtlichen Verträge. 2. Endlich hat der Krieg eine Hochflut strafrechtlicher Verordnungen des Bundesrates auf Grund des § 3 Äbs. 1 des Ermächtigungsgesetzes vom 4.8.1914 gebracht, die zur Abhilfe wirtschaftlicher Schädigungen bestimmt sind. Die unübersehbare Menge der ergangenen Einzelbestimmungen kann hier nicht auch noch so flüchtig skizziert, werden. Es mag nur die Bundesrats­ verordnung vom 18.1.1917 erwähnt werden, die eine äußerst wichtige Frage des allgemeinen Teiles, die Frage des Rechtsirrtumes im Hinblick auf die/e Verordnungen behandelt. Der allmähliche Abbau der Kriegseinrichtungen wird naturgemäß auch zu einer Beseitigung dieser Verordnungen führen.

K

7. Die Entwicklung bis zur Gegenwart. II. 1. Das neue StGB, veranlaßte einen raschen und glänzenden Aufschwung der deutschen Strafrechtswissenschaft, die lange genug ihre besten Kräfte an Objekten der Vergangenheit verbraucht hatte und sich nun frohbewußt wieder als Wissenschaft der Tat fühlte. Es erstanden eine Reihe systematischer Werke und Lehrbücher, die alle darauf ausgingen, dogmatisch die Fülle der Einzelbestimmungen zu verarbeiten und zur Einheit des Systems zusammen1 Vgl. die Abänderungen bis 1912 bei Liszt, S. 61ff.. 2 Vgl. Allfeld, Die Strafgesetzgebung des Deutschen Reichs, 1900; Stenglein, Kommentar zu dem strafrechtlichen Nebengesetze, 4. Ausl., 3 Bde., 1911—1913. Val. eine Übersicht bei Liszt, S. 63ff, 8 Das MilitärStGB. vom 20. 6.1872 kann, da es als Sonderstrafrecht nur für eine bestimmte Gruppe von Personen gilt und das StGB, ausschließt (§10 StGB.), nicht als strafrechtliches Nebengesetz bezeichnet werden. Gerland. Strafrecht.

4

§ 15.

50

StGB, und Reformbewegung.

zufassen. Es entstanden ferner mehr den unmittelbaren Zwecken der Praxis dienend die kasuistisch abgefaßten großen Kommentare. Daneben erschien eine Flut von Einzelarbeiten historischen, dogmatischen, auch rechtsphilo­ sophischen Inhaltes, die zum Teil bleibenden Wert besitzen. Aus der Menge oer Namen, die genannt werden müßten, hebe ich nur hervor die der Theoretiker A. Merkel, Binding, Liszt, die der Praktiker v. Buri, Olshausen, Oppenhoff. 2. Die Praxis verarbeitete ebenfalls den neuen Gesetzesstosf in hervor­ ragender Weise. Namentlich muß die Judikatur des Reichsgerichtes hervor­ gehoben werden, die seit 1879 für die Entwicklung der im StGB, liegenden Rechtsgedanken von entscheidender Bedeutung geworden ist. Mein es kann nicht geleugnet werden, daß die im vorigen Paragraphen geschilderte Spaltung von Theorie und Praxis nur allmählich überwunden ist. Nur so läßt es sich erklären, daß die Theorie nicht immer den Einfluß auf die Praxis gewonnen hat, den sie verdiente. Und manche offenbaren Abirrungen der Praxis, so z. B. ihre unbegreifliche Jrrtumslehre, mögen hier ihren letzten Grund finden. Da aber auch im Strafrecht die Entwicklung der Gegenwart klar dahin geht, die Strafrechtswissenschaft konsequent und entschlossen zu einer angewandten Wissenschaft umzugestalten, die keinen inneren Unterschied zwischen Theorie und Praxis kennt, so ist zu hoffen, daß der Gegensatz in Zukunft völlig überwunden wird. Diese notwendige Entwicklung würde auf das Entscheidendste dadurch gefördert werden, daß man die Fachvertreter der Fakultäten in irgendeiner Form an der Ausübung der Rechtswissen­ schaft beteiligen würde. Denn eine Wissenschaft ohne ständige Fühlung mit der Praxis läuft ebenso Gefahr, zu erstarren, wie eine Praxis ohne genügende Fühlung mit der Wissenschaft kaum je der Gefahr entgehen wird, in Technik und Schablone zu verflachen. II. 1. Das StGB, hatte die Rezeption des französischen Rechtes zum Abschluß gebracht. Damit war der Staatsgedanke bis aus geringfügige Ausnahmen zur Durchführung gelangt. Es war die Rechtssicherheit garantiert, die richterliche Freiheit auf die Strafzumessung innerhalb bestimmter StrafMhmen beschränkt. Das Strafrecht selbst war durchaus subjektiv ausgestaltet, Schuld bis auf geringe Ausnahmen Voraussetzung der Strafbarkeit, und zwar in den 2 Formen des Vorsatzes und der Fahrlässigkeit. Das Strafen­ system kannte als eigentliche Hauptstrafe die Freiheitsstrafe in buntester Aus­ gestaltung, von der kurzfristigen Eintagsstrafe bis zur lebenslänglichen Frei­ heitsentziehung. Daneben stand in seltenen Ausnahmefällen die Todesstrafe, in weitem Umfang dagegen die Geldstrafe. 2. War nun auch die Wissenschaft in der ersten Zeit mit dogmatischer Erfassung des neuen Rechtsstoffes Überbesch ästig t, so entstand doch nach einiger Zeit eine lebhafte kritische Bewegung, die auf Umgestaltung des rasch ge­ schaffenen StGB, hindrängte. Und diese Bewegung, das Bestehende nach bestimmter Richtung hin umzugestalten, war, wie ausdrücklich betont werden muß, nicht aus Deutschland beschränkt. Wir treffen sie auch in Österreich, in der Schweiz, in Frankreich, in Italien1 und anderen Ländern, und man kann wohl ohne Übertreibung sagen, daß, wenn die europäische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts im allgemeinen in der Rezeption und der Ausgestaltung der auf dem Naturrecht beruhenden französischen Gesetzgebung bestand. 1 Ein überaus interessanter Entwurf eines StGB, durchaus moderner Richtung ist 1921 veröffentlicht.

Vorbereitung der Gesetzesreform.

51

die Geschichte des 20. Jahrhunderts darin besteht und bestehen wird, in selb­ ständiger Arbeit die Entwicklung fortzuführen und neue Ideen selber auszugestalten. Wie sich diese Tatsache überall auf dem Gebiete des Rechts und der Politik bemerkbar macht, so tut sie dies auch und zwar vor allem auf dem Gebiete des Strafrechtes. 3. a) In den Reformbestrebungen, die namentlich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrh, sehr-'lebhaft wurden, lassen sich bald 2 Richtungen unterscheiden, die wir in anderem Zusammenhang bereits kennen gelernt habens die kla ssi sch e und die soziologische. Beide wollen Reformen, aber die einen gehen von gene­ rell e n, die anderen von individuellen Maßstäben für die Strafbestimmungen aus. Denn die ganze Reformbewegung richtet sich, wie festgestellt werden muß, nicht gegen die Ausgestaltung der Tatbestände (Ausnahmen abgesehen), sondern gegen das Reaktionsrecht, gegen die Strafe, ihre Ausgestaltung und Zumessung. Hier ist nun in erster Linie Liszt zu nennen, der als unermüdlicher Vorkämpfer der soziologischen Schule Größtes für die Reform geleistet hat. Seinem Einfluß ist es zu danken, daß sich die Anhänger der Reformbewegung zum größten Teil.in derJnternationalen Kriminalistischen Vereinigung zu­ sammengeschlossen haben, die wertvolles Material für die Reform zusammen­ getragen hat? Allein auch die Anhänger der klassischen Schule haben ihren Willen zur-Reform bekundet und Finger, Kahl, Beling und andere haben das ihrige dazu beigetragen, um die demnächstige Reform zu ermöglichen? b) Der Kampf geht um das Strafensystem. Die Frage der Todesstrafe, die Frage der kurzzeitigen Freiheitsstrafen, die selbstverständlich Liszt und seine Schule auf das Heftigste bekämpfen, der Ergänzung der Strafe durch sichernde Maßnahmen (die Radikalen wollen die Strafe überhaupt durch sichernde Maßnahmen ersetzen) stehen zur Entscheidung. Daneben ist die Frage der richterlichen Freiheit erneut aufgerollt, und zwar diesmal für die Freiheit gegen die zu schroffe Bindung des Richters durch das Gesetz. Forderungen nach dem unbestimmten Strafurteil oder sogar nach dem unbestimmten Straf­ gesetz sind mit Entschiedenhei aufgestellt und ebenso abgelehnt worden. IH. 1. Die Regierung hat sich dem Verlangen nach einer umfassenden Reform des StGB, nicht ablehnend gegenüber verhalten. Sie bereitet eine solche vielmehr seit Jahren auf breitester Basis vor. 1906 trat im Reichs­ justizamt eine Kommission zusammen. Als Ergebnis ihrer Arbeiten wurde 1909 ein Entwurf, der sog. Vorentwurs* veröffentlicht, der im wesentlichen einen Ausgleich beider Richtungen zu geben versuchte, aber doch mehr aus dem Boden der klassischen Schule stand. Er hielt an der kurzzeitigen Freiheits­ strafe fest, führte aber die bedingte Verurteilung und eine Reihe sog. vor­ beugender Maßnahmen, wie z. B. die Detention geisteskranker Verbrecher ein. Namentlich enthielt er eine besondere Regelung des Jugendstrafrechts unter Heraufsetzung des Strafmündigkeitsalters vom 12. auf das 14. Lebensjahr. 2. Der Vorentwurf führte zu lebhaften Äußerungen in der Literatur? Vertreter der beiden Richtungen Kahl, Liszt, Lilienthal und Gold1 Vgl. weiter oben S. 21 ff. 2 Vgl. die Mitteilungen dieser Vereinigung. 3 Vgl. hier namentlich „Kritische Beiträge zur Strafrechtsreform", herausgegeben von Birkmeyer und Nagler. * Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Veröffentlicht auf Anordnung des Reichsjustizamtes. 1909. s Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen über den Vor­ entwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch, gefertigt im Reichsjustizamt 1911.

4*

52

Allgemeine und besondere Strafgesetze.

sch midi stellten ihm einen Gegeneniwurf 1911 entgegen, der eine Reihe weitgehender Abänderungen enthielt und sich mehr den Anschauungen der soziologischen Schule anpaßte? 3. 1911 trat eine neue Kommission unter Leitung von Lucas, später von Kahl im Reichsjustizamt zur Aufstellung eines Entwurfes zusammen. Der Kommissionsentwurf 1913 ist erst 1920 veröffentlicht Zusammen mit dem weiteren auf Anregung des Reichsjustizamtes von Ebermayer, Jost, Kormann und Bumke ausgearbeiteten Entwurf 1920. Beide Entwürfe tragen keinerlei amtlichen Charakter, sie sind vielmehr bei ihrer Veröffentlichung ausdrücklich als Privatarbeiten bezeichnet? Der Entwurf 1919 ,der voraussichtlich die Grund­ lage für den Regierungsentwurf bilden wird, steht unter dem Einfluß der Lisztfchen Gedanken. Auf der einen Seite wird das freie richterliche Ermessen bei der Strafbemessung stark erweitert. Auf der anderen Seite wird den bessernden und sichernden Maßnahmen neben der Strafe ein weitgehender Einfluß ein­ geräumt, um den obersten Gedanken, Sicherung der Gesellschaft, durchzuführen.

3. Abschnitt.

Die Strafgesetze und ihr Anwendungsgebiet.

$ Kk

I. Das Strafgesetz nach Inhalt und Art. 1. 1. Unter Strafgesetz haben wir jeden Rechtssatz zu ver­ stehen, der sich auf die Pönalisierung einer menschlichen Handlung oder Unterlassung bezieht. Betrachten wir die Summe dieser Rechts­ sätze, so können wir unter ihnen zwei Kategorien unterscheiden. Tie einen bestimmen die konkreten Tatbestände und die an sie ge­ knüpften Strafen (z. B. § 211 GB.); wir nennen sie spezielle oder besondere Strafrechtssätze. Tie anderen abstrahieren vom konkreten Tatbestand und stellen Regeln auf, die für alle Verbrechen oder doch für eine größere Anzahl Gültigkeit haben. Sie haben für sich allein betrachtet keine Bedeutung, sie müssen vielmehr, um angewandt werden zu können, auf einen konkreten Fall bezogen lverden. Ties sind die allgemeinen Strafrechtssätze (z. B. § 43). Man kann sie auch unselbständige oder bezogene Strafrechts­ sätze normen. Dementsprechend zerfällt das StGB, in einen all­ gemeinen (§§ 1—79) und einen besonderen Teil (§§ 80 bis 370). 2. a) Was das Verbrechen anbelangt, so stellt das Straf­ gesetz seinen Tatbestand auf. Unter diesem verstehen wir die Summe derjenigen Voraussetzungen, die im konkreten Fall verwirklicht sein müssen, damit eine bestimmte Strafpflicht des Staates begründet erscheint. Wir unterscheiden im Tatbestand einmal den allgemeinen 1 Gegenentwurf zum Vorentwurs eines deutschen Strafgesetzbuches. "Ausgestellt von Kahl usw. 1911. 2 Entwürfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Veröffentlicht aus Anordnung des Reichsjustizministeriums 1920,

52

Allgemeine und besondere Strafgesetze.

sch midi stellten ihm einen Gegeneniwurf 1911 entgegen, der eine Reihe weitgehender Abänderungen enthielt und sich mehr den Anschauungen der soziologischen Schule anpaßte? 3. 1911 trat eine neue Kommission unter Leitung von Lucas, später von Kahl im Reichsjustizamt zur Aufstellung eines Entwurfes zusammen. Der Kommissionsentwurf 1913 ist erst 1920 veröffentlicht Zusammen mit dem weiteren auf Anregung des Reichsjustizamtes von Ebermayer, Jost, Kormann und Bumke ausgearbeiteten Entwurf 1920. Beide Entwürfe tragen keinerlei amtlichen Charakter, sie sind vielmehr bei ihrer Veröffentlichung ausdrücklich als Privatarbeiten bezeichnet? Der Entwurf 1919 ,der voraussichtlich die Grund­ lage für den Regierungsentwurf bilden wird, steht unter dem Einfluß der Lisztfchen Gedanken. Auf der einen Seite wird das freie richterliche Ermessen bei der Strafbemessung stark erweitert. Auf der anderen Seite wird den bessernden und sichernden Maßnahmen neben der Strafe ein weitgehender Einfluß ein­ geräumt, um den obersten Gedanken, Sicherung der Gesellschaft, durchzuführen.

3. Abschnitt.

Die Strafgesetze und ihr Anwendungsgebiet.

$ Kk

I. Das Strafgesetz nach Inhalt und Art. 1. 1. Unter Strafgesetz haben wir jeden Rechtssatz zu ver­ stehen, der sich auf die Pönalisierung einer menschlichen Handlung oder Unterlassung bezieht. Betrachten wir die Summe dieser Rechts­ sätze, so können wir unter ihnen zwei Kategorien unterscheiden. Tie einen bestimmen die konkreten Tatbestände und die an sie ge­ knüpften Strafen (z. B. § 211 GB.); wir nennen sie spezielle oder besondere Strafrechtssätze. Tie anderen abstrahieren vom konkreten Tatbestand und stellen Regeln auf, die für alle Verbrechen oder doch für eine größere Anzahl Gültigkeit haben. Sie haben für sich allein betrachtet keine Bedeutung, sie müssen vielmehr, um angewandt werden zu können, auf einen konkreten Fall bezogen lverden. Ties sind die allgemeinen Strafrechtssätze (z. B. § 43). Man kann sie auch unselbständige oder bezogene Strafrechts­ sätze normen. Dementsprechend zerfällt das StGB, in einen all­ gemeinen (§§ 1—79) und einen besonderen Teil (§§ 80 bis 370). 2. a) Was das Verbrechen anbelangt, so stellt das Straf­ gesetz seinen Tatbestand auf. Unter diesem verstehen wir die Summe derjenigen Voraussetzungen, die im konkreten Fall verwirklicht sein müssen, damit eine bestimmte Strafpflicht des Staates begründet erscheint. Wir unterscheiden im Tatbestand einmal den allgemeinen 1 Gegenentwurf zum Vorentwurs eines deutschen Strafgesetzbuches. "Ausgestellt von Kahl usw. 1911. 2 Entwürfe zu einem deutschen Strafgesetzbuch. Veröffentlicht aus Anordnung des Reichsjustizministeriums 1920,

Absolute und relative Strafgesetze.

53

vom besonderen Tatbestand. Unter ersterem verstehen wir biejenigen Voraussetzungen, die bei allen Verbrechen oder doch bei einer größeren Anzahl vorhanden sein müssen (z.B. die Zurechnungsfähigkeit) unter besonderem Tatbestand dagegen die Merkmale, die ein bestimmtes einzelnes Verbrechen charakterisieren (z. B. Wegnahme einer fremden beweglichen Sache in der Abficht rechtswidriger Zueignung, § 242). Wir unterscheiden ferner den objektiven vom subjektiven Tat­ bestand. Unter bent ersteren verstehen wir die äußeren Merkmale eines Verbrechens, z. B. nach § 211 die Tötung eines Menschen. Unter sub­ jektivem Tatbestand begreifen wir dagegen die Voraussetzungen, die in der Willensrichtung, in der Psyche des Täters verwirklicht sein müssen, also nach §211 Vorsatz und Überlegung, einen Menschen zu töten oder

nach § 242 Vorsatz und Absicht der rechtswidrigen Zueignung. b) Fassen wir das Strafgesetz in bezug auf die Strafe ins Auge, so wird letztere in verschiedener Weise bestimmt. Einmal wird an einen konkreten Tatbestand nur eine inhaltlich festgelegte Strafe an­ geknüpft (§ 211). Hier reden wir von Strafgesetzen mit absoluter Strafdrohung. Es wird aber meist an einen Tatbestand eine Mehrheit von Strafandrohungen geknüpft, und das Gesetz überläßt es dem Richter, die dem Einzelfall angepaßte Strafe zu bestimmen. Hier redet man von relativen Strafandrohungen. Die Summe der zur Ver­ fügung gestellten Strafen nennt man den Strafrahmen. Das StGB. verwendet absolute Strafandrohungen nur im § 211, sonst nur relative, die zum Teil ungeheuerlich große Strafrahmen aufstellen. Schließlich kann man sich auch Strafgesetze, mit absolut unbestimmten Straf­ drohungen denken. Unserem Recht sind sie indessen fremd. 3. Damit ein Strafgesetz zur Anwendung gelangen kann, muß ein tatbestandsmäßiges Verbrechen vorliegen. Ist dies nicht der Fall, so scheidet die Anwendungsmöglichkeit des Straf­ gesetzes aus, eben weil kein Verbrechen vorliegt^. Kein Verbrechen liegt z. B. im Falle der Notwehr vor, weil die Notwehrhandlung Ausübung eines Rechtes ist, der Notwehrhandlung mithin das Tat­ bestandsmerkmal der Rechtswidrigkeit fehlt. Man kann die sämt­ lichen Gründe, die so die Entstehung einer staatlichen Strafpflicht hindern, zusammenfassen unter den Begriff der Verbrechensausfchließungsgründe? Sie müssen s ehr w ohl unterschieden w erden 1 Vgl. Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906. 2 Man redet in diesem Zusammenhang auch von sogenannten nega­ tiven Tatbestandsmerkmalen; das sind Merkmale, die fehlen müssen, damit der Tatbestand verwirklicht wird. Der Begriff enthält einen Widers­ spruch in sich selbst und ist daher abzulehnen.

54

Strafgesetz und Norm.

von den sogenannten Strafausschließungsgründen. Hier liegt ein Verbrechen vor, bei dem der Gesetzgeber nur aus bestimmten Gründen die Strafe ausschließt, so daß der konkrete Fall straflos bleibt. Beispiele bieten die §§ 53, 173 u. a. m. Auch die Straf­ ausschließungsgründe dürfen ihrerseits nicht verwechselt werden mit den Strafaufhebungsgründen. Man redet von ihnen, wenn das Gesetz aus bestimmten Gründen eine bereits bestehende Strafpflicht, ohne daß es zur Bestrafung gekommen ist, wieder erlöschen läßt. So wenn ein Verbrechen verjährt, oder wenn der Täter freiwillig vom Versuch zurücktritt (§§ 66, 46). II. 1. Voraussetzung der Bestrafung ist das Verbrechen, das in einer Handlung oder Unterlassung besteht. Es kann aber eine Handlung nur dann bestraft werden, wenn sie verboten ist, eine Unter­ lassung nur dann, wenn sie geboten ist. Diese.Verbote und Gebote sind also der Strafdrohung primär, und letztere setzt stets die ersteren voraus. Der Satz aber, daß nur verbotene Handlungen oder ge­ botene Unterlassungen gestraft werden können, findet sich allerdings im Gesetz nicht ausdrücklich ausgesprochen, allein er ist ihm als oberster Grundgedanke immanent, und er gewinnt auch Bedeutung in seiner Umkehrung: Die erlaubte Handlung, die nicht gebotene Unterlassung sind niemals strafbar. Denn es ist zu beachten, daß Rechtsgebote und Rechtsverbote niemals Bedeutung nur für die einzelne Spezial­ materie haben, für die sie erlassen sind. Sie wirken vielmehr uni­ versell durch das ganze Recht, das gerade hierin seine Einheit als geschlossenes System beweist? 2. a) a) Beziehen sich die Strafdrohungen auf die Verbote und Gebote, die wir zusammenfassend Normen nennen können1 2, so er­ gibt sich, daß die Normen von den eigentlichen Strafgesetzen zu trennen sind, denen sie primär sind. Allein diese Normen können auf die verschiedenste Art übertreten werden, wobei dann das Straf­ gesetz die Höhe und Art der Strafe nach der Art der Verletzung be­ stimmen kann. Derartige Sätze des Rechtes sind mithin Bestandteile des Strafgesetzes, nicht der Norm. Und man muß daher unterscheiden zwischen den eigentlichen Verbrechensmerkmalen, die die Hand­ lung als eine bestimmte Deliktsart charakterisieren, und den Straf­ barkeitsmerkmalen, nach denen sich Höhe und Art der Strafe innerhalb einer bestimmten Verbrechensgruppe bestimmt. 1 Vgl. hierzu die glänzende Abhandlung Zitelmanns, Archiv für zivilistische Praxis, 99, Iss. 2 Vgl. hierzu namentlich Binding, Die Normen; Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 1878.

Strafgesetz und Norm.

55

/?) Was nun die Normen selbst mrbelangt, so ist zwischen den Ver­ boten und Geboten zu unterscheiden. Wenn das Gesetz eine Handlung verbietet, so liegt in dem Verbot zugleich ein Gebot des der ver­ botenen Handlung konträren Zustandes. Bei diesen Rechtsgeboten handelt es sich mithin um Lebenszustände, die das Recht vorfindet und mit seinen Geboten umfaßt oder erst selbst anordnet und somit neu schafft. Durch das rechtliche Gebot wird der Lebenszustand zu einem Rechtszustand erhoben, und die tatsächlichen Verhältnisse wandeln sich um in Rechtseinrichtungen. Der eigentliche Inhalt einer verbietenden Norm ist mithin das abstrakte Gebot einer be­ stimmten Rechtseinrichtung, als dessen negative Funktion das Ver­ bot erscheint. Anders liegen die Dinge bei den Geboten der Unterlassungs­ verbrechen. Hier wird eine Handlung geboten, durch die ein Zustand beseitigt oder der Eintritt eines Zustandes verhindert werden soll. Darin liegt ein Doppeltes: einmal das Verbot des zu beseitigenden oder zu verhindernden Zustandes, ferner das Gebot des diesem Zu­ stand konträren Zustandes. Letzterer wird zur Rechtseinrichtung er­ hoben. Und so stellt sich auch hier der letzte Inhalt der Norm dar als ein Gebot einer konkreten Rechtseinrichtung, zu deren Schutz bzw. Aufrechterhaltung bestimmte Handlungen vom Gesetz verlangt werden, b) a) Es ist eine müßige Frage, ob die Normen Bestandteile der Strafgesetze, oder ob sie Sätze des ungeschriebenen Rechtes sind. Dadurch, daß die Norm vom Strafgesetz benutzt wird, wird sie jeden­ falls insoweit ein integrierender Bestandteil des Strafgesetzes. Es kann sein, daß das Strafgesetz auf einmal die Norm und die Strafdrohung schafft. Es braucht dies aber nicht der Fall zu sein. Das Strafgesetz kann seine Strafdrohungen an bereits vorhandene Normen an­ knüpfen, und hier kann dann die Norm in den verschiedensten Teilen des Rechtes ihre Entstehung gefunden haben. Aber wie gesagt: Entscheidend ist nicht, welchem Teil des Rechtes die Norm angehört. Entscheidend ist vielmehr, daß Norm und Strafdrohung verschieden sind, daß beide stets scharf geschieden werden müssen, wenn auch beide rein positivrechtlicher Natur sind. Die Normen können aus Kulturnormen hervorgegangen fein1, sie sind aber von Bedeutung für uns nur als Rechtsnormen. ß) Im allgemeinen enthalten die Strafgesetze den Inhalt der Norm und hängen daher inhaltlich von ihm ab, so daß sie durch eine Veränderung der Norm mit betroffen werden. So hat die

1 Vgl. hierzu M. E. Ma u er, Rechtsnormen und stiüturnormen, 1903»

56

Entstehung der Strafgesetze.

Revolution die Monarchie beseitigt. Damit sind die dem Schutz der Rechtseinrichtung der Monarchie dienenden Strafgesetze obsolet geworden. Es kommt aber auch vor, daß das Strafgesetz den Inhalt der Norm nicht wiederholt, sondern sich auf eine außerhalb des Straf­ gesetzes existente Norm bezieht. Hier erfolgt im Strafgesetz nur eine formelle, nicht eine materielle Bezugnahme auf die in Betracht kommende Norm, die dem Reichs- oder Landesrecht, dem Gesetzes­ oder Verordnungsrecht angehören, bereits existieren, aber auch erst in Zukunft geschaffen werden kann. Änderungen der Norm treffen in diesem Fall das Strafgesetz nicht mit, ja, es kann vorkommen, daß das Strafgesetz zeitweise unanwendbar ist, weil die maßgebende Norm nicht existiert. Man nennt solche Strafgesetze Blankett­ strafgesetze. Beispiele bieten die §§ 145, 327, 328 u. a. m.

§ 17

II. Die Entstehung und Auslegung der Strafgesetze. 1. 1. Recht entsteht bekanntlich durch Gewohnheit und durch Gesetzgebung. Dieser Satz gilt indessen für Strafrecht nicht unbedingt. Vielmehr ordnet § 2 Abs. 1 an, daß eine Handlung nur dann mit einer Strafe belegt werden kann, wenn diese Handlung gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen ist (nulla poena sine lege). Dieser Satz, den auch die Verfassung Art. 116 wiederholt, besagt nun nicht etwa, daß Strafrecht überhaupt nicht im Wege der Gewohnheit entstehen kann. Sein Inhalt ist vielmehr nur, daß die Pönalisierung von Tatbeständen (und hierunter fällt natürlich auch jede Strafverschärfung) im Wege des Gewohnheitsrechtes ausgeschlossen ist. Die Entpönalisierung (dieses Wort ebenfalls im weitesten Sinne genommen) durch Gewohnheitsrecht ist dagegen zulässig, und es kann auch § 2 Abs. 1 selbst durch desuetudo beseitigt werden, da der Wucht der Tatsachen gegenüber — dies ist der letzte Grund für das Gewohnheitsrecht — jede gesetzliche Bestimmung auf die Dauer unhaltbar ist. Unter den heutigen Verhältnissen spielt Gewohnheitsrecht auf dem Gebiet des Strafrechtes allerdings nur eine unbedeutende Rolle. Seine Träger sind die, die das Strafrecht zur An­ wendung zu bringen haben, also Gerichte und Staatsanwaltschaften. Soweit nun Strafrecht nur durch Gesetz entstehen kann, ist unter Gesetz selbst zu verstehen das verfassungsmäßig zustande gekommene Gesetz (also auch der Staatsvertrag), aber auch die auf Grund eines Ermächtigungsgesetzes erlassene Verordnung. 2. Über die Entstehung der Strafrechtssätze, sei es im Wege des Gesetzes oder der Gewohnheit, ist nichts weiter zu bemerken. Es gelten die allgemeinen Grundsätze des Staatsrechtes.

Auslegung der Strafgesetze.

57

II. Bezüglich der Auslegung der Strafgesetze gelten im wesent­ lichen die allgemeinen Grundsätze, die für die Auslegung von Gesetzen schlechthin gelten. Es kann mithin auf sie verwiesen werden? Hier sind nur drei Sätze aufzuführen, die für das Strafrecht besonders gelte.n. 1. Zunächst ist wiederum auf § 2 Abs. 1 hinzuweisen. Der Satz nulla poena sine lege enthält insofern eine Einschränkung der all­ gemeinen Auslegungsregeln, als er die Pönalisierung von Tat­ beständen in dem weiter oben festgestellten Sinne durch Analogie ausschließt. So konnte § 242 analogerweise nicht auf die Entwendung elektrischer Kraft ausgedehnt werden (elektrische Kraft ist keine be­ wegliche Sache im Sinne des § 242). Es mußte daher, um die in Frage kommenden Tatbestände bestrafen zu können, ein neues Gesetz ergehen? Andererseits ist nur die Pönalisierung, nicht aber die Entpönalisierung von Tatbeständen im Wege der Analogie ausgeschlossen. Die letztere ist mithin auf dem Gebiet des Strafrechtes, wenn auch nur beschränkt, zulässig. So ist § 46 analogerweise auch auf die Teil­ nehmer auszudehnen. 2. Eine dem Strafrecht durchaus eigentümliche Auslegungsregel enthält der Satz: in dubio mitius. Stehen sich zwei Auslegungs­ möglichkeiten durchaus gleich begründbar gegenüber, so ist derjenigen der Vorzug zu geben, die für den Verbrecher zu dem mildesten Er­ gebnis führt. Denn der Beweis der Strafbarkeit einer Handlung muß sich unbedingt und zweifellos aus dem Gesetz nachweisen lassen. Auch dies ist eine Folge des Satzes nulla poena sine lege. Da nun von den zwei in Frage stehenden Möglichkeiten nur eine zur Anwen­ dung kommen kann, hat dies die mildere zu sein. Leider hat die Praxis, namentlich auch die des Reichsgerichtes den überaus wichtigen Satz in seiner Tragweite nicht immer voll erkannt. 3. Endlich ist noch cmf folgendes hinzuweisen: Es kann sein, daß bestimmte Fragen in der Schwebe bleiben, weil die Gründe pro und contra sich die Wage halten. Kann der Satz in dubio mitius nicht zur Anwendung kommen, so hat die Zweckmäßigkeit zu entscheiden. Letztere ergibt sich aus der Funktion des Strafgesetzes, und es erscheinen mithin die funktionellen Grundprinzipien des Strafrechtes auch als Auslegungsprinzipien. Es darf aber diese funktionelle Auslegung nur dann angewandt werden, wenn auf 1 Vgl. Lehmann, Grundriß, 1, 23ff. ' Vgl. E.R. 32, 165; Reichsgesetz vom 9.4.1900.

58

Reichsstrafrecht und Landesstrafrecht.

andere Weise der Inhalt des Gesetzes nicht einwandfrei bestimmbar ist. Sie ist wie der Satz in dubio mitius nur subsidiär verwendbar, und namentlich darf auf diese Weise nicht etwa die unzweifelhafte, wenn auch unzweckmäßige Konsequenz eines Gesetzes beseitigt werden. Denn es gilt der Satz: lex falsa lex est.

§ 18.

III. Aeichsstrafrecht und Landesstrafrecht. I. Dem Reich steht die Gesetzgebung über Strafrecht unbeschränkt zu (Art. 7 Z. 2 RV.). Soweit es von diesem Recht Gebrauch gemacht hat, geht das Reichsrecht dem Landesrecht unbedingt vor (Art. 13 Abs. 1 RV.). II. Das Reich hat aber von der Möglichkeit, das Strafrecht ausschließlich zu regeln, keinen Gebrauch gemacht. Es hat vielmehr nur einzelne Teile geregelt, so daß auf den übrigen Gebieten das Landesstrafrecht in Geltung geblieben ist und auch jederzeit neu entstehen kann. Über die Grenzen nun, in denen sich das Landes­ strafrecht betätigen kann, gilt folgendes: 1. Die zur Zeit des Inkrafttretens des StGB, in Geltung befindlichen Landesstrafgesetzbücher, sowie etwa noch bestehendes Gewohnheitsrecht sind nicht in complexu aufgehoben worden unter ausdrücklicher Aufrechterhaltung des vorbehaltene Gebiete betreffen­ den Landesrechtes. Das Reichsrecht geht vielmehr, statt diesen ein­ deutigen Weg einzuschlagen, prinzipiell vom Fortbestehen des Landes­ rechtes aus, das nur insoweit für aufgehoben erklärt wird, als es Materien, die Gegenstand des StGB, find, betrifft (§ 2 Abs. 1 EG.). Aus dieser nicht sehr klaren Bestimmung ergeben sich eine Reihe von Schwierigkeiten. a) «) Unter dem verschwommenen Begriff Materie haben wir das zu verstehen, worauf sich die Strafgesetze als auf die relevanten Lebenserscheinungen beziehen. Dabei eignet dem Begriff Materie der Begriff der einheitlichen Geschlossenheit. Nun sind die Lebens­ erscheinungen, auf die sich allein und ausschließlich die Strafgesetze beziehen, menschliche Handlungen und Unterlassungen. Sie sind der Gegenstand der Strafgesetze. Allein hier ist ein Unterschied zu beachten: Es kann das Gesetz die einzelne Handlung ins Auge fassen und von ibr ausgehen. Dann ist der einzelne Tatbestand die Materie des StGB. Es kann aber auch sein, daß letzteres eine Kategorie menschlichen Verhaltens als Einheit ins Auge faßt und sie als solche regelt. Hier ist dann die Materie im Sinne des StGB, die ganze Gruppe von Tatbeständen, die zur Einheit durch das gemeinsame Objekt der einzelnen Tatbestände zusammengefaßt wird. So geht

Der Begriff der strafrechtlicher! Materien.

59

z. B. das Gesetz bei den Übertretungen vom Einzelbestand aus, bei den Diebstahlsverbrechen von der Gruppe der Tatbestände. Im ersten Fall steht es dem Landesrecht frei, irgendwelche Tatbestände aufzustellen, im zweiten Fall kann es überhaupt keine der Gruppe angehörigen Tatbestände aufstellen, auch wenn der konkrete Tat­ bestand, wie ihn das Landesrecht aufstellen will, in der reichsrecht­ lichen Regelung nicht enthalten ist. So kann das Landesrecht die studentische Schlägermensur nicht unter Strafe stellen, da das StGB, die Zweikampfshandlungen als solche behandelt. ß) Die Frage nun, ob das StGB, vom Einzel- oder vom Gruppen­ tatbestand ausgeht, ob es mithin eine Gruppe von Handlungen erschöpfend oder nicht regeln will, ist nur für den Einzelfall zu be­ antworten und macht Schwierigkeiten; denn das StGB, trifft seine Bestimmungen einmal so, daß es eine Handlung ausdrücklich für strafbar erklärt, dann aber auch so, daß sich aus seinem konkludenten Schweigen ergibt, eine Handlung solle straflos bleiben. So ist im Einzelfall stets zu untersuchen, ob das Gesetz einen bestimmten Fall nicht regeln oder straflos lassen will. Hier sind viele Streitfragen in der Praxis entstanden, die nur durch sorgfältigste Auslegung des StGB., bei dem die Verwertung der Entstehungsgeschichte und der Materialien unumgänglich ist, gelöst werden können? b) a) Da aber unterMaterie ein bestimmtes menschliches Verhalten zu verstehen ist, ergibt sich, daß keine Materien im Sinne des § 2 Abs. 1 EG. die allgemeinen Vorschriften des StGB. sind. Denn sie haben für sich als Bezugsvorschriften keine eigene Existenz. Die Landesgesetzgebung ist also für das Landesstrafrecht an sie nicht gebunden. ß) Die Ansichten hierüber sind allerdings sehr geteilt. Andere sehen auch in den allgemeinen Vorschriften Materien und lassen keinerlei Abweichungen des Landesrechtes zu. Wieder andere wollen zwischen bindenden und nicht binden­ den Vorschriften des allgemeinen Teiles unterscheiden, verwickeln sich aber damit in viele Wiedersprüche. Die Praxis der Gerichte und der Gesetzgebung der einzelnen Länder steht auf dem von uns entwickelten Standpunkt? c) Um Schwierigkeiten zu beseitigen, zählt §2 Abs. 2 E. G. eine Reihe von Materien auf, die dem Landesrecht vorbebalten geblieben sind. Zum Teil wird hier die landesrechtliche Kompetenz auch erhalten für Tatbestände, die unter vom Reichsrecht behandelte Materien fallen. In Betracht kamen Vorschriften über Preßpoüzer-, Post-, Steuer-, Zoll-, Fischerei-, Jagd-, Forstund Feldpolizeisachen sowie über den Holz- (Forst-) Diebstahl. 1 Vgl. dazu etwa Köhler, S. 151 f.; Frank, § 2 CG., Anm. III. Beispiele: Das Landesrecht kann die unbeeidigte falsche Aussage nicht unter Strafe stellen (§§ 153ff.), ebenfalls nicht das Konkubinat (§§ 171ff.) usw. 2 E.R. 30, 31; vgl. zum Ganzen Frank, §2 EG. Anm. VI Abs. 2.

60

Landesstrafrecht.

2. a) Soweit das Reichsrecht eine Materie nicht regelt, ist das bisherige Landesrecht aufrecht erhalten geblieben und kann neues Landesrecht entstehen. Soweit das Reichsrecht aber, das auf Grund des Art. 7 Z. 2 RV. seine Kompetenz stets erweitern kann, eine Materie regelt, ist das Landesrecht ausgeschaltet. § 2 Abs. 1 EG. regelt aber nicht nur das Verhältnis des Landesrechtes zum StGB., sondern überhaupt zum Reichsstrafrecht; er gilt also auch für das erst später entstandene Reichsstrafrecht? Bezieht sich daher aufrecht erhalten gebliebenes Landesstrafrecht auf eine Vorschrift, die durch Reichsrecht beseitigt ist, so tritt an Stelle der be­ zogenen landesrechtlichen Vorschriften die neue reichsrechtliche 3. EG.). Es ist sehr wohl zu beachten, daß gerade in dieser Hinsicht der Satz entscheidendes Gewicht gewinnt, daß die allgemeinen Vorschriften keine Materien im Sinne des § 2 Abs. 1 EG. sind. Das aufrecht erhaltene Landesrecht ist mithin aus den früheren allgemeinen Vorschriften des Landesrechtes zu ergänzen, falls keine Sondervorschriften vorliegen. Bei neuerem Landesrecht ist, falls nichts Gegenteiliges bestimmt ist, anzunehmen, daß die allgemeinen Regeln des StGB, maßgebend sein sollen.

b) Allein auch innerhalb seines Betätigungsgebietes ist das Landesstrafrecht gewissen Einschränkungen unterworfen. Einmal ist das Landesrecht an das Strafensystem des StGB, gebunden. Neue Gesetze dürfen keine dem StGB, fremden Strafen androhen; bei den älteren Gesetzen, die andere Strafen kennen, darf nur auf Strafen des StGB, erkannt werden? Ausnahmen existieren für Forst- und Gemeindearbeit, die als Ersatzstrafe für nicht beitreibbare Geldstrafen vom Landesrecht ver­ wendet werden kann. Ferner ist das Landesrecht an eine bestimmte Straf­ höhe gebunden; es darf nur Gefängnis bis zu 2 Jahren, Haft bis zu 6 Wochen, Geldstrafe (unbeschränkt!), Einziehung einzelner Gegenstände und Entziehung öffentlicher Ämter androhen. Diese Beschränkung gilt indessen nur für das nach dem Inkrafttreten des StGB, entstandene, nicht aber für das ältere Strafrecht, das also höhere Strafen androhen kann (§§ 5, 6 EG.).

3. Endlich ist es dem Landesrecht Vorbehalten geblieben, die notwendigen Übergangsbestimmungen zu erlassen, um das in Kraft

bleibende Landesrecht mit dem Reichsrecht in Einklang zu bringen (§ 8 EG.). Zu diesem Zweck haben alle Länder außer Preußen und Waldeck seiner Zeit sog. Ausführungsgesehe zum StGB, er­ lassen? 1 Vgl. E. R. 10, 220ff. 2 Die Umwandlung muß gemäß § 8 EG. durch die Landesgesetzgebung erfolgen. Hat diese versagt, so kann mangels einer Strafmöglichkeit über­ haupt nicht gestraft werden. Die Umwandlung in das freie Ermessen des Richters zu stellen (Binding), ist unmöglich. 8 v. Holtzendorff, Handbuch des Strafrechtes, 4, 5ff., gibt eine Übersicht derselben.

Verhältnis von Reichs- zum Reichsstrafrecht.

ßl

III. Soweit ein Landesgesetz den im vorstehenden entwickelten Rechtssätzen widerspricht, ist es unverbindlich. Der Richter, der die Frage der Verbindlichkeit selbständig zu entscheiden hat**, darf solches Recht nicht anwenden, sondern muß es für ungültig erklären. Dies ist in einer Reihe wichtiger Fälle geschehen? Ferner kann die Reichs­ regierung von der Landesregierung formell die Aufhebung des dem Reichsrechte widersprechenden Landesrechtes verlangen (Art. 15 Abs. 1 RV.).

IV. Das Verhältnis des Nrichsstrafrrchtes zu früherem § IN. Neichsstrafrecht. Was das Verhältnis von späterem zu früherem Reichsstrafrecht anbelangt, so ist zu unterscheiden: 1. Das im Augenblick des Inkrafttretens des StGB, vor­ handene Bundes- bzw. Reichsstrafrecht ist durch das StGB, nur insoweit aufgehoben, als es Materien des StGB, betrifft. Die Aus­ führungen, die wir in dieser Hinsicht für Landesrecht gegeben haben, kommen zur analogen Anwendung (§2 Abs.1 EG.). Die Einschränkung, daß auch nach älterem Recht nur auf die Strafarten des StGB, erkannt werden kann, findet ausnahmslos Anwendung (§ 6 EG.). 2. Ist Strafrecht nach dem Inkrafttreten des StGB, ent­ standen, so gilt der Satz lex posterior derogat priori. Es können mithin Materien des StGB, ergänzt und umgestaltet werden. Entgegenstehende Bestimmungen werden durch neues Recht auch ohne ausdrückliche Vorschrift aufgehoben, wobei es ganz gleichgültig ist, ob der neue Strafrechtssatz in einer Novelle zu dem alten Recht oder in irgendeinem anderen Gesetz enthalten ist. Regelt späteres Recht eine Materie im Sinne des § 2 EG., so entfällt die ganze frühere Regelung der Materie, sei es, daß sie sich im StGB., sei es, daß sie sich in einem Nebengesetz befand.

V. Das zeitliche Geltungsgebiet der Strafgesetze. I. Ein Strafgesetz gilt von der Zeit seines Inkrafttretens bis zur Zeit seiner Wiederaufhebung. Wann ein Strafgesetz in Kraft tritt, bestimmt sich entweder aus dem Gesetze selbst oder nach den allgemeinen Vorschriften (Art. 71 RV.). Wann das StGB, in 1 In Zukunft kann allerdings die Entscheidung eines obersten Reichs­ gerichtshofes durch die zuständige Reichs- oder Landeszentralbehörde an­ gerufen werden, falls das in der Verfassung zur Schaffung eines solchen Gerichtshofes vorgesehene Reichsgesetz verabschiedet ist (Art. 13 Abs. 2 RV.). • Vgl. z. B. E. R. 40, lOOff.

§ 20.

62

Zeitliches Geltungsgebiet der Strafgesetze.

Kraft getreten ist, ergibt sich aus früheren Ausführungen? Außer Kraft tritt ein Strafgesetz entweder durch ausdrückliche oder still­ schweigende Aufhebung durch ein anderes Gesetz, und zwar mit dessen Inkrafttreten, oder durch Ablauf einer Frist oder Eintritt einer Bedingung, die es sich selbst gesetzt hat. Wir haben mithin zu unterscheiden dauernde, befristete und bedingte Strafgesetze. II. la) a) Es liegt auf der Hand, daß ein Strafgesetz zur An­ wendung auf alle während seiner Geltungsdauer begangenen und zur Aburteilung gelangten Verbrechen kommt. Allein es kann sich die Gesetzgebung zwischen der Zeit der Tat und der Aburteilung ändern, und es entstehen dann Schwierigkeiten. Man redet hier von zeitlicher Kollision der Strafgesetze und nennt die einschlägigen Rechtssätze auch wohl intertemporales Strafrecht. ß) Der Grundgedanke, von dem dabei das Gesetz ausgeht, ist, daß eine Handlung nur dann mit Strafe belegt werden kann, wenn die Strafe gesetzlich feststand, ehe die Tat begangen wurde. Dieser Satz des § 2 Abs. 1 stellt mithin das Prinzip auf: Strafgesetze haben keine rückwirkende Kraft. b) Allein dieses Prinzip wird durch eine wichtige Ausnahme durchbrochen, wonach den Strafgesetzen unter bestimmten Voraus­ setzungen sowohl rück- als auch nachwirkende Kraft beigelegt wird. Es ist nämlich bei Verschiedenheit der Gesetze von der Zeit des Ver­ brechens bis zu dessen Aburteilung stets das mildeste Gesetz an­ zuwenden (§ 2 Abs. 2), und dieser Satz gilt nicht nur für die Gesetze zur Zeit der Tat und der Aburteilung, sondern auch für die sogenannten Zwischengesetze, die also nur in der Zwischenzeit zwischen Tat und Aburteilung vorübergehend gegolten haben. Kann es doch vorkommen, daß eine Tat mit gleicher Strafe bedroht ist zur Zeit der Aburteilung und der Tat, daß aber in der Zwischenzeit eine mildere Auffassung Platz gegriffen hatte. 2. a) Aus dem Ausgeführten ergibt sich, daß pönalisierende Strafgesetze, mögen sie die Strafbarkeit begründen oder erhöhen, niemals rück- oder nachwirkende Kraft haben. Hier kommt also das Grundprinzip zur Anwendung, das Gesetz der Tatzeit entscheidet. Entpönalisierende Gesetze, die die Strafbarkeit beseitigen, haben dagegen unbedingt rückwirkende Kraft, gleichgültig, aus welchen Gründen es zur Aufhebung der Strafbarkeit gekommen ist. Denn ein Gesetz, welches die Strafbarkeit eines Verbrechens aufhebt, ist stets das mildere gegenüber einem Gesetz, das die Strafbarkeit begründet. 1 Vgl. weiter oben S.47f.

Das mildeste Strafgesetz.

63

Dies gilt auch für befristete Gesetze, wie z. B. das Sozialistengesetz, das bis zum 1.10.1890 befristet galt.1 2 3Anders 4 * 6 dagegen ist zu entscheiden, wenn ein Gesetz Handlungen nur für einen gewissen Notstand unter Strafe gestellt hat, und die die Strafbarkeit bedingenden Verhältnisse in Wegfall kommen. Es werden z. B. Zuwiderhandlungen gegen ein Pferdeausfuhrverbot oder gegen Verordnungen, betreffend eine konkrete Viehseuche unter Strafe gestellt, und das Pferdeausfuhrverbot usw. wird demnächst ausgehoben. Hier können Fälle noch nach Aushebung des Verbotes bestraft werden. Denn hier ist nicht das Strafgesetz als solches durch die Aufhebung aufgehoben. Zur Zeit der Aburteilung entfällt die Bestrafungsmöglichkeit neuer Fälle nur deshalb, weil sie nicht mehr begangen werden können, da der Tatbestand mangels des Ausfuhrverbotes nicht mehr verwirklicht werden kann. Die Begehung während der Zeit des Verbotes ist mithin Tatbestandsmerkmal des Verbrechens, das daher auch nach Aufhebung des Verbotes strafbar bleibt? b) a) Rück- und nachwirkende Kraft hat auch das Gesetz,

welches trotz Beibehaltung der Strafbarkeit als das mildere Gesetz anzusprechen iff^ Das mildeste Gesetz unter mehreren Gesetzen ist aber dasjenige, das zu der für den Täter günstigsten Möglichkeit führt, sei es, daß überhaupt Straffreiheit einzutreten hat, sei es, daß eine geringere Strafe verhängt werden kann? ß) Um nun die Frage nach dem mildesten Gesetz zu beantworten, hat der Richter den Fall unter Heranziehung aller maßgebenden strafrechtlichen Vor­ schriften nach den verschiedenen Gesetzen abzuurteilen; das günstigste Ergebnis entscheidet das Gesetz, welches anzuwenden ist. Es sind also nicht nur zu berück­ sichtigen die verschiedenen Strafen ihrer Höhe und Art nach — die Vergleichung erfolgt nach Maßgabe der allgemeinen Vorschriften der §§ 1, 21 —, sondern auch die Nebenstrafen, die Sätze über Rückfall, Verjährung usw. Auch die Vor­ schriften über Strafantrag sind zu beachten, obwohl sie formaler Natur sind, ihrer materiellrechtlichen Konsequenzen halber? Und endlich müssen mit heran­ gezogen werden Sätze, die man indirekteStrafrechtssätze nennen kann. Sie finden sich nicht in den eigentlichen Strafgesetzen, sind aber für das materielle Strafrecht von gestaltender Bedeutung, sei es, daß die Strafgesetze Bezugs begriffe verwenden, sei es, daß sich wie z. B. im §904 BGB. die Bedeutung der in Betracht kommenden Vorschrift auf das Strafrecht erstreckt? 1 Anders E.R. 21, 294ff. 2 E.R. 16, 171; 46, 337. 3 Daß sie verhängt wird, ist nicht notwendig. Erkennt Gesetz a auf Haft oder Gefängnis, Gesetz b auf Gefängnis, so muß nach Gesetz a abgeurteilt werden. Es kann aber auch auf Gefängnis erkannt werden. 4 Die Frage ist bestritten, ist aber in authentischer Weise wie im Text durch Art. III der Novelle vom 26.2. 1876 entschieden, dem allgemeine Bedeutung beikommt. 6 Die Frage ist sehr bestritten. Ein Kaufmann unterläßt es, eine Bilanz aufzustellen. Nach dem alten HGB. war er hierzu verpflichtet, nach dem neuen ist er es nicht mehr. Der Inhalt der §§ 239, 240 KO. bestimmt sich nun nach dem HGB. Das neue HGB. ist als das mildere Gesetz zu berücksichtigen. So E.R. 33,184ff. Vgl. dagegen auch E.R. 34,157ff.

64

Das räumliche Geltungsgebiet der Strafgesetze.

Die Beurteilung selbst darf immer nur nach dem einen oder dem anderen Gesetz erfolgen. Eine Verbindung mehrerer Gesetze ist ausgeschlossen, aus­ genommen der Fall, daß das mildere Gesetz zwar ein geringeres Strafmaximum, aber ein höheres Strafminimum hat als das schwerere Gesetz. Hier ist zwar auch das mildere Gesetz anzuwenden, aber es darf bis zu dem Minimum des schwereren Gesetzes herabgegangen werden. Sind endlich die mehreren Gesetze gleich schwer, so hat nach dem Grund­ prinzip das Gesetz der Tatzeit zur Anwendung zu kommen?

3. Die Ausnahme, daß das mildere Gesetz zur Anwendung zu kommen hat, gilt, wenn die Gesetzgebung bis zur Aburteilung gewechselt hat. Es kann mithin § 2 Abs. 2 auch noch in der Revisions­ instanz zur Anwendung kommen, falls der Wechsel in der Gesetz­ gebung, z. B. erst nach dem Erlaß eines revisibelen Urteiles erfolgt ist. Allerdings muß die Fehlerhaftigkeit der Gesetzesanwendung gerügt sein, da der Richter nach den formellen Bestimmungen der StPO, ex officio nicht befugt ist, das Urteil abzuändern (vgl. § 384 StPO.)?

21.

VI. Das räumliche Geltungsgebiet der Strafgesetze. 1. 1. Nach den Tatbeständen des StGB, ist es dem strengen Wort­ laut nach gleichgültig, wo und von wem das Verbrechen begangen ist, ob im In- oder Ausland, ob vom In- oder Ausländer? Allein es finden sich im allgemeinen Teil detaillierte Vorschriften, ob nur die im Jnlande oder ob auch und inwieweit die im Auslande begangenen Verbrechen nach den deutschen Strafgesetzen im Inland verfolgt werden können. Die in Betracht kommenden Rechtssätze regeln mithin das räumliche oder sachliche Anwendungsgebiet der Strafgesetze. Man nennt sie irreführenderweise internationales Strafrecht, obwohl sie dem nationalen Recht angehören, dessen Grenzen sie bestimmen? 2. Man hat in rein rationalistischer Weise aus allgemeinen Er­ wägungen heraus feste Prinzipien aufzustellen versucht, nach denen der Staat das räumliche Geltungsgebiet der Strafgesetze zu bestimmen habe. Nach

1 Vgl. zum Ganzen auch E. R. 55,199. 2 Zu Unrecht hat man diesen Satz bestritten und ist damit zu ganz un­ haltbaren Konsequenzen gekommen. E. R. 22,347 ff. 3 Der Fall, daß die Qualifikation des Täters als In- oder Ausländer Tatbestandsmerkmal einer bestimmten strafbaren Handlung ist, gehört nicht hierher und hat daher im folgenden auszuscheiden. Vgl. etwa § 296a. 4 Das Landesrecht ist in seinem Verhältnis zum Ausland oder zu anderen deutschen Ländern nicht an das Reichsrecht gebunden. Es ist viel­ mehr vollkommen frei. Soweit es keine besonderen Vorschriften in den ein­ zelnen Gesetze enthält, kommen bei den vor dem StGB, entstandenen Ge­ setzen die Vorschriften der früheren Landesstrafgesetzbücher zur Anwendung, sonst die Vorschriften des StGB.

Inland und Ausland.

G5

dem TerriLorialitätsprinzip soll das einheimische 3 traft echt auf alle Jnlandsverbrechen, aber nur auf sie Anwendung finden, gleichgültig, ob der Täter In- oder Ausländer ist. Nach dem Personalitätsprinzip sollen nur die Verbrechen des Inländers, gleichgültig, ob im In- oder Ausland begangen, bestraft werden,, wobei aber der Ausländer, der sich im Inland aufhält, al» Inländer (subdltus temporarius) angesehen wird. Tas Realprinzip laß: die Strafgesetze Anwendung finden auf alle Verbrechen, die sich gegen in ländische Rechtseinrichtungen oder Rechtsgüter richten, gleichviel, ob int In- oder Ausland begangen. Das Universalitäts- oder Weltstrafrechts ■ Prinzip geht von der Kulturgemeinschaft aller Staaten aus und verlangt Anwendung der Strafgesetze, wo und von wem auch immer der an sich straf bare Tatbestand verwirklicht ist. — Gegen jedes dieser Prinzipien lassen sich Einwendungen geltend machen. Dem geltenden Recht sind sie in ihrer Aus» schließlichkeit fremd, sie sind mithin lediglich kritische Postulate, nicht aber dog matische Prinzipien.

II. 1. a) Als Grundregel geht das StGB, vom Territorialitäts prinzip aus. Es findet mithin Anwendung auf alle im Gebiet de» Deutschen Reichs begangene Verbrechen, auch wenn der Täter ein Ausländer ist. Wegen der im Auslande begangenen strafbaren Hand hingen findet in der Regel keine Strafverfolgung statt (88 3, 4 Abs. 1\

h) Um die Regel anwenden zu können, müssen die Begriffe Aus- und Inland festgelegt werden. Tas StGB, definiert nur den Begriff Ausland; er umfaßt jedes nicht zum Teutschen Reich gehörige Gebiet (§8). Daraus ergibt sich in Verbindung mit Art. 2 RB. der Begriff des Inlandes; es setzt sich zusammen aus den Gebieten der deutschen Ländert Seine Grenzen werden einstweilen durch Art. 27 bis 30 des Friedensvertrages von Versailles bestimmt. Tie Ab stimmungsgebiete gelten daher vorläufig als Inland, das gleiche in für das Saarrevier anzunehmen? Erweiterungen und Einschränkungen des Begriffes ergeben sich aus den völkerrechtlichen Fiktionen, wo nach Staatsschiffe stets, Handelsschiffe auf offener See, die Stüften gemässer auf 6 Seemeilen, der Luftraum über Land als Inland gelten. Vereinbarungen in dieser Hinsicht mit anderen Staaten sind möglich. So können z. B. Zollabfertigungsstellen im Ausland den Charakter als Inland erhalten.

2. Tie Grundregel des Gesetzes ist von einer Fülle voll Ausnahmen durchbrochen. Und zwar müssen wir in dovpelter Hinsicht unterscheiden, einmal, ob es sich um Auslandsverbrechen eines Inländers oder Ausländers handelt, das andere Mal, welchen 1 Tie Konsulargerichtsbezirke sind mithin Ausland. Vgl. Reichsgesetz vom 7. 4.1900, § 19. 2 Vgl. hinsichtlich des letzteren Art. 49, Anlage zu Art. 50, Kapitel TI, §1, Kapitel III, §§34, 35 des Fried ensver trag es. tA? rland Str* Tredif

$

66

Auslandsverbrechen.

Charakter die strafbare Tat hat, ob es sich im Sinne des § 1 um ein Verbrechens Vergehen oder eine Übertretung handelt. -

a) Übertretungen, die im Ausland begangen sind, sind nur dann verfolgbar, wenn dies durch besondere Gesetze oder Staatsverträge ungeordnet ist (§ 6).

b) Bezüglich Verbrechen und Vergehen ist jedoch zu unter­ scheiden, ob der Täter ein Deutscher oder ein Nichtdeutscher ist, da der Deutsche in bedeutend weiterem Umfange als der Nichtdeutsche zur Beranwortung gezogen tberden kann. «) OHUe Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit des Täters und den Begehungsort ist die Strafmöglichkeit in einer Reihe vcm Gesetz namentlich genannten Fällen gegeben. Hier nennt zunächst § 4 Abs. 2 Z. 1 Hochverrat in jeder Form, Amtsverbrechen und Amtsvergehen seitens eines Beamten des Reiches oder eines der Länder, endlich Geldverbrechen (also § 150 nicht). Weitere Möglichkeiten finden sich in einer Reihe von Nebengesetzen, so im Sprengstoffgesetz vom 9.3.1884, im Sklavenraubgesetz vom 28.6.1895 u. a. m. Hier gilt also das Universalitätsprinzip bzw. das Realprinzip. Der Deutsche kann dagegen im erweiterten Umfange strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Abgesehen von den, eben erwähnten Fällen besteht bei ihm Strafmöglichkeit für Auslandshandlungen im Falle des Landes­ verrates in jeglicher Form (§ 4 Abs. 2 Z. 2), der feindlichen Handlungen gegen befreundete Staaten nach § 102, des Seevergehens nach § 298, end­ lich des Verrats militärischer Geheimnisse (RG. vom 3.6.1914, §16) usw. Neben den namentlich genannten Fällen besteht ferner eine ganz all» gemeine Sttafmöglichkeit für alle im Ausland begangenen Verbrechen und Ver­ gehen eines Deutschen, allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die Tat durch die Gesetze des Begehungsortes mit Strafe bedroht ist8 (§ 4 Abs. 1 Z. 3), und daß der nach ausländischem Recht zur Verfolgbarkeit der Handlung erforderliche Strafantrag gestellt ist (§ 5 Z. 3). Ferner darf die Straf­ pflicht des Auslandes nicht dadurch bereits erledigt sein, daß rechtskräftig auf Freisprechung erkannt, oder die erkannten Strafen vollzogen sind, oder Verjährung oder Begnadigung eingetreten ist. Ob dies der Fall ist, bestimmt sich stets nach ausländischem Recht (§5 Z. 1 u. 2). Diese allgemeine Sttafmöglichkeit ist ausgedehnt auf den Fall, daß ein Nichtoeutscher die Tat begangen hat, später aber Deutscher geworden ist. Den sogenannten Neubürger besser zu behandeln als den Altbürger, würde unzweckmäßig sein. Es würde der Ausländer sich unter Umständen jeder Bestrafungsmöglichkeit dadurch entziehen können, daß er Deutscher würde, da § 9 seine Auslieferung verhindert. Es begründet das Gesetz daher

1 Wir haben bisher Verbrechen nicht in diesem technischen Sinn ver­ standen, sondern begriffen darunter jede strafbare Handlung und Unterlassung. In diesem weiteren Sinn werden wir den Begriff stets verwenden, wenn das Gegenteil nicht wie hier ausdrücklich vermerkt ist. 2 Daß die Handlung oder Unterlassung nach demselben strafrechtlichen Gesichtspunkt vom ausländischen Recht beurteilt ist, darauf kommt es ebenso­ wenig an, wie auf Gleichartigkeit der ausländischen Strafdrohung. Es genügt, daß die konkrete Handlung am konkreten Tatort strafbar ist.

Berbrechen itn staatenlosen Gebiet.

67

für diesen Fall eine Strafmöglichkeit auch für den ehemaligen Ausländer, vorausgesetzt, daß die zuständige Behörde des Landes, in dem die Tat be­ gangen ist, beim Reich einen Antrag auf Strafverfolgung gestellt hat. Das ausländische Recht ist ferner anzuwenden, falls es milder ist? f?) Für die Verfolgbarkeit der Auslandsdelikte gelten noch einige Besonderheiten: Einmal gilt im allgemeinen der Satz, daß die Auslandsverbrechen verfolgt werden können, daß sie aber nicht wie die anderen Verbrechen verfolgt werden müssen (§ 4 Abs. 1). Das Legalitätsprinzip des Straf­ prozesses ist bei ihnen zugunsten des Opportunitätsprinzips aufgegeben, es hängt mithin vom Belieben der strafverfolgenden Behörde ab, ob es zu einem Strafverfahren kommt oder nicht. Und nur, wenn das Gesetz ausdrücklich ein solches bestimmt, wie z. B. in den Fällen der §§ 102, 298 des RG. vom 18.12.1919 gilt auch für Auslandsverbrechen der Satz von der unbedingten Strafpflicht des Staates. Ferner: Im allgemeinen gilt der Satz Ne bis in idem, d. h. eine Tat soll nur einmal abgeurteilt und namentlich nur einmal bestraft werden. Bei Auslandsverbrechen kann es zu einer Bestrafung im Inland kommen, obwohl bereits eine Bestrafung im Ausland erfolgt ist. Allein, damit wenigstens materiell der Gedanke der nur einmaligen Bestrafung durchgeführt wird, ist die im Ausland bereits vollstreckte Strafe auf die Jnlandsstrafe in Anrechnung zu bringen, soweit dies bei der Natur der Strafe überhaupt möglich ist (§ 7)? Wenn endlich ein Deutscher wegen eines im Ausland begangenen Ver> brechens oder Vergehens nach § 5 im Inland nicht mehr bestraft werden kann, so kann ein beschränktes Strafverfahren gegen ihn zur Aberkennung aller oder einzelner bürgerlicher Ehrenrechte durchgeführt werden, sofern nach deutschem Recht auf diese Nebenstrafen erkannt werden kann (§37).

3. Die im vorstehenden entwickelten Sätze gelten für Auslands verbrechen nur insoweit, als es sich um ausländische Staaten handelt. Sie gelten aber auch für Verbrechen, die im staatenlosen Gebiet begangen sind mit Ausnahme allerdings der nach § 4 Z. 3 straf baren Handlungen. Denn Sa § 4 Z. 3 seinem unzweifelhaften Wort laut nach nur auf Verbrechen Anwendung zu finden hat, die in aus ländischen Staaten, d. h. in Ländern mit von uns anerkannter Gesetzes Ordnung begangen sind, könnte er nur int Wege einer die Pönali sierung erweiternden Analogie auf Verbrechen im staatenlosen Gebiet ausgedehnt werden. Eine solche Analogie ist nach § 2 Abs. 1 unzulässig. Die Frage ist indessen sehr bestritten?

4. Eine Erweiterung der Bestimmungen über das räumliche Geltungsgebiet der Strafgesetze findet sich in § 161 MStGB. Da1 Selbstverständlich kann nur auf eine Strafe des StGB, erkannt werden. Können die Strafen des Auslandes nicht in eine Strafe des StGB, um­ gewandelt werden (z. B. Verbannung), so muß aus Straflosigkeit (nickt Freisprechung) erkannt werden, E.R. 35,41ff. :: Bal. Frank, § 5 Annr. TU Z. 3 Abs. 3.

68

Auslieferungsrecht,

nad) gelten strafbare Handlungen von Ausländern und Deutschen, die in einem von deutschen Truppen besetzten ausländischen Gebiet gegen diese, ihre Angehörigen oder eine vom Reichspräsidenten eingesetzte Behörde begangen sind, als im Inland verübt. III. Die Vorschriften über das räumliche Anwendungsgebiet der Strafgesetze werden durch das Auslieferungsrecht ergänzt. Unter Aus­ lieferung versteht man die durch staatliche Behörden erfolgte Überantwortung einer Person an Behörden eines anderen Staates zwecks Durchführung eines Strafverfahrens gegen diese Person in dem fremden Staat. Obwohl es sich mithin bei der Auslieferung um einen Akt internationaler Rechts­ hilfe handelt, und die einschlägigen Vorschriften teils dem Strafprozeß­ recht teils dem Völkerrecht angehören, sollen die wichtigsten Sätze hier an­ geführt werden. 1. Deutsche dürfen nicht ausgeliefert werden. Dieser fundamentale Satz des § 9, den Art. 112 Abs. 3 RV. übernommen hat, erleidet Ausnahmen in den Fällen des Art. 228 Abs. 2 des Friedensvertrages in Verbindung mit Art. 178 Abs. 2 Satz 2 RV. 2. a) Ausländer können dagegen ausgeliefert werden, sofern keine gesetzlichen Beschränkungen bestehen. Derartige Beschränkungen sind aber in einer Reihe von Staatsverträgen enthalten, die von Deutschland mit anderen Staaten abgeschlossen sind. Soweit keine Auslieferungsver­ träge abgeschlossen sind, ist Deutschland frei, ob und wann es ausliefern will, b) Soweit aber Auslieferungsverträge abgeschlossen sind, treffen wir in ihnen wiederkehrend eine Reihe von Rechtssätzen an, die man insoweit als gemeines Auslieferungsrecht bezeichnen kann. Die wichtigsten derselben sind folgende: «) Die Ausüeferungstat muß nach dem Gesetz des ersuchenden und ersuchten Staates strafbar sein. Ist im ersuchten Staat die Strafpslicht des Staates bereits erledigt (Vollstreckung, Verjährung, Begnadigung), so ist Auslieferung ausgeschlossen. ß) Auslieferung findet nur statt wegen der in den Verträgen genannten Verbrechen und nur zwecks Aburteilung wegen des im Auslieferungsbegehren genannten Verbrechens. Ausgenommen von der Auslieferung sind in der Regel die sogenannten politischen Verbrechen, d. h. Verbrechen gegen den Staat oder die staatsbürgerlichen Rechte seiner Angehörigen. Ihnen gleich­ gestellt sind Verbrechen, die zur Ermöglichung oder Verdeckung von politischen Verbrechen begangen sind? Dies Asylrecht, das bei politischen Verbrechen gewährt wird, findet aber regelmäßig durch die sogenannte Attentatsklausel eine Einschränkung für Tatbestände besonders schwerer Fälle, wie Mord oder Mordversuch am Staatsoberhaupt? /) Selbstverständlich kann nach § 4 in Deutschland selbst die Straf­ verfolgung eingeleitet werden, auch wenn eine Auslieserungsmöglichkeit besteht, ohne daß ein etwaiger Auslieserungsantrag erst abgewartet zu werden braucht. Wird letzterer erst nach Einleitung der gerichtlichen Unter-

1 Die Unterscheidung stammt aus einem belgischen Gesetz von 1833. Man nennt diese zusammenhängenden Verbrechen auch delit connexe Auch hier ist Rothilse unbeschränkt zulässig. Verschuldung schließt das Notrecht nicht auS. Die Gesahr braucht nicht aus der Sache selbst zu drohen und kann sich auch auf andere Rechtseinrichtungen als Leib und Leben beziehen. Die Voraussetzung der Schadensproportioualität ist gegenüber z 228 BGB. noch vertieft. 3.- Auch außerhalb der StGB, und des BGB: treffen wir gesetzlich anerkannte Notstandsrechte. So begründet § 700 Abs. 1 HGB. ein Notstandsrecht für den Schiffer zur Beschädigung des Schiffes oder der Ladung im Falle der großen Havarie. Andere speziellere Fälle finden sich §§ 87,88 Seemannsordnung, § 17 Post­ gesetz, § 9 Strandungsordnung u. a. m., ohne daß auf diese Einzel­ heiten näher eingegangen werden.könnte? Auch das Partikularrecht ist in der Lage, besondere Notstandsrechte zu schaffen, selbst­ verständlich aber nur auf dem vorbehaltenem Gebiet? UI. 1. Durch den Notstand wird in den vorstehend geschilderten Grenzen die Widerrechtlichkeit der Nothandlung beseitigt. Daraus ergibt sich:

a) Strafbare Teilnahme au der Rothaudlung ist ausgeschlossen. b) Notwehr gegen Notstandshandlung ist nicht zulässig. Wohl aber kann die Notstandshandlung ihrerseits einen relevanten Notstand für den von ihr betroffenen Dritten begründen? 2. a) Auch bei Notstand kann eine Überschreitung der Grenzen des Notstandsrechtes vorkommen. Auch hier ist der Exzeß eine widerrechlliche Handlung. Eine dem § 53 Abs. 3 analoge Vorschrift existiert indessen nicht. b) Nimmt der Täter irrtümlicherweise einen Notstand an, so haben wir es mit einem Putativnotstand zu tun. Durch einen solchen wird der Vorsatz ausgeschlossen. Ob Fahrlässigkeit anzunehmen ist, hängt von den Umständen des Falles ab.

1 Vgl. Dinding, H., S.772ff.; Liszt, S.144, Amn.v. 2 Vgl. weiter oben S. 58ff. 3 Hier kommen die, die im Notstand keinen Grund für Ausschluß der Rechtswidrigkeit sehen, zu abweichenden Konsequenzen und lassen Notwehr und strafbare Teilnahme zu. Vgl. Finger, S. 421, 426f.

Selbsthilfe und Züchtigungsrechte.

119

IV. Unter bestimmten Voraussetzungen ist die Berufung auf den Notstand ausgeschlossen, und zwar dann, wenn jemand durch seinen Beruf oder einen ausdrücklich hierauf abgeschlossenen Ver­ trag verpflichtet ist, gewisse Gefahren auf sich zu nehmen. Selbst­ verständlich versagt das Notrecht nur in den Grenzen eben jener Pflichten. In Betracht kommen Soldaten, Seeleute, Feuerwehr­ leute, Krankenwärter, Bergführer usw? Begeht einer dieser Per­ sonen eine Notstandshandlung, so handelt er widerrechtlich, da in dem Verbot, sich auf das Notrecht berufen zu dürfen, eine Be­ schränkung des Notrechtes selbst liegt. c) Die übrigen Fälle ausgeschlossener Rechtswidrigkeit.

Abgesehen von Notwehr und Notstand treffen wir noch eine solche Fülle einzelner Fälle, in denen die Rechtswidrigkeit aus­ geschlossen ist, daß eine erschöpfende Aufzählung aller Möglichkeiten ausgeschlossen ist. Es können daher nur die wichtigsten Tat­ bestände erwähnt werden. Der Ausschluß der Rechtswidrigkeit beruht teil- auf ausdrücklicher Gesetzesbestimmung, teils ergibt er sich aus allgemeinen Erwägungen. Im einzelnen ist folgendes zu bemerken: 1. In erster Linie ist die Möglichkeit der Selbsthilfe zu erwähnen, wie sie sich aus den Bestimmungen des BGB. ergibt. So kann z. B. der Eigen­ tümer dem aus frischer Tat betroffenen oder verfolgten Dieb die gestohlene Sache mit Gewalt abnehmen (§§ 229—231, 561, 859, 860, 910, 962 BGB. Art. 89, 90 EGBGB.). Allein auch andere Gesetze gewähren die Möglichkeit der Selbsthilfe, so gewährt z. B. § 127 Abs. 1 StPO, jedermann das Recht, einen Verdächtigen unter bestimmten Voraussetzungen festzunehmen. In diesem Zusammenhang mag schließlich auf Bestimmungen hingewiesen werden, die die Widerrechtlichkeit von Handlungen ausschließen, die in Wahrnehmung berechtigter Interessen vorgenommen sind ($ 193 StGB.; § 14 Abs. 2 Gesetz zur Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbes 1909; § 824 Abs. 2 BGB.).

2. Die Widerrechtlichkeit der Handlung ist des weiteren ausgeschlossen, soweit vom Recht ein Züchtigungs- oder Disziplinarrecht anerkannt ist. Wie weit solche Rechte bestehen, entscheiden die Reichs- bzw. auf den der LandeSGesetzgebung vorbehaltenen Gebieten die Landesgesetze. Ein Zuchtrecht ür jeden Erwachsenen einem ungezogenen Kinde gegenüber besteht nicht. Die entgegengesetzte Ansicht, die vereinzelt vertreten wird und sich teils auf allgemeine Erwägungen, teils auf die Vorschriften über die negotiorum gestio stützt, ist abzulehnen (vgl. z. B. §§ 1631,1634, 1685, 1686/1707, 1800 BGB., § 127a Gewerbeordnung u. a. m.).1 23

!

1 §§49 Abs. 1, 84—88 MStGB.; § 41 Seemannsordnung. Soweit keine ausdrücklichen Gesetzesbestimmungen vorliegen, leugnet Frank, $ 54 Anm. IV, den Ausschluß des Notrechtes. 3 Binding, H., S. 800. OLG. Jena, G. A. 60, 498. Vgl. zum Ganzen Frank, 2.Teil, 17. Abschn. Anm. II Z. 1.

§ 48.

120

Handlungen des Untergebenen.

Das Berufsrecht.

3. a) Selbstverständlich ist die Wiberrechtlichkeit ausgeschlossen, wenn die Handlung befugte Ausübung einer Amtspflicht ist. Der Scharfrichter tötet den zum Tode Verurteilten, bet Posten erschießt den flüchtigen Arrestanten, der Offizier gebraucht seine Waffe, um sich den nötigen Gehorsam zu ver­ schaffen (§ 124 MStGB.). b) Aus dem Unterordnungsverhältnis in der Behörbenorganisatiou ergeben sich Schwierigkeiten, und es entsteht die Frage, wieweit der Befehl eines Vorgesetzten die Rechtswidrigkeit der Handlung eines Untergebenen ausschließen kann, wenn der Vorgesetzte nicht befugt war, diesen Befehl zu erteilen. Hier ist zu unterscheiden: a) Kannte der Untergebene die Kompetenzüberjchreitung des Vor­ gesetzten nicht, oder hielt er sich zur Durchführung des Befehles trotz er­ kannter Kompetenzüberschreitung für verpflichtet, so kann von einer Straf­ barkeit wegen vorsätzlicher Handlung nicht die Rede sein, weil infolge Irrtums das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit fehlt. Es kann also höchstens strafbare Fahrlässigkeit in Frage kommen. \ ß) Übersieht aber der Untergebene die Sachlage, so entsteht die Frage, wieweit er verpflichtet ist, trotz des Befehles des Vorgesetzten nicht zu handeln, wieweit er also seinerseits berechtigt oder besser gesagt verpflichtet ist, die Rechtmäßigkeit des Befehles nachzuprüfen. Dies darf er nun stets nur nach der formalen, nicht aber nach der materiellen Seite hin tun. Der Untergebene darf daher nur prüfen, ob er formell gehorsamspslichtig einer bestimmten Person gegenüber ist, ob diese Person ihm einen dienstlichen Befehl erteilt hat, und ob sie zum Erlaß derartiger Befehle im allgemeinen berechtigt ist. Weiß mithin der Untergebene, daß der Vorgesetzte ein Verbrechen durch ihn begehen lafsen will, so darf er niemals handeln, da kein Vorgesetzter das Recht hat, ein Verbrechen zu befehlen? Natürlich können die Gesetze weiter­ gehen und, die formelle Nachprüsungspflicht ausschließend, eine unbedingte Gehorsamspflicht des Untergebenen statuieren. Dann handelt der Untergebene, wenn er gehorcht, niemals rechtswidrig (z. B. §§ 34,41 Seemannsordnung)? 4. a) Weitergehend behauptet man Ausschluß der Widerrechtlichkeit im Falle der Ausübung eines Berufsrechtes. Man stellt den Satz auf. daß Handlungen, die zur Ausübung eines rechtlich anerkannten Berufes nach allgemeiner Auffassung zweckmäßig und notwendig sind, nicht rechtswidrig fein können, da in der Anerkennung des Berufes durch das Gesetz auch die Anerkennung der Rechtmäßigkeit der einzelnen Berusshandlung liege. Ja, noch weitergehend sagt man, daß die Verfolgung eines rechtlich anerkannten Zweckes mit den dazu dienlichen, ebenfalls rechtlich anerkannten Mitteln nicht rechtswidrig sei? Dieser Satz geht indessen zu weit. Aus der An­ erkennung eines Berufes folgt noch keineswegs die Berechtigung zur Vor­ nahme von an sich den Tatbestand strafbarer Handlungen verwirklichender! Handlungen. Soll mithin die Rechtmäßigkeit der an sich den Tatbestand einer strafbaren Handlung darstellende Berufshandlung erwiesen to erben, so muß der Ausschluß der Widerrechtlichkeit anders dargetan werden, und dies

1 Nichts anderes besagt § 47 Z. 2 MStGB. 2 Die Ansichten gehen auseinander. Manche nehrneu für ben handeluben Untergebenen nur einen persönlichen Strafausschließungsgrunb an, anbere einen Schulbausschließungsgrunb, vgl. z. B. M. E. Maver,