Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917-1933. Band 1: Studien 3487157764, 9783487157764

Zwischen den politischen Schicksalsjahren 1917 und 1933 begegneten deutsche und russische Musikkulturen einander in neue

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Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917-1933. Band 1: Studien
 3487157764, 9783487157764

Table of contents :
Stefan Weiss (Hrsg.): Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917-1933. Band 1: Studien
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
ZUSCHREIBUNGEN
Marina Raku: Die ‚Arbeit an den Klassikern‘ in der sowjetischen Musikkultur
Beethoven
Wagner
Carolin Stahrenberg: „Edelstes Kulturgut“, „unverfälschte Volkskunst“, „aufgedonnerte Einfalt“: Zur Konstruktion des ‚Russischen‘ im musikalischen Programm des Cabarets Der blaue Vogel
„Ein blauer Vogel pfeift uns fremde Weisen“ – Zur Selbstdarstellung des Cabarets Der blaue Vogel als ‚Anderes‘
Zur Rolle der Musik beim Entwurf des ‚Russischen‘ im Programm des Blauen Vogels
‚Fremdes‘ und ‚Eigenes‘ im Blauen Vogel: Die deutsche Presse und der Diskurs um das ‚Nationalrussische‘
Fazit
Stefan Weiss: Eine Dreiecksbeziehung: Konstruktionen ‚russischer‘ und ‚sowjetischer Musik‘ in der Berliner Publizistik der 1920er Jahre
Das alte Russland vor der Haustür
Das neue Russland als ferne Geliebte
REISEN
Elena Poldiaeva: Sergej Prokofʼev und der Russische Musikverlag in Deutschland
Wolfgang Mende: Katharsis im Sanatorium: Vladimir Ščerbačëvs Dresden-Aufenthalt in den Jahren 1922/23
Vladimir Ščerbačëv in Dresden: Gunst und Grenzen der Quellen
Dienstreise – Auszeit – Sprungbrett zur Emigration?
Aufführungen eigener Werke
Verlag der Werke im Ausland
Amerikanische Träume
Konzerttätigkeit in Schweden
Erneutes Engagement bei Djagilevs Ballets russes
Engagement bei Romanovs „Russischem Romantischem Theater“
Anstellung in Prag
Kapitulation: Anstellung in Petrograd
Intransparente Finanzierung
Dresden vs. Berlin
Russische Netzwerke
Kontakte mit Deutschen
Über deutsche Mentalität und Kultur
Urteile über deutsche Kunst und Kultur
Syllogismus
Julija Veksler: Die frühe Rezeption Alban Bergs in der UdSSR
TRANSFER
Dorothea Redepenning: Deutsch-russische Musikbegegnungen bis 1917
I. Deutschsprachige Musiker in russischen Musikinstitutionen
II. Die Präsenz russischer Komponisten und ihrer Musik in westlichen Ländern
III. Russische Musik in Werken westlicher Komponisten
IV. Ästhetik: deutsche Einflüsse auf die russische Musik
Inna Barsova: Die Rezeption der Musik Paul Hindemiths im Schaffen Aleksandr Mosolovs
Kammerorchester und Kammerensemble
Kammeroper
Тamara Levaja: Paul Hindemith in sowjetischen Publikationen und Dokumenten der 1920er Jahre
Anhang
Gespräche mit Paul Hindemith
Brief des Moskauer Komponistenverbands an Paul Hindemith, November 1942
KOOPERATIONEN
Lidia Ader: Mikrotonale Allianz: Russland und Deutschland in den 1920er Jahren
Friedrich Geiger: „Mittler für die deutsch/russischen Musikbeziehungen“ – Wladimir Vogel und die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland
Von der Innovation zur Ideologie – die Musikveranstaltungen der Gesellschaft
Grenzen der Kooperation
Olesja Bobrik: Die Zusammenarbeit zwischen der Universal Edition und der Musikabteilung des sowjetischen Staatsverlags
Die Autorinnen und Autoren
Personenregister

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BAND 1: STUDIEN Herausgegeben von Stefan Weiss

DEUTSCH-RUSSISCHE MUSIKBEGEGNUNGEN 1917–1933 1917

OLMS

Deutsch-russische Musikbegegnungen Bd. 1: Studien, hrsg. von Stefan Weiss

DEUTSCH-RUSSISCHE MUSIKBEGEGNUNGEN 1917–1933 BAND 1: STUDIEN herausgegeben Herausgegebenvon vonStefan Stefan Weiss Weiss Hildesheim: Olms usw.

Georg Olms Verlag Hildesheim ∙ Zürich ∙ New York 2021

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn, aus den Mitteln des DFG-Projekts „Deutschrussische Musikbegegnungen 1917–1933: Analyse und Dokumentation“ (Geschäftszeichen: WE 4642/2–1) [von Verlagsseite zu ergänzen]

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Georg Olms Verlag AG, Hildesheim 2021 www.olms.de ISBN 978-3-487-42315-9

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Marina Raku Die ‚Arbeit an den Klassikern‘ in der sowjetischen Musikkultur

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Carolin Stahrenberg „Edelstes Kulturgut“, „unverfälschte Volkskunst“, „aufgedonnerte Einfalt“ – Zur Konstruktion des ‚Russischen‘ im musikalischen Programm des Cabarets Der blaue Vogel

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Stefan Weiss Eine Dreiecksbeziehung – Konstruktionen ‚russischer‘ und ‚sowjetischer Musik‘ in der Berliner Publizistik der 1920er Jahre

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REISEN Elena Poldiaeva Sergej Prokofʼev und der Russische Musikverlag in Deutschland

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Wolfgang Mende Katharsis im Sanatorium – Vladimir Ščerbačëvs Dresden-Aufenthalt in den Jahren 1922/23 112 Julija Veksler Die frühe Rezeption Alban Bergs in der UdSSR

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Inhaltsverzeichnis

TRANSFER Dorothea Redepenning Deutsch-russische Musikbegegnungen bis 1917

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Inna Barsova Die Rezeption der Musik Paul Hindemiths im Schaffen Aleksandr Mosolovs

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Тamara Levaja Paul Hindemith in sowjetischen Publikationen und Dokumenten der 1920er Jahre

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KOOPERATIONEN Lidia Ader Mikrotonale Allianz – Russland und Deutschland in den 1920er Jahren

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Friedrich Geiger „Mittler für die deutsch/russischen Musikbeziehungen“ – Wladimir Vogel und die Gesellschaft der Freunde des neuen Russland

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Olesja Bobrik Die Zusammenarbeit zwischen der Universal Edition und der Musikabteilung des sowjetischen Staatsverlags

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Die Autorinnen und Autoren

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Personenregister

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Vorwort Wissenschaftliche Projekte haben ihre Geschichte und beanspruchen oft eine ungeahnte Zeitdauer. Die vorliegende Publikation beschäftigte den Herausgeber aus verschiedenen Gründen über einen Großteil der 2010er Jahre, eines Jahrzehnts, das im Rückblick einem gemeinschaftlich deutsch-russischen wissenschaftlichen Vorhaben nicht gerade förderlich war. 2014, als die ersten Texte fertiggestellt wurden, hatte Russland gerade die Krim annektiert, woraufhin die Europäische Union und mit ihr Deutschland Sanktionen gegen das von Putin geführte Land verhängten, die noch heute, fast sieben Jahre später, Gültigkeit haben. Als der letzte Textbeitrag den Herausgeber erreichte, im Sommer 2019, führte der Mord an Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten zu neuen Spannungen zwischen Deutschland und Russland, u. a. zu gegenseitigen Ausweisungen von Diplomaten. Und im Sommer 2020 schließlich, als der Band druckfertig gemacht wurde, erregte der Fall des russischen Oppositionellen Aleksej Navalʼnyj die Gemüter, der nach seiner Vergiftung von Russland nach Berlin gebracht und dort ärztlich behandelt wurde. Die von verschiedenen Seiten vehement vorgebrachten Forderungen, auf die vermutete Schuld der russischen Regierung in dieser Angelegenheit mit dem Baustopp der Gaspipeline Nord Stream 2 zu reagieren, begleiteten das Schreiben dieses Vorworts und verwiesen nachdrücklich auf die so mannigfachen wie umstrittenen Verflechtungen in wirtschaftlicher wie politischer Hinsicht, die Russland und Deutschland seit langer Zeit verbinden und gleichzeitig trennen. Der Bereich der Musik ist davon nur scheinbar ausgenommen. Zwar wird heute niemand mehr im Ernst fordern, aufgrund diplomatischer Spannungen die Aufführung von Čajkovskij-Sinfonien durch deutsche Orchester unterbleiben zu lassen.1 Im Gegenteil sind russische Komponistinnen und Komponisten zu einem unverzichtbaren Bestandteil der deutschen Opern- und Konzertspielpläne geworden. Doch wirkt nicht der Ost-West-Konflikt des Kalten Krieges noch heute in beinahe jeder Aufführung einer Šostakovič-Sinfonie in einem deutschen Konzertsaal nach, und sei es im zugehörigen Programmheft, das unweigerlich die Frage berührt, inwieweit das jeweilige Werk von politischer Unterdrückung be1 So geschehen 1918, zu Beginn des hier betrachteten Zeitraums; vgl. Walter Niemann, „Peter Tschaikowsky und wir“, in: Werke und Menschen. Eine Wochenschrift für deutsches Geistesleben Nr. 5 / Berlin, 6. Februar 1918. Beilage zu: Deutscher Kurier, Berliner Tageszeitung 6. Jg. Nr. 7 (6. Februar 1918), S. [2].

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Stefan Weiss

troffen war? Für das im deutschsprachigen Raum verbreitete kulturelle Selbstverständnis unserer Tage ist die Differenz zu Russland nach wie vor essentiell, und es vermischt sich in diesem beständigen, virtuellen Kräftemessen aus westlicher Sicht nicht selten das Bild der ehemaligen Sowjetunion mit demjenigen des Putinʼschen Russlands der Gegenwart. Diese Diagnose der heutigen deutsch-russischen Wahrnehmung erinnert in manchem an die Zeit, von der dieser Band handelt. Für die Zeitgenossen der 1920er Jahre waren es ebenfalls zwei konkurrierende Russland-Konzepte, die Kontrapunkte zu ihrer Wahrnehmung der aus diesem Land hervorgegangenen Musik bildeten. Da waren einerseits die noch vertrauten Bilder des Zarenreichs, das auch nach seinem Untergang noch allzu präsent war durch die zahlreichen Emigrantinnen und Emigranten – oft Angehörige des russischen Adels, Großbürgertums und der Intelligenz –, die nach dem Sturz der Monarchie nach Deutschland gelangt waren. Andererseits drängten neue, noch undeutliche Bilder der jungen, aus der Oktoberrevolution von 1917 hervorgegangenen Sowjetunion ins Bewusstsein – für die einen war diese das damals modernste und aufstrebendste Land der Welt, für die anderen dagegen ein Unrechtsstaat, dessen Bewohner mannigfaltigen Härten ausgesetzt waren. Im nachrevolutionären Russland und der Sowjetunion selbst wiederum war Musik aus deutschsprachigen Ländern nicht weniger mit ambivalenten Assoziationen durchsetzt: Noch vor wenigen Jahren erbitterter Kriegsgegner, war Deutschland mit dem Rapallo-Vertrag 1922 das erste westliche Land geworden, das die neuen Verhältnisse im ehemaligen Zarenreich politisch anerkannte. Auch Deutschland und Österreich hatten ihre Monarchien zu Grabe getragen und befanden sich auf dem Weg einer umfassenden Modernisierung. Und wie die Sowjetunion steuerte Deutschland um 1930 auf eine Radikalisierung von beispielloser Größenordnung zu. Auch wenn die Tiefpunkte des Hitlerʼschen wie Stalinʼschen Staatsterrors chronologisch jenseits der gewählten zeitlichen Grenzen dieses Bandes liegen, so werfen sie doch in fast jedem seiner Beiträge ihre Schatten voraus. So offensichtlich die Parallelen im Politischen, so ungleichgewichtig waren die Vorbedingungen für deutsch-russische Begegnungen in demjenigen Lebensbereich, um den es hier geht. Um 1920 war russische Musik längst noch nicht in Deutschland so ‚angekommen‘, wie sie es heute ist; im Gegenteil hatte sie – in ihren historischen wie aktuellen Ausprägungen – mit Vorurteilen zu kämpfen, die aus der Überzeugung kultureller Überlegenheit herrührten. Umgekehrt war deutsche Musik in Russland seit langem ebenso verbreitet wie beliebt. Die Verehrung, die etwa Beethovens Musik dort vor wie nach der Revolution genoss, mag auch die Bereitschaft hervorgerufen haben, sich mit Beethovens modernen deutsch-

Vorwort

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sprachigen Nachfolgern auseinanderzusetzen, ob es sich dabei nun um den Expressionismus der Zweiten Wiener Schule handelte oder um die Neue Sachlichkeit eines Paul Hindemith. Den Spuren solcher Auseinandersetzungen zwischen 1917, dem Jahr der Oktoberrevolution in Russland, und 1933, dem Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten in Deutschland, geht der vorliegende Band nach. Dass der Begriff ‚Musikbegegnungen‘, dem er sich im Titel verpflichtet, in der Musikgeschichtsschreibung terminologisch unvorbelastet ist, hat gewisse Vorteile: Anders als beispielsweise der Begriff ‚Rezeption‘, der stets einen Fluss – und damit auch ein kulturelles Gefälle – von A nach B suggeriert, anders auch als der Begriff ‚Austausch‘, der im Gegenteil an Gleichgewicht und Gleichberechtigung als Norm denken lässt, umschließt der Begriff ‚Begegnung‘ ein viel weiteres Spektrum von Kontakten, das natürlich auch Rezeptions- und Austauschprozesse umfasst, daneben aber manches andere. Die zwölf Beiträge sind entsprechend in die vier Bereiche „Zuschreibungen“, „Reisen“, „Transfer“ und „Kooperation“ gegliedert, ohne dass damit suggeriert sein sollte, dass die Grenzen trennscharf sind. Ideell suggerieren diese Überschriften eine stetig wachsende Nähe: „Zuschreibungen“ sind auch vor einer direkten Kontaktaufnahme möglich, wie sie „Reisen“ bringen; eine tiefere Wertschätzung des jeweils Anderen ermöglicht „Transfer“, und erst ein umfassendes gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, so sollte man meinen, kann die Basis für „Kooperationen“ liefern. Die Wirklichkeit ist indes wie immer chaotischer als das Ideal, und so ist natürlich in manchen Beiträgen, die etwa unter „Kooperationen“ versammelt sind, auch von Reisen die Rede und umgekehrt. In ihren jeweiligen Schwerpunkten aber lassen sich die zwölf Beiträge zwanglos auf die genannten vier Bereiche aufteilen. Marina Raku eröffnet den Reigen der „Zuschreibungen“ mit einer Analyse der Interpretationen und Umdeutungen, die nach der Oktoberrevolution in Russland an den Klassikern der deutschen Musik vorgenommen wurden. Ihr Beitrag zeichnet nach, wie die Musik Beethovens und Wagners für revolutionäre Ideen in Besitz genommen wurde – ein Prozess, der Jahrzehnte später in der DDR unter dem Begriff der ‚Erbeaneignung‘ seine Fortsetzung finden sollte. Während in Moskau und Leningrad also einzelne Werke der deutschen Romantik neue Ehren als wahrhaft revolutionäre Musik erfuhren, formten sich in Berlin Zuschreibungen ganz anderer Art an das musikalisch Russische. Carolin Stahrenberg untersucht am Repertoire des russisch-deutschen Theaters Der Blaue Vogel die Konstruktion des ‚Russischen‘ durch die Mittel der Musik und stößt dabei auf Momente der Idealisierung einer „vormodernen, agrarischen Gesellschaft“. Das alte Russland geriet in diesem Cabaret zum Sehnsuchtsort, zumindest für empfängliche Besucher, die nicht, wie ein Kritiker, nur „schönpoliertes Kunstgewer-

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be“ darin sahen. Mein eigener Beitrag geht von der Berichterstattung über russische Musik in zwei Berliner Zeitschriften aus, einem Textkorpus, das – auch aufgrund diametral entgegengesetzter politischer Grundüberzeugungen der Periodika – zwei synchrone, im direkten Widerspruch zueinander stehende Konstruktionen ‚russischer Musik‘ in nuce überliefert. Dabei zeigt sich, dass eine tiefere Wertschätzung der emigrantischen Musikkultur von deutscher Seite nicht nur durch übertriebenen Nationalstolz vereitelt wurde, sondern auch durch die Konkurrenz des attraktiven, modernen Konzeptes eines sowjet-russischen Musiklebens. Im Bereich „Reisen“ stehen drei Komponistenpersönlichkeiten im Vordergrund, die sich über unterschiedlich lange Zeiträume im Land des jeweils ‚Anderen‘ aufhielten. Das instabile deutsche Exil Sergej Prokofʼevs am Anfang der 1920er Jahre wurde zumindest ein wenig dadurch erleichtert, dass auch sein russischer Verleger Sergej Kusevickij die Heimat in Richtung Berlin verlassen hatte. Ausgehend von Prokofʼevs Verlagskorrespondenz untersucht Elena Poldiaeva die Beziehungen des Komponisten zu Deutschland und zeigt an diesem Beispiel auch, wie das Ende der deutschen Inflation im Herbst 1923 eine abrupte Zäsur für die dort ansässig gewordene russische Musikkultur markierte: Mit der Einführung der Rentenmark wandten sich die vormals komfortablen Bedingungen für russische Emigrantinnen und Emigranten in Deutschland in ihr Gegenteil. Fast symbolisch mag es anmuten, dass der Komponist Vladimir Ščerbačëv seinen fast einjährigen Deutschlandaufenthalt sogar exakt am Tag der Einführung der Rentenmark beendete, doch scheint dies nur eine zufällige zeitliche Koinzidenz gewesen zu sein. Ščerbačëvs Briefe aus Deutschland an seine Frau allerdings, die Wolfgang Mendes Beitrag kontextualisiert und interpretiert, sind ein dicht geknüpftes Zeugnis der Neugier und Verwunderung des russischen Komponisten angesichts der Musikverhältnisse in Deutschland. Seine Skepsis verdankte sich dabei nicht zuletzt der Erkenntnis, dass einer wohl ins Auge gefassten tatsächlichen Emigration doch mehr Hindernisse entgegenstanden als ursprünglich angenommen – eine Geschichte, die als Fallbeispiel so manche nicht erfolgte Emigration zu verstehen helfen kann. – Auch die vielleicht berühmteste Reise eines Musikers der 1920er Jahre in die Gegenrichtung weist über sich selbst hinaus. Julija Veksler nimmt den Aufenthalt Alban Bergs in Leningrad 1927 zum Anlass, nicht nur die Premiere der berühmten Wozzeck-Inszenierung Sergej Radlovs detailreich nachzuzeichnen, sondern auch nach einer weitergehenden Rezeption des Schönberg-Schülers in der Sowjetunion zu fragen. Das Studium der Quellen lässt dabei einige durch die Zeitläufte im Keim erstickte Versuche erkennen, an die heroisch konnotierte Aufführung von 1927 anzuknüpfen.

Vorwort

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Der Bereich „Transfer“ enthält mit Dorothea Redepennings Überblick über „Deutsch-russische Musikbegegnungen bis 1917“ eine Exkursion in die Vorgeschichte des eigentlichen Untersuchungszeitraums. Hier wird u. a. sichtbar, wie sich russische Musikinstitutionen – in erster Linie die Konservatorien – die Mitwirkung deutscher Musikerinnen und Musiker als Fachleute für die Wahrung internationaler Standards sicherten, und andererseits russische Musik in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert primär als exotisches Artefakt rezipiert wurde – ein Ungleichgewicht, das, wie oben erwähnt, bis in die 1920er Jahre fortdauerte. Welche Auswirkungen in diesem Jahrzehnt das Bekanntwerden Paul Hindemiths für die sowjetische Musikwelt hatte, ist Gegenstand von zwei Beiträgen. Inna Barsova beantwortet die Frage nach einem Ideentransfer am Beispiel Aleksandr Mosolovs, der sich in seinem künstlerischen Schaffen von Hindemith beeinflusst zeigte und in russischsprachigen Musikzeitschriften für den deutschen Kollegen eintrat. Mosolov war damit einer der ersten Hindemith-Propagandisten in der Sowjetunion, aber beileibe nicht der letzte, wie Tamara Levaja zeigt, indem sie das Hindemith-Schrifttum sowie die Aufführungsgeschichte seiner Werke in der jungen Sowjetunion verfolgt. Die „Kooperationen“, die den Gegenstand des letzten großen Bereichs dieses Bandes bilden, sind von je unterschiedlicher Natur: mehr ideell-ästhetisch im ersten, politisch im zweiten und wirtschaftlich im dritten Fall. Lidia Aders Blick auf die „Mikrotonale Allianz“ zwischen Russland und Deutschland gilt einem Bereich, der im Musikleben beider Länder so avantgardistisch wie marginal erscheint. Eine deutsch-russische Kooperation auf diesem Gebiet, die sich z. B. in der gegenseitigen Vorstellung neuen Repertoires auf dem jeweiligen Konzertpodium äußerte, konnte genau dieser Marginalisierung entgegenwirken, indem sie die internationale Breite der Neuerungen und bilaterales Interesse unterstrich. Im Gegensatz hierzu könnte man versucht sein, diejenige Zusammenarbeit, der Friedrich Geiger in seinem Beitrag nachgeht, als bloße einseitige Propagandamaßnahme der sowjetischen Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland (VOKS) abzutun. Nähere Betrachtung zeigt indes, dass die ‚empfangende‘ Institution, die Berliner Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland, deutsche Intellektuelle zusammenschloss, die ehrlich an den Vorgängen (darunter solche musikalischer Art) in der Sowjetunion interessiert waren. Solchen Interessen ist es letztlich zu verdanken, dass die Kooperation zwischen dem Sowjetischen Staatsverlag und der Wiener Universal Edition, die Olesja Bobrik erforscht, für beide Seiten lukrativ war. Gerade auf dem Gebiet der Kooperationen erweist sich allerdings auch die Tragfähigkeit der für diesen Band gewählten chronologischen Obergrenze: Die Berliner Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland wurde 1933 aufgelöst, aber auch die Beziehung zur Wiener

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Universal Edition wurde 1933 von Moskauer Seite nicht verlängert, während die russisch-deutschen Kontakte zwischen den Vierteltonkomponisten bereits um 1930 abgebrochen waren. Letztlich ist auch der vorliegende Band ein Ergebnis deutsch-russischer Kooperation. Entsprechend der Grundidee, verschiedene historische Blickrichtungen miteinander in Verbindung zu bringen – von der Sowjetunion auf Deutschland, von Deutschland auf die Sowjetunion und auf das russische Exil –, bringt er heutige Autor*innen aus beiden Kulturen zusammen, um damit insbesondere deutschen Leser*innen Forschungsergebnisse aus der aktuellen russischen Musikwissenschaft zugänglich zu machen. Den vorliegenden Studienband ergänzt zudem ein Band mit Dokumenten und Chroniken zum selben Thema, der von Elena Poldiaeva und Wolfgang Mende herausgegeben wird2 und sich in den skizzierten Blickrichtungen an das oben beschriebene Konzept anlehnt. Der Dank des Herausgebers gilt allen Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren forscherischen Energien in das Projekt einbrachten, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die das Vorhaben großzügig förderte. Den beiden wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen Maria Bychkova und Anna Fortunova, die im Rahmen des Projekts eigene Monographien vorbereiteten, verdankt der Herausgeber sowohl konzeptionelle Anregungen als auch tatkräftige Unterstützung aller Art. Die Übersetzung der russischen Beiträge besorgte dankenswerterweise Andreas Wehrmeyer. Bei der Textredaktion wirkten die studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräfte Maria Delova, Heidrun Eberl, Felisa Mesuere und Ferran Planas Pla auf kompetente Weise mit, und die so effizienten wie hilfsbereiten Verwaltungsmitarbeiter*innen der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover sorgten dafür, dass die finanzielle Abwicklung stets reibungslos verlief. Seitens des Olms-Verlag hat das Lektorat Ulrike Böhmers dazu beigetragen, das Manuskript zu verbessern. Mein tief empfundener Dank gilt schließlich meiner Frau Christiane Morgenstern, ohne deren Verständnis, Geduld und Unterstützung die Durchführung des Vorhabens nicht möglich gewesen wäre. Hannover, im Oktober 2020

Stefan Weiss

Anmerkung zur Transliteration: Bei der Schreibweise russischer Eigennamen, die in Publikationen wie dieser nie zur allgemeinen Zufriedenheit lösbar ist, verwenden die Beiträge dieses Bandes die wissenschaftliche Transliteration (also etwa „Prokofʼev“ statt „Prokofjew“, „Šostakovič“ statt „Schostakowitsch“). Ausnahmen werden lediglich dort gemacht, wo aus nichtrussischsprachigen Quellen zitiert wird. Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917–1933, Bd. 2: Dokumente und Chroniken, hrsg. von Wolfgang Mende und Elena Poldiaeva, Hildesheim: Olms, Druck in Vorbereitung.

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ZUSCHREIBUNGEN

Marina Raku

Die ‚Arbeit an den Klassikern‘ in der sowjetischen Musikkultur Die sowjetische Musikkultur entwickelte sich in ihren Anfängen unter dem Vorzeichen eines futuristischen Modells, das man als ‚Musik der Zukunft‘ oder auch als ‚Musik der Revolution‘ bezeichnete. Dieses Modell war, ungeachtet seiner offensichtlich utopischen Haltung, ziemlich rasch auf Muster des klassischen Erbes ausgerichtet, was der neuen Kunst – aber vor allem auch der Gesellschaft, die diese Kunst repräsentieren sollte – einen Status der Legitimität verlieh. Entgegen den Versuchen der revolutionären Avantgarde, die Klassik an den Rand des Interesses zu drängen, galt gerade ihr in den Auseinandersetzungen über das Schicksal der revolutionären Kunst zentrale Aufmerksamkeit. Allerdings blieb die Klassik ein Reservoir von Ideen, die den Losungen der neuen Zeit einstweilen prinzipiell fremd waren. Sie musste entweder ‚über Bord geworfen‘ (was ihre mitleidlose Reduktion auf einige wenige ‚geeignete‘ Namen bedeutet hätte) oder an die ideologischen Erfordernisse der Sowjetepoche angepasst werden. Letzterer Weg schien aus verschiedenen Gründen der gangbarere zu sein, und er führte zu einer Aneignung des klassischen Erbes, die diesem einen neuen Sinn verlieh. Die neue politische Doktrin schuf sich allmählich ihre eigene kulturelle Genealogie, indem sie große Künstlernamen der Vergangenheit kritisch auswählte und auf deren Schaffen die künstlerischen und geistigen Konzeptionen applizierte, die dem jeweiligen politischen Moment entsprachen. Die sowjetischen Ideologen der frühen 1920er Jahre betrachteten die zeitgenössische Kunst wie auch die Musikgeschichte hauptsächlich gemäß der Theorie der ‚natürlichen Auslese‘. Damit ließ sich das Phänomen der untergehenden Klassen als historisch gesetzmäßige Degenerierung erklären. Die Idee der Auslese im Geiste eines eigentümlichen ‚Sozialdarwinismus‘ meinte sowohl die Verdrängung derjenigen zeitgenössischen Komponisten vom Markt, die sich nicht auf den neuen Hörer und seine Bedürfnisse hinzu bewegten, als auch die Aussonderung ‚klassenfremder‘ Werke der großen Meister. Mit diesem Ansatz, den die beiden antagonistischen musikalischen Gruppierungen – die Russische Assoziation proletarischer Musiker [Rossijskaja associacija proletarskich muzykantov, RAPM] und die Assoziation zeitgenössischer Musik [Associacija sovremennoj muzyki, ASM] – gleichermaßen vertraten, wurde die in den ersten Jahren nach

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Marina Raku

der Revolution sehr wirkungsmächtige Losung der ‚Enteignung‘ künstlerischer Werte deutlich korrigiert.1 Klassische Musik war üblicherweise die Geistesnahrung der Städter, das proletarische Milieu eingeschlossen. Nicht ohne Grund legten die Agitationsbrigaden des Bürgerkriegs ihren Auftritten eine Mischung aus neuen Revolutionsliedern, populären Opernarien und bekannten Romanzen zugrunde. Augenzeugen zufolge war es das Publikum, das deren Aufführung oder Wiederholung verlangte. Während die Kunst der Zukunft erst noch erschaffen werden musste, war die Klassik eine alltägliche Realität der zeitgenössischen Kultur, und sie hatte bereits einen langjährigen, ja über Jahrhunderte kristallisierten Prozess der Auslese durchlaufen. Ungeachtet der unverfälschten ‚Natürlichkeit‘ dieses Prozesses, von dessen Richtigkeit die Musikpublizistik ihre Leser überzeugt hatte, mussten sich die allgemein anerkannten Meisterwerke nun erneut dieser Prozedur unterziehen, jetzt jedoch zielgerichtet – das Gesetz der natürlichen Selektion ist grausam und kennt keine ‚Verjährungsfrist‘. Mit der Reduktion auf eine Liste ‚zuverlässiger‘ Klassiker unter den Komponisten begann die Staatsmacht ihr Verhältnis zum klassischen musikalischen Erbe neu zu definieren. Auf der Sitzung des Rats der Volkskommissare (Sovet narodnych kommissarov – SOVNARKOM) vom 17. Juli 1918 hielt der angesehene Historiker und Marxist Michail Pokrovskij – seines Zeichens Stellvertreter des Volkskommissars für Aufklärung – ein Referat über die Errichtung von Denkmälern für fünfzig ausgewählte „Lehrer des Sozialismus“. Auf Vorschlag des Moskauer Künstlerkollegiums beim Volkskommissariat für Aufklärung sollten sich unter den Empfängern dieser Ehre auch die Komponisten Ludwig van Beethoven, Modest Musorgskij, Michail Glinka, Aleksandr Skrjabin, Petr Čajkovskij, Nikolaj Rimskij-Korsakov, Aleksandr Borodin und Frédéric Chopin befinden – so zu lesen im Protokoll, unterzeichnet vom Vorsitzenden der Abteilung darstellender Künste (Otdel izobrazitel’nych iskusstv – IZO), Vladimir Tatlin, und der Abteilungs-Sekretärin Sofija Dymšic-Tolstaja, das in der Zeitung Izvestija [Nachrichten] vom 24. Juli 1918 veröffentlicht wurde. Von der Presse wurde diese von ‚oben‘ begonnene Kodifizierung lebhaft aufgegriffen. Die Liste der für die Rolle ‚revolutionärer Künstler‘ avisierten Kandidaten wurde mehrfach verfeinert, nicht ohne zuweilen ganz unvorhersehbare Änderungen zu bewirken. Besonders konsequent war die ‚Auslese‘-Ideologie in den Arbeiten Leonid Sabaneevs, eines ASM-Führungsmitglieds bis zu seiner Emigration 1926, der mit biologistischer Terminologie u. a. die Frage einer „Phylogenese musikalischer Organismen“ aufwarf und von deren „Vitalität“ und „Fähigkeit mit der Zeit zu kämpfen“ sprach. Vgl. Leonid Sabaneev, Istorija russkoj muzyki [Geschichte der russischen Musik], Moskau: Rabotnik prosveščenija [Bildungsarbeiter], 1924, S. 4.

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Die ‚Arbeit an den Klassikern‘ in der sowjetischen Musikkultur

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Es schien allgemein legitim und natürlich, die nationalrussische Musik als das Fundament der neuen Kultur anzusehen, umso mehr als die anderen, in das neugebildete ‚Sowjetvolk‘ aufgenommenen Völker keine ernsthaften Leistungen auf dem Gebiet der akademischen Musik vorzuweisen hatten. Und tatsächlich wurde in den Debatten vom Sommer 1918 um die Projektplanungen monumentaler Propaganda die Namensphalanx russischer Komponisten in der Liste nur durch Beethoven und Chopin aufgebrochen. Über den Massengeschmack dieser Zeit ließe sich nur auf der Grundlage allzu verstreuter Zeugnisse urteilen. Doch auch diese zeigen hinlänglich, dass die russische Klassik der ersten nachrevolutionären Jahre entweder im Bewusstsein breiter Hörerschichten führend war oder aber als der westlichen Klassik ebenbürtig angesehen wurde. Es ist anzunehmen, dass das Vertrauen der breiten Hörerschaft in zeitgenössische akademische und klassische russische Musik damals außergewöhnlich hoch war, möglicherweise sogar höher als zu jedem anderen historischen Zeitpunkt. Die Musikkritik der 1920er Jahre demonstrierte indes ganz andere Vorlieben. Besessen von der Idee einer weltumspannenden Internationalen war sie bestrebt, die neue revolutionäre Kultur in den weitesten Kontext einer Weltklassik zu stellen, was die russischen Figuren in den Hintergrund rücken ließ. Die unbedingte Führerschaft wurde bald nach der Revolution der deutschen Klassik zuteil. Sie überholte im verborgenen Wettstreit mit anderen, populäreren Nationalschulen nicht nur die russische, sondern auch die französische, italienische und sogar die traditionell eine Vorrangstellung einnehmende österreichische Musik. Das erklärte sich in Vielem aus dem ideologischen Potenzial des sorgfältig ausgewählten künstlerischen Erbes. An der Spitze der sowjetischen ‚Arbeit an den Klassikern‘ verblieben bis Mitte der 1930er Jahre Beethoven und Wagner.2 Und gerade die Geschichte der Aneignung des beethovenschen und wagnerschen Erbes, die in den ersten nachrevolutionären Jahren wahrhaft triumphal begonnen hatte, ver-

Von Johann Sebastian Bach als Prototyp sowjetischer Monumentalität war man sehr rasch, bereits Mitte der 1920er Jahre, enttäuscht. Franz Schubert wurde von Boris Asaf’ev bei den Feiern zu seinem 100. Todestag 1928 vorsichtig als Vorläufer der ‚Liedsymphonie‘ propagiert, über die man in der damaligen sowjetischen Kultur diskutierte; der Wiener Komponist sollte (und konnte) der ihm zugewiesenen monumentalen Rolle angesichts der geringen Popularität seiner Musik beim russischen Massenpublikum jedoch nicht gerecht werden. Die Haltung zu Giuseppe Verdi, dem ‚Meister der italienischen Revolution‘, war vorsichtig distanzierend, wie die italienische Musik bei Vertretern der russischen Kunst traditionell auf Geringschätzung stieß. Andere Klassiker des Auslands kamen als Vorbilder nicht in Frage, da ihr Schaffen aus sowjetischer Sicht allzu offensichtliche Unzulänglichkeiten aufwies. Vgl. Marina Raku, Muzykal’naja klassika v mifotvorčestve sovetskoj ėpochi [Klassische Musik im Mythenschaffen der Sowjetära], Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie [Neue literarische Umschau], 2014.

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Marina Raku

lieh dem beschriebenen Prozess in der sowjetischen Kultur eine germanozentrische Ausrichtung. Beethoven Beethoven nahm in der Musik des nachrevolutionären Russlands sogleich eine Sonderstellung ein, mit der selbst der Rang von Musikern wie Skrjabin und Wagner, die dazu hätten berufen sein können, die Revolution zu symbolisieren, nicht vergleichbar war. Beethovens Rezeption war die erfolgreichste und langlebigste in der sowjetischen Kultur. In gewissem Sinne verkörperte Beethoven die Sowjetära von ihren Anfängen bis zum Ende musikalisch am unbestrittensten. Das heißt jedoch nicht, dass die Figur Beethovens niemals irgendwelchen ideologischen Argwohn hervorgerufen und lückenlos in das Prokrustesbett jener Forderungen gepasst hätte, die von den neuen Eliten an die Kultur gestellt wurden. In seiner Musik gab es durchaus auch etwas zur Vorsicht Mahnendes und Vorbehalte Verlangendes, das den Erwartungen unterschiedlicher sozialer Schichten und ideologischer Gruppen angepasst werden musste. Um das Bild Beethovens für die Interessen der revolutionären Epoche zu nutzen, war es notwendig, es neu zu gestalten. Und es war gerade die Arbeit am Beethovenbild, die eine Ära neuer ideologischer, von der Sowjetkultur durchgesetzter Interpretationen eröffnete. Beethovens Musik ging in den Alltag der ersten revolutionären Jahre ein als eines der essentiellen Attribute verschiedenster politischer und überhaupt öffentlicher Aktionen. So wurden herausragende Funktionäre der Revolution unter den Tönen des Trauermarschs aus der Eroica zu Grabe getragen. Der soeben gegründete Staatsverlag reagierte auf diese Nachfrage und veröffentlichte als erste Ausgabe des nationalisierten Notendrucks im Dezember 1918 die Klaviersonaten Beethovens. Selbstverständlich stand Beethovens Musik auch im Zentrum von Revolutionsfeiern.3 Die Musik und sein Name gewannen in kürzester Zeit Zeichencharakter. Die Presse assoziierte mit ihnen ganz direkt die Revolutionsthematik und formulierte damit die Hauptcharaktereigenschaften des Komponisten und seines Schaffens in sowjetischer Deutung: revolutionäres Pathos, Modernität, demokratische Haltung, seelische Gesundheit, Heroismus und Volkstümlichkeit. 1919 erschien erstmals in der Sowjetära eine Beethoven gewidmete Veröffentlichung, und zwar in einer Biographien-Reihe, die dem Konzept revolutionä-

Eines der am aufwändigsten einzustudierenden und aufzuführenden Werke Ludwig van Beethovens, die Neunte Symphonie, deren Ankündigung in Russland auch heute noch ein Ereignis ist, wurde in den schweren Jahren des Bürgerkriegs mehrfach gespielt.

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Die ‚Arbeit an den Klassikern‘ in der sowjetischen Musikkultur

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rer monumentaler Propaganda gehorchte. 4 Symbolisch war im Beethovenjahr 1920 das Aufgreifen von Elementen aus dem Finale der Neunten Symphonie in der Hymne an den Ersten Mai für Chor von Aleksandr Kastalskij,5 der bis vor kurzem noch ein ehrwürdiger Repräsentant der Schule des Synodalgesangs gewesen war und nun als Aktivist des Proletkulʼts hervortrat. Es handelt sich um die Verbindung des Textes „Seid umschlungen, Millionen“ in russischer Übersetzung mit dem Hauptthema des Finales, der Melodie zu „Freude, schöner Götterfunken“.6 So reifte noch vor der Gründung der RAPM im Schoße der proletarischen Kultur eine offensive Vereinnahmung Beethovens heran. Die wichtigsten Positionen der neuen Kulturpolitik zu Beethoven, die in der sowjetischen Presse zuvor nur zerstreut anzutreffen waren, formulierte Anatolij Lunačarskij, der Volkskommissar für Aufklärung, auf einem Festakt („koncert-miting“, „Konzert-Meeting“) zum 150. Geburtstag des Komponisten. Das hierfür gewählte Datum, der 9. Januar 1921, besaß offenbar eher symbolische Bedeutung. Denn wenn auch das Geburtsdatum des Komponisten nicht genau feststeht, fällt es doch in die Dezembermitte, so dass der Festakt eigentlich einen Monat früher hätte stattfinden müssen. Doch traf sich das Datum mit einem anderen Gedenktag, dem St. Petersburger Blutsonntag von 1905, einem feststehenden Termin im Revolutionskalender Sowjetrusslands. Im Zentrum der Rede Lunačarskijs stand die These vom revolutionären Charakter der Kunst Beethovens.7 Der Volkskommissar verlieh dem Komponisten Züge eines in Stein ge„R – A“, Ludvig Van-Betchoven [Ludwig van Beethoven], Moskau: Otd. izd-va i kn. torgovli Mosk. sov. r. i k. d., 1919 (Komu proletariat stavit pamjatniki [Wem das Proletariat Denkmäler errichtet], 4). 5 Aleksandr Kastalʼskij (Musik); V. Kirillov (Text), Pesni revoljucii [Lieder der Revolution], Bd. 1: Moskau: Proletkulʼt, 1923, S. 8–9. 6 Vgl. Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2: Das 20. Jahrhundert, Laaber: Laaber, 2008, Teilband I, S. 205. 7 Diese These stammt noch aus der Zeit vor der Revolution. Sie stützt sich sowohl auf deutschösterreichische (Adolf Bernhard Marx, August Wilhelm Ambros) und französische Traditionen (Romain Rolland und andere) als auch auf verbale Äußerungen russischer Musiker (von Anton Rubinštejn, Sergej Bulič, David Šor und anderen). So verwendete Julij (Joel) Ėngelʼ, ein bedeutender Musiklexikograph und Aktivist der jüdischen nationalen Wiedergeburt, zur Charakterisierung der Musik Beethovens ein verstecktes Zitat aus der russischen Textfassung der Internationale: „ … ličnostʼ, ranʼše byvšaja ničem, teperʼ stala vsem … [Eine Person, die ein Nichts war, wurde Alles]“. Vgl. Julij Ėngelʼ, Očerki po istorii muzyki. Lekcii, čitannye v istoričeskich simfoničeskich koncertach Imp. Russkogo Muzyk. O-va v Moskve v 1907–1908 i 1908 –1909 g. g. [Abriss der Musikgeschichte. Vorlesungen in den historischen Symphoniekonzerten der Kaiserlichen Russischen Musikgesellschaft in Moskau der Jahre 1907/08 und 1908/09], Moskau: Izdatelʼstvo N. N. Kločkova, 1911, S. 67–79. – Das französische Original „Nous ne sommes rien, soyons tout!“ hatte Arkadij Koc 1902 mit „Kto byl nikem – tot stanet vsem [Wer ein Niemand war, wird nun alles sein]“ ins Russische übersetzt. 4

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meißelten Heroismus. Der lyrische Held der beethovenschen Symphonik verband sich für Lunačarskij mit einem tragisch umwehten Opferbild des Revolutionstribuns; die symphonischen Konflikte als solche mündeten indes, seiner ‚Rekonstruktion‘ zufolge, in ein der echten Tragödie nachempfundenes kathartisches und damit optimistisches Fazit. Dieses Führer- und Helden-Bild Beethovens nahm zugleich den Nimbus des Gott-Vaters an, eine sakrale Färbung, wie sie nicht selten in den Texten Lunačarskijs zutage tritt, eines früheren Anhängers des ‚Gotterbauertums‘. In diesen „Vater“- und „Führer“-Zügen, dessen „Predigt“ bald „in den Köpfen der Millionen-Massen zu schwirren beginnt“ und ein „Echo in den Arbeiter- und Bauernherzen“ 8 findet, zeichnet sich unübersehbar eine Ähnlichkeit mit der Vatergestalt des ‚Führers des Weltproletariats‘ ab. Zu einer ersten Gegenüberstellung der Namen Beethovens und Lenins kam es 1920 im Rahmen der Feiern zum 150. Geburtstag des Komponisten und zum 50. Geburtstag des Führers der russischen Revolution. Im Hinblick auf Letzteren hatte Michail Kedrov, ein verdienter Bolschewik und Chef der Sonderabteilung der Allrussischen außerordentlichen Kommission [Vserossijskaja Črezvyčajnaja Kommissija – VČK, eine Art Inlandsgeheimdienst], einen „Lenin und Beethoven“ betitelten Aufsatz veröffentlicht, in dem er der Schweizer Treffen der Emigrationszeit gedachte, bei denen er auf Bitten Lenins Musik von Beethoven spielte.9 Nach Lenins Tod 1924 werden die Figuren Lenins und Beethovens zu einer mythologischen Gestalt verknüpft. Dieser Prozess wurde durch das Apokryph des Appassionata-hörenden Lenins befeuert, das Maksim Gor’kij – nach den Worten des bekannten Pianisten und Dirigenten Isaj Dobrovejn – in seiner Lenin-Skizze wiedergegeben hatte. Die erste Fassung des Textes begann mit dieser Episode10 und kodifizierte dadurch endgültig die Gegenüberstellung Lenin-Beethoven. Bei der Ansprache vor einem Konzert zum 100. Todestag Anatolij Lunačarskij, „Betchoven [Beethoven]“, in ders., V mire muzyki. Stat’i i reči [In der Welt der Musik, Aufsätze und Reden], hrsg. und kommentiert von G[rigorij] Bernandt und I[lʼja] A. Sac, Moskau: Sovetskij kompozitor [Sowjetischer Komponist], 21971, S. 75–80, hier S. 79. 9 Michail Kedrov, „Lenin i Betchoven [Lenin und Beethoven]“, in: Izvestija Archang[elʼskogo] gub. Revkoma i Archgubkoma R. K. P. [Nachrichten des Archangelsker GouvernementsRevolutionskomitees und des Archangelsker Gouvernement-Komitees der Russischen Kommunistischen Partei] vom 23. April 1920, zit. nach Sim[on] Drejden, Lenin slušaet Betchovena [Lenin hört Beethoven], Moskau: Sovetskij kompozitor, 1975, S. 7. 10 Die handschriftliche Skizze ist „Čelovek [Der Mensch]“ überschrieben. Auszüge wurden unter dem Titel „Gorkij o Lenine [Gorkij über Lenin]“ in der Zeitung Izvestija VCIK [Nachrichten des Allrussischen zentralen Vollzugsausschusses (Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet)] Nr. 84 vom 11. April 1924 veröffentlicht, eine erste Variante „Vladimir Lenin“ in der Zeitschrift Russkij sovremennik [Der russische Zeitgenosse], 1. Jg. Heft 1 (Mai 1924), S. 229–244, hier S. 230. 8

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Beethovens, das für das Moskauer Komsomolzen-Aktiv veranstaltet wurde, erwähnte Lunačarskij „die gewaltige, ich möchte sagen: poetische Einschätzung, die der wirklich genialste Politiker, Wladimir Iljitsch [Lenin], dem genialsten Musiker, Beethoven, gegeben hat.“11 Durch die rhetorischen Parallelisierungen von „großer proletarischer Revolution“ und „großer französischer Revolution“ sowie von „fortschrittlicher Arbeiterklasse“ und „fortschrittlicher Bourgeoisie an der Wende zum 19. Jahrhundert“ legte Lunačarskij den Grund einer spezifischen Geschichtsphilosophie, die Beethoven die Rolle des ‚Lenins von gestern‘ zuerkannte – noch bevor Stalin auf die Rolle des ‚Lenins von heute‘ festgelegt wurde.12 Der Prozedur mythologischer Anverwandlung wurden nicht nur Epochen und Bilder historischer Figuren unterzogen, sondern auch Kunstwerke. Die Überzeugungskraft solcher Analogien beruhte auf Reduktionen der beschriebenen Erscheinungen bis hin zu einer völligen Übereinstimmung ihrer Merkmale. Im Falle Beethovens wird die Strategie solcher Bedeutungsreduktion besonders offensichtlich am Beispiel des Mythologems der ‚beethovenschen Symphonie‘. Obwohl noch nicht klar ausformuliert, unterlag die Rezeption der Symphonien Beethovens bereits Anfang der 1920er Jahre dem Prinzip mythologischer Analogie. Indem man jede seiner Symphonien in eine mythologische Kette von ‚Parallelorten‘ einband, konnten sie konsequent der geschlossenen mythologischen Perspektive der Neunten anverwandelt werden: vom Chaos zu Harmonie und Licht. Ein Beispiel dafür ist Fedor Lopuchovs „Tanzsymphonie“ Veličie mirozdanija [Die Größe des Weltalls], ein Ballett nach der Vierten Symphonie von Beethoven, das am 7. März 1923 im Petrograder Kleinen Akademischen Opern- und Ballett-Theater, dem Vorläufer des Malyj akademičeskij LeAnatolij Lunačarskij, „Počemu nam dorog Betchoven [Warum uns Beethoven teuer ist]“, in ders., V mire muzyki (wie Anm. 8), S. 381–392, hier S. 382. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung „Warum uns Beethoven teuer ist“, in: Anatoli Lunatscharski, Das Erbe. Essays – Reden – Notizen (Fundus-Bücher, 14), ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Franz Leschnitzer, Dresden: VEB Verlag der Kunst, 1965, S. 17–29, hier S. 18. 12 Diese propagandistische Losung begegnet erstmals 1935 in einem Essay von Henri Barbusse. Vgl. Anri Barbjus [Henri Barbusse], Stalin. Čelovek, čerez kotorogo raskryvaetsja novyj mir [Stalin. Der Mensch, durch den sich eine neue Welt auftut], Übersetzung aus dem Französischen, Moskau: Goslitizdat, 1936, S. 104. 1948 wurde diese Formulierung im offiziell apologetischen Buch Iosif Vissarionovič Stalin. Kratkaja biografija [Eine kurze Biographie] aufgegriffen. Laut Nikita Chruščev korrigierte Stalin den Text des Buchs und notierte in ihm: „Stalin ist der würdige Fortsetzer der Sache Lenins, oder wie es bei uns in der Partei heißt: Stalin – das ist der Lenin von heute.“ (Nikita Chruščev, Doklad na zakrytom zasedanii XX s’’ezda KPSS „O kulʼte ličnosti i o ego posledstvijach“ [Referat in der geschlossenen Sitzung des 20. Parteitags der KPdSU „Über den Persönlichkeitskult und seine Folgen“], Moskau: Politizdat, 1959, S. 49. 11

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ningradskij gosudarstvennyj opernyj teatr (MALEGOT) seine Premiere hatte.13 Lopuchov inszenierte zur Musik der Vierten Symphonie im Grunde genommen das ‚Sujet‘ der Neunten. Die Bewegung vom Dunkeln zum Licht, vom Chaos zum Elysium, glich das Bild des beethovenschen Helden dem eines Revolutionärs nach dem Muster des Prometheus an. Eine wichtige Rolle im Prozess der Mythologisierung des beethovenschen Schaffens spielte der Vergleich von Revolution und Symphonie. Schon zur Zeit Wagners14 aufgekommen und in den Aufsätzen Aleksandr Bloks aufgegriffen,15 aktualisierten ihn die Ideologen des neuen Regimes als Antwort auf die in den 1910er und 1920er Jahren beschworene Notwendigkeit einer ‚Musik der Revolution‘. Die künftige Gesellschaft wurde dabei von den Revolutionsführern mit dem Bild der beethovenschen Symphonie identifiziert.16 In der verallgemeinernden Formulierung Lunačarskijs, der zufolge „jede Revolution eine grandiose Symphonie“17 sei, schwingt noch eine andere Bedeutung mit. Sie verweist auf Paul Bekkers Buch Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler, das im selben Jahr (1926) in russischer Übersetzung mit einem einfüh-

13 Das nach nur einer Aufführung abgesetzte Spektakel begründete ein neues Genre im internationalen Tanztheater. 14 Michail Bakunin, Wagners Kamerad aus Dresdner vorrevolutionären Zeiten, verglich die Revolution mit einem Konzert. Vgl. Revoljucionnoe narodničestvo 70-ch godov XIX veka. Sbornik dokumentov i materialov v 2 tomach [Die revolutionäre Bewegung der Narodniki in den 1870er Jahren: Dokumente und Materialien in zwei Bänden], hrsg. von Sigizmund Valʼk u. a., Bd. 1, 1870–1875, hrsg. von Boris Itenberg, Moskau: Nauka [Wissenschaft], 1964, S. 53. Laut Wagner behauptete Bakunin sogar, dass im Feuer der Weltrevolution nur die Neunte Symphonie Beethovens unter allen Kulturschätzen das Recht habe, unversehrt zu bleiben. Vgl. Richard Wagner, Mein Leben. Erste authentische Veröffentlichung, hrsg. und mit einem Nachwort von Martin Gregor-Dellin, München: List, 1963, S. 450. 15 Aleksandr Blok, „Iskusstvo i revoljucija (Po povodu tvorenija Richarda Vagnera) [Kunst und Revolution (zum Schaffen Richard Wagners)]“, in ders., Sobranie sočinenij v 6 t. [Gesammelte Werke in 6 Bänden], Bd. 4: Očerki, stat’i, reči [Essays, Aufsätze, Reden] 1905– 1921, hrsg. von Michail Dudin u. a., Leningrad: Chudožestvennaja literatura [Künstlerische Literatur], 1982, S. 240–244; siehe dort auch den Text „Krušenie gumanizma [Das Scheitern des Humanismus]“, S. 327–347. 16 Vgl. Lev Sosnovskij, Dela i ljudi [Angelegenheiten und Menschen], Buch 2, zweite Ausgabe, Moskau: Gosizdat, 1925, S. 157f.: Nikolaj Bucharin, „Leninizm i problema kulʼturnoj revoljucii (Rečʼ na traurnom zasedanii pamjati V. I. Lenina 21 janvarja 1928 g.) [Der Leninismus und das Problem der Kulturrevolution (Rede zur Gedenkversammlung für Lenin am 21. Januar 1928)]“, in ders., Izbrannye proizvedenija [Ausgewählte Werke], hrsg. von G. L. Smirnov u. a., Moskau: Politizdat, 1988, S. 368–390, hier S. 390. 17 Anatolij Lunačarskij, „Velikie sestry [Die großen Schwestern]“, in: Muzyka i revoljucija [Musik und Revolution], 1926 Heft 1, S. 14–19, hier S. 16.

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renden Aufsatz von Boris Asafʼev erschienen war.18 Die Kernidee des damals Aufsehen erregenden Buchs besteht darin, dass die Symphonie als Ansprache an eine „Volksversammlung“ verstanden und darin ihre wichtigste Gattungseigenschaft gesehen wird. Eine solche Absicht verfolgte, laut Bekker, auch Beethoven; mehr noch, jener habe „nicht eine neue Musik komponiert[,] sondern eine neue Hörerschaft.“19 Weder Beethovens Vorgänger noch Nachfolger hätten (ausgenommen einzelne Werke Mahlers) das vor allem in der Neunten Symphonie Ausgedrückte erreicht („Es gibt keinen Nachfolger Beethovens im Sinne eines Fortsetzers“).20 Asafʼev projiziert Bekkers Konzeption im Vorwort der russischen Edition ganz pragmatisch auf die zeitgenössische Situation in Russland und bilanziert: „Es kristallisiert sich, mit anderen Worten, folgender Weg: Die musikalisch unorganisierten, eine Symphonie hörenden Massen schließen sich unter der formierenden Kraft der Musik zu einem Verbund zusammen, einer Gesellschaft, in der auf Grundlage verbindenden Erlebens ein Gemeinschaftsbewusstsein gedeiht.“21 Faktisch war damit das Projekt ‚sowjetischer Musik‘ skizziert, an dessen Ausarbeitung Asafʼev so engagiert beteiligt war. Das Projekt ‚sowjetischer Musik‘ basierte wesentlich auf der Vorstellung, die sowjetische Kultur stehe in unmittelbarer Kontinuität zum Schaffen Beethovens. Deshalb zielte man auf die Heranziehung von „Nachfolgern“, die Bekker in der Geschichte der „bourgeoisen Kultur“ nicht hatte entdecken können. Die 1923 gegründete RAPM sah sich dabei als die pädagogische Leitinstanz. Die proletarische Kritik variierte das Thema ‚Beethoven und die Gegenwart‘ auf jede Art und Weise. Aus Beethoven, dem „intimen Nachbarn des Sozialismus“ (Lunačarskij), wurde bei den Vertretern der RAPM ein „alter Genosse und Vorgänger“; aus dem romantischen Tribun, ähnlich den Vorkämpfern der französischen Revolution, der Prototyp des Arbeiter-Bolschewisten.22 Beim „alten Genossen“ Beethoven in die „Lehre“ zu gehen (vereint in recht unerwarteter Allianz mit Musorgskij), wurde zur Kernlosung der RAPMRussischer Titel: Paulʼ Bekker, Simfonija ot Betchovena do Malera, übersetzt von Roman Gruber, hrsg. und mit einführendem Aufsatz von Igorʼ Glebov [d. i. Boris Asaf’ev], Leningrad: Triton, 1926. 19 Paul Bekker, „Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler (1917)“, in ders., Neue Musik (Gesammelte Schriften, 3), Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1923, S. 1–40, hier S. 10; russische Übersetzung (wie Anm. 18) S. 22. 20 Bekker, „Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler“ (wie Anm. 19), S. 18; russische Übersetzung (wie Anm. 18) S. 32. 21 Igorʼ Glebov [d. i. Boris Asaf’ev], „Simfonizm, kak problema sovremennogo muzykoznanija [Der Symphonismus als Problem der heutigen Musikwissenschaft]“, Vorwort zu Bekker, Simfonija ot Betchovena do Malera (wie Anm. 18), S. 3–10, hier S. 6. 22 Vgl. „L. L.“ [d. i. Lev Lebedinskij], „Betchoven [Beethoven]“, in: Za proletarskuju muzyku [Für eine proletarische Musik], 1930 Heft 3, S. 9–16. 18

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Ideologen. Mit „Lehre bei Beethoven“ war ebenso die „Erziehung der Massen im Geiste der revolutionären Ideologie“ wie die „kritische Lehre“ der Grundlagen des dialektischen Materialismus in der Musik gemeint. Ersteres betraf die Symphonie als Medium zur Heranziehung einer „neuen Hörerschaft“ (Bekker), von der bereits die Rede war. Dabei wurde das zutiefst „Demokratische“ der beethovenschen Sprache allmählich schon auch nicht mehr von denen bezweifelt, die dem Komponisten dieses noch unlängst kategorisch abgesprochen hatten.23 Die popularisierende Literatur der 1920er Jahre ging bisweilen sogar noch weiter, indem sie Beethoven als eine Art „Narodnik [Volkstümler]“ darstellte.24 Die Frage, in welchen Gattungen die dialektische Methode zu erproben sei, wurde im Umfeld der RAPM überhaupt nicht aufgeworfen, obwohl im schöpferischen Laboratorium der Assoziation große Gattungen, die zur Anwendung einer Beethoven ähnlichen und entwickeltem Ausdruck fähigen ‚Dialektik‘ hätten Anlass geben können, faktisch fehlten. Stattdessen waren die schöpferischen Anstrengungen hier hauptsächlich auf die Erschaffung des sowjetischen Massenlieds ausgerichtet. Experimente, ein Oratorium (Der Weg des Oktober) sowie einzelne Opernwerke in Kollektivarbeit zu kreieren, waren augenscheinlich die Ausnahme von der Regel. Die Skizzen der wenigen großen Werke, die im Umfeld der Assoziation entstanden, zeichnen sich durch dramaturgische Unbeholfenheit und Fragmenthaftigkeit aus; das wichtigste Erbe der Vereinigung war insoweit die Chorminiatur. Die von der RAPM propagierte Losung „Lehre bei Beethoven“ muss daher als polemische Figur gesehen werden. Zur kompositorischen Praxis fast ohne Bezug, hatte sie sich zu einem gängigen Mittel der Demagogie gewandelt. Bei den sich verschärfenden Kämpfen zwischen der RAPM und der ASM wurde Beethoven zum ideologischen Spielball der Gruppierungen. Die in den 1920er Jahren nicht verstummende Erörterung des beethovenschen Erbes, aber auch die unablässigen „Aufrufe zu Beethoven“, die in der programmatischen Der optimistischen Einschätzung der gemeinschaftsstiftenden Kraft der Beethovenʼschen Symphonie, wie sie Igorʼ Glebov [d. i. Boris Asaf’ev], „Simfonizm“ (wie Anm. 21), 1926 formulierte, waren in früheren Jahren negativere Bilder desselben Autors vorangegangen. Vgl. Igorʼ Glebov, „Puti v buduščee [Wege in die Zukunft]“, in: Melos. Knigi o muzyke, hrsg. von dems. und Petr Suvčinskij, Bd. 1, St. Petersburg: [Gosudarstvennaja tipografija,] 1918, S. 50– 96, hier S. 52, sowie ders., „Krizis muzyki (Nabroski nabljudatelja leningradskoj muzykalʼnoj dejstvitelʼnosti) [Krise der Musik (Skizze eines Beobachters der Leningrader musikalischen Wirklichkeit)]“, in: Muzykalʼnaja kulʼtura [Musikkultur], 1924 Heft 2, S. 99–120, hier S. 107. – Ähnlich der Weg Leonid Sabaneevs: Vgl. dessen Vseobščaja istorija muzyki [Allgemeine Geschichte der Musik], Moskau: Rabotnik prosveščenija, 1925, S. 15 und 143, mit dems., Muzyka posle Oktjabrja [Die Musik nach der Oktoberrevolution], ebd. 1926, S. 160. 24 Vgl. A. Aptaev [d. i. Margarita Jamščikova], Betchoven, Petrograd: Kniga, 1924 (Serija ŽZL, o. Nr.), S. 52. 23

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Erstausgabe der Zeitschrift Muzykalʼnaja kulʼtura [Musikkultur], eines Organs der ‚Fortschrittler‘, mit unüberhörbarem Sarkasmus kommentiert wurden,25 belegen die problematische ‚Beethoven-Situation‘ dieser Zeit. Die unmäßige Berufung auf den Komponisten durch Kräfte der RAPM provozierte heftige Ausfälle gegen ihn auf Seiten der ASM. In diesem Zusammenhang ist Nikolaj Roslavecʼ Aufsatz „Zurück zu Beethoven“ erwähnenswert, der im Beethovenjahr 1927 auf dem Höhepunkt der ideologischen Grabenkämpfe zwischen den beiden Gruppierungen veröffentlicht wurde. Anlass für den Beitrag von Roslavec, der zu den extremsten Mitgliedern der ASM gehörte und als einer ihrer Führer hervortrat, war eine im Rahmen der Zeitschrift Muzykalʼnoe obrazovanie [Musikalische Bildung] erschienene Sonderausgabe zu Beethovens 100. Todestag (Nr. 1–2/1927). Die Schärfe von Roslavecʼ Reaktion war vor allem durch den Umstand bedingt, dass es sich bei der Zeitschrift um das Publikationsorgan des Moskauer Konservatoriums handelte, was eine Beethoven-Deutung im Sinne pädagogischer Handreichungen implizierte. Unter Beanspruchung militärischer Metaphern warf Roslavec den Autoren ein Abgleiten in die „musikalische Reaktion“ vor. Beethoven geriet darüber zum „Reaktionär“ und faktisch zum Klassenfeind der ASMKomponisten.26 Ihm zur Seite gestellt wurden in mündlichen Diskussionen weitere „Überbleibsel der vergangenen Kultur“, darunter auch Vertreter des ‚Mächtigen Häufleins‘.27 Tatsächlich waren die Beziehungen der ASM-Anhänger zu Beethoven, entgegen lautstarker Erklärungen, im Einzelnen widersprüchlich. Die ASM, deren feindliche Bestrebungen die RAPM dazu genötigt hatten, ihr ein Tandem zweier Klassiker gegenüberzustellen, berief sich nämlich in Wirklichkeit viel entschiedener auf die musikgeschichtliche Linie Beethovens als die proletarischen Musiker. So setzte Nikolaj Mjaskovskij, der die Revolution als bereits reifer Symphoniker erlebte, die europäische beethovensche Tradition nicht nur eindeutig fort, sondern erklärte überdies, dass aus eben dieser Tradition die russische Komponistenschule hervorgegangen sei und jegliches Schaffen sich an demjenigen Beethovens messen lassen müsse.

Vgl. etwa „Dialektik“, „O reakcionnom i progressivnom v muzyke [Reaktionäres und Progressives in der Musik]“, in: Muzykalʼnaja kulʼtura, 1924 Heft 1, S. 45–51, insbesondere S. 50. 26 Nikolaj Roslavec, „Nazad k Betchovenu [Zurück zu Beethoven]“, in: Rabočee iskusstvo [Arbeiterkunst], 1927 Heft 49 (91), S. 3f. 27 Vgl. E[katerina] S. Vlasova, „Venera Milosskaja i principy 1789 goda, Statʼja vtoraja: Ispovedʼ žizni Michaila Gnesina [Die Venus von Milo und die Prinzipien des Jahres 1789, Zweiter Aufsatz: Die Lebensbekenntnisse Michail Gnesins]“, in: Muzykalʼnaja akademija, 1993 Heft 3, S. 178–185, hier S. 182. 25

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Das Schaffen der ASM-Komponisten belegt in gleicher Weise die Fortführung der unauflösbar an Beethoven gebundenen Traditionen. Die Symphonie, das Konzert, die Sonate, das Oratorium und die Kantate: Diese und andere klassische Gattungen, in denen es Beethoven gelungen war, den ‚Höhenkamm‘ der Musikgeschichte zu erklimmen, wurden von den ASM-Komponisten konsequent aufgegriffen – von Vladimir Deševov, Aleksej Životov, Aleksandr Mosolov, Leonid Polovinkin, Gavriil Popov, Nikolaj Roslavec, Nikolaj Mjaskovskij, Leonid Sabaneev, Samuil Fejnberg, Vissarion Šebalin, Dmitrij Šostakovič, Vladimir Ščerbačëv und anderen. Mehr noch, in den 1920er Jahren kamen in der sowjetischen Musik Werke auf, die bestimmter Gattungsmerkmale und dramaturgischer Prinzipien wegen als Gruppe angesprochen werden können. Bereits 1922 beendete Andrej Paščenko seine Zweite Symphonie mit dem Schlusschor „Hymne an die Sonne“ auf Worte Konstantin Balʼmonts; in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre folgten ihr Michail Gnesins Symphonisches Monument 1905–1917 für Chor und Orchester auf Worte Sergej Esenins (1925), Aleksandr Krejns dem Andenken Lenins gewidmete Trauerode für Chor und Orchester (1926), Dmitrij Šostakovičs Zweite Symphonie (An den Oktober) mit Schlusschor auf Worte Aleksandr Bezymenskijs (1927) sowie seine Dritte Symphonie (Der Erste Mai) mit Schlusschor auf Worte Semen Kirsanovs (1929). Die Sujets dieser Werke basieren, wie Levon Akopjan richtig erkannte, auf einem gemeinsamen Schema. Marina Sabinina hat es am Beispiel der Zweiten Symphonie Schostakowitschs wie folgt beschrieben: „zu Beginn: dunkles Chaos, das die finstere Vergangenheit symbolisiert, dann: das Erwachen des Protests und das Heranreifen eines revolutionären Bewusstseins, schließlich die Preisung des Oktobers“.28 Dieses Schema geht, wie Levon Akopjan feststellte, auf den Archetypus „des soteriologischen Mythos von der wundersamen Rettung der Welt zurück, die in Unglück und Sünde versinkt“,29 und „es war im Grunde dieses mythologische Schema, das zur Ausgangsgrundlage des späteren sozialistischen Realismus wurde.“30 Hinter dieser klaren Dramaturgie des Aufstiegs aus dem Dunkeln des Chaos zum Licht des weltumspannenden Elysiums steht jedoch nicht nur dieses archetypische Schema der christlichen Erlösungsgeschichte, sondern unzweifelhaft auch das Muster der Neunten Symphonie, die sich ihrerseits diesem Mysterien-Sujet zuordnen lässt. Spezifisch dafür, und in allen genannten Fällen erkennbar, ist eine gattungsdefi-

Marina Sabinina, Šostakovič – simfonist. Dramaturgija – ėstetika – stilʼ [Šostakovič als Symphoniker. Dramaturgie – Ästhetik – Stil], Moskau: Muzyka [Die Musik], 1976, S. 59. 29 Levon Akopjan, Dmitrij Šostakovič. Opyt fenomenologii tvorčestva [Dmitrij Šostakovič. Versuch einer Phänomenologie des Werks], St. Petersburg: Dmitrij Bulanin, 2004, S. 56. 30 Ebd., S. 55. 28

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nierende Strategie: die Krönung der symphonischen Entwicklung durch eine Chorapotheose. Tatsächlich strebten alle genannten Werke nach der Verkörperung einer sowjetischen Symphonie (worauf ihre jeweilige Programmatik verweist). Ihre Komponisten, darunter auch Vertreter der ASM, wandten sich an den Massenhörer und rekurrierten auf das Modell der kompliziertesten aller Symphonien Beethovens, um sich, analog zu dem von Bekker beschriebenen Beispiel der Klassik, eine neue, sowjetische Hörerschaft zu schaffen. Es ist wesentlich, dass diese Versuche in die Vorbereitung der Festakte und Feiern zum Beethoven-Jubiläum 1927 fielen und sich somit völlig organisch in den offiziellen ideologischen Kontext einfügten. Vor den Feiern zum hundertsten Todestag wurde ein eigenes BeethovenKomitee beim Volkskommissariat für Aufklärung ins Leben gerufen, das Lunačarskij leitete und dem ebenso Vertreter aus den Bereichen Lehre und Forschung wie aus den Konzert- und Theaterorganisationen angehörten. Im Mai 1927 veröffentlichte das Komitee ein spezielles Bulletin, das die Ziele und Aufgaben der bevorstehenden Feiern publik machte. Sogar der Rat der Volkskommissare hatte sich mit einer Vorlage zum Sachstand des Beethoven-Komitees befasst, was der „Beethoven-Bewegung“ einen Allunions-Charakter verlieh.31 Die Bewegung konnte sich nicht allein auf Konzertveranstaltungen beschränken, in denen Beethoven ohnedem, nach Auffassung der Kommissionsmitglieder, ausreichend vertreten war.32 Deshalb plante man Massen- und Agitationsvorstellun-

31 Vgl. Nikolaj Šuvalov, „O betchovenskich dnjach v Sojuze [Über die Beethoven-Tage in der Sowjetunion]“, in: Betchovenskij bjulletenʼ [Beethoven-Bulletin] Heft 1, Moskau: Betchovenskij komitet pri Narkomprose RSFSR [Beethoven-Komitee am Volkskommissariat für Aufklärung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik], 1927, S. 9–14, hier S. 11. 32 Die dem Beethoven-Bulletin beigegebene Chronik des Jahres 1927 vermittelt in der Tat ein beeindruckendes Bild. Außer sowjetischen Musikern waren auch herausragende ausländische Interpreten wie Egon Petri, Artur Schnabel, Joseph Szigeti, Otto Klemperer und Hans Knappertsbusch an den Jubiläumskonzerten beteiligt. Große Feiern gab es, über Moskau und Leningrad hinaus, auch in Odessa, Charkow und Saratow. Damaligen Pressedarstellungen zufolge wurde auch in anderen Städten der russischen Provinz gefeiert. Einen „Beethoven-Monat“ (vom 28. Februar bis zum 28. März) veranstaltete Krasnodar, wo die Neunte Symphonie in Erstaufführung erklang (unter der Leitung von Genrich Tamler, einem Lehrer des dortigen Musiktechnikums), außerdem alle übrigen Symphonien, Konzerte, die Coriolan-Ouvertüre, Streichquartette, Trios, Sonaten und weitere Werke des Klassikers. Vgl. V. Preobraženskij, „Betchovenskie dni v Tule [Die Beethoven-Tage in Tula]“, in: Muzykal’noe obrazovanie, 1927 Heft 1–2, S. 180; „A. I.“, „Betchovenskie dni v Tomske“ [Die Beethoven-Tage in Tomsk], in: Muzykal’noe obrazovanie, 1927 Heft 3–4, S. 64.

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gen im Geiste der frühen nachrevolutionären Jahre,33 um deren Durchführung willen sogar Termine der Jubiläumsfeiern verlegt werden mussten. Das Jubiläum verstand man als eine großangelegte und langdauernde Aktion und maß ihr höchste Bedeutung bei. Geplant war, die Jubiläumstage mit einem wahren Veranstaltungsmarathon zu eröffnen, mit dem Ziel einer allseitigen ‚Beethovenisierung‘ [betchovenizacija] des sowjetischen Alltags. Die Vorbereitungen nahmen aus der Rückschau nachgerade absurde Formen an, insoweit es ja nicht um einen Vertreter der nationalen Klassik ging, und nicht ein Geburtstag gefeiert wurde, sondern ein Todestag! Doch faktisch stritt die UdSSR mit diesen Maßnahmen mit Deutschland um das Recht, sich das ‚Heimatland‘ Beethovens nennen zu dürfen. Die wohl grundsätzlichste Erklärung hierzu findet sich auf den ersten Seiten des Bulletins, wo es heißt, dass Beethoven nur vorübergehend die Stelle der zukünftigen Musik besetze ‒ bis zum Aufkommen eines „genialen“ revolutionären Komponisten, der „stärker und großartiger“ sei als dieser. Beethoven erwies sich damit als Prototyp der Zukunft, analog zur Neunten Symphonie als Prototyp sowjetisch gedachter „Monumentalkunst“.34 Beethoven sollte mithin als Stellvertreter eines noch nicht aufgetauchten sowjetischen Komponisten fungieren. Er musste sich messen lassen an den Autoren zeitgenössischer, seinem Modell folgender Symphonien – und ging aus diesem inoffiziellen Wettstreit um den Titel des ‚besten sowjetischen Symphonikers‘ offenkundig als Sieger hervor. Es ist offensichtlich, dass der hundertste Todestag Beethovens 1927 von der Staatsmacht in der einmütigen Überzeugung begangen wurde, dass Beethoven den Massen verständlich und unentbehrlich sei. Zu dieser Zeit bestand auch Einvernehmen darüber, dass der Komponist uneingeschränkt propagiert werden müsse. Allerdings erlebten die Planungen bei ihrer Umsetzung eine deutliche Metamorphose. Anfangs noch vom Geist revolutionär-avantgardistischer Utopien umweht, wurden sie schließlich auf die recht prosaischen Umrisse einer gewöhnlichen ‚offiziellen Maßnahme‘ reduziert. Diese bestand aus einer Festversammlung und einem Konzert am Sonntag, dem 29. Mai, im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums. Bescheiden mutete auch die Zusammensetzung der Versammlung und des Präsidiums an (ohne die Staatsspitze), ebenso das Konzertprogramm (aus dem die Neunte Symphonie unter Leitung Otto Klemperers gestrichen worden war). Das Szenarium der Feiern wurde gegenüber den urVgl. „Muzykalʼnaja žiznʼ v SSSR. V komitete po podgotovke Betchovenskich toržestv [Musikleben in der UdSSR. Aus dem Komitee zur Vorbereitung der Beethovenfeiern]“, in: Muzykal’noe obrazovanie, 1927 Heft 1–2, S. 167f. 34 Vgl. Pavel Novickij, „Betchoven i SSSR [Beethoven und die UdSSR]“, in: Betchovenskij bjulletenʼ (wie Anm. 31), Heft 1, S. 5f., hier S. 6. 33

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sprünglichen Absichten stark gekürzt und nahm statt des ursprünglich geplanten monumentalen Massencharakters betont akademische Züge an: Statt Massendemonstrationen und Straßeninszenierungen gab es nun kompakte Quartettabende und andere Kammerkonzerte für ein Publikum der Arbeiter-Bezirke, und das mitten (!) in der Arbeitswoche. Man gewinnt den Eindruck, dass der offizielle Sonderstatus innerhalb der sowjetischen Kultur, den die Gründer des Beethoven-Komitees für den Komponisten gewahrt wissen wollten, sich bereits beim zweiten sowjetischen Jubiläum als partiell überholt erwies. Anfang der 1930er Jahre entdeckten die Vertreter der Staatsmacht sogar ein gewisses ‚Missfallen‘ an Beethoven und – in holder Eintracht – an seinen wichtigsten Propagandisten aus dem Kreis der RAPM. Das an Mičurin35 erinnernde RAPM-Projekt zur Schaffung eines „sowjetischen Komponisten“ auf dem Wege einer Kreuzung von Beethoven und Musorgskij stieß fortgesetzt auf Schwierigkeiten; seine Autoren hatten Angriffe von verschiedenster Seite zu parieren und sahen sich zu lavierenden Antworten genötigt.36 Gewiss, Beethoven war der Revolution dienlich, mehr noch, er war ihr ‚Wunschkandidat‘. Dennoch konnte er den Erwartungen der Ideologen nicht vollständig entsprechen. So störte sich eine Reihe von Musikkritikern an seiner Entwicklung vom reifen (heroischen) zum späten Stil. Konsequent und energisch kritisierte 1932 etwa Boleslav Pšibyševskij in seinem Beethoven-Buch die späten Werke des Komponisten.37 Als Leiter der Musikabteilung des Volkskommissariats für Aufklärung und standhafter Verfechter der Linie der RAPM bekannt, begab er sich in dieser Frage klar in einen Widerspruch zur Beethoven-zentrischen Ideologie der proletarischen Musiker. Mehr noch, seine am Vorabend der RAPM-Zerschlagung bezogene scharf ‚anti-beethovensche‘ Position zwingt sogar zu der Überlegung, ob sein Buch nicht vielleicht eine größere Ideologie-Kampagne anstoßen sollte. Als eigentümlicher ‚Sühne-Akt‘ mag es dem Bestreben

Ivan Vladimirovič Mičurin (1855–1935) war ein russisch-sowjetischer Botaniker und Pflanzenzüchter, dem es durch Artkreuzungen gelungen war, frostresistente Obstsorten herzustellen (Anmerkung des Übersetzers). 36 Vgl. das Auftreten von Jurij Keldyš 1931 auf dem Plenum des Rates von VSEROSKOMDRAM [Allrussische Organisation der Komponisten und Dramatiker], zit. bei E[katerina] Vlasova, 1948 god v sovetskoj muzyke. Dokumentirovannoe issledovanie [Das Jahr 1948 in der sowjetischen Musik. Eine dokumentierte Untersuchung], Moskau: Klassika-XXI, 2010, S. 127. 37 Vgl. Boleslav Pšibyševskij, Betchoven – opyt issledovanija [Beethoven – Versuch einer Untersuchung], Moskau: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo [Staatsmusikverlag], 1932; darin etwa S. 207: „Beethovens letzte Quartette sind in der Feinheit ihrer Zeichnungen und Farben staunenswerte, doch in ihrer Wirkung verderbliche Fehlblüten, die aus dem Grab seiner zerfallenen Ideale erwuchsen.“ 35

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entsprungen sein, Repressionen zu entkommen, nachdem sich über dem Autor dichte Wolken zusammengezogen hatten.38 Die rasche Entwicklung der ideologischen Polemik rief einen scharfen Widerspruch zwischen dem brutalen Anstürmen auf Beethoven nach dem Muster von 1932 und jenem Schwall von Lobeshymnen (mit maßvoll dosierten Giftpfeilen) hervor, der insgesamt vier Jahre andauerte. Im Zuge der Vorbereitungen zur Annahme der neuen ‚stalinschen‘ Verfassung wurde 1936 Beethovens Ode an die Freude in das Programm der Feierlichkeiten aufgenommen. Schon Anfang der 1930er Jahre war die Neunte Symphonie durch Anstrengungen sowjetischer Komponisten als offizielles Gattungsmodell approbiert worden, ungeachtet der Einwände verschiedener Kritiker gegen das Werk, und ungeachtet der Besorgnisse hinsichtlich eines Übergewichts dieses Modells in der sowjetischen Musik. Unter den Ableitungen der Neunten in der sowjetischen Musik waren in den frühen 1930er Jahren so bemerkenswerte Werke wie Vissarion Šebalins dramatische Symphonie Lenin auf Worte Vladimir Majakovskijs (1931) und Dmitrij Kabalevskijs Dritte Symphonie mit Chor auf Worte Nikolaj Aseevs (Requiem zum Andenken Lenins, 1933). Die Verankerung der beethovenschen dramaturgischen Formel im Kontext solcher Leninhuldigungen qualifizierte sie endgültig zu einem Symbol jener Staatlichkeit, deren Festigung die ‚stalinsche‘ Verfassung verkünden sollte. Wagner Noch erstaunlichere Windungen durchlief die sowjetische Rezeption Richard Wagners. Sie wandelte sich im Laufe weniger Jahrzehnte ebenso rasch wie prinzipiell. Zeitweilig begegnete Wagners Musik größtem Interesse bei den Hörern und wurde günstig von der Staatsmacht aufgenommen, zeitweilig fiel sie in Ungnade und wurde dem Vergessen anheimgegeben. Die russische Wagner-Rezeption stieß in den letzten Jahrzehnten mehrfach auf das Interesse der Forschung.39 Allgemeiner Konsens ist, dass Wagners Musik im Silbernen Zeitalter einen regelrechten ‚Boom‘ erlebte und Russland dem38 Pšibyševskij wurde im Februar 1932 wegen „Übertreibungen“ aus seinem Amt entfernt und später Repressionen ausgesetzt. Vgl. Vlasova, 1948 god (wie Anm. 36), S. 93. 39 Als erste grundlegende Untersuchung ist zu nennen: Abram Gozenpud, Richard Vagner i russkaja kul’tura [Richard Wagner und die russische Kultur], Leningrad: Sovetskij kompozitor, 1990. Eine wichtige und in der Durchdringung des Materials bis heute unübertroffene Arbeit stammt aus England: Rosamund Bartlett, Wagner and Russia, Cambridge: Cambridge University Press, 1995.

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gemäß an der Spitze des internationalen Wagnerismus stand. Der Erste Weltkrieg setzte dieser stürmischen Entwicklung ein Ende, doch schon nach einer kurzen Phase der Germanophobie zu Kriegsbeginn war das Interesse an Wagners Musik nicht nur wiederhergestellt, sondern wuchs erneut an. Wagner avancierte damit zu einem der in Sowjetrussland bevorzugten Klassiker der europäischen Musikgeschichte.40 Mehr noch, er nahm in der sowjetischen Kultur offenbar eine Ausnahmestellung ein. Der Slawist Hans Günther äußerte als einer der ersten die Vermutung, dass Wagner nicht nur eine der Schlüsselfiguren zum Verständnis der deutschen, sondern auch der russischen Variante des Totalitarismus sei: Vieles spricht dafür, dass bestimmte Ideen Wagners, die einen großen Einfluss auf die europäische Moderne und Avantgarde hatten, die russische eingeschlossen, Teil der totalitären Ästhetik wurden. Wagners Vorstellungen einer Synthese der Künste fanden ihre Verkörperung in einer Reihe ganz verschiedener und widersprüchlicher Ansätze – von synthetischen Kunstprojekten bis zu utopischen Versuchen einer Verschmelzung von Kunst und Leben.41

Viele der von Wagner inspirierten Ideen des Silbernen Zeitalters gehörten zum Erfahrungshorizont der ersten Generation nach der Oktoberrevolution, wodurch dem Komponisten eine Sonderstellung in der Revolutionskultur vorherbestimmt war. Die Spezifik des Wagnerismus, vor allem des russischen, liegt darin, dass sich Wagners Musik nicht allein in nachweisbaren Aufführungen seiner Opern Siehe hierzu Abram Gozenpud, Russkij sovetskij opernyj teatr (1917–1941) [Das russischsowjetische Operntheater (1917–1941)], Leningrad: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1963; Elena Tret’jakova, „Raboče-krest’janskomu zritelju želatelen? [Für den Arbeiter- und Bauern-Zuschauer wünschenswert?]“, in: Muzykal’naja akademija [Musikakademie], 1994 Heft 3, S. 131–132; Dorothea Redepenning, „Von der ‚Verfälschung durch die Faschisten‘ zur ‚Verwirklichung des Mythos‘. Richard Wagner in der Stalin-Ära. Eine Dokumentation anhand der Tages- und Fachpresse“, in: Saul Friedländer und Jörn Rüsen (Hrsg.), Richard Wagner im Dritten Reich, München: C. H. Beck, 2000, S. 230–250; Vladimir Burdin, „Vosprijatie tvorčestva Richarda Vagnera v Rossii posle revoljucii 1917 goda [Die Rezeption von Richard Wagners Werk nach der Revolution von 1917]“, in Richard Vagner v Rossii. Izbrannye statʼi učastnikov russko-nemeckoj konferencii v marte 1997 goda v Moskve [Richard Wagner in Russland. Ausgewählte Aufsätze der Teilnehmer der russisch-deutschen Konferenz vom März 1997 in Moskau], hrsg. von Ch. Villich-Lederbogen [Heide WillichLederbogen], Vladimir Kataev und R[olf]-D[ieter] Kluge, 2 Bde. (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen, 34), Tübingen: Slavisches Seminar der Universität, 2001, S. 273–284. 41 Chans Gjunter [Hans Günther], „Totalitarnoe gosudarstvo kak sintez iskusstv [Der totalitäre Staat als Synthese der Künste]“, in: Socrealističeskij kanon [Der sozialistisch-realistische Kanon], hrsg. von dems. und Evgenij Dobrenko, St. Petersburg: Gumanitarnoe agentstvo „Akademičeskij proekt“, 2000, S. 7–15, hier S. 8. 40

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und in den Deutungen seiner theoretischen Konstrukte erschöpft. Seine Rezeption berührt ungleich tiefere Schichten der Kultur, die über Musik als Kunst weit hinausgehen. Man muss sich klar machen, dass Wagner als Philosoph und Poet – ebenso durch die Kunstreligion seines Schaffens wie durch die in den Lebensentwürfen der vorrevolutionären Generation sich spiegelnden Stoffe und Bilder – viel stärker auf die russische Kultur einwirkte als durch seine Klangwelt.42 Der Wagner-Diskurs des Silbernen Zeitalters entfaltete sich als ein außermusikalischer: Das Phänomen seiner Musik konnte hier ohne ihr Erklingen verstanden werden, der ‚Geist der Musik‘ gewann gleichsam die Oberhand über ihre Realisierung. Die mythologische und weltanschaulich-schwärmerische Dichte seines Werks wie auch das Ambitiöse seiner ästhetischen Schriften verliehen der Figur Wagners einen Sonderstatus in der Kultur der Moderne, als deren Vorläufer und Verkünder er sich erwies. Innerhalb des Wagnerismus als hoch einflussreicher weltanschaulicher Strömung spielte nicht nur die Begeisterung für seine Schöpfungen eine wesentliche Rolle, sondern auch die Hoffnung auf das Anbrechen einer neuen Phase der Kunst, die grundsätzlich nicht nur ihre Formen ändert, sondern auch ihre Beziehungen zur Gesellschaft. Unter dem revolutionären Einfluss der neuen Kunst sollte sich, wie Wagner dachte und sich dabei nicht umsonst auf die lisztsche Formel einer „Musik der Revolution“ 43 berief, auch grundlegend die Gesellschaft selbst verändern. Allein diese Vorstellung offenbart eine substanzielle Verbindung zu den künftigen russischen Revolutionsereignissen. In der nachrevolutionären Kultur wurde Wagners Musik unmittelbar mit dem Thema der Revolution in Verbindung gebracht. Allerdings muss korrekterweise betont werden, dass Wagner sich die Rolle des Revolutionärs, die man anderen Klassikern mehr oder minder aufdrängen musste, schon zu Lebzeiten selbst zugelegt hatte und infolgedessen mit Beifall auf der Bühne der russischen Revolution empfangen wurde. Wird Emblematik der Vermassung ausgesetzt, führt das generell zu mehrdeutiger Symbolik. Im gegebenen Falle indes wurden Gedanken und Themen nicht nur extrem vereinfacht, sondern auf ein Minimum reduziert. Dieses der neuen Gesellschaft zugängliche und erforderliche mentale Minimum formte sich Anfang der 1920er Jahre im ideologischen Stereotyp einer Gleichsetzung der wagnerschen Musik mit der Idee aller und jeglicher Volksaufstände. Diese Idee spielte eine symbolisch zugespitzte Rolle bei dem im Rahmen der Petrograder Maifeiern 1920 aufgeführten Mysterium der befreiten Arbeit, das dank der MitIn der russischen Musik gab es keine offenkundigen Epigonen Wagners. Vgl. Paul Merrick, Revolution and Religion in the Music of Liszt, Cambridge: Cambridge University Press, 1987. 42 43

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wirkung so herausragender Künstler wie Jurij Annenkov, Mstislav Dobužinskij und Vladimir Ščuko einiges Aufsehen erregte. In diesem Mysterium erklang Musik aus dem Lohengrin, die als origineller „musikalischer Aufruf“ zum Aufstand der „Sklaven“ – „römischer Gladiatoren“ und „aufständischer Bauern des Stenka Rasin“ – verwendet wurde und in dieser Rolle den „Sklaven-Cancan“ der „speichelleckerisch bourgeois-beherrschten Welt“ verdrängte.44 Ein weiteres Beispiel dieser Kategorie ist das von Michail Bagrinovskij auf Worte Valerij Brjusovs komponierte Requiem für die Beisetzungsfeierlichkeiten Lenins.45 Es reproduziert in simplifizierter Form das Orchesterfinale der Götterdämmerung auf Siegfrieds Tod: Zitate aus Revolutionsliedern erfüllen hier gleichsam die Funktion von Opern-Leitmotiven, was zu einer (möglicherweise ungewollten) Parallelisierung des historischen Revolutionärs mit dem gegenwärtigen führte. Auf diese Weise verschafften die neuen Kultureliten der Musik Wagners umgehend einen emblematischen Status. Damit unterschied sich die ‚WagnerSituation‘ deutlich von derjenigen anderer Klassiker in Sowjetrussland, mit Ausnahme Beethovens. Wagner wurde zu einem der wichtigsten Anreger des Proletkult-Modells eines „schöpferischen Theaters“ (Platon Keržencev),46 der Idee der Chor-Bewegung (Vjačeslav Ivanov),47 der These vom Einfluss des Musikdramas auf alle Theatergattungen (Lunačarskij)48 und selbst der Losung zur Erziehung eines „ganzheitlichen“ revolutionären „Übermenschen“ (Lev Trockij).49 Zit. nach Viktor Lenzon, Muzyka sovetskich massovych revoljucionnych prazdnikov [Die Musik der sowjetischen Massen-Revolutionsfeiertage], Moskau: Muzyka, 1987, S. 27f. 45 Na smertʼ Lenina. Kantata Valerija Brjusova. Muzyka M. M. Bagrinovskogo [Zum Tod Lenins. Kantate von Valerij Brjusov, Musik von Michail Bagrinovskij], mit einführendem Aufsatz von Lev Kamenev, Moskau: Izdatel’stvo komiteta pomošči detjam pri prezidiume Mossoveta [Verlag des Komitees für Kinderhilfe beim Präsidium des Moskauer Sowjets], 1924. 46 Vgl. Platon Keržencev [d. i. Platon Lebedev], Tvorčeskij teatr. Puti socialističeskogo teatra [Schöpferisches Theater. Wege eines sozialistischen Theaters], Petrograd: Kniga [Das Buch], 1918. Siehe hierzu Lars Kleberg, „‚People’s Theater‘ and the Revolution: On the History of a Concept Before and After 1917“, in: Art, Society, Revolution. Russia 1917–1921, hrsg. von Nils Ake Nilsson (Stockholm Studies in Russian Literature 11), Stockholm: Amqvist & Wiksell International, 1979, S. 179–197. 47 Vgl. Vjačeslav Ivanov, „K voprosu ob organizacii tvorčeskich sil narodnogo kollektiva v oblasti chudožestvennogo dejstva [Zur Frage der Organisation schöpferischer Kräfte des Volkskollektivs auf dem Gebiet der künstlerischen Aktion]“, in: Vestnik teatra [Theaterbote] 1919 Heft 26 (14.–16. Mai), S. 4. – „Chor“ im Sinne Friedrich Nietzsches als ein die Individualität des Einzelnen überwindendes Einheitsgefühl, hier allerdings unter politischem Vorzeichen (Anmerkung des Übersetzers). 48 Vgl. Anatolij Lunačarskij, „O muzykal’noj drame [Über das musikalische Drama]“, in ders., V mire muzyki (wie Anm. 8), S. 45–56. 49 Vgl. Lev Trockij, Literatura i revoljucija [Literatur und Revolution], mit einführendem Aufsatz von Jurij Borev, Moskau: Politizdat, 1991 (Reprint der Ausgabe von 1923). 44

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Das sowjetische Operntheater erfüllte die Aufgabe der ideologischen Enteignung des wagnerschen Erbes auf eigene Weise, wobei ihr wichtigster Ansatzpunkt die Aktualisierung der Stoffe war. So wurden die russischen Wagner-Verehrer dieser Jahre zu Zeugen einer unvergleichlichen Politisierung seiner Meisterwerke. Elena Tret’jakova resümiert: „In den 1920er und frühen 1930er Jahren gab es mit Blick auf Wagner zwei offensichtliche Tendenzen: zum einen die Konservierung früherer Inszenierungstraditionen (was sich im Übergewicht von Wiederaufnahmen äußert), zum anderen die Modernisierung in zuweilen recht direkter und vulgärer Form.“50 So nahm 1921 Vsevolod Mejercholʼds Inszenierung von Rienzi im Moskauer Theater RSFSR-1 durch den Einbezug von Passagen aus Edward Bulwer-Lyttons Roman Rienzi, the Last of the Roman Tribunes Züge einer literarisch-musikalischen ‚Komposition‘ an.51 Die Idee der Aktualisierung des Rienzi-Stoffs wurde 1923 im Moskauer Freien Theater aufgegriffen, wo der Titelheld nicht stirbt, sondern über die entthronte Aristokratie triumphiert. 1924 hieß es, ein Schüler Mejercholʼds, der Regisseur und Librettist Nikolaj Vinogradov,52 arbeite an einer Umarbeitung des Rienzi und schlage vor, der Oper den Namen „Babeuf“ zu geben.53 Drei Inszenierungen der Meistersinger ‒ im Leningrader Staatlichen akademischen Opern- und Ballett-Theater (Gosudarstvennyj akademičeskij teatr opery i baleta, GATOB) 1926, im Moskauer Staatlichen akademischen Bol’šoj-Theater (Gosudarstvennyj akademičeskij Bol’šoj teatr, GABT) 1929 und im Kleinen akademischen Leningrader staatlichen Operntheater (MALEGOT) 1932 ‒ begaben sich gleichsam in einen Wettstreit, welche von ihnen die Vorlage am freiesten ausdeutete. Im GATOB sahen die Regisseure die Tret’jakova, „Raboče-krest’janskomu zritelju želatelen?“ (wie Anm. 40), S. 131. Regie: Valerij Bebutov, Text: Vadim Šeršenevič, Bühnenbild: Georgij Jakulov. Mejercholʼd plante, in das Spektakel mehrere pantomimische Episoden unter Mitwirkung von Offiziersschülern und Sportlern einzubeziehen. Nach zwei öffentlichen Konzept-Durchläufen (in Form eines theatralisierten Konzerts) Anfang Juli 1921 im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums (dirigiert von Aleksandr Orlov und Aleksandr Rachmanov) hatte die neue Inszenierung schon vor ihrer Premiere widersprüchliche Presse-Reaktionen erfahren. Zur szenischen Aufführung des Rienzi kam es nicht mehr wegen der Schließung des Theaters am 10. September desselben Jahres. Vgl. Gozenpud, Russkij sovetskij opernyj teatr (wie Anm. 40), S. 68. 52 O. Verf., „Moskovskij Bol’šoj teatr v novom sezone (beseda s tov. Chudašovym) [Das Moskauer Bol’šoj-Theater in der neuen Saison (Gespräch mit dem Genossen Chudašov)]“, in: Žiznʼ iskusstva [Kunstleben], 1924 Heft 37, S. 11f. – Nikolaj Glebovič Vinogradov (Vinogradov-Mamont, 1893–1967) war der Gründer und Direktor des Opern-Ballett-Studios MAMONT („Masterskaja monumental’nogo iskusstvo [Werkstätte für Monumentalkunst]“, 1923–1925), das sich auf die ‚Bolschewisierung‘ von Opernlibretti spezialisiert hatte. Des Weiteren arbeitete er als Regisseur am Leningrader GATOB. 53 François Noël Babeuf, linksradikaler Agitator der französischen Revolution (Anmerkung des Übersetzers). 50 51

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Meistersinger im Prisma zeitgenössischer Probleme der Propaganda eigeninitiativer Kunst und der Stadtentwicklung. Im GABT hatte man den Text vom akmeistischen Dichter Sergej Gorodeckij einrichten lassen, der sich Ende der 1930er Jahre mit der Umarbeitung von Michail Glinkas Ein Leben für den Zaren unter dem Titel Iwan Susanin einen Namen machte. Das Revolutionäre dieser Inszenierung sah die Kritik in den „konsequent zum Ausdruck gebrachten Massenszenen“, die aus den Meistersingern eine echte „Massenoper“ machten.54 Auch der Inszenierung des Werks am MALEGOT lag eine – von Nikolaj Vinogradov besorgte – Umarbeitung zugrunde; sie sah ihr Ziel darin, die „Klassennatur“ der Protagonisten zu vertiefen. Derlei ‚Verbesserungen‘ Wagners durch seine Interpreten an den Theatern korrespondierten der in der frühen sowjetischen Musikwissenschaft hartnäckig verbreiteten These, Wagner sei in seiner späten Schaffensphase ‚politisch degradiert‘, d. h. habe nicht mehr dem Bild des Revolutionärs entsprochen. Diese These war in praktisch allen ausführlicheren Wagner-Darstellungen des nachrevolutionären Russlands anzutreffen. Das mit der Machtergreifung Hitlers zusammenfallende Wagnerjubiläum 1933 (der 50. Todestag des Komponisten) stellte die sowjetische Musikwissenschaft vor die Aufgabe, dieses Dilemma aufzulösen. Wie das im Einzelnen gelang, kann hier nicht verfolgt werden, da es den chronologischen Rahmen des vorliegenden Aufsatzes sprengen würde. Es sei hier nur so viel gesagt, dass die Operation keinesfalls einfach war und Hand in Hand ging mit Inszenierungsversuchen einer ideologischen Enteignung. Ende der 1920er Jahre hatte sich eine unerwartet pragmatische Variante der Aneignung des wagnerschen Erbes herausgebildet. Die Idee des synthetischen Theaters hatte den Untergang des Proletkults nicht überlebt, da sie zu eng an dessen programmatische Ideologie gebunden war. Immer häufiger wurde nicht die Schaffung eines neuen synthetischen Theaters als zentrale Aufgabe gesehen, sondern die Abwandlung der bereits existierenden synthetischen Gattungen entsprechend den Anforderungen der Gegenwart. Wagner kam den neuen Ideologen der Kunst dabei als ‚theoretisches‘ Beispiel einer solchen, in einer revolutionären Epoche verwirklichten Transformation gelegen. Die Gewissheit der Ideologen, dass die Welt sich nach den Gesetzen einer ‚natürlichen Auslese‘ entwickele, zwang zur Annahme, dass das Kino als ‚wichtigste‘ Kunstform die ‚weniger wichtigen‘ Künste verdrängen würde. Von der wagnerschen Tradition erwartete man neue praktische Ergebnisse: Auf den Namen des deutschen Komponisten bezog man sich jetzt nicht mehr nur bei StreiteZitiert nach Tret’jakova, „Raboče-krest’janskomu zritelju želatelen?“ (wie Anm. 40), S. 132. 54

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reien über das Schicksal des Theaters, sondern auch bei Erörterungen der Entwicklung des Tonfilms. Der wohl erste, der die ‚wagnersche Situation‘ in der nachrevolutionären Kunst unter diesem Gesichtspunkt analysierte, war Leonid Sabaneev, als er 1922 einen grundsätzlichen, in seinen Schlussfolgerungen ungewöhnlich kühnen Aufsatz zur Situation des Theaters in der Welt und in Russland veröffentlichte. Ausgangspunkt ist die von ihm schon in verschiedenen anderen Arbeiten aufgestellte Behauptung einer internationalen Opernkrise, als deren Hauptgrund er die Theorie und Praxis des wagnerschen Musikdramas nennt. Das wagnersche Beispiel sei nicht in der Lage, das Musiktheater zu reanimieren, es könne allein Hinweise zur Errichtung einer monumentalen Kunst vorgeben. Sabaneev spricht dem Musiktheater und seinen Formen die Möglichkeit ab, sich in die monumentale Kunst der Zukunft einzubringen und damit das Gesamtkunstwerk einer neuen Gemeinschaft zu schaffen. Unerwartet schließt er mit der gewagten Prophezeiung: „das elektrische Orchester der Zukunft und die in millionenfachen Abzügen reproduzierte Filmszene – das ist die Zukunftsperspektive der Kunst. Was sich in dieser Perspektive synthetisieren lässt, sei es Ton und Bewegung, oder Ton, Wort und Geste, wird zur Synthese kommen, und es werden diejenigen erscheinen, die diese Synthese erzeugen.“55 Dieser Aufsatz erschien zu früh, um wahrgenommen zu werden. Er nimmt auf seine Art nicht nur die künftigen schöpferischen Strategien Sergej Ėjzenštejns vorweg, sondern berührt auch die von Walter Benjamin ausgearbeiteten Probleme der Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Dieser Problemkomplex fand zehn Jahre später (im Gedenkjahr 1933) in der sowjetischen Presse einen unmittelbaren Wiederhall in den Diskussionen um das wagnersche Erbe und die Idee der „Kinooper“.56 Damit begann Wagner für die sowjetische Musikwissenschaft eine ganz unerwartete Rolle als Verkünder der Filmkunst zu spielen.57 Das Dasein von Wagners Musik in der sowjetischen Kultur wurde unterdessen immer gespenstischer. Der ‚revolutionäre‘ Rienzi, in den man zu Beginn der Sowjetära so große Hoffnungen gesetzt hatte, gelangte im Kontext des vierzigsten Todestags des Komponisten 1923 insgesamt nur zwei Mal auf die Bühne Leonid Sabaneev, „Muzyka, scena i sovremennaja problema iskusstva [Die Musik, die Bühne und das zeitgenössische Kunstproblem]“, in ders., O teatre [Über das Theater], Twer: 2-ja Gostip. [Zweite Staatsdruckerei], 1922, S. 143–150, hier S. 149f. 56 Vgl. Adrian Piotrovskij, „Teatralʼnoe delo Vagnera [Das theatralische Werk Wagners]“, in: Rabočij i teatr [Arbeiter und Theater], 1933 Heft 4–5, S. 5; Lev Kulakovskij, „Opera i zvukovoe kino [Oper und Tonfilm]“, in: Sovetskaja muzyka, 1933 Heft 4, S. 13–26, insbesondere S. 13–18. 57 Unter diesem Vorzeichen versuchte Sergej Ėjzenštejn 1940, die Wagnersche Ästhetik in seiner berühmten Walküre-Inszenierung am Bol’šoj-Theater umzusetzen. 55

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(im Moskauer Zimin-Theater und im Petrograder GATOB). 58 Der Fliegende Holländer, der in der Morgenröte der Sowjetmacht noch zu einem ‚Revolutionssymbol‘ geworden war, erklang nur ein einziges Mal vor dem Zweiten Weltkrieg, und zwar 1934 in einer konzertanten Leningrader Aufführung. Das Interesse an dem anderen ‚revolutionären‘ Werk Wagners, den Meistersingern von Nürnberg, versiegte Anfang der 1930er Jahre, nachdem die Oper die oben erwähnten drei unrühmlich aktualisierenden Lesarten erfahren hatte. Die Nibelungen-Tetralogie – der letzte Prätendent auf eine Position im ‚revolutionären Repertoire‘ – hatte die bizarrste Rezeptionsgeschichte. In dem hier betrachteten Zeitraum gehörten die vier Opern zum Repertoire und wurden in unterschiedlicher Häufigkeit, in der Regel als Wiederaufnahmen, gespielt. Im Ergebnis konnte das Publikum des Bol’šoj-Theaters weder den Siegfried (der das letzte Mal am 24. Januar 1914 in Moskau gegeben worden war) noch die Götterdämmerung (letztmals in Moskau am 28. Februar 1914) sehen, sondern nur das Rheingold in einer Wiederaufnahme von 1918 (neun Vorstellungen). Um Wiederaufnahmen von Inszenierungen vor der Revolution handelte es sich auch bei den Vorstellungen der Walküre im Bol’šoj-Theater 1919 (sieben) und 1925 (sechs).59 Der Leningrader Zuschauer hatte diesbezüglich mehr Glück, konnte er doch innerhalb von fünfzehn Jahren die gesamte Ring-Tetralogie im GATOB erleben (dem ehemaligen Marien- und späteren Kirov-Theater): die Walküre 1918, Siegfried 1923, Götterdämmerung 1931 und das Rheingold 1933. Auch der sowjetische Tannhäuser stand unter einem Unstern (Aufführungen 1919 im GABT und 1923 im GATOB), seine Bühnenpräsenz riss bereits Mitte der 1920er Jahre ab (je zwei und vier Vorstellungen 1923 bzw. 1925 in Swerdlowsk). Tristan und Isolde und Parsifal, die in der Kultur des Silbernen Zeitalters auf eine so lebhafte Aufnahme gestoßen waren, wurden auf den Bühnen Sowjetrusslands kein einziges Mal gegeben – weder vor noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die größte Popularität genoss, verglichen mit den genannten Werken, der Lohengrin, mochte er auch in der Sowjetzeit des Mystizismus und Klerikalismus verdächtigt worden sein. Zwar ist auch seine Inszenierungsgeschichte alles andere als glänzend (Aufführungen 1923 im GATOB und GABT, 1926 in Charkow, 1925 und 1934 in Swerdlowsk). Im Bol’šoj-Theater war er seit 1908 bis zum Ende der Zarenzeit nicht erklungen; nach seiner RückDie Premiere des Petrograder Spektakels fand am 7. November, dem sechsten Jahrestag der Oktoberrevolution, statt. Die im konstruktivistischen Stil gehaltene Avantgarde-Inszenierung hielt nur sechs Aufführungen durch. Vgl. Bartlett, Richard Wagner and Russia (wie Anm. 39), S. 241. 59 Noch trauriger war es für die Wagnerianer in der Provinz. So wurde die Swerdlowsker Inszenierung der Walküre von 1927 insgesamt nur vier Mal gezeigt. Doch auch die vielversprechende Moskauer Walküre-Inszenierung Ėjzenštejns von 1940 erwies sich (mit sechs Vorstellungen) als ähnlich flüchtig. 58

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kehr auf die Moskauer Bühne 1923 (im Rahmen des 25-jährigen Künstlerjubiläums des großen Sängers Leonid Sobinov) blieb er jedoch bis 1936 im Repertoire des Bol’šoj-Theaters und wurde dort rund einhundert Mal gegeben, womit er alle anderen Werke Wagners um ein Vielfaches überflügelte. An Versuchen, ihn 1941 ins Repertoire zurückzubringen, waren Sergej Gorodeckij und Viktor Kolomijcev beteiligt, die eine neue, vom Bol’šoj-Theater geprüfte Übersetzung des Librettos vorgelegt hatten; jedoch konnte das Werk aus politischen Gründen nicht gespielt werden. Die beiden von der Revolution so entschieden ins Rampenlicht des russischen Kulturlebens gerückten deutschen Klassiker erlebten in der Sowjetunion Aufschwünge und Niedergänge, jedoch mit einem prinzipiellen Unterschied: Die finale Lösung der ‚Beethoven-Frage‘ (die schon damals an Schärfe und vor allem an Aktualität verloren hatte) fiel in das Jahr 1936 – das Jahr der Annahme der stalinschen Verfassung –, in dem die ‚Arbeit an Beethoven‘ faktisch zu einem Abschluss kam, die Figur des Meisters in Stein gemeißelt war und somit einen unantastbaren Status in der Sowjetkultur erlangte. Die ‚Wagner-Frage‘ wurde dagegen nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion unter negativen Vorzeichen entschieden, womit das wagnersche Erbe unwiederbringlich aus dem offiziellen ideologischen Kontext getilgt wurde. Seine weitere Beziehung zur russischen Kultur erstreckte sich nurmehr auf den ‚spirituellen Untergrund‘ der Sowjetepoche.60 Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer

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Vgl. Raku, Muzykal’naja klassika (wie Anm. 2).

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„Edelstes Kulturgut“, „unverfälschte Volkskunst“, „aufgedonnerte Einfalt“: Zur Konstruktion des ‚Russischen‘ im musikalischen Programm des Cabarets Der blaue Vogel „Kein Volksgenius lockt uns so wie der russische“,1 behauptete der Dramaturg der Hamburger Kammerspiele Arthur Sakheim anlässlich der ersten GastspielReise des „russisch-deutschen“ Theaters Der blaue Vogel im Jahr 1922 und versuchte auf diese Weise den Erfolg der Truppe russischer Exilanten zu erklären, die unter der Leitung Jascha Jushnys,2 des Intendanten und Conferenciers, seit dem 20. Dezember 1921 in Berlin Erfolge feierten. Die Herkunftsnation der Mitwirkenden wird bei Sakheim zum „mystisch fremden, hermetisch abgeschlossenen Lande“, zum „Lande der tiefsten Lebenswahrheit und der märchenbunten Phantastik, der größten Härten und der zartesten Weichheit“:3 Bilder des Russischen, die, literarisch überhöht, ein Land fern jeder Realität entwerfen, eine Gegenwelt zur eigenen, alltäglichen (‚deutschen‘) Umgebung und gleichzeitig Projektionsfläche vielfältiger Wünsche und Phantasien – Bilder des Russischen aber auch, die Intendant Jushny nur zu gern zur Eigenwerbung seines Theaters nutzte, indem er Sakheims Feuilleton als programmatischen Text im Begleitheft zum dritten Programm abdruckte. Die Konstruktion des Russischen als Gegenbild und die seines Theaters als Heterotopie, als eines ‚Russland‘ mitten im Berliner Stadtteil Schöneberg, wurde von Jushny bewusst betrieben und gehörte zum künstlerischen wie zum geschäftlichen Konzept des Theaters. Das Spiel mit den ErwarArthur Sakheim, „Der Blaue Vogel“, in: Der blaue Vogel. Das Theater-Kunstblatt Heft 3 (September 1922), S. 5–11, hier S. 5. 2 Jakov Davidovič Južnyj (1883, Odessa – 1938, Prag); Schauspieler und Conferencier, Gründer und Intendant des Blauen Vogels. Emigrierte 1920 aus Moskau; vgl. die von Wladimir Koljasin verfasste Kurzbiographie in Berlin – Moskau 1900–1950 [Ausstellungskatalog], hrsg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert, München: Prestel, 2. Auflage 1995, S. 576. Er zeichnete im Blauen Vogel gelegentlich auch für Text, Regie, Bühne oder Musik verantwortlich. Da er in der Berliner Zeit als „Jascha Jushny“ auftrat, wird im vorliegenden Text diese Namensschreibung verwendet. 3 Sakheim, „Der Blaue Vogel“ (wie Anm. 1), S. 5. 1

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tungen des Publikums sowie der gleichzeitige Aufbau bzw. die Rückbestätigung eines eigenen nationalen Selbstkonzeptes bilden die Folie, vor der sich die künstlerischen Darbietungen des Blauen Vogels – Lieder, Tänze, Szenen und Conference – entfalteten. In den folgenden Erläuterungen sollen einerseits die Selbstkonstruktionen des Theaters als ‚russisches‘ (u. a. über die Programmgestaltung, die Musik und das Theatergebäude) genauer untersucht werden, andererseits soll dargestellt werden, wie das ‚Russische‘ anhand der Aufführungen des Blauen Vogels zur Projektionsfläche des Publikums bzw. der Kritiker wurde. Dabei lässt sich auch eine Selbstpositionierung und Selbstvergewisserung der Rezipienten durch die Wahrnehmung und Beschreibung des ‚Anderen‘ im Blauen Vogel feststellen. Merkmale des ‚Othering‘, der bewussten Herstellung von Differenz, wobei die westeuropäische Kultur als das ‚Eigene‘ vorausgesetzt wird, lassen sich auf vielfältigen Ebenen nachweisen. Es handelt sich beim Blauen Vogel nicht nur um die Konstruktion eines nationalen ‚Anderen‘, das sich lediglich hinsichtlich eines ‚deutschen‘ Publikums positionieren würde, sondern ebenso um eine kulturelle Abgrenzung, die auch den Exilanten ein ‚russisches‘ Gegenüber als Projektionsfläche für ihre Phantasien von Heimat bot. ‚Othering‘, das ‚Anders-machen‘, beschreibt ein Phänomen, das zunächst anhand kolonialer Diskurse festgemacht wurde. Für den Außenstehenden, den ‚Noch-nicht-dort-Gewesenen‘, wird das fremde Land mithilfe diskursiver Formationen ‚produziert‘, deren Strukturen bestimmte Konstanten bzw. Praktiken und Regeln im Sprachgebrauch aufweisen.4 Zu diesen zählen z. B. das Leugnen individueller Züge (Dehumanifizierung und Objektifizierung)5 und daraus folgend eine konstruierte Homogenität von Gruppen, die sprachlich z. B. im Singular dargestellt wird6 („der Russe“7). Im fremden Land selbst scheint es keine Entwicklung zu geben, Lebensweisen und Gebräuche werden als konstant und unveränderlich8 beschrieben (oft kombiniert mit biologistischen Narrativen). ZuVgl. die zusammenfassenden Erläuterungen zum ‚Othering‘ auf Basis von Edward Said, Mary Louise Pratt u. a. in: Sara Mills, Der Diskurs. Begriff, Theorie, Praxis, Tübingen: Francke, 2007, S. 115–141 (Kapitel „Koloniale und Postkoloniale Diskurstheorie“). 5 So scheinen z. B. keine individualisierten Namen in den Liedtexten auf: Die Figuren werden in Programmheften und Notendrucken abstrakt als „Mädchen“, „Jäger“, „Friseur“, „Mutter“ etc. bezeichnet. Die Namen der Darstellerinnen und Darsteller werden zwar im Programmheft meist vermerkt, aber von der Kritik in der Regel nicht wahrgenommen; die Ausnahme ist Jushny. 6 Mills, Der Diskurs (wie Anm. 4), S. 119. 7 „Müde von Politik und Alltag suchte der Russe beim Besuch seines Cabarets eine vollkommene Loslösung von der Wirklichkeit des Lebens“; Friedrich Járosy, „Vom Cabaret“, in: Der blaue Vogel Heft 1 (Saison 1921/22), S. 3–12, hier S. 11. 8 Mills, Der Diskurs (wie Anm. 4), S. 119 und 121f. 4

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dem wird die fremde Kultur „als auf einer anderen Zeitschiene existierend repräsentiert“,9 häufig auch auf einer innerhalb eines teleologischen Geschichtsbildes als bereits von der eigenen Kultur als überwunden angesehenen Stufe. Ein weiteres sprachliches Mittel zur Herstellung von Distanz und zur Objektifizierung des Anderen ist der Gebrauch des „ethnografischen Präsens“.10 Auch die Wahl bestimmter (wiederkehrender) Motive und Themen für die Darstellung einer Kultur hat Auswirkungen auf deren Repräsentation beim Adressaten. Ziel ist dabei in der Regel die Abgrenzung und Spezifizierung der eigenen Kultur im Vergleich zum ‚Anderen‘, das sowohl negativ (als „unzivilisiert“) als auch positiv (als „natürlich“, „unverbildet“) besetzt sein kann.11 Immer wird es jedoch als ein Gegenüber verortet. Beim Blauen Vogel handelt es sich zumeist um eine positiv bewertete Andersartigkeit, die in Feuilletons und Kritiken aufscheint. Die in einem bestimmten Umfeld vorherrschende Repräsentation einer Kultur wirkt jedoch nicht nur auf die Adressaten, sie bildet oftmals auch den Rahmen aus, innerhalb dessen sich die Akteurinnen und Akteure selbst in einem System aus Zuschreibungen und Werten kategorisieren.12 So greift Der blaue Vogel für seine Inszenierung auch selbst auf in Deutschland bereits gängige Repräsentationen des ‚Russischen‘ zurück und leistet so einer Rezeption als von der Ausgangskultur Unterscheidbarem in vielfältiger Weise Vorschub. „Ein blauer Vogel pfeift uns fremde Weisen“ – Zur Selbstdarstellung des Cabarets Der blaue Vogel als ‚Anderes‘ „Das Nationalrussische ist doch unverwüstlich. Eine Mordskraft steckt drin. Und ist als Leben es auch getötet, als Kunst lebt es fort.“13 – Wenn Paul Barchan in seiner Rezension des Blauen Vogels im Berliner Tageblatt das „Nationalrussische“ beschwört und auf ein untergegangenes, zaristisches Russland anspielt, das er in der Truppe des Theaters verkörpert sieht, so spiegelt sich darin auch ein Ebd., S. 120. Den Begriff entwickelt Johannes Fabian in Time and the Other: How Anthropology Makes Its Object, New York: Columbia University Press, 1983, zit. nach Mills, Der Diskurs (wie Anm. 4), S. 122. 11 Vgl. ebd., S. 127. Hier können sich positive Stereotypisierungen mit kultur- und zivilisationskritischen Positionen verquicken. 12 Ebd., S. 117. Diese Frage der Angleichung von Fremd- und Selbstbildern hatte innerhalb kolonialer Herrschaftssysteme weitreichende machtpolitische Konsequenzen. 13 Paul Barchan, „Der blaue Vogel“, in: Berliner Tageblatt, zit. nach Der blaue Vogel. Das Theater-Kunstblatt Heft 2 (Februar 1922), S. 8. 9

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Selbstbild Jushnys wider, der sich im ersten Programmheft in der Art eines aus der Asche wiedergeborenen Phönix stilisiert (Abb. 1).

Abb. 1: Karikatur von Jascha Jushny mit Anspielung auf das Motiv des wiederauferstandenen Phönix und seiner typischen, mit russischem Akzent gesprochenen Abschiedsformel. 14

Seine ‚Geburt‘ im Exil und das im Namen des Cabarets anklingende Motiv des Zugvogels deuten darauf hin, dass erst in der Fremde die eigentliche Selbstwerdung des Blauen Vogels und seiner Mitwirkenden erfolgte.15 Das Russland, das angesichts der politischen Situation in der Realität verloren war, sollte als Traumwelt umso glänzender, umso bunter auf der Bühne des Theaters wiedererstehen. Das Nationale wurde dabei, wie wir sehen werden, zum einen als ein historisches, asynchrones Russland gezeichnet, das quasi in der Vergangenheit stattfindet, zum anderen als ein landschaftlich andersartiges, dabei im positiven Sinne ‚unziviliQuelle: Der blaue Vogel, Russisch-Deutsches Theater, Dezember 1921 – Dezember 1922, hrsg. vom Theater Der Blaue Vogel, Redaktion: Friedrich Járosy, Berlin: Preuss, o. J. [1923], S. 48. Exemplar: Universität Salzburg, Derra de Moroda Dance Archives, DdM 5435. 15 Als Vorgänger-Institution des Blauen Vogels kann das Moskauer Cabaret Fledermaus angesehen werden, vgl. Michaela Böhmig, Das russische Theater in Berlin 1919–1931 (= Arbeiten und Texte zur Slavistik, 49), München: Sagner, 1990, S. 101. 14

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siertes‘, das sich z. B. in den Steppen Asiens oder an der Wolga verortet. Außerdem wird es durch die Protagonisten der Nummern, die häufig als schematische Figuren bzw. Typen auftreten (z. B. als Bauern, Juden, Kosaken), auch sozial vom großstädtischen (deutschen und russischen) Publikum abgegrenzt. Insgesamt operiert Jushnys Programm mit verschiedenen Kategorien von Ferne, die Fremdheit und Exotik erzeugen und die Handlungsebene von der alltäglichen Umgebung abheben. Die Musik ist dabei Teil der Inszenierung.

Abb. 2: Ksenija Boguslavskajas Wandgemälde für das ‚Russische Zimmer‘ mit tanzendem Paar und Balalaikaspieler16

Schon die Gestaltung des Theaters präsentierte dem Gast ein künstlerisch geformtes, gerichtetes Russland-Bild. Als ikonographische Schlüsselfiguren auf einem Wandgemälde im Foyer, das die Rezeption des Besuchers lenkte, dienten ein tanzendes Bauernpaar in bunter, trachtenartiger Kleidung, kleine Häuser, die die Szene unzweifelhaft in ländlicher Umgebung ansiedelten, sowie ein Balalaikaspieler (Abb. 2) – gezeigt wurde russische ‚Volkskultur‘ mithilfe von beim PuQuelle: Der blaue Vogel, Russisch-Deutsches Theater (wie Anm. 14), S. 9. Exemplar: Universität Salzburg, Derra de Moroda Dance Archives, DdM 5435. 16

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blikum als bekannt vorauszusetzenden Emblemen wie dem stilisiert dargestellten russischen Zupfinstrument.17 Gleichzeitig stellte Ksenija Boguslavskajas Gemälde einen Vorgriff auf das zu erwartende Programm dar. Die Präsentation des Foyers mit Möbeln aus imitierter karelischer Birke und bunten Holzfigürchen 18 verstärkte den Eindruck eines „russischen Zimmers“19; durch den Verkauf als russisch bekannter Getränke („Der blaue Vogel trinkt Kusmi-Tee“20) erstreckte sich die Inszenierung bis hin zum Geschmackssinn. Neben der Gestaltung des Raumes nutzte das Produktionsteam auch das Medium des Programmhefts, ab dem zweiten Heft als „Theater-Kunstblatt“ bezeichnet, um ihr Unternehmen vom Alltag sowie von deutschen und französischen Traditionen des Cabarets abzuheben. Die Herausgeber stellten dem ersten Heft ein programmatisches Sonett des Autors und „künstlerischen Beirates“ Friedrich Járosy voran, das den Blauen Vogel in mehrfacher Hinsicht in einer anderen Welt verortet. Das Motiv der Kindheit als verkörperte Vergangenheit, die durch den Blauen Vogel wiedergewonnen wird, ist zentral (d. h., Der blaue Vogel wird auf einer anderen Zeitebene lokalisiert), daneben werden räumliche Ferne und Sinnlichkeit heraufbeschworen: Als Kinder lagen wir am Lebensstrand mit Augen, die um bunte Wunder baten; wir sahʼn im Traum, wie Märchenschiffe nahten und wilder Zauberwald entspross dem Sand. Von Not und Wahn in engen Kreis gebannt, treibt uns der Tag von Tat zu neuen Taten: wir sind nicht mehr sehnsüchtige Traumpiraten, wie in der Kindheit Abenteuerland.

Ksenija Boguslavskajas schematische Darstellung der Balalaika hat den typischen dreieckigen Korpus, allerdings mehr als die üblichen drei Saiten. 18 Böhmig, Das russische Theater in Berlin (wie Anm. 15), S. 104. 19 So benannt in der Eigenpublikation Der blaue Vogel, Russisch-Deutsches Theater (wie Anm. 14), S. 9. Durch die Ausgestaltung hätte ebensogut ein ‚finnisches Zimmer‘ charakterisiert werden können, denn die Region Karelien war nach der finnischen Unabhängigkeitserklärung 1917 bis zur Anerkennung durch Russland im Jahr 1920 umkämpft; auch heute befindet sie sich teils auf russischem und teils auf finnischem Staatsgebiet. Die karelische Kultur spielt über ihre Repräsentation in der Kalevala, dem finnischen ‚Nationalepos‘, auch bei der Herausbildung eines finnischen Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert eine große Rolle. 20 Werbeanzeige in undatierter Broschüre J. Jushnyʼs Theater Der blaue Vogel, Liedertexte, Mainz, Stiftung Deutsches Kabarettarchiv (im Folgenden: StKA), LK/C/66,2 Blauer Vogel. 17

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Da weht von Ost ein düfteschwerer Wind: ein blauer Vogel pfeift uns fremde Weisen – – und alter Zauber bricht in die Gezeiten. Wir sind wie einst ein wundergläubig Kind, der Vogel lockt uns hell zu trunknen Reisen, ein Flügelschlag – und unser sind die Weiten.21

Auffällig ist, dass mit dem Sonett eine besonders traditionsreiche und kunstvolle Gedichtform italienischen Ursprungs gewählt wurde, nicht etwa einfache, volksliedhafte Paar- oder Kreuzreim-Reihungen, die man angesichts des Gemäldes von Boguslavskaja im Foyer vielleicht hätte erwarten können. Das Cabaret wird so eher in einen literarisch-hochkulturellen Kontext eingeordnet. Über dem Gedicht ist ein Szenenfoto der Nummer „Alte Romanzen von Glinka“ abgebildet, das zwei Damen und einen Kavalier in einer ans 18. Jahrhundert erinnernden Dekoration zeigt, was den Eindruck des ‚Unzeitgemäßen‘ verstärkt. Ein im Blatt „Liedtexte aus dem ersten und zweiten Programm“ abgedruckter deutscher Text zu der Nummer („Verlock mich nicht vergeblich“)22 lässt vermuten, dass es sich bei dem aufgeführten Stück um die Elegie „Ne iskušaj menja bez nuždy“ aus dem Jahr 1825 handelt, und zwar (aufgrund der drei im Szenenbild beteiligten Personen) in der Version für zwei Stimmen und Piano. Das Tasteninstrument auf der Bühne erinnert optisch stark an ein Spinett, wodurch die szenische Interpretation des Liedes in einer früheren Zeit als derjenigen seiner Entstehung angesetzt wird und so den inhaltlichen Aspekt des Titels „Alte Romanzen“ verstärkt – ob das Lied, von Michail Glinka mit Klavierbegleitung vorgesehen, tatsächlich von der Bühne aus auf diesem Instrument begleitet wurde, ist nicht rekonstruierbar, hätte aber sicherlich einen ungewöhnlichen, wiederum ‚unzeitgemäßen‘ Klang zur Folge gehabt. Auch wenn „Verlock mich nicht vergeblich“ wohl nicht das Programm des Blauen Vogels eröffnete (die Reihenfolge der Nummern variierte und wurde jeden Abend von Jushny neu angesagt), ist es doch bezeichnend, dass es für die Selbstdarstellung auf der ersten Seite des ersten Programmheftes genutzt wurde. Durch die Nennung des Namens Glinka an zentraler Position wurde das Cabaret im Kontext einer an nationalen bzw. volkstümlichen Motiven orientierten Hochkultur verankert – der Komponist galt auch im deutschsprachigen Raum als „Vater F[riedrich] J[árosy], „Sonett“, in: Der blaue Vogel Heft 1 (Saison 1921/22), S. 1. Wiederabgedruckt in: Der blaue Vogel. Das Theater-Kunstblatt Heft 2 (Februar 1922), S. 3; Exemplar: Mainz, StKA, LK/C/66,2. 22 Russisch-deutsches Theater Der blaue Vogel, Liedertexte aus dem ersten und zweiten Programm, O. O. u. J., S. 2; Exemplar: Mainz, StKA, LK/C/66,2. 21

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der russischen Musik“,23 und seine Nationalopern Ein Leben für den Zaren und Ruslan und Ludmilla, die volksliedhafte Melodik miteinbeziehen, waren zumindest dem Namen nach bekannt. Die „Alte Romanze“ wurde, wie der größte Teil des Programms (bis auf Jushnys überleitende Conferencen), auf Russisch vorgetragen, was dazu beitrug, dass der Eindruck eines fremden Ortes, der sich doch mitten in Berlin befand, entstand. Musikalisch scheint Glinkas Lied in seiner Melancholie nicht nur den „düfteschweren Wind“ und die „fremden Weisen“ Járosys akustisch heraufzubeschwören, es thematisiert im Symbol der verflossenen Liebe auch eine positiv konnotierte Vergangenheit („längst vergessne Zärtlichkeit“), auf die Enttäuschung („Wer arg enttäuscht, der kennt nicht mehr / Das Glück vergangener Tage“) und unwiederbringlicher Verlust folgt („Liebe weckst Du niemals wieder“). Im Gegensatz zu dem in Járosys Gedicht formulierten Glauben an die Wiedererweckung des „alten Zaubers“ im Theater steht im von Glinka vertonten Text von Evgenij Baratynskij die Resignation im Vordergrund („Laß mir den Trost des süßen Schlafes“24). Járosys Sonett und Glinkas „Alte Romanze“ verhandeln so – auf derselben Programmheftseite – widersprüchliche Gefühle angesichts von Verlust (der Liebe bzw. der Kindheit) und geben dadurch ein zentrales Motiv für die Positionierung als Exilanten-Theater, aber auch für die Wahrnehmung des Russischen als melancholisch und rückwärtsgewandt vor. Der ersten Seite folgte der programmatische Text „Vom Cabaret“, wiederum von Járosy, in dem ‚typische‘ Charakteristika des französischen und deutschen Cabarets skizziert werden und das russische vor allem vom französischen abgesetzt wird. Aus der Rückerinnerung an die Anfänge des Cabarets in Deutschland, nämlich an die Münchner Elf Scharfrichter und Ernst von Wolzogens Überbrettl, werden Bedürfnisse des deutschen Publikums konstruiert, die „das russische Cabaret“ (in Gestalt des Blauen Vogels) mit seinen Wesenszügen am besten erfüllen könne: Das deutsche Publikum verlangt die Bühnenillusion auch vom Cabaret. Solchem Verlangen kommt die Art des russischen Cabarets am nächsten. […] Das Streben nach Vgl. z. B. als zeitgenössische Quelle Leonid Ssabanejew [Sabaneev], Geschichte der russischen Musik, für deutsche Leser bearbeitet von Oskar von Riesemann, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1925, S. 74, sowie gegen Ende des 20. Jahrhunderts: Marc Mühlbach, Russische Musikgeschichte im Überblick. Ein Handbuch, Berlin: Kuhn, 1994, S. 55f. Zur genaueren kontextualisierten Einordnung Michail Glinkas vgl. Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 1: Das 19. Jahrhundert, Laaber: Laaber, 1994, S. 67f. und S. 74ff. 24 Russisch-deutsches Theater Der blaue Vogel, Liedertexte (wie Anm. 22), dort auch die vorangegangenen Textzitate. 23

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Schönheit, Heiterkeit und künstlerischer Vollendung. […] Müde von Politik und Alltag suchte der Russe [!] beim Besuch seines Cabarets eine vollkommene Loslösung von der Wirklichkeit des Lebens, suchte ein heiteres Sichvergessen in Musik, Farbe und Spiel.25

Das nationale Publikum wird hier als homogene Masse dargestellt, divergente Strukturen innerhalb nationaler Kulturlandschaften bzw. die Existenz unterschiedlicher Publika (deren Reaktionen sich zeit- und ortsabhängig unterscheiden können) werden negiert. Das französische Cabaret, dessen künstlerisches Profil als „aktivistisch und aktuell“ aus Wesenszügen des Publikums hergeleitet wird („Der Pariser ist ein Mensch des öffentlichen Lebens“26), steht dabei im Gegensatz zum russischen und dem „guten“, nämlich dem vergangenen, deutschen Cabaret. Wenn Hans Birk in seinem bekannten Text „Des blauen Vogels erster Flug“, der das erste Programm der Russen bespricht (und im zweiten Programmheft abgedruckt wurde), theoretische Überlegungen zu einer Neuschaffung des deutschen Cabarets anstellt und das französische als „uns wesensfremd“27 bezeichnet, so knüpft er an die Überlegungen Járosys an: man erkannte in ihnen wieder edelstes Kulturgut. […] Und man sah plötzlich, daß es ein deutsches Kabarett erst zu schaffen gilt. […] Ein deutsches Kabarett schaffen hieße, mit derselben Unbeirrbarkeit, mit demselben nationalen Instinkt, mit demselben künstlerischen Ernst, wie die Russen, eine Kleinkunststätte ins Leben rufen, die eine Ausstrahlung unsrer Art wäre.28

Bei der nationalen Einheitlichkeit handelt es sich um eine bewusste Konstruktion, die dem tatsächlich gespielten Programm nur bedingt entspricht.29 Als wichtiges Merkmal des russischen Cabarets wird von Járosy „ein inniges Zusammenarbeiten von Maler, Musiker, Schauspieler, Regisseure [sic] und dem Genius Járosy, „Vom Cabaret“ (wie Anm. 7), S. 10f. Ebd., S. 4. 27 Hans Birk, „Des blauen Vogels erster Flug“, in: Der blaue Vogel. Das Theater-Kunstblatt Heft 2 (Februar 1922), S. 4–7, hier S. 6. 28 Ebd. 29 So wurden im Blauen Vogel z. B. auch Nummern französischen Ursprungs gespielt, wie Chansons von Pierre-Jean de Béranger (im vierten Programm, 1924), oder auf zeitgenössische Phänomene bezogene, aktuelle Stücke. In dem auf Amerikanisierung zielenden Sketch „Time is Money“ etwa (im zweiten Programm, 1922; Text, Musik, Ausstattung bislang unbekannt) tritt u. a. der Großindustrielle „Mr. Ford“ auf („Maccaroni-Großexport“), vgl. Kurt Tucholsky, „Der blaue Vogel“, in: Die Weltbühne 18. Jg. Nr. 12 (23. 3. 1922), S. 305f., hier S. 306. Dies unterstreicht die Konstruktivität des von Járosy dargestellten ‚Ideal-Bildes‘ eines national einheitlichen Cabarets. Zudem orientierten sich z. B. die ersten deutschen Cabaret-Gründungen am Vorbild der Pariser Cabarets, so dass auch hier transnationale Aspekte innerhalb des Genres deutlich werden. 25 26

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des guten Geschmacks“30 herausgestellt – eine Art gleichberechtigte Existenz der Künste also, wobei allerdings der Textautor in der Aufzählung fehlt. Kritiker wie z. B. Max Herrmann-Neiße bemängelten immer wieder die geringe Bedeutung des Wortes im Blauen Vogel und setzen es auf diese Weise (bei Herrmann-Neiße durchaus abwertend) gegenüber dem literarischen Cabaret Berlins ab.31 Zur Rolle der Musik beim Entwurf des ‚Russischen‘ im Programm des Blauen Vogels Legt man das von Járosy skizzierte Bild eines nationalen russischen Cabarets als Idealvorstellung zugrunde, so müsste der Musik eine gleichberechtigte Rolle innerhalb des künstlerischen Gesamtkonzeptes des Blauen Vogels zugekommen sein. Dafür spricht auch die relative Konstanz der mit der musikalischen Gestaltung betrauten Personen, von denen neben dem musikalischen Leiter32 in den Programmen der Pianist33 und ab 1924 auch die Konzertmeisterin34 namentlich aufgeführt sind. Quellen legen nahe, dass das Orchester des Blauen Vogels Schlagzeug, Geigen und Flöte enthielt,35 Grammophonplattenaufnahmen deuten außerdem auf ein Akkordeon-Instrument (in „Der Leierkasten“36), Trompete („Kosaken“ und „Kaukasische Obstverkäufer“37) und Violoncello („Wolgaschlepper“, „Und das Leben siegt“38) hin – eine Übereinstimmung dieser BeJárosy, „Vom Cabaret“ (wie Anm. 7), S. 12. „[…] wie überhaupt ihre Cabarettkunst das Sprachliche hinter dem im Bildhaften angestrebten Gesamteindruck zurücktreten läßt“, N. [Max Herrmann-Neiße], „Blauer Vogel“, in: Der Kritiker, 5. Jg. Nr. 4 (April 1923), S. 12. 32 Nachweisbar sind, laut Programm- und Liedertextheften (StKA Mainz LK/C/66,2 Blauer Vogel) sowie diversen Zeitungskritiken (Zeitungsausschnittsammlung ebd.) und Böhmig, Das russische Theater in Berlin (wie Anm. 15), in dieser Funktion Vladimir E. Bjucov (W. Bützow, musikalischer Leiter und Komponist, 1921–22), Michail Popello-Davydov (Dawidow, musikalischer Leiter 1922–1924), Z. Kogan (ohne Datierung) und Nikolaj Gogockij (Gogotzky, laut Böhmig ab 1924 musikalischer Leiter, vorher Pianist). 33 Nikolaj Gogockij (Gogotzky), am Klavier ab 1922; B. Kogan, am Klavier ab 1924. 34 Polina Šuster (Schuster), ab 1924 Konzertmeisterin. 35 Richard Elchinger, „‚Blaue Vogel‘-Perspektiven“, in: Jushnyʼs Theater Der blaue Vogel, VI. Programmheft, Berlin: Russische Bühnenkunst GmbH, 1926, S. [3–13], hier S. [5]; Exemplar: StKA Mainz LK/C/66,2 Blauer Vogel. 36 Der Blaue Vogel, Leitung: I. Jushny, Der Leierkasten / Die Kosaken, Parlophon (LC 0020) P 9297/2-20780, 2-20781. Da das Akkordeon mit zur Bühnenpräsentation gehörte, ist es wahrscheinlich, dass es nur in diesem Lied besetzt war. 37 Der Blaue Vogel, Leitung: I. Jushny, Kaukasische Obstverkäufer / Wolgaschiffer – Burlaki, Parlophon (LC 0020) P 9298, 2-20782, 2-20783. 38 Der Blaue Vogel, Leitung: I. Jushny, Und das Leben siegt / Die Zwerge, Parlophon (LC 0020) P 9299/W2-20784, W2-20785. 30 31

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setzung mit dem Theater-Orchester muss hier aber nicht zwangsläufig gegeben sein, auch wenn es Indizien dafür gibt.39 Das Instrumentarium erscheint nicht unbedingt außergewöhnlich und auch nicht spezifisch ‚russisch‘: Der Auftritt eines Balalaika-Orchesters beispielsweise, das als ‚typisch russisch‘ gelten könnte, ist im Blauen Vogel – im Gegensatz z. B. zum deutschsprachigen Cabaret Schall und Rauch40 – nicht nachgewiesen. Auch wenn in Kritiken und vor allem in der späteren Wahrnehmung immer wieder die herausragende Rolle der Maler im Blauen Vogel betont wird, ist die Musik für den Aufbau eines stimmigen Bildes innerhalb des Programms und für die Konstruktion einer ‚russischen‘ Atmosphäre am Abend insgesamt bedeutend, denn sie ist nicht nur Bestandteil der Nummern, wie beispielsweise in den bereits erwähnten „Alten Romanzen“ von Glinka, sondern übernimmt als „Zwischenaktsmusik“41 auch eine zusätzliche Funktion. Drei der überlieferten Liedertexthefte verzeichnen die zwischen den Nummern gespielten Kompositionen: Es handelt sich bis auf wenige Ausnahmen (Leo Delibes, Riccardo Drigo, Johann Strauss Sohn, Nikolaj Gogockij) um Werke russischer Komponisten des 19. Jahrhunderts, davon allein fünf von Glinka und vier von Petr Čajkovskij.42 Mit Nikolaj Rimskij-Korsakovs Scheherazade und Mi39 Dass sich die jeweils in der Besetzung entsprechenden Stücke nicht auf einer Platte, sondern auf verschiedenen befinden, könnte ein Indiz dafür sein, dass die Musikerinnen und Musiker tatsächlich der Orchesterbesetzung des Abendprogramms entsprachen. Da die Aufnahmen allerdings alle am selben Tag hintereinander aufgenommen wurden (vgl. Matritzennummern), kann es sich auch um eine Art ‚Studio-Besetzung‘ handeln. 40 Im September 1920, vgl. Alan Hartland Lareau, An Unhappy Love: The Struggle for a Literary Cabaret in Berlin, 1919–1935, Ann Arbor: UMI, 1990, S. 447. 41 Der Blaue Vogel, Zweites Programm, April 1922, S. [3] (StKA LK/C/66,2 Blauer Vogel). 42 Alle Namen und Titel werden im Folgenden in der Schreibweise der jeweiligen Originale wiedergegeben, Ergänzungen in eckige Klammern gesetzt. Der Blaue Vogel, Zweites Programm, April 1922 (wie Anm. 41): „Zwischenaktmusik“: Delibes, Phantasie aus dem Ballet „Coppelia“; Glinka, Phantasie über zwei russische Lieder; Glinka, Polonaise aus der Oper „Das Leben für den Zaren“ und Krakowiak aus derselben Oper; Glinka, Walzer; Drigo, Walzer aus dem Ballet „Der Talisman“; Glinka, Ouvertüre zu „Ruslan und Ludmilla“; Potpourri aus dem „Zigeunerbaron“ [von Johann Strauß (Sohn)]. Als musikalischer Leiter wird M[ichail] Popello-Dawidow benannt, am Klavier: N[ikolaj] Gogotzky. Der Blaue Vogel, Liedertexte [1], undatiert, S. [4] (StKA LK/C/66,2), „Zwischenmusik“: Trepak: Tschaikowsky; Russische Volkslieder; Ukrainische Volkslieder; Slawischer Marsch: Gogotsky [sic]; Boris Godounoff, Moussorgsky; Eugen Onegin, Tschaikowsky. Musikalischer Leiter ist nun N[ikolaj] Gogotzky, als Konzertmeisterin ist P[olina] Schuster angegeben. Der Blaue Vogel, Liedertexte [2], undatiert, S. [4] (StKA LK/C/66,2): „Zwischenmusik“: Glasounoff: Carneval; Tschaikowsky: Don-Jouan [sic]; Moussorgski: Gopak; Tschaikowsky: Russischer Tanz; Moussorgski: Boris Godounoff; Ippolitow-Iwanoff: Kaukasische Suite; Tschaikowsky: Trepak; Moskau (Ein russisches Lied); Tschaikowsky: Eugen Onegin;

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chail Ippolitov-Ivanovs Kaukasischer Suite43 wird Programmmusik mit ‚russischen‘ Themen gewählt, wobei beide Kompositionen melodisch mit orientalisch anmutenden Skalen experimentieren und als Orchesterwerke groß besetzt sind. Über die Bearbeitung der Stücke ist nichts vermerkt, es ist aber wohl davon auszugehen, dass der jeweils in den Programmen angegebene musikalische Leiter selbst die Stücke für die Orchesterbesetzung des Blauen Vogels arrangiert hat.44 Auch über die Fassungen der russischen und ukrainischen Volkslieder, die als Zwischenaktmusik fungierten, bzw. über deren Auswahl wissen wir nichts. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Zwischenaktmusiken einen deutlichen Schwerpunkt in der russischen Musik des 19. Jahrhunderts setzen, in der laut Richard Taruskin „the myth of Otherness“45 von der „Gruppe der Fünf“ und unter Federführung des Kritikers Vladimir Stasov kreiert wurde – ein „mythos of authenticity“46, der damals zwar Čajkovskij noch ausschloss, sich aber bis heute als eine undefinierte „Russianness“ von Komponisten wie Glinka oder Čajkovskij durch Konzert-, Opernführer und Feuilletons zieht. Taruskin beschreibt das Verfahren des ‚Othering‘ in der Musikpublizistik: Essential Russianness, ostensively meant (however obtusely) as a criterion of positive valuation, functions nevertheless as a fence around the ‚mainstream‘, defining, lumping, and implicitly excluding the other. One rarely finds Verdi praised for his Italianness anymore, and one never finds Wagner praised for his Germanness, heaven forbid, although Verdi and Wagner were as conscious of their nationality, and as affected by it creatively, as any Balakirev. In the conventional historiography of ‚Western music‘ Verdi and Wagner are heroic individuals. Russians are a group.47

Rimsky-Korsakoff: Scheherazade. Wiederum ist N[ikolaj] Gogotzky musikalischer Leiter und P[olina] Schuster Konzertmeisterin. 43 Gemeint sind sicherlich die Kaukasischen Skizzen. Der Kaukasus war seit der russischen Expansion gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein umkämpftes Gebiet, in dem es auch immer wieder zu Aufständen kam. Die Integration des Kaukasus in eine ‚russische Nationalmusik‘ bzw. der kaukasischen Themen in das ‚russische‘ Programm des Blauen Vogels („Kaukasische Obstverkäufer“, „Träumerei des Kinto“, „In den Bergen des Kaukasus“) kann somit auch als politisches Statement verstanden werden. Bei Milij Balakirev wird der Kaukasus zum Symbol des Widerstandes gegen politische Willkürherrschaft, vgl. Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 23), Bd. 1, S. 181. 44 Angesichts der Bedeutung des Klanglichen in der Instrumentation beider Werke stellt sich die Frage der Umsetzung und der Wirkung im kleinen Orchester. Leider kann hierzu mangels Quellen keine Aussage getroffen werden. 45 Richard Taruskin, Defining Russia Musically. Historical and Hermeneutical Essays, Princeton: Princeton University Press, 1997, S. XIV. 46 Ebd., S. XIII. 47 Ebd., S. XVI.

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Es stellt sich die Frage, ob bzw. inwieweit eine solche, auch in den 1920er Jahren bestimmten Komponisten zugeschriebene „Russianness“ nicht nur die Zwischenmusiken, sondern auch das Bühnenprogramm des Blauen Vogels dominierte. Legt man die Aufstellung der Repertoirelisten aus zwei Programmheften zugrunde, die einen Zeitraum bis 1928 abdecken,48 so kann man davon ausgehen, dass mindestens zwei Drittel des Bühnenprogramms des Blauen Vogels Musik beinhaltete.49 Allerdings ist nur ein Teil der Kompositionen namentlich mit einem Verfasser gekennzeichnet. Meist handelt es sich dabei um die musikalischen Leiter des Cabarets, Vladimir Bjucov oder Nikolaj Gogockij.50 Als nicht-russische Autoren treten mit Einzelnummern Wolfgang Amadeus Mozart (in der Szene „Königliche Jagd“), Dr. Willy Kaufmann („Eine Kompanie Soldaten“), Franz Schubert („Schubert und das alte Wien“) sowie Pierre-Jean de Béranger („Béranger-Lieder“) auf.51 Insgesamt dominieren Originalkompositionen von russischen Mitarbeitern des Cabarets, also von Zeitgenossen. Schlüsselfiguren mit dem oben beschriebenen Ruf einer „Russianness“ wie Čajkovskij, Glinka oder Modest Musorgskij sind nur mit jeweils einem Werk vertreten; Rimskij-Korsakov, Aleksandr Borodin oder Milij Balakirev fehlen in den Listen ganz.52 Allerdings nimmt die Kategorie ‚Volkslied‘ bzw. ‚Volksmusik‘ einen recht großen Anteil des musikalischen Programms ein, wobei Adjektive wie ‚russisch‘, ‚kirgisisch‘, ‚kaukasisch‘ Undatiertes Programmheft [vermutlich 1928] (Berlin, Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Kabarett-Sammlung, 64; alte Archiv-Signatur Sb 7914) sowie: Jushnyʼs Theater Der blaue Vogel, VI. Programmheft [1926] (wie Anm. 35). 49 Da nicht alle Nummern in diesen Listen verzeichnet sind und außerdem bei einigen bekannt ist (z. B. durch Kritiken oder da es sich bei den Nummern um Tänze handelte), dass sie Musik beinhaltet haben müssen, ist der Anteil der Musiknummern vermutlich eher höher anzusetzen. 50 Auch hier folgt die Schreibung der Namen und Titel den Quellen. Bützow: „Feierliche Kantate“, „Delfter Porzellan“, „Wie frisch und duftig waren doch die Rosen“, „Sofa-Klatsch“, „Chinesische Ballade“, „Die Dame, der Kutscher und Amor“. Gogotzky: „Passage“, „Die Zwerge“, „Ostern in Rußland“, „St. Petersburg 1825“, „Aufruhr an der Wolga“, „Spielschächtelchen“ (gemeinsam mit K. Schein), „Kaukasische Obstverkäufer“. Nimmt man die späteren erhaltenen Programme noch hinzu, verfasste er außerdem noch die Musik zu „Der Prolog“, „Die Märzkater“, „Jushnyʼs Kosakenchor“, „Black & White“, „Afghanistan – Amerika“, „Sucharewka (Marktplatz in Moskau)“ und „Bergidylle“. 51 Außerdem finden sich die Namen: Wladimiroff (vermutlich Mitglied des Ensembles; „Die Werbung“, „Die traurige Prinzessin“, „Am Klostertor“, „Die zwei Feinde“), Jushny („In den Bergen des Kaukasus“, „Große spanische Oper“, „Othello“), A. Eluchien („Chinesischer Paravent“, „Wanderzirkus“), Tschaikowsky („Pique Dame“, „Leierkasten“), Dargemischski [sic, vermutlich gemeint: Dargomyžskij] („Wanka Tanka“), E. Emeljanoff (Mitglied des Ensembles; „Die Blinden“), Glinka („Alte Romanzen“), Moussorgsky („Bilder einer Ausstellung“), Rachmaninoff („Lied“), Tschalnin („American Bar“). 52 Von Borodin wurde allerdings später, 1929, Musik für eine Nummer („Serenade der vier Kavaliere“) verwendet. Die Datierung folgt der Zuordnung in der StKA Mainz zum 10. Programm (StKA LK/C/66,2 Blauer Vogel). 48

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oder ‚Kosaken-‘ auf eine russisch attribuierte Herkunft verweisen. Es treten aber auch als ‚holländisch‘, ‚deutsch‘ und ‚französisch‘ deklarierte Stücke auf. Zu untersuchen bleibt, inwieweit die für den Blauen Vogel geschaffenen Originalkompositionen durch die Verwendung bestimmter Stilmittel und kompositorischer Klischees eine ‚Russianness‘ des 19. Jahrhunderts inszenieren, oder ob sie in ihrer Tonsprache ganz eigenständig oder zumindest weitaus flexibler in der Orientierung an Vorbildern sind – Werke russischer Komponisten müssen ja nicht zwangsläufig auch ‚russisch‘ klingen. Als Grundlage für die Untersuchung stehen neben den bereits erwähnten drei Schellackplatten dreizehn Notenausgaben zur Verfügung, die sich in Archiven und Bibliotheken erhalten haben.53 Außerdem finden sich die Melodien von drei Liedern in den Programmheften.54 Dass die Notenausgaben als Quelle mit eigenem medialen Wert betrachtet werden müssen und nicht identisch mit dem Bühnengeschehen sind, zeigen die Stücke, die sich als Notentext und als Tonaufnahme erhalten haben. Hier sind die Unterschiede zwischen Schriftlichem und Gehörtem beträchtlich, und auch die Schallplatte inszeniert ein Stück anders als die Theaterbühne, nicht nur weil die visuelle Ebene fehlt bzw. auf das Titelblatt reduziert ist. Auch andere mediale Besonderheiten (z. B. Aufzeichnungslänge der Plattenseite, fehlende Möglichkeit zu schneiden, akustische Herausforderungen bei der Tonaufzeichnung bestimmter Instrumente und Stimmlagen usw.) sind zu berücksichtigen.55 So war das Notenmaterial z. B. nur bedingt geeignet, eine Sze(1) Peasant Songs, (2) The Song of the little [sic] Hunter, (3) The Cossacs, (4) Caucasian Songs [=„Träumerei des Kinto“], alle Copyright by J. Jushny’s „Blue Bird“ Theatre 1924, Stich und Druck Dr. Rokotnitz, Berlin. – (5) Der Leierkasten (Hrsg.: J. Jushny’s Theater „Der Blaue Vogel“, Berlin-Schöneberg, o. V., o. J.). (6) American Bar (1922), (7) Mondscheinpolka (1922), (8) Die Wolgaschlepper (1923), (9) Die ewige Frage (1925), (10) Die Zwerge (1925), (11) Der König rief seinen Tambour (o. J.), (12) Abendglocken (o. J.), (13) Träumerei (o. J.), alle hrsg. vom Theater „Der Blaue Vogel“ Berlin-Schöneberg, die meisten mit Verlagsangabe Preußʼ Institut Graphik, Berlin W 62, Kurfürstenstraße 104 (Exemplare in der Deering Library, Northwestern University, Evanston, Illinois). Aus Werbeanzeigen in Programm- und Liedertextheften wissen wir von mindestens vier weiteren Notendrucken („Die Blinden“, „Time is Money“, „Die Passage“, „Aufruhr an der Wolga“), die jedoch bisher nicht aufgefunden wurden (vgl. StKA LK/C/66,2 Blauer Vogel). 54 „Boublitshki“ / „Schaubudenlied“ „Spielschächtelchen“ sowie „Leierkasten“ (Jushny’s Kabarett-Theater Der Blaue Vogel, undat. Programmheft, S. [7] und Jushny’s Kabarett-Theater Der Blaue Vogel, Neues Programm, undat. Programmheft, S. [5], StKA LK/C/66,2 Blauer Vogel). 55 Vgl. zur Wechselwirkung der verschiedenen Medien im Bereich des populären Musiktheaters Carolin Stahrenberg und Nils Grosch, „The Transculturality of Stage, Song and Other Media: Intermediality in Popular Musical Theatre“, in: Tobias Becker, Len Platt und David Linton (Hrsg.), Popular Musical Theatre in London and Berlin 1890–1939, Cambridge: Cambridge University Press, 2014, S. 187–200. 53

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ne zu Hause tatsächlich zu reproduzieren, und wohl auch nicht in diesem Sinne gedacht: Der Text ist zumeist lediglich als deutsche Übersetzung vorhanden, obwohl die meisten Stücke auf Russisch gesungen wurden, und er ist nicht in den Notentext eingedruckt, was das Singen erschwert. Angaben zu einer eventuellen Orchesterbesetzung fehlen bis auf wenige Ausnahmen. Bei allen Notenausgaben handelt es sich um Klavier-Arrangements, die fast alle auch ohne Gesang sinnvoll auszuführen sind. Der Schwierigkeitsgrad variiert zwischen eher leicht und anspruchsvoll. Auffällig sind die Titelblätter, die aufwändig mit Bühnenbildentwürfen oder Szenenfotos der jeweiligen Nummer gestaltet sind. All dies macht die Noten eher zu einem Erinnerungsstück als zu einer tatsächlichen Vorlage zum Musizieren, das (wenn überhaupt) vermutlich allein am Klavier stattfand. Die geringen Gebrauchsspuren der Noten aus den Archiven weisen darauf hin, dass es sich zumindest bei diesen Exemplaren beim früheren Besitzer bzw. der Besitzerin um einen Sammler, nicht um einen ‚Benutzer‘ gehandelt hat.56 In diesem Sinne inszenieren die Notenausgaben und Schallplatten das ‚Russische‘ des Cabarets auf eine eigene Weise. Drei Kompositionen seien im Folgenden beispielhaft herausgegriffen, um die Bandbreite der musikalischen Sprache im Blauen Vogel und die Darstellung des ‚Russischen‘ zu verdeutlichen. In der Szene „Träumerei des Kinto“ mit dem „Kaukasischen Lied“ (ohne Autor),57 einem laut einer Kritik „ulkig-blöde[n] Lied des kaukasischen Kinto auf seinem melonenbeladenen Esel, der den Traum von der Kamelkarawane singt“,58 wird musikalisch das Klischee Ostasiens heraufbeschworen. Das Zählen der Kamele im Traum, die erst herbeikommen, dann vorüberziehen, schließlich umfallen, wobei sich eines das Bein bricht („A third one falls and breaks his leg – how dreadfully sad!“59), ist ein Spiel mit dem Nonsens, das gleichzeitig strikt künstlerisch durchgeformt ist. Das Heraufbeschwören der Leere endloser Landschaften und die Bewusstseinsverwirrung an der Grenze von Schlaf und Wachen werden musikalisch in der Wiederholung gleicher Figuren Leider war über die Herkunft des Bestandes in der Deering Library nichts bekannt, so dass wir über den ehemaligen Besitzer oder die Besitzerin nichts wissen. 57 J. Jushnyʼs „Blue Bird“ Theatre (Hrsg.), Caucasian Songs, Berlin: Stich u. Druck Dr. Rokotnitz, 1924 (wie Anm. 53). Die Notenausgabe nennt keine Autoren. Programme verzeichnen ein „Kaukasisches Lied“ als Musik zur Szene „Träumerei des Kinto“, ebenfalls ohne Nennung von Autoren. Ein bestehendes Volkslied als Grundlage der Vertonung konnte bisher nicht ermittelt werden. 58 Rumpelstilzchen [i. e. Adolf Stein], „Im blauen Vogel“, 9. 11. 1922 (Zeitungsausschnitt ohne genauere Herkunftsangabe in StKA Mainz, LK/C/66,2 Blauer Vogel). 59 Die Notenausgabe überliefert das Lied in einer englischen Version, die vermutlich mit dem Gastspiel des Blauen Vogels in den USA zusammenhängt; gesungen wurde es im Programm in Berlin jedoch (Kritiken belegen dies) auf Russisch. 56

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und durch beständige Rückungen umgesetzt. Es entsteht „ein magischer Stumpfsinn, in welchem sich in wunderbarer Weise Sinn und Unsinn mischen. Es entsteht ein Unsinn höherer Art, der vielleicht doch der letzte Sinn unseres Daseins ist, das ja verdammt einem Da-Da-Sein ähnelt“, schreibt Robert Musil über die „Russische Kleinkunst“: „und du bist so glücklich traurig als ob du im Wasser säßest und Figuren daraus formen wolltest.“60 Pentatonische Skalen mit übermäßiger Sekunde (‚Zigeunermoll‘), der Wechsel zwischen ternärer und binärer Rhythmik sowie die melismatische Struktur erzeugen eine orientalisch anmutende Klanglichkeit61, die sich in die Tradition von Programmmusik wie IppolitovIvanovs Kaukasische Skizzen stellen lässt (auch wenn diese natürlich orchestral ausgearbeitet sind). Das „Orientalische“ bzw. „‚östliche‘ Kolorit“62 als Kennung des Russischen lässt sich wiederum bis auf Glinkas Oper Ruslan und Ludmilla zurückführen. Wir bewegen uns mit diesem Lied also ganz in der Tradition einer seit dem 19. Jahrhundert als ‚russisch‘ kodifizierten Tonsprache. Auf dem Tanzlied „Barynja“, das zu den Častuški, kleinen gereimten satirischen Liedern, zu zählen ist, basiert dagegen das Arrangement zur Nummer „Die Zwerge“63 von Gogockij, das man somit in die Volkslied-Arrangements des Blauen Vogels einreihen kann. Während das Notenblatt lediglich den Refrain in einem recht einfachen, mit Dissonanzen gespickten Klaviersatz sowie die deutsche Übersetzung des Textes wiedergibt, enthüllt die Grammophonplatte eine deutlich komplexere Aufführungspraxis mit Instrumentalvorspiel, einem im Notentext nicht verzeichneten A-Teil und dem Wechsel zwischen Vorsänger und Ensemble (Männerchor), bis es schließlich zu dem auch in den Noten wiedergegebenen Abschnitt kommt. Dieser wird unter mehrfacher Wiederholung mit einem Accelerando gesteigert und dynamisch variiert – eine Aufführungspraxis, die, ebenso wie der Wechsel von Solo und Chor, wohl als emblematisch ‚russisch‘ gelten soll. Die äußerst lebhafte Art der Aufführung wird u. a. durch den Wechsel von Singen und Zwischenrufen erreicht, was verdeutlicht, dass es sich in dieser Fassung der „Barynja“ („Gutsherrin“) keinesfalls um einen auf der Bühne darge60 Robert Musil, „Russische Kleinkunst“, in: Prager Presse, 23. 3. 1923 (Zeitungsausschnitt ohne Seitenangabe in StKA Mainz, LK/C/66,2 Blauer Vogel). 61 Von den bei Redepenning genannten Kennzeichen kaukasischer Melodik – „kleine Intervalle, abwärtsgerichtete Melodiebildung, Appoggiaturen auf betonter Zählzeit, Gesamtumfang einer kleinen Septime“, vgl. Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 23), Bd. 1, S. 89 – finden sich die ersten drei in der „Träumerei des Kinto“. 62 Ebd., S. 181. Vgl. zur Integration kaukasischer Folklore in der Lezginka in Ruslan und Ludmilla auch ebd., S. 91f.; zu „Orientalismen“ generell S. 289–302. 63 N[ikolaj] Gogotzky (Bearbeitung), Die Zwerge, hrsg. von J. Jushnyʼs Russisch-Deutschem Theater Der Blaue Vogel, Berlin: ohne Verlagsangabe, 1925 (wie Anm. 53).

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stellten stilisierten Tanz handelt, sondern um eine komische Szene mit einer Art Handlung, auch wenn diese unsinnig und grotesk ist (die Zwerge beklagen sich über den ‚Angriff‘ einer Mücke, die auch lautmalerisch dargestellt wird). Das auf dem Titelblatt der Notenausgabe abgebildete Szenenfoto, auf dem die Zwerge vor einem Baumstumpf gruppiert sind, zeigt, dass die Beweglichkeit der Gruppe stark eingeschränkt ist: Mindestens vier der fünf Zwerge sind über das Bühnenbild dargestellt, so dass die Sänger lediglich ihren Kopf und ihre Hände bewegen können (eine Art der Darstellung, die im Blauen Vogel häufig anzutreffen war64). Wie die groteske Choreographie dieses ‚Tanzes‘ ausgesehen haben mag, lässt sich heute mangels Quellen nicht mehr rekonstruieren, vielleicht wurde ausschließlich der Oberkörper genutzt, vielleicht traten die Schauspieler aber auch aus ihrer Rolle, um den Tanz aufzuführen. Die Aufnahme dokumentiert in jedem Fall, dass das Ensemble des Blauen Vogels talentierte Sänger in seinen Reihen hatte, worunter der Tenor besonderes hervortritt. Außerdem kann man den Verfremdungseffekt, den die Aufführung in russischer Sprache für das deutschsprachige Publikum bewirkte, gut nachvollziehen.65 Ganz anders präsentiert sich die Musik von Tschalnin66 zur Szene „American Bar“,67 bei der ausschließlich ein deutscher Text in die Noten der Singstimme eingedruckt ist. Dem Thema der Szene entsprechend handelt es sich um einen Foxtrott, der mit konventioneller Funktionsharmonik und Melodiebildung keiVgl. hierzu die Szenenbeschreibungen in Böhmig, Das russische Theater in Berlin (wie Anm. 15), und Kurt Tucholsky, „Der blaue Vogel“ (wie Anm. 29): „Sie singen russische Lieder, Figuren und Prospekt sind gemalt, nur die Köpfe sind lebendig – welch eine witzige Vereinigung von bunten Bauernfarben und lustigem, neuem russischem Expressionismus, für diesen Zweck erfunden!“ 65 Ein Liedertextheft verzeichnet als Interpreten N. Dobrynin, J. Rjabinin, A. Jaworsky, F. Reiwachowsky und K. Schein (Šein). Die Dekorationen stammen von Jordan. (StKA Mainz LK/C/66,2.) Besonders hervorzuheben ist der Tenor Rjabinin, über den Jushny schreibt: „Wer ist der Kleine von links, der im ‚Kosakenchor‘ so unwiderstehlich komisch wirkt und dabei eine außergewöhnlich gute Tenorstimme hören läßt? Das ist mein kleiner Josef Rabinin [sic], ein absoluter Natursänger, der niemals eine Stunde gehabt hat, dabei mit sehr viel komischem Ausdruck begabt. Er ist Lette, in Riga geboren, Sohn reicher Eltern und hat durch die Revolution alles bis auf die Stimme verloren“; J. Jushny, „Meine Leute“, in: Jushnyʼs Theater Der Blaue Vogel. Neues Programm, Berlin o. J. [1929], StKA Mainz LK/C/66,2. 66 Von Tschalnin ist kein Vorname bekannt. Die Berliner Adressbücher der Zeit verzeichnen keinen Einwohner dieses Namens. Für die Weltbühne und Stefan Großmanns Tage-Buch schreibt zeitgleich ein Sergei Tschalnin, der jedoch nicht mit dem Komponisten identisch bzw. verwandt sein muss. Vgl. Sergei Tschalnin, „Der Jobber der Republik“, in: Die Weltbühne, 17. Jg. Nr. 24 (16. 6. 1921), S. 654–657, sowie ders., „Moskauer Schicksal“ und „Die Apfelsine“, in: Das Tage-Buch, 2. Jg. Heft 1 (8. 1. 1921), S. 633 und S. 697. 67 [Friedrich] Járosy [Text] / Tschalnin [Musik], American Bar, Berlin: Preuss, 1922 (wie Anm. 53). 64

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nerlei ‚Russizismen‘ im oben angesprochenen Sinne enthält. Die einzig auffällige, da dissonante Passage fällt im Text mit der Bestellung der Alkoholika zusammen – hier könnte man wohl eine Andeutung der durch den Alkohol benebelten Sinne heraushören. Text und Musik sind selbst bei der Nennung der internationalen Getränke (Schwedenpunsch, Curaçao, Flip und Kaffee) frei von jeglicher ‚russischer‘ Assoziation. Das Thema des Liedes, die Anbahnung von Beziehungen in der Bar bis hin zur mehr oder weniger offenen Prostitution („Hängt der Himmel Dir voll Geld, mir dann voller Geigen“, „Sind wir einig, Wolln wir gehen“68), ähnelt anderen Bar-Liedern der Zeit, wie z. B. Mischa Spolianskys „Kitty, Du mein Mädel aus der Bar“ (1923).69 Es ist sicherlich kein Zufall, dass der lasterhafte Kontext Amerika zugeordnet ist und frei von ‚russischen‘ Assoziationen gehalten wird; vergleichbar amerikakritisch und ohne russische Anklänge ist z. B. auch der Sketch „Time is Money“, der Kapitalismus und Oberflächlichkeit thematisiert.70 Während die Zwischenaktmusik deutlich an eine vom russischen Repertoire des 19. Jahrhunderts geprägte westeuropäische Vorstellung einer ‚Russianness‘ anknüpft, ist die Musik zum Nummernprogramm des Cabarets deutlich flexibler. Sie orientiert sich am Thema der Szenen und ist z. T. eher illustrativ. So arbeitet beispielsweise die Musik zu „Der König rief seinen Tambour“ („Musik nach einem alten französischen Chanson“) mit vollgriffiger Harmonisierung, archaischen ‚Hornquinten‘, Terz- und Sextparallelen, setzt lautmalerisch den Trommelwirbel um und erhält eine abschließende Coda als „Marcia funebre“, um den tragischen Ausgang der Geschichte (den Tod der Geliebten) zu illustrieren. Das im jüdischen Milieu angesiedelte „Die ewige Frage“ spielt musikalisch, ähnlich den „Caucasian Songs“, mit der übermäßigen Sekunde. Andere Lieder, wie z. B. die „Mondschein-Polka oder Der verliebte Friseur“ oder „American Bar“, stellen einen tänzerischen Aspekt (hier die Polka bzw. den Foxtrott) ins Zentrum und sind ansonsten musikalisch nicht weiter durchgestaltet (soweit wir dies aus den Notenausgaben erschließen können). Spezifisch „russische“ Klangwirkungen finden sich bei den explizit „russischen“ Themen, wie den „Abendglocken“71, Ebd., S. 2f. Vgl. Carolin Stahrenberg, Hot Spots von Café bis Kabarett. Musikalische Handlungsräume im Berlin Mischa Spolianskys 1918–1933 (= Populäre Kultur und Musik 4), Münster: Waxmann, 2012, S. 145–147. 70 Von „Time is money, einer Burleske auf Amerikanisches, die gelungen mit Wachsfigurenstarre und Automatenrefrains spaßt“, schrieb Kabarett-Kritiker Max Herrmann-Neiße, „Kleinkunst“, in: Der Kritiker, 4. Jg. Nr. 6 (Zweites Märzheft 1922), S. 9–10. Text und Musik sind leider verloren. 71 Im Untertitel „Ein russisches Lied aus den vierziger Jahren“; tatsächlich vertont von Aleksandr Aljabʼev im Jahr 1828 (Text: Ivan Kozlov), vgl. Redepenning, Geschichte der russi68 69

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den „Wolga-Treidlern“, den Liedern russischer Bauern („Peasant Songs“) oder der „Träumerei (Kaukasisches Lied)“. Das doch recht vielfältige Repertoire und die musikalische Ausdrucksbreite der Lieder werden allerdings in der Presse kaum wahrgenommen, vielmehr wird die Bandbreite auf die „nationalen“ Musiken verengt, die den stärksten Anklang finden: „Die Musiker machen nette Musik. Gassenhauer, Salonhauer und bittre moderne Geräusche. Am schönsten sind ihre nationalen Musiken, aus ganz kurzem melodischen Faden durch unendliche Wiederholung einen Lasso drehend, der den Zuhörer fängt und mitschleift“, schreibt Alfred Polgar, und erhebt anschließend die Musikalität biologistisch zum Merkmal der russischen Darsteller: „geschickte, bewegliche Leute, Sänger und Tänzer, die die Musikalität im Blute haben.“72 So wird neben der Hervorhebung der „nationalen“ Musiken die Eigenschaft der Musikalität selbst zum nationalen Attribut – und bietet so die Möglichkeit der Abgrenzung vom (positiv besetzten) Gegenüber, dem ‚Anderen‘. ‚Fremdes‘ und ‚Eigenes‘ im Blauen Vogel: Die deutsche Presse und der Diskurs um das ‚Nationalrussische‘ Eine große, malerische und schauspielerische Kultur, die ihren Lebenssaft aus dem Boden des Volkstümlichen zieht, sandte farbige Impulse in die Blässe unseres Westens.73

Die deutschsprachige Presse betreibt die Abgrenzung des Russischen gegenüber der eigenen Kultur am Gegenstand des Blauen Vogels auf vielfältige Weise. Dabei kann das Gegenüber des ‚Russischen‘ zum Ausgangspunkt der Kritik an der eigenen, angeblich überlebten Kultur werden (im obigen Zitat von Abraham Suhl aus der Wochenschrift Der Drache durch die Gegenüberstellung der Begriffe „farbig“ und „blass“ pointiert). Häufig geht dies mit einer kulturkritischen Haltung gegenüber der Modernisierung einher, der die ‚Natürlichkeit‘ und angebliche Authentizität des ‚Volkstümlichen‘ der russischen Nation gegenübergestellt wird. „Das, was auf den westeuropäischen Zuschauer wie Offenbarung wirkt an diesem Kabarett,“ fährt Suhl fort, schen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 23), S. 42. Aljabʼev wird in der Notenausgabe der „Abendglocken“ als Komponist nicht genannt. 72 Alfred Polgar, „Der blaue Vogel“, in: Die Weltbühne, 19. Jg. Nr. 2 (11. 1. 1923), S. 44f., hier S. 44. 73 A[braham] Suhl, „Der Blaue Vogel“, in: Der Drache, 5. Jg. Nr. 2 (25. 3. 1924), S. 22f., hier S. 23 (Zeitungsausschnitt StKA Mainz, LK/C/66,2 Blauer Vogel).

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Carolin Stahrenberg ist der volkstümliche Grund, auf dem es ruht. Ja, wir hier in den Großstädten der Industrieländer haben bereits vergessen, daß Menschen aus purer Lust singen und tanzen und – mit Ausdruck und Gefühl. Wir haben Oper und Konzert; wir haben Kunst. Aber, daß Musik und Tanz ganz ursprüngliche, natürliche Volksbedürfnisse sind, das wissen wir fast nicht mehr.74

Die Metropolenkultur der (westlichen) Großstadt, einschließlich der kulturellen Institutionen Oper und Konzert, wird als „Kunst“ den „natürlichen Volksbedürfnissen“ der russischen Menschen gegenübergestellt – suggeriert wird nicht nur, dass Russland keine Industrienation sei und es dort keine Großstädte gebe; auch ein institutionalisiertes Musikleben mit professionellen, d. h. bezahlten, Tänzern und Musikern wird dem ‚Anderen‘ abgesprochen: Man singt aus „purer Lust“. Dass dies nicht den tatsächlichen Gegebenheiten im zeitgenössischen Russland entsprach, war dem Rezensenten sicherlich bewusst, grenzt er doch im weiteren Verlauf des Textes die Städte St. Petersburg und Moskau vom Rest des Landes ab.75 Für seine Argumentation, die implizite Kritik an der (eigenen) großstädtischen Kultur, ist die Reduktion der Komplexität auf bestimmte Aspekte notwendig. Durch die verbale Konstruktion des ‚Wir‘ wird eine scheinbare Homogenität der Gruppen – westliche Industrienationen versus Russland – erzeugt, individuelle Züge werden geglättet. Zwar wird dem Blauen Vogel innerhalb dieses Systems ebenso der Status der „Kunst“ zugesprochen – allerdings in einer modifizierten Weise: „Auch der Blaue Vogel ist ein Kunstinstitut. Aber aus ihm weht uns der starke Atem einer Volkskultur an: die des russischen Bauern.“76 Die Fokussierung auf ländliche Kultur trifft auf einen Teil des Programms zu – z. B. auf „Russische Bäuerinnen“ („Peasant Songs“) oder die „Wolga-Treidler“ –, das sich als Ganzes aber nicht auf diesen Aspekt reduzieren lässt. Es folgt in der Kritik die Verortung der anderen Kultur auf einer früheren, von den Industrienationen bereits als überwunden angesehenen Zeitstufe, wobei der Rezensent diese als eine Art „verlorenes Paradies“ bewertet (einen Rekurs aufs Kindliche, Naive): „Und doch, auch Westeuropa schuf Volkslieder, Volkstänze, Volkstrachten, Volksfeste. Aber wo sind die glücklichen Zeiten unserer Volkskultur?“77 Der Versuch, die fremden Kategorien in eigene Verstehensmuster und die Historizität der eigenen Kultur einzuordnen, zeigt sich auch an einer Notiz zu Jushnys Conferencen: Ebd., S. 22. „Vielleicht wäre derselbe Blaue Vogel in Petersburg oder Moskau auch nur ein Kabarett westeuropäischen Schnittes geworden – für den satten Lebebürger! In Deutschland erscheint er als Repräsentant eines Volkes, verkörpert die sehnsüchtige Erinnerung des Emigranten an den Volksmenschen der Heimat“ (ebd.). 76 Ebd. 77 Ebd. 74 75

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„Übrigens, er glaubt nicht an die Bolschewicki [sic] und schwärmt vom alten, heiligen Rußland – in Deutschland wirkt das wie der Traum von der Kaiserherrlichkeit.“78 Auch Kurt Tucholsky zog in seiner Besprechung des Blauen Vogels einen ähnlichen Vergleich: „Bei uns wäre das Zurückgreifen auf Ländliches deutsch-national oder kitschig – bei ihnen [den Russen] ist es selbstverständlich.“79 Bei aller positiven Konnotation der Begriffe ‚Bauer‘ und ‚Volk‘ erscheint die Aufwertung des Russischen, wie sie in Suhls Kritik betrieben wird, gleichzeitig als implizite Abwertung – in der Fokussierung auf Unterschiede wird die Ungleichheit der beiden Nationen betont, die als hermetisch abgeschlossene Kulturen konstruiert werden. In eine ähnliche Richtung zielt auch Hans Schnoors Kritik zu Igorʼ Stravinskijs Geschichte vom Soldaten, die auch den Blauen Vogel mit einbezieht. Statt des Volkstümlichen hebt Schnoor die grotesken Elemente in der Darstellung, aber auch das ‚Animalische‘ hervor (das ‚Andere‘ wird erst entmenschlicht, dann zum ‚Übermenschlichen‘ gemacht). Auch hier wird die fremde Kultur als Spiegel verstanden, der die Defizite des ‚Eigenen‘ erfahrbar macht: Die Bühne Jushnys und die Jahrmarktsbude Strawinskys stehen auf gleichem Erdreich: Russland. Beide Theater aus der gleichen Vorstellungswelt und seelischen Empfindungssphäre: Russland. Auf beiden Jahrmärkten ein Sichausleben animalischer Kräfte und ihre Zusammenfassung und Bändigung in einem Kunstwerk, im spielerischen Rhythmus der Farben, Klänge, Worte, Gebärden. Dort wie hier eine uns Fremdrassige fast übermenschlich dünkende Kraft zur Groteske, zur Parodie auf die Zivilisation der alten und neuen Welt. Man glaubt zunächst eine die Sinne schier blendende Bewährung des „Ex oriente lux“ zu erleben und erschrickt vor der Auszehrung der eigenen Kulturkräfte.80

Am Russischen werden also Elemente hervorgehoben, die es in einer vormodernen, agrarischen Gesellschaft jenseits der Industrialisierung verankern, im ‚Boden des Volkstümlichen‘ – eine ‚Regression‘ kultureller Errungenschaften, die mit der Betonung des ‚Animalischen‘ sogar bis zum Tierischen (im positiven Sinne: ‚Natürlichen‘) reicht. Diese Elemente werden mit der Kunst des Blauen Vogels verknüpft. Wie die Verbindung von Musik mit einer imaginierten nationalen ‚Verwurzelung‘ einhergeht, illustriert sehr gut die Äußerung des berühmten Schauspielers Alexander Moissi über die wohl bekannteste Szene des Blauen Vogels, die „Wolga-Schlepper“ (Burlaki): „ich fühle, daß die Töne nicht aus ihren Ebd. Tucholsky, „Der Blaue Vogel“ (wie Anm. 29), S. 305. 80 Hans Schnoor, „Strawinskys ‚Geschichte vom Soldaten‘“, in: Der Auftakt. Musikblätter für die Tschechoslowakische Republik, 4. Jg. Heft 10 (1924), S. 276–280, hier S. 277. 78 79

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Kehlen kamen, wohl aber aus der schwarzen, heiligen russischen Erde, der meine Anbetung gehört.“81 Der Gesang wird nicht als individuelles, menschliches (Kultur-)Produkt angesehen, sondern zum Ausdruck der von menschlichen Einflüssen freien Natur, die gleichzeitig mit einer abstrakten, mit territorialem Denken verknüpften Idee von ‚Nation‘ verbunden wird. Er wird körper- und zeitlos, aber nicht ortlos. Weitere Eigenschaften, mit denen die russische Kunst in Kritiken zum ersten Programm des Blauen Vogels charakterisiert wird, sind z. B. „echt“, „gesund“82, „bunt“ und „froh“.83 Eugen Tannenbaum schreibt in der BZ am Mittag über „entzückende Blödheit und Naivität, harmlose Sinnenfreude“ und „unverfälschte Volkskunst“,84 wobei alle diese Begriffe positiv besetzt sind, und Stefan Großmanns Tage-Buch verzeichnet „Laune“, die „wilde Kraft“ der Tänzerin Julia Bekefi und „wohlige slavische [sic] Melancholie, die plötzlich in rasende Lebenslust umschlägt.“ Als „fade-sentimental“ kritisiert er lediglich zwei Nummern mit deutschem Text.85 Ausschließlich negativ bewertet vor allem Max Herrmann-Neiße das Programm des Blauen Vogels, da es seinem „Brettl-Ideal“ des „Geschärften, […] alles herrlich Zersetzenden, Momentanen“86 zuwiderläuft (eine Vorstellung von Kabarett, die sich im deutschen Sprachraum heute weitgehend durchgesetzt hat). Er verbindet die Bewertung als „Kitsch“, „Opernbrimborium“, „Panoptikum-Pathos“, „Familienfest“ und „Vereinsamüsement“87 nur insofern mit der Kategorie des Nationalen, als er den Zugang zur Kunst des Blauen Vogels als von rein „ethnographischem Interesse“ beschreibt; die Charakterisierung als „Überlebtes, Konserviertes, Historisches“ stimmt mit der oben bereits konstatierten Einordnung auf einer anderen Zeitebene überein, allerdings ist diese hier negativ besetzt. Für Herrmann-Neiße hat der Blaue Vogel, dem er „sehr saubere, gewissenhafte Regiearbeit und dekorative Ausgestaltung“ zugesteht, keinerlei Vorbildfunktion für das deutsche Kabarett: „Er bringt keine politische, keine erotische, nicht einmal geistige und künstlerische Überlegenheit, sondern schönpoliertes Kunstge81 Alexander Moissi, zit. nach Der blaue Vogel, Russisch-Deutsches Theater (wie Anm. 14), S. 40. 82 Birk, „Des blauen Vogels erster Flug“ (wie Anm. 27), S. 5. 83 O. Verf., „Cabaret. Der Blaue Vogel“, in: Das Tage-Buch, 2. Jg. Nr. 51 (24. 12. 1921), S. 1608 (Zeitungsausschnitt StKA LK/C/66,2). 84 Eugen Tannenbaum in der B.Z. am Mittag, zit. nach Der blaue Vogel Heft 2 (Februar 1922), S. 11. 85 O. Verf., „Cabaret. Der Blaue Vogel“ (wie Anm. 83). 86 Max Herrmann-Neiße, „Berliner Kabarett“, in: Die Neue Schaubühne, 4. Jg. Heft 34 (März 1922), S. 68–74, hier S. 74. 87 Alle Begriffe ebd.

Zur Konstruktion des ‚Russischen‘ im Cabaret Der blaue Vogel

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werbe, angeordnet um ein glattes Nichts oder um ein Etwas von vorvorgestern.“88 In einem anderen Text spricht Herrmann-Neiße gar von der „aufgedonnerte[n] Einfalt der Blauen Vogel-Sphäre“.89 Er verbindet dieses Urteil aber im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten nicht mit einer Bewertung des ‚Russischen‘ im Allgemeinen, sondern bleibt auf der Ebene des konkreten Gegenstandes seiner Kritik, dem Programm des Cabarets. Dass die Darstellung des ‚Russischen‘ im Blauen Vogel an die Grenze zur Überzeichnung bzw. zum Parodistischen geht, konstatierten nur wenige Kritiker, z. B. Alfred Polgar. Er schildert „eine herzhafte Freude am Übersteigern des Grundsätzlichen“ und registriert bei den Kostümen: „Eine hundertprozentige Sättigung der Tracht mit Ländlichkeit. So kommt in das Bild ein parodistischer Zug.“90 Statt wie so viele das ‚Echte‘ in der Darstellung des Nationalen zu loben, begegnet er ihr mit skeptischer Vorsicht: „Wie weit Alles russisch ist, was die blauen Fittiche decken, kann ich nicht beurteilen. Ist es russisch, dann jedenfalls ein gereinigtes, lackiertes, blitzblankes Russland“, und er resümiert (vielleicht im Hinblick auf die berühmten „Potemkinschen Dörfer“): „Manches hat ein wenig den Charakter der Attrappe.“91 Fazit Die Inszenierung des ‚Russischen‘ im „russisch-deutschen Theater“ Der blaue Vogel lässt sich auf verschiedenen Ebenen nachweisen, die intermedial ineinandergreifen und in ihrem Zusammenwirken den Eindruck einer Heterotopie, eines ‚anderen Ortes‘ im Sinne Michel Foucaults, erzeugen.92 Diese bezieht sich nicht nur auf den konkreten Ort des Theaters, wo sie z. B. mit Hilfe des Gebäudes, des Bühnenbildes, der Musik oder der Sprache inszeniert wurde, sondern sie wurde als eine Art ‚imaginiertes Russland‘ auch über verschiedene mediale Kanäle nach außen getragen. Dazu gehörten nicht nur die Notenausgaben, Schallplatten und Programmhefte des Blauen Vogels, sondern vor allem auch die Berichterstattung in der zeitgenössischen Presse, welche die Distinktion der eigenen von der fremEbd. Max Herrmann-Neiße, „Berliner Kabarett (Mai 1922)“, in ders., Kabarett. Schriften zum Kabarett und zur bildenden Kunst (Gesammelte Werke 9), Frankfurt a. M.: Zweitausendeins, 1988, S. 7–105, hier S. 40. 90 Alfred Polgar, „Der blaue Vogel“ (wie Anm. 72), S. 44. 91 Ebd. 92 Michel Foucault, „Von anderen Räumen“ (1967), in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S. 317–329. 88 89

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den Kultur in Form stereotyper, zumeist positiv bewerteter Zuschreibungen aktiv betrieb und so die Konstruktion der Idee eines ‚anderen Ortes‘ beförderte. Die Musik spielte dabei einerseits als Faktor der räumlichen Inszenierung sowie des Bühnenprogramms eine Rolle, wurde aber andererseits – als wesentliches Element der Notenausgaben und Schallplattenaufnahmen – auch zum Medium der Verbreitung nationaler Identitätskonstruktionen über das Theater hinaus. Inwiefern den heraufbeschworenen Bildern des ‚Russischen‘ ein parodistischer Zug innewohnt, kann aus heutiger Perspektive kaum entschieden werden, zumal Jushnys kommentierende Wortbeiträge zu den Nummern nicht überliefert sind. Ein Großteil der Presse beurteilte das Programm des Blauen Vogels jedoch nicht als Satire. Zunehmend wurde auch das ‚russisch-deutsche Theater‘ selbst als zeitlos, unveränderlich und ohne Entwicklung wahrgenommen, wie zuvor das präsentierte Bild Russlands: „Noch immer sind die Wolga-Schlepper nicht um einen Zentimeter vorwärtsgekommen, fünf Jahre hängen sie schon in den Riemen und singen, vom Abendrot vergoldet und von einer Sologeige umschluchzt, so delikat siebenstimmig, daß kein ästhetisch Empfindsamer es übers Herz brächte, ihnen einen Schnaps zu zahlen“,93 schrieb Polgar im Jahr 1925. Und noch 1936, beim Gastspiel im Kabarett der Komiker unter Leitung von Nikolaj Gogockij,94 spielte Der blaue Vogel die Zugnummern „Wolgaschlepper“ und „Leierkasten“, was den Kritiker des Berliner Tageblatts zur Bemerkung des „Zeitlosen“ des Programms veranlasste.95 Das nationale ‚Othering‘ war zu einem temporalen, Der blaue Vogel zum anachronistischen Element der sich verändernden Theaterlandschaft geworden.

93 Alfred Polgar, „Der blaue Vogel“, in: Die Weltbühne, 21. Jg. Nr. 5 (29. 12. 1925), S. 998 (Zeitungsausschnitt StKA Mainz, LK/C/66,2 Blauer Vogel; dort ohne genauere Herkunftsangabe). 94 Ohne Jushny, mit Werner Finck als Conferencier. 95 B. T., „‚Der blaue Vogel‘. Werner Finck konferiert im Kabarett der Komiker“, in: Berliner Tageblatt Nr. 447 (20. 9. 1936), 1. Beiblatt, Sonntags-Ausgabe (Zeitungsausschnitt StKA Mainz, LK/C/66,2 Blauer Vogel; dort ohne genauere Herkunftsangabe).

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Eine Dreiecksbeziehung: Konstruktionen ‚russischer‘ und ‚sowjetischer Musik‘ in der Berliner Publizistik der 1920er Jahre Das alte Russland vor der Haustür Das sogenannte ‚Russische Berlin‘ der 1920er Jahre1 verströmt seine Faszinationskraft bis heute vor allem aus literarischen Gründen. Dass die deutsche Hauptstadt damals Aufenthaltsort einer Vielzahl russischer Schriftsteller 2 war – genannt seien hier nur Maksim Gor’kij, Vladimir Nabokov, Boris Pasternak, Aleksej Tolstoj, Viktor Šklovskij, Andrej Belyj, Il’ja Ėrenburg, Marina Cvetaeva, Sergej Esenin und Vladimir Majakovskij –, sicherte dem Phänomen die nachhaltige Aufmerksamkeit der Kulturgeschichtsschreibung. Auf dem Höhepunkt des ‚Russischen Berlin‘, im Jahr 1923, sollen sich etwa 300.000, nach anderen Angaben sogar über 350.000 ehemalige Untertanen des Zaren in der deutschen Hauptstadt aufgehalten haben. Wenn auch zu dieser Gruppe nicht allein Russen im engeren Sinne zählten, sondern auch Angehörige nichtrussischer Minderheiten des Vielvölkerstaates, so wurden sie in der Wahrnehmung der alteingesessenen Berliner doch tendenziell als ‚Russen‘ rubriziert. Das Stadtviertel zwischen Charlottenburg und Zoo, in dem sich besonders viele von ihnen ansiedelten, bezeichnete man damals spöttisch als ‚Charlottengrad‘, seine Magistrale, den Kurfürstendamm, als ‚Nepski Prospekt‘ – in Anspielung auf die St. Petersburger Prachtmeile Nevskij Prospekt und Lenins ‚Neue ökonomische Politik‘ (russische Abkürzung NĖP).3 1 Der Begriff ‚Russisches Berlin‘ war schon während der 1920er Jahre geläufig, wie ein in Berlin herausgegebenes russischsprachiges Periodikum namens Russkij Berlin (nachgewiesen 1927–1928) bezeugt. Siehe auch den unten in Anm. 35 nachgewiesenen Beleg. 2 Im vorliegenden Text schließen kollektive Personenbezeichnungen (Schriftsteller, Musiker, Berliner, Russen, …) männliche wie weibliche Personen ein, auch wenn aus Gründen der leichteren Lesbarkeit nur die männliche Form verwendet wird. 3 Eine ausgezeichnete Einführung in das Leben der Emigranten in der deutschen Hauptstadt bietet Karl Schlögel, Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas, München: Carl Hanser, 2007. Aus einem ebenfalls von Schlögel initiierten Forschungsprojekt zur Emigration sind zwei für das Studium des ‚Russischen Berlins‘ unverzichtbare Bände hervorgegangen: Karl Schlögel (Hrsg.), Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941. Leben im russischen Bürger-

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Berlin war vor allem für die Angehörigen der russischen Intelligencija schon vor dem Ersten Weltkrieg eine vertraute Stadt. Verschiedene russische Verlage waren dort ansässig und boten nun den zahlreichen aus dem Heimatland geflohenen Intellektuellen eine attraktive Infrastruktur, die sich nach 1920 geradezu explosionsartig vergrößerte. Russische Geschäfte, Restaurants, Buchhandlungen, Verlagshäuser und Bildungseinrichtungen schossen aus dem Boden; der Informations- und Diskussionsbedarf rief mehrere miteinander konkurrierende russische Tageszeitungen und aufwändig produzierte Kulturzeitschriften hervor. Diese Kulmination russischsprachiger Kultur in der Hauptstadt der Weimarer Republik hat zu vielfältigen Forschungsarbeiten geführt: Es existieren Studien über die Berliner russischen Dichter, die russischen Theater, ja selbst die russischen Verlagshäuser.4 Gänzlich unerforscht geblieben ist jedoch die dazu gehörige Musik. Die Gründe dafür sind nur scheinbar einsichtig: Sind es im Falle des Literatur- und Theaterlebens vor allem die eingangs genannten großen Namen, die die Forschungsenergien beflügeln, muss man für das Musikleben Fehlanzeige konstatieren. Von Sergej Rachmaninov über Igor’ Stravinskij bis hin zu Sergej Prokof’ev machten die prominentesten emigrierten russischen Komponisten einen Bogen um Berlin, das sie höchstens zu Gastspielen besuchten wie andere durchreisende Künstler auch, nicht aber als permanenten oder auch nur temporären Wohnort wählten. Eine Ausnahme bildete Nikolaj Metner, der von 1921 bis 1924 – mit Unterbrechungen – insgesamt etwa zwei Jahre in der deutschen Hauptstadt lebte, jedoch nicht zur ersten Garde der zeitgenössischen Komponisten gehörte. Aber auch ohne prominente ortsansässige Komponisten erreichte das russische Musikleben im Berlin der frühen 1920er Jahre einen Reichtum und eine Vielfalt, die sich nicht nur in den Feuilletons der russischen Tageszeitungen und Kulturzeitschriften niederschlugen, sondern auch zur Gründung einer russischsprachigen Musikzeitschrift – Muzyka [Die Musik] – führten, die erstmals im Mai 1923 in Berlin erschien. Dass dieses erste Heft auch das einzige der Zeitschrift bleiben sollte, lag wohl daran, dass bald danach eine massive Abwanderung russischer Emigranten aus Deutschland einsetzte. Nach dem Ende der Inflation und der Einführung der Rentenmark im November des Jahres hatten sich die wirtkrieg, Berlin: Akademie-Verlag, 1995, sowie ders. et al. (Hrsg.): Chronik russischen Lebens in Deutschland 1918–1941, Berlin: Akademie-Verlag, 1999. 4 Vgl. Thomas R. Beyer, Gottfried Kratz und Xenia Werner, Russische Autoren und Verlage in Berlin nach dem Ersten Weltkrieg, Berlin: Berlin-Verlag, 1987 (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Veröffentlichungen der Osteuropa-Abteilung, 7), Armory Burchard, Klubs der russischen Dichter in Berlin 1920–1941. Institutionen des literarischen Lebens im Exil, München: Otto Sagner, 2001 (Arbeiten und Texte zur Slavistik, 69), Thomas Urban, Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre, Berlin: Nicolai, 2003, sowie zahlreiche Beiträge in Russische Emigration in Deutschland 1918 bis 1941 (wie Anm. 3).

Eine Dreiecksbeziehung

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schaftlichen Bedingungen für die russische Diaspora rapide verschlechtert, und viele der ehemaligen Akteure des ‚Russischen Berlin‘ ließen sich in Paris und anderen Großstädten außerhalb Deutschlands nieder.5 Im Mai 1923 aber, als jene einzige Nummer von Muzyka erschien, konnte die ‚russische Kolonie‘6 in Berlin noch mit einigem Stolz auf das von ihr begründete vielfältige Musikleben verweisen. Zumindest spricht großes Selbstbewusstsein aus den Zeilen, die der gerade 20-jährige Nikolaj Nabokov, ein Vetter des ebenfalls nach Berlin emigrierten Vladimir Nabokov, zu dieser Zeitschrift beisteuerte: Gegenwärtig steht das russische Musikleben Berlins in voller Blüte. Russische Musiker machen sich hier einen Namen und bauen eine Karriere auf. Russische Komponisten beeinflussen das Schaffen anderer Völker, und indem die russische Kunst in das deutsche Musikleben einfließt, wird sie unmerklich zu seinem unabtrennbaren Bestandteil, zu seiner anderen Hälfte, gibt sie ihm eine völlig eigenständige neue Farbe. 7

Einiges spricht dafür, dass Nabokovs Einschätzung repräsentativ für das Selbstverständnis der russischen Musiker im damaligen Berlin war. Denn schließlich hatte Muzyka den Anspruch, das Forum dieses Kreises zu sein, und schließlich hatte Nabokov seit seiner Ankunft in Berlin im Jahr 1921 selbst Gelegenheit gehabt, dieses Musikleben als Musikkritiker wie auch als Pianist ausgiebig zu beobachten und zu gestalten.8 Im Folgenden sei daher versucht, die aus Nabokovs Zeilen hervorgehende Vorstellung einer für beide Seiten fruchtbaren deutsch-russischen Musikbegegnung mit der Wahrnehmung dieses Phänomens durch die deutschsprachige Berliner Musikkritik zu konfrontieren. Das dabei zugrunde gelegte Quellenkorpus sind alle Rezensionen von Berliner Konzerten mit russischer Musik oder russischen Musikern, die in den Jahren 1921 und 1922 in der Allgemeinen Musikzeitung (AMZ) erschienen, einer der führenden Berliner Musikzeitschriften dieser Zeit. Vgl. Schlögel, Das Russische Berlin (wie Anm. 3), S. 142: 1930 befanden sich nur noch „rund hunderttausend russische Flüchtlinge im Deutschen Reich, die meisten von ihnen in der Hauptstadt.“ 6 Der Begriff der ‚russischen Kolonie‘ wurde in den 1920er Jahren selbst- und fremdreferentiell gebraucht; so trug das in Anm. 1 genannte Periodikum den Untertitel „vestnik russkoj kolonii [Bote der russischen Kolonie]“. Ein Beleg aus der deutschsprachigen Publizistik findet sich unten bei Anm. 15. 7 Nikolaj Nabokov, „Russkaja muzykal’naja žizn’ v Berline [Russisches Musikleben in Berlin]“, in: Muzyka [Die Musik], 1. Jg. (1923), S. 23–28, hier S. 24. 8 Vgl. Nicolas Nabokov, Zwei rechte Schuhe im Gepäck. Erinnerungen eines russischen Weltbürgers, deutsch von Claus H. Henneberg und Hellmut Jaesrich, München: dtv, 1979 (erstmals amerikanisch 1975), S. 125, 128, 136; Ian Hugh Wellens, „Even the Truth needs a Barnum“ – Nicolas Nabokov, Music and the Cold War, Diss. University of Plymouth, 1999, S. 6 (Digitalisat bei ProQuest Dissertations & Theses). 5

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Wer in die AMZ dieser Jahre eintaucht, kann förmlich nachempfinden, wie das Phänomen des ‚Russischen Berlin‘ plötzlich, und zwar am Beginn des Konzertwinters 1921/22, auf die Musikkultur der deutschen Hauptstadt übergreift. Angesichts der Reichhaltigkeit des Berliner Musiklebens könnte man versucht sein zu denken, ein paar mehr russische Konzerte und russische Konzertgänger würden kaum ins Gewicht fallen, zumal auch vor 1921 Gastspiele russischer Musiker den Hauptstädtern vertraut waren. Dem ist aber keineswegs so, jedenfalls nicht mehr ab dem Herbst 1921. „Es ist auffällig,“ hieß es damals in der AMZ, was uns im kommenden Winter an russischer Musik, russischem Theater, russischen Künstlern aller Art bevorsteht. Die russische Valuta kanns doch nicht sein, die dieses Massenangebot rechtfertigt und erklärt. Vielleicht ist der Kunsthunger der in solch erdrückender Anzahl hier anwesenden Russen, oder genauer gesagt: russischen Untertanen so groß, oder vielleicht ist das Auswanderungsbedürfnis der russischen Künstler doch sehr gestiegen unter der beglückenden Herrschaft der Kommissare […].9

Eine solche Ballung von Konzerten mit russischen Programmen und Interpreten, wie sie im September 1921 einsetzte, hatte Berlin noch nicht erlebt, auch nicht im Konzertwinter zuvor, als sich schon etliche Emigranten hier niedergelassen hatten. Die Berliner Rezensenten registrierten schnell, dass die ‚russische Kolonie‘ einen beachtlichen neuen Publikumsstamm bildete. Ein Kritiker schreibt im Oktober 1921 nach einem russischen Liederabend, dass „meiner Schätzung nach mindestens neun Zehntel der Besucher Landsleute des Konzertgebers waren“.10 Ein Jahr später, als die AMZ bereits das Schlagwort von der „Russifizierung Berlins“11 aufgriff, berichtet ihr Herausgeber Paul Schwers von seinen Eindrücken beim Besuch eines von Sergej Kusevickij dirigierten Konzerts: „Das Publikum dieses Konzerts bestand fast nur aus Russen; man fühlte sich tatsächlich ins vorkriegszeitliche Moskau oder Petersburg versetzt. Berlin ist halt die zweite Hauptstadt von Rußland geworden!“12 Die Grenzen des Möglichen wurden allerdings auch sehr schnell offenbar: Im Dezember 1921 stellte sich die Sängerin Zinaida Pavlova, so der AMZ-Rezensent Hugo Rasch, „im Bechsteinsaal einem nicht sehr Hugo Rasch, Rezension des Konzerts von Aleksandr Bragin, in: Allgemeine Musikzeitung [im folgenden AMZ], 48. Jg. Heft 39 (23. 9. 1921), S. 635. Wenn nicht anders angegeben, haben die im Folgenden zitierten Rezensionen der AMZ keine eigenen Titel und sind unter der Rubrik „Aus den Berliner Konzertsälen“ versammelt. 10 Hugo Rasch, Rezension des Konzerts von Aleksandr Aleksandrovič, in: AMZ, 48. Jg. Heft 41 (7. 10. 1921), S. 695. 11 O. Verf., Meldung in der Rubrik „Theater und Oper“, in: AMZ, 49. Jg. Heft 40 (6. 10. 1922), S. 739. 12 Paul Schwers, Rezension, in: AMZ, 49. Jg. Heft 45 (10. 11. 1922), S. 832. 9

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zahlreichen Hörerkreis vor, was nicht verwunderlich ist bei der großen allabendlichen Anzahl russischer Ereignisse, die an die hier lebenden Russen und russischen Untertanen dauernde Anwesenheitsforderungen stellen.“13 Demnach gab es also anscheinend nicht zu wenig russische Konzertgänger, sondern zu viele russische Konzerte. Wenn man den Rezensionen Glauben schenken darf, waren etliche der russischen Musiker weitgehend vom Zuspruch ihrer in Berlin versammelten Landsleute abhängig. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es scheint, hat doch von allen Künsten gerade die Musik den Ruf, Grenzen nationaler Zugehörigkeit leicht zu überwinden. Dass dem in Bezug auf das ‚Russische Berlin‘ keineswegs so war, lässt sich sowohl mit Blick auf die organisatorische Seite des Konzertlebens als auch hinsichtlich der ästhetischen Beurteilung zeigen. In beiderlei Hinsicht scheinen Diskrepanzen zwischen deutschen Erwartungen und russischer Realisation der von Nikolaj Nabokov beschworenen Musikbegegnung der Nationen doch sehr im Wege gestanden zu haben. Der organisatorische Rahmen der russischen Konzerte war häufiges Thema der AMZ-Rezensenten, die explizit oder implizit die ‚zugereisten‘ Musiker zur Anpassung an ihr neues Umfeld aufforderten. Nicht kompatibel mit Berliner Gepflogenheiten erschienen besonders die überaus zahlreichen Lieder- und Arienabende russischer Sänger mit ihrem meist zur Gänze russischen Repertoire, das noch dazu in russischer Sprache dargeboten wurde. Das Problem scheint dabei nicht allein im gelegentlichen Fehlen der Übersetzungen auf dem Programmzettel,14 sondern bereits im Beharren auf dem russischen Repertoire bestanden zu haben. Als der Rezensent Hugo Rasch im März 1922 zum zweiten Mal einen Liederabend von Oda Slobodskaja zu besprechen hatte, schrieb er: Ach, was war ich von ihrem ersten Auftreten an derselben Stelle im September vorigen Jahres begeistert! […] Und nun? Frau Slobodskaja scheint nicht gut beraten zu sein. […] Was sollte der vollkommen russische und russisch gesungene Abend? Nach einem Aufenthalt von mehr als einem halben Jahr bei uns hätte sie diesmal die Früchte ihres Hierseins zeigen müssen. Sie ist doch sicherlich nicht in der Absicht hergekommen, Dauersängerin für die russische Kolonie zu werden.15

Hugo Rasch, Rezension, in: AMZ, 48. Jg. Heft 52 (23. 12. 1921), S. 957. Ausnahmen werden positiv hervorgehoben: „Dank rhythmisch genauen Uebersetzungen auf dem Programm konnte man den russischen Texten fast Zeile für Zeile folgen“, heißt es in der Rezension eines Konzerts von Aleksandr Aleksandrovič durch Ludwig Misch, in: AMZ, 48. Jg. Heft 42 (14. 10. 1921), S. 741–743, hier S. 743. 15 Hugo Rasch, Rezension, in: AMZ, 49. Jg. Heft 10 (10. 3. 1922), S. 185. 13 14

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Die angeblich inakzeptable Programmgestaltung der russischen Musiker ist aber auch dort, wo sich das dargebotene Repertoire ins Internationale weitet, ein Leitmotiv der deutschen Kritik. Dass Werke der Komponisten Ludwig van Beethoven und Maurice Ravel auf ein und demselben Programmzettel unmittelbar aufeinander folgten, oder auch Werke Georg Friedrich Händels und Ruggiero Leoncavallos,16 dass ein Pianist „hintereinander 5 Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier, von ihren Fugen losgelöst, fast pausenlos ineinander fliessend wie ein Potpouri, herunterdudelt“,17 dass eine Geigerin der längst vergangenen Mode virtuoser Paraphrasen huldigt18 oder dass orchesterbegleitete Arie und Klavierlied in ein und demselben Konzert zusammentreffen, noch dazu auf engstem Raum19 – das alles werten die Berliner Rezensenten als Zeichen von Provinzlertum, Unkultur und schlechtem Geschmack. Derartige Unverträglichkeiten mit deutschen Gepflogenheiten monierten gelegentlich auch russische Kritiker: Wenn die Emigrantenzeitschrift Teatr i žizn’ (Theater und Leben) in ihrem Rückblick auf die erste Hälfte der Konzertsaison 1922/23 einigen russischen Sängerinnen vorwirft, den Eindruck von „Geschmacklosigkeit“ und „Provinzialismus“ hinterlassen zu haben, dann steht dahinter die Befürchtung, dass solche Konzerte der „russischen Kunst keinen Dienst erwiesen“, indem sie internationales Repertoire unterhalb des Berliner Standards dargeboten hätten: „Wem nützt eine Arie aus [Verdis] ‚Traviata‘ in konzertanter Aufführung, noch dazu in russischer Sprache gesungen.“20 Nicht die musikalische Qualität als vielmehr Mängel der Organisation und der Programmgestaltung geben auch für die folgende kritische Stimme eines aus Russland stammenden, hier aber auf deutsch publizierenden Rezensenten den Ausschlag: Und das muß ich meinen Landsleuten ganz offen sagen. Es ist nichts gegen viele russische Konzerte in künstlerischer Beziehung auszusetzen. Doch die Technik, das ganze Arrangement spottet des öfteren jeder Beschreibung. Angefangen wird stets „großzügig“ mit einer Verspätung von im besten Falle 20 Minuten, es kommt aber auch zuweilen noch eine Stunde hinzu. Zu den in russischer, französischer oder italienischer

Vgl. Hugo Rasch, Rezensionen von Konzerten Aleksandr Aleksandrovičs und Aleksandr Bragins, in: AMZ, 48. Jg. Heft 6 (11. 2. 1921), S. 84, bzw. ebd. Heft 39 (23. 9. 1921), S. 635. 17 Heinz Pringsheim, Rezension eines Konzerts von Aleksandr Ziloti, in: AMZ, 48. Jg. Heft 44 (28. 10. 1921), S. 779. 18 Adolf Diesterweg, Rezension eines Konzerts von Cecilija Ganzen, in: AMZ, 49. Jg. Heft 9 (3. 3. 1922), S. 165f. 19 Heinz Pringsheim, Rezension eines Konzerts des Berliner Sinfonieorchesters unter Leitung von Grigorij Garbovickij, in: AMZ, 49. Jg. Heft 49 (8. 12. 1922), S. 911. 20 L. Ol’činskij, „Muzyka“, in: Teatr i žizn’ [Theater und Leben], 2. Jg. Heft 7 (Januar 1922), S. 8. 16

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Sprache gesungenen Liedern wird selten ein deutscher Text vorgelegt, die Programmbücher sind meist ebenso kurz wie teuer.21

Auch die AMZ-Kritiker bezeichnen die russischen Veranstaltungen bisweilen als überteuert;22 erklären lassen sich die hohen Eintrittspreise wohl durch die – bis zur deutschen Währungsreform von 1923 – verhältnismäßig große Kaufkraft des Rubel, die den Emigranten, im Gegensatz zu den Einheimischen, den Besuch solcher Veranstaltungen erleichterte. Einige der hier zitierten besonders kritischen deutschsprachigen Urteile stammen aus der Feder von Hugo Rasch, der nicht nur für die AMZ, sondern auch für das NS-Organ Völkischer Beobachter rezensierte und nach 1933 in der Reichsmusikkammer Karriere machte.23 Dass er und der AMZ-Herausgeber Paul Schwers aus ihrer deutschnationalen Gesinnung keinen Hehl machten und damit insgesamt die konservative Tendenz der Zeitschrift nicht in Frage stand, mag die hier untersuchten Rezensionen als voreingenommen erscheinen lassen. Andererseits ist gerade die nationalistische Komponente aus dem Berliner Musikdiskurs der 1920er Jahre nicht wegzudiskutieren, und dass unter den AMZ-Kritikern auch jüdische Rezensenten wie Martin Friedland, Ludwig Misch und Heinz Pringsheim waren, spricht für eine in dieser Hinsicht noch nicht vollständige Verhärtung der Fronten im Redaktionskollegium dieser Zeitschrift. Dieser Hintergrund muss mit bedacht werden, wenn es im Folgenden um die im engeren Sinne ästhetischen Urteile der Berliner Rezensenten geht. Wenngleich auf den Seiten der AMZ auch positive Besprechungen russischer Konzerte begegnen, ist die allgemeine Tendenz des ästhetischen Urteils nämlich recht deutlich. Es umgreift gleichermaßen die russische Kompositions- wie auch Interpretationskunst und lässt sich für die Musiker des ‚Russischen Berlin‘ als wahre Aporie beschreiben: Interpretieren sie Werke ihrer Landsleute, dann handelt es sich dabei laut AMZ meist um Kompositionen, die allenfalls aufgrund ihres äußerlichen Glanzes oder ihrer technischen Virtuosität zu fesseln vermögen, den ‚idealistischen‘ Erwartungen, die deutsche Hörer an Musik hätten, aber nicht entsprechen. Stehen dagegen Werke deutscher Komponisten auf ihren Programmen, dann würden die russischen Interpreten dem tiefen Gehalt der Schöpfungen angeblich meist nicht gerecht, auch wenn sie das technische Rüstzeug dafür mitbringen mögen. Robert Engel, „Die Musik bei den russischen Emigranten“, in: Melos, 4. Jg. Heft 10 (Mai 1925), S. 488–494, hier S. 494. 22 Vgl. Adolf Diesterweg, Rezension eines Konzerts von Anna Mejčik, in: AMZ, 48. Jg. Heft 40 (30. 9. 1921), S. 653, und Hugo Rasch, Rezension eines Konzerts von Natalija ErmolenkoJužina, in: AMZ, 49. Jg. Heft 21–22 (2. 6. 1922), S. 483–485, hier S. 485. 23 Vgl. den einschlägigen Eintrag in H[ans] J[oachim] Moser, Musiklexikon, Berlin: Max Hesse, 1935, S. 664. 21

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Die Diskrepanz zwischen russischer und deutscher Wahrnehmung desselben Ereignisses ist zum Teil immens. Über ein von Sergej Kusevickij dirigiertes Konzert berichtet die Berliner russische Tageszeitung Rul’ im Herbst 1921: Ein neuer, und zweifellos der bisher größte Erfolg des russischen Konzertlebens. Das Programm enthielt so viel Interessantes und künstlerisch Wertvolles: die Ouvertüre aus [Michail Glinkas Oper] „Ruslan i Ljudmila“, der Prolog zu [Modest Musorgskijs] „Chovanščina“, ein musikalischer Entr’acte aus [Nikolaj Rimskij-Korsakovs] „Kitež“, [Aleksandr] Glazunovs „Ėj uchnem“, [Anatolij] Ljadovs „Kikimora“ und die Fünfte von [Petr] Čajkovskij. Wie kann man Bedeutenderes an einem einzigen Abend zusammenbringen?24

Der deutsche Kritiker der AMZ schreibt dagegen: Mit russischer Musik sind wir zurzeit reich versehen. Auch Sergei Kussewitzky hat jetzt wieder den Weg nach Deutschland gefunden. […] Freilich: das Programm seines ersten Konzerts kam wohl mehr dem Geschmack der vielen nun in Berlin lebenden russischen Emigranten entgegen als dem Literatur-Bedürfnis der anspruchsvoller gestimmten deutschen Hörer. Charakteristisch für die naive Art russischer ProgrammMusik waren die kurzen Stücke von Mussorgsky […], Rimsky-Korssakow […] und Ljadow […] immerhin, und Glasunoffs kurze, orchestral wirksame Bearbeitung eines bekannten Wolga-Liedes mochte zweifellos interessieren; aber letzten Endes interessierte dieser ganze erste Konzertteil doch lediglich als ein Schulbeispiel für volkstümliche Unterhaltungsmusik.25

Was den einen als Gipfel der Orchesterliteratur gilt, deklassieren die anderen als trivial. Den Ton der AMZ veranschaulichen die folgenden, unkommentiert gelassenen Beispiele der Rezensenten Adolf Diesterweg, Heinz Pringsheim und Paul Schwers: In der slawischen, etwas zigeunerhaften Gefühlswelt des Glazounowschen A-mollKonzerts ist der Künstler [der Geiger Miron Poljakin] heimischer, als in der idealistischen Sphäre des Mendelssohn-Konzerts, dessen Gehalt er in dem (überdies zu schnell genommenen) Andante eben nur streifte.26 Bei seinem [Leonid Kreutzers] Spiel vergißt man, daß Glasunows b-moll-Sonate op. 74, die aus Chopinschen, Schumannschen, Lisztschen und national-russischen Elementen mit glänzendem Geschick gemacht ist und besonders im 3. Satz klanglich und satztechnisch interessiert, im Grunde nicht viel zu sagen hat.27 „Legato“, „Simfoničeskij koncert S. Kussevickago [sic; S. Kusevickijs Sinfoniekonzert]“, in: Rul’, 27. 10. 1921, S. 5. 25 Paul Schwers, Rezension, in: AMZ, 48. Jg. Heft 45 (4. 11. 1921), S. 795. 26 Adolf Diesterweg, Rezension, in: AMZ, 48. Jg. Heft 1 (7. 1. 1921), S. 8. 27 Heinz Pringsheim, Rezension, in: AMZ, 48. Jg. Heft 5 (4. 2. 1921), S. 69. 24

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Klaviervirtuose großen alten Stils, Techniker von schier unbegrenzten Möglichkeiten, Anschlagsmeister von reichster Nüancierungsfähigkeit – das ist Alexander Siloti. Aber: wo ist hier die Seele, wo die Persönlichkeit? Und vertragen wir es noch bei Schubert, Chopin, Liszt, wenn technischer Brillanz zu Liebe die musikalische Struktur geopfert, der Rhythmus verwischt und verwässert wird? […] Am vorteilhaftesten gab sich Siloti ohne Zweifel im letzten Teil des Abends, wo er kleinere Stücke von Rachmaninoff, Liadoff, Glasunoff u. a. äusserst fein geschliffen und mit größter Delikatesse zum Vortrag brachte.28 Leo Sirota setzte sich an seinem ersten Klavierabend u. a. für Tschaikowskys Klaviersonate in G-dur ein. Wir begegnen dem Werk nicht ohne Grund nur selten im Konzertsaal. Es wirkt in seiner ziemlich skrupellosen Mischung von Draufgängertum und poetischen, feinempfundenen, durch Schumannsche Vorbilder inspirierten Zügen einigermaßen zwiespältig.29 Es ergab sich, daß die Musik dieser Meister [Schumann und Chopin] der Gefühlswelt des Pianisten [Izidor Achron] fernliegt. […] Wir empfinden das anders. Mehr zu Hause fühlte sich Achrons virtuoses Können in den Werken seiner Heimat […].30 Diese Musik [Igorʼ Stravinskijs Sacre du printemps] ist im Grunde krasse Unkultur, sie hört da auf, wo die Kunst im eigentlichen Sinne für uns armselige, durch Bach, Mozart, Beethoven, Wagner, Brahms, Bruckner, Strauß und meinetwegen auch Mahler hindurchgegangene Mitteleuropäer erst beginnt: sie ist ein Kunstprodukt für Kalmücken und Kirgisen. […] Aber rein technisch genommen, hat sie ihre interessanten Seiten, sie gibt dem Musiker rhythmische Anregungen. Ein wahrer Künstler wird aus diesen Anregungen Nutzen ziehen können.31

Interessant ist allerdings, dass sich die Rezensenten der AMZ in der Regel zu bestimmten Elementen der russischen Musik bekennen. Fast alle bewundern Modest Musorgskij, und zwar als Repräsentanten des Typus ‚ungeschliffenes Originalgenie‘. Ebenso spricht aus einigen Rezensionen offenkundige Begeisterung für die russische Volksmusik, die in jenen Jahren häufig zu hören war, u. a. durch die Darbietungen verschiedener Chöre. Russische Musik war für die AMZ–Kritik festgelegt auf das Idealbild einer ungestümen, als ‚natürlich‘ und ‚rassig‘ empfundenen Urwüchsigkeit; und wenn die Interpretation der russischen Musiker oder auch die jeweilige russische Komposition von diesem Stereotyp abwich, war der Rezensent verstimmt. Drei Beispiele:

Heinz Pringsheim, Rezension, in: AMZ, 48. Jg. Heft 44 (28. 10. 1921), S. 779. Adolf Diesterweg, Rezension, in: AMZ, 48. Jg. Heft 46 (11. 11. 1921), S. 818. 30 Adolf Diesterweg, Rezension, in: AMZ, 49. Jg. Heft 47 (24. 11. 1922), S. 871. 31 Paul Schwers, „Internationale Musik“, in: AMZ, 49. Jg. Heft 48 (1. 12. 1922), S. 884f., hier S. 885. 28 29

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Stefan Weiss Mussorgskis Prachtstück „Hopak“ wurde von der stimmbegabten, aber kühlen Solistin Ada Poliakowa zwar in einem „Tempo rubato“, das sogar einen [Klavierbegleiter wie] Michael Raucheisen stutzig machte, aber durchaus nicht rassig, wie es diesem Lied entspricht, gesungen.32 Von den russischen Kompositionen befremdeten zwei Lieder Rachmaninoffs durch eine den Effekt skrupellos suchende Aeußerlichkeit, die man in solchem Grade dem Urheber des rassigen c-moll-Klavierkonzerts nicht zugetraut hätte.33 […] das nationale Element tritt bei ihm [dem Komponisten Aleksandr Glazunov] nur akzidentiell in Erscheinung; als zartbesaiteter Künstler von verfeinertem Kulturgefühl geht er elementaren Ausbrüchen nationaler Leidenschaftlichkeit, rhythmischer und dynamischer Fessellosigkeit aus dem Wege. Das sichert seinem Schaffen einerseits höhere ästhetische Werte, nimmt ihm aber dafür viel von der bodenständigen Kraft, der spezifisch russischen Farbe anderer kräftiger zupackender, wenn auch wahlloser arbeitender Tonsetzer des benachbarten Ostens.34

Russische Musik als Teil des kulturellen Lebens der ‚russischen Kolonie‘ hatte in der Berliner deutschsprachigen Musikkritik um 1921/1922 also den Rang eines exotischen Phänomens, das die Sinne im besten Fall auf eine ungewohnte, angenehme Art zu reizen imstande war; eine künstlerische Gleichberechtigung mit der deutschen Musik aber erwartete man weder, noch sah man Anzeichen für eine dahin gehende Entwicklung. Das sprunghafte Anwachsen russischer Musikveranstaltungen gab daher auch den deutschnationalen Kritikern nicht etwa Anlass, vor einer ‚Überfremdung‘ des Berliner Musiklebens zu warnen – wie es kurze Zeit später angesichts des Siegeszugs des Jazz geschah –, vielmehr standen sie dem Phänomen in einer Mischung aus Herablassung und Gleichgültigkeit gegenüber: Das Fazit, diese Art Musik habe ‚uns Deutschen‘ wenig oder nichts zu sagen, begegnet in seinen Varianten ein ums andere Mal. Den Möglichkeiten der Emigranten, sich in das Musikleben der Hauptstadt einzubringen, waren damit Grenzen gesetzt, die aus der Mentalität des deutschsprachigen Berliner Musikpublikums herrührten – dies natürlich unter der Voraussetzung, dass man die Kritiker der AMZ als repräsentativ für diese Kategorie begreift. Und Nikolaj Nabokovs so optimistische Einschätzung aus dem Berlin des Jahres 1923 über die Durchdringung der deutschen Musik durch die russische? Ludwig Misch, Rezension eines Konzerts des Philharmonischen Orchesters unter Leitung von Arthur Nikisch, in: AMZ, 48. Jg. Heft 51 (16. 12. 1921), S. 935. 33 Adolf Diesterweg, Rezension eines Konzerts des Dirigenten Ewald Ernst Gebert mit „moderner russischer Musik“, in: AMZ, 49. Jg. Heft 18 (5. 5. 1922), S. 381. 34 Paul Schwers, Rezension eine Glazunov-Porträtkonzerts, in: AMZ, 49. Jg. Heft 13 (31. 3. 1922), S. 249f. 32

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Nabokov, der noch im selben Jahr von Berlin nach Paris umzog und große Teile seines Lebens dort und in den USA – als Nicolas Nabokov – verbrachte, sollte seine Meinung später drastisch revidieren. So heißt es in seinen Erinnerungen 1962: Berlin war damals […] die Hochburg der russischen Emigration […] – die erste und wichtigste Station der russischen Diaspora; Paris übernahm einige Jahre später die Rolle der zweiten Station, aber es hat niemals den Glanz des „russischen Berlins“ erreicht. […] Und doch drang die russische Borschtsch, die so reichlich über Berlin ausgeschüttet wurde, nicht sehr tief in seine Fugen ein. […] Die Berliner gingen, einigermaßen verwundert, zu Anfang keineswegs unfreundlich und zum Teil recht hilfsbereit, über die östliche Invasion zur Tagesordnung über; sie hatten mit ihren eigenen Schwierigkeiten, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch und der galoppierenden Inflation, genug zu tun. […] so seltsam es auch scheinen mag, nur wenige russische Schriftsteller, Dichter oder Musiker hatten eine Beziehung zum kulturellen Leben Deutschlands. […] Die wechselseitige Durchdringung der russischen und deutschen künstlerischen Milieus war jedenfalls sehr unvollkommen, und beide Welten lebten ihr Leben für sich.35

Nabokovs anfängliche Fehleinschätzung mag darin begründet gewesen sein, dass wohl auch er selbst damals über die Berliner Emigrantenkreise nicht wesentlich hinausgelangte und wenig Gelegenheit hatte, das deutsche Desinteresse an dem ganzen Treiben wahrzunehmen. Bedenkenswert sind aber die tieferen Gründe für dieses Desinteresse, die Nabokov 1962 vermutet: Das lag meiner Meinung nach nur zum Teil an der echt emigrantischen Beschränkung auf sich selbst und die eigenen Probleme. Auf der deutschen Seite beruhte es vor allem darauf, daß die russischen Emigranten in den Augen der deutschen Intellektuellen als Männer eines „verlorenen Stammes“ galten, als ein für allemal mit der prärevolutionären, zaristischen Epoche identifiziert und deshalb gar nicht typisch für das wahre Rußland.36

Zum wahren Russland war, Nabokov zufolge, für die deutschen Intellektuellen das neue Russland mutiert, die Sowjetunion, und zwar bereits wenige Jahre nach der Oktoberrevolution. Das Bild, das man sich in diesen Kreisen von Sowjetrussland machte, hatte dem Bild des alten Russland, wie es die Emigranten in Deutschland repräsentierten, den Rang abgelaufen. Diese besondere Situation der Nicolas Nabokov, „Der Mensch, der andere liebte. In memoriam Harry Kessler“, in: Der Monat, 15. Jg. Heft 170 (November 1962), S. 41–56, hier S. 52f. Der Passus findet sich auch in Nabokovs Autobiographie; vgl. Nicolas Nabokov, Zwei rechte Schuhe im Gepäck (wie Anm. 8), S. 138–140. 36 Nabokov, „Der Mensch, der andere liebte“ (wie Anm. 35), S. 52. 35

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russischen Emigration erschwert auch einen Vergleich mit der späteren deutschen Emigration: Wenn es seit langem als ausgemacht gilt, dass der bewahrenswerte und fortschrittliche Teil der deutschen Kultur zwischen 1933 und 1945 im Ausland produziert wurde, so ist das für die russische Kultur der 1920er Jahre so eindeutig nicht. Den beiden emigrierten ‚Leuchttürmen‘ Stravinskij und Prokofʼev zum Trotz war avancierte Kunst ein kulturelles Paradepferd der jungen Sowjetunion, und entsprechend sollten die künstlerisch progressiven Berliner Zeitgenossen dem sowjetischen Musikleben bald stärkeres Interesse entgegenbringen als dem der russischen Emigranten. Das neue Russland als ferne Geliebte Ein Interesse für sowjetische Musik zu befriedigen waren die Akteure des ‚Russischen Berlin‘ freilich weder willens noch fähig; einige von ihnen witterten in dieser scheinbaren Begeisterung gar eine modische Attitüde der Deutschen. Nabokov etwa sprach an einer anderen Stelle des eben zitierten Textes abschätzig von „Salonbolschewiken“,37 und ein anderer Emigrant, der Musikkritiker Leonid Sabaneev, konstatiert mit Blick auf die westliche Sicht der 1920er Jahre: „alles ‚Sowjetische‘ fiel ohnehin in den Bereich eines gewissen snobistischen Interesses“. 38 Gemeint ist in beiden Fällen, dass sich westliche Intellektuelle in den zwanziger Jahren darin gefielen, mit der sowjetischen Kultur zu sympathisieren, um sich damit eine progressive Aura zu verleihen. Das ist eine verbreitete, aber letztlich wohl zu einseitige Sicht auf die damalige westliche Faszination am Sowjetischen. Zwar trifft es zu, dass kaum einer der damaligen deutschen Sowjetenthusiasten so weit gegangen wäre, tatsächlich die Koffer zu packen und vor Ort den Aufbau des Sozialismus zu unterstützen. Echtes Interesse an den Entwicklungen in der Sowjetunion sollte man jedoch niemandem ohne weiteres absprechen. Darüber hinaus wird in so manchen damals entstandenen Texten deutlich, dass die positiven Bewertungen der sowjetischen Kultur von einem Unbehagen an den Verhältnissen im eigenen Land motiviert waren. Das Musikleben machte darin keine Ausnahme. Wenn es den Autoren der AMZ aufgrund von Überheblichkeit und Nationalstolz an der nötigen Unvoreingenommenheit zur Würdigung der Musikkultur der russischen Emigranten mangelte, so gab es zur selben Zeit auch Autoren, die in einer anderen – der sowjetischen – Form des russischen MuEbd., S. 51. Zit. nach Olesja Bobrik, Venskoe izdatel’stvo ‚Universal Edition‘ i muzykanty iz sovetskoj Rossii [Der Wiener Verlag ‚Universal-Edition‘ und die Musiker aus Sowjetrussland], St. Petersburg: Izdatelʼstvo imeni N. I. Novikova, 2011, S. 61. 37 38

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siklebens geradezu ein Vorbild und ein Modell sahen, dem die deutsche Musikkultur nur zu folgen brauchte, um ihre gravierenden Probleme zu überwinden. Auch in diesem zweiten Abschnitt konzentriere ich mich im Wesentlichen auf ein einziges Periodikum, in diesem Fall die Zeitschrift Das neue Rußland, die zwischen 1923 und 1932 in Berlin erschien.39 Zweifellos handelte es sich bei dem Blatt um ein Instrument der sowjetischen Auslandspropaganda, da es inhaltlich und finanziell stark von der staatlichen sowjetischen Vsesojuznoe obščestvo kulʼturnoj svjazi s zagranicej (VOKS, Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland) beeinflusst wurde.40 Als Herausgeberin fungierte jedoch die in Berlin angesiedelte Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland, ein Kreis, zu dessen Mitgliedern eine illustre Schar von Intellektuellen von Thomas Mann bis Albert Einstein gehörte. Auch Musiker sind als Mitglieder der Gesellschaft belegt, wie die Dirigenten Gustav Brecher und Otto Klemperer, der Geiger Adolf Busch, der Musikreferent im Preußischen Kulturministerium Leo Kestenberg und der damalige Intendant der Berliner Staatsoper, Max von Schillings. Nicht alle würde man aus heutiger Perspektive als glühende Sozialisten bezeichnen, aber ebensowenig waren sie alle ‚Salonbolschewiken‘. Die zahlreichen musikbezogenen Texte deutschsprachiger Autoren, die in Das Neue Rußland erschienen,41 lassen sich mehrheitlich als Versuche lesen, die neuen Entwicklungen für die Leser der Zeitschrift zu interpretieren: Als Erfahrungsberichte – oft auf der Basis eigener Reisen – tragen die Texte den Charakter ernsthafter Auseinandersetzungen, den man von den Sabaneevschen ‚Snobs‘ zunächst einmal nicht erwarten würde. Zweifellos ist der Blickwinkel in den meisten Fällen voreingenommen positiv. So fällt das Bemühen auf, bereits bestehende negative ‚Zerrbilder‘ der Sowjetunion zu korrigieren, die – wie im folgenden Text des Berliner Politikwissenschaftlers Adolf Grabowsky von 1924 – den Akteuren der russischen Emigration zugeschrieben werden:

Die vier Doppelhefte des Jahres 1924 wurden später rückwirkend zum 1. Jahrgang erklärt, doch hatte die Gesellschaft bereits im November 1923 ein Heft namens Das neue Rußland herausgebracht. Dabei handelte es sich um Heft 8 des ersten (und einzigen) Jahrgangs der Vorgängerzeitschrift Neue Kultur-Korrespondenz. Vgl. Rolf Elias, Die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland. Mit vollständigem Inhaltsverzeichnis aller Jahrgänge der Zeitschrift „Das neue Rußland“ 1923–1932, Köln: Pahl-Rugenstein, 1985. 40 Siehe dazu ausführlich den Beitrag von Friedrich Geiger im vorliegenden Band. 41 Übersetzungen aus dem Russischen und namentlich nicht gezeichnete Beiträge in Das neue Rußland, von denen angenommen werden muss, dass sie direkt von VOKS lanciert wurden, werden im Folgenden nicht oder nur in besonders gekennzeichneten Fällen in die Argumentation einbezogen. 39

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Stefan Weiss Kehrt man von Sowjetrußland heim, so wird man mit Vorliebe gefragt: Was ist denn nun eigentlich das Stärkste, das Sie erlebt haben? Was ist das Zwingende, das Größte am roten Rußland? Die so fragen, machen schon eine Voraussetzung zugunsten Rußlands: daß nämlich drüben nicht alles negativ ist, daß etwas da ist, irgend etwas, daß Sowjetrußland im Positiven vom übrigen Europa unterscheidet. Diese Leute denken also erheblich anders als die russischen Emigranten, die schon wütend sind, wenn ein gutes Haar an Sowjetrußland gelassen wird.42

Auch wenn sie hier sehr holzschnitthaft wirkt, umreißt diese Diagnose das Konkurrieren zweier gleichzeitig bestehender russischer Kulturen. Das alte und das neue Russland warben gleichzeitig um die Sympathie der Deutschen, und sie taten es – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – auch auf dem Gebiet der Musik, und auch in Berlin. Im Ganzen reflektiert die Musikberichterstattung der Zeitschrift – wie auch die Zeitschrift selbst – den „sowjetischen Mythos“, wie ihn die Historikerin Ljudmila Štern beschrieben hat.43 Sowjetische Kultur erscheint hier als geprägt von Aktivität, Fortschritt und Experiment ‒ von Kernbegriffen der Moderne also. Die Worte des mehrfach in der Sowjetunion gastierenden Dirigenten Heinz Unger, der 1932 in Das neue Rußland spekuliert, „ob diese Entwicklung ein Sonderfall ist oder ob sie die Entwicklung der ganzen Welt sein wird“,44 machen das Faszinosum deutlich: In Berlin und anderswo bedeutete der Blick auf die Sowjetunion nicht nur die Beobachtung einer weit entfernten und nur dort wirksamen lokalen Erneuerung, sondern es verband sich mit ihr die Erwartung globaler Folgen. Aus diesen vermuteten Ausstrahlungen leitet sich ein nicht zu unterschätzender Anreiz für das Interesse der deutschen Intellektuellen am Sowjetischen her: Die dortigen Entwicklungen boten sich als eine mögliche Antwort auf die Probleme im Heimatland an, unter denen auch Probleme der Musik und des Musiklebens waren. Insofern dient der positive Blick auf sowjetische Musik in manchen Texten deutschsprachiger Autoren des Neuen Rußland einem auf die eigene Musikkultur bezogenen Ziel und verleiht einer negativ ausfallenden Analyse dieser eigenen Kultur Glaubwürdigkeit und Gewicht. Besonders deutlich wird dies, wenn deutsche Autoren das sowjetische Musikpublikum analysieren, etwa in dem Aufsatz „Publikum in Russland“ von 1924. Sein Verfasser, der Berliner Architekt Adolf Behne, hatte Sowjetrussland 1923 42 Adolf Grabowsky, „Das russische Erlebnis“, in: Das neue Rußland [im folgenden DNR], [1. Jg.] Heft 5–6 (September–Oktober 1924), S. 1–4. 43 Vgl. Ludmila Stern, Western Intellectuals and the Soviet Union, 1920–40: From Red Square to the Left Bank, London: Routledge, 2007 (= BASEES/Routledge Series on Russian and East European Studies, 31), Kapitel 1 („The Soviet myth and Western intellectuals“), S. 11ff. 44 Heinz Unger, „Musikalische Eindrücke aus Sowjetrußland“, in: DNR, 9. Jg. Heft 1–2 (1932), S. 65–67, hier S. 65.

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besucht und offenbar das Musik- und Theaterleben intensiv beobachtet. Der Aufsatz ist eine Eulogie des russischen Publikums, zugleich und vor allem aber auch eine Schelte des deutschen, denn ungeachtet der Überschrift gilt mehr als die Hälfte des Textes dem Publikum in Deutschland, das der Autor als konventionsgeleitet, innerlich unbeteiligt und in seinen Reaktionen absolut vorhersehbar beschreibt. In Russland dagegen, so Behne, herrsche eine „intensive Spannung zwischen Bühne und Parkett“, sei „die Äußerung des Publikums [immer] spontan, echt, unkonventionell, leidenschaftlich“, der Beifall „unberechenbar“. Starwesen sei unbekannt, das Publikum interessiere sich nicht für die Namen der Ausführenden, sondern nur für das Werk. „Es gibt wohl kein Land“, so schließt der Text, „in dem Kunst in höherem Maße eine Lebensnotwendigkeit darstellt, als in Rußland.“45 Verlockender kann man ein Versprechen für die Künstler kaum formulieren. Diese Besonderheiten des Publikums bestätigen in den folgenden Jahren zahlreiche deutsche und österreichische Musiker, die in der Zeitschrift Das neue Rußland von ihren Konzertreisen in die Sowjetunion berichten. An den Beschreibungen des Publikums sind drei Elemente dadurch auffällig, dass sie fast leitmotivisch in mehreren Texten wiederkehren: sein Musikhunger (1), seine Begeisterungsfähigkeit (2) und seine soziale Zusammensetzung (3). Alle drei Aspekte seien im Folgenden durch entsprechende Quellentexte belegt und diskutiert.46 (1) Eine auffällige Gemeinsamkeit vieler dieser Texte ist zunächst die Diagnose eines veritablen Musikhungers, der in der Sowjetunion regelmäßig zu (fast) ausverkauften Veranstaltungen führe. So beginnt der Krefelder Generalmusikdirektor Rudolf Siegel seine Ausführungen zum Leningrader Musikleben des Jahres 1929 mit der Erinnerung an das erste von ihm besuchte Konzert, ein von Fritz Stiedry dirigiertes Brahms-Beethoven-Programm: „Wir betreten einen großen, etwa 2000 Personen fassenden Saal. Es ist der frühere Adelssaal. Der Saal ist gefüllt mit einer erwartungsvollen Menge, kaum ein Platz ist unbesetzt.“47 „Das Bedürfnis nach guter Musik ist groß und allgemein“, hatte bereits 1925 der Kölner Generalmusikdirektor Hermann Abendroth bemerkt. Sinfonische Kunst und Theater – so wird es einem wieder und wieder gesagt – seien die einzigen Ablenkungen und Erholungsmomente gegenüber dem Druck der Zeit, der Adolf Behne, „Publikum in Rußland“, in: DNR, [1. Jg.] Heft 1–2 (Mai–Juni 1924), S. 26f. Ausführlich dazu vom Verfasser, „Überhöht und unterworfen: das sowjetische Musikpublikum“, in: Hochkultur für das Volk? Literatur, Kunst und Musik in der Sowjetunion aus kulturgeschichtlicher Perspektive, hrsg. von Igor Narskij (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 97), Berlin: de Gruyter, 2018, S. 237–252. 47 Rudolf Siegel, „Als Musiker in Leningrad“, in: DNR, 7. Jg. Heft 1–2 (1930), S. 55f., hier S. 55. 45 46

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Stefan Weiss Not und Sorge des Lebens. So drängt sich alles zu den Kunsttempeln, und die Säle sind fast allabendlich überfüllt.48

In der Wahrnehmung des Generalmusikdirektors der Frankfurter Oper, Hans Wilhelm Steinberg, der im Herbst 1931 in Leningrad und Moskau Konzerte gab, versuchten die „verteilenden Regierungsstellen, der ungeheuren Nachfrage oder vielmehr dem starken aus dem Volkstum kommenden Bedürfnis nach Musik und Theater Herr zu werden und alle Kreise der Bevölkerung mit Musik zu versorgen.“49 Abendroth nimmt zwar die Einschränkung vor, dass – bezogen auf das Konzertleben – diese Diagnose eigentlich nur für Leningrad gelte, während in Moskau Theater und Musiktheater besondere Anziehungskraft ausüben. Demgegenüber nimmt der Pianist Egon Petri aber auch für das Moskauer Konzertleben den erwähnten Musikhunger in Anspruch: „Die Konzerte des Persimfans,50 die regelmäßig jede Woche stattfinden, sind so überfüllt – von einem zahlenden Publikum –, daß jedes Programm zweimal obligatorisch, bisweilen sogar dreimal wiederholt werden muß“. In einer Parenthese fügt Petri bezeichnenderweise hinzu: „im Gegensatz zu den deutschen Veranstaltungen, die kaum eine Generalprobe vertragen“.51 (2) Das sowjetische Publikum ist jedoch keine bloß aufgrund ihrer Quantität auffallende Größe, sondern hat einen eigentümlichen, von westlichen Auditorien deutlich abweichenden Charakter – darin stimmen jedenfalls die deutschsprachigen Musiker überein, die für Das neue Rußland schreiben. So hebt Felix Weingartner, der Chefdirigent der Wiener Philharmoniker, im Jahr 1926 „das lebhafte und während der Aufführungen doch atemlos lauschende Publikum“ hervor. 52 Diesen scheinbaren Gegensatz beleuchtet Abendroth näher, der bemerkt, dass sich zwischen Podium und Saal ein warmer, inniger Kontakt herstellt. Kleine äußere Zeichen hierfür: Totenstille zwischen den Sätzen einer Sinfonie, sofortiges Niederzischen einer noch so leisen Geräuschstörung. Mit elementarer Gewalt aber braust am Ende der Beifall auf. In den tosenden Lärm des Klatschens und Trampelns mischen sich die „bis“-Rufe, die, hört man sie zum erstenmal, etwas Betäubendes und UeberO. Verf. [Hermann Abendroth], „Eine Konzertreise in Räterußland“, in: DNR, 2. Jg. Heft 3–4 (1925), S. 46–49, hier S. 47. 49 Hans Steinberg, „Als Dirigent in Moskau und Leningrad“, in: DNR, 9. Jg. Heft 3–4 (1932), S. 73f., hier S. 73. 50 Zum dirigentenlosen Orchester Persimfans siehe weiter unten. 51 Egon Petri, „Meine 71 Konzerte in Russland“, in: DNR, 4. Jg. Heft 5–6 (1927), S. 66f., hier S. 66. 52 Felix Weingartner, „Ausflug nach Sowjetrußland“, in: DNR, 3. Jg. Heft 7–8 (1926), S. 28f., hier S. 28. 48

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wältigendes haben. Und schier unermüdlich ist die Begeisterung. Erst das völlige Erlöschen der Beleuchtung zwingt die letzten Nimmersatten zur Heimkehr. 53

Auch Siegel berichtet, dass das russische Publikum „mit gespanntester Aufmerksamkeit“ zuhöre, „in großer Andacht, zum Teil völlig der Musik hingegeben dasitzt“, und dass am Ende der Konzerte „Tosender Beifall […] immer aufs Neue losbricht“.54 Dass man derlei von den deutschen Auditorien nicht gewohnt war, zeigt die Suche nach Superlativen: „Das russische Publikum ist das begeistertste, das es gibt“, soll der damalige Wiesbadener Generalmusikdirektor Otto Klemperer 1925 behauptet haben, „und das Zusammenarbeiten von Künstlern und Publikum ist glänzend“; von „der Aufnahme seiner Konzerte“ sei er „immer wieder freudig überrascht, von dem guten Willen und von der Glut und Begeisterung des Publikums immer wieder erstaunt und erschüttert“ gewesen.55 Als „nur in Rußland möglich“ bezeichnete sein Berliner Kollege Bruno Walter zwei Jahre später die „Wärme und die Offenherzigkeit“ seines Empfangs durch das Publikum, seiner Ansicht nach ein Beleg für „die Liebe und das innere Verhältnis zur Kunst“.56 (3) In vielen Texten wird deutlich, dass die deutschen Musiker die Rezeptivität des sowjetischen Musikpublikums nicht als natürliche Fortsetzung der Verhältnisse im alten, zaristischen Russland sehen. Vielmehr schreiben sie die besondere Begeisterungsfähigkeit der Tatsache zu, dass sich das neue Publikum zum Großteil aus der Arbeiterklasse – und nicht mehr dem gehobenen Bürgertum – rekrutiert. Auch wenn er es nicht explizit als Besonderheit hervorhebt, sondern nur nüchtern davon berichtet, war Siegel es zweifellos von zuhause nicht gewohnt, dass sein „Publikum […] wenigstens den Gesichtern nach allen Bevölkerungsschichten anzugehören“ schien.57 Weingartner interpretiert die Zusammensetzung des Publikums ebenfalls über Gesichtszüge, zusätzlich auch über die Kleidung: „Die vielen intelligenten Physiognomien fallen auf. Man sieht zahlreiche Arbeiterblusen. Wer im europäischen Sinne elegant gekleidet ist, verrät sich als Ausländer und wird mitunter mit musternden, aber durchaus gutmütigen Blicken gestreift.“ 58 Abendroths Beschreibung des äußeren Erscheinungsbilds seines Publikums geht noch einen Schritt weiter, indem sie die Arbeiterschaft

O. Verf. [Abendroth], „Eine Konzertreise in Räterußland“ (wie Anm. 48), S. 47. Siegel, „Als Musiker in Leningrad“ (wie Anm. 47), S. 55. 55 O. Verf., „Gespräch mit Klemperer“, in: DNR, 2. Jg. Heft 7–8 (1925), S. 35f., hier S. 36. 56 Bruno Walter, „Musik in Sowjetrußland“, in: DNR, 4. Jg. Heft 3–4 (1927), S. 51f., hier S. 52. 57 Siegel, „Als Musiker in Leningrad“ (wie Anm. 47), S. 55. 58 Weingartner, „Ausflug nach Sowjetrußland“ (wie Anm. 52), S. 28f. (Hervorhebung im Original gesperrt). 53 54

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über ihre Kleidung als die ton- und farbangebende Mehrheit im Konzertsaal benennt: Schlichte dunkle Farben geben den Grundton, der Arbeitskittel, die schwarze Bluse herrschen vor. Ein großer Teil der Männer in Räterußland trägt den Tolstoikittel, zumeist mit hohen Stiefeln – wohl oft mehr aus Sparsamkeitsgründen als aus politischer Überzeugung. Die Frauenwelt verzichtet auf alles Schmückende, selbst helle Farben scheinen vermieden zu werden. So erhält jede Menschenansammlung einen ernsten, fast düstern Grundton, der zunächst etwas belastend wirkt.59

Gerade dieses Publikum aber, so Abendroth, ermögliche jenen ‚warmen, innigen Kontakt‘ mit dem Podium, den er mit den oben unter (2) mitgeteilten Worten beschrieb. Steinberg schließlich, der in Leningrad auch Arbeiterkonzerte dirigierte, erwähnt explizit, dass er „selten ein aufnahmefähigeres und beifallfreudigeres Publikum“ vorfand als dasjenige, vor dem er in einem Leningrader Arbeiterklub auftrat.60 Zu erwähnen bleibt, dass die Überhöhung des sowjetischen Musikpublikums und seine explizite oder implizite Gegenüberstellung mit dem als degeneriert empfundenen deutschen in jenen Jahren nicht nur auf den Seiten des parteiischen Neuen Rußland stattfand. Der als Dirigent seiner eigenen Oper Der ferne Klang 1925 nach Leningrad eingeladene Berliner Komponist Franz Schreker etwa nutzte nach seiner Reise das eher konservative Fachblatt Die Musik, um begeistert über das sowjetische Opernpublikum zu berichten und damit gleichzeitig das heimatliche zu kritisieren: Das Theater wird in Rußland als solches empfunden und genommen, und gerade das naive, unblasierte Publikum, das dort zum größten Teil die Kunststätten füllt […], erlebt es mit im wahren Sinne des Wortes – welche Wohltat! Dies Erleben des Kunstwerks fiel mir auch auf, da ich einmal Sonntags die Eremitage […] besuchte. In jedem Saal kleine Gruppen einfacher Menschen in ärmlichen Kleidern, geführt von jungen, sehr intelligent aussehenden Leuten, die jedes Bild, jede Skulptur unter Hinweis auf deren Schöpfer und die Zeit ihrer Entstehung erklären. Man beobachte einmal den gespannten Ausdruck in den Gesichtern der Empfangenden und vergleiche ihn mit dem kritisch-albernen Getue des „kunstverständigen“ Snobs hierzulande und überhaupt in Mittel- und Westeuropa.61

Indes ist das Interesse deutschsprachiger Autoren am sowjetischen Publikum nur eine Facette der allgemeinen Tendenz, die besondere Qualität der SoO. Verf. [Abendroth], „Eine Konzertreise in Räterußland“ (wie Anm. 48), S. 47. Steinberg, „Als Dirigent in Moskau und Leningrad“ (wie Anm. 49), S. 73. 61 Franz Schreker, „Kunst und Volk im Neuen Russland“, in: Die Musik, 18. Jg. Heft 4 (Januar 1926), S. 281–284, hier S. 282f. (originale Hervorhebung). 59 60

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wjetunion vor allem in der Kollektivleistung zu sehen. Die gesamte Musikberichterstattung des Neuen Rußland umfasst nicht einen einzigen Aufsatz über einen individuellen russischen oder sowjetischen Komponisten. Als qualitätsbestimmend für die sowjetische Musik heben besonders diejenigen Texte, die aus dem Russischen übersetzt wurden, vielmehr die neuen Strukturen und Institutionen der Musikkultur hervor: Angeführt werden etwa die Neuordnung der Musikwissenschaft,62 die Reform des Musikverlagswesens63 oder ganz allgemein und umfassend die Veränderungen des Musiklebens.64 Auch die reisenden Musiker aus Berlin beteiligten sich daran, etwa der Komponist Wladimir Vogel, der 1931 die sowjetischen Reformen des Opernwesens und der Opernausbildung würdigte,65 oder der Dirigent Heinz Unger, der 1932 dasselbe für das Konzertwesen unternahm.66 In gewissem Sinne spricht sich schon darin – wie in der Überhöhung des Publikums – die positive Bewertung der Überwindung des Individualistischen zugunsten des Kollektiven aus, die sich in den spezielleren Beobachtungen fortschreibt. Eine der faszinierendsten Erscheinungen in dieser Hinsicht war für die deutschen Beobachter das dirigentenlose Moskauer Orchester Persimfans (Pervyj simfoničeskij ansamblʼ, Erstes Symphonisches Ensemble). Neben allgemeinen Beschreibungen, die möglicherweise direkt von der sowjetischen VOKS übernommen wurden, 67 enthält Das neue Rußland auch Beobachtungen deutscher Musiker im Rahmen ihrer bereits zitierten Reiseberichte. Neben Abendroth, der allerdings das Orchester im Rahmen seiner ersten Konzertreise im Januar 1925 nicht selbst gehört hatte und sich daher auf Gewährsleute stützen musste,68 sind vor allem die Berichte Klemperers und Petris aufschlussreich. Klemperers aus einem Interview stammende Reaktion von 1925 wird von dem unwillkürlich anmutenden Ausruf „Großartig!“ eingeleitet: „Tschaikowskys ‚Pathétique‘ fand die vollendetste Wiedergabe, die ich je gehört habe. Wenn das so weiter geht, werden

Vgl. o. Verf., „‚Hymnus‘ – Staatliches Institut für musikalische Wissenschaften“, in: DNR, [1. Jg.] Heft 1–2 (Mai–Juni 1924), S. 27f.; o. Verf., „Musikwissenschaft in der Sowjetunion“, in: DNR, 2. Jg. Heft 9–10 (1925), S. 33f. 63 Vgl. o. Verf., „Der Musikverlag in Rußland“, in: DNR, [1. Jg.] Heft 3–4 (Juli–August 1924), S. 33. 64 Vgl. M[ichail] Iwanow-Boretzky, „Das Musikleben des Bundes der Räterepubliken“, in: DNR, [1. Jg.] Heft 5–6 (September–Oktober 1924), S. 20–26. 65 Vgl. W[ladimir] V[ogel], „Die Oper in der Sowjetunion“, in: DNR, 8. Jg. Heft 6–7 (1931), S. 85f. Zu Vogels Arbeit für die Gesellschaft der Freunde des Neuen Rußland siehe auch den Beitrag von Friedrich Geiger im vorliegenden Band. 66 Vgl. Unger, „Musikalische Eindrücke aus Sowjetrußland“ (wie Anm. 44). 67 Vgl. o. Verf., „Persymphans“, in: DNR, 2. Jg. Heft 9–10 (1925), S. 35. 68 O. Verf. [Abendroth], „Eine Konzertreise in Räterußland“ (wie Anm. 48), S. 48. 62

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wir Kapellmeister uns alle um einen anderen Beruf umsehen müssen.“ 69 Wie Abendroth betont auch Klemperer allerdings den immensen und im Musikleben mit nichts vergleichbaren Zeit- und Probenaufwand einer solchen Unternehmung, die sich damit als ein zwar ästhetisch mehr als befriedigendes, letztlich aber unrentables Projekt darstellt. Dass gerade Dirigenten dem Experiment eines dirigentenlosen Orchesters mit Skepsis begegneten, ist wohl zu erwarten; gerade deswegen aber wiegt der Enthusiasmus Klemperers besonders schwer. Übertroffen wird er von der Begeisterung des Pianisten Petri, der mit Persimfans im Jahr 1927 konzertierte und dabei für ihn völlig neue Erfahrungen machte: „Das Arbeiten mit diesem Ensemble erwies sich als durchaus zuverlässig […]. Ich persönlich hatte den größten künstlerischen Genuss […], da ich durchaus das Einssein des Solisten mit dem Orchester ohne Vermittlung des Dirigenten erstmalig gespürt habe.“70 Als Inkarnation des Kollektivgedankens in der sowjetischen Musik war Persimfans auf der Ebene der künstlerischen Interpretation ein weithin sichtbares Anzeichen für einen tiefgreifenden Unterschied zur deutschen Musikkultur: Mit dem Abschied vom Primat der genialischen Einzelpersönlichkeit schien in der Sowjetunion eine Gefahr gebannt, die dem Künstler in Deutschland drohte, nämlich Vereinzelung und Irrelevanz. Für einige der Autoren der Zeitschrift Das neue Rußland zeichnet sich die sowjetische Musikkultur entsprechend vor allem dadurch aus, dass Musik dort ihre gesellschaftliche Relevanz gewahrt oder wiedererlangt habe. In eine knapp pointierte Form bringt das ein Beitrag Hanns Eislers von 1931. Ungeachtet seiner Überschrift „Situation der Musik in der Sowjetunion“ ist der Text wiederum vor allem eine Bestandsaufnahme der Situation der Musik im eigenen Land, die diesmal in Antinomien nach dem Muster „In Deutschland: […] / In der Sowjetunion: […]“ erfolgt. Dass dabei die sowjetische Situation ebenso stark geschönt erscheint wie die deutsche Gegenseite geschwärzt, dient der rhetorischen Zuspitzung des Hauptarguments: Ganz im Gegensatz zur deutschen Situation, so Eisler, komme Musik und Musikern in der Sowjetunion eine hohe gesellschaftliche Relevanz zu. Als Beleg führt auch Eisler zunächst das deutlich höhere Publikumsinteresse an: „In Deutschland: Krise des Konzerts, Krise der Oper. / In der Sowjetunion: Musikhunger der breitesten Massen, Ueberfüllung der Konzerte, Ueberfüllung der Oper.“ Vor diesem Hintergrund postuliert Eisler eine neue, gestärkte gesellschaftliche Rolle von Musik: „In Deutschland: Musik als primitives oder raffiniertes Genuß- und Reizmittel. / In der Sowjetunion: Musik als Mithelfer am Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung.“ Zusammengenommen ergeben sich 69 70

O. Verf., „Gespräch mit Klemperer“ (wie Anm. 55), S. 36. Egon Petri, „Meine 71 Konzerte in Russland“ (wie Anm. 51), S. 66.

Eine Dreiecksbeziehung

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Implikationen für ein neues, verändertes Selbstbewusstsein der Musiker und ihres Tuns: „In Deutschland: Musik ist unwichtig, ein Musiker ist ein harmloser Narr. / In der Sowjetunion: Musik ist wichtig, der hervorragendste Abschnitt an der Kulturfront.“71 Für die Intellektuellen der Weimarer Republik war dieses Versprechen einer erhöhten gesellschaftlichen Relevanz der wahrscheinlich attraktivste Charakterzug der sowjetischen Musikkultur. Die deutschen Enthusiasten konnten sich um 1931 allerdings noch nicht ausmalen, in welchem Ausmaß – als Kehrseite einer stärkeren sozialen Rolle der Musiker – auch die Ansprüche der Musikpolitik an diese Klientel steigen würden. Und wenn Eisler es an anderer Stelle seines Textes zu den Vorzügen der sowjetischen Musikkultur rechnet, dass „Schlagermusik […] aufs Schärfste bekämpft“ und der „ausländische Schund […] nicht importiert“ werde,72 so muss man ihm wohl zugute halten, dass Gewalt gegen und Strafverfolgung von Musikern außerhalb der Möglichkeiten war, die er voraussah oder gar befürwortete. In der Tat machten dann die gesellschaftlichen Entwicklungen von den 1930er bis in die 1980er Jahre hinein – vom Großen Terror über den Hitler-Stalin-Pakt, die Ždanov-Ära, den Kalten Krieg bis zur Brežnevschen Stagnationszeit – den positiven Einschätzungen der sowjetischen Musikkultur im Westen für lange Zeit ein Ende. Die Relevanzkrise der Kultur ernster Musik im eigenen Land konnte damit jedoch kaum als beendet gelten; für die Auseinandersetzung mit ihr war durch den Renommee-Verlust ihres Widerparts, der sowjetischen Musikkultur, lediglich weiterer Aufschub bewirkt worden. Fragt man also nach deutsch-russischen Musikbegegnungen im Berlin der 1920er Jahre, so hat man es nicht mit einer bilateralen Form gegenseitiger Wahrnehmung zu tun, sondern mit einer Dreiecksbeziehung. ‚Russische Musik‘, ein bereits vor 1917 schillernder, nur unscharf umrissener Begriff, gewann mit dem neuen sowjetischen Musikleben eine Konstituente hinzu, die ihn für die Berliner Publizistik zur Moderne, ja zur Avantgarde hin öffnete, während gleichzeitig vor der eigenen Haustüre ein anderes russisches Musikleben florierte, dessen hervorstechendste positive Qualität in der Kultivierung des ‚Rassigen‘ gesehen wurde, eines ganz und gar der Moderne entgegengesetzten, atavistisch-bodenständigen Topos. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Musik der ‚russischen Kolonie‘ wurde vermutlich nicht nur durch die – echten oder in der Darstellung übertriebenen – Unzulänglichkeiten dieser Musikkultur vereitelt, sondern ebenso durch das neue Narrativ der sowjetischen Musik mit seinen verlockend utopi71 72

Hanns Eisler, „Situation der Musik in der Sowjetunion“, in: DNR, 8. Jg. Heft 6–7, S. 87. Ebd.

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schen Zügen, das den Begriff ‚russische Musik‘ zum Ende der 1920er Jahre hin mehr und mehr besetzte.73

73 Beim ersten Kapitel dieses Textes – „Das alte Russland vor der Haustür“ – handelt es sich um eine überarbeitete und erweiterte Neufassung meines Aufsatzes „Begegnung in Charlottengrad – die Berliner Musikwelt empfängt das russische Exil“, in: Osteuropa, 59. Jg. Heft 4 (April 2009), S. 61–75.

REISEN

Elena Poldiaeva

Sergej Prokofʼev und der Russische Musikverlag in Deutschland „Es war überaus interessant, das schreckliche, Kontributionen zahlende, aber stets überaus ordentliche Nachkriegsdeutschland zu sehen“, notiert Sergej Prokofʼev im Herbst 1922 in seinem Tagebuch.1 Ende Februar war der Komponist per Schiff von New York aufgebrochen und hatte nach einem kurzen Paris-Aufenthalt, wo er sich mit Sergej Kusevickij und Sergej Djagilev getroffen hatte, Station in Berlin gemacht, um nach München weiterzureisen. Damit war ein neues Kapitel seiner Biographie aufgeschlagen, das unvergleichlich heller, reicher und erfüllter hätte werden können, wenn nicht die Wirtschaftskrise Mitte der 1920er Jahre den Komponisten, wie auch die meisten anderen Mitglieder der russischen Kolonie in Deutschland, zu einem Umzug nach Paris bewegt hätte. Dessen ungeachtet ist das Kapitel ‚Prokofʼev und Deutschland‘ einer eingehenderen Betrachtung wert. Prokofʼevs Aufenthalt in Deutschland war durch teils zufällige, teils ökonomische Gründe motiviert. Das Haus in Ettal hatte er auf Vermittlung von New Yorker Bekannten gefunden. Ganz in der Nähe des berühmten Klosters gelegen, begeisterte es Prokofʼev durch seine Eleganz, seinen Komfort und den günstigen Preis: „[…] die Datscha ist geräumig, elegant eingerichtet, komfortabel, hat vortreffliche Öfen, eine Bibliothek, Porträts von Schopenhauer und Karten des Sternenhimmels.“2 Die zweistöckige Villa Christopherus mit Blick auf Felder und Berge wurde für die nächsten anderthalb Jahre zu Prokofʼevs ‚Heim‘, von wo aus er die ‚große Welt‘ zu Gastspielen und Aufführungen seiner Werke bereiste. In Ettal empfing Prokofʼev Gäste, vor allem seine künftige Ehefrau Lina Codina, aber auch die Freunde Pëtr Suvčinskij und Djagilev, an den er am 2. September 1922 schrieb:

Sergej Prokof’ev, Dnevnik [Tagebuch] 1907–1933, Paris: sprkfv, 2002, Bd. 2, S. 199 (Eintrag vom 25. Februar bis 23. November 1922). 2 Ebd., S. 200 (Eintrag vom 25. Februar bis 23. November 1922); in Prokofʼevs Nachlass hat sich der Vertrag über die Anmietung des Hauses erhalten. Der Nachlass befand sich als Serge Prokofiev Archive (im Folgenden: PA) bis 2013 im Goldsmiths College der University of London; seitdem wird er in der Rare Book and Manuscript Library der Columbia University, New York, aufbewahrt. 1

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Elena Poldiaeva Die deutsche Datscha, ausgestattet mit Heizkörpern und Kaminen, ist bis Ende April angemietet und wird mein Stabsquartier werden, unter welchen Umständen auch immer. Würde man Ihr Profil vor dem Hintergrund meiner Datscha zeichnen, würden Tulpen aus den Herzen der Ettaler sprießen. Ihnen stehen zwei Räume zur Verfügung, mit Balkon, Schreibmaschine und theosophischer Bibliothek in englischer Sprache. Falls Ettal nicht auf Ihrem Weg liegt, teilen Sie mit, welche Art von Treffen für Sie günstiger ist.3

Die Wege der Freunde lagen meist weit ab von Ettal, und auch der Komponist klagte über die schlechten Bahnverbindungen zur „großen Welt“. Mit Freunden traf er sich in den Hauptstädten, zum Beispiel im März 1922 in Berlin. Die deutsche Hauptstadt war zu dieser Zeit ein schillerndes Zentrum des russischen Musiklebens. Es gab hier russische Opernaufführungen, ein russisches Konservatorium und den – allerdings nach nur einem Heft abgebrochenen – Versuch einer russischen Musikzeitschrift, ganz zu schweigen von den zahlreichen russischen Konzerten, Gastspielen und sonstigen Unternehmungen. Während seines mehrtägigen Aufenthalts in Berlin traf sich Prokofʼev mit Suvčinskij, den Komponisten Aleksandr Glazunov und Nikolaj Metner (Medtner), dem Pianisten Boris Zacharov und der Geigerin Cecilija Ganzen (Hansen) sowie den Schriftstellern Aleksej Remizov und Andrej Belyj. Eine weitere Berlin-Reise unternahm er Anfang November 1922. „Im Laufe des Sonntag, Montag und Dienstag kommen nach Berlin: 1) Kusevickij, 2) Djagilev, 3) [Igorʼ] Stravinskij und 4) ich“, schreibt Prokofʼev am 27. Oktober 1922 an Suvčinskij.4 Im Tagebuch des Komponisten heißt es: In Berlin verbrachte ich ein paar interessante Tage. Erstens freute ich mich sehr Suvčinskij zu sehen, mit dem wir uns jeden Tag trafen. Ich machte ihn mit Djagilev bekannt, und Djagilev war sehr an seinen Meinungen und Haltungen interessiert. Djagilev war liebenswürdig und lud uns fast jeden Tag zum Abendessen ein. An den Essen nahmen auch Stravinskij, [der Dichter Vladimir] Majakovskij und [Pavel] Čeliščev (ein junger Künstler) teil. […] Berlin bot in diesen drei oder vier Tagen so viele Eindrücke, dass ich wohl gar nicht zum Ende komme. Suvčinskij las mir sein „Dviželišče“5 vor, ein Opernszenarium, konzipiert in einem nie dagewesenen, absolut modernen Stil. Sehr interessant, doch eine ganz kolossale Arbeit. Dabei habe ich noch Brief Prokofʼevs an Sergej Djagilev vom 2. September 1922, zit. nach Igorʼ Višneveckij, Sergej Prokof’ev (Žiznʼ zamečatelʼnych ljudej [Das Leben bemerkenswerter Menschen], o. Nr.), Moskau: Molodaja gvardija, 2009, S. 270f. 4 Brief ediert in V muzykalʼnom krugu russkogo zarubežʼja. Pisʼma k Petru Suvčinskomu [Musik und Musiker in der russischen Emigration. Briefe an Petr Suvčinskij], hrsg. von Elena Polʼdjaeva (Zwischen Orient und Okzident, 7; Quellen und Studien zur russischen Musikgeschichte), Berlin: Gesellschaft für Osteuropa-Förderung, 2005, S. 77. 5 Eine Wortschöpfung; Substantivierung des Verbs „sich bewegen“. 3

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nicht einmal den „[Feurigen] Engel“ zu Ende gebracht. Schließlich kehrte ich am 5. (so scheint es) November nach Ettal zurück und war nach dem Gedränge beglückt von der hiesigen Stille. Konnte wieder an die Arbeit gehen, es hatten sich Briefe angehäuft und das Schachbrett war eingestaubt.6

In der Villa lebte auch ein alter Freund Prokofʼevs, der Dichter Boris Nikolaevič Baškirov (Pseudonym: Verin), dessen Anwesenheit vor allem während Prokofʼevs Konzertreisen Not tat, weil mit ihnen im Haus auch die Mutter des Komponisten, Marija Grigorʼevna, lebte, deren Gesundheitszustand alles andere als gut war. „Wir unternahmen zu dritt mit B. N. [d. h. mit Boris Baškirov und Lina Codina] Ausflüge, gingen in die Berge und besuchten die Oberammergauer Passionenspiele [sic] (sie dauerten acht Stunden), die einigen Eindruck hinterließen.“7 In Ettal wurde am 1. Oktober 1923 die Ehe zwischen Prokofʼev und Lina Codina geschlossen. Obwohl Prokofʼev häufig Einträge seines Tagebuchs ‚zurückdatierte‘ („das Tagebuch einholte“, wie er selbst schreibt), spiegelt sich dieses Ereignis nicht in den Aufzeichnungen; der letzte Eintrag des Jahres 1923 ist vom 9. September. Doch heißt es zu den Vorbereitungen: Ich ging mit dem Oberst [einem Bekannten namens Ewald] spazieren und erhielt geheimnisvolle Erläuterungen, wie die Ehe mit Ptaška [= Lina Codina] zu schließen sei. In Amerika geht das ganz einfach, innerhalb von sieben Minuten; in Deutschland gibt es so viele Formalitäten und Verzögerungen, dass selbst sieben Wochen nicht reichen. Der Oberst war sehr liebenswürdig und versprach zur Regelung der Angelegenheit seine Beziehungen nach München spielen zu lassen.8

Im Jahre 1981, mehr als ein halbes Jahrhundert später, besuchte Lina Prokofʼeva das Haus in der Werdenfelserstr. 6 und schrieb sinngemäß in das Gästebuch, „sie sei sehr bewegt und aufgeregt, wieder in diesem Haus zu sein, wo sie mit ihrem Ehemann und seiner Mutter gelebt hat.“9 Auch die Söhne des Komponisten, Oleg und Svjatoslav, besuchten das Haus, später auch andere russische Musiker. Marina Nestʼeva nennt das Ettal gewidmete Kapitel ihres Prokofʼev-Buches „Illusion eines erworbenen Paradieses“,10 was dem damaligen Lebensgefühl Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 205, 207 (Eintrag vom 25. Februar bis 23. November 1922). 7 Ebd., S. 203 (Eintrag vom 25. Februar bis 23. November 1922). 8 Ebd., S. 227 (Eintrag vom 4. September 1923). 9 Zit. nach Ursula Jeshel, „‚Er war wie eine Quelle …‘, Sergej Prokofjew in Ettal“, in: Bayern – Land und Leute, Bayerischer Rundfunk, Sendung vom 12. Dezember 1999, 13.30–14.00 Uhr, Manuskript, S. 13. 10 Marina Nestʼeva, Sergej Prokofʼev, Tscheljabinsk: Arkaim, 2003, S. 70. 6

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des Komponisten durchaus entsprochen haben dürfte. Die Ettaler Zeit war nicht nur für sein laufendes Lebensjahrzehnt, sondern für die ganze Biographie des Komponisten von großer Bedeutung. Dank konzentrierter und effizienter Arbeitsweise war der Komponist schöpferisch fruchtbar wie nur selten sonst. Prokofʼev brauchte Ruhe und Absonderung, um seine Manuskripte zu ordnen, Angefangenes fertigzustellen und Skizzen auszuarbeiten. In dieser Zeit bereitete er den Klavierauszug der Oper Die Liebe zu den drei Orangen vor, erstellte die Suite und den Klavierauszug zum Ballett Le chout/Skazka pro šuta, rekonstruierte das Zweite Klavierkonzert und ging an die Überarbeitung der Oper Der Spieler. Zu den in Ettal abgeschlossenen Arbeiten gehörten die zentralen Bestandteile der Oper Der Feurige Engel und der Fünften Klaviersonate. Prokofʼev besaß zeitlebens ein phänomenales Arbeitsvermögen. Er verlor niemals Zeit und konnte sich stets und überall konzentrieren: im Zug, auf dem Schiff, während eines Waldspaziergangs … In Ettal indes trat diese Eigenschaft, begünstigt durch äußere Umstände, deutlich wie niemals sonst zutage. Die schon während der Kindheit erworbene Arbeitsdisziplin wurde ihm hier zum Lebensprinzip. Vier oder fünf Stunden täglich waren der Arbeit vorbehalten – dem Komponieren oder dem Klavierspiel, weshalb er auch Zeit hatte für Spaziergänge, Schachspiel, Korrespondenzen, für Lektüren und sogar zum Versedichten. Dagegen baute er in den anderthalb Ettaler Jahren keinerlei Kontakte zur deutschen Musikwelt auf, obwohl doch zum Beispiel Richard Strauss nur wenige Kilometer entfernt in Garmisch lebte. Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der damalige Lebensrhythmus des Komponisten in hohem Maße durch den Russischen Musikverlag (Edition russe de musique, Rossijskoe muzykal’noe izdatel’stvo, im folgenden RMV) bestimmt war. Das betrifft übrigens nicht nur Prokofʼev, sondern sämtliche Komponisten des ‚russischen Auslands‘, denen es gelungen war, Sergej Kusevickij auf sich aufmerksam zu machen – den Verlagsinhaber, Kontrabassisten, Dirigenten sowie Kenner und Propagandisten der zeitgenössischen russischen Musik. Sein Verlag veröffentlichte Werke von Stravinskij, Sergej Rachmaninov, Aleksandr Grečaninov, Metner, Aleksandr Skrjabin, Sergej Taneev und vielen anderen, wobei er den Komponisten – das sei hervorgehoben – nie dagewesene Vorzugsbedingungen einräumte. Kusevickij sah eine seiner Hauptaufgaben darin, die Komponisten aus den für sie erniedrigenden Vertragsbedingungen, die andere Verlage ihnen aufgenötigt hatten, zu lösen. Sein Verlag zahlte ihnen für die damalige Zeit beispiellos großzügige Honorare. Die Mitarbeiter des Verlags kümmerten sich nicht nur um die Drucklegungen, sondern handelten auch mit Musikern und Institutionen – wie zum Beispiel Opernhäusern – Verträge aus, um die Verbreitung der Musik ‚ihrer‘ Komponisten

Sergej Prokofʼev und der Russische Musikverlag in Deutschland

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zu fördern, das heißt derjenigen, die ihre Rechte mit dem Verlag teilten. Das Zentrum der Verlagstätigkeit Kusevickijs war auf die Propagierung des Schaffens der zeitgenössischen russischen Komponisten gerichtet. Kommerzielle Interessen standen dabei oft an letzter Stelle. Hält man sich an die Beobachtungen der Sekretärin der Pariser Kusevickij-Konzerte (Koncerty S. Kusevickogo, Concerts symphoniques Koussevitzky), Ljubov’ Rybnikova, kosteten diese, ungeachtet der mangelnden Rentabilität des Kusevickij’schen Konzertbetriebs insgesamt, „ein lächerliches Kleingeld im Vergleich zum Russischen Musikverlag, in den mehrere Millionen investiert waren und dem überdies jährlich kolossale Summen zuflossen.“11 Die Aktivitäten des Verlags wurden von vornherein durch die Dirigententätigkeit Kusevickijs ergänzt, dessen Interesse primär der Orchestermusik und der Erweiterung des symphonischen Repertoires galt. Der Verlag war 1909 in Berlin gegründet worden. Sein Konzept und seine Organisation hatte Kusevickij bis ins Detail mit den Komponisten erörtert, insbesondere mit Rachmaninov. Dass man den Verlag juristisch in Deutschland registrieren ließ, geschah in der Absicht, die Rechte russischer Komponisten besser wahren zu können. Zum Zeitpunkt der Verlagsgründung konnten weder Kusevickij noch irgendeiner der Komponisten, die von Anfang an durch den Verlag vertreten wurden (geschweige denn diejenigen, die später dazu stießen), ahnen, welch wichtige Stellung dem Verlag schon in wenigen Jahren aus Sicht der russischen Emigration zufallen würde. Schon früh hatte sich Kusevickij das Ziel gesetzt, vor allem jenen jungen Komponisten zu helfen, die dieser Unterstützung in besonderer Weise bedurften. Zu den Auswahlkriterien äußerte er: „Um zum Druck angenommen zu werden, sind Talent, schöpferische Eigenständigkeit und, selbstverständlich, die absolute Beherrschung der Musik Voraussetzung.“12 Das wichtigste Verlagsorgan war der Rat des RMV, dem außer Kusevickij und Rachmaninov ursprünglich die Komponisten Skrjabin, Metner und Aleksandr Gedike (Goedicke, bis Februar 1911) angehörten sowie der Kritiker Leonid Sabaneev und der Musikwissenschaftler Aleksandr Ossovskij. Allein die Auflistung der Namen zeigt, wie schwer es den Ratsmitgliedern gefallen sein dürfte, sich zu einem einhelligen Urteil durchzuringen. Dissens war bei dieser Zusammensetzung vorprogrammiert. Zit. nach Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska 1910–1953 [Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, Briefwechsel der Jahre 1910 bis 1953], hrsg. und kommentiert von Viktor Juzefovič, Moskau: Deka-VS, 2011, S. 24. 12 Brief Sergej Kusevickijs an Aleksandr Ossovskij vom 18. August 1909, zit. nach A[leksandr] V. Ossovskij, „S. S. Rachmaninov“ (1955), in: Vospominanija o Rachmaninove [Erinnerungen an Rachmaninov], hrsg. von Zarui Apetjan, Bd. 1, vierte, erweiterte Ausgabe, Moskau: Muzyka, 1974, S. 350–394, hier S. 377. 11

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Dessen ungeachtet entwickelte sich der Verlag rasch und erfolgreich. Außer in Berlin, Moskau und St. Petersburg eröffneten Vertretungen des Verlags in Leipzig, London, Paris, Brüssel und New York. In Russland nahm der RMV Mittlerfunktionen und Vertretungen für die Verlage Breitkopf & Härtel, Simrock, Eulenburg und Schlesinger wahr. Gedruckt wurde – wie auch beim Musikverlag M. P. Belaieff (Beljaev) – in der Leipziger Notendruckerei Röder. Der Erste Weltkrieg und die russische Revolution unterbrachen die Arbeit des RMV. Als jedoch Kusevickij 1920 nach Berlin kam, fand er den Verlag wie gehabt vor, wenn auch in inaktivem Zustand. Es brauchte einige Anstrengungen und ein großes finanzielles Engagement, um das Verlagsgeschäft wieder zu beleben. Seit 1926 finanzierte sich der Verlag selbst und kam ohne private Zuwendungen Kusevickijs aus. Die Zusammenarbeit Prokofʼevs mit seinem künftigen Verlag war anfangs alles andere als einfach, hatte doch der RMV seine ersten Werke abgelehnt. Der Rat des RMV war einhellig gegen den jungen Komponisten eingestellt. Und so riskierte es der Jurgenson-Verlag als erster, Prokofʼev zu drucken. 1916 wechselte der Komponist dann zum Verlag Gutheil (Gutchejlʼ) über, „den Kusevickij aufgekauft hatte, um sich – seinen eigenen Worten zufolge – den reaktionären Tendenzen Rachmaninovs und Metners zu widersetzen, die damals in der Jury [d. h. dem Rat] des Russischen Musikverlags saßen.“13 Das Tagebuch Prokofʼevs wird diesbezüglich konkreter: Er [Aleksandr Ziloti] sagte, dass Kusevickij außerordentlich daran interessiert sei, mich zu verlegen, dass aber die mich betreffende Frage Ossovskijs in der Jurysitzung aufgrund fehlender Kenntnis meiner letzten Werke vertagt worden sei. Sollte die Jury mich ablehnen, möchte Kusevickij mich in dem von ihm aufgekauften Gutheil-Verlag herausbringen, dessen Konditionen denen des RMV entsprechen.14

Der Erste Weltkrieg rief eine Welle antideutscher Stimmungen hervor. In Moskau wurde eine ganze Reihe von Geschäften verwüstet, die Deutsche oder Österreicher zu Inhabern hatten. Unter den Geschädigten war auch die Firma von Aleksandr Bogdanovič Gutchejlʼ (1818–1882), die dieser bereits 1859 gegründet und an der Straße Kuzneckij Most aufgebaut hatte, in Nachbarschaft zum Geschäftslokal des RMV. Karl Gutchejlʼ, der Sohn des Gründers, schlug Kusevickij in dieser Situation vor, ihm seine Firma, die damals zu den bedeutendsten Musikverlagen in Russland gehörte, zu verkaufen. Kusevickij akzeptierte und zahlte einen recht hohen Kaufpreis, womit er angesichts der unwägbaren politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Russland ein hohes Risiko einging. Damit 13 14

Zit. nach einem undatierten Curriculum vitae des Komponisten; PA, Akte 40, S. 5. Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 603 (Eintrag vom 29. März 1916).

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wurde Kusevickij zum neuen Inhaber des Verlags unter Wahrung von dessen früherem Namen. In diesem Verlag erschienen Prokofʼevs Vokalwerke opp. 9, 18, 23 und 27, die Visions fugitives für Klavier op. 22 sowie die Dritte und Vierte Klaviersonate opp. 28 bzw. 29. Die Notendruckerei befand sich im Verlag Breitkopf & Härtel, Leipzig, die Verlagsleitung in Berlin, was später die Arbeit Kusevickijs in Westeuropa, nachdem er Russland verlassen hatte, beträchtlich erleichterte. Kusevickijs Rang und Bedeutung für die Musik des ‚russischen Auslands‘ sind schwer zu überschätzen. In der Geschichte der russischen musikalischen Emigration gibt es keine vergleichbar markante, wichtige und gemeinschaftsbildende Figur. Die sich nicht sogleich herausbildende Freundschaft zwischen Prokofʼev und Kusevickij währte mehr als dreißig Jahre. Es war eine echte Freundschaft, im Unterschied etwa zur langjährigen Geschäftsbeziehung zwischen Stravinskij und Kusevickij. Ihre Zusammenarbeit hatte in den 1910er Jahren begonnen, kam aber erst in den 1920er Jahren zur Blüte. Anfang 1920 war nicht ganz klar, wie sich die Geschicke des KusevickijVerlags in Europa weiterentwickeln würden. Deshalb fragte Prokofʼev Kusevickij im Brief vom 20. August 1920: „Nimmt der Russische Мusikverlag seine Tätigkeit im Ausland wieder auf wie der Beljaev-Verlag?“15 Prokofʼev, der weiterhin seine Werke unbedingt bei Kusevickij gedruckt sehen wollte, war froh über die erneuten Aktivitäten des Verlags. „Ich freue mich Sie zu sehen und mit Ihnen über Russland zu schwatzen“, schrieb Prokof’ev am 5. September 1920 an Kusevickij; überdies ist es sehr wichtig, Verlegerisches meiner Werke zu klären. Das ist derzeit mein wunder Punkt, da ich nicht bei ausländischen ‚Klitschen‘ gedruckt werden möchte, andererseits aber sind weder auf dem amerikanischen noch auf dem europäischen Markt meine Werke zu greifen, und werden wohl auch nicht dort so bald zu greifen sein, denn sämtliche Druckplatten, sowohl die von Jurgenson als auch die ihren, wurden in Russland hergestellt […].16

Kusevickij war damals gerade erst aus dem revolutionären Russland nach Paris gekommen. Die beiden trafen sich einen Monat später, im Oktober 1920, als sie gerade in Paris waren: „Wir trafen uns hocherfreut und sprachen über die Drucklegung“, notierte Prokofʼev in sein Tagebuch. „Er sagte, dass es wegen Struve, der in Kopenhagen sitze und wegen seines Visums nicht nach Paris kommen könne, zu den Verzögerungen gekommen sei. Struve kenne die technische Seite des Geschäfts, und der Verlag werde, sobald dieser in Paris sei, die Arbeit auf15 16

Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 37. Ebd. S. 42.

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nehmen“.17 Im Sommer 1921 teilte Prokofʼev Suvčinskij brieflich mit: „Der Kusevickij-Verlag hat sich zu rühren begonnen. An die Stelle des verstorbenen Struve wurde Ėberg zum Direktor bestellt, ein russischer Este und offenbar sehr beschäftigter Mann, der zwischen London, Paris und Berlin pendelt und die Sache in jeder Hinsicht vorantreibt.“18 Prokofʼev und Kusevickij trafen sich von nun an regelmäßig, bei jeder sich bietenden Gelegenheit – in Paris, London und in Amerika. Nicht alle Treffen verliefen ‚ungetrübt‘, aber das konnte auch gar nicht anders sein bei so starken Interessenverflechtungen. Kusevickij sagte in London, dass er bereit sei, meine Werke zu drucken, und das sogar in großer Anzahl, dass er aber kein Honorar zahlen könne. Dafür schlug er 50% des Verkaufspreises als Zahlung vor. Er sagte, ich solle die dreitausend Franken, die ich ihm schulde, an den Verlag nach Berlin schicken, damit dieser mit dem Geld unverzüglich meine op. 31 und 32 steche. Ich muss mithin, anstelle des Honorars für meine Werke, das ich in Höhe von dreizehntausend Franken kalkulierte, dreitausend Franken zahlen. Aber 50 % sind ein enormer Satz, und ich musste meine Werke endlich in den Druck geben. Deshalb stimmte ich zu, und er nahm meine „Erzählungen der alten Großmutter“ [= Vier Klavierstücke op. 31] und das Op. 32 [= Vier Klavierstücke] mit.19

Zu der Zeit, als beide in Berlin lebten, besuchte Prokofʼev die Konzerte und Proben des Dirigenten Kusevickij, übrigens auch dann, wenn keine Werke von ihm gespielt wurden. Oft war er bei ihm zuhause, traf ihn bei gemeinsamen Freunden und stand ständig mit ihm in Korrespondenz. Gewiss, von ‚Gleichheit‘ kann hier, wie bei Freundschaften sonst, nicht gesprochen werden. 1929 standen die Beziehungen Prokofʼevs und Kusevickijs am Rande eines Konflikts. Aber das konnte in einer Situation, in der jeder seine Interessen hatte und verteidigte, auch kaum anders sein. Prokofʼev erwartete von Seiten des Dirigenten Kusevickij Aufführungen seiner Werke, doch Letzterer zog es vor, seine Auswahl selbstbestimmt zu treffen. Empört über Stravinskijs Wechsel zu einem anderen Verlag, schrieb Kusevickij später an seinen Verlagsdirektor Gavriil Pajčadze: Wir stellen weder an Stravinskij noch an Prokofʼev irgendwelche Erwartungen: Wir wissen, dass sie hartherzige Egoisten sind, die nur an sich denken und sich nur so lange an Leute binden, wie es für sie vorteilhaft ist. Glauben Sie mir, wenn irgendein Verlag

Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 118 (Eintrag vom Oktober 1920). Brief Prokof’evs an Suvčinskij vom 28. Juli 1921, in: Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 37. 19 Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 151 (Eintrag vom 9. bis 21. Februar 1921). 17 18

Sergej Prokofʼev und der Russische Musikverlag in Deutschland

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Prokofʼev morgen vorteilhaftere Bedingungen einräumt, als Sie ihm geben können, wird er nicht lange nachdenken und gehen.20

Bis zum Zerwürfnis kam die Sache jedoch nicht, es siegte auf beiden Seiten die Vernunft. Bei allen sonstigen Gaben besaß Kusevickij zweifellos auch unternehmerisches Geschick, und so war seine organisatorische Tätigkeit stets von neuen Ideen flankiert. Nachdem er etwa registriert hatte, dass verschiedene russische Musikverlage sich unmittelbar nach der russischen Revolution bemühten, ihre Tätigkeiten in Westeuropa auf eine feste Basis zu stellen, fasste Kusevickij den Entschluss, diese Bestrebungen zu koordinieren. Leider besaßen nicht alle Verlagsinhaber eine solche Weitsicht oder sahen in dieser Initiative eine Verletzung ihrer persönlichen Interessen. Nachdem Kusevickij eingesehen hatte, dass sein Plan scheitern würde, entschied er, eine Anonyme Gesellschaft der großen Musikverleger ins Leben zu rufen, die den RMI und die Verlage Gutheil und Zimmermann als Einheit zusammenfasste. Zum Büro der neuen Gesellschaft wurde das Notengeschäft des Verlags, das Kusevickij 1924 in der Rue d’Anjou in Paris eröffnet hatte. Über den Zimmermann-Verlag weiß man so gut wie nichts mehr, über den Gutheil-Verlag äußerte sich Prokofʼev mehrfach, er sei „dasselbe wie der Russische Musikverlag“. Inzwischen liegen die inneren Unterschiede und Produktionsprofile der Verlage im Dunklen, und als Symbol der gesamten verlegerischen Aktivitäten Kusevickijs ist allein der RMV im Bewusstsein geblieben. Im RMV erschienen zwischen 1921 und 1923 praktisch alle Werke Prokofʼevs der letzten zehn Jahre, vom Opus 15 bis zum Opus 38: die Partitur der Skythischen Suite, die Klavierauszüge des Balletts Le Chout/Skazka pro šuta und der Oper Die Liebe zu den drei Orangen sowie die Partituren der aus ihnen zusammengestellten Orchestersuiten, die Partitur des Dritten Klavierkonzerts und die Fassung für zwei Klaviere, die Partitur, die Orchesterstimmen und der Klavierauszug des Ersten Violinkonzerts, die Ouvertüre über hebräische Themen für Klarinette, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Klavier op. 34; die Erzählungen der alten Großmutter op. 31 und andere Werke. Prokofʼevs Beziehung zu seinem Verlag endete erst in der Mitte der 1930er Jahre mit der Rückkehr des Komponisten in die UdSSR. Im Verlagsimperium Kusevickijs gab es viele heute vergessene Mitarbeiter, aber auch solche, die für die Biographie Prokofʼevs von Bedeutung sind. Sie seien nachstehend vorgestellt:

Brief Kusevickijs an Gavriil Pajčadze vom 5. Januar 1931, zit. nach Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 325. 20

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− Nikolaj Gustavovič Struve (1875‒1920), Musiktheoretiker und Komponist, Freund Rachmaninovs, auf dessen Empfehlung hin er zum Direktor des RMV bestellt wurde. Prokofʼev stand mit ihm seit 1916 in Korrespondenz, noch in Russland, ganz zu Beginn seiner Zusammenarbeit mit dem Verleger. Struve kam tragisch bei einem Fahrstuhlunfall in Paris ums Leben. − Erik Zingel (?‒1929), einer der dienstältesten Mitarbeiter des RMV in Berlin. Erhalten sind einige seiner deutschsprachigen Briefe an Prokofʼev. − Julij (Julian) Ėduardovič Konjus (1869‒1942), russischer Geiger, Bratschist und Komponist, Autor eines Violinkonzerts, das in den KusevickijKonzerten in Moskau und St. Petersburg aufgeführt wurde. Seit 1919 lebte er in Paris; Ende der 1920er Jahre arbeitete er im RMV. Er erfand eine neuartige Maschine zum Notenstechen, die auch in anderen Verlagen zum Einsatz kam. 1939 kehrte er in die UdSSR zurück. − Aleksandr Karlovič Ėluchen (Lebensdaten unbekannt), Mitglied einer Freimaurerloge in Berlin, vermutlich mit Aufgaben in Organisation und Verwaltung betraut. − Fedor Vladimirovič Veber (Friedrich Weber, Lebensdaten unbekannt), der Direktor der Berliner Abteilung. Er begann 1924 für den Verlag zu arbeiten und leitete seine Berliner Abteilung noch in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Veber wirkte in Berlin u. a. als Mittler zwischen den Komponisten und Dirigenten, etwa zwischen Stravinskij und Otto Klemperer oder Wilhelm Furtwängler, aber auch zwischen Prokofʼev und Bruno Walter. − Ėrnest Aleksandrovič Ėberg (?‒1925), bis 1917 Inhaber eines Noten- und Musikgeschäfts in Moskau. 1920 verließ er Russland und wurde Direktor des RMV und des Verlags Gutheil. Überdies war er Vorstandsvorsitzender der von Kusevickij geschaffenen Anonymen Gesellschaft der großen Musikverleger. − Gavriil Grigorʼevič Pajčadze (1883‒1976), der Nachfolger Ėbergs als Direktor des RMV, ein vielseitig begabter Mensch und Kenner des Verlagsgeschäfts. Als Kusevickij 1924 nach Amerika ging, beließ er Pajčadze in Europa, um dort einen zuverlässigen und kompetenten Repräsentanten zu haben. Doch sollte es Pajčadze nicht gelingen, den RMV aus der Krise herauszuführen, wozu die Wirtschaftskrise und der Krieg das ihre beitrugen. − Vladimir Nikolaevič Cederbaum (1881‒1942), von 1921 bis 1924 Kusevickijs Sekretär in Paris und der künstlerische Leiter seiner dortigen Concerts; er wurde 1941 mit seiner Frau nach Deutschland deportiert, wo er ums Leben kam. − Pëtr Petrovič Suvčinskij (1892‒1985), Verleger und Publizist, Kenner und Experte aller Bereiche der zeitgenössischen Kunst. In der sowjetischen Mu-

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sikwissenschaft nahezu unbekannt, geriet er erst in den 1990er Jahren ins Blickfeld der Forschung.21 Suvčinskij lebte von Herbst 1921 bis Frühjahr 1925 in Berlin und war dort praktisch der ‚Agent‘ Prokofʼevs wie auch sein direkter Vermittler zum Verlag. Die zunächst rein geschäftlichen Beziehungen Prokofʼevs zu Ėberg und Pajčadze entwickelten sich im Laufe der Jahre zu Freundschaften. Der Komponist schrieb ihnen zahlreiche Briefe, in denen sich Geschäftliches mit Privatem vermischt. In ihnen schimmern zuweilen echte Sympathie und feinsinniger Humor auf. So bittet Ėberg Prokofʼev im Mai 1923: „Schreiben Sie nicht mehr, sonst wird Herr Gutheil platzen“, und erhält zur Antwort: „Ihre Formulierung ‚Schreiben Sie nicht mehr!‘ verbuchen wir als eine Belehrung der Nachwelt, als typisches Beispiel spinnengleicher Beziehungen der Verleger zu ihren Autoren.“22 Das scherzende „Sie schreiben schon nicht mehr“ wird in der weiteren Korrespondenz aufgegriffen: „War das so formuliert? Hatte ich etwa das Wort ‚einstweilen‘ vergessen?“23 Zu den Leitmotiven der damaligen Korrespondenz gehört die Unzufriedenheit des Komponisten mit der Arbeit des Verlags. Ob ironisch oder zornig, angedeutet oder direkt, stets ist dieses Thema präsent, etwa in Prokof’evs Brief vom 26. April 1923: Wird die Partitur der Suite des „Chout“ nun gestochen? Um Gottes willen, treibt die Arbeit in diesem Sommer voran, sonst werde ich zum Herbst hin sechs neue große Sachen fertig haben: 1) die Partitur des Zweiten Klavierkonzerts, 2) dessen Klavierauszug, 3) die Partitur der Suite des „Feurigen Engels“, 4) ihren Klavierauszug, 5) die Partitur der Suite der „Liebe zu den drei Orangen“, 6) die Fünfte Klaviersonate. – Wann soll all das erscheinen? Und wie kann sich meine Musik entfalten, wenn drei Viertel von ihr ungedruckt ist? Ich befinde mich in der Lage einer Frau, die einen ehrwürdigen, aber kränklichen Verleger geheiratet hat, der ihre natürlichen Bedürfnisse nicht befriedigen kann!24

Ėberg antwortete:

Unter den ersten ihm gewidmeten Publikationen seien genannt: Alla Bretanickaja (Hrsg.), Petr Suvčinskij i ego vremja [Petr Suvčinskij und seine Zeit], Moskau: Kompozitor, 1999 (Russkoe muzykalʼnoe zarubežʼe v materialach i dokumentach [Russisches Musikexil in Materialien und Dokumenten], o. Nr.); Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4). 22 Brief Prokofʼevs an Ėrnest Ėberg vom 31. Mai 1923, PA. 23 Brief Ėbergs an Prokofʼev vom 4. Juni 1923, PA. 24 Brief Prokofʼevs an Ėberg vom 26. April 1923, zit. nach Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 87. 21

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Elena Poldiaeva Ihre bei mir aufbewahrten Manuskripte sind in Arbeit. Ungeachtet Ihrer Anschuldigung geht alles voran und erregt sogar den starken Neid anderer Verleger. In diesen Tagen erscheint Ihr Drittes Konzert. Für diejenigen Manuskripte, die noch bei Ihnen liegen, kann ich selbstverständlich einstweilen nichts tun. Wenn Sie sich für eine Frau halten, die einen Verleger geheiratet hat, so vergessen Sie nicht, dass ein VerlegerMuslim viele Frauen hat, aber, wie es sich gehört, auch eine Favoritin in Ihrer Person, deretwegen er häufig zum Doping greift. Aber zu allem Unglück bezieht der Verleger seinen Unterhalt vom Notendrucker, der eine Menge sonstige Geliebte hat. Und dann noch eine kolossale Katastrophe. Die Preise für den Notendruck sind ins Unermessliche gestiegen […].25

In ähnlichem Tonfall geht es auch um den Verkauf von Aufführungsmaterial und Honorarfragen, etwa wenn Prokof’ev im Oktober 1924 an Kusevickijs Ehefrau Natalʼja schreibt: eine neue Truppe schlug vor, die „Drei Orangen“ in London zu inszenieren und sie nach drei Aufführungen in die Provinz zu bringen. Gezahlt werden übrigens nur ein paar Groschen, und davon zwackt Ėberg dann noch 50% als Kommission für den Verlag ab. Er war ein sympathischer Mann, ist aber schlimmer als Salter geworden [ein ironischer Vergleich: gemeint ist Norbert Salter, ein Berliner Bühnenagent, von dessen nicht zustande gekommenen Projekten noch die Rede ist]. Tadle ich ihn, erklärt er mir, dass der Verlag kein Betriebskapital habe. Mir scheint, dass er Stravinskij und mir bald einreden wird, dass wir mit dem Komponieren aufhören sollen, weil sonst der Verlag am Überfluss von Manuskripten zugrunde geht.26

Man erhält den Eindruck, dass Prokofʼev mit der Arbeit des Verlags häufig unzufrieden war, und wenn seine Vorwürfe zu Anfang der 1920er Jahre noch ironisch und scherzhaft gefärbt waren, klingt in seinen Briefen um die Mitte der 1920er Jahre nicht selten unverhüllte Bitterkeit an. Hier seine Beschwerde gegenüber dem Verleger vom 2. Januar 1925: Meine Situation mit dem Verlag ist schlechterdings tragisch. Gedruckt werden nur die Fünfte Sonate (22 Seiten seit dem Sommer) und einige alte Lieder als Neuauflage. Die „Klassische Symphonie“ ist ausgesetzt worden. Vom Zweiten Klavierkonzert will Ėrnest Aleksandrovič [Ėberg] nichts hören, weder von der Partitur noch vom Klavierauszug. Unterdessen werde ich schon zum Frühjahr das Folgende zum Druck bereit haben: die Zweite Symphonie, die Suite aus den „Orangen“, das Quintett, den Klavierauszug der [Kantate] „Semero ich [Es sind ihrer Sieben]“, und zum Herbst dann die Oper [Der feurige Engel]. Ich komme mir vor wie ein Ippolitov-Ivanov oder einfach nur Ivanov, aber selbst diese wurden zu ihrer Zeit offenbar rascher gedruckt. Noch ein Brief Ėbergs an Prokofʼev vom 30. April 1923, PA. Brief Prokofʼevs an Natalja Kusevickaja vom 27. Oktober 1924, zit. nach Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 129. 25 26

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oder zwei Jahre in diesem Stil, und eine ganze Fuhre nicht gedruckter Manuskripte wird sich angesammelt haben, vor allem, wenn es gelingen sollte, auch diejenigen aus Russland herauszubekommen, die dem Verlag vertragsgemäß gehören! Überlege einmal, welche Laune da bei mir aufkommt.27

Prokofʼev hatte eine klare Vorstellung davon, dass der Verlag nicht im Geringsten hinter seiner schöpferischen Produktion zurückbleiben dürfe und duldete keinerlei Verzögerungen der Drucklegung. Aber je intensiver der Komponist arbeitete, desto schwieriger wurde es für den Verlag, mit seinem Tempo Schritt zu halten. Dessen ungeachtet blieb Prokofʼev seinem Verlag treu und wechselte zu keinem anderen. Und das, obwohl ihm Stravinskij bereits Anfang der 1920er Jahre geraten hatte, bei Chester zu publizieren, und die Wiener Universal Edition überdies versuchte, den Komponisten an sich zu binden. Dabei spielte die Musik Prokofʼevs, ungeachtet der Klagen des Komponisten, eine immer wichtigere Rolle in den Plänen des Verlegers Kusevickij. Das gestand der Komponist sogar selbst ein: „Gutheil muss man indes verzeihen, arbeitet er doch mit aller Kraft und druckt mich unaufhörlich.“28 1924 erschienen die Partitur und die Stimmen des Ersten Violinkonzerts op. 19, die symphonische Suite aus dem Ballett Le Chout op. 21a und die Stimmen des Dritten Klavierkonzerts op. 26, 1925 das Zweite Klavierkonzert op. 16 (zweite Fassung) in der Einrichtung des Komponisten für zwei Klaviere, die Partitur der Kantate Semero ich [Es sind ihrer Sieben] op. 30, die Fünf Melodien für Violine und Klavier op. 35a, die Fünfte Klaviersonate op. 38 und die zweite Fassung der Fünf Gedichte von Anna Achmatova für Stimme und Klavier op. 27. Ein weiteres Konfliktthema waren die Qualität und Genauigkeit der Ausgaben. Die peinliche Exaktheit, mit der Prokofʼev Fehler oder Ungenauigkeiten in den ihm zur Prüfung vorgelegten Korrekturexemplaren aufspürte, hätte jeden professionellen Korrektor vor Neid erblassen lassen. „Ich kann keine Unebenheiten und Fehler in den Drucken dulden!“, erklärte Prokofʼev Ėberg unumwunden am 3. Mai 1923.29 – „Zingel schickte mir ‚mit Ihrer Billigung‘ das Deckblatt zum Marsch und Scherzo aus den Drei Orangen“, heißt es im Mai 1922 in einem Brief an Suvčinskij: Aufrichtig gesprochen, ist es so unpassend wie alle früheren; da Sie es aber schon gebilligt haben, lasse ich es gleichfalls durchgehen. Ihrem Brief entnahm ich, dass Sie beschlossen haben, mit dem Dummkopf Zingel auf jeden Fall feinfühlig umzugehen, 27 Brief Prokofʼevs an Kusevickij vom 2. Januar 1925, zit. nach Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 150. 28 Brief Prokofʼevs an Vladimir Deržanovskij vom 23. November 1922, zit. nach ebd., S. 195. 29 Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 90.

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Elena Poldiaeva und so werde ich mich noch bis zu meinem Ende in scheußliche Umschläge hüllen müssen.30

Folgt man den Einschätzungen des Komponisten in seinen Tagebüchern und Briefen, verzögerte ausschließlich der Verlag die Herstellung seiner Drucke. Ganz anders stellte sich die Sache für den Verlag dar: „Mir scheint, dass er für seine Korrekturen sechshundert Jahre braucht und die Orchestermaterialien niemals erscheinen werden“, schrieb Ėberg 1924 an Natalʼja Kusevickaja. „Er bessert nicht nur ohne Ende Fehler aus, sondern ändert auch seine Werke.“31 In Prokofʼevs Wunsch nach Exaktheit und strenger Kontrolle spiegelte sich nicht nur seine Ordnungsliebe gegenüber allem, sondern auch eine strategische Erwägung: „Gedruckte Werke beeindrucken das Dirigenten-Gesindel viel stärker als Manuskripte.“32 Prokofʼev maß der internationalen Verbreitung seiner Musik größte Bedeutung bei und verfolgte sie akribisch: „Mit Kusevickij habe ich jetzt sehr gute Beziehungen. Sein Verlag hat eine Vereinbarung mit einem Oxforder Verlag getroffen, der die Vertretung in allen britischen Kolonien übernimmt, was bedeutet, dass meine Werke jetzt in ganz Tasmanien und Singapur greifbar sind.“33 Der Verlag hatte Filialen in Paris, Brüssel und London, überdies unterhielt er Kontakte nach Spanien und Amerika, und aus eben diesem Grund bevorzugte Prokofʼev ‚seinen‘ Verlag gegenüber allen anderen. In der Regel wurden vorrangig jene Werke gedruckt, die einer Aufführung harrten (wie zum Beispiel durch Kusevickij selbst, aber auch durch andere Dirigenten, Regisseure und Musiker). Insoweit standen die Uraufführungen der Werke Prokofʼevs in unmittelbarer Abhängigkeit von den Erstausgaben des RMV. Gleichwohl bestimmte nicht nur der äußere Erfolg das Schicksal der Partituren, denn es wurden auch Werke gedruckt, deren Aufführungen nicht abzusehen waren, und sogar solche, die überhaupt nicht gespielt wurden. Noch im Herbst 1923 hatte Prokofʼev keinerlei Pläne, Deutschland zu verlassen. Einerseits schrieb er am 3. September in sein Tagebuch: „Der Oberst [Ewald] sagt, dass es in Bayern keine Sozialrevolution geben werde. Falls es zu Unruhen in Berlin käme, würde sich Bayern sofort abtrennen. Er rät uns, in Bayern zu bleiben und die Villa des Grafen Manteuffel, eine sehr schöne, anzumieten. Brief Prokofʼevs an Suvčinskij vom 13. Mai 1922, in: Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 52. 31 Brief vom 14. November 1924, in: Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 195. 32 Brief Prokofʼevs an Nikolaj Mjaskovskij vom 23. Juli 1923, in: S. S. Prokofʼev i N. Ja. Mjaskovskij, Perepiska [Prokofʼev und Mjaskovskij, Briefwechsel], hrsg. von Miralʼda Kozlova und Nina Jacenko, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1977, S. 161. 33 Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 250 (Eintrag vom 9. April 1924). 30

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Ich habe für alle Fälle dem Grafen geschrieben.“34 Suvčinskij teilte er andererseits drei Wochen später mit: „Auch wir überlegen, ob wir über die französische Grenze weiterziehen, irgendwohin aufs Land, doch die bayerische Einöde ist so billig, dass wir in Frankreich mit doppelt so hohen Ausgaben rechnen müssen.“35 Seine Pläne änderten sich sehr schnell, als das deutsche ‚Wirtschaftsparadies‘ seinem Ende entgegen ging. Am 5. Oktober 1923 schrieb er an Nikolaj Mjaskovskij: In Deutschland schießen die Preise derart in die Höhe, dass Kusevickij vorübergehend das Drucken eingestellt hat: die Suite aus dem „Chout“ wird nur in wenigen Exemplaren erscheinen, um Mietmaterial vorrätig zu haben, kleine Partituren werden vorerst nicht hergestellt und das Stechen der Klassischen Symphonie ist ganz verschoben worden.36

Und im Dezember desselben Jahres teilte der Komponist Suvčinskij mit: In Genf spielte ich das Dritte Konzert unter [Ernest] Ansermet, das gut, fast begeistert aufgenommen wurde. Doch ist meine Stimmung alles in allem mäßig: das Ettaler Haus, in dem wir fast zwei Jahre unseren Wohnsitz hatten, wurde verkauft, so dass wir nach Oberammergau ausweichen mussten, das fünf Kilometer von Ettal entfernt ist. Die ganz Deutschland ergreifenden Teuerungen sind bis in den bayerischen Krähwinkel vorgedrungen, Essbares finden wir unter Mühen, meine Mutter ist schwer herzkrank, sie aus Deutschland zu verfrachten, ist keine Option. Meine Angelegenheiten richten sich inzwischen auf Paris.37

So günstig die ettalsche Absonderung auch für Prokofʼevs Schaffen war, ging sie umgekehrt zweifellos mit einer kulturellen Isolation einher. Vom Frühjahr 1924 an hatte Prokofʼev seinen Lebensmittelpunkt endgültig in Paris, und so begrüßte er freudig die Pläne Suvčinskijs, eben dorthin umzusiedeln: „Kann das denn wahr sein? Ich bin begeistert! Paris mag von Russland weiter weg sein als Berlin, doch dafür tauchen Sie hier in eine unvergleichlich lebendigere musikalische Atmosphäre ein als jene, die Ihnen im Reich Bruckners den Atem nimmt.“38 Damit indes endeten die Beziehungen Prokofʼevs zu Deutschland nicht. Heute, mehr als hundert Jahre später, ist festzustellen, dass sich die Kontakte viel fruchtbarer und vielgestaltiger hätten entwickeln können. Vieles blieb Ebd., S. 226f. Brief vom 24. September 1923, in Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 102–103. 36 S. S. Prokofʼev i N. Ja. Mjaskovskij, Perepiska (wie Anm. 32), S. 171. 37 Brief Prokofʼevs an Suvčinskij vom 10. Dezember 1923, in Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 106. 38 Brief Prokofʼevs an Suvčinskij vom 19. Oktober 1924, ebd., S. 127. 34 35

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unrealisiert, wie zum Beispiel einige Konzerte, die der Historiker und Jurist Iosif Gessen – Redakteur der russischen Emigrantenzeitung Rulʼ [Das Steuer] und Mitglied des Komitees der russischen gesellschaftlichen Organisationen und Einrichtungen in Deutschland – organisieren wollte. Geplant war auch eine Aufführung des Violinkonzerts sowie je ein Klavier- und Liederrezital, doch die Projekte zerschlugen sich sowohl im Frühjahr als auch im Herbst 1922. Nicht zustande kam auch ein Konzert mit Werken Prokofʼevs im von Jurij Pomerancev geleiteten Russischen romantischen Theater, das sein Berliner Debüt hätte werden können. „[Der Pianist Aleksandr] Borovskij spielte Ihre Sachen in einem Konzert in Berlin, die Kritik war ganz ordentlich“, schrieb dem Komponisten ein alter russischer Bekannter, Nikolaj Kučerjavyj, „Kusevickij dirigierte in Berlin und spielte etwas aus den Drei Orangen. Aber warum treten nicht Sie in Berlin auf? – wo doch hier, wie es heißt, 350.000 Russen leben …“39 Ein ums andere Mal platzten die Konzerttermine des Unternehmers Evgenij Grjunberg, der den Berliner Verlag Academia leitete und die Zeitschrift Teatr i žiznʼ [Theater und Leben] herausgab. Die Redaktion dieser Zeitschrift veranstaltete häufig Konzerte, darunter auch recht große mit Arthur Nikisch und Aleksandr Glazunov. Prokofʼev blieb auch in diesem Falle glücklos, alle Planungen scheiterten. „Ich schätze zwar Ihren liebenswürdigen Wunsch, mir ein Konzert auszurichten, sehr“, schrieb Prokofʼev 1923 erzürnt an Grjunberg, „aber ich erinnere Sie daran, dass ich, auf das Konzert vertrauend, sämtliche Bemühungen, es in Berlin auf anderem Wege zu veranstalten, zurückgestellt hatte. Ich hoffe, dass März der letzte Termin ist, denn sonst wird die Zähigkeit dieser Angelegenheit, die sich seit November schon über die ganze Saison hinzieht, einem leider ziemlich doppeldeutigen Witz gleichkommen.“40 Mitte 1923 interessierte sich die Mannheimer Oper für Die Liebe zu den drei Orangen, zu einer Aufführung kam es jedoch nicht, wenngleich Prokofʼev an Ėberg schrieb: Gestern besuchte mich der Direktor des Mannheimer Operntheaters, machte sich mit den Drei Orangen bekannt und nahm sie für die bevorstehende Mannheimer Wintersaison zur Aufführung an. Den Vertrag erhalte ich nächste Woche. Nach seiner Unterzeichnung muss das Orchestermaterial hergestellt werden […].41

Ein anderer Vertrag kam tatsächlich zustande und wurde am 21. September 1922 von dem Theateragenten und früheren Dirigenten Norbert Salter für den Verlag Brief Nikolaj Kučerjavyjs an Prokofʼev vom 21. November 1922, PA. Brief Prokofʼevs an Evgenij Grjunberg von 1923, zit. nach Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 87. 41 Brief Prokofʼevs an Ėberg vom 20. Juli 1923, zit. nach ebd. S. 69. 39 40

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Die Schmiede unterzeichnet. Salter arbeitete als Vermittler zwischen Komponisten und Opernhäusern. Obwohl der Vertrag unerfüllt blieb, beflügelte er spürbar Prokofʼevs Phantasie. Es war vielleicht eines der ‚heißesten‘ Projekte des Komponisten, versprach es doch unvorstellbar viele Aufführungen der Liebe zu den drei Orangen: bis Juli 1923 auf sechs Bühnen und bis zur Saison 1925/26 auf fünfzehn. Für die Organisation beanspruchte Salter 20% von den Einnahmen in Deutschland und 30% bei Inszenierungen im Ausland. Ėberg und andere Mitarbeiter des Verlags sprachen sich kategorisch gegen den Vertrag aus, da sie in seinen Formulierungen Verlagsrechte verletzt sahen. Doch der Komponist blieb bis zuletzt hartnäckig: Sie schreiben, dass der Vertrag für mich sehr unvorteilhaft sei wegen fehlender Ausfallregelungen. Aber ist Ihnen klar, was es bedeutet, eine in Europa gänzlich unbekannte Oper innerhalb von acht Monaten an sechs Bühnen aufzuführen? Sollte das gelingen, wäre es ein Präzedenzfall in der ganzen Geschichte der russischen Musik. Die Schmiede kann keinesfalls den Ausfall tragen, wenn es nicht gelingt. Ich habe kein Recht, dergleichen von der Schmiede zu fordern, und wenn sie nicht in der Lage ist, die Oper an sechs Theatern aufzuführen, kann ich das nur bedauern, habe aber keinen Schaden davon.42

Entscheidend in dieser Angelegenheit waren letztlich keine juristischen, sondern finanzielle Fragen. Ėberg hätte für die sechs geplanten Aufführungen das entsprechende Aufführungsmaterial herstellen müssen, was er aber ‒ angesichts der hohen Kosten ‒ nicht zu tun bereit war, da er der Realisierung der sechs Aufführungen misstraute. Anfang 1924 schrieb Prokofʼev an Suvčinskij: Sie fragen mit engelgleicher Naivität, warum ich nicht in Deutschland spiele? – Weil mich niemand einlädt und ich in dieser Sphäre niemanden kenne. Sprechen Sie mit wem Sie wollen, vielleicht bringt es „den Betreffenden“ auf den Gedanken, mich zu verpflichten, dann komme ich natürlich mit Vergnügen.43

Offenbar wurde Suvčinskij in der Angelegenheit tätig, denn schon Mitte April dankte Prokofʼev dem Freund: Ihnen ein dickes russisches Merci für den Versuch, mir in Berlin Konzerte auszurichten. Ich spüre schon seit längerem, dass fehlende Auftritte in den deutschen Hauptstädten ein großer Mangel sind, doch ließ sich bislang nichts festzurren. Mit einem symphonischen Konzert anzufangen ziehe ich einem Klavierabend vor.44 42 43 44

Brief Prokofʼevs an Aleksandr Ėluchen vom 6. November 1922, zit. nach ebd. Brief Prokofʼevs an Suvčinskij vom 16. Februar 1924, ebd. S. 109. Brief Prokofʼevs an Suvčinskij vom 17. April 1924, ebd. S. 113.

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Aber auch dieser Versuch blieb erfolglos. Einige Konzerte blieben auch deshalb Aber Versuch blieb erfolglos.Musik Einigenur Konzerte blieben auch deshalb ohne auch großedieser Resonanz, weil Prokofʼevs beiläufig im Programm erohne große Resonanz, weil Prokofʼevs Musik nur beiläufig im Programm erklang. „Kusevickij dirigierte in Berlin und hatte ‚Scherzo‘ und ‚Marsch‘ aus den klang. „Kusevickij in Äußerst Berlin und hatte in ‚Scherzo‘ undsolchen ‚Marsch‘ aus den ‚Drei Orangen‘ im dirigierte Programm. dumm, Berlin mit Lappalien ‚Drei Orangen‘ im Programm. Äußerst dumm, in Berlin mit solchen Lappalien zu beginnen, aber Kusevickij hatte ein volles Programm: die ‚Skythische [Suite]‘ zu beginnen, abernicht Kusevickij drängt man ihm rein.“45 hatte ein volles Programm: die ‚Skythische [Suite]‘ 45 drängtAndere man ihm nicht rein.“ Konzerte fanden in geschlossenem Rahmen statt. So organisierte Andere Konzerte in geschlossenem Rahmen und statt.fragte So organisierte etwa der bereits erwähntefanden Iosif Gessen ein Benefizkonzert dazu Ende etwa der erwähnte 1924 bei bereits Prokofʼev an: Iosif Gessen ein Benefizkonzert und fragte dazu Ende 1924 bei Prokofʼev an: […] wäre es möglich für Sie, außer Ihren Berliner Auftritten noch ein geschlossenes […] wäre möglich für Sie, außerzuIhren Berliner Auftritten ein geschlossenes Konzert zuesWohltätigkeitszwecken geben? Das könnte in dernoch Wohnung Herrn BernKonzert zu Wohltätigkeitszwecken zu geben? Das könnte in der Wohnung Bernhardts, des Redakteurs der „Vossischen Zeitung“, sein. Ich glaube, dass Herrn der Auftritt hardts, des Redakteurs dererweisen „Vossischen Zeitung“, sein. Ich glaube, dass derUllsteinAuftritt auch Ihnen große Dienste könnte, da die „Vossische Zeitung“ zum auch Ihnen große Dienste erweisen könnte, Berliner da die „Vossische UllsteinVerlag gehört, in dem die auflagenstärksten ZeitungenZeitung“ „B. Z. amzum Mittag“ und Verlag gehört, erscheinen. in dem die auflagenstärksten Zeitungen „B. Z. am Mittag“ und „Morgenpost“ Die Kritiker aller Berliner Zeitungen werden zugegen sein. Überdies „Morgenpost“ erscheinen. DieBerliner Kritiker Publikum aller Zeitungen werden zugegen wird sich das allererlesenste versammeln, daruntersein. fast Überdies alle Botwird sichVor dasdiesem allererlesenste Berliner versammeln, darunter fast alle Botschafter. Hintergrund solltePublikum das geschlossene Konzert vor Ihrem öffentlischafter. Vor stattfinden diesem Hintergrund chen Auftritt […].46 sollte das geschlossene Konzert vor Ihrem öffentlichen Auftritt stattfinden […].46

Folgt man Prokofʼevs Tagebucheintrag, war sein Vortrag am 11. Januar 1925 Folgt manund Prokofʼevs Tagebucheintrag, warblieb seinesVortrag am hinter 11. Januar 1925 gelungen alles in bester Ordnung, doch ein Erfolg verschlos47 gelungen und alles in bester Ordnung, doch blieb es ein Erfolg hinter verschlossenen Türen. 47 senen Türen. Nicht immer ging es ohne Kuriositäten und Missverständnisse ab; so immerimging es ohne schriebNicht Prokofʼev Sommer 1924 Kuriositäten an Suvčinskij:und Missverständnisse ab; so schrieb Prokofʼev im Sommer 1924 an Suvčinskij: In diesen Tagen schickte mir die Berliner Managerin Mėri Bran ein Angebot über 20 48 In diesen schickte mir die Berliner Managerin Bran ein Angebot über 20 undMėri im Baltikum. Da ich sie nicht bis 30 (!) Tagen Konzerte in Deutschland, Fitelbergien bis 30 (!) Konzerte in Deutschland, undantwortete, im Baltikum. sieWeste nicht kannte, fragte ich Borovskij nach ihrFitelbergien […], doch48der dassDa sieich eine kannte, fragte ich Borovskij ihr […], doch der antwortete, dass sieDaeine und Herrenhut tragende Lesbenach sei, über das Geschäftliche sagte er nichts. Sie Weste schon undviele Herrenhut tragende Lesbe –sei, das Geschäftliche nichts. Da Sie schon so Jahre in Berlin leben ist über Ihnen schon etwas vonsagte ihrenerAktivitäten zu Ohren 49 in Berlin leben – ist Ihnen schon etwas von ihren Aktivitäten zu Ohren so viele Jahre gekommen? gekommen?49

Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 206 (Eintrag vom 25. Februar bis 23. NovemberProkof’ev, 1922). Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 206 (Eintrag vom 25. Februar bis 23. Novem46 Iosif Gessens an Prokofʼev vom 22. Dezember 1924, PA. berBrief 1922). 47 46 Vgl. Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1),22. Bd.Dezember 2, S. 298 1924, (Eintrag Brief Iosif Gessens an Prokofʼev vom PA.vom 11. Januar 1925). 48 47 Gemeint ist Polen, die Heimat des Dirigenten, und Komponisten Grzegorz Vgl. Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S.Geigers 298 (Eintrag vom 11. Januar 1925). Fitel48 bergs. Gemeint ist Polen, die Heimat des Dirigenten, Geigers und Komponisten Grzegorz Fitel49 Brief Prokofʼevs an Suvčinskij vom 23. Juli 1924, in Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom bergs. 49 krugu (wie Anm. 4),an S. Suvčinskij 117. Brief Prokofʼevs vom 23. Juli 1924, in Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 117. 45 45

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In seiner 1941 verfassten kurzen Autobiographie äußert sich Prokofʼev über das von Bran veranstaltete Konzert am 24. Januar 1925 wie folgt: Vor dem Beginn wurde ich darauf aufmerksam gemacht, daß der Impresario nicht zahlen wird; ich wollte versuchen, das Geld vorher zu erhalten, aber der Mann50 war spurlos verschwunden. Das Publikum wurde unruhig, ich trat heraus und spielte. Anderntags warf mir die Presse meine Verspätung vor, aber Geld habe ich nicht gesehen.51

Die Dokumente bestätigen im Großen und Ganzen diese Darstellung: „Der Branschen [= herabsetzende Namensform für Bran – Anmerkung des Übersetzers] habe ich, versteht sich, nicht einen Dollar des Warschauer Gelds gegeben“, schrieb Prokofʼev an Grzegorz Fitelberg, aber dafür zahlte sie dann auch keine Kopeke für das Berliner Konzert. Sie versprach, tagsüber vor dem Konzert zu zahlen; dann sagte sie, abends, vor dem Ausgang, hatte aber abends einen hysterischen Anfall. Das Publikum wurde unruhig, da sich das Konzert um eine Stunde verspätete. Letztlich spielte ich, um nicht einen definitiven Skandal zu provozieren, Geld aber habe ich von dieser Gaunerin nicht gesehen.52

Später wurde übrigens in einem der russischen Varietés ‒ Pëtr Suvčinskij berichtete seinem Freund davon ‒ eine „M[ėri] Bran und Prokofʼev“ betitelte komische Nummer zum Besten gegeben.53 Zu den Werken, deren Aufführung damals in Deutschland zustande kam, gehörte die Ouvertüre über hebräische Themen op. 34 (am 26. April 1922 in Berlin), die im August 1923 auch beim Musikfest der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik in Salzburg gespielt wurde. Eine Auflistung der aufgeführten Werke macht deutlich, dass das Interesse an der Musik Prokofʼevs in Deutschland recht groß war. Nachstehend die wichtigsten Ereignisse: − Am 18. Juni 1924 spielte Aleksandr Borovskij das Dritte Klavierkonzert in Mannheim unter Hermann Abendroth;

50 Im erstmals 1956 veröffentlichten russischen Original ist nicht dezidiert von „Mann“, sondern geschlechtsneutral vom „Impresario“ die Rede. Gemeint ist offenbar die im Text nirgendwo namentlich genannte Veranstalterin Mėri Bran. 51 Sergej Prokofjew, „Autobiographie“, in: Sergej Prokofjew. Dokumente, Briefe, Erinnerungen, zusammengestellt von S. I. Schlifstein [Semen I. Šlifštein], ins Deutsche übertragen von Felix Loesch, Leipzig: Deutscher Verlag für Musik, o. J. [1965], S. 13–181, hier S. 160. 52 Brief Prokofʼevs an Grzegorz Fitelberg vom 29. Januar 1925, PA. In Warschau hatte Prokof’ev unmittelbar vor den Berliner Konzerten gastiert. – Zum Berliner ‚Bran-Konzert‘ vgl. auch die Darstellung bei Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 302–304 (Einträge vom 23. bis 25. Januar 1925). 53 Vgl. Polʼdjaeva (Hrsg.), V muzykal’nom krugu (wie Anm. 4), S. 137.

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− 1925/26 absolvierte das Romanov-Theater ein Deutschland-Gastspiel mit dem Ballett Тrapez; − am 26. und 28. März 1926 spielte Prokofʼev in Frankfurt am Main sein Drittes Klavierkonzert unter der Leitung von Clemens Krauss und − im Mai 1927 mutmaßlich dasselbe Werk in Magdeburg mit dem Dirigenten Walter Beck.54 − Über das Ballett zur Musik der Skythischen Suite in der Inszenierung von Max Terpis unter der musikalischen Leitung von Georg Szell heißt es in der kurzen Autobiographie des Komponisten: am 7. Mai 1927 [lief] in Berlin das Ballett „Ala und Lollij“ unter dem Titel „Die Erlösten“. Da ich in der Nähe in Magdeburg ein Konzert gab, fuhr ich inkognito zu der Aufführung, aber sie war so schlecht, daß ich, ohne mich erst zu erkennen zu geben, wieder abfuhr.55

Im Tagebuch heißt es dagegen: Nach zwei langweiligen Sachen lief die „Skythische Suite“ (ohne Änderungen), zu der Ballettmeister Terpis irgendwelche Dante-Szenen mit dämonischen Kräften, sich quälenden Geistern und sie befreienden Engeln ausgesucht hatte. Das lief weder gut noch schlecht, aber weniger schlecht, als ich erwartet hatte. Dante mit den Skythen zu verbinden, ist eine Aufgabe ziemlich zweifelhaften Geschmacks. Der Erfolg war mittelprächtig. Die Sache lief am Ende des Abends, und die Leute strebten zur Garderobe. Nach dem Spektakel zeigte ich mich nicht hinter der Bühne.56

− Im Oktober 1927 erklang in Leipzig die Suite des Balletts Le Chout: Die Suite aus dem „Chout“ (vier Stücke) lief erstmals in Leipzig, und in Deutschland überhaupt erst zum zweiten Mal. Der Erfolg war, allem Anschein nach, mittel, die Presse bunt. Einige Schlaumeier finden, dass sie all das schon in „Petruschka“ gehört haben. Die können mich mal! Das erklärt sich so: Wenn du das erste Mal nach Japan reist, kommen dir alle Japaner anfangs gleich vor. Nun sind die guten Deutschen, die mit gehöriger Verspätung auf die neue russische Musik gestoßen sind, dermaßen beeindruckt von ihrer Unähnlichkeit mit allem anderen, dass sie einstweilen außer dieser Unähnlichkeit nichts sehen. Von daher ähneln sich alle Dinge in ihrer Unähnlichkeit.57

− Im Januar 1928 spielte der Komponist in Freiburg sein Drittes Klavierkonzert unter der Leitung von Ewald Lindemann; 54 55 56 57

Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 559f. (Einträge vom 6. bis 9. Mai 1927). Prokofjew, „Autobiographie“ (wie Anm. 51), S. 167. Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 559 (Eintrag vom 7. Mai 1927). Ebd., S. 598 (Eintrag vom 19. Oktober 1927).

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− im Juni 1929 hatte die Djagilev-Truppe in Berlin ein Gastspiel mit dem Ballett L’enfant prodigue (Der verlorene Sohn); − am 15. Oktober 1930 erklangen in einem Symphoniekonzert des Berliner Rundfunks das Divertissement op. 43, die Ouvertüre für Kammerorchester op. 42 und das Zweite Klavierkonzert unter der Leitung von Bruno SeidlerWinkler mit dem Komponisten als Solisten. Am 12. machte ich mich nach Berlin auf – ein Konzert mit Werken von mir im Radio, übrigens ein kleines Programm, eine Stunde Musik und ein geschlossenes Konzert, so dass all das nicht so bedeutend ist, wie es scheint. Die Ouvertüre op. 42 (Erstaufführung in Deutschland) wurde mittelgut gespielt, zerstückelt; das Divertissement – ebenfalls die erste Aufführung in Deutschland – war ein wenig besser, aber nicht erstklassig. Im Larghetto detonierten die Kontrabässe in der Melodie, weshalb ihnen mal das Fagott, mal das Horn beigemischt wurde. Ich spielte das Zweite Konzert ein bisschen nervös, aber das macht nichts.58

− Am 1. April 1931 spielte Prokofʼev in einem (gut aufgenommenen) Konzert des Wiener Sinfonieorchesters unter der Leitung von Richard Fall sein Zweites Klavierkonzert sowie „Marsch“ und „Scherzo“ aus der Oper Die Liebe zu den drei Orangen; − in der Saison 1931/32 gelangte das Erste Klavierkonzert am 3. November in Mannheim unter der Leitung von Felix Lederer und am 24. Februar in Berlin unter der Leitung von Oskar Fried zur Aufführung; − am 3. Mai 1932 erklang seine Dritte Symphonie in Berlin (die Übertragung hörte Prokofʼev im Radio);59 − am 31. Oktober 1932 spielte Prokofʼev die Premiere seines Fünften Klavierkonzerts op. 55 mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler; − außerdem führte Bruno Walter in Leipzig und Berlin die Vier Porträts aus „Der Spieler“ op. 49 (1931) auf. Walter brachte Anfang der 1930er Jahre auch die Suite aus dem Ballett L’enfant prodigue zur Aufführung (das genaue Datum ist unbekannt). Zu den wichtigsten Ereignissen gehörte zweifellos am 14. März 1925 die europäische Erstaufführung der Oper Die Liebe zu den drei Orangen in Köln, inszeniert von dem Berliner Bühnenbildner und Regisseur Hans Strohbach und musikalisch geleitet von Eugen Szenkar. Wie wichtig die nächste Inszenierung der 58 59

Ebd., S. 784 (Eintrag vom Oktober 1930). Vgl. ebd., S. 797 (Eintrag vom 3. Mai 1932).

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Oper an der Berliner Staatsoper für den Komponisten war, belegt der Tagebucheintrag vom 24. Juni 1925: „Ein Telegramm von Veber: Die ‚Orangen‘ sind an der Berliner Staatsoper angenommen worden. Ein kolossaler Sieg. Falls Berlin erfolgreich ist, wird ganz Deutschland Berlin folgen. Unter den gegebenen Umständen können damit nur noch Inszenierungen in Wien und an der Scala mithalten.“60 Die Berliner Premiere fand am 9. Oktober 1926 in der Staatsoper in der Inszenierung von Karl Holy und unter der Leitung von Leo Blech statt. Dem Komponisten kam sie ein wenig schwerfällig vor, in seinem Tagebuch äußert er, sie sei „grob und lieblos gemacht“ gewesen.61 Später schrieb er, dass die Dekorationen […] mir nicht einmal gefielen […]. Die Regie war schlecht, und als nach der Vorstellung der Direktor, dem mein Schweigen auffiel, den dabei stehenden Spielleiter, einen sehr würdigen Mann, herauszustreichen begann, konnte ich kein einziges Kompliment von mir geben. Blech, der dirigierte, war korrekt, aber in solchem Maße, daß er der Partitur alles Leben nahm. „Beschleunigen Sie an dieser Stelle den Lauf“, hatte ich ihn bei der letzten Probe gebeten. „Geht nicht, das Orchester schmiert sonst“. – „Soll es schmieren.“ – „Aber ich bitte Sie …“ – und ich merkte, daß ich in diesem Augenblick bei Blech verspielt hatte. In Köln war der ganze Geist anders, und die Oper kam um vieles besser heraus.62

Die Oper Der feurige Engel hatte, anders als Die Liebe zu den drei Orangen, nicht das Glück, zeitnah nach ihrer Fertigstellung in Deutschland aufgeführt zu werden. Es handelt sich abermals um ‚ein nicht zustande gekommenes Kapitel‘ der Operngeschichte, und man kann nur bedauern, dass das Werk Mitte der 1920er Jahre nicht auf die Bretter der Berliner Staatsoper gelangte. Das Bühnenschicksal der Oper war von Anfang an schwierig. Das lag teilweise daran, dass Prokofʼev lange Zeit nicht an die Instrumentierung ging, weil er vergeblich auf die Überarbeitung des Librettos durch Boris Demčinskij wartete. Mehrfach bat Prokofʼev den Musikwissenschaftler Boris Asafʼev, Einfluss auf seinen Koautor zu nehmen, so am 14. August 1925: Ich schrieb Dir bereits, dass diese Endlosgeschichte es geschafft hat, die avisierte Inszenierung des „Feurigen Engels“ an der Berliner Staatsoper scheitern zu lassen, wo dessen Annahme für die kommende Saison schon im Gespräch war. Glücklicherweise gelang es mir, ihnen anstelle des „Feurigen Engels“ die „Orangen“ unterzuschieben ‒ und die sind jetzt angenommen worden. Das ist ein großer Sieg, umso mehr, als die Staatsoper versprochen hat, im Erfolgsfalle in der nächsten Saison den „Feurigen En60 61 62

Ebd., S. 332. Ebd., S. 444 (Eintrag vom 11. Oktober 1926). Prokofjew, „Autobiographie“ (wie Anm. 51), S. 163f.

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gel“ zu geben. Wäre es vielleicht möglich, die Frage des verdammten Librettos bis dahin vom Fleck zu bringen?63

Demčinskij verhielt sich, als sei ihm die Arbeit aufgezwungen worden und ging auf die Wünsche des Komponisten nur widerwillig ein. Mit vielen Opernhäusern wurde über eine Inszenierung des Feurigen Engels verhandelt, aber das zunächst für eine Uraufführung ausersehene Opernunternehmen von Jacques Hébertot, mit dem Dirigenten Albert Wolff, ging unter merkwürdigen Umständen Bankrott und musste 1925 schließen.64 In Berlin, wo die Oper in der Saison 1927 unter Bruno Walter geplant war, kam es zu einer Absage aufgrund des nicht rechtzeitig vorliegenden Notenmaterials. Pajčadze teilte in ziemlich saloppem Ton mit, dass Bruno Walter die Aufführung des „Feurigen Engels“ abgesagt habe, meine Verspätung hätte sie gekränkt. Gewiss, es gab eine Verspätung, aber keine tödliche, man hätte die Oper irgendwann im Laufe der Saison bringen können. Aber offenbar wurden in letzter Zeit zu viele ausländische Opern in Deutschland gebracht, so dass es zu einer patriotischen Strömung zugunsten heimischer Sachen gekommen ist. Es heißt, dass sich Bruno Walter dagegen stemme, doch meine Verspätung war für ihn alles andere als hilfreich, weshalb er nun ‚gekränkt‘ ist.65

Allem Anschein nach plante Eugen Szenkar, nach der Liebe zu den drei Orangen auch den Feurigen Engel in Köln aufzuführen, aber Prokofʼev war der Auffassung, dass das Werk für das Kölner Publikum zu anspruchsvoll sei.66 Damit widersprach er sich recht eigentlich vor dem Hintergrund einer anderen bekannt gewordenen Äußerung zu der Oper: „Der Stoff ist für Sowjetrussland vermutlich nicht so interessant“, sagte er in einem Moskauer Interview von 1927, „er ist es eher für das deutsche Publikum, und das umso mehr, als die Handlung am Rhein spielt.“67 Ein letzter Versuch, die Oper aufzuführen, involvierte 1930 die Metropolitan Opera in New York, ebenfalls ohne Resultat. Zustande kam nur eine konBrief Prokofʼevs an Boris Asaf’ev vom 14. August 1925, in: M[iralʼda] Kozlova, „Pisʼma S. S. Prokofʼeva – B. V. Asafʼevu [Sergej Prokof’evs Briefe an Boris Asaf’ev]“, in: Iz prošlogo sovetskoj muzykalʼnoj kulʼtury [Aus der Vergangenheit der sowjetischen Musikkultur], Bd. 2, hrsg. von Tamara Livanova, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1976, S. 4–54, hier S. 14– 16, Zitat S. 15. 64 Vgl. Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 284f. (Eintrag vom 8. Oktober 1924). 65 Ebd., S. 596 (Eintrag vom 6. bis 12. Oktober 1927). 66 Vgl. ebd., S. 444 (Eintrag vom 11. Oktober 1926). 67 „Beseda s Prokofʼevym [Gespräch mit Prokofʼev]“, in: Muzyka i revoljucija [Musik und Revolution] 1927 Heft 3 (1. März), S. 30–31, zit. nach: Prokofʼev o Prokofʼeve: statʼi i intervʼju [Prokofʼev über Prokofʼev: Aufsätze und Interviews], hrsg. von Viktor Varunc, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1991, S. 72–75, hier S. 73. 63

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zertante Aufführung des zweiten Aktes am 14. Juni 1928 in Paris unter der Leitung von Kusevickij, an der die Sängerin Nina Košic mitwirkte. Der Kreis um Djagilev reagierte kühl auf die Musik, Suvčinskij eingeschlossen. Anfang der 1930er Jahre kam die Arbeit des RMV praktisch zum Erliegen. Im April 1933 schrieb Pajčadze voller Unruhe, dass sich der Einfluss der nationalsozialistischen Ideen augenscheinlich auch stark auf unsere Interessen auswirken wird. Nach dem Vorbild der sowjetischen Taktik werden in alle Theater und symphonischen Organisationen nationalsozialistische Kommissare eingeschleust, die allem Ausländischen feindlich gesonnen sind. Gleich in den ersten Tagen bekamen wir drei Kündigungen von bereits geschlossenen Verträgen über die Aufführung von Werken Stravinskijs und Prokof’evs.68

Kusevickij nahm eine offen antifaschistische Haltung ein; gemeinsam mit Arturo Toscanini, Walter Damrosch, Artur Bodanzky und Harold Bauer unterschrieb er einen am 22. März 1933 in der Presse veröffentlichten Protestbrief gegen die Verfolgung jüdischer Musiker. Überdies untersagten die genannten Künstler die Nutzung ihrer Aufnahmen in deutschen Rundfunkanstalten.69 In Prokofʼevs Tagebuch findet sich eine Notiz zu Fedor Veber, „der Grauenvolles über Deutschland erzählt. Stravinskij steht auf der schwarzen Liste, und zwar als Jude, er hat einen komischen Tobsuchtsanfall bekommen“.70 Doch auch Prokofʼev selbst stand auf einer Liste der zu Aufführungen nicht zugelassenen ‚Juden und Kulturbolschewisten‘.71 „Ich schlage Ihrer Prüfung und Billigung die Idee einer Umbenennung unserer alten Firma von ‚Gutheil‘ in ‚Gutheil Hitler‘ vor“, ironisierte Pajčadze finster in einem Brief an Kusevickij.72 „Es wird schwerer und schwerer, sich so zu verhalten, dass der deutschen Macht alles ordnungsgemäß erscheint, und wir uns zugleich die Möglichkeit einer freien Verfügung unserer Mittel außerhalb Deutschlands sichern.“73 Das weitere Schicksal des Verlags liegt außerhalb des Rahmens der vorliegenden Untersuchung, soll hier aber kurz referiert werden:74 Gemäß dem Gesetz vom 14. Juni 1938 über die verpflichtende Registrierung aller jüdischen Firmen war Veber ‒ der in der Hoffnung, auf diese Weise den Verlag retten zu könBrief Pajčadzes an Kusevickij vom 12. April 1933, in: Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 292. 69 Vgl. ebd. 70 Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 823 (Eintrag vom 8. April 1933). 71 Vgl. Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11), S. 293. 72 Brief vom 26. November 1934, ebd. 73 Brief Pajčadzes an Kusevickij vom 22. Dezember 1934, ebd., S. 293. 74 Die Grundlage der Darstellung bildet Sergej Prokof’ev – Sergej Kusevickij, perepiska (wie Anm. 11). 68

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nen, Mitglied der NSDAP geworden war ‒ gezwungen, die jüdischen Mitarbeiter und Besitzer des Verlags zu melden. Eine Registrierung des RMV als ‚jüdische Firma‘ wäre seiner Selbstvernichtung gleichgekommen. Gleichzeitig hätte sich Veber straffällig gemacht, wenn er nicht die frühere „jüdische Leitung“ des Verlags erwähnt hätte. Die Lösung bestand darin, dass Kusevickij den Verlag formalgeschäftlich verließ und ihn nominell an Pajčadze abtrat. „Es macht mich sehr traurig, Ihnen davon zu berichten“, schrieb dieser im November 1938 an Natal’ja Kusevickaja. „Erst wurde unser Verlag von der Welle des Bolschewismus überspült, und jetzt ist er dem Schlag einer ebenso bolschewistischen Naturgewalt ausgesetzt. Der Verlag hat die erste Prüfung überstanden und wird, so Gott will, auch die zweite überstehen.“75 Auch wenn der Verlag auf solch deprimierende Art gerettet werden konnte, war doch seine wirtschaftliche Situation so katastrophal, dass er nicht mehr lange existierte. Gutheil wurde praktisch ausgebombt, womit ein Großteil der Druckerzeugnisse und -vorlagen verloren ging. Die im Gebäude von Breitkopf & Härtel gelagerten Bestände des RMV wurden ebenfalls zerstört. Das in der Typographie Röder archivierte Verlagsmaterial blieb bis Sommer 1944 unversehrt. Als Nikolaj (Nicolas) Nabokov nach dem Krieg in Deutschland als Konsultant der amerikanischen Besatzungsmacht in Kulturfragen arbeitete, half er mit, in den Ruinen des Gebäudes nach Partituren, Orchesterstimmen und Verlagsdokumenten zu suchen.76 Dass der Verlag nicht gerettet wurde, als das noch möglich war, bedeutete auch musikgeschichtlich eine Weichenstellung. Hätte er bis in die 1960er und 1970er Jahre existiert, so hätten die Komponisten der zweiten und dritten Welle der russischen Emigration ihre Werke vermutlich nicht im Sikorski-Verlag, sondern in Kusevickijs RMV in den Druck gegeben. Die Beziehung Prokofʼevs zu ‚seinem‘ Verlag brach Mitte der 1930er Jahre ab, als er in die UdSSR zurückkehrte. Die Tagebucheintragungen Prokofʼevs enden Anfang Juni 1933. Die letzten Zeilen beschreiben seine Rückreise von der UdSSR nach Paris: „Polen; Hitler-Berlin, Ordnung und Sauberkeit. Dem Spenden sammelnden Hitleristen gebe ich nichts.“77 Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer

Brief Paičadzes an Natalʼja Kusevickaja vom 11. November 1938, ebd., S. 294. Vgl. Nicolas Nabokov, Old Friends and New Music, London: Hamish Hamilton, 1951, S. 174f. 77 Prokof’ev, Dnevnik (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 837 (Eintrag vom 1. bis 6. Juni 1933). 75 76

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Katharsis im Sanatorium: Vladimir Ščerbačëvs Dresden-Aufenthalt in den Jahren 1922/23 Reisen ist die Königsdisziplin unter den Formen interkultureller Begegnung, grenzüberschreitende Mobilität die Voraussetzung für persönlichen Kontakt. Kaum eine andere Form der Begegnung dürfte ein so hohes Potenzial haben, eine Wahrnehmung in Stereotypen durch eine Wahrnehmung in Individualitäten und Differenzen zu ersetzen. Der Dialog von Angesicht zu Angesicht, verbunden mit der Möglichkeit, das Leben im anderen Land in spontaner Vielfalt kennenzulernen, kann zum Katalysator des Hinterfragens von Klischees, Fassaden und Inszenierungen werden. Unter den Bedingungen von unterdrückter Meinungsfreiheit und Zensur, wie sie für Sowjetbürger seit 1917 galten, kam den mit dem Reisen verbundenen internationalen Begegnungen eine noch verstärkte Bedeutung zu. Sie wurden zum vielleicht wichtigsten Korrektiv, an dem sich die Validität der im Sowjetstaat verbreiteten Selbst- und Fremdbilder messen ließ. Der internationale Austausch hatte in der Sowjetunion der 1920er Jahre allein dadurch eine herausragende Bedeutung, dass dieser Phase vorsichtiger Öffnung eine fast zehnjährige Periode weitgehender Isolation vorausgegangen war. Die bis 1914 selbstverständliche wechselseitige Mobilität russischer und deutscher Musikschaffender war mit Beginn des Ersten Weltkriegs abrupt abgebrochen. Der frische Konservatoriumsabsolvent Vladimir Ščerbačëv (1887–1952), dessen Fall im Zentrum dieses Beitrags steht, musste kurz nach Kriegsausbruch eine Italienreise abbrechen, weil er zur Armee eingezogen wurde. Auslandsreisen während des Weltkriegs blieben Einzelfälle, die nur unter Schwierigkeiten durchgeführt werden konnten. So fürchtete Sergej Prokofʼev, der im Februar und März 1915 auf Einladung Sergej Djagilevs über Rumänien, Bulgarien und Griechenland nach Italien reiste, die Infektion durch Typhus, die Schließung der Grenzen wegen Spannungen auf dem Balkan und auch eine nachträgliche Einberufung zum Kriegsdienst.1 Noch schlechter stand es um den Kulturaustausch und eine geordnete Reisemobilität während des russischen Bürgerkriegs bis 1921. Der Zusammenbruch Vgl. Sergey Prokofiev, Diaries, 1915–1923, Behind the Mask, translated and annotated by Anthony Phillips, London: The Sergey Prokofiev Estate, 2008, S. 8–32. Eine gewisse Sicherheit brachte die von Djagilev organisierte Begleitung durch einen russischen Diplomaten.

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der russischen Ökonomie und wichtiger Bereiche des Kulturlebens verhinderte in dieser Zeit nahezu jede Form der Rezeption westlicher Kunst. Eine gewisse Normalisierung trat erst 1921 durch die Einführung der Neuen Ökonomischen Politik ein. Der moderate Kurs gegenüber den bürgerlichen Eliten und unternehmerischen Initiativen bewirkte einen merklichen Aufschwung des Kunstlebens. Eine Belebung des Kulturaustauschs speziell mit dem Deutschen Reich brachte der Rapallo-Vertrag vom April 1922. In diesem Sensationscoup vereinbarten die beiden stigmatisierten Staaten gegenseitige diplomatische Anerkennung und ermöglichten so u. a. einen geregelten Reiseverkehr. Die folgenden Jahre bis etwa 1929 werden oftmals als Goldenes Zeitalter eines relativ offenen, wechselseitig inspirierenden und geradezu heißhungrigen Austauschs zwischen deutscher und russischer Kultur beschrieben. Zweifellos ist dies in vieler Hinsicht zutreffend, davon zeugt allein die in den Bänden dieses Projekts versammelte Forschung. Dennoch dürfen drei Aspekte nicht übersehen werden, die dieses positive Gesamtbild etwas relativieren, zumindest im Hinblick auf den Musikbereich: (1) Die massenweise Emigration russischer Musikschaffender zwischen 1917 und 1923 erschütterte die Balance des Austauschs, wie sie sich vor 1914 etabliert hatte. Die in Sowjetrussland verbliebene Musikelite war ausgeblutet. Wer die kreativsten und prominentesten Köpfe der russischen Musik treffen wollte, war bis zur Mitte der 1920er Jahre in Sowjetrussland an der falschen Adresse. Der international bekannteste russische Komponist, der nicht emigriert war, dürfte Aleksandr Glazunov (1865–1936) gewesen sein – Vertreter einer akademisierten Spätform der nationalrussischen Schule, eine Figur, die in Musikgeschichten größeren Maßstabs kaum je in Erscheinung tritt. Umgekehrt bedeutete für Sowjetrussen das Reisen ins westliche Ausland in der Regel ausgiebigen Kontakt mit Emigranten, einschließlich der damit verbundenen Unwägbarkeiten. Artur Lurʼe (1891–1966), bis 1921 oberster ‚Musikkommissar‘ des Sowjetstaats, kehrte im August 1922 von einer Dienstreise nach Berlin nicht zurück. Das Gleiche geschah 1928 bei Glazunov, dem langjährigen Direktor des Leningrader Konservatoriums, bei einer Dienstreise nach Wien. Reisepapiere auszustellen bedeutete für den sowjetischen Staat das akute Risiko von brain drain. (2) Die Symmetrie des gegenseitigen kulturellen Interesses, die sich in den Jahrzehnten vor 1914 durch den spektakulären internationalen Aufstieg der russischen Musik eingestellt hatte, geriet durch Revolution und Emigration ins Wanken. Auf der einen Seite entfaltete sich in der Sowjetunion seit 1923 ein immenses Interesse an der Neuen Musik des Westens. Die damit einhergehenden Diskurse – enthusiastische wie ablehnende – wurden dermaßen intensiv geführt und hart-

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näckig im kulturellen Gedächtnis festgeschrieben, dass sie über Jahrzehnte hinweg die Abgrenzung einer genuin sowjetischen Musikästhetik regulierten – und diese xenophobisch aufluden. Auf der anderen Seite, in der westlichen Welt, gab es in den 1920er Jahren kein vergleichbares Interesse an russischer bzw. sowjetischer Musik. Igorʼ Stravinskij schien mit dem Neoklassizismus zum Transnationalisten mutiert. Aleksandr Skrjabin, der an sich eine universelle Agenda verfolgt hatte, war im Westen von jeher nur auf beschränktes Interesse gestoßen. Für das Gros der jüngeren russischen und dezidiert auch sowjetischen Komponisten, die bis zur Mitte der 1920er Jahre im Bann des Skrjabinismus standen, galt das noch viel mehr. Als um die Mitte des Jahrzehnts in Westeuropa ein starkes Interesse an Sowjetrussland und seiner Kultur einsetzte, bezog sich dieses primär auf das sowjetische Gesellschaftsexperiment, und die Musik spielte nur eine Nebenrolle. Bei aller Rührigkeit entsprechender Medieninstanzen wurden aufstrebende sowjetische Komponisten wie Nikolaj Roslavec, Aleksandr Mosolov oder Dmitrij Šostakovič im Ausland nur einem kleinen Spezialistenkreis interessierter Kenner bekannt. International ausstrahlende Künstlerpersönlichkeiten wie Vladimir Majakovskij, Vsevolod Mejerchol’d, Sergej Ėjzenštejn oder Vladimir Tatlin hatte die sowjetische Musik bis in die 1930er Jahre hinein nicht aufzubieten. (3) Bei aller gegenseitigen Neugier und Bemühung um Öffnung erreichte der Reiseverkehr zwischen der Sowjetunion und Westeuropa in den 1920er Jahren nicht annähernd das Volumen der Vorkriegszeit. Legendär waren zwar die Gastspiele deutscher Dirigenten, die sich zwischen 1923 und 1929 in der Leningrader Philharmonie die Türklinke in die Hand gaben. Und spektakulär waren auch die Sowjetreisen prominenter deutscher und österreichischer Komponisten wie Franz Schreker, Alban Berg oder Paul Hindemith. Unterhalb dieser Prominentenebene scheint es aber von deutscher Seite keine nennenswerte Reiseaktivität gegeben zu haben. In der entgegengesetzten Blickrichtung fällt die Bilanz noch ernüchternder aus. Gegenüber den Standards der Vorkriegszeit war das Reiseaufkommen – zumindest derjenigen, die beabsichtigten, wieder in die Sowjetunion zurückzukehren – geradezu kläglich. In den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg hatten viele russische Musikschaffende ihre Karrieren international aufgebaut. Dies galt nicht nur für Interpreten, die im Ausland einen riesigen und lukrativen Markt vorfanden, sondern genauso für Komponisten, und zwar nicht nur für Stars wie Stravinskij, Skrjabin, Sergej Rachmaninov oder Prokof’ev, die teilweise länger in Westeuropa lebten, sondern auch für Künstler der zweiten und dritten Reihe. Der noch junge Ščerbačëv unternahm 1911 und 1914 ausgedehnte Reisen durch Frankreich und Italien, mit denen er wohl die Grundlage für eine internationale

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Karriere schaffen wollte.2 Vladimir Deševov (1889–1955), ein Petersburger Konservatoriumsgenosse Ščerbačëvs, fuhr 1908 nach Bayreuth und hörte dort das gesamte Festspielrepertoire.3 Aleksandr Mosolov (1900–1973), das spätere enfant terrible der sowjetischen Musikmoderne, lernte als Kind Deutsch und Französisch und lebte mit seiner Mutter zeitweise in Paris, Berlin und London.4 An eine solche Selbstverständlichkeit des Reisens war in der Sowjetära nicht mehr zu denken. Bis etwa 1923 gab es noch eine gewisse Selbstbestimmtheit, weil die sowjetische Reisebürokratie noch weniger straff organisiert war und die Lebenshaltungskosten in Deutschland inflationsbedingt sehr niedrig waren. Komponisten wie Michail Gnesin, Georgij Katuar (Catoire), Glazunov, Aleksandr Grečaninov, Lev Knipper oder Ščerbačëv hielten sich nahezu unbemerkt von der sowjetischen Öffentlichkeit zwischen 1921 und 1923 in Berlin oder anderen deutschen Städten auf – wobei diese Aufenthalte mitunter schwer von der Sondierung einer Emigration abzugrenzen sind. Danach gab es mindestens drei Jahrzehnte lang für sowjetische Komponisten keine selbstbestimmten Auslandsreisen mehr, es sei denn, sie wurden offiziell ‚kommandiert‘5 und waren dann in spezifischer Funktion unterwegs: als brillierende Pianisten (Samuil Fejnberg: Venedig/Wien/Berlin/Paris 1925, Frankfurt a. M./Berlin/Leipzig/Hamburg/München 1927, Berlin/Wien 1929; Dmitrij Šostakovič: 1927 Warschauer ChopinWettbewerb, mit – immerhin selbstinitiiertem – Abstecher nach Berlin), als kundschaftende Pädagogen und Theoretiker (Boleslav Javorskij/Sergej Protopopov: Wien 1925; Aleksandr Veprik: Berlin/Wien/Paris 1927; Arsenij Avraamov: Frankfurt a. M. 1927; Ščerbačëv: Leipzig/Dresden/Berlin/Paris 1927; Michail Ivanov-Boreckij: Danzig/Wien/Florenz/Rom/Genua 1927) oder als kulturvermittelnde Repräsentanten der sowjetischen Musik (Viktor Beljaev: Berlin/Wien 1924, Prag 1925; Boris Asaf’ev: Salzburg/Wien/Paris/Bonn/Berlin/Leipzig/ Dresden 1928).6 In der Chronik der Auslandsreisen und Emigrationen russischer Musikschaffender nach Deutschland und Österreich in Band 2 dieser Publikation Siehe Anm. 39. Vgl. Wolfgang Mende, Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur, Köln: Böhlau, 2009, S. 402. Im Entwurf einer autobiographischen Skizze aus den 1930er Jahren hatte Deševov diese Information bezeichnenderweise wieder herausgestrichen. 4 Vgl. ebd., S. 499. 5 ‚Komandirovka‘ ist der russische Terminus für eine Dienstreise im Auftrag einer bestimmten Institution. 6 Genauere Daten und Quellennachweise zu diesen Auslandsaufenthalten finden sich in Band 2 der vorliegenden Publikation: Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917–1933. Dokumente und Chroniken, hrsg. von Wolfgang Mende und Elena Poldiaeva, Hildesheim: Olms [Druck in Vorbereitung], darin Kapitel II.2.3.: Auslandsreisen und Emigrationen russischer Musikschaffender nach Deutschland und Österreich. 2 3

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sind zwischen 1924 und 1933 insgesamt nur etwa zwei Dutzend Auslandsreisen sowjetischer Musikschaffender dokumentiert.7 Auch wenn keine Vollständigkeit angestrebt und Konzertreisen nur bei Musikern mit Funktionen im öffentlichen Musikleben erfasst wurden, ist das eine erschreckend niedrige Zahl. Seit 1925 kümmerte sich die ‚Allunionsgesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland‘ (VOKS) systematisch um den internationalen Auftritt der Sowjetunion. Ihr Ziel war die Verbesserung des Prestiges des Sowjetstaats durch professionelle Kontakte im technisch-ökonomischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich. Die (nicht unmittelbar staatliche) Gesellschaft förderte einerseits Auslandsreisen, steuerte und limitierte sie aber gleichzeitig. Sie konnte Reisebewilligungen nicht eigenmächtig erteilen. Nach Forschungen des Historikers Michael David-Fox war hierzu immer die Genehmigung dreier höhergestellter Instanzen nötig: (1) einer sendenden Institution in Verbindung mit einem Geldgeber, (2) des zuständigen Volkskommissariats (im Fall von Musikern: des NARKOMPROS) und (3) der Kommission des Zentralkomitees der KP zur Prüfung von Auslandsreisen. Zusätzlich überprüfte der Geheimdienst OGPU alle Reiseinteressenten.8 Seit 1926 drosselten die Behörden die Zahl der Reisebewilligungen, u. a. weil die Finanzmittel knapp waren und Berichte über halb verhungernde Künstler im Ausland den Sowjetstaat diskreditierten.9 Die Kürzung traf Antragsteller über den NARKOMPROS, also Künstler, Pädagogen und Wissenschaftler, überproportional hart. Im gesamten Jahr 1926 wurden aus diesem Segment insgesamt nur 131 Reisegesuche bewilligt, gegenüber 196 im Jahr 1925 (und gegenüber 2309 Personen im Jahr 1926 über das Außen- und Wirtschaftskommissariat).10 In Anbetracht dieser minimalistischen Zahlen musste der Informationswert jeder einzelnen Auslandsreise eines Musikschaffenden ins Unermessliche steigen, auch wenn die mündliche Weitergabe diskreter Informationen quellenmäßig schwer greifbar ist. Innerhalb der an sich schon kleinen Gruppe von Musikerreisen heben sich die längeren Studienaufenthalte noch einmal ab, denn sie hatten eine andere Qualität als kürzere Dienst- oder Gastspielreisen mit ihrem dichten Terminplan und ihrer strammen institutionellen Steuerung. Langzeitaufenthalte gaben die Möglichkeit zu einer intensiven Einbindung in den fremden Lebensalltag, einer Überwindung sprachlicher Barrieren, einer hohen Selbstbestimmtheit Vgl. ebd. Michael David-Fox, „From Illusory ‚Society‘ to Intellectual ‚Public‘: VOKS, International Travel and Party-Intelligentsia Relations in the Interwar Period“, in: Contemporary European History, 11. Jg. Nr. 1 (2002), S. 7–32, hier S. 16–18. 9 Ebd., S. 17f. 10 Ebd., S. 19. 7 8

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der Landeserkundung und einer Vielfalt der Eindrücke, wie sie bei kürzeren Dienst- oder Konzertreisen kaum zu erreichen waren. Von solchen Langzeitaufenthalten, die nicht in eine Emigration mündeten, ist nur eine Handvoll Fälle bekannt. Parallel zu Ščerbačëvs elfmonatigem Aufenthalt in Dresden (Dezember 1922 – November 1923) hielt sich der deutschstämmige Komponist Lev Knipper (1898–1974), ein Neffe des Dichters Anton Čechov, in Freiburg und Berlin auf (September 1922 – Dezember 1923). Nach den auffällig dürren (und bisher nie überprüften) biographischen Selbstangaben unterzog sich Knipper in Berlin einer neunmonatigen Tuberkulosetherapie, nahm dann Unterricht bei „Adol’f Vejsman“, lernte in Donaueschingen Komponisten wie Hindemith und Alois Hába kennen und studierte schließlich bei Philipp Jarnach in Berlin.11 Wie der britische Historiker Antony Beevor in einem Buch über Knippers Schwester, die Filmschauspielerin Olga Tschechowa, enthüllte, war Knipper tatsächlich im Auftrag der Geheimpolizei OGPU in Deutschland. Nach Beevor bestand seine Hauptaufgabe darin, Informationen zu emigrierten Intellektuellen einzuholen und diese zur Rückkehr in die Sowjetunion zu bewegen.12 Weitere Langzeitaufenthalte sind erst wieder aus der Zeit um 1930 bekannt. In seinen Hintergründen noch wenig erforscht ist der Fall des russischjüdischen Wunderkinds Julian Krejn (1913–1996), der im Mai 1926 in Begleitung seines Vaters Grigorij Krejn (1879–1957) zu einer achtjährigen Musikausbildung nach Westeuropa aufbrach. Aus seinen in den 1960er Jahren verfassten, 2018 in deutscher Übersetzung erschienenen Memoiren geht hervor, dass sich Julian Krejn mit seinem Vater bis April 1927 zunächst in Wien aufhielt. Er nahm dort Klavierunterricht bei Eduard Steuermann und bemühte sich um ein franzöSo Knipper in seinen autobiographischen Aufzeichnungen in: Lev Knipper, Vospominanija, Dnevniki, Zametki [Erinnerungen, Tagebücher, Notizen], hrsg. von Tat’jana Gajdamovič, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1980, S. 16f. In dem Band geht Knippers autobiographischer Text immer wieder bruchlos in eine auktoriale Erzählung der Herausgeberin, der Witwe Lev Knippers, über. Jegliche philologische Kritik fehlt. Der Text ist in identischer Form nochmals 2005 erschienen: Tat’jana Gajdamovič, Lev Knipper, Gody žizni [Jahre des Lebens], Moskau: Kompozitor, 2005. Sämtliche darin enthaltenen Angaben sind völlig ungesichert, und entsprechend auch die darauf basierende Lexikographie. Ob beispielsweise der erwähnte „Adol’f Vejsman“ wirklich der in Freiburg wirkende Komponist Julius Weismann war (wie in zahlreichen Lexikonartikeln zu lesen) und nicht der in Berlin tätige Musikkritiker und IGNMPräsident Adolf Weißmann, bliebe zu untersuchen. 12 Vgl. Antony Beevor, The Mystery of Olga Chekhova, London: Viking, 2004; dt. als: Die Akte Olga Tschechowa, Das Geheimnis von Hitlers Lieblingsschauspielerin, aus dem Englischen von Helmut Ettinger, München: Bertelsmann, 2004, besonders S. 106–112, 115–117, 133, 165 f., 186–191, 194–198, 202f., 234f. Später im Zweiten Weltkrieg erhielt Knipper angeblich zweimal den Auftrag, unter Verwendung von Informationen seiner von den NS-Größen hofierten Schwester einen Mordanschlag auf Adolf Hitler zu verüben. 11

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sisches Visum. Anschließend ließen sich Vater und Sohn bis August 1934 in Paris nieder. Julian studierte dort bei Paul Dukas Komposition und erlangte eine gewisse Bekanntheit als Komponist und Pianist. Von November 1929 bis März 1930 hielten sich beide in Berlin auf, um dort weiterführende Ausbildungsmöglichkeiten zu sondieren (u. a. bei Franz Schreker). Neben einer anfänglichen, eher symbolischen Unterstützung durch das sowjetische Volkskommissariat für Bildungswesen wurde der Aufenthalt maßgeblich durch zwei russisch-jüdische Mäzene finanziert: von Mai 1926 bis Ende 1932 durch den seit 1891 in den USA lebenden Industriellen Abraham (Abram) Aaron Heller (1874–?), von April 1933 bis zum Frühjahr 1934 durch die erotisch-schillernde Tänzerin, Choreographin und Mäzenatin Ida Rubinstein (1883–1960). Abraham Heller verfolgte eine prokommunistische Mission, Ida Rubinstein war antisowjetisch eingestellt. Zumindest in der Schlussphase des Aufenthalts der Krejns scheint also die Perspektive einer Emigration bzw. – nach der gewissen kulturpolitischen Entspannung infolge des ZK-Beschlusses vom April 1932 – die einer binationalen Pendelexistenz dominiert zu haben. Der Fall rückt damit in die Nähe desjenigen von Sergej Prokof’ev, der 1918 legal ausgereist war und 1936 nach einer Zeit des Pendelns zwischen Paris und Moskau endgültig in die Sowjetunion zurückkehrte. Mit Prokof’ev hatten sich die Krejns in Paris einige Wochen vor ihrer Rückkehr beraten.13 Darüber hinaus sind längere Aufenthalte nur von ausübenden Musikern bekannt. Die Harfenistin Vera Dulova (1909–2000) studierte als Stipendiatin der sowjetischen Förderungsstiftung für junge Talente 1927 bis 1929 bei Max Saal in Berlin, wo sie im Februar 1927 mit Šostakovič bei dessen kurzem Abstecher vom Warschauer Chopin-Wettbewerb zusammentraf.14 Der Dirigent Leo GinzVgl. Julian Krein, „Notizen aus meinem musikalischen Leben“, hrsg. von Antonina Klokova und Jascha Nemtsov, Wiesbaden: Harrassowitz, 2018 (= Jüdische Musik. Studien und Quellen zur jüdischen Musikkultur, Bd. 15), bes. S. 6, 51 (Unterstützung durch das Volkskommissariat für Bildungswesen), S. 51, 75, 141, 145 (Unterstützung durch Abraham Heller), S. 148, 150, 154, 165, 177 (Unterstützung durch Ida Rubinstein), S. 145, 148, 167 f., 175 f. (Rückkehr nach Moskau), S. 168 f. (Beratung mit Prokof’ev), S. 176 f. (Perspektive einer Pendelexistenz zwischen Moskau und Paris). Julian Krejn erhielt nach der Rückkehr 1934 für einige Jahre eine Stelle am Moskauer Konservatorium, hatte aber dennoch große Eingliederungsschwierigkeiten. Seine spätere Laufbahn als Komponist war von mäßigem Erfolg und tiefer Frustration gekennzeichnet (vgl. ebd., S. 9 und 384). Der Vater führte Jascha Nemtsov zufolge nach seiner Rückkehr ein „von Mißachtung und bitterster Armut“ geprägtes Leben. Vgl. Jascha Nemtsov, Art. „Krejn, Grigorij Abramovič“, in: MGG2, Personenteil Bd. 10, Kassel: Bärenreiter, 2003, Sp. 664. 14 Vgl. Boris Dobrochotov, Art. „Dulova, Vera Georgievna“, in: Muzykal’naja ėnciklopedija [Musikenzyklopädie], Bd. 2, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, 1974, Sp. 327f.; Marina Lobanova, Art. „Dulowa, Wera Georgijewna“ in dem von Beatrix Borchard und Nina Noeske 13

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burg (1901–1979) machte von 1929 bis 1931 eine Art Langzeitpraktikum bei Hermann Scherchen und Otto Klemperer in der deutschen Hauptstadt.15 Und der Pianist und Musikwissenschaftler Michail Druskin studierte ebenda von 1930 bis 1932 bei Artur Schnabel.16 Zu dieser Zeit gab es in deutschen Musikkreisen bereits ein kommunistisches Kontaktmilieu, für das Druskin auch als Vermittler eintrat. So publizierte er nach der Rückkehr einen Artikel und eine Broschüre über Hanns Eisler und gab kommunistische Kampflieder von Eisler und anderen in russischen Bearbeitungen heraus.17 Vladimir Ščerbačëv in Dresden: Gunst und Grenzen der Quellen In der Sowjetunion lebten nach 1923, dem Ende der Massenemigrationswelle, nicht allzu viele Musikschaffende, die die westliche Nachkriegswelt aus eigener Anschauung kannten, und nur sehr wenige, die sie wirklich intensiv und umfassend kennengelernt hatten. Zu ihnen zählte Vladimir Ščerbačëv, der sich vom 17. Dezember 1922 bis zum 15. November 1923 in Deutschland aufhielt, überwiegend in Dresden. Er dürfte nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion allein aufgrund dieser exklusiven Erfahrung einen distinguierten Status innegehabt haben, auch wenn er nicht mit einschlägigen Artikeln oder Vorträgen an die Öffentlichkeit trat. Sein elfmonatiger Aufenthalt in Dresden verdient nicht nur deshalb eine eingehende Betrachtung, weil er außergewöhnlich gut dokumentiert ist: Ein Korpus von 56 veröffentlichen Briefen, die er etwa im Wochentakt an seine Frau in Petrograd schrieb, gibt einen differenzierten Einblick in die Aktivitäten und Erfahrungen des Komponisten in Deutschland. Eine Untersuchung dieses Komplexes ist auch deshalb von allgemeinerem Interesse, weil Ščerbačëv nach seiner herausgegebenen Musikerinnen-Lexikon des Internetportals Musik und Gender im Internet, Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2003ff. (https://mugi.hfmt-hamburg.de/artikel/Wera_Dulowa.html; abgerufen am 9. 9. 2019). 15 Vgl. I. M. Markov, Art. „Ginzburg, Leo Moricevič“, in: Muzykal’naja ėnciklopedija [Musikenzyklopädie], Bd. 1, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, 1973, Sp. 985. 16 Vgl. Maria Kostakeva, Art. „Druskin, Michail Semënovič“, in: MGG2, Personenteil Bd. 5, Kassel: Bärenreiter, 2001, Sp. 1454f., hier Sp. 1454. 17 Michail Druskin, „Gans Ėjsler i ego gruppa [Hanns Eisler und seine Gruppe]“, in: Sovetskaja muyzka, 1933 Nr. 4, S. 57–63; ders., Gans Ėjsler i rabočee muzykalʼnoe dviženie v Germanii [Hanns Eisler und die Arbeitermusikbewegung in Deutschland], Moskau: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1934; ders. (Bearb.), Pesni revoljucionnoj Germanii [Lieder des revolutionären Deutschland], Leningrad: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1932; Ganns Ėjsler [Hanns Eisler], 1. Ballada invalidov vojny [Ballade von der Krüppelgarde], 2. Krest’janskoe vosstanie [Bauernrevolution], für Singstimme und Klavier bearbeitet von Michail Druskin, Moskau/Leningrad: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1933.

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Rückkehr in die Sowjetunion zum spiritus rector einer tiefgreifenden pädagogischen Reform am Leningrader Konservatorium wurde und damit das sowjetische Musikleben nachhaltig prägte. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese seine Agenda durch das Kennenlernen des deutschen Musiklebens mitinspiriert war. Dass die Quellensituation in Bezug auf Ščerbačëvs Deutschlandaufenthalt ungewöhnlich günstig ist, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass zu dem Komponisten bislang kaum so etwas wie eine kritische Biographik existiert. Die Petersburger Musikwissenschaftlerin Raisa Slonimskaja, Gattin des Komponisten Sergej Slonimskij, hat in zwei Dokumentarbänden Auszüge aus Ščerbačëvs Briefkorrespondenz sowie eine Reihe von Memoiren von Zeitgenossen und Schülern zugänglich gemacht,18 außerdem Untersuchungen zur Stilistik und Ästhetik von Ščerbačëvs sinfonischem Schaffen vorgelegt.19 Eine Biographie im engeren Sinne hat die zweifellos beste Kennerin von Ščerbačëvs Leben und Schaffen nicht verfasst.20 Darüber hinaus haben vor allem die erwähnten Reformaktivitäten am Leningrader Konservatorium die Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft gefunden, u. a. in einer Studie von David Edwin Haas, der bislang einzigen Arbeit eines westlichen Forschers zu Ščerbačëv. Sie enthält u. a. eine Analyse von dessen zu größeren Teilen in Dresden entstandener Zweiter Sinfonie.21

Raisa Slonimskaja (Hrsg.), V. V. Ščerbačëv. Stat’i, Materialy, Pis’ma [Artikel, Materialien, Briefe], Leningrad: Sovetskij kompozitor, 1985; dies. (Hrsg.), Čuvstvo puti. Kompozitor Vladimir Ščerbačëv [Das Gespür für den Weg. Der Komponist Vladimir Ščerbačëv], St. Petersburg: Kompozitor, 2006. 19 Raisa Slonimskaja, Simfoničeskoe tvorčestvo Vladimira Ščerbačëva v kontekste kulʼtury [Vladimir Ščerbačëvs sinfonisches Schaffen im Kontext der Kultur], St. Petersburg: Kompozitor, 2012. Das Buch basiert auf dem Kapitel „Simfoničeskoe tvorčestvo V. V. Ščerbačëva [V. V. Ščerbačëvs sinfonisches Schaffen]“ aus dem Sammelband von 1985 (dies., V. V. Ščerbačëv, wie Anm. 18, S. 48–81), ergänzt um musik- und kulturhistorische Exkurse. Ein neuer Forschungsstand ist trotz des fast 40-jährigen Abstands kaum auszumachen. Die beigegebene Bibliographie umfasst 181 Titel ausschließlich russischer Autoren, davon nur drei nach 1985 erschienene (abgesehen von einigen jüngeren Publikationen der Verfasserin). 20 Die älteren biographischen Porträts von Valerian Bogdanov-Berezovskij (Moskau 1947) und Genrich Orlov (Lgr. 1959) sind knapp gehalten (16 bzw. 128 Seiten) und unterliegen den zeittypischen ideologischen Restriktionen. Bei Orlov wird der Dresden-Aufenthalt lediglich einmal in einer Fußnote zum Entstehungshintergrund der (ausführlich besprochenen) Zweiten Sinfonie erwähnt. Er wird dort als „Diensturlaub“ (služebnyj otpusk) rubriziert – wiederum eine neue Variante, die die Einpassung in eine sowjetische Normalität leisten soll. Vgl. Genrich Orlov, Vladimir Vladimirovič Ščerbačëv, Očerk žizni i tvorčestvo [Skizze seines Lebens und Schaffens], Leningrad: Sovetskij kompozitor, 1959, S. 47. 21 David Edwin Haas, Leningradʼs Modernists. Studies in Composition and Musical Thought, 1917–1932, New York: Peter Lang (= American University Studies 20), S. 85–91 („Shcherbachyov’s Course in Musical Form“) und 123–154 („Shcherbachyov’s Second Symphony: Symphonic Apocalypse on Themes from Aleksandr Blok“). 18

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Für den des Russischen nicht mächtigen Leser ist über das kompositorische Schaffen des in der Sowjetunion einst hoch geachteten Künstlers nur wenig zu erfahren, zumal wichtige seiner Werke nicht im Druck vorliegen bzw. die internationale Verbreitung existierender Ausgaben marginal ist. Dies gilt insbesondere für die eben erwähnte Zweite Sinfonie, eine sinfonische Kantate Mahler’schen Formats über Gedichte des russischen Symbolisten Aleksandr Blok. Sie erschien erst 1986 in einem Faksimiledruck in Kleinstauflage.22 Nicht allein wegen ihrer Monumentalität, auch wegen ihrer geradezu selbstquälerischen Aufarbeitung des Verlusts einer vergangenen Welt kann sie als ein Hauptwerk der sowjetischen Sinfonik der 1920er Jahre gelten – ein bislang verkanntes Pendant zu Nikolaj Mjaskovskijs gleichzeitig entstandener, ähnlich deutbarer Sechster Sinfonie.23 Ščerbačëvs Zweite Sinfonie, die den Beinamen „Blokovskaja“ (BlokSinfonie) erhielt, ist zu Lebzeiten des Komponisten nur ein einziges Mal erklungen, nämlich am 14. Dezember 1927 in der Leningrader Philharmonie unter Vladimir Dranišnikov. Die nächste Aufführung fand erst 1987 anlässlich von Ščerbačëvs 100. Geburtstag unter Leitung von Vitalij Kataev statt, an selber Stätte mit demselben Orchester.24 Immerhin ist seit 2011 ein Live-Mitschnitt des etwa eine Stunde dauernden Werks des American Symphony Orchestra unter Leon Botstein erhältlich.25 Ščerbačëvs Dresdner Briefe an seine Frau, die Kunsthistorikerin Marija Illarionovna Ščerbačëva, geb. Izjumova (1888–1968), wurden von Raisa Slonimskaja in den beiden von ihr herausgegebenen Dokumentarbänden in identischem Umfang publiziert.26 Beide Editionen enthalten 56 von 6127 erhaltenen Briefen, V. V. Ščerbačëv, Simfonija No. 2. Dlja solistov (soprano, tenor), chora i simfoničeskogo orkestra. Partitura [Sinfonie Nr. 2 für Solisten (Sopran, Tenor), Chor und Sinfonieorchester. Partitur], Leningrad: Muzfond, 1986. 23 In Ščerbačëvs Zweiter Sinfonie fehlen allerdings explizite Verweise auf die Revolution, wie sie Mjaskovskij in Gestalt der französischen Revolutionslieder Carmagnole und Ça ira in sein sonst tief tragisches Werk integriert hat. An diese Zitate, deren Funktion im Werkganzen keineswegs eindeutig ist, klammerte sich die optimismusfixierte sowjetische Hermeneutik. 24 Vgl. Slonimskaja, Čuvstvo puti (wie Anm. 18), S. 93. 25 Als mp3-Album: Vladimir Shcherbachev, Symphony No. 2, „Blokovskaya“, Leon Botstein (Dirigent), Marina Poplavskaya (Sopran), Michael Wade Lee (Tenor), Concert Chorale of New York, American Symphony Orchestra 2011. Die Aufführung fand am 25. Januar 2008 in der Avery Fisher Hall im New Yorker Lincoln Center statt. 26 Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 103–209; dies., Čuvstvo puti (wie Anm. 18), S. 90–220. Auch die Einleitung und die (knappe) Kommentierung der jüngeren Ausgabe sind – von geringfügigen Aktualisierungen abgesehen – gegenüber den älteren Texten unverändert. 27 Ščerbačëvs eigener Nummerierung zufolge existierten ursprünglich 66 Briefe aus Dresden. Vgl. Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 104; dies., Čuvstvo puti (wie Anm. 18), S. 93. 22

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sämtlich mit gekennzeichneten, aber durch die Herausgeberin nicht erläuterten Kürzungen.28 Diese beiden Ausgaben, ergänzt durch einige weitere zeitgenössische Quellen, bilden die Grundlage für die folgende Untersuchung.29 Dienstreise – Auszeit – Sprungbrett zur Emigration? Die Hintergründe von Ščerbačëvs Deutschlandaufenthalt sind bislang nicht kritisch hinterfragt worden. Slonimskaja rubriziert ihn als „tvorčeskaja komandirovka“, also als „künstlerische Dienstreise“.30 In dem gesamten zugänglichen, über 100 Druckseiten umfassenden Briefkorpus findet sich aber keinerlei Hinweis auf irgendeinen externen Auftraggeber oder Financier der Reise. Denkbar gewesen wären etwa das Volkskommissariat für Aufklärung (NARKOMPROS), an dem Ščerbačëv von März 1919 bis Mai 1921 leitende Funktionen innehatte, das Russische Institut für Geschichte der Künste (RIII), an dem er im Februar 1920 zum Wissenschaftlichen Mitarbeiter ernannt wurde, oder auch das PetroEs ist zu vermuten, dass die Kürzungen insbesondere private Schichten der Korrespondenz betreffen. Möglicherweise haben sich die Nachfahren gegen die Veröffentlichung bestimmter Passagen verwahrt. Bezeichnend ist, dass in der Einführung der Herausgeberin von 2006 gegenüber der weitgehend identischen Fassung von 1985 ein Satz ergänzt ist, in dem von der „generellen Polemik mit seiner Frau“ die Rede ist (Slonimskaja, Čuvstvo puti, wie Anm.18, S. 92). Ščerbačëv hat sich um 1926 von seiner ersten Frau getrennt. Die Briefe von seiner Dienstreise im Herbst 1927 sind bereits an seine neue Lebensgefährtin, die Musikbibliothekarin Vera Alekseevna Znamenskaja (1892–1968) adressiert (siehe Anm. 323; vgl. auch die Kurzbiographie ehemaliger Mitarbeiter auf den Seiten der St. Petersburger Russischen Nationalbibliothek [Rossijskaja nacionalʼnaja biblioteka], http://nlr.ru/nlr_history/persons/info.php?id=778; abgerufen am 31. 3. 2019). In einem langen Brief aus Dresden vom 26. September 1927 spricht Ščerbačëv davon, dass er im vergangenen Jahr die „schwersten Tage seines Lebens“ erlebt habe (St. Petersburg Rossijskaja nacionalʼnaja biblioteka [Russische Nationalbibliothek], f. 1088 [V. V. Ščerbačëv und V. A. Znamenskaja], ed. 169 [43 Briefe an Vera Znamenskaja], Bl. 44v). In Slonimskajas Einführung von 2006 ist außerdem ein Absatz über Ščerbačëvs Kontakt mit dem Emigranten Nikolaj Metner ergänzt – ein Aspekt, der 1985 möglicherweise nicht herausgestellt werden sollte. Slonimskaja erwähnt in der Einleitung zu dem Memoirenteil des Bandes von 2006, dass 1985 „jegliche persönlichen Erinnerungen und Memoiren“ von der sowjetischen Zensur verboten worden seien. Deshalb hätten einige der damals gesammelten Erinnerungstexte nicht gedruckt werden können (ebd., S. 29). Bestimmte Kürzungen der Ausgabe der Dresdner Briefe von 1985 könnten somit auch einen politischen Zensurhintergrund haben. In der neueren Edition von 2006 ist dazu nichts mitgeteilt – die Kürzungen von 1985 blieben sämtlich unangetastet. 29 Eine Sichtung der originalen Briefe war mir nicht möglich. Sie befinden sich im Privatbesitz der Nachfahren Ščerbačëvs. Vgl. Slonimskaja, Čuvstvo puti (wie Anm. 18), S. 94. 30 Vgl. Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 104; dies., Čuvstvo puti (wie Anm. 18), S. 91. Zum Terminus ‚komandirovka‘ vgl. Anm. 5. 28

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grader Konservatorium, wo er seit 2. Februar 1922 in einer Reformkommission mitwirkte.31 An einigen Stellen in Ščerbačëvs Briefen wird erkennbar, dass er zwar legal zu Zwecken der Weiterbildung ausgereist,32 aber nicht im speziellen Auftrag einer sowjetischen Institution unterwegs war. So bat er zwei Monate nach seiner Ankunft in Dresden seine Frau, ihm „irgendeine Bescheinigung vom Institut“ – gemeint ist offenbar das Institut für Geschichte der Künste – zu beschaffen. In diesem Dokument sollte bestätigt werden, dass er Komponist und Mitarbeiter des Instituts sei, und es sollte um Unterstützung für seine „wissenschaftliche Arbeit im Ausland“ gebeten werden. Er wünschte sich, dass das Papier „offiziell“ formuliert sei und gleichzeitig „möglichst marktschreierisch“, am besten in Deutsch, Französisch und Italienisch.33 Wäre Ščerbačëv offiziell von dem Institut mit einem wissenschaftlichen Forschungsauftrag geschickt worden, hätte er ein vergleichbares Dokument sicherlich mit auf den Weg bekommen. Es ist auch nicht zu erkennen, dass Ščerbačëv in Deutschland irgendein wissenschaftliches Projekt verfolgt hätte. Vermutlich sollte ihm das in drei Sprachen auszufertigende Papier dazu dienen, sein Kontaktnetzwerk in Westeuropa auszweiten und bei Bedarf Visa für Frankreich oder Italien beantragen zu können. Dass er es tatsächlich erhalten hat,34 spricht dafür, dass sein Petrograder Kollegenumfeld – in politischer Hinsicht bestenfalls Mitläufer, wenn nicht stille Dissidenten – mit seinem Ansinnen konspirierte. Gegen eine offizielle Dienstreise sprechen auch Ščerbačëvs Scherereien bei der Verlängerung seines am 15. März 1923 auslaufenden Drei-Monats-Visums. Weil in seinem Pass als Aufenthaltszweck „zum Studium“ eingetragen war, glaubte er, irgendeine Anbindung an eine deutsche Lehranstalt zu benötigen. Sich an das Dresdner Konservatorium zu wenden, war ihm peinlich. Deshalb wollte er sich nötigenfalls als freier Hörer in der Abteilung Kunstgeschichte des „Polytechnischen Instituts“ einschreiben.35 Drei Wochen später berichtete er, dass ihm die Diese biographischen Angaben nach: Raisa Slonimskaja, „Chronograf žizni i dejatelʼnosti V. V. Ščerbačëva“ [Chronik zu Leben und Tätigkeit von V. V. Ščerbačëv], in: dies., V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 338–341, hier S. 339. 32 In seinem Pass war als Reisezweck „zum Studium“ eingetragen (BrDD, 6. 3. 1923, S. 127f.). Dieser und alle folgenden Verweise auf Ščerbačëvs Briefe beziehen sich auf Slonimskajas Edition von 1985. „BrDD“ bedeutet: Brief Vladimir Ščerbačëvs aus Dresden an Marija Ščerbačëva in Petrograd, zit. nach: Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 103–209. In den Briefen deutsch geschriebene Wörter (wie hier „zum Studium“) werden kursiv wiedergegeben. 33 BrDD, 18.–21. 02. 1923, S. 123. 34 Anfang April bedankte sich Ščerbačëv bei seiner Frau für den Erhalt der Papiere, verbunden mit dem Hinweis, dass sie ihm in Deutschland sehr nützlich seien (BrDD, 4. 4. 1923, S. 139). 35 BrDD, 6. 3. 1923, S. 127f. An der „Sächsischen Technischen Hochschule“, dem früheren 31

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„Komödie des Eintritts in eine Lehranstalt“ erspart geblieben sei. Die Angabe seines Berufs sei für die Verlängerung des Visums ausreichend gewesen. Er fügte in diesem Zusammenhang hinzu, dass sich viele ausländische „Spekulanten“ unter dem Deckmantel „Studium“ tarnten und die Deutschen deshalb besonders misstrauisch gegen alle Ausländer seien.36 Und noch eine dritte Begebenheit deutet darauf hin, dass Ščerbačëv nicht im Auftrag einer Institution unterwegs war. Nachdem ihm seine Frau vom Kongress der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM) in Salzburg geschrieben und ihm vorgeschlagen hatte, dorthin als Repräsentant Russlands zu fahren, antwortete er, dass er dort nicht einfach „ohne jegliche Vollmacht“ auftreten könne. Auf eigene Initiative wolle er aber nicht hinfahren, weil dies „eine Menge Geld“ koste.37 Und schließlich titulierte Ščerbačëv selbst in Personalbögen aus den Jahren 1946/47 seinen Deutschlandaufenthalt nicht als „komandirovka“, sondern als „Bildungs- und Kurreise“. Bei einer im Jahr 1927 unternommenen zweimonatigen Reise nach Deutschland und Paris gab er dagegen ausdrücklich an, vom NARKOMPROS „kommandiert“ (also auf Dienstreise geschickt) worden zu sein.38 Ščerbačëv scheint den Deutschland-Aufenthalt also auf eigene Initiative unternommen zu haben – und das bedeutet auch: auf eigene Rechnung. Sein Ziel, „Königlich Sächsischen Polytechnikum“ und der heutigen TU Dresden, wurde Kunstgeschichte an der sogenannten „Allgemeinen Abteilung“ gelehrt. Vgl. Reiner Pommerin, Geschichte der TU Dresden. 1828–2003, Köln: Böhlau, 2003 (= 175 Jahre TU Dresden, 1), S. 140–145. 36 BrDD, 28. und 29. 3. 1923, S. 135. 37 BrDD, 18. 7. 1923, S. 180. 38 In drei Personalbögen des Leningrader Konservatoriums aus den Jahren 1946/1947 trug Ščerbačëv als Zweck der Reise „obrazovatel’naja i lečebnaja“ ein, also „Bildungs- und Kurreise“ (Archiv des St. Petersburger Staatskonservatoriums, delo Nr. 265: „Otdel kadrov. Ličnye dela professorsko-prepodavatel’skogo sostava, rabočich, služaščich [Personalabteilung. Personalakten der pädagogisch-professoralen Mitarbeiter sowie der Arbeiter und Angestellten]“, Bl. 104f.: „Ličnyj listok [Personalbogen]“, 12. 5. 1947; ebd., Bl. 114f.: „Ličnyj listok“, 23. 3. 1946; ebd., Bl. 116f.: „Ličnyj listok“, 23. 3. 1946 (zwei unterschiedliche Formulare mit demselben Datum). In einem ebenfalls in den Personalakten des Konservatoriums enthaltenen „Kurzen Lebenslauf“ vom 13. 9. 1946 ist der Kuraspekt nicht genannt, dafür das Bildungsziel präzisiert: „Kennenlernen des Ausbildungssystems in Musikeinrichtungen, Konservatorien und Akademien“ (ebd., „Kratkoe žizneopisanie“, Bl. 106f.). Diese Angaben beziehen sich aber offensichtlich auf die hier mit dem Dresden-Aufenthalt zusammengefasste Reise im Jahr 1927 nach Leipzig, Dresden, Berlin und Paris. Von Letzterer heißt es in einer weiteren Variante des Lebenslaufs, dass er „vom NARKOMPROS als Vertreter der UdSSR zum Beethovenjubiläum nach Wien kommandiert worden sei“, sich aber verspätet habe und deshalb die Reise „zum Studium der neuesten Literatur und der Lehrpläne in Konservatorien und Akademien“ genutzt habe (ebd., Bl. 188f.).

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so wie es sich aus seiner Briefchronik darstellt, war es zunächst, im ruhigen Dresden, wo er keinerlei privaten oder beruflichen Kontakte hatte, konzentriert an seiner Zweiten Sinfonie zu arbeiten, einem hochambitionierten Werk, von dem er sich offensichtlich eine durchschlagende Wirkung versprach. Wie im Verlauf der Korrespondenz nach und nach erkennbar wird, versuchte er gleichzeitig, Aufführungen seiner Werke im Ausland zu initiieren und – was sich ab Ende Februar 1923 zur beherrschenden Agenda entwickelte – eine Anstellung als Pädagoge oder Theaterkapellmeister zu bekommen. Mit Letzterem knüpfte Ščerbačëv unmittelbar an seine Aktivitäten aus der Vorkriegszeit an. Von Februar bis August 1911 arbeitete er, noch als Student des St. Petersburger Konservatoriums, auf Empfehlung von dessen Direktor Glazunov als Korrepetitor für Djagilevs Ballets russes. Die Tournee der Truppe führte ihn seinerzeit u. a. nach Rom, Venedig, Monte Carlo, Paris und London.39 Er konnte dabei die triumphale Uraufführung von Stravinskijs Pétrouchka am 13. Juni 1911 in Paris und weitere umjubelte Inszenierungen des Ensembles hautnah miterleben. Unmittelbar nach Abschluss seiner Konservatoriumsausbildung im April 1914 brach Ščerbačëv zu einer erneuten Auslandsreise auf, die ihn über Berlin und Wien nach Italien führte. Nach Angaben von Boris Kac nahm er dort – wiederum auf Empfehlung Glazunovs – Privatunterricht. Dieser Aufenthalt wurde am 1. Oktober 1914 abrupt durch die Einberufung in die Kaiserlich Russische Armee unterbrochen.40 Über die weiteren Hintergründe dieser zweiten Auslandsreise ist nichts bekannt. In den bereits zitierten Personalbögen des St. Petersburger Konservatoriums rubrizierte Ščerbačëv auch diesen Aufenthalt als „Bildungsreise“ (obrazovatelʼnaja).41 Die in dem Dokument genannten Stationen Levanto, Genua, Venedig und Florenz könnten darauf hindeuten, dass Ščerbačëv nach erfolgreichem Abschluss seines Studiums42 eine Art Grand Tour durch das klassische Land des Bildungstourismus unternahm und dies möglicherweise mit privatem Unterricht verband. Denkbar ist auch, dass Ščerbačëv seine durch das Engagement bei Djagilev begründete Auslandskarriere weiterverfolgen wollte – schließlich knüpfte er nach neunjähriger Unterbrechung infolge von Armeedienst und Bürgerkrieg 1923 in Dresden genau daran wieder an. Vgl. Vladimir Ščerbačëv, „Avtobiografija“ [Autobiographie; 1949], in: Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 93–95, hier: S. 94; Boris Kac, „K tvorčeskomu portretu V. V. Ščerbačëva“ [Zum künstlerischen Porträt V. V. Ščerbačëvs], in: ebd., S. 5–48, hier S. 14f. 40 Vgl. Kac, „K tvorčeskomu portretu“ (wie Anm. 39), S. 19. 41 „Ličnyj listok“, 12. 5. 1947 (wie Anm. 38), Bl. 104r. 42 Der vier Jahre jüngere Sergej Prokof’ev dirigierte beim festlichen Absolventenkonzert Ščerbačëvs Sinfonisches Bild Šestvie (Prozession). Vgl. Slonimskaja, „Chronograf“ (wie Anm. 31), S. 338. 39

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Selbstzensur Bevor Ščerbačëvs diesbezügliche Aktivitäten im Einzelnen vorgestellt werden, ist zunächst eine kritische Bewertung der verfügbaren Quellen nötig. Dies vor allem deshalb, weil hier die für einen Sowjetbürger heikle Frage im Raum steht, welche zeitliche Perspektive sein Auslandsaufenthalt eigentlich haben sollte – konkret: ob der Deutschlandaufenthalt dazu diente, die Möglichkeiten einer Emigration zu sondieren. Den Großteil der Briefe adressierte Ščerbačëv an die Dienstadresse seiner Frau, die als Kunsthistorikerin in der Abteilung für westeuropäische Kunst an der Petrograder Eremitage beschäftigt war.43 Streng vertrauliche Zustellung konnte er also nicht erwarten. Ohnehin musste er mit der damals bereits massenhaft durchgeführten Zensurkontrolle der Auslandspost durch die GPU rechnen. Es ist also davon auszugehen, dass er politisch verfängliche Inhalte in den Briefen von vornherein unterdrückte. Auffällig ist, dass in dem gesamten Briefkorpus nirgends einschlägige politische Termini wie „marxistisch“, „sozialistisch“ o. ä. vorkommen – weder im positiven noch im negativen Sinne. Nur ein einziges Mal taucht der Begriff „sowjetisch“ auf – in eher positiver Verwendung.44 Kaum etwas deutet darauf hin, dass hier ein Bürger der Russischen Sowjetrepublik schreibt. Vielmehr vermitteln die Briefe den Eindruck, als ob die alte St. Petersburger Welt der Vorkriegszeit noch ungebrochen intakt wäre. Die wenigen kritischen Bemerkungen über die Zustände in Russland beziehen sich immer auf traditionelle Mentalitätstopoi wie die sprichwörtliche russische „Wildheit“ und „Unkultiviertheit“,45 niemals auf konkrete soziale Verhältnisse unter der Sowjetherrschaft. Eine politische Dimension scheint allein bei gelegentlichen kapitalismuskritischen Etikettierungen auf, die sich meist auf ein kommerzgeleitetes Kunstverständnis beziehen. So bezeichnete Ščerbačëv die Frau des mit ihm befreundeten Bühnenmalers Mstislav Dobužinskij als „schrecklich merkantil-materialistisch“.46 Einen böhmischen Großgrundbesitzer und Mäzen diffamierte er als „buržuj“47 – das im sowjetischen Agitprop-Jargon gängige Pejorativum zu „bourgeois“. Die Verwendung solcher Begriffe muss aber nicht als Bekenntnis zur soIm Brief vom 28. und 29. März 1923 erwähnt Ščerbačëv ausdrücklich, dass er diesen Brief ausnahmsweise an die Privatadresse adressiere, weil er an den Feiertagen (Ostern) eintreffen werde und seine Frau da nicht im Dienst sei (BrDD, 28. und 29. 3. 1923, S. 135). 44 Bei der Rede über „unsere sowjetischen Verlage“ und deren Bemühung um Verbreitung ihrer Titel im Ausland (BrDD, 4. 4. 1923, S. 139). 45 BrDD, 21. 12. 1923, S. 108. 46 BrDD, 5. 8. 1923, S. 188. 47 BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 126. 43

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zialistischen Klassenideologie gewertet werden. Sie kann gleichermaßen aus einer älteren idealistischen Gesellschaftskritik der russischen Intelligenzija abgeleitet werden. Ebenso auffällig ist, dass das Phänomen „Emigration“ in den Briefen nicht explizit beim Namen genannt wird. Der Großteil der russischen Bekannten, mit denen Ščerbačëv in Deutschland in Kontakt trat, waren Emigranten – bzw. zu diesem Zeitpunkt in der Regel treffender: Migranten, die nicht die Absicht hatten, unter den herrschenden politischen Verhältnissen nach Russland zurückzukehren. Die damit verbundenen Fragen, Zweifel und Nöte waren zweifellos zentrale Themen aller gegenseitig geführten Gespräche. In den Briefen ist von ihnen aber nicht die Rede. Wenn überhaupt einmal das Wort „Emigrant“ fällt, wird es umgehend ins Zwielicht gerückt, etwa wenn Ščerbačëv schreibt, dass das russische Emigrantenpublikum (dessen Beifall nichts wert sei) mehrheitlich ein „Spekulantenpublikum“ sei.48 Bei der Schilderung seines ersten Dresdner Kontakts mit einem Landsmann, dem Komponisten, Pianisten, Dirigenten und Regisseur Isaj Dobrovejn (1891–1953), merkte Ščerbačëv umgehend an, dass dieser „anscheinend“ bald nach Russland zurückkehren werde.49 Fakt ist dagegen, dass Dobrovejn mit seiner Familie 1922 Russland verlassen hatte und schon Ende desselben Jahres zu einer geradezu schwindelerregenden Karriere in Deutschland gestartet war. Nach einem forschen Vorsprechen bei dem Dresdner Generalmusikdirektor Fritz Busch wurde er quasi von der Straße weg als Regisseur für die Inszenierung des Boris Godunov an der Sächsischen Staatsoper engagiert,50 die am 28. Februar 1923 ihre umjubelte Premiere hatte. Busch brachte Dobrovejn, der sich in Deutschland Dobrowen schrieb, auch als Dirigent heraus. Er ließ ihn im Juni 1923 bei den Züricher Festspielen eine Vorstellung des Boris Godunov und ein Symphoniekonzert der Dresdner Staatskapelle mit Skrjabins Poème de l’extase und Petr Čajkovskijs Sechster Sinfonie dirigieren.51 Im gleichen Jahr (ein Jahr nach der Emigration!) verlegte bereits die Universal Edition seine Werke und pries ihn in den Musikblättern des Anbruch als „hochbegabten“ Komponisten.52 Mit der Ernennung zum 1. Kapellmeister der Großen Volksoper Berlin 1924 hob

BrDD, 6. 1. 1923, S. 115. BrDD, 21. 12. 1922, S. 107. 50 Dies erzählt Fritz Busch recht amüsant in seinen Memoiren Aus dem Leben eines Musikers, Zürich: Rascher & Cie., 1949, S. 135f. 51 Eine enthusiastische Kritik zu diesem Konzert („Th.“, „Symphoniekonzert in der Dresdner Staatsoper“) druckten die Musikblätter des Anbruch, 5. Jg. Heft 10 (Dezember 1923), S. 307. Zum außergewöhnlichen Interesse an Dobrovejn in Dresden vgl. auch Anm. 125. 52 Halbseitige Anzeige in Musikblätter des Anbruch, 5. Jg. Heft 10 (Dezember 1923). 48 49

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Dobrovejn schließlich zu einer internationalen Karriere als Dirigent und Regisseur ab.53 Ohne von diesen sensationellen Erfolgen seines Landsmanns etwas zu schreiben, berichtet Ščerbačëv ein paar Absätze später, dass er demnächst Fritz Busch kennenlernen werde und hoffe, dass dieser ihm „bei seiner Unterbringung im Theater und in Konzerten“ behilflich sein werde.54 Höchstwahrscheinlich hatte der bereits reüssierte Dobrovejn bei der Anbahnung dieses hochkarätigen Kontakts die Finger im Spiel. Ščerbačëv erwähnt in dem zitierten Brief aber nichts dergleichen, vielleicht, um die Emigrationsperspektive bei Dobrovejn und auch bei sich selbst nicht sichtbar werden zu lassen. Am 6. Januar schrieb Ščerbačëv erstmals nebulös von einer „musikalischen Karriere“ im Ausland, allerdings nicht, ohne sogleich eine längere Einlassung über die Aussichtslosigkeit bzw. Verwerflichkeit eines solchen Wegs für einen russischen Musiker anzuschließen. So seien alle Informationen über schwindelerregende Erfolge russischer Künstler mit großer Vorsicht zu genießen. Eine erfolgreiche Karriere könne nur mit Mitteln verfolgt werden, die für ihn selbst in „moralischer und materieller Hinsicht“ völlig unannehmbar seien. Er schilderte den Fall eines in Russland vordem völlig unbekannten und offenbar talentlosen Dirigenten „B.“, der in Deutschland für hohe Summen Orchester gemietet habe, dadurch bekannt geworden sei und es bis nach Amerika gebracht habe. Der „ehrliche und stolze Weg“ zum Erfolg würde dagegen sehr, sehr viel Zeit erfordern.55 Im Verlauf der Korrespondenz berichtete Ščerbačëv immer offener über seine Bemühungen, eine existenzsichernde Anstellung im Ausland zu finden. Und er forderte auch seine Frau wiederholt auf, sich um Ausreisepapiere zu bemühen, um mit ihm und ihrem Sohn eine Zeit lang im Ausland zu leben. Wegen der anzunehmenden Selbstzensur bei den Themen Politik und Emigration lässt sich schwer beurteilen, ob Ščerbačëv wirklich nur an eine begrenzte Auszeit für sich und die Familie mit der Möglichkeit zur künstlerischen Weiterprofilierung dachte, oder ob er nicht doch eine dauerhafte Emigration im Visier hatte. Manchmal muten seine Beteuerungen des Rückkehrwunsches ziemlich aufgesetzt an: Meine Hauptsorge bei meinen Auslandsplänen ist, euch [die Frau und den Sohn] für einige Zeit hierherzubringen, damit ihr ein wenig Luft holen und unter anderen Bedingungen leben könnt. Aber dazu brauche ich auch die volle Sicherheit, ein festes Ein-

53 Vgl. Christoph Flamm, Art. „Dobrovejn, Isaj Aleksandrovič“, in: MGG2, Personenteil Bd. 5, Kassel: Bärenreiter, 2002, Sp. 1159–1162. 54 BrDD, 21. 12. 1922, S. 108. 55 BrDD, 6. 1. 1923, S. 114.

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kommen zu haben, und die (materielle) Möglichkeit, jederzeit nach Russland zurückkehren zu können.56

Unter der Prämisse einer mutmaßlich nicht ganz offenen Darstellung in den Briefen werden in den folgenden Unterkapiteln sieben verschiedene Karriereoptionen rekonstruiert, die Ščerbačëv während seines Dresdner Aufenthalts verfolgte. Aufführungen eigener Werke Die Ambition, sich für Aufführungen seiner eigenen Werke einzusetzen, klingt schon in Ščerbačëvs zweitem Brief vom 21. Dezember 1922 an, im Zusammenhang mit dem sich anbahnenden Kontakt zu Fritz Busch. Diesem Vorhaben war eine ziemlich wechselvolle Geschichte beschieden. Zu einem förmlichen Besuch bei dem am 1. August 1922 berufenen Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatstheater konnte sich Ščerbačëv offenbar nicht durchringen. Er begrüßte ihn lediglich einmal kurz im Februar.57 Stattdessen bereitete ihm Buschs Protegé Dobrovejn den Weg. Ščerbačëv traf im April Dobrovejn zusammen mit dem deutsch-baltischen Musikschriftsteller Oskar von Riesemann58 zufällig in Dresden auf der Straße. Ščerbačëvs Bericht zufolge riefen die beiden noch am selben Tag bei ihm an und baten ihn um irgendeine seiner Partituren für Busch. Er habe BrDD, 10. 7. 1923, S. 175. BrDD, 28. 4. 1923, S. 147. Nikolaj Metner, der seit Anfang März 1923 in Pillnitz bei Dresden wohnte, berichtete dagegen seinem Bruder Ėmilij Mitte April, dass er Fritz Busch („sehr talentiert, nett, aber alkoholfrei und nicht allzu bedeutend“) kennengelernt habe. Vgl. N. K. Metner, Pisʼma [Briefe], hrsg. von Zarui Apetjan, Moskau: Kompozitor, 1973, S. 249. Kurz zuvor, am 6. April, hatte Metner Dobrovejn brieflich zu dessen so „sorgfältiger und werkgetreuer“ Inszenierung des Boris Godunov gratuliert (ebd., S. 248). 58 Zu Riesemanns Biographie und Bedeutung vgl. den Kommentar zu dessen Text „Die Strömungen des modernen russischen Musiklebens“ (1922) in: Mende/Poldiaeva (Hrsg.), Deutsch-russische Musikbegegnungen, Band 2: Dokumente und Chroniken (wie Anm. 6). Riesemann hatte Ščerbačëv im Februar 1923 unbekannterweise gebeten, ihm Informationen über sich für eine geplante Geschichte der russischen Musik nach Wien zu schicken. Ščerbačëv bat daraufhin seine Frau um drei Exemplare eines wohlwollenden Artikels des Petrograder Musikkritikers Nikolaj Malkov (BrDD, 18.–21. 2. 1923, S. 123). Nach seiner Begegnung auf der Straße charakterisierte er Riesemann als „großen Musikliebhaber“, aber auch als „gewaltigen Stümper in Musikfragen“ (BrDD, 28. 4. 1923, S. 147). Riesemann veröffentlichte 1923 und 1926 lediglich zwei Bände Monographien zur russischen Musik (München: Drei Masken), die aber nicht bis ins 20. Jahrhundert reichen. In dem Überblicksartikel „Die Strömungen des modernen russischen Musiklebens“ in den Musikblättern des Anbruch, 4. Jg. Heft 11–12 (Juni 1922), S. 163–167, hatte Riesemann Ščerbačëvs Namen nicht erwähnt. Über Dobrovejn schrieb Riesemann in der gleichen Zeitschrift dagegen einen ausführlichen, äußerst lobenden Artikel: „Issaye Dobroven“, in: Musikblätter des Anbruch, 5. Jg. Heft 1 (1923), S. 7–11. 56 57

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ihnen daraufhin seine Erste Sinfonie gegeben. Diese habe Busch dem Vernehmen nach so gut gefallen, dass er sie umgehend in das Programm eines Berliner Gastspiels der Sächsischen Staatskapelle im Mai aufnahm. Das geplante Programm des Konzerts bewertete Ščerbačëv „vom deutschen Standpunkt aus“ als den „Gipfel der Ehre“ für sich. Neben seiner Ersten Sinfonie sollten Straussʼ Don Quixote, Till Eulenspiegel sowie Regers Hiller-Variationen gespielt werden. Die Berliner „Musikbosse“ hätten allerdings die Aufführung eines weiteren deutschen Werks gewünscht und Druck ausgeübt, statt seiner Sinfonie ein Stück „eines gewissen Jarno“ aufzunehmen. Busch habe zwar angekündigt, sich nicht gängeln zu lassen und für Ščerbačëvs Sinfonie einzutreten, der Komponist beurteilte die Aussichten aber skeptisch. Busch habe gesagt, dass seine Sinfonie zwei große Mängel habe: erstens sei sie ‚echte‘ Musik, und zweitens sei ihr Autor ein Russe.59 Bei dem Gastspiel der Dresdner Staatskapelle am 5. Mai 1923 in der Berliner Philharmonie handelte es sich um ein herausragendes Ereignis, was in den Briefen nicht recht deutlich wird. Es erfolgte nämlich auf Einladung der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (sie meinte Ščerbačëv offensichtlich mit den „Musikbossen“) und hätte dem Komponisten in den einschlägigen Kreisen große Aufmerksamkeit verschaffen können. Wie von ihm erwartet, wurde seine Sinfonie nicht gespielt, aber auch kein Werk von „Jarno“ – einem 1920 verstorbenen Operettenkomponisten. Stattdessen erklang die Sinfonia brevis von Philipp Jarnach,60 den Ščerbačëv offenbar nicht kannte und mit Georg Jarno verwechselte. Trotz des ungünstigen Ausgangs freute sich Ščerbačëv über den „kleinen Erfolg bei Busch“. Besonders stolz war er, dass dieser Erfolg völlig ohne sein eigenes Zutun zustande gekommen sei. Ganz so passiv, wie er es in den Briefen darstellte, scheint Ščerbačëv aber nicht gewesen zu sein. Schon am 14. Januar hatte er von seiner Absicht berichtet, nach Berlin zu fahren und dort „in Sachen Konzerte etwas zu organisieren“.61 Am 4. April teilte er mit, dass er, falls er in der nächsten Saison nicht mehr vor Ort sei, Kopien seiner Ersten Sinfonie in BrDD, 28. 4. 1923, S. 147. Vgl. Signale für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 20 (16. 5. 1923), S. 738. Tatsächlich wurden Regers Mozart-Variationen und Straussʼ Don Quixote gespielt, und zusätzlich die Ouvertüre op. 2 von Emil Bohnke (1888–1928). Philipp Jarnach (1892–1982) war Sohn eines Katalanen und einer Flämin und wuchs in Frankreich auf. 1914 siedelte er von Paris nach Zürich über. Sein später wiederholt prononciertes Bekenntnis zur deutschen Kultur fand offenbar weithin Akzeptanz. 1921 folgte er als freischaffender Komponist seinem Mentor Ferruccio Busoni nach Berlin und wurde seit 1922 von Schott verlegt, hatte also mächtige Fürsprecher. Vgl. Stefan Weiss, Art. „Jarnach, (Raphael) Philipp“, in: MGG2, Personenteil Bd. 9, Kassel: Bärenreiter, 2003, Sp. 947–951, hier Sp. 947. 61 BrDD, 14. 1. 1923, S. 116. 59 60

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Dresden (wohl bei Busch) und Leipzig („bei Furtwängler“) lassen wolle, damit das Werk in seiner Abwesenheit aufgeführt werde.62 Kopien der Partitur wie auch der Stimmen des 1913 komponierten und 1916 uraufgeführten, bis dato aber nicht gedruckten Werks hatte Ščerbačëv vermutlich schon präventiv für derartige Zwecke anfertigen lassen und im Mai dann über seine Agenten Dobrovejn und Riesemann tatsächlich an Busch übergeben. Im selben Brief vom 4. April 1923 rechtfertigte Ščerbačëv sich gegenüber seiner Frau auch dafür, dass er sich bisher so wenig um Aufführungen gekümmert habe. Er begründete dies mit einer Spaltung des deutschen Musiklebens. „Richtige“ Konzerte seien nur die deutschen, die im Abonnement liefen und die jeweils im Sommer für die ganze kommende Saison geplant würden. Die anderen Konzerte seien „Gelegenheitsereignisse“ und würden immense Geldsummen kosten, die er nicht aufzubringen bereit sei.63 Mehrfach berichtete er auch, dass beim deutschen Publikum das Interesse für russische Musik nicht allzu groß sei und dass dieses Interesse auch bei Busch überschätzt werde. Dieser habe außer der aufsehenerregenden Inszenierung des Boris Godunov in der laufenden Saison kein einziges Werk eines russischen Komponisten dirigiert.64 Bei seiner ersten Fahrt nach Berlin vom 22. bis 24. Dezember 1922 hatte Ščerbačëv auf einem Plakat den Namen des Pianisten Hermann Biek (German Bik) gelesen und diesem einen Brief zukommen lassen. Biek traf ihn wenig später in Dresden und kündigte dabei an, demnächst seine Zweite Klaviersonate in einem Klavierabend in Dresden aufzuführen.65 Biek hatte dieses 1914 komponierte Werk, einen am späten Skrjabin orientierten Einsätzer, schon einmal am 18. August 1920 in Petrograd aufgeführt.66 Höchstwahrscheinlich suchte Ščerbačëv genau deshalb den Kontakt zu ihm in Berlin und schlug ihm eine erneute Aufführung des Werks vor (verschleierte aber sein aktives Zutun in den Briefen). In den

BrDD, 4. 4. 1923, S. 139. Ebd. 64 BrDD, 28. 4. 1923, S. 147. Ščerbačëv übersah allerdings, dass am 10. Dezember 1922 in der Dresdner Oper Stravinskijs Petruschka Premiere hatte, dirigiert von Fritz Busch. 65 BrDD, 3. 1. 1923, S. 113. Der estnisch-jüdische Pianist, Komponist und Dirigent Hermann Biek (1896–1944; russ.: German Bik), der am St. Petersburger Konservatorium studiert hatte, kehrte 1920 in sein Heimatland Estland zurück und unternahm von dort wiederholt Konzertreisen nach Deutschland. Mitte der 1920er Jahre ging er nach Berlin, nahm das Pseudonym „Ben Berlin“ an und gründete 1928 das „Ben Berlin Tanz-Orchester“. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten emigrierte er über einige Zwischenstationen nach Großbritannien. Vgl. die Biographie auf der vom Deutschen Schellackplatten- und Grammophonforum e. V., Bergisch Gladbach, herausgegebenen Seite https://grammophon-platten.de/page.php?152, abgerufen am 3. 3. 2019. 66 Vgl. Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 204. 62 63

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späteren Briefen ist von einer Aufführung der Zweiten Klaviersonate in Dresden nirgends mehr die Rede – vermutlich hatte Biek sie doch nicht gespielt.67 Nach diesen anfänglichen Aktivitäten scheint sich Ščerbačëv nicht mehr allzu sehr für die Aufführung eigener Werke engagiert zu haben. Ein Konzertangebot aus Zagreb im Februar schlug er aus, weil ihm die Fahrt dorthin zu teuer war.68 Weiteren Offerten aus Leipzig und Christiania (heute: Oslo) für Herbst 1923 stand er zwar positiver gegenüber,69 verfolgte aber auch sie nicht weiter. Am schlagendsten und zugleich irritierendsten zeigt sich Ščerbačëvs verlorenes Interesse an Aufführungen bei seinem größten Erfolg in dieser Hinsicht. Am 14. September berichtete er seiner Frau überraschend, dass er einen jungen amerikanischen Dirigenten kennengelernt habe, der in amerikanischen Journalen schon mehrfach von ihm gelesen habe und im Oktober in Berlin seine Erste Sinfonie aufführen wolle. Unerwähnt bleibt in den Briefen nicht nur der Name des Dirigenten (Emanuel Balaban, 1895–1973), sondern auch das Kontaktnetzwerk, das hier vermutlich im Hintergrund wirksam war. Balaban hatte einerseits eine Zeitlang für die Ballets russes gearbeitet und war andererseits von 1922 bis 1925 Schüler von Busch in Dresden.70 Die angekündigte Aufführung der Ersten Sinfonie fand tatsächlich statt, und zwar am 11. Oktober 1923 in einem „Russischen Abend“ in der Berliner Philharmonie mit dem Philharmonischen Orchester, gefolgt von Glazunovs Violinkonzert und Čajkovskijs Vierter Sinfonie. Obwohl Ščerbačëv mit gewissem Stolz betonte, dass das Berliner Philharmonische Orchester „eines der berühmtesten der Welt“ sei,71 und obwohl er mit Balaban engere Freundschaft geschlossen In den Signalen für die musikalische Welt wurde Bieks erster Dresdner Klavierabend mit Werken von Bach, Schumann, seiner eigenen Sechsten Klaviersonate sowie Prokof’evs Dritter Klaviersonate rezensiert; vgl. Signale für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 2 (10. 1. 1923), S. 42f. In einer Kritik von Bieks zweitem Dresdner Klavierabend im Februar 1923 wurden nur dessen eigene Werke besprochen: „Zwei Feiertage“ sowie eine einsätzige Klaviersonate „zwischen Lisztscher und Scriabinescher Ausdrucksweise“, vgl. Signale für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 9 (28. 2. 1923), S. 295. Weitere Nachweise von Dresdner Konzerten Bieks konnten – auch in der lokalen Presse – nicht aufgefunden werden. 68 DrBB, 18.–21. 2. 1923, S. 124. 69 DrBB, 28. 4. 1923, S. 147. 70 Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/Emanuel_Balaban und den Personenartikel der Lexikonplattform Prabook, die Biographien auch unterhalb der für Wikipedia geltenden Prominenzschwelle erfasst: https://prabook.com/web/emanuel.balaban/1095479 (jeweils letzter Abruf am 10. 8. 2019). Zu Balaban gibt es bislang keinerlei biographische Forschung. Wichtigste Quelle ist der Nekrolog „Emanuel Balaban of Juilliard Staff“, der am 18. April 1973 in der New York Times erschien (S. 50). Im Juli 1923 leitete Balaban ein Konzert des Dresdner Philharmonischen Orchesters; vgl. Signale für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 30 (25. 7. 1923), S. 1113. 71 BrDD, 24. 9. 1923, S. 198. 67

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hatte und in künstlerischen Fragen eine tiefe Übereinstimmung fühlte, hatte er von Anfang an keine besonderen Ambitionen, zu dem Konzert anzureisen. Schon in seinem ersten Report über das an sich hochkarätige Ereignis merkte er an, dass ihn die bevorstehende Berliner Aufführung „irgendwie überhaupt nicht jucke“, ihn weder traurig noch freudig mache. Er bedauerte lediglich, dass er, um seinen Freund nicht zu beleidigen, wieder in das „widerwärtige“ Berlin fahren müsse.72 Die Hinderungsgründe, die er anführte, erscheinen angesichts der Bedeutsamkeit des Ereignisses nicht sonderlich stichhaltig: dass die Reise nach Berlin vier bis fünf Tage seiner kostbaren Zeit verschlingen werde und dass er diesmal nicht wie sonst bei dem Ehepaar Stasov73 übernachten könne, ein Hotel aber eine „riesige Summe Geld“ koste, die er lieber für ein Mitbringsel an seine Familie investieren wolle.74 Wie später noch ausgeführt werden wird, hatte Ščerbačëv zu dieser Zeit – im September/Oktober 1923 – seinen Plan einer Etablierung im Westen innerlich schon weitgehend aufgegeben und die Rückkehr in seine Heimatstadt vorbereitet. Am Ende blieb der Komponist dem Konzert am 11. Oktober tatsächlich fern. Wie man ihm „geschrieben und erzählt“ habe, habe seine Sinfonie einen „rauschenden Erfolg“ gehabt.75 Er habe einen Blumenstrauß zugeschickt bekommen und ein Dankschreiben für die „Uraufführung“ dieser „edlen“ Musik in Deutschland. Balaban und er hätten im Anschluss sehr bedauert, dass sie sich erst so spät kennengelernt hätten, wo sie doch so viel hätten gemeinsam unternehmen können. Bedauerlich sei auch, dass er Balaban keine Noten seiner Musik geben könne, weil diese nicht gedruckt seien. Balaban, wie auch drei weitere Dirigenten, würden seine Kompositionen nämlich liebend gerne aufführen und propagieBrDD, 18. 9. 1923, S. 197. Zu Andrej Stasov siehe Anm. 148. Ščerbačëv hätte unter seinen anderen Berliner Bekannten und Kollegen sicherlich eine kostenlose Übernachtungsmöglichkeit finden können. 74 BrDD, 4. 10. 1923, S. 200. 75 In der Presse fand das Konzert allerdings nur ein sehr schwaches und mitunter niederschmetterndes Echo. In den gegenwärtig (September 2019) in Zefys verfügbaren Berliner Tageszeitungen und in den Musikblättern des Anbruch wurde es nicht besprochen. In der russischen Emigrantenzeitung Rulʼ erschien eine Kritik, die auf Ščerbačëvs Sinfonie aber nur oberflächlich und schnoddrig einging: „Ščerbakov [sic!] ist ein wenig origineller Komponist und im Rahmen der alten Schule ohne eigenen Charakter. Eine besondere Interpretation seines Stücks bei dem Konzert herauszuhören ist mir nicht gelungen.“ L[judmila] L[andau], „Koncert Balaban i g-ži Školʼnik [Konzert von Balaban und Fr. Školʼnik]“, in: Rulʼ, 16. 10. 1923, Nr. 877, S. 5. Vernichtend war die Kritik von Walther Hirschberg in den Signalen für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 42 (17. 10. 1923), S. 1480: „Russische Melancholie gibt den Grundakkord des einsätzigen Werkes, aber etwas Zwingendes ist nicht gestaltet worden. Melancholie des Unvermögens ist, um ein hartes Wort zu gebrauchen, die Signatur der Symphonie. Von verwaschener Themenbildung rinnt sie monoton dahin, und auch ein zweimal solistisch brummendes Kontrafagott kann nicht über ihre Langeweile trösten.“ 72 73

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ren. Ihn persönlich beunruhige das aber überhaupt nicht, weil er nur noch an das Wiedersehen mit Frau und Kind in einem Monat denke.76 Verlag der Werke im Ausland Eine Herausgabe seiner Werke in westlichen Verlagen, so wie sie Dobrovejn bei der Universal Edition im Handumdrehen gelang, hätte Ščerbačëvs Reputation im Ausland sicher kräftig befördert. Die bisherige editorische Bilanz seines Schaffens war desaströs. Obwohl seine Werke überwiegend schon mehrfach aufgeführt worden waren, war bis 1923 kein einziges davon im Druck erschienen. Das betrifft drei sinfonische Dichtungen (Vega [Wega, 1910], Šestvie [Prozession, 1912], Skazka [Märchen, 1912]), die Erste Sinfonie (1913), zwei Klaviersonaten (1911 und 1914), den Klavierzyklus nach Blok-Gedichten Nečajannaja radostʼ [Unverhoffte Freude, 1912/13], die Klaviersuite Vydumki [Inventionen, 1921], das vielbeachtete Nonett für Vokalisegesang, Instrumentalensemble und Ausdruckstanz (1918/19) sowie Romanzenzyklen nach Gedichten von Konstantin Balʼmont (1908 und 1909), A. Izjumov77 (1909), Fëdor Tjutčev (1914), Aleksandr Blok (1915 und 1921–1924) und Vladimir Majakovskij (1916). Erst im Laufe des Jahres 1923 erschienen im Moskauer Staatsverlag die Zweite Klaviersonate, die Majakovskij-Vertonung „Četyre. Tjaželye, kak udar [Vier. Schwere, wie ein Schlag]“ und ein Teil der Blok-Lieder.78 Dennoch war Ščerbačëv in diesem Bereich zurückhaltend – mehr noch als bei seinem Einsatz für Aufführungen. Am 4. April schrieb er seiner Frau, dass er in puncto Verlag nichts unternehme, weil es sich schlichtweg nicht lohne. Große Werke würden auch in Deutschland nicht gedruckt. Kleinere Sachen könne man zwar problemlos herausbringen, man erhalte aber nur 10% des Gewinns: „also nichts“.79 Bei M. P. Belaieff wolle er nicht verlegen, weil der „ganze jetzige ChaDrBB, 17.–19. 10. 1923, S. 202. Vermutlich ein Verwandter seiner Frau, die eine geborene Izjumova war. 78 Angaben nach dem Werkverzeichnis in Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 341–343. Die Majakovskij-Vertonung bezieht sich auf das Gedicht „Sebe, ljubimomu, posvjaščaet ėti stroki avtor [Sich, dem geliebten, widmet der Autor diese Zeilen]“ aus dem Jahr 1916. Ščerbačëv hatte Majakovskij als Soldat in der Petrograder Automobilkompagnie kennengelernt und sich dort mit ihm angefreundet. Vgl. Kac, „K tvorčeskomu portretu“ (wie Anm. 39), S. 19f. 79 BrDD, 4. 4. 1923, S. 139. Eine Tantieme von 10% hatte Nikolaj Metner von dem Leipziger Verleger Zimmermann für seine Vergessenen Weisen (Zabytye motivy) angeboten bekommen. Das Angebot erschien Metner zunächst unakzeptabel, er nahm es dann aber doch an (vgl. Berrie Martyn, Nicolas Medtner. His Life and Music, Aldershot: Scolar Press, 1995, S. 147). Später war er sehr erfreut über die daraus zufließenden Einnahmen. Vgl. Metners Briefe an 76 77

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rakter“ des Verlags überhaupt nicht nach seinem Geschmack sei.80 Er glaube nicht an eine große Verbreitung auf diesem Wege und habe außerdem das Gefühl, „Russland zu verraten“. Es sei besser, sich an einen einzigen Verlag zu binden, und „unsere sowjetischen Verlage“ würden ihre Sachen auch ins Ausland schicken, wo sie sich dann von selbst verbreiten würden.81 Trotz dieser Skepsis verfolgte Ščerbačëv im weiteren Verlauf seines Aufenthalts noch einige Male verlegerische Optionen. Am 5. Juni schrieb er von „gewissen Verlagsmöglichkeiten in Leipzig“ (Belaieff?, Zimmermann?).82 Und am 28. Juni bat er seine Frau, ihm sein einziges Chorstück, eine Gelegenheitskomposition zur Hochzeit eines gewissen Narbutov, zuzuschicken, weil er es in Deutschland aufführen und verlegen könne.83 Beide nur vage angedeuteten Projekte sind offenbar im Sande verlaufen, zumindest lassen sich keine späteren Spuren finden. Gegen Ende seines Aufenthalts schrieb Ščerbačëv an die Universal Edition – den „besten Musikverlag in Europa“ –, dass er bald nach Russland zurückkehren werde und gerne „Einiges aus der zeitgenössischen europäischen Musik“ mitnehmen würde, um es zu Hause zu zeigen und aufzuführen. Er habe zu erkennen gegeben, dass er mit Blick auf seine Valuta-Reserven dieses Material nicht für Geld kaufen könne. Schon zwei Tage später habe er dann den UE-Verlagskatalog mit einem freundlichen Brief erhalten. Er sei aufgefordert worden, einfach alles anzukreuzen, was ihn interessiere, es werde ihm dann unverzüglich gratis zugeschickt. Der Direktor (Emil Hertzka) habe außerdem angekündigt, in den nächsten Tagen nach Dresden zu kommen, um mit ihm „über gewisse Dinge“ zu sprechen.84 Ob Ščerbačëv die Noten erhalten und das Treffen mit Hertzka stattgefunden hat, ist aus den Folgebriefen nicht ersichtlich.85 seine Brüder Aleksandr vom 20. 4. 1923 und Ėmilij vom 25. 2. 1923: Metner, Pisʼma (siehe Anm. 57), S. 226, 244 und 254. 80 Die Aussage dürfte sich darauf beziehen, dass der 1920 in Leipzig neu formierte BelaieffVerlag sich in den 1920er Jahren zu einem exklusiven Verlag der russischen Emigration entwickelte. Hier wurden Emigranten wie Nikolaj Metner oder Aleksandr Čerepnin verlegt, keine sowjetischen Komponisten. Ščerbačëv wäre aus sowjetischer Perspektive in diesem Kontext gebrandmarkt gewesen. 81 BrDD, 4. 4. 1923, S. 139. 82 BrDD, 5. 6. 1923, S. 161. 83 BrDD, 28. 6. 1923, S. 169. Ein solches Chorstück ist in Slonimskajas Werkverzeichnis (wie Anm. 78) nicht aufgeführt. 84 BrDD, 9. 10. 1923, S. 201. Dieses im Raum stehende Treffen mit Hertzka war ein weiterer von Ščerbačëv genannter Grund, weshalb er nicht zur Aufführung seiner Ersten Sinfonie nach Berlin fahren wollte (ebd.). Er führte ihn neben den Reisekosten und dem Zeitverlust aber nur als drittes Argument auf. 85 Die Universal Edition brachte auch später keine Ščerbačëv-Werke heraus. Sie übernahm

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Amerikanische Träume Eine Reise nach Amerika scheint zu den großen Träumen Ščerbačëvs gezählt zu haben. Am 3. Januar schrieb er seiner Frau, dass Rachmaninov, Aleksandr Ziloti und Ignacy Jan Paderewski (also zwei russische Emigranten und ein polnischer Kosmopolit) zur Zeit die beliebtesten Musiker in Amerika seien.86 Er beschrieb ihr auch, dass die Autorität Deutschlands in den USA sehr groß sei. Deshalb machten viele Musiker in Deutschland wie verrückt Reklame für sich, um dann nach Amerika zu gehen und dort „Dollar zu verdienen“.87 In der Tat waren die Einkommensmöglichkeiten für Musiker, sofern sie Erfolg hatten, in den Vereinigten Staaten besser als in Europa, und dieser Effekt potenzierte sich während der Inflationsjahre noch durch die Härte des Dollars.88 Ščerbačëv streckte in Dresden schon früh seine Fühler in Richtung Übersee aus. Von drei Exemplaren eines wohlwollenden Schaffensporträts des Petrograder Kritikers Nikolaj Malkov, die er im Februar von seiner Frau erbeten hatte, wollte er eines „nach Amerika“ schicken.89 Zur gleichen Zeit schrieb er einen Brief90 an den russisch-jüdischen Komponisten Lazarʼ Saminskij (Lazare Saminsky, 1882–1959), der Ende 1920 nach New York emigriert und dort erstaunlich schnell zu einem der maßgeblichen Organisatoren des amerikanischen Musiklebens aufgestiegen war. Ščerbačëv erwähnte ihn in seiner Eigenschaft als Präsident der Composersʼ Music Corporation, einer 1918 gegründeten Verlagsinitiative, die sich für progressive amerikanische Komponisten einsetzte, seit 1920 mit internationalem Aktionsradius.91 Darüber hinaus wurde Saminsky 1922 auch allerdings auf Basis des Kooperationsvertrags mit dem sowjetischen Musikalischen Staatsverlag die dort erschienenen Partituren seiner Ersten Sinfonie (1929) und des Nonetts (1930) in ihren Katalog. Vgl. Olesja Bobrik, Venskoe izdatel’stvo „Universal Edition“ i muzykanty iz sovetskoj Rossii. Istorija sotrudničestva v 1920 – 30-e gody [Der Wiener Verlag „Universal Edition“ und die Musiker aus Sowjetrussland. Die Geschichte der Zusammenarbeit in den 1920er und 1930er Jahren], St. Petersburg: N. I. Novikov, 2011, S. 139, Anm. 33, und S. 444f. – Vgl. auch den Beitrag von Olesja Bobrik im vorliegenden Band. 86 BrDD, 3. 1. 1923, S. 112. 87 BrDD, 6. 1. 1923, S. 114. 88 So klagte Fritz Busch bei einer Pressekonferenz im September 1922 nach seinem Antritt als Generalmusikdirektor der Dresdner Staatsoper – sicher maßlos überspitzt, aber im Kern doch zutreffend: „Wenn ein Künstler das Fünfhundertfache in Amerika verdienen kann, so ist es menschlich begreiflich, wenn er das Dollarland aufsucht. Wir wollen alles tun, diese Amerikawelle einzudämmen“. Pirnaer Anzeiger, 14. 9. 1922, zit. nach Bernhard Dopheide, Fritz Busch. Sein Leben und Wirken in Deutschland mit einem Ausblick auf die Zeit seiner Emigration, Tutzing: Hans Schneider, 1970, S. 87. 89 BrDD, 18.–21 .2. 1923, S. 123. 90 BrDD, 18.–21. 2. 1923, S. 124. 91 Vgl. Carol J. Ola, Making Music Modern. New York in the 1920s, Oxford: Oxford University

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Vorstandsmitglied der ähnlich ausgerichteten International Composersʼ Guild und 1923 Mitbegründer der einflussreichen League of Composers, die er lange Zeit leitete.92 Saminskij konnte bei diesen lobbyistischen Aktivitäten auf die organisatorische Erfahrung aufbauen, die er seit 1908 als Mitbegründer der „Gesellschaft für jüdische Volksmusik“ und als Protagonist der Neuen Jüdischen Schule in Russland gesammelt hatte.93 Welches Anliegen Ščerbačëv genau bei Saminskij vorbrachte, ob er seine Werke in den USA verlegen, Konzerte geben oder einfach nur Kontakte knüpfen wollte, geht aus den Briefen an seine Frau nicht hervor. Auf jeden Fall verfolgte er nachdrücklich das Ziel, nach Amerika zu gelangen. Erstmals konkret benannte er dies als „Möglichkeit“ am 22. Februar, verbunden mit dem Hinweis, dass ihm diesbezüglich noch eine lange Korrespondenz bevorstehe.94 Zur gleichen Zeit erwog er, neben seinem Deutschunterricht auch Englischstunden zu nehmen – was er anscheinend aber nicht umsetzte.95 Am 6. März erwähnte er, dass er nach seiner Rückkehr russischen Musikern „neben aller möglichen Lyrik“ interessante Informationen über das amerikanische Konzert-, Ausbildungs- und Verlagswesen geben könne.96 Wie bei allen in Dresden verfolgten Projekten mündete auch der AmerikaPlan in quälendes Warten. Ein wichtiger – vermutlich sogar der entscheidende – Informationskanal lief dabei offensichtlich über Rachmaninov bzw. dessen seit 1921 in Dresden lebende Schwiegereltern Aleksandr und Varvara Satin.97 Am 21. Februar 1923 war Ščerbačëv zur Goldenen Hochzeit der Satins in Dresden eingeladen – einer „bewegenden Feier“, wie er seiner Frau berichtete, mit orthodoxer Andacht, reichlich Torte, Sekt und Walzertanz.98 Unmittelbar danach schrieb er den erwähnten Brief an Saminskij und plante Englisch zu lernen. Gleichzeitig lieferte er auch exklusive Informationen zu Rachmaninovs Lebensverhältnissen in den USA, die er höchstwahrscheinlich bei der Familienfeier der

Press, 2000, S. 155–159. 92 Vgl. Jascha Nemtsov, „Lazare Saminsky (1882–1959)“, in ders. (Hrsg.), Jüdische Musik in Sowjetrußland. Die „Jüdische nationale Schule“ der zwanziger Jahre, Berlin: Kuhn, 2002 (= Studia slavica musicologica 15), S. 285–290. 93 Ob Ščerbačëv bereits in St. Petersburg näheren Kontakt zu Saminskij hatte, ist nicht bekannt. 94 BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 125. 95 Ebd., S. 126. 96 BrDD, 6. 3. 1923, S. 129. 97 Varvara Satina war zugleich Rachmaninovs Schwiegermutter und Tante. Über ihre mit nach Dresden emigrierte Tochter Sofija Satina bezog auch Nikolaj Metner Informationen über Rachmaninovs Leben in den USA. Vgl. Metners Brief an Sergej Rachmaninov vom 12. 2. 1922, in: Metner, Pisʼma (wie Anm. 57), S. 219f. 98 BrDD, 18. und 21. 2. 1923, S. 123.

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Satins aufgeschnappt hatte. Rachmaninov blühe in Amerika mehr als alle anderen auf, lebe „wie ein Zar“ und reise angeblich „fast schon in einem eigenen Zug“.99 Aus derselben Quelle dürften auch die im selben Brief mitgeteilten Informationen über das amerikanische Exil des Pianisten und Dirigenten Aleksandr Ziloti (1863–1945) stammen. Ziloti war ein Cousin des zehn Jahre jüngeren Rachmaninov und wie dieser ein Neffe der Satins. Der ehemalige Schüler Franz Liszts war im späten 19. Jahrhundert ein europaweit gefeierter Pianist, lebte zeitweise auch in Deutschland. Ab 1903 wurde er mit seinen Ziloti-Konzerten zu einer prägenden Figur des vorrevolutionären russischen Musiklebens. Unter anderem leitete er die Uraufführung von Ščerbačëvs Erster Sinfonie am 22. Oktober 1916 im Mariinskij-Theater. 1919 emigrierte Ziloti nach Finnland und ließ sich Ende 1921 in den USA nieder.100 Ščerbačëv berichtete im Brief vom 25. Februar, dass Ziloti „nach ihm verfügbaren Informationen“ in Amerika überaus populär sei, aber dennoch kein dauerhaftes Engagement habe. Eine hochrangige Stelle („fast schon das Direktorium“) am „gerade eröffnenden New Yorker Konservatorium“ nehme er „aus irgendwelchen Gründen“ nicht an – eine Haltung, die Ščerbačëv unvernünftig erschien, weil Ziloti schon ins siebte Lebensjahrzehnt gehe und das Leben eines reisenden Virtuosen in diesem Alter zu strapaziös sei.101 Am 9. April berichtete Ščerbačëv, dass das Ehepaar Satin einen Brief von Zilotis Frau Vera Pavlovna erhalten habe, in dem diese „viele zartfühlende und schmeichelnde Worte“ an Ščerbačëvs Adresse gerichtet habe. Sie habe auch bestätigt, dass „sie“ Ščerbačëvs Brief erhalten hätten. Ihm direkt hätten „sie“ aber noch kein einziges Wort geschrieben. Wer dieses „sie“ ist, teilt Ščerbačëv nicht mit. Es scheint sich aber um Ziloti und dessen Kreise gehandelt zu haben, zu denen möglicherweise auch Saminskij zählte. Ščerbačëv erwähnt auch, dass Ziloti im Zusammenhang mit seiner im Raum stehenden Anstellung am „New Yorker Konservatorium“ auch ihm „irgendwelche Perspektiven“ verschaffen könne. Am 5. Juni klagte Ščerbačëv, dass er noch immer keine Nachricht aus Amerika erhalten habe und daher diesen Reiseplan, der „mit viel Unruhe verbunden“ sei, erst einmal zurückstelle. Amerika sei ohnehin nur „im materiellen Sinn ein Ausweg aus seiner Lage“.102 Es laufe ihm nicht weg, er werde schon noch

BrDD, 22. und. 25. 2. 1923, S. 127. Vgl. Christoph Flamm, Art. „Ziloti, Aleksandr Ilʼič“, in: MGG2, Personenteil Bd. 17, Kassel: Bärenreiter, 2007, Sp. 1488f.; Charles F. Barber, Lost in the Stars. The Forgotten Musical Life of Alexander Siloti, Lanham: Scarecrow Press, 2002, S. 197f. 101 BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 127. 102 BrDD, 5. 6. 1923, S. 161. 99

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dorthin kommen. Am 18. Juni teilte er dann überraschend mit, dass die Amerikareise geplatzt sei, und zwar „zu seiner großen Zufriedenheit“.103 Ende August wurden die bereits fallengelassenen Amerikapläne plötzlich noch einmal hochaktuell. Ščerbačëv berichtete, aus den USA einen Brief mit der Einladung erhalten zu haben, in New York eine Professur für Kompositionstheorie zu übernehmen.104 Kurz darauf sei ein zweiter Brief direkt von Ziloti gefolgt, in dem der mittlerweile designierte Direktor des „Konservatoriums“ – gemeint ist offensichtlich die 1924 durch die Juilliard Foundation gegründete Juilliard Graduate School of Music – die Einladung persönlich bekräftigt habe. Ziloti habe dem Brief ein Interview über seine Pläne beigelegt und Ščerbačëv geraten, unverzüglich Englisch zu lernen.105 Ščerbačëvs erste Reaktion war genervt. Das ständige Hin und Her war ihm unerträglich: Meine Seele und meine Nerven sind nach dieser ganzen Zeit so unendlich mürbe, diese Pläne zerren die ganze Zeit dermaßen an mir, reißen mich aus der Arbeit heraus und bereiten mir Höllenqualen, wie du sie dir nicht vorstellen kannst. Ich habe das Ganze einfach satt. Schau’ dir doch an, wie oft ich hier schon irgendeinen Traum hatte, ihm alles untergeordnet habe, und dann hieß es plötzlich wieder „sich umstellen“ und komplett von vorne anfangen. Ich halte das nicht mehr länger aus. Bis 15. September warte ich noch, wenn sich bis dahin definitiv nichts ergeben hat, was für mich wirklich rundum geeignet ist, werde ich schon Anfang Oktober wieder bei euch in Petersburg sein.106

Ščerbačëvs zweite Reaktion war schon deutlich sachlicher – und appetitreicher. Zwar müsse er, wenn er das Angebot annehme, für mindestens drei Jahre kommen, was ihm die Entscheidung erschwere. Die Arbeit würde aber sowieso nicht sofort beginnen, so dass er dazwischen zu seiner Familie fahren könne. Außerdem ergäben sich im Zusammenhang mit der Konservatoriumsstelle auch Konzertmöglichkeiten.107 Wie die Sache konkret ausging, ist unbekannt – in den späteren Briefen ist davon nicht mehr die Rede. Fakt ist, dass Ščerbačëv entgegen seiner ProphezeiBrDD, 18. 6. 1923, S. 164. In diesem Brief ist nun von einem nicht näher benannten Theater die Rede, das ihn eingeladen habe. Dieses Theater habe sich aber von seinem Impresario getrennt und werde in diesem Jahr eine Europatournee unternehmen. Das Ensemble sei künstlerisch interessant, dort wirkten ihm bekannte talentierte Künstler mit. Um welches Theater bzw. welche Theatertruppe es sich handelte, ließ sich nicht ermitteln. 104 BrDD, 31. 8. 1923, S. 192. 105 BrDD, 4. 9. 1923, S. 192f. Zilotis Anstellung erfolgte erst im Oktober 1925, und zwar als gewöhnlicher Dozent, nicht als Direktor. Vgl. Barber, Lost in the Stars (wie Anm. 100), S. 229. 106 BrDD, 31. 8. 1923, S. 192. 107 BrDD, 4. 9. 1923, S. 193. 103

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ung niemals nach Amerika gelangte. Hätte es die familiäre Bindung nicht gegeben, die ihm keine allzu risikoreichen Karriereschritte erlaubte, hätte er womöglich anders entschieden. Tief blicken lässt sein freimütiges Bekenntnis vom 10. Juli: „Wenn ich alleine auf der Welt wäre, würde ich nach Amerika fahren.“108 Konzerttätigkeit in Schweden Parallel zu der Amerikareise verfolgte Ščerbačëv ab Februar auch ein Engagement nach Schweden. Gleichzeitig zu dem Brief an Saminskij in die USA schrieb er an das schwedische Verlagshaus Bonnier, den führenden schwedischen Literaturverlag.109 Im Folgenden ist dann immer von einem Engagement bei einem „schwedischen Konzertbüro“ die Rede110 – der Zusammenhang mit dem BonnierVerlag bleibt unklar. Vermutlich war auch diese Initiative von Rachmaninovs Vorbild inspiriert. Dessen Entschluss zur Emigration war maßgeblich durch ein Telegramm eines schwedischen Konzertagenten vom Dezember 1917 mit einer Einladung zu einer Schweden-Tournee ausgelöst worden. Rachmaninov hatte prompt reagiert und Russland am 23. Dezember 1917 verlassen.111 Im Sommer 1922 hatte sich Rachmaninov auch bemüht, für den nach Auftrittsmöglichkeiten lechzenden Nikolaj Metner eine Schwedentournee zu organisieren, und dazu an den Leiter der Stockholmer Konzertgesellschaft Georg Schnéevoigt geschrieben.112 Zwei für Februar 1923 angebotene Konzerte in Stockholm hatte Metner aber abgelehnt, weil ihm die von Schnéevoigt angebotenen Konditionen nicht zusagten.113 Auch im Fall Ščerbačëvs kam das Engagement nach Schweden nicht zustande, wobei die näheren Umstände undurchsichtig bleiben. Nach Ende März verliert sich die Spur in den Briefen.114 BrDD, 10. 7. 1923, S. 176. BrDD, 18.–21. 9. 1923, S. 124. 110 Erstmals in BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 125. 111 Vgl. Andreas Wehrmeyer, Sergej Rachmaninow (= rowohlts monographien, 1490), Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2000, S. 100f. Genauere Fakten zu diesem Vorgang, insbesondere der Name der Konzertagentur, sind bislang nicht ermittelt worden. Die bekannten Informationen gehen auf ein Interview Rachmaninovs in den Poslednie novosti [Letzte Nachrichten; Paris] vom 30. April 1933 zurück. 112 Vgl. Martyn, Nicolas Medtner (wie Anm. 79), S. 150. 113 Vgl. Metner, Pisʼma (wie Anm. 57), S. 236f., 242. 114 Ende März erklärte Ščerbačëv das lange Schweigen von schwedischer Seite damit, dass „sie“ mit ihm noch nicht alle Konzerte abgerechnet hätten und er erst in einem späteren Brief gebeten habe, ihm „die restliche Summe“ zu schicken (BrDD, 28. und 29. 3. 1923, S. 135). Worauf sich die hier erwähnten Verbindlichkeiten beziehen, ist unklar. Von Auftritten 108 109

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Erneutes Engagement bei Djagilevs Ballets russes Wenige Tage nachdem Ščerbačëv erste Schritte unternommen hatte, eine Reise in die USA bzw. nach Schweden zu organisieren, tat sich überraschend eine noch weitaus attraktivere Option auf. Am 22. Februar erhielt er ein Telegramm von Sergej Djagilev, der ihn einlud, umgehend nach Monte Carlo zu kommen, um in seinem Theater zu arbeiten. Ščerbačëv maß dem Telegramm eine „kolossale Bedeutung“ bei, weil es „das erste reale und gute Angebot mit großen dirigentischen Möglichkeiten“ sei. Er fühle nun „Boden unter den Füßen“. Besonders stolz war Ščerbačëv, dass die Initiative nicht von ihm, sondern von Djagilev ausgegangen war, und dass Djagilev, der seine Dresdner Adresse irgendwoher bekommen haben musste, ihn offenbar als Ersten gefragt hatte. Ščerbačëv kündigte an, Djagilev zu antworten, dass er nicht sofort kommen könne, sondern erst im Herbst, und er wollte auch finanzielle und künstlerische Bedingungen stellen, vor allem fordern, selbst zu dirigieren (nachdem er 1911 lediglich als Korrepetitor engagiert war).115 Ščerbačëvs Zögern hing anscheinend damit zusammen, dass er die zu dieser Zeit florierende Arbeit an seiner Zweiten Sinfonie nicht abwürgen wollte, außerdem erst die Ergebnisse seiner Vorstöße in Richtung USA und Schweden abwarten und offenbar auch den Nachzug seiner Familie organisieren wollte. „Die Anstellung bei ihm [Djagilev] ist für mich unbedingt mit einem Wiedersehen mit euch verknüpft, und du kannst dir deshalb vorstellen, welche Freude ich im Moment empfinde.“116 In diesem Satz ist erstmals ziemlich unverblümt die Vision eines neuen Lebens in der Emigration ausgesprochen. Die Djagilev-Offerte betrachtete Ščerbačëv zusammen mit der Amerikareise und der Zusammenarbeit mit dem schwedischen Konzertbüro über Wochen hinweg als seine Favorit-Optionen.117 Am 10. Juli dämpfte er die Euphorie aber mit dem Hinweis, dass die Künstlerhonorare in Europa im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich gesunken seien.118 Am 5. August schob er nach, dass er gehört habe, dass das Djagilev-Theater große Geldprobleme habe und die Künstler vehement um die Auszahlung ihrer Honorare kämpfen müssten.119 Und am 31. August präzisierte er, dass Djagilev in der letzten Saison zwar wieder erfolgreicher Ščerbačëvs in Schweden – etwa 1911 oder 1914 – ist nichts bekannt. Möglicherweise wurden dort Werke von ihm aufgeführt, für die er Tantiemen erhalten sollte. 115 BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 125. Aus einem Brief vom 6. März geht hervor, dass er Djagilev schließlich angeboten hatte, in den Monaten Juli/August 1923 zu kommen (BrDD, 6. 3. 1923, S. 129). 116 BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 125. 117 BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 126; 24. 3. 1923, S. 134, et passim. 118 BrDD, 10. 7. 1923, S. 176. 119 BrDD, 5. 8. 1923, S. 187.

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gewesen sei, aber immer noch furchtbar knausrig bei den Ausgaben und in diesem Sinne ein „unangenehmer Geschäftspartner“.120 Dennoch hielt Ščerbačëv an diesem Plan als einzigem fast während seines gesamten Aufenthalts in Deutschland fest. Engagement bei Romanovs „Russischem Romantischem Theater“ Im Mai tat sich für Ščerbačëv eine weitere heiße Option auf. Von einem namentlich nicht genannten Theater hatte er das Angebot erhalten, ein Ballett zu komponieren: entweder „etwas im Stil ‚alter französischer königlicher Ballette‘ (was mich überhaupt nicht interessiert, ich habe abgelehnt), irgendein Sujet nach Hoffmann oder aber etwas selbst Ausgedachtes“. Das Theater sei „sehr interessant“ und habe „talentierte“ Mitarbeiter. Es sei auch von einer Anstellung als Dirigent die Rede gewesen, mit einem 9-Monats-Vertrag und einer Tournee nach Nordund Süd-Amerika. Diese Möglichkeit sei keineswegs „phantastisch“, weil das Theater schon existiere. Es hinge nur davon ab, ob der bisherige Dirigent, mit dem man nicht zufrieden sei, gehe. Ščerbačëv bezeichnete es als „Wahnsinn“, dieses Angebot abzulehnen. Falls die Sache klappe, werde er sofort per Luftpost oder Telegramm Bescheid geben, damit sich seine Frau umgehend um einen Pass kümmere und sich mit dem Sohn auf den Weg mache. Wie in ähnlichen Fällen, wenn eine längere Existenz im Ausland zum Greifen nahe war, wurde auch hier die Aufbruchseuphorie durch Beteuerung des Heimwehs kontrapunktiert – womöglich um die Absicht einer längerfristigen Emigration zu verschleiern: „Seltsamerweise hat dieser Vorschlag in mir irgendein furchtbar wehmütiges Gefühl ausgelöst, […] ich will nach Russland.“121 Wie sich aus später mitgeteilten Indizien erschließen lässt, kam das Angebot von dem „Russischen Romantischen Theater“, einem vorwiegend aus russischen Emigranten bestehenden Ensemble, das sich im September 1922 in Berlin unter Leitung des Balletttänzers und Choreographen Boris Romanov formiert hatte.122 Romanov war in den 1910er Jahren ein erfolgreicher Balletttänzer, der es bis 1918 zum 1. Ballettmeister des Mariinskij-Theaters gebracht hatte. Daneben machte er mit eigenen avantgardistischen Kurzballetten satirischen Charakters von sich reden. Djagilev hatte ihm 1913 die Choreographie von La Tragédie BrDD, 31. 8. 1923, S. 192. BrDD, 22. 5. 1923, S. 155. 122 Vgl. Chronik russischen Lebens in Deutschland. 1918–1941, hrsg. von Karl Schlögel, Katharina Kucher, Bernhard Suchy und Gregor Thum, Berlin: Akademie Verlag, 1999, S. 123, Eintrag 1763. 120 121

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de Salomée und 1914 der Tänze in Stravinskijs Oper Le Rossignol übertragen. Auch das bei Prokof’ev bestellte, dann aber abgelehnte Ballett Ala i Lolli sollte er choreographieren. 1921 emigrierte Romanov nach Berlin und baute dort mit Unterstützung des deutschen Millionärs Ernst von Gutschoff und der aus Moskau stammenden Schauspielerin und Tänzerin Elsa Krueger das „Russische Romantische Theater“ auf. Es umfasste anfangs an die 50 Künstler. Zu seinen Sparten gehörten nicht nur Ballett, Oper und Pantomime, sondern auch kleiner besetzte Konzerte unter Leitung des Kapellmeisters Jurij Pomerancev.123 Ganz offensichtlich kopierte Romanov das Erfolgskonzept der Ballets russes. Dies wird nicht zuletzt an der Bestellung eines neoklassizistischen Balletts bei Ščerbačëv deutlich – ein Stiltrend, mit dem der Komponist zunächst überhaupt nichts anfangen konnte. Der alternative Vorschlag, ein Sujet von E. T. A. Hoffmann auszuwählen, zielte offenbar auf eine Neuauflage des Erfolgs von Čajkovskijs Ščel’kunčik (Der Nußknacker), mithin eines Balletts, das geeignet war, eine Brücke zum deutschen Publikum zu schlagen. Das „Russische Romantische Theater“ hatte vom 2. bis 5. Mai 1923 eine Serie von Ballettabenden im Dresdner Opernhaus gegeben, die Ščerbačëv in seinen Briefen auch einmal beiläufig erwähnt.124 Aufgeführt wurden u. a. das Tanzgemälde Bojarenhochzeit von Boris Romanov nach Musik von Michail Glinka und das Galante Ballett Die Tänzerin und die Räuberin nach Musik von Wolfgang Amadeus Mozart, ebenfalls von Romanov choreographiert.125 Vermutlich Vgl. Rulʼ, 20. 9. 1922, Nr. 550, S. 5; Rulʼ, 3. 10. 1923, Nr. 561, S. 6; Noëlle Mann, „Trapèze. A Forgotten Ballet by Serge Prokofyev and Boris Romanow“, http://www.sprkfv.net/journal/three04/trapeze0.html (Seite der Serge Prokofiev Foundation, abgerufen am 26. 2. 2019). Jurij Pomerancev (1878–1933) hatte bei Sergej Taneev Komposition, bei Skrjabin Klavier und von 1903 bis 1905 Dirigieren bei Arthur Nikisch in Leipzig studiert. Von 1910 bis zu seiner Emigration 1919 war er Ballettdirigent am Moskauer Bolʼšoj-Theater. Nikolaj Metner führte am 3. Dezember 1922 in Berlin bei einem Konzert des „Russischen Romantischen Theaters“ unter Pomerancevs Leitung sein Erstes Klavierkonzert auf. Vgl. Metner, Pisʼma (wie Anm. 57), S. 236f. 124 BrDD, 28. 4. 1923, S. 148. Nur hier, noch ohne jeglichen Zusammenhang zu der später verfolgten Zusammenarbeit, gebraucht Ščerbačëv den Eigennamen „Russisches Romantisches Theater“. Später ist immer nur kryptisch von „jenem Theater“ o. ä. die Rede. 125 Vgl. Dresdner Neueste Nachrichten, 1. 5. 1923, S. 3; ebd., 3. 5. 1923, S. 2. Die Gastspielserie erhielt eine positive Gesamtkritik von Carl Johann Perl (ebd., 6. 5. 1923, S. 2f.). Eine mehrtägige Einmietung in dem großen Opernhaus war absolut ungewöhnlich. Walter Petzet schrieb dazu in den Signalen für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 30 (25. 7. 1923), S. 1113: „die Oper schwieg fast eine Woche lang, um dem neugegründeten russischen romantischen Theater Platz zu machen“. Der Kritiker eröffnete seine Dresden-Rundschau mit der Beobachtung, dass unter der „ausländischen Kunst, die uns jetzt vielfach geboten wird,“ die russische weiter „den Vorrang behauptet“. Als herausragendes Beispiel nannte er „Issai Dobrowen“, dem der Tonkünstlerverein fast sein ganzes öffentliches Aufführungsprogramm (am 20. 4. 123

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hatte Ščerbačëv keine dieser Vorstellungen besucht, denn er bildete sich erst nach den ersten Gesprächen in Berlin Mitte Mai ein Urteil über das Ensemble und kannte dessen maßgebliche Akteure zunächst offenbar nicht. Allerdings hatte der Kunsthistoriker Vladimir Rakint (1877–1956), der Romanovs Truppe nahestand, während des Dresdner Gastspiels (am 4. und 5. Mai) bei Ščerbačëv gewohnt.126 Rakint, der u. a. als Übersetzer deutscher Literatur hervorgetreten war, war vor seiner Emigration im Jahr 1922 Wissenschaftlicher Sekretär am Institut für Geschichte der Künste und Kustos der Eremitage. Er arbeitete also in den gleichen Einrichtungen wie Ščerbačëv bzw. dessen Frau. In einem späteren Brief deutete Ščerbačëv an, dass Rakint bei der Vermittlung seines Kontakts zu Romanovs Truppe eine wichtige Rolle gespielt habe.127 Zwei Wochen nach dem Dresdner Gastspiel und dem Besuch Rakints erhielt Ščerbačëv in Berlin das Angebot zur Mitarbeit am „Russischen Romantischen Theater“.128 Ščerbačëvs zweiter Bericht über das Angebot vier Wochen später fiel bereits etwas reservierter aus. Zwar arbeiteten in dem Theater gute Künstler bis hin zu dem angefragten Pablo Picasso, und Ščerbačëv solle dort sogar Generalmusikdirektor werden. Die „Bosse“ des Theaters, „ein Amerikaner und ein Deutscher“,129 hätten ihm aber nicht sonderlich gefallen, und in künstlerischer Hinsicht sei es nicht auf seiner Wellenlänge, „zu pariserisch“. Statt von einer Amerikareise war jetzt nur noch von einer Wintertournee nach München, Wien, Budapest und Italien die Rede. Ščerbačëv lehnte es vorläufig ab, das Ballett zu schreiben, blieb aber an der Kapellmeisterstelle interessiert.130 Nach einem geschäftlichen Treffen wegen des Balletts und des Dirigentenpostens Ende Juni in Berlin flammte Ščerbačëvs Begeisterung wieder auf. Er malte sich aus, wie er seine Familie in „Schwerin“ (gemeint ist wohl Stettin) abholen und „wie es uns gemeinsam gut gehen“ werde. Diese Vorstellung habe ihn 1923) eingeräumt habe. Sogar der Verein „Volkswohl“, der sonst nur Dresdner Künstler beschäftige, habe Dobrovejn vorgezogen. 126 BrDD, 4. 5. 1923, S. 151. 127 BrDD, 13. 7. 1923, S. 177. 128 BrDD, 22. 5. 1923, S. 154. 129 So im Brief vom 22. 5. 1923 (ebd.). Bei dem Deutschen handelte es sich vermutlich um den bereits genannten Ernst von Gutschoff, der durch Handel mit Jasmatzi-Zigaretten zum Millionär geworden war und das Theater finanzierte. Wer der erwähnte Amerikaner war, ist nicht klar. Manager der Truppe wurde 1923 der in Warschau geborene Julian Braunsweg (1897–1978), der 1920 nach Berlin emigrierte und sich später in Großbritannien als Ballettmanager niederließ. Sein Memoirenband Braunswegʼs Ballet Scandals. The Life of an Impresario and the Story of Festival Ballet, London: George Allen & Unwin, 1973, bildet die wichtigste Quelle zu den Hintergründen des „Russischen Romantischen Theaters“ (ebd., S. 39– 54). 130 BrDD, 18. 6. 1923, S. 164f.

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in so gute Laune versetzt, dass er sich in Alt-Moabit spontan hinter den Leierkasten eines Bettlers mit Holzbein gestellt habe und den Passanten zugerufen habe: „Geben Sie für meinen Kamerade“ [sic]. Mit seiner gepflegten Kleidung habe er viel Aufmerksamkeit erregt und dem Bettler innerhalb von zehn Minuten eine hübsche Summe Geld eingespielt. Im Nachhinein sei ihm das ganz „wild und skurril“ vorgekommen, weil er bei dieser Aktion ganz allein gewesen sei, „verloren im Dickicht Berlins“.131 Am 18. Juli malte er sich dann bei einem Spaziergang durch die Felder die Zukunftsträume noch plastischer aus: […] ich träumte davon, wie schön es wäre, dich hierher zu holen, den Winter hindurch zu dirigieren und ein Ballett und ein Quintett zu schreiben, und vielleicht noch eine Sonate, und während des Winters so viel Geld zu verdienen, dass ich den kommenden Sommer mit euch irgendwo im Schwarzwald verbringen könnte, im Sommer dann meine Dritte Sinfonie schreiben, und im Herbst nach Hause fahren, nach Petrograd. Mit einem solchen Gepäck wäre es nicht peinlich, zurückzukehren. 132

Am 13. Juli berichtete er, dass „ein gewisser“ Romanov ihn sofort treffen wolle. Die in Aussicht gestellte Tournee sollte diesmal über Holland, England, Dänemark, die Schweiz und Norwegen gehen. Ščerbačëv bezeichnete diese Option nun als die „wünschenswerteste von allen“, „noch besser als Djagilev“.133 Zwischen dem 18. und 26. Juli traf Ščerbačëv in Berlin direkt mit Romanov zusammen und fand alle Vorschusslorbeeren vollauf bestätigt. Er sah für Romanovs Theater eine glänzende Zukunft voraus, nun wieder mit einem Tourneeplan, der vielleicht sogar nach Amerika führen sollte. Ščerbačëv würde „Generalmusikdirector“ werden, damit noch über den bereits engagierten Dirigenten (wohl Jurij Pomerancev) gestellt und ohne ständige Dirigierverpflichtung. Dafür wurde er allerdings gedrängt, ein Ballett zu schreiben, entweder über Oscar Wildes Geburtstag der Infantin, über Anatole Frances Le Jongleur de Notre-Dame (worüber es schon eine Oper von Jules Massenet gab) oder ein Ballett aus dem Leben des alten St. Petersburg („mit allen möglichen Quadrillen und solchen Sachen“).134 Ščerbačëv traf sich daraufhin mit Rakint und verschiedenen anderen Theaterkünstlern und entwickelte abweichend von Romanovs Wünschen bis 1 Uhr nachts in einem Café auf der Bayreuther Straße ein Szenarium über die Fabula di Orfeo des italienischen Quattrocento-Humanisten Angelo Poliziano. Die antike Fabel sollte als „Ballett im Ballett“ in ein blutiges Intrigendrama eingebunden werden – Vorbilder wie Leoncavallos Pagliacci, Straussʼ Ariadne auf Naxos BrDD, 28. 7. 1923, S. 169. BrDD, 18. 7. 1923, S. 181. 133 BrDD, 13. 7. 1923, S. 177. 134 BrDD, 26. 7. 1923, S. 182. 131 132

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oder Prokofʼevs Ljubovʼ k trëm apelʼsinam (Die Liebe zu den drei Orangen) werden erkennbar. Romanov war am folgenden Tag von diesem Vorschlag begeistert, und schon einen Tag später („eine wahrhaft amerikanische Arbeitsleistung“) erhielt Ščerbačëv ein maschinengeschriebenes Szenarium. Der einzige Pferdefuß war, dass die Partitur innerhalb von drei Monaten abgeschlossen sein sollte, weil die Premiere schon für Oktober 1923 in Berlin angesetzt war. Dies bedeutete, dass Ščerbačëv die Arbeit an seiner Zweiten Sinfonie vorläufig abbrechen musste.135 Die nun so handfest greifbaren Perspektiven brachten Ščerbačëv wieder ins Träumen. Wenn er beispielsweise „500 $ oder mehr“ für die Komposition erhalten würde, könne er ein ganzes Jahr „irgendwo hier“ mit seiner Familie leben, ohne Dienstverpflichtung, nur zum Komponieren, und sich dann nochmals Djagilev empfehlen, der ihn ja nur als Konservatoriumsschüler aus dem Jahr 1911 kenne.136 Er zog nun erstmals auch in Betracht, sich als freischaffender Komponist in Westeuropa niederzulassen. Kompositionsaufträge könne er hier „beliebig viele“ bekommen, und noch dazu sehr gute, mit denen er schon nicht untergehen werde.137 Darin habe ihn der in der Berliner Kulturszene bestens vernetzte Musikschriftsteller Pëtr Suvčinskij (1892–1985) bestärkt, mit dem er einen halben Tag in Berlin verbracht und enge Freundschaft geschlossen habe. In ihm sei nun ein großer Wandel vorgegangen. Er verkündete nun den festen Beschluss, den kommenden Winter in Deutschland zu verbringen, und forderte seine Frau dringend auf, die Vorbereitungen zur Ausreise zu beschleunigen.138 Gleich nach seiner Rückkehr aus Berlin begann Ščerbačëv an der Ballettmusik zu arbeiten. Er nahm an der Handlung kleine Veränderungen vor, um die Figuren lebendiger zu machen, so dass man mit ihnen „mitfühlen“ könne. „[…] was auch immer die Modernisten über die Überwindung der Emotionen in der Kunst sagen mögen, für mich persönlich existiert sie nicht ohne lebendige Nerven und Emotionen.“139 Ein in dem Brief notiertes dreizeiliges Fragment einer Skizze Ebd., S. 183f. Ebd., S. 184. 137 Ebd. Zwei Wochen vorher hatte er diese Einkommensquelle noch weitaus pessimistischer eingestuft: „Mein ganzes Elend liegt allein darin, dass ich dem einen oder anderen als Komponist bekannt bin und ich deshalb schon mehrfach solche Angebote bekommen habe. Das ist für mich natürlich sehr schmeichelhaft, aber die Leute, die mir solche Angebote machen, denken überhaupt nicht darüber nach, dass ich nichts zum Leben habe, dass ich euch [Frau und Kind] habe, dass man zum Komponieren auch ab und zu mal etwas zum Beißen und eine Bleibe braucht“ (BrDD, 13. 7. 1923, S. 177). 138 BrDD, 26. 7. 1923, S. 184. 139 BrDD, 28.–30. 7. 1923, S. 185. 135 136

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zeigt allerdings einen Stil, der für Ščerbačëv bisheriges Schaffen eher untypisch ist und durchaus auf einen Einfluss des Neoklassizismus bzw. der Neuen Sachlichkeit hindeutet. Eine pseudobarocke, spielmusikartige Flöten- oder Oboenlinie in h-Phrygisch (ohne chromatische Alterationen) läuft über spröden Quint- und Quart-Intervallen hinweg.140 Von hier an sank die Kurve der Begeisterung langsam wieder. Am 4. August bat Romanov den Komponisten in einem Brief, für sein Theater kurzfristig Giselle umzuinstrumentieren. Ščerbačëv lehnte das postwendend ab, weil er dann unmöglich das neue Ballett innerhalb von drei Monaten fertigstellen könne. Schon das Ansinnen Romanovs verärgerte Ščerbačëv. Er deutete in diesem Zusammenhang den Plan an, sich von Romanovs Theater zu trennen und das entworfene Ballettprojekt bei Djagilev zu realisieren.141 Vermutlich hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits weitere negative Informationen über Romanovs Theaterunternehmen erhalten, etwa über dessen prekäre Finanzsituation.142 Anders ist die plötzlich eingetretene Reserve kaum zu erklären. Nach der Euphorie während der Berlinreise Mitte Juli machten sich nun wieder erhebliche Zweifel breit, die zu einer vorübergehenden Depression führten. Ščerbačëv sprach davon, dass er in seiner „Dresdner Einsamkeit“ in „Hypochondrie und Pessimismus“ verfallen sei. Er sei sogar abgemagert, was auch seinen Dresdner Pensionsgenossen aufgefallen sei. Mittlerweile sei er aber wieder genesen und arbeite konzentriert an der Ballettmusik. Trotz dieser Gemütsschwankungen sei die „Grundlinie“143 seiner Stimmung Zuversicht.144 Am 18. August sprach er die Befürchtung aus, dass das Theater für sein Ballett kein „ordentliches Geld“ zahlen werde, das ihm erlaube, „hier“ mit seiner Familie ein ruhiges Leben zu führen. In diesem Fall werde er das Ballett mit einem anderen der „großen“, ihm bekannten Künstler herausbringen. Mit dem Bühnenmaler Mstislav Dobužinskij sei er schon in Verhandlungen.145 Auf Anraten Rakints traf Ščerbačëv am 21. August in Berlin noch einmal mit Romanov zusammen. Über das Ballett wurde dabei kein Wort gesprochen – Ščerbačëv schnitt das Thema bewusst nicht an, wohl weil er insgeheim schon den Plan einer Realisierung mit anderen Künstlern (Dobužinskij, Djagilev) verfolgte. Bezüglich seiner Anstellung erfuhr er nur, dass sich die Sache wegen einer Unklarheit noch bis Ebd., S. 185f. Ebd., S. 184–186. 142 Vgl. hierzu Anm. 147. 143 Im Original deutsch geschrieben. Vermutlich greift Ščerbačëv hier einen Terminus der deutschen Musiktheorie auf. 144 BrDD, 5. 8. 1923, S. 187. 145 BrDD, 18. 8. 1923, S. 190. 140 141

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mindestens Anfang September hinziehen werde.146 Diese ernüchternde Auskunft teilte Ščerbačëv seiner Frau ganz lapidar mit. Emotional scheint er sich schon vorher von diesem Projekt verabschiedet zu haben. In den verbleibenden zwei Monaten seines Deutschlandaufenthalts ist weder von einem Engagement bei Romanov noch von dem neoklassizistischen Ballettprojekt die Rede.147 Anstellung in Prag Ein letztes Existenzgründungsprojekt, das Ščerbačëv während seines Deutschlandjahres verfolgte, war die Suche nach einer Anstellung in Prag. Der Jurist Andrej Stasov,148 bei dem Ščerbačëv regelmäßig während seiner Berlinaufenthalte übernachtete, hatte ihm Informationen eines hochrangigen, gerade von der sowjetischen Vertretung in Prag nach Berlin versetzten Beamten übermittelt, die speziell auf Ščerbačëvs Situation zugeschnitten waren. Diese Informationen können, so seltsam es anmutet, kaum anders gedeutet werden als eine Ermunterung zur Emigration von Seiten eines sowjetischen Diplomaten. Während es in Deutschland wegen des „Patriotismus“ der Deutschen „für unsereinen“ (našemu bratu) außerordentlich schwierig sei, ein normales Auskommen zu finden, würden in Prag russische Musiker „mit Handkuss“ genommen. Der Vorteil von Prag sei, dass es ein bedeutendes Musikzentrum sei und nahe an Deutschland liege. Der sowjetische Diplomat empfahl Ščerbačëv sogar, gleich auch für seine Familie ein Visum in die Tschechoslowakei zu beantragen, und nannte einige Personen in Prag, die ihm behilflich sein könnten. Auch Ščerbačëv wunderte sich über solche subversiven Ratschläge eines offiziellen Vertreters der Sowjetunion, den er nicht einmal persönlich kannte.149 Ščerbačëv wurde sofort aktiv. Er begann, Informationen über das Prager Musikleben einzuholen und mit Bekannten zu diesem Thema zu korrespondieren. BrDD, 22. 8. 1923, S. 191. Die Ballettkomposition wurde, soweit bekannt, auch später von Ščerbačëv nicht mehr aufgegriffen. Das „Russische Romantische Theater“ unternahm 1924 zwei Tourneen nach England und Spanien, die beide in finanzieller Hinsicht ein Debakel waren. Daraufhin wurden der Künstlerstab deutlich verkleinert und die Ambitionen zurückgeschraubt. Die Uraufführung zweier bei Prokof’ev bestellter Ballettmusiken (Trapèze und Hommage à Schubert) fand am 6. November 1925 in Gotha statt und fand so gut wie keine Beachtung. Vgl. Mann, „Trapèze“ (wie Anm. 123). 148 Andrej Stasov (1870–1944) war Sohn des berühmten Rechtsanwalts (u. a. Čajkovskij-Verteidigers) und Direktors der Russischen Musikgesellschaft Dmitrij Stasov und Neffe des Kunstkritikers Vladimir Stasov, des einflussreichen Mentors der nationalrussischen Schule in Malerei und Musik seit den 1860er Jahren. 149 BrDD, 5. 6. 1923, S. 161. 146 147

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Seiner Frau teilte er mit, dass er gut „ein paar warme Zeilen“ von Glazunov gebrauchen könne, die ihn als „Musiker, Komponisten, Pädagogen, Dirigenten und – ich weiß nicht, was noch – als Pauker und Trompeter“ empfehlen würden, am besten in Französisch und Deutsch. Nebulös sprach er in diesem Zusammenhang von „Plänen mit dem Prager Konservatorium und Operntheater“.150 Bestens passte es, dass Ščerbačëv zu dieser Zeit Gustav Meyrinks Der Golem las.151 Am 18. Juni zählte er das Prag-Projekt als „sehr wahrscheinliches, aber noch im Anfangsstadium befindliches“ auf – hinter dem Djagilev-Plan und vor dem Engagement bei Romanovs „Russischem Romantischem Theater“.152 Und noch am 10. Juli nannte er es neben der Djagilev-Option als seinen einzigen Plan, der nicht „abenteuerlich“ sei, argwöhnte aber, dass es nur ein Bluff sein könne.153 Fast überflüssig zu erwähnen ist, dass auch diesem Unterfangen kein Erfolg beschieden war. Nach der kurzen Anfangseuphorie fand es keine Erwähnung mehr. Immerhin hatte Ščerbačëv aber das gewünschte Referenzschreiben von Glazunov erhalten. Er war allerdings bestürzt, wie „trocken“ und „durch und durch bürokratisch“ es ausgefallen war.154 Kapitulation: Anstellung in Petrograd Nachdem Ščerbačëvs Enthusiasmus für das Prag-Projekt seit Mitte Juni schnell wieder abgeflaut war, fokussierte er sich in der Folgezeit – vor allem von Mitte Juli bis Mitte August – auf das Engagement bei Romanovs Truppe. Als sich nach dem Treffen mit Romanov am 21. August auch diese Option eintrübte und die einzige noch offene Perspektive – die Zusammenarbeit mit Djagilev als Ballettkomponist und/oder Musikdirektor – ziemlich ungewiss war, begann Ščerbačëv aktiv seine Rückreise vorzubereiten und sich um eine Anstellung in Petrograd zu bemühen. Am 22. August teilte er seiner Frau mit, dass er an Aleksandr Ossovskij und Maksimilian Štejnberg – beide Professoren am Petrograder Konservatorium (für Musikgeschichte bzw. für Komposition) und einflussreiche Figuren der örtlichen Musikszene – von seiner Rückkunft nach Petrograd schreiben werde und sie bitten werde, ihm dort eine Anstellung zu verschaffen.155 Der Brief an Ossovskij, datierend vom 23. August 1923, ist erhalten und in Slonimskajas Sammelband publiziert. Ščerbačëv merkte darin bescheiden an, Ebd. BrDD, 11. 6. 1923, S. 164. 152 BrDD, 18. 6. 1923, S. 164. 153 BrDD, 10. 7. 1923, S. 176. 154 BrDD, 18. 7. 1923, S. 182. 155 BrDD, 22. 8. 1923, S. 191. 150 151

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dass ihn „jegliche rein künstlerische oder pädagogische Arbeit“ weitaus mehr befriedigen würde als irgendeine „administrative“, wobei er aber auch eine solche nicht ablehnen würde. Um sich interessant zu machen, berichtete er Ossovskij, dass ihm sein Auslandsaufenthalt einigen Nutzen gebracht habe, „nicht im Sinne der Gesundheit“, sondern dass er „das eine oder andere gemacht, komponiert, gehört, gelesen und gelernt“ habe. Er ließ auch exklusives Wissen über die deutschen Musikverhältnisse (altgewohntes Prosperieren der Theater und Konzerte bei gleichzeitigem Abfall der Qualität) und das Leben von Emigranten wie Metner („was für ein bezaubernder Mensch!“) durchblicken. Auch hier fällt wieder auf, dass er Ossovskij weniger als sowjetischen Kulturfunktionär denn als konspirierenden Fachkollegen adressierte. Er bot ihm auch an, Erledigungen für ihn auszuführen. Allerdings könne er wegen der „sagenhaften Teuerung“ keine Bücher und Noten kaufen. Ein Buch koste so viel Geld, wie er für zwei Wochen zum Leben brauche.156 Um den 20. September herum erhielt Ščerbačëv einen Antwortbrief von seinem ehemaligen Kompositionslehrer Štejnberg. Dieser teilte darin mit, dass Ščerbačëv in das Petrograder Konservatorium gewählt worden sei. An Spezialfächern solle er harmonische Analyse, praktische Harmonielehre und Musikliteratur unterrichten, an Pflichtfächern „Enzyklopädie“ und Instrumentation. Dieses Fächerprofil befand Ščerbačëv für sehr „ehrenvoll“, und auch die Dotierung („1½ staatliche Einheiten“) erschien ihm sehr gut. Auch Metner riet Ščerbačëv bei einem Treffen, dieses Angebot anzunehmen.157 Dies tat er denn auch mit einem Schreiben an Štejnberg vom 27. September.158 In dem Brief an Ossovskij vom 23. August hatte Ščerbačëv seine Rückkehr nach Petrograd für Anfang Oktober 1923 angekündigt.159 Tatsächlich verließ er Deutschland erst am 15. November 1923 mit einem Dampfer von Stettin aus,160 fünf Tage, bevor sein Visum abgelaufen wäre.161 Ein Motiv für das Hinauszögern – immerhin über den Beginn des Unterrichtsjahrs am Petrograder Konservatorium hinaus – war, dass er die Arbeit an seiner Zweiten Sinfonie, die er seit September wieder intensiver aufgenommen hatte, noch weitertreiben wollte.162 ZuBrief von Vladimir Ščerbačëv an Vladimir Ossovskij vom 23. 8. 1923, in: Slonimskaja, V. V. Ščerbačëv (wie Anm. 18), S. 264f. Der Wunsch, Noten für das Petrograder Konservatorium mitzubringen, bildete wahrscheinlich den Hintergrund für Ščerbačëvs Anfrage bei der Universal Edition nach kostenlosem Notenmaterial (vgl. Anm. 84). 157 BrDD, 24. 9. 1923, S. 198. 158 BrDD, 28. 9. 1923, S. 199. 159 Wie Anm. 156, S. 264. 160 BrDD, 8. 11. 1923, S. 203. 161 BrDD, 28. 9. 1923, S. 199. 162 BrDD, 14. 9. 1923, S. 195. 156

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gleich scheint es, dass er sich einen Einstieg bei Djagilev noch möglichst lange offenhalten wollte.163 Das Ende August plötzlich hereingeflatterte Angebot einer Professur an der New Yorker Juilliard Graduate School of Music stresste ihn zunächst, weil es seinen Rückkehrplan in Frage stellte. Allerdings ließ ihn nach einer ersten Abwehrreaktion auch diese Offerte nicht kalt, und letztlich dürfte er bis zum Tag seiner Abreise am 15. November mit dem Abbruch seines – insgesamt erfolglosen – Auslandsplans gehadert haben. Intransparente Finanzierung Was die sowjetische Historiographie als „Künstlerische Dienstreise“ rubriziert hat, entpuppt sich bei genauerer Hinsicht als kaum verhüllter Versuch, längerfristige Karrieremöglichkeiten in Westeuropa auszuloten. Gleichzeitig fungierte der Dresden-Aufenthalt aber auch – im Sinne einer Rückversicherung für den Fall des Misserfolgs – als ein Sabbatjahr, das Freiraum zum Vorstoß in neue Dimensionen des Komponierens öffnen sollte. Eigenartig ist die Gelassenheit, bisweilen Gleichmütigkeit, mit der Ščerbačëv diese Vorhaben anging. Mit der systematischen Arbeit an der Sinfonie begann er seinen Angaben zufolge erst am 13. Januar,164 nachdem er vier Wochen zum Einrichten, Akklimatisieren und Erledigen einiger Formalitäten benötigt hatte. Und konkrete Schritte zur Anbahnung von Engagements unternahm er erstmals Mitte Februar, also zwei Monate nach seiner Ankunft, mit den Briefen an Lazarʼ Saminskij und die schwedische Verlagsfirma Bonnier. Diese Gelassenheit verwundert umso mehr, als sich in der gesamten Korrespondenz keinerlei Hinweis darauf findet, dass Ščerbačëv während der elf Monate in Deutschland irgendwelche Einkünfte erzielt hätte. Er gab keinen Unterricht, hatte keine Auftritte als Pianist oder Dirigent, ließ nichts verlegen. Für die Aufführung der Ersten Sinfonie in der Berliner Philharmonie am 10. Oktober 1923 erhielt er anscheinend nur ein Dankeschön und einen Blumenstrauß. Dennoch hat Ščerbačëv in Dresden offenbar nicht gedarbt. Nach ein paar Nächten im Hotel wohnte er die ganze Zeit über in einer gehobenen Pension mit internationalem Publikum, vorzüglicher Vollpension, Balkonzimmer mit Klavier und einem Arbeitstisch, an dem schon Siegfried Wagner gearbeitet hatte, der bei seinen Dresden-Besuchen mit seiner Mutter Cosima in derselben Pension zu logieren pflegte. Der Preis für Kost und Logis betrug im Dezember 1922 1.500 163 164

BrDD, 4. 9. 1923, S. 193. BrDD, 14. 1. 1923, S. 115.

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Mark pro Tag,165 was etwa 3 US-Cent bzw. 1 $ Miete pro Monat entsprach – ein Spottpreis.166 Ščerbačëv nahm Deutschunterricht, besuchte mehrfach die Zwingergalerie, Konzerte und Vorstellungen in der Semperoper, kaufte sich, nachdem ihn zunächst der hohe Preis geschreckt hatte (eine Woche Pensionsmiete), Arnold Schönbergs Harmonielehre, und die Modulationslehre von Max Reger gleich dazu,167 fuhr mindestens fünfmal mit der Bahn nach Berlin und kündigte dreimal an, zur Erholung in die Sächsische Schweiz fahren zu wollen und eventuell sogar dorthin zu übersiedeln.168 Erkennbar werden allerdings auch die Beschränkungen von Ščerbačëvs finanziellen Möglichkeiten. Außer Berlin scheint er keine anderen deutschen Städte besucht zu haben, und andere europäische Länder schon gar nicht. Im Raum stehende Fahrten nach Zagreb oder Salzburg waren ihm ausdrücklich zu teuer. Ščerbačëv klagte auch mehrfach über hohe Preise. Der Kutscher im Stettiner Hafen habe 2.500 Mark genommen (fast zwei Tage Vollpension bei seiner Dresdner Wirtin), weshalb er gleich nach seiner Ankunft ein schlechtes Bild von Deutschland bekommen habe.169 Im Oktober nannte er die „wahnsinnig hohen“ Hotelkosten in Berlin als wesentlichen Grund dafür, dass er nicht zur Aufführung seiner Ersten Sinfonie fahren wollte170 (möglicherweise suchte er aber eher einen Vorwand, um sich nicht einer Situation auszusetzen, in der der bereits gefasste Entschluss zur Rückkehr ins Wanken gekommen wäre). Hinsichtlich der Frage, wie sich die Inflation, die genau während Ščerbačëvs Zeit in Deutschland zur galoppierenden Inflation eskalierte, auf die Lebenshaltungskosten auswirkte, zeigen die Briefe kein klares Bild. Im Juli klagte er, dass das Leben in Deutschland teurer geworden sei, in der Zeit seines Aufenthalts um das 22-fache, während es in Russland nur um das Sieben- bis Achtfache gestiegen sei.171 Und im September 1923 meldete er, dass Deutschland BrDD, 19. 12. 1922, S. 106. Umrechnung nach Hermann Bente, „Die deutsche Währungspolitik von 1914–1924“, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 25. Jg. Heft 1 (1926), S. 134. 167 BrDD, 10. 7. 1923, S. 177; 13. 7. 1923, S. 178. 168 BrDD, 29. 12. 1922, S. 110; 18. 1. 1923, S. 119; 18. 7. 1923, S. 181. 169 BrDD, 19. 12. 1922, S. 105. 170 BrDD, 18. 9. 1923, S. 197. 171 BrDD, 10. 7. 1923, S. 177. Ščerbačëvs Angaben entsprechen etwa den bekannten Inflationszahlen für 1923. Die galoppierende Inflation ab September 1923, während derer die Preise bis in den Milliarden- und Billionenbereich stiegen, erwähnte er eigenartigerweise nicht explizit. Er berichtete aber Ende September, dass Deutschland im „Belagerungszustand“ sei und unerwartete Dinge wie die Ausweisung von Ausländern eintreten könnten, was er aber für wenig wahrscheinlich halte (BrDD, 28. 9. 1923, S. 199). Ščerbačëv verließ Deutschland zufällig genau am Tag der Einführung der Rentenmark und des damit herbeigeführten Endes der Inflation, am 15. November 1923. 165 166

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„im Sinne der Millionen“ Russland bald überhole. Eine Straßenbahnfahrt koste nun 10 Millionen Mark, was auch nach dem Goldkurs sehr teuer sei und ungefähr 15 Goldkopeken entspreche.172 Andererseits empfand er im Dezember 1922 die Tagesmiete von 1.500 Mark für sein Zimmer mit Vollpension als ausgesprochen billig.173 Und im Juli 1923 schwärmte er davon, dass er von 500 $ Honorar für seine Ballettkomposition ein ganzes Jahr lang mit Frau und Kind ohne weitere Einkünfte in Deutschland leben könne.174 Tatsache ist, dass die Inflation in Deutschland in den Jahren 1921 bis 1923 ein wesentlicher Faktor war, der die massive russische Emigration in dieser Zeit beflügelte. Wer Ressourcen in einer härteren Währung oder veräußerbare Wertgegenstände hatte, konnte mitunter ein Leben in Saus und Braus führen.175 So war die Phase der Hyperinflation auch genau der Zeitraum, in dem die Zahl russischer Emigranten in Deutschland ihren Höhepunkt erreichte.176 Nach 1923 wanderten viele weiter, entweder zurück nach Russland oder – häufiger – weiter gen Westen.177 Auch wenn Ščerbačëv im Juli despektierlich über „hiesige Kapitalisten“ schrieb, die über „ausländische Valuta“ verfügten und bei denen sich die allgemeine Teuerung in keiner Weise bemerkbar mache:178 Er muss über irgendwelche härteren Geldressourcen oder Wertgegenstände verfügt haben, sonst hätte er sich den einjährigen Aufenthalt ohne jegliches Einkommen nicht leisten können. Es überrascht kaum, dass in den Briefen davon nichts zu lesen ist. Am 1. Februar erwähnte Ščerbačëv immerhin, dass „sie“ dieses „verfluchte Geld“ zurückhielten und er deswegen nicht nach Berlin fahren könne, um dort wichtige Angelegenheiten zu erledigen.179 Mehrfach schimmert durch, dass sein Auslandsaufenthalt für seine in Petrograd verbliebene Frau eine große Entbehrung bedeutete. Am 10. Juli räsonierte er offen darüber, dass das Sich-Hinauszögern seines Aufenthalts seine Frau ihres Budgets und ihrer finanziellen Versorgung beraube. Seine Abwesenheit bedeute einen „kolossalen Bruch in unserem Petersburger Leben“ und einen „kolossalen Verlust an Geld“. Dies müsse unbedingt „gut entschädigt“ BrDD, 28. 9. 1923, S. 199. BrDD, 19. 12. 1923, S. 106. 174 BrDD, 26. 7. 1923, S. 184. 175 Vgl. Karl Schlögel, Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas, München: Pantheon, 2007, S. 126. 176 Vgl. Karl Schlögel, Der große Exodus, München: Beck, 1994, S. 237. Zeitgenössische Schätzungen gingen von etwa 600.000 russischen Flüchtlingen/Emigranten im deutschen Reichsgebiet in den Jahren 1922/23 aus, 360.000 davon in Berlin. 177 Schlögel, Das russische Berlin (wie Anm. 175), S. 142. 178 BrDD, 13. 7. 1923, S. 177. 179 BrDD, 1. 2. 1923, S. 120. 172 173

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werden.180 Wie drastisch die Entbehrungen für seine Frau gewesen sein müssen, ist an folgendem Detail zu ermessen: Ščerbačëv wünschte – wie schon erwähnt – für Werbezwecke drei Exemplare eines Artikels von Nikolaj Malkov aus dem Eženedelʼnik gosudarstvennych akademičeskich teatrov (der Wochenzeitung der staatlichen akademischen Theater). Er riet aber seiner Frau für den Fall, dass dieses Blatt allzu teuer sei (was zu bezweifeln ist), nur ein Exemplar zu kaufen. Er könne den Text nämlich in Dresden auf der Schreibmaschine abschreiben.181 Dass Ščerbačëv seinen Aufenthalt allein von dem finanzierte, was seine Frau von ihrem Gehalt als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Eremitage entbehren konnte, erscheint kaum vorstellbar. Und dass er selbst in den Jahren zuvor nennenswerte Ersparnisse angehäuft hatte, ebenso. Wie schon beschrieben, war bis 1923 keine einzige seiner Kompositionen gedruckt worden. Aufführungen fanden zwar statt, aber nur sporadisch und – soweit bekannt – nur in Russland. Der Lohn für seine Tätigkeit im Volkskommissariat für Aufklärung (März 1919 bis Mai 1921) oder im Russischen Institut für Geschichte der Künste (seit Februar 1920) dürfte auch nicht so üppig gewesen sein, dass er davon substanzielle Geldreserven hätte bilden können – zumal der junge Sowjetstaat ja selbst bis 1924, etwas verzögert gegenüber dem Deutschen Reich, eine Hyperinflation durchmachte. Ende März 1923, als sich Ščerbačëv „voller Gesundheit, Kraft, Energie, Pläne und Arbeit“ fühlte und die „beste Zeit seines Lebens“ angebrochen sah, sprach er auch explizit von einer vorangegangenen „Zeit aller erdenklichen Not“. Er und seine Frau seien noch jung und hätten „das volle Recht, noch vieles zu erleben und das Versäumte nachzuholen“.182 So lässt sich über die eigentliche Finanzierungsquelle nur spekulieren. Dies soll hier nur in einer der vielen denkbaren Richtungen verfolgt werden. Die sowjetische und darauf basierende spätere Ščerbačëv-Literatur schweigt auffällig über dessen familiäre Herkunft und Kindheit. Bekannt ist, dass Ščerbačëv 1887 in Warschau geboren wurde und dort bis zu seiner Immatrikulation als Jurastudent an der St. Petersburger Universität im Jahr 1906 lebte.183 Aufhorchen lässt der lapidare Eintrag, den Ščerbačëv in den Personalbögen des Leningrader Konservatoriums in der Zeile „Eltern“ machte: „dvorjane“ (Adlige).184 Sein Vater Vladimir Fëdorovič Ščerbačëv (1844–1900) war ein höherer Offizier der russiBrDD, 10. 7. 1923, S. 176. BrDD, 18.–21. 2. 1923, S. 123. 182 BrDD, 28. u. 29. 3. 1923, S. 136. Am 19. Dezember bestellte Ščerbačëv einen Gruß an „beide Kinderfrauen“, die – bei voller Berufstätigkeit beider Eltern – für den erst achtjährigen Sohn Oleg auch noch zu bezahlen waren. BrDD, 19. 12. 1922, S. 107. 183 Dürre Daten in Slonimskaja, „Chronograf“ (wie Anm. 31), S. 338. 184 Ličnyj listok, 12. 5. 1947 (wie Anm. 38). 180 181

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schen Armee.185 Über Ščerbačëvs Mutter Anna Iosifovna Vizenberg (1863–1895) ist kaum etwas bekannt. Die alternativ zu findende Namensform Ioanna-Jozefa186 deutet auf deutsche Abkunft hin (vermutlich: Johanna Josepha Wiesenberg). Vladimir Ščerbačëv war das jüngste von vier Geschwistern, die das Kleinkindalter überlebten.187 Bereits mit 13 Jahren war er Vollwaise. Seine beiden älteren Brüder Arkadij und Fëdor hatten wie der Vater die Militärlaufbahn eingeschlagen und dienten im Litauischen Leib-Regiment. Arkadij Ščerbačëv (* 1873) wurde 1916 zum Generalmajor befördert, erlag aber im gleichen Jahr einer Kriegsverletzung.188 Fëdor Ščerbačëv (* 1874) wurde im Juli 1915 Kommandeur der in Vyborg stationierten 14. Automobilkompagnie.189 Vladimir Ščerbačëv (*1887: der Komponist) wurde nach seiner Grundausbildung Unteroffizier in demselben Litauischen Leib-Regiment, in dem auch seine beiden Brüder dienten. 1915 wurde er in die von seinem Bruder Fëdor befehligte 14. Automobilkompagnie versetzt,190 eigenen Angaben zufolge aufgrund seines Gesundheitszustands.191 Möglicherweise hatten die 13 bzw. 14 Jahre älteren Brüder eine Art Vormundschaft für den mit 13 Jahren verwaisten Vladimir übernommen. In jedem Fall entstammte Vladimir Ščerbačëv adligen Militärkreisen, die vermutlich gut situiert waren. Ob die Eltern oder eventuell auch der 1916 gefallene Bruder Arkadij Vermögen hinterlassen haben, ist unbekannt, aber denkbar. Nicht auszuschließen ist folglich auch, dass Reste davon, etwa versetzte Wertgegenstände, zur Finanzierung der Dresdenreise dienten. Gewisse Reflexe von Ščerbačëvs elitärer Sozialisierung lassen sich noch in dessen Lebensstil in der Sowjetära erkennen. Der Musikwissenschaftler Valerian Bogdanov-Berezovskij, der Mitte der 1920er Jahre bei Ščerbačëv studiert hatte, berichtet in einem memoiristischen Porträt, dass der Lehrer seine Schüler oft in seine großzügige Wohnung in der ulica Marata 50 geladen habe, die ehedem dem Holzindustriellen und Musikmäzen Mitrofan Beljaev gehört hatte. Ščerbačëv sei „elegant und artistisch“ gewesen, offenbar mit gewissen dandyhafhttp://ria1914.info/index.php?title=Щербачев_Владимир_Владимирович (Website der Plattform „Officery russkoj imperatorskoj armii [Offiziere der russischen kaiserlichen Armee]“; abgerufen am 22. 2. 2019). 186 Ebd. 187 http://www.rgfond.ru/person/72040 (Website der Plattform „Rossijskij rodoslovnij fond [Russischer genealogischer Fonds]“; abgerufen am 22. 2. 2019). 188 http://www.rgfond.ru/person/72060, Website „Rossijskij rodoslovnij fond“ (wie Anm. 187); abgerufen am 22. 2. 2019. 189 http://ria1914.info/index.php?title =Щербачев_Федор_Владимирович, Website „Officery“ (wie Anm. 185); abgerufen am 22. 2. 2019. 190 http://ria1914.info/index.php?title=Щербачев_Владимир_Владимирович (wie Anm. 185); abgerufen am 22. 2. 2019. 191 Kratkoe žizneopisanie, 13. 9. 1946 (wie Anm. 38), Bl. 106r. 185

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ten Zügen: im Kleidungsstil (tadellos geschnittenes englisches Sakko mit weißen Hosen und Schuhen), in Körperhaltung und Bewegungsstil, in der Art, seine Pfeife zu halten, das Feuerzeug zu reichen oder den Hut zu ziehen.192 Dresden vs. Berlin Denkbar ist, dass auch die Wahl Dresdens als Standort für den Deutschlandaufenthalt mit Ščerbačëvs sozialer Prägung zusammenhing. Um in Ruhe und inspirierendem Ambiente seine kulturpessimistische Blok-Sinfonie komponieren zu können, war Dresden ein idealer Standort, den er auch wiederholt für diese Qualitäten rühmte. Den „wunderbaren und ruhigen“ Stadtteil (heute: Südvorstadt), in dem sich sein „herrliches“ Zimmer mit Sonnenbalkon befand, pries er als „regelrechtes Sanatorium“.193 Es gefiel ihm auch, dass sich in Dresden „noch viel Altdeutsches“ erhalten habe, etwa wenn das Zimmermädchen nach Gabe des Trinkgelds einen Knicks mache und die Hand gebe oder wenn am Altmarkt ein ziemlich großes Blasorchester mit älteren Herren in Zylindern und Gehröcken Wagner spiele.194 Für seine Ambitionen zum Aufbau einer beruflichen Existenz war Dresden dagegen kein günstiger Ausgangspunkt. In den Briefen sind über elf Monate verteilt insgesamt fünf Berlinfahrten dokumentiert,195 die Ščerbačëv sämtlich aus geschäftlichen Gründen unternommen hatte. Teils musste er dort seine Pass- und Visumsangelegenheiten regeln, für die es in Dresden offenbar keine Infrastruktur gab.196 Meist waren es aber berufliche Gespräche, die ihn nach Berlin trieben. Als sich ab Juni wegen der Verhandlungen mit dem „Russischen Romantischen Theater“ die Berlinfahrten häuften, benannte er das Dilemma ganz offen: „von Dresden aus ist es sehr schwierig, all diese Angelegenheiten zu betreiben, bedeutend 192 Valerian Bogdanov-Berezovksij, [Erinnerungen an Vladimir Ščerbačëv], in: Slonimskaja, Čuvstvo puti (wie Anm. 18), S. 40. 193 BrDD, 19. 12. 1922, S. 106; 21. 12. 1922, S. 107. 194 BrDD, 29. 12. 1922, S. 111. 195 1. Fahrt: 22.–24. Dezember 1922; 2. Fahrt: zwischen 15. und 22. Mai 1923; 3. Fahrt: zwischen 11. und 18. Juni 1923; 4. Fahrt: zwischen 17. und 26. Juli 1923; 5. Fahrt: zwischen 19. und 21. August 1923. Ščerbačëv erwähnte noch weitere Reisepläne nach Berlin, vor allem zwischen Januar und April. Diese wurden anscheinend aber nicht umgesetzt. 196 Am 21. Februar 1922 wurde in Dresden eine „Russische Versammlung“ („Russkoe sobranie v Drezdene“) gegründet, die das Ziel hatte, die Emigrantengemeinde mit lokalen deutschen Kreisen in Kontakt zu bringen sowie Abendveranstaltungen und Vorträge zu organisieren (vgl. Rulʼ, 21. 2. 1922, Nr. 385; Chronik russischen Lebens, wie Anm. 122, S. 95, Eintrag 1279). Weiterreichende Vollmachten hatte die Vereinigung offenbar nicht. Ščerbačëv scheint zu ihr keinen Kontakt aufgenommen zu haben.

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leichter wäre das in Berlin, aber in dieser ekelhaften Stadt ist es vollkommen unmöglich zu komponieren.“197 Bei seinem ersten Berlinbesuch kurz vor Weihnachten staunte er über den „kolossalen Verkehr“ und das Gedränge, das wohl stärker sei als früher in London oder Paris. Sein Sohn würde angesichts der Vielzahl aller möglichen Verkehrsmittel „verrückt werden“. Er selbst freue sich dagegen, wenn er nach dem „nervenaufreibenden und ermüdenden“ Leben Berlins wieder in die Stille seiner „wundervollen“ Nürnberger Straße in Dresden zurückkehren dürfe.198 Ščerbačëv hatte vor seiner Ankunft offenbar keine persönlichen Kontakte in Dresden. Er wollte ursprünglich bei einem Herrn „Bluthner“ wohnen, musste von dessen Frau bzw. Lebensgefährtin „Frau Franke“ aber erfahren, dass dieser vor drei Wochen verstorben und die Wohnung nun wegen der Vermögensaufteilung versiegelt war. Nach Ausweis der Dresdner Adressbücher handelte es sich um Julius Blüthner,199 eingetragen als Privatier, vermutlich ein Erbe der Leipziger Klavierbaufirma Blüthner. Die Firma Blüthner hatte früher eine Dependance in St. Petersburg unterhalten, möglicherweise bekam Ščerbačëv darüber den Kontakt vermittelt. Er scheint aber Julius Blüthner und dessen Partnerin vorher nicht persönlich gekannt zu haben. Aus den Briefen geht außerdem hervor, dass er außer zu den Pensionsbewohnern zunächst keinerlei Kontakte in der Stadt hatte. Ende Dezember schrieb er, dass er ein „überaus einsiedlerisches Leben“ führen wolle und nur für Einkäufe und allenfalls Theaterbesuche von seiner Anhöhe in die Stadt hinuntergehen werde.200 Mitte März beschrieb er, dass jeder „Ausgang“ weg von seinem häuslichen Schreibtisch, selbst ins Theater oder Konzert, ein „wahres Martyrium“ sei.201 Und noch Ende April beschrieb er sein Leben als das eines „Einsiedlermönchs“.202 Bei der Wahl des Standorts Dresden ließ sich Ščerbačëv vermutlich vom gängigen Topos einer beschaulichen und besonders kunstsinnigen Stadt von etwas antiquierter Noblesse leiten. Getragen wurde dieses Image vor allem von der berühmten Kunstgalerie mit der Sixtinischen Madonna, die gerade von vielen Russen schwärmerisch verehrt wurde (und bis heute wird), aber auch von der Hofoper mit ihrem exzellenten Orchester. Das Musenort-Image hatte schon im 19. Jahrhundert russische Intellektuelle und Künstler wie Fëdor Dostoevskij, AnBrDD, 13. 7. 1923, S. 178. BrDD, 27. 12. 1922, S. 109. 199 Vgl. Adreßbuch für Dresden und Vororte […] 1922/23, Dresden: Dr. Güntzsche Stiftung, o. J. [1923], S. 66. In der entsprechenden Ausgabe von 1924/25 ist ein Julius Blüthner nicht mehr verzeichnet. 200 BrDD, 29. 12. 1922, S. 110. 201 BrDD, 17. 3. 1923, S. 131. 202 BrDD, 28. 4. 1923, S. 147. 197 198

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ton Rubinštejn oder Čajkovskij angezogen. Von den 1850er bis zu den 1870er Jahren existierte in Dresden eine stattliche Kolonie von über 1.100 Russen, die knapp 20 % des Ausländeranteils ausmachte. In der Folgezeit ging die Zahl um fast die Hälfte zurück.203 In den frühen 1920er Jahren wurde Dresden aber wieder zu einem wichtigen Nebenzentrum der russischen Emigration, mit einer Gemeinde von mehreren Tausend Personen.204 Das stärkste Argument für die Wahl Dresdens bei Ščerbačëv dürften konkrete Präzedenzfälle gewesen sein, allen voran derjenige Rachmaninovs.205 Nach einem fulminanten Karrierestart als Pianist in Russland hatte sich Rachmaninov 1906 mit seiner Familie in Dresden niedergelassen, um hier ungestört von der Hektik des Moskauer Musiklebens komponieren zu können. Bis 1909 verbrachte er in Dresden vor allem die Wintermonate und schuf hier kapitale Werke wie seine Zweite Sinfonie und die Sinfonische Dichtung Die Toteninsel.206 Möglicherweise war dieses Beispiel auch bei Prokof’ev haften geblieben. Ščerbačëv berichtete nämlich, dass „Sereža“ und seine Frau im Mai für einen Monat zu ihm nach Dresden kommen wollten – „falls die Deutschen ihm ein Visum geben“.207 Tatsächlich aber blieb Prokof’ev bis Oktober 1923 in Ettal.208 203 Vgl. Erhard Hexelschneider, „Deutsch-russische kulturelle Wechselbeziehungen“, in: Handbuch des Russischen in Deutschland. Migration – Mehrsprachigkeit – Spracherwerb, hrsg. von Kai Witzlack-Makarevich und Nadja Wulff, Berlin: Frank & Timme, 2017, S. 531– 548, hier S. 542. 204 Vgl. Schlögel, Der große Exodus (wie Anm. 176), S. 238. Die russische Emigration in Dresden ist so gut wie unerforscht (vgl. ebd., S. 235). Grete Busch, die Frau des Dirigenten, schreibt in ihren Memoiren von „Dresden, der von gebildeten Russen von jeher bevorzugten Stadt, die jetzt übervoll von Flüchtlingsschicksalen war“ (Grete Busch, Fritz Busch, Dirigent, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 1970, S. 38). 205 Schon Skrjabin hatte im Herbst 1903 kurzzeitig geplant, nach Dresden überzusiedeln. Sein Verleger und Gönner Mitrofan Beljaev hatte bereits begonnen, alles dafür zu organisieren, verstarb dann aber überraschend. Vgl. Skrjabins Brief an Vera Skrjabina vom 8./21. 11. 1903, in: Alexander Skrjabin, Briefe, hrsg. von Christoph Hellmundt, Leipzig: Reclam, 1988, S. 190f. 206 Vgl. Dieter Härtwig, „Russische Komponisten als Gäste in Dresden. Auf den Spuren Anton Rubinsteins, Peter Tschaikowskis, Alexander Skrjabins und Sergej Rachmaninovs“, in: Partita. Siebenundzwanzig Sätze zur Dresdner Musikgeschichte, hrsg. von Wolfgang Mende, Dresden: Thelem, 2012, S. 275–297, hier S. 293f. Rachmaninov verbrachte auch die Sommermonate der Jahre 1924 bis 1928 in Dresden bei der befreundeten Familie Schuncke; vgl. ebd., S. 296f. 207 BrDD, 17. 3. 1923, S. 132. Erleichtert war Ščerbačëv, dass der gut situierte Prokofʼev „natürlich“ nicht direkt bei ihm wohnen werde – nachdem ihm andere Übernachtungsgäste sehr zur Last gefallen waren. 208 In der Prokof’ev-Forschung ist von den genannten Visum-Schwierigkeiten, Plänen eines längeren Aufenthalts in Dresden wie auch von dem Kontakt mit Ščerbačëv nichts bekannt. Allerdings weisen Prokof’evs Tagebücher zwischen März und September 1923 eine große

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Russische Netzwerke Rachmaninovs Schwiegereltern Aleksandr und Varvara Satin gehörten zu den ersten Landsleuten Ščerbačëvs in Dresden, mit denen in den Briefen ein Kontakt dokumentiert ist. Wie schon dargelegt, hatten die Gespräche bei der Goldenen Hochzeit der Satins am 21. Februar 1923 Ščerbačëvs weitere Pläne vermutlich maßgeblich beeinflusst. Vor den Satins hatte Ščerbačëv in Dresden anscheinend nur mit Isaj Dobrovejn Kontakt, der ihn schon im Dezember mit Insiderinformationen zum deutschen Musikleben versorgt hatte. Der einzige weitere in den Briefen festgehaltene Kontakt zu einem in (bzw. bei) Dresden residierenden Russen ist der zu Nikolaj Metner (1879jul/1880greg– 1951). Der deutschstämmige Komponist und Pianist hatte sich von Anfang März bis Ende September 1923 in Pillnitz bei Dresden niedergelassen, unweit der chinois-barocken Sommerresidenz des Wettiner Hofes. Er wohnte bei Hedwig Friedrich, der Tochter einer reichen Pillnitzer Familie, die ihn 1905 bei einer Konzertreise kennengelernt und sich anschließend in ihn verliebt hatte. Später richtete sich ihre Zuneigung stärker auf Nikolajs Bruder Ėmilij, der sich im Sommer 1909 länger bei ihr aufhielt und sie überredete, den symbolistischen Verlag Musaget als Mäzenin zu finanzieren.209 Nikolaj Metner hatte Pillnitz als Domizil gewählt, weil er sich nach der unergiebigen Geschäftigkeit in Berlin an einem ruhigen Ort wieder dem Komponieren widmen wollte.210 Daneben wird sicher die persönliche Beziehung zu Hedwig Friedrich eine Rolle gespielt haben, nicht zuletzt die Möglichkeit, bei ihr umsonst wohnen zu können, und allgemein an einem Ort zu sein, in dem in kultureller Hinsicht die Zeit ein Stück weit stehen geblieben zu sein schien – insgesamt also ähnliche Motive wie bei Rachmaninov und Ščerbačëv. Ščerbačëv hatte (vermutlich von den Satins) von Metners Umzug nach Pillnitz schon vorab erfahren und auch gehört, dass er in Deutschland keinerlei Anerkennung finde, fast nichts komponiert habe und in schlechter Verfassung

Lücke auf. – Zu Prokof’evs Aufenthalt in Ettal vgl. auch Elena Poldiaevas Beitrag zum vorliegenden Band. 209 Vgl. Alexandra Moik, Geld und Geist: Die Rolle der Mäzene im Silbernen Zeitalter, Diplomarbeit Universität Wien 2009, S. 31–39. Ėmilij Metners Kompagnon im Musaget-Verlag war Andrej Belyj, mit dem er sich wegen dessen zunehmend antiwestlicher Einstellung und wegen eines Streits um Rudolf Steiners Anthroposophie 1914 überwarf. Ėmilij Metner wandte sich daraufhin der Psychoanalyse und insbesondere Carl Gustav Jung zu. Er und auf sein Drängen hin auch die psychisch labile Hedwig Friedrich ließen sich bei Jung therapieren. 210 Vgl. Metners Brief an seine Schwester Sof‘ja Saburova vom 25. 2. 1923, in: Metner, Pisʼma (wie Anm. 57), S. 245.

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sei. Er trete nun vermehrt als Pianist auf, woraus sich aber keine größeren Konzertengagements ergäben.211 Beachtenswert ist der Ort, an dem Ščerbačëv Metner in Dresden persönlich kennenlernte: in der Kirche, vermutlich bei der orthodoxen Osternachtsfeier am 7. April 1923.212 Die Kirche scheint für Ščerbačëv die wichtigste Institution gewesen zu sein, über die er Kontakte zur Dresdner Emigrantengemeinde fand.213 Offensichtlich hatten auch Rachmaninovs Schwiegereltern diesen Ostergottesdienst besucht, denn im Anschluss beging Ščerbačëv bei ihnen zu Hause zusammen mit Metner das rituelle Fastenbrechen. Zwischen ihm und Metner entspann sich sofort ein freundschaftliches Verhältnis, ihr Gespräch erstreckte sich bis fast 5 Uhr morgens. Ščerbačëv empfand Metner als „vollkommen heiliges Wesen“, hochkultiviert und hochgebildet. Grundsätzliche Übereinstimmung empfand er auch in allgemeinen ästhetischen Anschauungen, etwa dass Kunst kein „Spiel“ sei, sondern „irgendetwas weitaus Größeres“. Sobald es aber ins Konkretere ging, störte sich Ščerbačëv an Metners „Konservatismus und Engstirnigkeit“, etwa bei der Beurteilung von Stravinskijs Entwicklung seit dem Sacre du printemps, die laut Metner „nichts als Lüge“ sei, oder bei dem von Metner empfundenen „polemischen Moment“ und der „Umwertung aller Werte“ im modernen Kunstleben, einem „Turmbau zu Babel“.214 Bis zu Metners Abreise nach Berlin am 27. September war Ščerbačëv insgesamt mindestens sechsmal bei ihm und seiner Frau Anna Michajlovna zu Gast in Pillnitz, meist an Sonntagen zum gemeinsamen Essen und Musizieren, und natürlich zu ausgedehnten Gesprächen, teils bis tief in die Nacht.215 Metner wohnte in einem geräumigen Terrassenzimmer mit einem Bechstein-KonzertflüBrDD, 22. u. 25. 2. 1923, S. 129; 6. 3. 1923, S. 129. Auch Nikolaj Metner berichtete seinem Bruder Ėmilij vom Besuch der Osternachtsfeier in der Dresdner orthodoxen Kirche und den dort singenden „reinrassigen Sachsen“ (Metner, Pisʼma, wie Anm. 57, S. 249). Den anschließenden Besuch bei den Satins und das Kennenlernen Ščerbačëvs erwähnte er allerdings nicht. 213 Weil in sowjetischen Biographien und auch privaten Dokumenten kirchliche Bindung praktisch nie benannt wird, ist über deren gesellschaftsformendes Potenzial nur wenig bekannt. Insofern ist dieses Detail aus Ščerbačëvs Dresdner Briefen bemerkenswert. Im Brief vom 6. Januar berichtet Ščerbačëv noch von einem weiteren Kirchenbesuch, offenbar zum orthodoxen Weihnachtsfest. Die Dresdner Kirche empfand er als „prächtig“, den Chor dagegen – wie auch Metner – als „merkwürdig“, weil er aus deutschen Leihsängern bestand, die überhaupt kein Russisch konnten und nur die mit deutschen Buchstaben wiedergegebenen Texte absangen (BrDD, 6. 1. 1923, S. 113). 214 BrDD, 9. 4. 1923, S. 140. 215 Besuche am 15. April (BrDD, 9. 4. 1923, S. 141; 13. 4. 1923, S. 143), 6. Mai (4. 5. 1923, S. 151; 11. 5. 1923, S. 153f.), 27. Mai (28. und 29. 5. 1923, S. 158), 12. Juli (10. 7. 1923, S. 176), 4. August (5. 8. 1923, S. 188) und 27. September (28. 9. 1923, S. 199). 211 212

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gel, den er schon zehn Jahre zuvor für die Familie Friedrich ausgesucht hatte. Ščerbačëv stellte ihm auf diesem Instrument Teile seiner Zweiten Sinfonie vor und bewunderte Metners pianistische Kunst, mit der er „alle heutigen Petersburger Pianisten um 10 Köpfe überrage“.216 Später erfuhr Ščerbačëv, dass Metner von ihm gesagt habe, dass er „fast ein Beethoven!“ sei.217 Bei Ščerbačëvs letztem Besuch am 4. August legte Metner seinem Gast reihenweise eigene Kompositionen vor – zu dessen großem Verdruss. Dieser empfand die Stücke zwar als „ehrwürdig, gut gemacht und talentiert“, aber wie eine „fürchterliche Säge“ und so „langweilig“, dass er sie beim besten Willen nicht bis zum Ende habe spielen können. Seine Frau bat er vorsichtshalber, dies niemandem weiterzuerzählen.218 Anfang September berichtete Ščerbačëv, dass Metner bald nach Russland zurückkehren werde, weil in Deutschland „nichts für ihn herauskomme“ – obwohl es hier derzeit keine vergleichbaren Pianisten gebe. Metner sei eine so „heilige Seele“, die zu all den „Scheußlichkeiten“ und dem „Schachermacher“ nicht fähig sei, derer man hier bedürfe, um auf das Konzertpodium zu kommen.219 Bekanntlich kehrte Metner damals nicht nach Russland zurück. Stattdessen hatten seine Schülerinnen – darunter laut Ščerbačëv „sogar eine Amerikanerin und eine Afrikanerin (nicht nur Deutsche)“ – ihm in Berlin eine Wohnung beschafft und ihn feierlich zum Bahnhof eskortiert.220 Soweit es die Briefe erkennen lassen, beschränkten sich Ščerbačëvs sonstige Dresdner Kontakte zu Russen auf wenige Besuchsgäste, die ihm teilweise erheblich zur Last fielen. Vom 24. bis 28. Dezember besuchten ihn Andrej Stasov und dessen Frau, die ihn unmittelbar zuvor überaus gastfreundlich in Berlin beherbergt hatten und dies auch bei seinen späteren Berlinreisen taten. Ščerbačëv beklagte sich, dass sie in seinem Zimmer nur auf und ab gegangen seien und ihn mit ihrem Unvermögen, sich zu beschäftigen, zur Weißglut gebracht hätten.221 Genervt war Ščerbačëv auch von Ivan Vyšnegradskij (1893–1979), der ihn vom 13. bis 15. März 1923 in Dresden besuchte. Der 1920 nach Paris emigrierte Pionier mikrotonaler Musik, 1922/23 zeitweise in Berlin lebend, hatte Ščerbačëv unbekannterweise schon im Dezember einen Brief geschrieben und von den Erfolgen der Vierteltonmusik berichtet – die Ščerbačëv unbesehen als „Galima-

BrDD, 11. 5. 1923, S. 153f. BrDD, 4. 7. 1923, S. 172. 218 BrDD, 5. 8. 1923, S. 188. 219 BrDD, 4. 9. 1923, S. 193. 220 BrDD, 28. 9. 1923, S. 199. Die kanadische Pianistin Gertrude Huntly Green zahlte 1 Pfund pro Unterrichtsstunde, was Metner als seine finanzielle Rettung bezeichnete. Vgl. den Brief an seinen Bruder Aleksandr vom 19. 9. 1923, in: Metner, Pisʼma (wie Anm. 57), S. 259. 221 BrDD, 27. 12. 1922, S. 109; 29. 12. 1922, S. 110. 216 217

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thias“ abtat.222 Während Vyšnegradskijs Besuchs im März, als der Gastgeber ihn gerade für ein paar Stunden in den Zwinger „abgeschoben“ hatte, zeichnete Ščerbačëv seiner Frau ein ziemlich zynisches Porträt von ihm. Er sei zwar eine „sehr reine Seele“, besitze aber keinerlei Talent und habe als Ersatz dafür die Vierteltonmusik erfunden. Er urteile über alles sehr „hochtrabend“, wofür er ihn am liebsten „tüchtig verdreschen“ würde. In Berlin führe er ein abgekapseltes Leben, verkehre nur mit „Vierteltonkomponisten“ und mit Artur Lur’e.223 Außerdem schreibe er musiktheoretische Artikel wie „Über die Befreiung des Tons“ oder „Über die Befreiung des Rhythmus“224 – was Ščerbačëv mit einem deutsch zitierten Vers der Marina aus Boris Godunov kommentierte: „Ooooo! Wie ist mir langweilig!“225 Vyšnegradskij berichtete auch über Nikolaj Obuchovs Pariser Projekt eines monumentalen Mysteriums aus lauter Zwölftonkomplexen, an dem er sein ganzes Leben lang als seinem einzigen Werk schreiben wolle. Auch hierfür hatte Ščerbačëv nichts als Spott übrig: „Vielleicht wird ihm die Menschheit für diese bescheidene Anzahl überaus dankbar sein.“ Auf seinen vorsichtigen Einwand, ob die Dauerpräsenz aller zwölf chromatischen Töne nicht „ein wenig langweilig“ sei, habe Vyšnegradskij erwidert, dass sich ja die Stellung der Akkorde ändere.226 In seinem folgenden Brief vom 17. März bereute Ščerbačëv, dass er Vyšnegradskij so unverdient beschimpft habe. Dieser sei überhaupt nicht so dumm, und das gemeinsame Musizieren mit ihm sei sehr anregend gewesen. Bei der ihm eigenen „Unduldsamkeit“, die sich durch die Einsamkeit in Dresden noch um ein Vielfaches gesteigert habe, sei ein zweitägiger Besuch eines letztlich doch fremden Menschen allerdings eine wirkliche Qual. Zeitweise wäre er am liebsten die Wand hochgeklettert oder zu den Nachbarn gerannt, um etwas Luft zu holen. Wenige Tage nach Vyšnegradskijs Abreise schrieb ihm dieser, dass es ihm in Dresden so gut gefallen habe, dass er ihn über Ostern wieder „mit seinem Besuch beglücken wolle“. Ščerbačëv beschloss ihm aber zu antworten, dass er über Ostern verreise. „Das ist doch eine Geißel, diese Gäste!“227 „Völlig wahnsinnig“ wäre Ščerbačëv nach eigenem Bekunden geworden, wenn Artur Lur’e (1891–1966) bei Vyšnegradskijs Besuch mitgekommen wäre,

BrDD, 29. 12. 1922, S. 111. BrDD, 13. und 14. 3. 1923, S. 129f. 224 Diese Essays erschienen auf Russisch im Januar bzw. März 1923 in der Literaturbeilage der Berliner Emigrantenzeitung Nakanune [Am Vorabend]. Siehe dazu den Beitrag von Lidia Ader im vorliegenden Band. 225 BrDD, 13. und 14. 3. 1923, S. 131. 226 Ebd., S. 130. 227 BrDD, 25. 3. 1923, S. 133. 222 223

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was ursprünglich im Raum stand.228 Der dem russischen Futurismus nahestehende Komponist war von Januar 1918 bis Januar 1921 Leiter der Musikabteilung des Volkskommissariats für Aufklärung, mithin der oberste staatliche Inspektor des sowjetischen Musikwesens und auch Vorgesetzter und möglicherweise auch Amtsvorgänger Ščerbačëvs, der seit 1919 in der gleichen Behörde wichtige Funktionen bekleidete.229 Ščerbačëvs Bericht zufolge war Lur’e äußerst begierig, ihn zu treffen, und habe ihm permanent Grüße und Komplimente überbringen lassen. Der im August 1922 zunächst nach Berlin emigrierte, ein Jahr später dann nach Paris weiterziehende Komponist, der sich zum Dandy stilisierte, war Ščerbačëv (bei dem sich immerhin ähnliche Tendenzen fanden) offenbar zutiefst suspekt: „Am 25. [März] bricht der schöne Artur nach Paris auf, weil die deutsche Atmosphäre ungünstig auf ihn einwirkt, und offensichtlich erwartet ihn Paris mit gespanntem Enthusiasmus.“230 Es scheint, dass Ščerbačëv – abgesehen von der Freundschaft zu Metner – den Kontakt zur russischen Community primär aus karrierestrategischen Gründen suchte, nicht aus geselligen oder kulturellen. Pragmatische Hintergründe hatten das Treffen mit dem Pianisten Hermann Biek, mit dem er Anfang Januar einen angeregten Abend auf den Brühlʼschen Terrassen verbrachte,231 wie auch die Besuche der Kunsthistoriker Vladimir Rakint (4.–5. Mai)232, Sergej Trojnickij (10.– 14. August)233 und des Theaterkünstlers Mstislav Dobužinskij (Anfang Juli)234, die in Zusammenhang mit dem Engagement bei Romanovs „Russischem Romantischem Theater“ standen.235 Außer den bisher genannten berichtete Ščerbačëv von keinen Treffen mit Landsleuten in Dresden. Während der gesamten Dresdner BrDD, 17. 3. 1923, S. 131f. Laut Slonimskaja war Ščerbačëv seit 1919 Leiter (zavedujuščij) der Unterabteilung für Konzertwesen, ab 1920 Leiter (zavedujuščij) der gesamten Musikabteilung des NARKOMPROS; vgl. Slonimskaja, „Chronograf“ (wie Anm. 31), S. 339. Laut Leonid Rimskij hatte Ščerbačëv letzteres Amt von 1920 bis 1923 inne; vgl. Art. „Ščerbačëv, Vladimir Vladimirovič“, in: Muzykal’naja ėnciklopedija [Musikenzyklopädie], Bd. 6, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, 1982, Sp. 476. Völlig unklar bleibt dabei, wie Ščerbačëv von seinem Dresdner Pensionszimmer aus eine solche (seit einem Behördenumbau im Jahr 1921 zwar geschwächte, aber immer noch wichtige) Funktion hätte ausüben und dafür eine Ausreisegenehmigung erhalten sollen. In der sowjetischen Musikgeschichtsschreibung ist auch nirgends von irgendeinem prägenden Einfluss Ščerbačëvs auf diese Phase des sowjetischen Musiklebens die Rede. Ščerbačëvs musikadministratives Engagement bedürfte einer grundlegenden, quellenbasierten Aufarbeitung. 230 BrDD, 13. und 14. 3. 1923, S. 130. 231 BrDD, 3. 1. 1923, S. 113. 232 BrDD, 4. 5. 1923, S. 151. 233 BrDD, 15. und 17. 8. 1923, S. 189. 234 BrDD, 28. 6. 1923, S. 169. 235 BrDD, 5. 8. 1923, S. 188. 228 229

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Zeit erwähnte er auch nur eine einzige russische Kulturveranstaltung, die er ohne berufliches Interesse besuchte: eine Lesung des 1922 auf dem sogenannten ‚Philosophen-Dampfer‘ zwangsexilierten Religionsphilosophen Lev Karsavin (1882–1952).236 Für Ščerbačëvs berufliche Ambitionen waren die russischen Kontakte dennoch essenziell. Fast sämtliche seiner angestrebten Engagements bezogen sich auf Emigrantenunternehmungen (die Ensembles Djagilevs und Romanovs) oder liefen über russische Verbindungspersonen (Amerikareise über Saminskij, FritzBusch-Konzert über Dobrovejn, Niederlassung in Prag über sowjetischen Diplomaten, Juilliard Graduate School of Music über Ziloti). Allein im Fall des schwedischen Konzertbüros scheint es keinen russischen Mittelsmann gegeben zu haben. Ščerbačëv schrieb hierfür einen Brief in deutscher Sprache.237 Kontakte mit Deutschen Während der gesamten elf Monate in Dresden scheint Ščerbačëv zu keinem einzigen Deutschen einen intensiveren persönlichen Kontakt aufgebaut zu haben. Der US-amerikanische Dirigent Balaban war der einzige Nichtrusse, zu dem er ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte.238 Mit Busch, der sich für ihn und seine Musik interessierte, nahm er keinen direkten Kontakt auf. Mitte März schrieb er, dass er in der nächsten Woche der örtlichen Gesellschaft für zeitgenössische Musik vorgestellt werden solle.239 Ob das tatsächlich geschehen ist, geht aus den späteren Briefen nicht hervor. Falls das Treffen stattgefunden hat, hätte es zumindest kein für den Komponisten produktives Netzwerk hinterlassen. Ebenso wenig Spuren hinterließ das für Mitte Oktober angekündigte Treffen mit Emil Hertzka – so es denn überhaupt realisiert wurde. Sonst sind in den Briefen keine Begegnungen mit Deutschen, abgesehen von den Pensionsmitbewohnern, dokumentiert. Sprachliche Hemmungen werden bei dieser Zurückhaltung sicher eine Rolle gespielt haben. Allerdings hatte Ščerbačëv im Vergleich zu vielen seiner Landsleute diesbezüglich eher gute Voraussetzungen und investierte auch in eine gute Sprachbeherrschung. Bei seiner Ankunft in Deutschland muss er schon über passable Grundkenntnisse verfügt haben. „Ich übe mich im deutschen Dialekt“, BrDD, 4. 5. 1923, S. 151. BrDD, 18.–21. 2. 1923, S. 124. 238 Balaban war offensichtlich russophil, wie allein das Programm seines Berliner Konzerts am 10. Oktober 1923 zeigt. 239 BrDD, 17. 3. 1923, S. 132. 236 237

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dass „den Deutschen wahrscheinlich die Haare zu Berge stehen“, berichtete er gleich in seinem ersten Brief vom 19. Dezember 1922. Er könne sich aber trotzdem „hervorragend“ verständlich machen und habe sogar auf dem Polizeipräsidium einen Meldebogen in Deutsch ausgefüllt.240 Ein norwegischer Pensionsgast bescheinigte ihm, dass er „ausgezeichnet“ Deutsch spreche.241 Ab dem 10. Januar nahm er Deutschunterricht bei einer Gymnasiallehrerin.242 Eine ältere Pensionsnachbarin, die auch Russisch sprach, half ihm zusätzlich bei der deutschen Korrespondenz.243

Abbildung 1: Ansicht der Nürnberger Straße, Postkarte aus dem Jahr 1909. Die Pension von Anna Meincke befand sich in dem Eckhaus zur Liebigstraße mit der Turmrundung (im rechten Bereich der Postkarte). Ščerbačëvs Balkon zeigte nach Süden, also wohl in den Innenhofbereich.

Mit den anderen Pensionsgästen, die aus vielen europäischen Ländern kamen, konversierte Ščerbačëv bei den Mahlzeiten regelmäßig in Deutsch, befürchtete sogar, sich einen „norwegisch-griechischen Akzent“ im Deutschen anzueignen.244 Seinen Beschreibungen nach waren einige Mitbewohner ihm sehr zugeBrDD, 19. 12. 1922, S. 106. BrDD, 3. 1. 1923, S. 112. 242 BrDD, 29. 12. 1922, S. 110; 6. 1. 1923, S. 113. Wie lange er Deutschunterricht nahm, ist aus den Briefen nicht ersichtlich. 243 BrDD, 6. 1. 1923, S. 113. 244 BrDD, 21. 12. 1922, S. 107. 240 241

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tan. Sie lauschten andachtsvoll seinem Klavierspiel (was ihn lähmte)245 und waren besorgt, als er nach den aufwühlenden Verhandlungen mit dem RomanovTheater ausgezehrt aussah.246 Eine in der Pension wohnende Künstlerin bat ihn am 14. Januar, ein Porträt von ihm zu zeichnen und es, falls es gelinge, in Holz zu gravieren.247 Mitte März porträtierten ihn dann gleich drei Künstler am Schreibtisch beim Instrumentieren.248 Zwei dieser Porträts schickte Ščerbačëv seiner Frau Ende März. Ende Juni folgte ein danach gefertigter Linolschnitt.249 Ein Abzug dieses Linolschnitts hat sich in Ščerbačëvs Nachlass erhalten (vgl. Abb. 2). Ščerbačëv empfand, dass er auf diesen Zeichnungen „alt wie ein Hund“ aussehe, ganz faltig, wegen des Blicks nach unten „wie ein Toter“ mit geschlossenen Augen.250

Abbildung 2: Porträt von Vladimir Ščerbačëv in Dresden, Linolschnitt eines unbekannten Mitbewohners der Pension von Anna Meincke, Nürnberger Straße 26, Frühjahr 1923 (St. Petersburg, Rossijskaja nacionalʼnaja biblioteka, fd. 1088 [V. V. Ščerbačëv und V. A. Znamenskaja], ed. 203) BrDD, 14. 1. 1923, S. 115. BrDD, 5. 8. 1923, S. 187. 247 BrDD, 14. 1. 1923, S. 118f. 248 BrDD, 17. 3. 1923, S. 132. 249 BrDD, 28. und 29. 3. 1923, S. 136; 23. 6. 1923, S. 168. 250 BrDD, 17. 3. 1923, S. 132. 245 246

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Über deutsche Mentalität und Kultur Als Ščerbačëv nach Dresden kam, scheint er zwar bestimmte Stereotypen über deutsche Mentalität verinnerlicht zu haben, aber kein ausgeprägtes Ressentiment – was für einen Weltkriegsteilnehmer, der einen seiner Brüder im Krieg verloren hatte, keineswegs selbstverständlich war. Die Wirtin in der Dresdner Pension, Anna Meincke, beschrieb er als „furchtbar sittsame und strenge Jungfer“251 und bediente damit einen gängigen Mentalitätstopos. Nach näherem Kennenlernen befand er sie aber als „überaus liebenswürdig“.252 Und als er in der Silvesternacht durch die Dresdner Straßen wandelte, war er von der Ausgelassenheit und Zutraulichkeit der Deutschen überrascht, die sogar mit einem Schutzmann gescherzt hätten.253 Wie wenig Ščerbačëvs Sicht von nationalistischen Feindstereotypen überformt war, zeigt sich in seiner uneingeschränkten Bewunderung für Richard Wagner – eine Figur, die gerade während des Ersten Weltkriegs in Russland wie auch andernorts zum Symbol für deutschen Chauvinismus geworden war.254 Als er sich im Februar intensiv mit der Instrumentierung seiner Sinfonie beschäftigte und in diesem Zusammenhang noch einmal Rimskij-Korsakovs Grundlagen der Orchestration durchlas, empfand er diese russische Bibel der Instrumentationskunst aus dem Jahr 1913 als etwas ihm „grundsätzlich vollkommen Fremdes“. Besonders störte ihn das Prinzip der Orchestration eines „harmonischen Hintergrunds“ mit „guter Stimmführung“ im vierstimmigen Satz. Für sich selbst konstatierte er, dass er im Sinne einer „Schule“ eher zu einem individuell weiterentwickelten „Wagnerismus“ tendiere. Er sprach in diesem Zusammenhang von „rein russischen Mischungen der Klangfarben“ sowie von einem „Kontrapunkt der Farben“ und deren „eigenständiger Entwicklung auf sozusagen verschiedenen Ebenen und Flächen“.255 Noch deutlicher fiel eine im Juli vorgenommene ästhetische Selbstverortung aus. Ščerbačëv reflektierte darüber, dass man aus dem vierten Satz seiner Zweiten Sinfonie den Einfluss von Strauss und Wagner heraushören werde. Er sah daraufhin nochmals einige Stellen in Wagner-Partituren durch und fand dabei seine Überzeugung bestätigt, dass Wagner das „Genie aller Genies“ sei und dass es einen „zweiten derartigen Orchesterkomponisten BrDD, 21. 12. 1922, S. 107. BrDD, 29. 12. 1922, S. 110. 253 BrDD, 3. 1. 1923, S. 112. 254 Zu Spuren des während des Ersten Weltkriegs geschürten Antigermanismus im frühsowjetischen Musikdiskurs vgl. die Dokumente 1–3 und 5–6 in: Mende/Poldiaeva (Hrsg.), Deutschrussische Musikbegegnungen 1917–1933, Band 2: Dokumente und Chroniken (wie Anm. 6). 255 BrDD, 18. und 21. 2. 1923, S. 124. 251 252

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niemals und nirgends“ gegeben habe. „Wie kleinkariert erscheint nach ihm [Wagner] dieses ‚zellenweise‘ Ausmalen mit Buntstift bei Rimskij-Korsakov, trotz aller Pracht ist es bei ihm doch irgendwie nur ein Sticken im Kreuzstich.“256 Noch überraschender ist Ščerbačëvs Urteil über Richard Strauss, zumindest über dessen Rosenkavalier. Als ehemaliger Kapellmeister Wilhelms II., profitorientierter ‚Musikkapitalist‘ und Verächter idealistischer Kunstauffassung war Strauss in Russland weit mehr noch als Wagner Projektionsfläche eines musikkulturellen Antigermanismus.257 Auch Ščerbačëv assoziierte die Musik des Rosenkavalier mit genau dieser Sphäre, nämlich mit der „germanischen Architektur vom Typus Reichstagsgebäude“, was ihn aber nicht von einer überschwänglichen Lobeshymne abhielt: Gestern […] habe ich völlig überraschend einen so großartigen Genuss erlebt, wie schon lange nicht mehr – ich war in der Oper im „Rosenkavalier“. In ihr gibt es, neben der bekannten Straussʼschen Meisterschaft, so viel wahrhaft Schönes und eine derartig reichhaltige Musik, bewundernswerte Rhythmik, gesunden Scharfsinn und einen nie versiegenden Springbrunnen musikalischer Beredtsamkeit, dass man einfach in Verzückung gerät […].258

Kurze Zeit später studierte Ščerbačëv Straussʼ Überarbeitung der Berlioz’schen Instrumentationslehre und berichtete seiner Frau, dass er dadurch „etwas schlauer geworden“ sei und nun auch Komponisten unterrichten könne, und zwar nicht schlechter als Vasilij Kalafati (1896–1942) – ein einflussreicher, fest in der Tradition Rimskij-Korsakovs stehender Kompositionslehrer am Petrograder Konservatorium.259 Die Unbefangenheit und sogar Begeisterungsfähigkeit gegenüber Kunst, die mit deutschem Nationalismus assoziiert war, erstaunt umso mehr, als Ščerbačëv in seinen Briefen durchaus auch Erfahrungen von Diskriminierung als Ausländer beschreibt. Im Zusammenhang mit der anstehenden Verlängerung seines Visums im März berichtete er, dass die Deutschen zur Zeit Ausländern alle möglichen Hindernisse in den Weg legten. Es gebe „vollkommen überflüssige, langwierige Formalitäten, und für alles nehmen sie viel Geld, weil alle Ausländer ‚verfluchte Ausländern‘ sind, ihrer Meinung nach ‚valuta-scheine‘. Gott sei mit ihnen – der Weltenrichter.“260 BrDD, 13. 7. 1923, S. 178. Wie Anm. 254, insbesondere die Dokumente 2, 3 und 6. 258 BrDD, 28. und 29. 5. 1923, S. 156. 259 BrDD, 13. 7. 1923, S. 179. 260 BrDD, 6. 3. 1923, S. 127f. Die Begriffe „verfluchte Ausländern“ und „valuta-scheine“ deutsch im Original. Die fehlerhafte Orthographie kann hier nicht anhand der originalen Handschrift überprüft werden. 256 257

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Gelegentlich klingt ein gewisses Verständnis für die Xenophobie der Deutschen an. Ščerbačëv führte sie weniger auf ideologischen Chauvinismus zurück, sondern auf ökonomische Verwerfungen, die sich (was nicht explizit benannt ist) infolge der Inflation ergaben. Wie schon dargelegt, konnten Ausländer, die über härtere Währungen verfügten, in Deutschland seinerzeit zu Spottpreisen einen luxuriösen Lebensstil führen. Ščerbačëv berichtete, dass Ausländer für Opernkarten die zehnfachen Preise zahlten und sie deshalb für den normalen Interessenten unbezahlbar seien.261 Und im März, nachdem ihm die „Komödie“ einer Proforma-Einschreibung in eine Hochschule erspart geblieben war, schrieb er: „Natürlich sind sie [die Deutschen] nun gegenüber sämtlichen ausländischen Spekulanten, die es hier reichlich gibt, besonders aufgebracht, und deshalb überprüfen sie alle sehr gründlich, weil sich unter dem Deckmantel ‚Studium‘ nicht selten Spekulanten verbergen.“262 Mehr fatalistisch konstatierend als empört beschrieb Ščerbačëv mehrfach, wie unzugänglich wegen des patriotischen Protektionismus der deutsche Musikmarkt für Ausländer sei. Schon nach wenigen Tagen Aufenthalt stellte er fest, dass auf den Konzertplakaten hauptsächlich deutsche Musik zu sehen sei: „Beethoven, Brahms und der jüngste deutsche Musikgott – Reger“.263 Von russischer Musik hätten die Deutschen nach wie vor eine äußerst schwache Vorstellung. Skrjabin gelte beispielsweise als Salonmusik.264 Das „eigene deutsche Musikleben sprudle so kräftig“, dass ausländische Auftritte kaum Beachtung fänden. Ein Konzert eines russischen Balalaika-Orchesters mit Gesang und Tanz in russischen Kostümen habe zwar Erfolg gehabt, aber nur einen „Erfolg der Exotik“, und das nur beim „allerbourgeoisesten Publikum, dem Restaurantgesindel“.265 Den Pianisten Franz Wagner, den er am 2. März in einem Benefizkonzert unter Fritz Busch mit einem Beethoven-Klavierkonzert erlebte, bezeichnete er als „Schurken und Schwein“, den in Russland niemand auf eine Bühne lassen würde. Dass er in Deutschland Lorbeeren ernte, liege allein am Patriotismus.266 FrustrieBrDD, 21. 12. 1922, S. 108. Zuvor berichtet Ščerbačëv in dem Brief, wie prächtig sein preiswertes Zimmer ausgestattet und wie köstlich das Pensionsessen sei und dass er wie ein „buržuj“ lebe (ebd., S. 107). 262 BrDD, 28. und 29. 3. 1923, S. 135. 263 BrDD, 21. 12. 1922, S. 108. 264 Ebd., S. 109. 265 BrDD, 29. 12. 1922, S. 111. 266 BrDD, 6. 3. 1923, S. 128. Ščerbačëv schrieb in dem Brief von Beethovens „Es-Dur-Klavierkonzert“, was dem Fünften entspräche. Gespielt wurde aber anscheinend das Zweite Klavierkonzert in B-Dur. Vgl. Dresdner neueste Nachrichten, 25. 2. 1923, S. 3. In der Kritik ist allerdings die Tonart F-Dur genannt, die sich gar keinem passenden Werk Beethovens zuordnen lässt. 261

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rend muss auf ihn auch gewirkt haben, dass die Berliner „Musikbosse“ – gemeint waren wohl die Verantwortlichen der IGNM – bei dem Gastspiel der Dresdner Staatskapelle statt seiner Ersten Sinfonie ein Werk eines deutschen Komponisten wünschten und dass Busch gesagt haben soll, die russische Autorschaft sei für ein solches Werk ein großer Nachteil.267 Bestärkt wurde Ščerbačëv schließlich noch in seiner Sichtweise eines patriotischen Kartells durch die Hinweise eines sowjetischen Diplomaten, dass in Prag – anders als in Deutschland – russische Musiker sehr gefragt seien.268 Trotz dieser kränkenden Erfahrungen, für die Ščerbačëv zum Teil sogar ein gewisses Verständnis aufbrachte, hegte er anscheinend bis in den Sommer hinein keinen grundsätzlichen Groll gegen die Deutschen und ihre Lebensart. Ein Gefühl des Fremdseins beschrieb er zwar von Anfang an: „Das Leben hier ist fremd, all diese Pracht ist doch nichts wert, und die Menschen leben ein anderes Leben als wir“, hieß es gleich im ersten Brief an seine Frau, allerdings in einem Kontext, in dem er Schamgefühle gegenüber seiner Familie in Anbetracht seines Wohllebens in Dresden beschrieb.269 Im März analysierte er dieses Fremdheitsgefühl genauer und gab ihm eine kategorische Schärfe. Den Kern identifizierte er in einem Fehlen der „Herzenswärme“. Während sich in Petrograd in der letzten Zeit ein Kreis von Leuten um ihn und seine Frau herum gebildet habe, die sie verstünden und vor allem „wirklich liebten“, könne es so etwas „nirgends und nie in irgendeinem ‚Ausland‘“ geben. Hier bleibe „immer alles fremd“, in Russland dagegen „heimatlich“.270 Bei fast sämtlichen Begegnungen mit Russen, die er in Dresden und Berlin hatte, beschrieb er die Leichtigkeit eines Übergangs von Bekanntschaft zu Freundschaft und einen weitreichenden Gleichklang der Ansichten. Nach einem gemeinsam in Berlin verbrachten Abend mit dem 1922 emigrierten Dirigenten Ėmilʼ Kuper (Emil Cooper, 1877–1960) betonte er, dass er bei ihm wie auch bei anderen russischen Musikern „unterschiedlicher Temperamente und Richtungen“ bisher auf keinerlei Widerspruch in der Beurteilung des zeitgenössischen deutschen Musiklebens gestoßen sei.271 Urteile über deutsche Kunst und Kultur Ščerbačëvs Urteile über deutsche Kunst und Kultur blieben bis in den Sommer hinein differenziert, nicht durch pauschale Stereotypen vorgeformt, folglich auch BrDD, 28. 4. 1923, S. 147. BrDD, 5. 6. 1923, S. 161. 269 BrDD, 19. 12. 1922, S. 106f. 270 BrDD, 25. 3. 1923, S. 134. 271 BrDD, 22. 8. 1923, S. 191. 267 268

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ambivalent und mitunter widersprüchlich. Hinter seinen kritischen Bemerkungen lassen sich vielfach diskursive Paradigmen erkennen, die nicht spezifisch mit deutscher Mentalität oder Nationalkultur zu tun hatten. An erster Stelle ist ein gewisses Unbehagen gegenüber der technischen, ökonomischen und massenkulturellen Moderne zu nennen, das Ščerbačëv als Mensch, der in der elitären Adelskultur der Jahrhundertwende sozialisiert war, wie auch als Künstler, der seine Prägung im antiprosaischen Silbernen Zeitalter gefunden hatte, besonders schmerzlich empfunden haben mag. Zwar erstaunte ihn die Quirligkeit des hochtechnisierten Berliner Verkehrs oder die Leichtigkeit einer Telefonverbindung direkt aus seiner Pension dorthin272 – dies aber vor allem mit Blick auf seinen kleinen Sohn Oleg. Er selbst erfreute sich mehr an dem „Altdeutschen“, das in Dresden noch lebendig sei.273 Das Gegenbild dazu waren für ihn die vielen „Modegecken“ auf den Straßen in „irgendwelchen Clownshosen“ (gemeint sind wohl die damals modernen Knickerbocker-Hosen), die so kurz seien, dass man nicht nur die Stiefelenden sehe, sondern auch die Strümpfe, und noch dazu hätten sie auf ihren Mänteln eigenartige Knöpfe, die an alte Armeeuniformen erinnerten, kurzum: sie seien „Hanswursten“.274 Ablehnend reagierte Ščerbačëv auch auf Anzeichen eines Umbruchs zu einer sachlichen Kunst. Das 1911 von Heinrich Tessenow erbaute Festspielhaus in Hellerau, Pionierzeugnis eines funktionalen Bauens, bezeichnete er als „entsetzliche, die Seele austrocknende Architektur“. Genauso schrecklich empfand er den vorgelagerten Platz mit den Seitengebäuden, in denen „dieses Unglücklichen“ lebten. Die von Emile Jacques-Dalcroze begründete rhythmische Gymnastik, die auch in Russland und der Sowjetunion große Resonanz gefunden hatte, empfand Ščerbačëv als perfektes Pendant zu dieser Ästhetik. Als Tanz sei sie „schwach“, als Plastik „vollkommen unausgebildet“ und als spezifisch rhythmische Übung „nicht sonderlich interessant“. Noch abstoßender war für ihn ein als Tanzvorlage aufgeführtes Allegretto für Schlaginstrumente, von dem er sich ein „wahres Fest des Rhythmus“ erwartet hatte. Mit seinem „quadratischen 2/4-Rhythmus“ und einer „kläglichen Xylophon-Melodie“ sei es aber „vollkommen bedeutungslos, elementar und armselig“ gewesen. „Einfach nur Amateurkunst, aber den Deutschen hat’s gut gefallen. Merkwürdiger Schwachsinn.“275 In diese Linie fügt sich BrDD, 27. 12. 1922, S. 109; 29. 12. 1922, S. 110f. BrDD, 29. 12. 1922, S. 111. 274 Ebd. Weitaus heftiger fiel die Aversion gegen das moderne Deutschland bei Nikolaj Metner aus, der zwar bekennender Germanophiler war, dies jedoch auf die klassische und romantische deutsche Kultur bezog. In einem Brief an seinen Bruder Ėmilij vom 31. Dezember 1922 schrieb er, dass man sich für Deutschland unbedingt mit „Panzern und Giftgas“ eindecken müsse (Metner, Pisʼma, wie Anm. 57, S. 239). 275 BrDD, 18. 7. 1923, S. 181f. 272 273

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auch seine bereits angeführte Ablehnung einer „Überwindung der Emotionen“ durch „die Modernisten“, die er wenige Tage später formulierte, nachdem Romanov bei ihm eine neoklassizistische Ballettmusik bestellt hatte.276 Ein zweites Paradigma der Ablehnung, das sich mit dem beschriebenen Antimodernismus berührt, ist die in den Briefen immer wieder zu findende Kritik kapitalistischer Strukturen im Musikleben. Ščerbačëv sah darin ein Prinzip, das die idealistische Bestimmung der Kunst zerstört. Gleich zu Beginn seines Aufenthalts berichtete er – wohl aus den Erzählungen Dobrovejns schöpfend –, dass sich in Deutschland nur solche Künstler Zugang zu den staatlichen Einrichtungen verschaffen könnten, die viel Geld mitbrächten und es an Konzertagenten wie „[Hermann bzw. Luise]Wolf[f]“ und „[Franz] Ries“ zahlten, um ein Orchester auf eigene Rechnung zu mieten und sich auf diese Weise Berühmtheit zu erkaufen.277 Halb amüsiert, halb indigniert erzählte er im Mai, dass seine vielen in Berlin geführten Verhandlungen alle „nach Spekulanten-Art“ stattgefunden hätten: bei einer Flasche Wein im Restaurant. Da sei es gut gewesen, dass er schon einigermaßen eingekleidet sei und ein „mehr oder weniger europäisches Aussehen“ habe.278 Im September schrieb er bereits mit großer Verbitterung, dass die hiesigen Dummköpfe sich unwissend und herablassend über russische Kunst äußerten, aber „von Klein bis Groß, jeden Alters, Standes und Status“ wüssten, dass der Dollar steige und welcher der Tageskurs sei.279 In eine Verdammung des Kommerzialismus kulminierte auch Ščerbačëvs harsche Kritik an Straussʼ Salome in der Schlussphase seines Dresden-Aufenthalts. In einer „Rezension“ für seine Frau entschuldigte er sich vorab für seine „groben Worte“. Der Rosenkavalier habe ihm „10 000 000 000 Mal“ besser gefallen als Salome. Strauss könne keine ernsten Dramen komponieren, weil dazu Herz vonnöten sei und – angesichts des „wunderbaren Librettos“ von Oscar Wilde – auch Geschmack. Anders als viele Zeitgenossen störte sich Ščerbačëv nicht an der ‚Unsittlichkeit‘ des Sujets, sondern an populistischen Sensationseffekten der Musik. Sie flüchte sich in solche „Mätzchen“ wie die Darstellung des Geräuschs, das beim Absägen von Jochanaans Kopf entsteht, durch die Kontrabässe.280 Die Musik sei bis auf wenige Ausnahmen „erbärmlich und widerlich“. Die „armen deutschen Komponisten“ würden das alles ernst nehmen und BrDD, 26. 7. 1923, S. 183; 28.–30. 7. 1923, S. 185. BrDD, 3. 1. 1923, S. 114f. 278 BrDD, 22. 5. 1923, S. 155. 279 BrDD, 4. 9. 1923, S. 193f. 280 Ironischerweise ist gerade diese vieldiskutierte Stelle nicht naturalistisch konzipiert. Sie bewirkt wegen der semantischen Irrationalität des bizarren Klangeffekts eher eine allgemeine Verstörung. 276 277

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Strauss für einen „Modernen“ halten. Strauss sei nichts weiter als ein „Lump“, der in jedem Moment auf den „Geschmack des ‚großen Publikums‘“ schiele und meine, man müsse auf dieses „mit Artillerieeffekten einschlagen“. Das gesamte „Spießbürgertum“, allen voran das deutsche, gerate darüber in Begeisterung.281 Betrachtet man Ščerbačëvs Rezeption deutscher Kunst insgesamt, lässt sich zwar (von der Schlussphase des Aufenthalts abgesehen) eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit feststellen, aber letztlich nur ein begrenztes Interesse. Eine systematische Erkundung der deutschen bzw. westeuropäischen Kunstszene, insbesondere der neuesten, stand offensichtlich nicht auf seiner Agenda. Ščerbačëvs Deutschkenntnisse reichten immerhin aus, um Gustav Meyrinks Golem zu lesen, den ihm seine Frau empfohlen hatte und der ihm auch sehr gut gefiel.282 Und er hielt sich für sprachkompetent genug, um zu beurteilen, dass der Anfang einer deutschen Übersetzung von Aleksandr Bloks Die Zwölf „sehr gut“ sei.283 Soweit es die Briefe erkennen lassen, nutzte Ščerbačëv diese fortgeschrittenen Sprachkenntnisse aber nicht, um noch mehr von deutscher, insbesondere neuerer Literatur kennenzulernen. Stattdessen las er Dostoevskij und Leskov.284 Er erwähnte auch nirgends irgendeinen Besuch deutscher Theater oder Vorträge. Seine Fahrt nach Hellerau Mitte Juli hatte vor allem den Zweck, die Dalcroze-Lehranstalt kennenzulernen sowie ein Ballett (Der wunderbare Mandarin) des „zeitgenössischen ungarischen Genies Béla Bartók“.285 Relativ häufig besuchte Ščerbačëv dagegen Kunstmuseen. In den Briefen sind ein Besuch im Kunstgewerbemuseum,286 sechs Besuche in der Gemäldegalerie im Zwinger287 und einer in der Skulpturensammlung im Albertinum288 erBrDD, 18. 9. 1923, S. 195f. Ščerbačëv sah die Vorstellung in der Sächsischen Staatsoper unter Fritz Busch am 17. September 1923. Er hatte einen Platz in der Mitte der 1. Reihe bekommen (ebd., S. 196), möglicherweise infolge seines indirekten Kontaktes mit Busch in Zusammenhang mit der geplanten Aufführung seiner Ersten Sinfonie. 282 BrDD, 4. 5. 1923, S. 151; 11. 6. 1923, S. 164. 283 BrDD, 13. 7. 1923, S. 178. 284 BrDD, 5. 5. 1923, S. 151. 285 BrDD, 10. 7. 1923, S. 177; 13. 7. 1923, S. 181f. Zu Ščerbačëvs Bedauern lief Bartóks Ballett am Tag seines Besuchs nicht. Aus Schönbergs Harmonielehre schrieb Ščerbačëv für seine Frau ein kurzes Notenbeispiel von Bartók ab (Bsp. 345 der „Jubiläumsausgabe“ Wien: Universal Edition, 2001, S. 504) und sprach dabei von „garstigen Harmonien“ dieses „überaus modernistischen“ Komponisten (BrDD, 13. 7. 1923, S. 179). 286 BrDD, 25. 3. 1923, S. 133. 287 BrDD, 9. 4. 1923, S. 141; 13. 4. 1923, S. 142; 28.–30. 7. 1923, S. 186. Interessant ist der Wechsel seiner Sicht auf die Sixtinische Madonna. Im ersten Brief beschrieb er sie noch in der gängigen hagiographischen Manier („geniale Sache“, „wahrhaft tragisch“). Im letzten Brief konstatierte er dann eine große Ernüchterung: die eigentliche Malerei sei „schwach“ und „schmutzig“; Raffael sei einfach nicht „der Held seines Romans“. 288 BrDD, 18. 8. 1923, S. 190. 281

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wähnt. Er berichtete seiner Frau, die dies von Berufs wegen interessierte, ziemlich ausführlich über das Profil der Museen und über einzelne herausragende Gemälde. Dabei fällt aber auf, dass er ausschließlich über klassische niederländische und italienische Malerei schrieb. Von der „Modernen Abteilung“, die seinerzeit auch in der Zwingergalerie untergebracht war und bis zum Impressionismus reichte, schrieb er kein Wort. Über weitere touristische Aktivitäten, Besuche von Schlössern, Museen, Kirchen usw., ist nichts zu erfahren, auch nicht bei seinen Berlinreisen. Für einen fast einjährigen Aufenthalt in Deutschland war Ščerbačëvs touristisches Programm ziemlich bescheiden. Ähnliches gilt selbst für Ščerbačëvs Musikkonsum. In den Briefen sind lediglich fünf Konzertbesuche dokumentiert. In Dresden besuchte er vier Konzerte mit klassisch-romantischen Programmen: das schon erwähnte Benefizkonzert am 2. März unter Busch,289 ein Konzert am 10. April mit der Dresdner Philharmonie unter Edwin Lindner,290 einen Wagner-Abend als Volkssinfoniekonzert am 12. April unter Willy Naue291 sowie ein Festkonzert zum 375-jährigen Jubiläum der Staatskapelle am 22. September unter Busch.292 Ein „bemerkenswert interessantes“ Konzert mit Werken von Pfitzner und Reger, das seine Repertoirekenntnis wirklich erweitert hätte, versäumte er, weil er in seinem Einsiedlerdasein nichts davon mitbekommen hatte.293 Im Februar wollte er eigens für eine Aufführung von Gustav Mahlers Achter Sinfonie nach Berlin fahren. Sie interessierte ihn, weil sie „das derzeit größte Musikereignis in Deutschland“ sei und weil ihre oratoriumsartige Besetzung und Konzeption sich mit seiner Zweiten Sinfonie berührte.294 Anscheinend setzte Ščerbačëv diesen Plan nicht um, denn in den BrieBrDD, 6. 3. 1923, S. 128. Programm: Berlioz: Le Carnaval romain, Beethoven: (vermutlich) Zweites Klavierkonzert, Brahms: Zweite Sinfonie. Vgl. auch Anm. 264. 290 BrDD, 13. 4. 1923, S. 142. Programm: Dvořák: Scherzo capriccioso („geschmacklos und vulgär“), Wagner: Gralserzählung aus Lohengrin, Brahms: Vierte Sinfonie. Vgl. Dresdner Anzeiger, 12. 4. 1923, S. 2. Der Name des Dirigenten ist in Slonimskajas Ausgabe als „Edwin Zindner“ übertragen. 291 BrDD, 13. 4. 1923, S. 142. Vgl. Dresdner Anzeiger, 14. 4. 1923, S. 2. Der Name des Dirigenten ist in Slonimskajas Ausgabe als „Willi Nan“ übertragen. 292 BrDD, 24. 9. 1923, S. 198. Programm: Wagner: Eine Faust-Ouvertüre, Schumann: Vierte Sinfonie, Strauss: Don Quixote („von solchen Scharfsinnigkeiten habe ich die Nase voll“). Ščerbačëv war überrascht, dass das Konzert wie ein gewöhnliches Sinfoniekonzert ablief, ohne jegliche Reden oder Ehrungen. 293 BrDD, 17. 3. 1923, S. 131. Es handelte sich um ein Konzert am 16. März 1923 mit Fritz Busch und Walter Gieseking am Klavier. Gespielt wurden die Dresdner Erstaufführung von Pfitzners Klavierkonzert, Mozarts Jupiter-Sinfonie und Regers Serenade op. 95. Der zwei Wochen vorher nach Pillnitz übergesiedelte Metner hatte das Konzert besucht. Pfitzners Klavierkonzert bezeichnet er am folgenden Tag in einem Brief an Ėmilij Metner als „wahrhafte Sch[eiße]“ („suščee g…[govno]“). Metner, Pisʼma (wie Anm. 57), S. 246. 294 BrDD, 12.–13. 2. 1923, S. 122. Die Aufführungen fanden schon am 20. und 27. Januar 289

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fen ist erst im Mai wieder von einer Berlinfahrt die Rede und auch kein Kommentar zu Mahlers Achter Sinfonie zu finden. Erst in den letzten Tagen seines Aufenthalts äußerte sich Ščerbačëv nochmals zu Mahler, diesmal aber offensichtlich schon unter dem Vorzeichen einer generellen Verachtung deutscher Kultur: in den Sinfonien Mahlers gebe es so viele „Probleme“ wie „unkastrierte Hunde“, die eigentliche Musik sei „äußerst dürftig und dünnflüssig“.295 Kaum umfangreicher war Ščerbačëvs Erkundung der Dresdner Oper, immerhin einer der ersten Bühnen im deutschen Sprachraum. In seinen Briefen kommentiert sind lediglich Besuche von Musorgskijs Boris Godunov (in der Inszenierung von Dobrovejn),296 Straussʼ Rosenkavalier und Salome,297 Bizets Carmen298 sowie eine niederländische Oper („ganz außerordentlicher Mist“), deren Titel und Komponisten er erfolgreich verdrängt hatte.299 Nur als Absicht erwähnt sind Besuche von Wagners Tristan und Isolde300 und Rienzi.301 Webers Euryanthe, die wie Rienzi zum 375-jährigen Kapelljubiläum vorgesehen war, wollte er lieber nicht besuchen, weil er fürchtete, „vor Langeweile zu sterben“.302 1923 im Großen Schauspielhaus mit dem Berliner Philharmonischen Orchester unter Heinz Unger statt. 295 BrDD, 2.–3. 11. 1923, S. 203. Den Kontext bildete eine angebliche Problemfixiertheit zeitgenössischer deutscher Opern. Als Beispiel führt Ščerbačëv Pfitzners Palestrina an, in dem „drei Bässe einige Stunden lang über das Tridentiner Konzil (den einzigen Inhalt der Oper) streiten“. Ščerbačëv dürfte das Werk weder gesehen noch die Noten studiert haben. 296 Ščerbačëv plante die Generalprobe am 27. Februar 1923 zu besuchen, machte sich aber schon vorher über Ungeschicklichkeiten der deutschen Übersetzung (von Max Lippold) lustig, die er vermutlich von seinem Austausch mit Dobrovejn her kannte. Die Aufführung wertete er als „gute deutsche Arbeit voller Enthusiasmus“ (BrDD, 22. und 25. 2. 1923, S. 127). Am 6. März berichtete er über das begeisterte Presseecho, amüsierte sich dabei aber über das Unwissen der „kultivierten Deutschen“: In der Kritik sei zu lesen gewesen, dass Musorgskij zusammen mit Puškin das Libretto verfasst habe. Erstaunt war Ščerbačëv über die Leistungen der Sänger, die schließlich alle Wagner-Sänger seien und gewohnt, „sich fest an einen Speer zu klammern und so 3 bis 4 Stunden herumzustehen“ (BrDD, 6. 3. 1923, S. 128). 297 BrDD, 28. und 29. 5. 1923, S. 155f.; 18. 9. 1923, S. 195f. 298 Ščerbačëv empfand die Aufführung als „abstoßend“. Weil Carmen erstmals seit dem Krieg wieder gespielt worden sei, seien „patriotische Skandale“ befürchtet worden. Busch habe nicht dirigiert, „weil es seiner Meinung nach in dieser Musik – wie übrigens auch bei Čajkovskij – keine ‚Probleme‘ gebe, und wenn es keine ‚Probleme‘ gebe, so werde er sich nicht dazu herablassen, sich mit derlei Nichtigkeiten zu beschäftigen“ (BrDD, 2. 11. 1923, S. 202). 299 Ebd., S. 203. Es muss sich um die Oper Der Mann im Mond von Jan Brandts Buys (1868– 1933) gehandelt haben, die am 18. Juni 1922 in Dresden uraufgeführt wurde. 300 BrDD, 28. 4. 1923, S. 148. 301 BrDD, 18. 9. 1923, S. 196. 302 Ebd. Wegen Erkrankung der Sängerin der Titelrolle wurden kurzfristig Wagners Meistersinger statt Euryanthe gegeben. Vgl. Walter Petzet, „Die Feier des 375 jähr. Jubiläums der Dresdner Staatskapelle“, in: Signale für die musikalische Welt, 81. Jg. Heft 42 (17. 10. 1923), S. 1478.

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Von den neueren Trends in der deutschen und westeuropäischen Musik hatte Ščerbačëv keine Notiz genommen. Während seines Aufenthalts in Dresden hätte es hierzu eine Reihe von Gelegenheiten gegeben. So gab es beispielsweise am 23. Februar 1923 einen Abend des Tonkünstlervereins mit Alois Hábas Klaviersonate op. 3 oder am 11. April 1923 einen Klavierabend mit Paul Aron mit der Dresdner Erstaufführung von Hindemiths Suite 1922 sowie mit Werken von Bartók, Egon Wellesz, Darius Milhaud, Francis Poulenc, Alfredo Casella u. a. Auch ältere Musik, die in Petrograd seinerzeit kaum (noch) zu hören war, in Dresden aber reichlich geboten wurde, ignorierte er weitgehend. Das einzige Hörerlebnis, das er in den Briefen erwähnte, war ein Besuch von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe in der Kreuzkirche. Er fand sie zwar „genial“ und „stellenweise erschütternd“, habe aber dennoch „heroische Maßnahmen“ („BonbonSchlucken“) ergreifen müssen, um nicht einzuschlafen.303 Einige Konzerte des Dresdner Madrigalvereins mit der Matthäus- und Johannespassion von Bach und mit Werken von Heinrich Schütz („einem alten Hamburger Komponisten“) bezeichnete er als „sehr interessant“. Er sei aber so erfüllt von seiner eigenen Musik gewesen, dass er sich zu einem Besuch nicht habe aufraffen können.304 Zur deutschen Interpretationskultur hatte Ščerbačëv kein einheitliches Urteil. Kurz nach seiner Ankunft hatte er aufgeschnappt, dass es in Deutschland im Moment „keine Genies“ gebe, sondern „überall nur kolossale Arbeit, Trickserei und Kunststücke“.305 Zwei Wochen später schrieb er im völligen Gegensatz hierzu – ohne selbst schon Aufführungen gehört zu haben –, dass die deutsche Interpretationskunst „auf sehr hohem Niveau“ stehe.306 Nach einer Reihe von Konzertund Opernerlebnissen differenzierte sich im April sein Urteil. Er befand nun, dass nur die Spitzenensembles, -orchester und -chöre gut seien, die Solisten dagegen bis auf wenige Ausnahmen „keinen Pfifferling wert“.307 Nach dem Besuch des Rosenkavalier am 26. Mai schwärmte er allerdings über das gesamte „musikalische und szenische Ensemble“ und meinte sogar, dass man von so etwas in Russland „gar keine Vorstellung habe“.308 Am Lob der Dresdner Kapelle hielt Ščerbačëv auch in späteren Aufführungsberichten fest, während seine Urteile über die Sänger etwa bei Salome oder Carmen wieder durchwachsener wurden. An mehreren Stellen in Ščerbačëvs Briefchronik tritt ein aus der russischen Geistes- und Mentalitätsgeschichte bekannter kultureller MinderwertigkeitskomBrDD, 6. 3. 1923, S. 128. Die Aufführung fand am 3. März 1923 statt. BrDD, 28. 4. 1923, S. 147. 305 BrDD, 21. 12. 1922, S. 109. 306 BrDD, 6. 1. 1923, S. 115. 307 BrDD, 13. 4. 1923, S. 142. 308 BrDD, 28. und 29. 5. 1923, S. 156. 303 304

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plex zutage. Nachdem Ščerbačëv sich trotz des hohen Preises die Harmonielehre von Schönberg und die Modulationslehre von Reger gekauft hatte, rühmte er zumindest erstere als „Brunnen der Weisheit“, bei dem er schon nach dem bloßen Durchlesen der Überschriften „um Einiges schlauer“ geworden sei.309 Drei Wochen später bekannte er, dass er sich beim Lesen von Schönberg oder Reger jedes Mal wie ein „fürchterlicher Dilettant“ vorkomme. Er fühle dann, „wie sein Gehirn anschwelle, er melancholisch werde und am liebsten in den Zoo rennen oder nackt auf einem Esel in der Sieges Allee reiten würde“.310 Das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit steigerte sich noch durch die Beobachtung, dass in Schönbergs über 500 Seiten dickem Buch „nicht ein Wort über russische Musik verloren werde, nicht einmal über Skrjabin oder Stravinskij“.311 Eine Strategie, auf dieses Minderwertigkeitsgefühl zu reagieren, war Entzauberung mittels grotesker Übertreibung. In Ščerbačëvs zweitem Briefreport vom 21. Dezember überspitzte er die ihm wahrscheinlich von Dobrovejn geschilderten schwindelerregenden Fähigkeiten der deutschen Musiker zu einem skurrilen Panorama: Überhaupt ist das Musikleben hierzulande sehr eigentümlich. Was die Komponistenschaft anbelangt, sollen hier wundersame Dinge vor sich gehen. Vor allem gibt es eine unfassbare Zahl von Komponisten, mehr anscheinend als Einwohner. Beispielsweise sind von 120 Mitgliedern eines Opernorchesters 80 Komponisten, und zwar lauter junge, einfach wie Sand am Meer; mit der Tatsache, dass man Komponist ist, erregt man bei niemandem Erstaunen, eher umgekehrt. Ob alle diese Komponisten Talent haben, ist freilich sehr zweifelhaft. Das Erstaunlichste aber ist, dass diese Myriaden von Komponisten über eine verblüffende Technik verfügen, sie schreiben ungefähr eine Sinfonie und eine Oper pro Monat, jeder von ihnen ist ein Hexenmeister in allen Künsten des Kontrapunkts und der Instrumentation […]: Busch dirigiert „Petruschka“ und „Rosenkavalier“ vom Blatt, ein Pianist studiert im Eisenbahnwaggon Noten von Schönberg und spielt ihn abends im Konzert in Berlin (ohne jemals vorher die Musik gesehen zu haben), ein Konservatoriumsschüler beklagt sich bei einem anderen, dass er in der Instrumentation hinterherhänge, und schreibt zur Übung aus dem Gedächtnis die Partitur der neunten Sinfonie von Beethoven nieder, und noch mehr derartige Kunststückchen.312

Als Reaktion auf dieses Minderwertigkeitsempfinden klingt in nuce schon in diesem frühen Brief der Gegenentwurf eines einzigartigen Werts der russiBrDD, 13. 7. 1923, S. 178. BrDD, 5. 8. 1923, S. 188. Nackt auf einen Esel gesetzt zu werden ist als Ritual der Schande seit dem Mittelalter bekannt. Das deutsch geschriebene „Sieges Allee“ ist in Slonimskajas Ausgabe fälschlich als „Lieges Allee“ übertragen. 311 BrDD, 13. 7. 1923, S. 179. 312 BrDD, 21. 12. 1922, S. 108. Die Dresdner Premiere von Petruschka hatte Busch am 10. Dezember 1922 dirigiert. 309 310

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schen Kultur an, der gerade in deren Frische und Unzivilisiertheit liege. Slavophile Aufwertungsdiskurse des 19. Jahrhunderts schimmern hier hindurch: Wenn unsereiner hierherkommt, versteht er gar nichts. Soll man ganz von vorne anfangen und Note gegen Note schreiben? Oder sich aufhängen? Oder einfach drauf pfeifen und man selbst sein? Wieviel Talent müssen wir russische Musiker letztlich aber doch haben, wenn wir trotz unserer ganzen Wildheit, Kulturlosigkeit und trotz unseres Dilettantismus irgendetwas Sinnvolles hervorbringen.313

Im August, nachdem Ščerbačëv seine Rückkehr nach Petrograd bereits beschlossen hatte, verdichteten sich die vorher nur vereinzelt aufgerufenen Theoreme der „russischen Idee“ zu einem geschlossenen Bekenntnis. Die Wurzeln dieses Konzepts in der russischen Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, konkret bei Dostoevskij, legte Ščerbačëv dabei selbst offen: Wenn wir uns wiedersehen, haben wir viel Interessantes zu besprechen, denn ich habe mich hier stark verändert, und wahrscheinlich wird dich vieles an mir überraschen, und stellʼ dir vor, ich bin mir nicht einmal sicher, ob du mit meinen Ansichten mitgehen kannst. Bei mir hat sich hier sogar eine „Weltanschauung“ gebildet, was früher nie der Fall war; ich liebe Russland unendlich, ich liebe und verstehe es so, wie es Dostoevskij mit den Worten Versilovs im „Jüngling“ ausgedrückt hat und an vielen Stellen im „Tagebuch eines Schriftstellers“, ich glaube fest an die Mission Russlands, an seine „Allmenschlichkeit“314, ich teile die Ansicht, dass es in Europa keine Europäer gibt, sondern nur Franzosen, Deutsche und Engländer, die zwar in der Lage sind, große Dinge zu tun, aber immer nur für sich selbst, und auch heute noch würden die Franzosen liebend gern mit ihrer Artillerie den Kölner Dom zerstören, und die Deutschen NotreDame in Paris, und die Engländer halten es sowieso für einen Irrtum, dass Franzosen und Deutsche auf der Welt existieren, uns allein sind diese „fremden Steine“ teuer, nur wir sind bereit, Nachteile und Opfer im Namen des „Allmenschlichen“ auf uns zu nehmen, und in dieser Hinsicht gibt es auf der ganzen Welt kein Volk, das mit uns zu vergleichen wäre, und darin besteht unsere „Mission“ […].315

Spiegelsymmetrisch zur Idee von Russland als letzter Bastion einer nicht durch Chauvinismus korrumpierten Humanität und eines nicht durch Kapitalismus korrumpierten Kunstidealismus formuliert Ščerbačëv die aus dem slavophilen Diskurs bekannte – und von Autoren wie Oswald Spengler in anderer KonfiEbd. Den Begriff der „Allmenschlichkeit“ oder „Panhumanität“ [vsečelovečnostʼ] prägte Fëdor Dostoevskij im Tagebuch eines Schriftstellers [Dnevnik pisatelja]. Seine These war, dass allein das russische Volk die Fähigkeit besitze, das Menschliche aus allen Kulturen aufzunehmen und kraft seiner Bruderliebe die Menschheit wiederzuvereinen. Vgl. Andreas Guski, Dostojewskij. Eine Biografie, München: C. H. Beck, 2018, S. 385f. 315 BrDD, 18. 8. 1923, S. 189f. 313 314

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guration weiterentwickelte – These eines unabwendbaren kulturellen Niedergangs des Westens: Du weißt doch zum Beispiel, dass zu euch in die Eremitage trotz des hohen Eintrittspreises täglich fast 2.000 Menschen kommen, hier würde bei einem so hohen Preis nicht ein einziger Deutscher kommen. Ich war mit S. N. 316 im Albertinum (Skulpturensammlung) – der Eintritt war frei, aber im ganzen Museum waren gerade einmal sieben bis acht Besucher. Es sind alles fürchterliche Spießbürger, und mir scheint es in der Tat, dass sich im Moment die „Zivilisation“ im Stadium der Altersschwäche befindet, und wegen dieser Altersschwäche und Spießbürgerlichkeit ist sie weder zu einer Wiedergeburt noch zum Selbstmord fähig. Ich kenne das jetzige Paris nicht, aber ich glaube, dass es dort genauso ist, oder sogar noch schlimmer, also der Chic Parisien, jetzt aber genug davon!317

Mit dem Entschluss zur Rückkehr entfiel für Ščerbačëv jegliche Motivation, sich konstruktiv auf die deutsche Kultur und Umwelt einzulassen. In einem der späten Dresdner Briefe bricht seine Verbitterung über die erfahrene kulturelle Demütigung und Missachtung in aller Schärfe heraus: Überhaupt muss man sagen, dass von der „großen europäischen Kultur“, in ihrem alltäglichen Sinne, allein das Jackett übriggeblieben ist, das aber ist schon völlig abgetragen, so dass man nicht mehr erkennen kann, welche Farbe es eigentlich hat. Es mag sein, dass dort, irgendwo tief im Inneren, irgendetwas Wertvolles und Interessantes geschaffen wird, aber wir, die „verfluchten Ausländer“,318 sind für sie irgendwelche Giauren,319 und wir können in diese Welt sowieso nicht vordringen, und sie sind in der Masse unglaublich stumpf und unwissend, sie bringen es auch heute noch fertig, Fragen von der Art zu stellen wie, „Gibt es denn auch Bücher in russischer Sprache?“ Und wenn du dann zu ihrem Erstaunen sagst, dass es welche gibt, fragen sie: „Und wie liest man die denn – von rechts nach links oder umgekehrt?“ Dann fragen sie: „Ist es für euch schwierig, nach deutschen Noten zu spielen?“ Hier ist es schon schwer, überhaupt die Frage zu verstehen. Wahrscheinlich war gemeint, dass die russischen Noten von rechts nach links oder sonst irgendwie gelesen werden. Dann haben sie noch gefragt: „In welcher Sprache wird in Russland Arithmetik unterrichtet?“, was einen auch erstmal ziemlich verblüfft. Offenbar ist Arithmetik eine so hohe Wissenschaft, dass man sie auf Deutsch oder in irgendeiner anderen Sprache unterrichten muss, bloß nicht auf Russisch. Ich erzähle dir keine Witze, sondern Fälle, die in diesen Tagen stattgefunden haben, und die Fragen kamen von vollkommen intelligenten Menschen, und außerdem haben sie in einigen Geschäften ganze russische Vitrinen stehen – Dostoevskij, Tolstoj, Gemeint ist der Kunsthistoriker Sergej Nikolaevič Trojnickij (1882–1948), der Ščerbačëv vom 10. bis 14. August in Dresden besucht hatte (siehe Anm. 233). 317 BrDD, 18. 8. 1923, S. 190. 318 In der Ausgabe Slonimskajas übertragen als „verflüchte Ausländern“. 319 Bezeichnung für Ungläubige im Islam, vom türkischen „gavur“, „der Ungläubige“. 316

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Wolfgang Mende Gogolʼ, Čechov, sogar Leskov und Garšin gibt es in Übersetzung, sie prangen in den Schaufenstern. Und diese Dummköpfe verachten die ganze Welt und verhalten sich allem Nicht-Deutschen gegenüber herablassend. Zum Teufel mit ihnen allen! Dafür wissen sie alle, von Jung bis Alt, jeglichen Alters, Standes und Status, dass der Dollar steigt, und kennen seinen aktuellen Kurs. Ich bedaure es sehr, dass das Erdbeben in Japan war, und nicht in Europa.“320

Syllogismus Der lange Aufenthalt in Deutschland bewirkte bei Ščerbačëv das Gegenteil von dem, was man von einer solchen Form des interkulturellen Kontakts erwarten könnte. Die anfängliche Offenheit und Neugier gegenüber der deutschen Kultur wich in der Schlussphase einer Einigelung in Figuren identitärer Abschottung und alteritärer Ablehnung. Verständlich wird dieses Verhalten als Reaktion auf das weitgehende Scheitern der verfolgten Ziele. Eine Karriere im internationalen Maßstab aufzubauen, sei es von der Sowjetunion aus oder als Emigrant, scheiterte am fehlenden Interesse der deutschen Umwelt bzw. an Ščerbačëvs fehlender Fähigkeit, ein solches Interesse zu wecken (und dafür möglicherweise von bisher vertretenen Künstleridealen abzurücken). Die in den letzten Aufenthaltswochen artikulierte Aversion gegen die deutsche Kultur mag auch ein Schutzmechanismus gewesen sein. Er ließ die Rückkehr in das sowjetische Petrograd, die Ščerbačëv gewiss nicht leichtfiel, als Gewinn und nicht als Kapitulation erscheinen. Bezeichnend ist, dass Ščerbačëvs negatives Deutschlandbild aus der Schlussphase seiner Dresdner Zeit nicht nachhaltig war. In seinen Briefen von einer zweiwöchigen Dienstreise nach Deutschland im Herbst 1927 ist von den früheren Ressentiments nichts mehr zu finden, stattdessen eine fast kindliche Neugier und Faszinationsfähigkeit. Weil sich Ščerbačëvs Abreise aus Leningrad verzögert hatte und er nicht wie geplant an den Wiener Beethoven-Feierlichkeiten teilnehmen konnte,321 konnte er die Reise offenbar sehr frei gestalten. In den Briefen, die vom 23. September bis zum 4. Oktober 1927 reichen, berichtete er seiner neuen Lebensgefährtin Vera Znamenskaja ausführlich vom Zauber des nächtlichen Hamburger Hafens, seiner Intervention gegen einen Besuch des Rotlichtviertels in St. Pauli, vom Tierpark Hagenbeck, von der Leipziger Buchmesse oder von der Schönheit deutscher Städte wie Nürnberg, Regensburg und Karlsruhe. In Dresden logierte er wieder in der Pension von Anna Meincke, die ihn mit BrDD, 4. 9. 1923, S. 193f. – Ščerbačëv spielt auf das Große Kantō-Erdbeben vom 1. 9. 1923 an, bei dem u. a. weite Teile Tokios zerstört wurden. 321 Vgl. Anm. 38. 320

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großer Herzlichkeit empfing. Er erhielt vier Essenseinladungen von früheren deutschen Bekannten322 und verbrachte drei Abende mit Rachmaninov, der ihn „als echter Amerikaner“ vor allem wegen seines Autos beeindruckte. Es verlockte ihn sehr, mit Rachmaninov in dessen Auto nach Hamburg zu fahren, um von dort seine Reise nach Paris fortzusetzen. Er nahm aber unter Vorwänden davon Abstand, weil er im Gegensatz zu dem reichen Rachmaninov ein „Bettler“ sei und sich die teuren Hotelübernachtungen und Restaurantbesuche nicht würde leisten können.323 Nicht wieder in die Ressentiments vom Herbst 1923 zu verfallen, fiel Ščerbačëv vier Jahre später sicher auch deshalb leichter, weil er in der Zwischenzeit einen deutlich höheren professionellen Status erlangt hatte. Er war nun renommierter Professor eines der beiden führenden Konservatorien des Landes und Haupt einer vielbeachteten Ausbildungsreform, die bald schon den Namen „Ščerbačëv-Schule“ erhalten sollte. In einem Artikel „Über zeitgenössische Musik“ vom Februar 1927 – einer seiner raren publizistischen Verlautbarungen – stellte er ohne allen Groll fest, dass die jüngeren deutschen Musiker mehr als je zuvor die Hegemonie in der gegenwärtigen Musikwelt innehätten. Während die moderne französische Musik sich mit „zweitrangigen koloristischen Möglichkeiten“ beschäftige, hätten die „jungen Deutschen“ wie „Křenek, Hindemith, Alban Berg und Béla Bartók [!]“ einen „gewaltigen Schritt“ in der musikalischen Evolution vollzogen, der „universellen“ Charakter habe. Entscheidend sei das „liedhafte, inventionshafte, polyphone Denken“, das nebenbei auch die französischen „schönen Worte“, den Urbanismus und den Jazz einschließe. Reger und Mahler hätten den Weg zu diesem „neuen Gipfel der historischen Dialektik“ geebnet. Für die Leningrader Jugend seien die jungen Deutschen Vorbilder, geeignet, die „lokale, provinzielle Scholastik auszutreiben“.324 Ščerbačëv hatte zwischen 1924 und 1927 nicht nur sein negatives Urteil über das zeitgenössische Deutschland revidiert, sondern die jüngere deutschösterreichische Musikmoderne überhaupt erst rezipiert, und zwar offensichtlich 322 Den Briefen von 1922/23 zufolge hatte Ščerbačëv in Dresden keine deutschen Bekannten, mit denen er einen nachhaltigen persönlichen Kontakt aufgebaut hatte. Entweder geben die Briefe diesbezüglich kein volles Bild oder Ščerbačëv meinte hier russische Emigranten, die er in Dresden kennengelernt hatte. 323 Briefe an Vera Znamenskaja aus Hamburg, 23. 9. 1927, aus Dresden, 26. 9. 1927, aus Dresden, 29. 9. 1927 und aus Karlsruhe, 2. 10. 1927; St. Petersburg, Rossijskaja Nacionalʼnaja Bibliotheka, fd. 1088 [V. V. Ščerbačëv und V. A. Znamenskaja], ed. 169, Bl. 39f., 42–44, 46 und 47f. 324 Vladimir Ščerbačëv, „O sovremennoj muzyke [Über zeitgenössische Musik]“, in: Žiznʼ iskusstva [Kunstleben], 1927 Heft 8 (22. 2.), S. 7f.

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über in der Sowjetunion zugängliche Konzerte, Notenausgaben und Presseartikel. Zu seinen Entdeckungen zählte auch die musikpsychologische Energetik von Ernst Kurth, die ihm Boris Asafʼev nahebrachte und die sich in seiner pädagogischen Reform am Leningrader Konservatorium niederschlug (insbesondere in der Einführung eines Melodik-Kurses).325 Hindemith und das mit ihm assoziierte Prinzip des Linearismus war für ihn nun ein wichtiges Vorbild. Allerdings hielt er, wie schon in Dresden, am Prinzip der Emotionalität fest und folgte damit nicht radikaleren Ausprägungen der Neuen Sachlichkeit. Die Rezeption der Neuen Sachlichkeit zeigte sich seit Mitte der 1920er Jahre auch in Ščerbačëvs eigenem Schaffen. Die 1926 bis 1931 komponierte Dritte Sinfonie verrät mit ihrer spröden Linearität, grotesken Tendenz und lakonischen Form deutlich den Hindemith’schen Einfluss. Und die Vierte Sinfonie (1932–1935), eine Art sinfonische Reportage aus der Welt des sozialistischen Aufbaus mit Bildern wie „Der erste sowjetische Traktor“, ist ein sowjetisches Pendant zur neusachlichen Zeitkunst in Deutschland.326 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung geriet die Uraufführung der Zweiten Sinfonie im Dezember 1927 zu einem anachronistischen Ereignis. Die Kritik, die dem Werk durchaus hohen Wert zusprach, kam nicht umhin, auf diesen Punkt hinzuweisen, und konnte auch nicht verschweigen, dass der Erfolg beim Publikum beträchtlich war. Offenbar gab es unter den Leningrader Konzertgängern noch genügend Menschen, die in den kulturapokalyptischen Visionen Aleksandr Bloks etwas für sie Bedeutsames fanden: die schopenhauerisch-pessimistische Frage nach dem Glück angesichts des Ephemeren und Trügerischen aller positiven Empfindungen („Miry letjat [Die Welten fliegen]“, 1912; 2. Satz); die Sehnsucht nach dem ewigen Verschließen der Augen, von der der mitternächtliche Wind einer geheimnisvollen Morgenröte singt („Poët, poët [Er singt, er singt]“, 1913; 3. Satz); der Traum von einem unerhörten Paradies, von dem Purpurlicht und Glocken künden, der aber im übermächtigen Nebelgrau erstirbt („Skvozʼ seryj dym [Durch grauen Rauch]“, 1912; 4. Satz); Bloks Fin-de-siècleAdaption des Danteʼschen Infernos, in dem ein verirrter Poet in der Hölle auf sein Spiegelbild trifft: einen Vampir, dem wegen seines Lasterlebens ewige Qualen beschieden sind („Pesnʼ Ada [Gesang der Hölle]“, 1909; 5. Satz). Nimmt man die Morgenröte, das Nebelgrau oder die Hölle als Chiffren für die bolschewistische Revolution, was für die älteren Publikumsschichten der Philharmonie keine allzu fernliegende Assoziation gewesen sein dürfte, erscheint Ščerbačëvs Blok-Sinfonie als monumentaler Threnos auf den unumkehrbaren Vgl. Haas, Leningradʼs Modernists (wie Anm. 21), S. 84 u. 87. Vgl. Slonimskaja, Simfoničeskoe tvorčestvo Vladimira Ščerbačëva v kontekste kulʼtury (wie Anm. 19), S. 43–50 et passim. 325 326

Vladimir Ščerbačëvs Dresden-Aufenthalt in den Jahren 1922/23

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Untergang einer alten Welt. Eine hermeneutische Analyse des Werks, die ein Desiderat darstellt – und zu der Ščerbačëv in seinen Briefen bei aller Mitteilsamkeit in technisch-formalen Fragen bezeichnenderweise keinerlei Anhaltspunkte preisgibt –, könnte zweifellos noch konkretere Zeitbezüge erschließen. Kaum zu bezweifeln ist, dass Ščerbačëv mit diesem Werk das selbst erfahrene Trauma der gewaltsamen kulturellen Entwurzelung verarbeitete. Auch wenn ihr Tenor Ausweglosigkeit ist, mag sie für den Komponisten die Funktion einer kathartischen Therapie erfüllt haben. Darin gleicht sie dem Dresden-Aufenthalt als Ganzem, der für Ščerbačëvs Leben eine ähnliche kathartische Funktion übernommen haben dürfte: eine radikale Reaktion auf eine als hoffnungslos empfundene Situation, die gerade im Scheitern des versuchten Auswegs die aus dem Vergangenen resultierenden Blockaden überwand und zur Basis eines Neuanfangs wurde.

Julija Veksler

Die frühe Rezeption Alban Bergs in der UdSSR Die sowjetische Rezeption Alban Bergs in den 1920er und 1930er Jahren war wesentlich von einem markanten Ereignis bestimmt – der Leningrader Premiere des Wozzeck am 13. Juni 1927 in Gegenwart des Komponisten.1 Das Faktum ist nicht überraschend: Mit dem Wozzeck konnte sich der zuvor wenig bekannte Schüler Schönbergs als ein Komponist ersten Ranges empfehlen. Seine Oper gelangte bis 1932 auf mehr als 20 internationale Bühnen und machte eine breite musikalische Öffentlichkeit mit der Musik des Expressionismus bekannt. Die Leningrader Erstaufführung war erst die dritte Inszenierung des Wozzeck überhaupt. Anderthalb Jahre zuvor war das Werk dank der Bemühungen des Dirigenten Erich Kleiber in Berlin aus der Taufe gehoben worden, begleitet von einem großen Presserummel. Es folgte die unter Protesten tschechischer Nationalisten abgebrochene Prager Aufführung. In Bergs Heimatstadt Wien wurde dagegen noch nicht einmal eine Inszenierung des Wozzeck erwogen. Bis zur Leningrader Aufführung war Berg auch in Russland nur wenig bekannt. Man ordnete ihn, zusammen mit Anton Webern, als Schüler des berühmten Arnold Schönberg ein, der Russland vor dem Ersten Weltkrieg auf einer Gastspielreise besucht hatte. Bis zur Wozzeck-Aufführung war offenbar noch kein einziges Werk Alban Bergs in der UdSSR gespielt worden. Die Leningrader Erstaufführung des Wozzeck fällt in die fruchtbarste Phase der sowjetischen Vorkriegskunst – eine Zeit der Unrast und der Experimente, gekennzeichnet durch ein glühendes Interesse an der neuen Kunst, parallel zum Aufbruch der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP). Die Aktivitäten der Assoziation zeitgenössischer Musik (ASM), das Aufblühen des Theaters, Gastspiele führender ausländischer Musiker sowie Inszenierungen moderner Opern und Schauspiele schufen eine unvergleichliche Atmosphäre, die Sergej Prokofʼev bei seinem ersten Russland-Besuch nach der Revolution 1927 hellauf begeisterte. Diese Inna Barsova war die Erste, die sich in der russischen Musikwissenschaft mit der Leningrader Erstaufführung beschäftigte; vgl. dies., „‚… Nigde lučše ne prinjali moego ‚Vocceka‘, čem v Leningrade‘ [Nirgends wurde mein ‚Wozzeck‘ besser aufgenommen als in Leningrad]“, in: Muzkal’naja akademija, 1998 Heft 3–4, Kniga pervaja [erstes Teilheft], S. 141–144; auch in dies., Kontury stoletija. Iz istorii russkoj muzyki XX veka [Konturen eines Jahrhunderts. Aus der Geschichte der russischen Musik des 20. Jahrhunderts], St. Petersburg: Kompozitor, 2007, S. 34–42. Vgl. auch dies., Muzyka. Slovo. Bezmolvie [Musik. Wort. Stille], St. Petersburg: Izdatelʼstvo im. N. I. Novikova, 2017, S. 240–252. 1

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Atmosphäre verdankte sich in vielem den Anstrengungen der Generation des sogenannten Silbernen Zeitalters, die inzwischen ein Stadium der Reife erreicht hatte; sie widerlegte alle geläufigen Vorstellungen eines barbarischen und kulturlosen bolschewistischen Russlands. Das Fehlen stabiler Aufführungstraditionen zeitgenössischer Musik, wie sie im Westen existierten, wurde durch ein unverfälschtes und ehrliches Interesse an allem Neuen ersetzt, inspiriert von revolutionärem Enthusiasmus. Dieser Geist der Suche nach neuen Wegen im sowjetischen Musiktheater kam dem Wozzeck zugute, ebenso aber auch seine soziale Thematik, die sich nicht nur im Geiste eines allgemeinen Humanismus deuten ließ, sondern auch ‚klassenideologisch‘. Die Oper erschien damit ungewöhnlich aktuell und entsprach den politischen Erwartungen. War diese Facette des Wozzeck im Westen umstritten, so sprach sie in Russland für das Werk. Bergs Bekanntschaft mit russischen Musikern hatte in Wien begonnen. Zu den ersten gehörte der Musikwissenschaftler Viktor Michajlovič Beljaev, der sich im Oktober und November 1924 im Rahmen einer Dienstreise in Wien aufgehalten hatte, um Konzerte mit neuer russischer Musik durchzuführen. Details dieser Reise fixierte er in aufschlussreichen Tagebucheinträgen.2 Der Berliner Premiere des Wozzeck waren Darbietungen der Drei Bruchstücke aus der Oper in Frankfurt am Main (Juni 1924) und Prag (Mai 1925) in Gegenwart Beljaevs vorangegangen. Das hatte zu einem starken, anwachsenden Interesse an Bergs Musik geführt. Die Idee einer Wozzeck-Aufführung in der UdSSR ging wahrscheinlich auf Mitglieder der ASM zurück, deren Modernitätsbestrebungen sich mit den Direktiven der offiziellen Repertoirepolitik deckten. So wurde die Leningrader Premiere des Wozzeck bereits im Sommer 1926 beschlossen. Die Chronik der Akademischen Leningrader Theater vom 6. Juli desselben Jahres nennt die Oper in der Zeitschrift Žizn’ iskusstva (Kunstleben) unter sechs geplanten Neuinszenierungen der kommenden Saison, mit Sergej Radlov als Regisseur und Vladimir Dranišnikov als Dirigent.3 In derselben Zeitschrift erschien am 20. Juli ein ausgedehnter redaktioneller Aufsatz unter dem Titel „Perspektiven des Akademischen Operntheaters für die künftige Saison“.4 Er ruft die „im ideologischen Sinne am meisten zurückgeVgl. Olesja Bobrik, Venskoe izdatel’stvo „Universal Edition“ i muzykanty iz Sovetskoj Rossii. Istorija sotrudničestva v 1920–30-e gody [Die Wiener „Universal Edition“ und Musiker aus Sowjetrussland. Die Geschichte ihrer Zusammenarbeit in den 1920er und 1930er Jahren], St. Petersburg: Izdatel’stvo im. N. I. Novikova, 2011, S. 50–60 und S. 261–319. 3 Vgl. Žizn’ iskusstva [Kunstleben], 1926 Heft 27, S. 24. Es ist unklar, weshalb in der Oktobernummer der Zeitschrift Die Musik Albert Coates als Wozzeck-Dirigent der kommenden Saison genannt wird; vgl. Die Musik, 19. Jg. Heft 1 (Oktober 1926), S. 64. 4 O. Verf., „Perspektivy akopernogo sezona [Perspektiven der Saison der akademischen Oper]“, in: Žizn’ iskusstva, 1926 Heft 29 (20. Juli), S. 1f. 2

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bliebene und noch gänzlich in der bürgerlichen Kultur der Vergangenheit verwurzelte“ Opernkunst dazu auf, die „von der Arbeiter- und Bauernmacht gestellten Aufgaben“ anzugehen, deren wichtigste die „Kulturrevolution“ sei. Der Wozzeck wird gemeinsam mit Ernst Kreneks Sprung über den Schatten und Richard Strauss’ Salome einer Linie von „Novitäten der westeuropäischen Opernliteratur“ zugerechnet, welche die letzten Errungenschaften der modernen Musikdramatik (im Gegensatz zur alten Linie der ‚Gesangsopern‘) verkörperten. Obwohl der Spielplan als „sorgfältig und allseits durchdacht“ Anerkennung findet, wird ihm indes fehlendes Streben, „unserer revolutionären Gegenwart entgegenzukommen“, vorgehalten: „Es findet sich nicht ein einziger Hinweis, dass der Plan im Sowjetland aufgestellt wurde, von einem staatlichen sowjetischen Operntheater.“5 Diese Äußerung zwingt zu einer zurückhaltenderen Bewertung des damaligen Modernitätsenthusiasmus – wie sich herausstellen sollte, war die westeuropäische Linie eine nur vorübergehende Erscheinung, die bald all ihre Bedeutung einbüßte. Die Nachricht, dass Bergs Oper in Leningrad gespielt würde, verbreitete sich in zahlreichen deutschen Zeitungen.6 Im September 1926 bat Beljaev den Komponisten um einen Aufsatz zur bevorstehenden Wozzeck-Aufführung für die Sonderausgabe des Bulletins der Assoziation zeitgenössischer Musik.7 Berg schickte einen von Hermann Rudolf Gail (Berlin) verfassten Überblicksartikel über sein Schaffen.8 Er war gerade in die Arbeit an der Lyrischen Suite vertieft und hielt es für überflüssig, die Oper zu kommentieren, obgleich er bereits früher in eine Polemik mit Musikkritikern über die musikalischen Formen des Werks hatte eintreten müssen.9 Ebd. Die Annahme der Oper wurde u. a. in folgenden Zeitungen vermeldet: Berliner Tageblatt vom 27. Juli 1926, Berliner Börsenzeitung vom 31. Juli 1926, Berliner Volkszeitung vom 1. August 1926, Casseler Tageblatt vom 19. September 1926, Deutsche Allgemeine Zeitung Berlin vom 16. Dezember 1926, Berliner Tageblatt vom 20. Dezember 1926. Hinweise fanden sich auch in den Zeitschriften Allgemeine Musikzeitung vom 2. Juli 1926, Musikblätter des Anbruch, 8. Jg. Heft 7 (September 1926), und in der Zeitschrift für Musik, 93. Jg. Heft 9 (September 1926). Alle den Wozzeck betreffende Mitteilungen wurden offenbar auf Bitten Bergs von einer Agentur gesammelt. Auf ein Spezialblatt aufgeklebt finden sie sich zusammen mit einer Übertragung der Namen der Wozzeck-Besetzung ins Deutsche; Wien, Österreichische Nationalbibliothek (im Folgenden: ÖNB), MS F 21, Berg 3123/177. 7 Brief vom 18. September 1926; ÖNB, MS F 21, Berg 543/1. 8 In russischer Übersetzung veröffentlicht als: G. Gajlʼ [Hermann Rudolf Gail], „Alʼban Berg“, in: Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik], 1926 Heft 17–18, S. 199–204. 9 Alban Berg, „Die musikalischen Formen in meiner Oper ‚Wozzeck‘“, in: Die Musik, 16. Jg. Heft 8 (Mai 1924), S. 587–589. Einige Monate später verfasste Alban Berg für Russland doch noch einen Wozzeck-Aufsatz, dessen Veröffentlichung mit der Premiere abgestimmt wurde: „Al’ban Berg o svoej opere ,Voccek‘ [Alban Berg über seine Oper ‚Wozzeck‘]“, in: Žizn’ 5 6

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Im April 1927 kam der Komponist Nikolaj Strel’nikov10 nach Wien, Verfasser zahlreicher Operetten und damit, so könnte es scheinen, denkbar weit von der Schaffensästhetik Bergs entfernt. Obwohl seine Reise keinen offiziellen Charakter trug, hatte ihn das Staatliche Akademische Leningrader Opern- und Ballett-Theater (Gosudarstvennyj akademičeskij teatr opery i baleta – GATOB) gebeten, sich mit Berg zu treffen und ihn zur Leningrader Aufführung zu bitten. In einem Nekrolog auf Berg wird Strel’nikow sich später erinnern: „Der Wozzeck wurde schon geprobt und Alban Berg waren die Namen des Dirigenten Dranišnikov, des Regisseurs Radlov und der Sängerin Pavlovskaja geläufig. Obwohl nach außen zurückhaltend, ergriff ihn ein lebhaftes Interesse an den Vorbereitungen der Leningrader Inszenierung.“11 Das Interesse ist erklärlich. Denn trotz der Inszenierungen des Wozzeck in zwei so großen Opernhäusern wie in Berlin und Prag waren die Perspektiven des Werks nebulös. Es galt als schwierig, schien eine Unmenge Proben zu erfordern und bei weitem nicht für jede Bühne geeignet zu sein. Der Erfolg einer Aufführung in Sowjetrussland konnte helfen, derlei Vorausurteile zu widerlegen. Im oben erwähnten Nekrolog auf Berg spricht Strel’nikov von Bedenken des Komponisten. Obwohl diese nicht durch andere Quellen gestützt sind, ist anzunehmen, dass es zahlreiche Pros und Contras zu erwägen gab, wenn es um eine Reise nach Leningrad ging. So wurden einerseits Bergs Befürchtungen, wie Strel’nikovs Sohn berichtet, durch seine mit weißgardistischen Emigranten verkehrende Ehefrau Helene angestachelt, und das durch diese verbreitete Bild des bolschewistischen Russlands war mehr als beängstigend (was auch eine komische Geschichte über eine Bombe belegt, die Terroristen bei der Leningrader Preiskusstva, 1927 Heft 24, S. 7. Im November desselben Jahres erschien die englischsprachige Fassung: Alban Berg, „A Word about Wozzeck“, in: Modern Music, 5. Jg. Heft 1 (1927–28), S. 22–24; später wurde der Text in den bekannten Aufsatz „Das ‚Opernproblem‘“ aufgenommen; vgl. Alban Berg, „Das ‚Opernproblem‘“, in: Neue Musikzeitung, 49. Jg. Heft 9 (1928), S. 285–287. Ein anderes Schicksal erwartete den für die Zeitschrift Muzyka i revoljucia [Musik und Revolution] verfassten offenen Brief, dessen Abdruck von der Redaktion abgelehnt wurde und der erstmals in deutscher Sprache erschien; vgl. Musikblätter des Anbruch, 10. Jg. Heft 8 (Oktober 1928), S. 304. 10 Zu Strel’nikovs Freundschaft mit Berg vgl. Olesja Bobrik, „Al’ban Berg i Nikolaj Strel’nikov. Neizvestnye ėpisody russkoj istorii ‚Vocceka‘ [Alban Berg und Nikolaj Strel’nikov. Unbekannte Episoden der russischen Geschichte des ‚Wozzeck‘]“, in: Gustav Maler i muzykal’– naja kul’tura ego vremeni. V čest’150-letija so dnja roždenija Gustava Malera i 125-letija so dnja roždenija Al’bana Berga: materialy meždunarodnoj konferencii [Gustav Mahler und die Musikkultur seiner Zeit. Zu Ehren des 150. Geburtstags von Gustav Mahler und des 125. Geburtstags von Alban Berg: Materialien der internationalen wissenschaftlichen Konferenz], Moskau: Naučno-izdatel’skij centr „Moskovskaja konservatorija“, 2013, S. 318–338. 11 Aus dem Nekrolog auf Alban Berg, zit. nach ebd., S. 334.

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miere im Theater deponiert haben sollen).12 Andererseits war Berg nicht der erste Musiker, der sich anschickte, in die UdSSR zu reisen – der intensive Kulturaustausch bezeugte ein ausgesprochen großes Interesse an neuer Kunst. Unterdessen liefen die Vorbereitungen zur russischen Erstaufführung auf vollen Touren. Davon geben die (leider nur recht unvollständig überlieferten) Proben- und Bühnentermine des Theaters eine Vorstellung, ebenso aber auch die Berichterstattung der Zeitungen und Zeitschriften.13 Die Vorbereitungen zur Einstudierung der Oper überschnitten sich mit der russischen Erstaufführung der Drei Bruchstücke aus der Oper „Wozzeck“ am 9. Februar 192714 in einem Sinfoniekonzert der Leningrader Akademischen Staatlichen Philharmonie unter der Leitung von Erich Kleiber – einem Konzert, das fast ohne Resonanz blieb. Die Gastspielreise dieses erstklassigen Dirigenten, der die Berliner Uraufführung der Oper geleitet hatte, stand trotz wohlwollender Presserezensionen im Schatten anderer hochrangiger Ereignisse des Leningrader Konzertlebens – zu den Besuchern der laufenden Saison gehörten z. B. Alfredo Casella, Otto Klemperer, Bruno Walter und Sergej Prokofʼev. Das Publikum hatte immerhin die Möglichkeit, sowohl zentrale musikalische Episoden des Werks (das Wiegenlied der Marie, das Requiem Wozzecks) als auch die Sängerin der weiblichen Hauptrolle, Valentina Pavlovskaja, kennenzulernen. „Man spürt sogleich, dass es sich um eine dynamisch-hochgespannte Bühnenmusik handelt, mit realistischer Programmatik […] und raschen psychologischen Wechseln“, heißt es in der Rezension des Konzerts durch den Komponisten Valerian Bogdanov-Berezovskij.15 Doch zurück zur Einladung Bergs nach Russland. Höchstwahrscheinlich war Mitte Mai 1927 der Premierentermin noch ungeklärt, ebenso wie auch Bergs Leningrad-Besuch und dessen Finanzierung. Offenbar stellten sich der Reise Hindernisse entgegen, über die wir nur spekulieren können. Auf jeden Fall setzte seit dieser Zeit eine rege Korrespondenz16 in Form von Briefen und Telegrammen mit Vgl. ebd., S. 334f. Mit der Einstudierung des Wozzeck wurde am 24. November 1926 begonnen, die erste Chorprobe fand am 12. Januar 1927 statt, die erste Orchesterprobe unmittelbar davor. Am 17. Februar begannen die Bühnenproben. Die Arbeiten am Wozzeck dauerten – ungeachtet der Notwendigkeit, das laufende Repertoire vorzubereiten – mit kleineren Unterbrechungen bis zum Leningrader Premierentermin am 13. Juni 1927 an. 14 Vgl. die Ankündigung des Konzerts in Rabočij i teatr [Arbeiter und Theater], 1927 Heft 6 (125, 8. Februar). 15 Žizn’ iskusstva, 1927 Heft 8 (22. Februar), S. 9. 16 Einen Großteil dieses Austausches dokumentiert Barsova, „Nigde lučše ne prinjali moego ‚Vocceka‘“ (wie Anm. 1). Berg korrespondierte auch mit Vladimir Dranišnikov, dem Dirigenten, doch ist dieser Briefwechsel bislang nicht gefunden worden. 12 13

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Ivan Ėkskusovič ein, dem Leiter des Akademischen Staatstheaters. Im Brief vom 15. Mai 1927 bat der beunruhigte Berg um Unterstützung seiner Reise, deren Notwendigkeit er im Einzelnen darlegte, mit dem Versprechen, sich nicht in die Proben einzumischen. Um Gleiches bat zwei Tage später die Universal Edition im Brief vom 17. Mai 1927.17 Es fällt auf, dass Ėkskusovič erst am 31. Mai auf Bergs Schreiben antwortete, als Datum der Premiere den 11. Juni nannte (eher stand der Termin offenbar nicht fest) und um Mitteilung der Höhe der Reisespesen bat.18 Trotz der sofortigen Antwort Bergs19 und einer nochmaligen Erinnerung vom 3. Juni20 erhielt der Komponist erst am 5. Juni, d. h. sechs Tage vor der Premiere, die erforderliche Einladung sowie eine Übernahmegarantie der Kosten in Höhe von 150 Dollar.21 Wodurch auch immer es zu den Verzögerungen kam, sie bestimmten den weiteren Verlauf der Dinge. Obwohl Berg rasch sein Visum erhielt, konnte er die Reise erst am 8. Juni antreten.22 Das bedeutete, dass er erst am 10. Juni morgens ankommen würde, am Vortag der Premiere, und allenfalls ein oder zwei Proben hätte besuchen können. Von einer längeren Arbeit mit dem Ensemble, wie im Falle der Berliner Premiere (wo Berg bereits einen Monat zuvor eingetroffen war und zwei Wochen lang die letzten Proben begleitete), konnte nicht die Rede sein. Die Zeitungen hatten bereits Bergs Kommen (wie im Telegramm vom 7. Juni mitgeteilt) vermeldet.23 Eine unvorhergesehene Verzögerung (die kürzeste Verbindung war aufgrund einer von Hochwasser zerstörten Eisenbahnbrücke unterbrochen) machte alle Pläne zunichte: Die Fahrt erstreckte sich nunmehr auf 66 Stunden (und war damit einen Tag länger), womit sich abzeichnete, dass Berg nicht rechtzeitig zur Leningrader Premiere eintreffen würde.24 St. Petersburg, Centralʼnyj gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva (Zentrales staatliches Archiv für Literatur und Kunst, im Folgenden CGALI), Fond 260, opis’ [Verzeichnis] 1, edinica chranenija [Aufbewahrungseinheit] 973, list [Blatt] 96 und 96 verso. 18 Telegramm vom 31. Mai; ÖNB, MS F 21, Berg 702/1. 19 Telegramm vom 2. Juni; CGALI, Fond 260, opis’ 1, edinica chranenija 973, list 102. Der Entwurf des Telegramms befindet sich im Berg-Nachlass. Vgl. Alban Berg, Handschriftliche Briefe, Briefentwürfe und Notizen. Aus den Beständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, hrsg. von Herwig Knaus (Quellenkataloge zur Musikgeschichte, 29), Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 2004, S. 68. 20 Telegramm vom 3. Juni; ebd. list 101. 21 ÖNB, MS F 21, Berg 702/2. 22 Vgl. das Telegramm an Ėkskusovič vom Vortag: „Eintreffe Freitag frueh siebenfuenfundvierzig“, CGALI, Fond 260, opis’ 1, edinica chranenija 973, list 136. 23 Krasnaja gazeta [Rote Zeitung], 1927 Nr. 129 (9. Juni), S. 6. 24 Die umfassendste Schilderung der Reise enthält der Briefwechsel Bergs mit seiner Frau Helene. Vgl. Briefwechsel Alban Berg – Helene Berg, Gesamtausgabe, aus den Beständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, hrsg. von Herwig Knaus und Thomas Leibnitz, Bd. 3: 1920–1935, Wilhelmshaven: Florian Noetzel, 2014, S. 463–471. 17

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Am 10. Juni mittags kündigte Berg aus Orscha (per Telegramm an Helene,25 Strel’nikov26 und Ėkskusovič27) seine Ankunft für Samstag an. Wir können uns nur ausmalen, wie die Gastgeber auf diese Nachricht reagierten. Sie taten das in dieser Situation einzig Richtige und verlegten die erste Aufführung auf den 13. Juni.28 Noch auf dem Wege erfuhr Berg durch eine Zeitungsmeldung von der Terminänderung und schrieb seiner Frau: „Premiere erst Montag 13/. 6.[,] Generalprobe 12./6. (Sonntag Mittag, 12 Uhr) u. heute ist eine geschlossene Arbeitervereinsvorführung […] also hier auch 1, bzw. 2 Proben, was günstig ist!!“29 Unter denjenigen, die Berg am Leningrader Bahnhof empfingen, dürfte auch Strel’nikov gewesen sein, der seiner guten Deutschkenntnisse und Kommunikationsfreudigkeit wegen sogleich zu Bergs treuem Begleiter wurde. Laut Strel’nikovs Sohn verzichtete Berg sogar auf die Dienste der offiziellen Dolmetscherin und bat, Strel’nikov ständig um sich haben zu dürfen.30 „Wie auch immer, Berg wirkte auf mich ungleich lebendiger, impulsiver, fröhlicher und zufriedener als in Wien“, erinnerte sich Strel’nikov später. „Im Theater nahm er sogleich alle für sich ein und vermochte – ohne offenbar selbst von dieser Gabe zu ahnen – durch seltenes Feingefühl der Sprache wie durch hellwache Aufmerksamkeit seine Gesprächspartner ganz unvergleichlich zu bezaubern.“31 Berg war hochgradig erstaunt, dass die ganze Stadt, wie ihm schien, in Erwartung der Aufführung lebte: „Eine Première in Leningrad ist ein Ereignis, von dem die ganze Stadt schon Wochen voraus spricht. Es ist anders als bei uns. Als ich vom Bahnhof in mein Quartier fuhr, da erschrak ich förmlich, als mir von jeder Häuserecke, jeder Plakatwand und jeder Litfaßsäule mein und der Name Ebd., S. 468. Fundort unbekannt. Die vor Erreichen der Stadt Orscha versandten Telegramme sind nicht erhalten. 27 „Ankom[me] erst Samstag früh Berk [sic]“, CGALI, Fond 260, opis’ 1, edinica chranenija 973, list 137. 28 Vgl. den Text der entsprechenden Ankündigung in CGALI, Fond 260, opis’ 1, edinica chranenija 974, list 34 (Typoskript). 29 Briefwechsel Alban Berg – Helene Berg (wie Anm. 24), S. 469 (Hervorhebungen im Original durch Unterstreichung). Möglicherweise war Berg auf den mit den Initialien „B. M.“ gezeichneten Aufsatz „Voccek [Wozzeck]“ in der Krasnaja gazeta vom 11. Juni 1927 oder auf sonstige Theaternachrichten gestoßen, die ihn über die Verschiebung der Aufführung informierten. 30 Vgl. Bobrik, „Al’ban Berg i Nikolaj Strel’nikov“ (wie Anm. 10), S. 324. 31 Ebd., S. 335. Ein ähnliches Bild vermitteln die in ihrer Authentizität umstrittenen Memoiren von Dmitrij Šostakovič, die den Umgang mit Nikolaj Strel’nikov mit giftig-sarkastischem Unterton beschreiben. Vgl. Solomon Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch, Berlin: List, 2003, S. 112. 25 26

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meines Werkes in Riesenlettern entgegenstarrte.“32 Das Plakat konnte nicht gefunden werden, doch wurde es offenbar auf dem Umschlag einer Ausgabe der Zeitschrift Rabočij i teatr [Arbeiter und Theater] reproduziert (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Titelblatt der Zeitschrift Rabočij i teatr 1927, Heft 25

Berg verbrachte fast sechs Tage in Leningrad, vom 11. bis zum 16. Juni, offenbar weil er einer Rückreise mit mehrfachem Umstieg abgeneigt war und auf eine Direktverbindung wartete.33 Aufschluss über die Ereignisse während des Besuchs vermittelt Bergs Notizbuch für das Jahr 1927.34 An seinem ersten Tag, dem Zit. nach Iron, „Gespräch mit Alban Berg. Eindrücke von einer ‚Wozzek‘-Aufführung in Leningrad“, in: Neues Wiener Journal, 23. Juni 1927, S. 6. 33 Vgl. das Telegramm an Helene Berg vom 14. Juni; Briefwechsel Alban Berg – Helene Berg (wie Anm. 24), S. 470. 34 ÖNB, MS F 21, Berg 479/41. 32

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11. Juni, besuchte er eine Probe von Strel’nikovs Operette Das schwarze Amulett (Čërnyj amulet, auch Lolo) im Michajlovskij Theater, dem damaligen Leningrader Kleinen Staatlichen Operntheater (Malyj Leningradskij gosudarstvennyj opernyj teatr – MALEGOT),35 wo er die „Bekanntschaft [der] Theaterleute“ machte, und abends sah er im selben Theater eine Aufführung von Franz Léhars Operette Die gelbe Jacke (Žëltaja kofta).36 Am Tag vor der Premiere, dem 12. Juni, hörte er im MALEGOT Kreneks Oper Sprung über den Schatten,37 und danach verbrachte er einige Zeit „beim Regisseur“, d. h. bei Nikolaj Smolič.38 Dieses Theater war ein Vorposten experimenteller Bestrebungen, sodass Berg weitere Facetten zeitgenössischer sowjetischer Regiekunst kennenlernen konnte.39 „Ich war hier im ‚Sprung über den Schatten‘“, bemerkt der Komponist in einem Interview. „Mag auch die szenische Umsetzung der Oper nicht überall mit den Ansprüchen der Musik übereinstimmen, so ist doch die Meisterschaft dieser Inszenierung schlicht ergreifend.“40 Ein weiteres Theaterereignis war das Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters unter der Leitung Konstantin Stanislavskijs41 mit dem Schauspiel Zar Fedor Iwanowitsch (Carʼ Fedor Ioannovič) von Aleksej Konstantinovič Tolstoj, das Berg am 14. Juni besuchte.42 Seine eigene Oper hörte Berg erstmals am 12. Juni bei der öffentlichen Generalprobe. Dass er den geschlossenen Durchgang nach der Sitzung des LeVgl. hierzu den Nekrolog von Strel’nikov: Bobrik, „Al’ban Berg i Nikolaj Strel’nikov“ (wie Anm. 10), S. 334f. 36 ÖNB, MS F 21, Berg 479/41, f. 14v. – Anmerkung des Übersetzers: Mit dem Werk „Die Gelbe Jacke [Želtaja kofta]“ ist die komische Oper von Franz Léhar gemeint, aus der später Das Land des Lächelns wurde; das Werk gelangte damals in einer russischen Einrichtung in Leningrad auf die Bühne. Ein Bezug zur berühmten Gelben Weste [ebenfalls „Želtaja kofta“] Vladimir Majakovskijs ist ausgeschlossen. 37 Ein Programmheft dieser Vorstellung ist im Berg-Archiv erhalten; ÖNB, MS F 21, Berg 3158/37. 38 ÖNB, MS F 21, Berg 479/41, f. 15. – Nikolaj Vasilʼevič Smolič (1888–1968), russischukrainischer Schauspieler und Regisseur, von 1924 bis 1930 künstlerischer Leiter und Direktor des Kleinen Operntheaters. 39 Zur Geschichte dieses Theaters vgl. Konstantin Učitel’, Leningradskij malyj opernyj teatr (1927–1948): organizacija i tvorčestvo [Das Leningrader Kleine Operntheater (1927–1948): Organisation und künstlerisches Wirken], Dissertation, Sankt-Peterburgskaja gosudarstvennaja akademija teatralʼnogo iskusstva [St. Petersburger staatliche Akademie für Theaterkunst], 2005. 40 Zit. nach Ju[lian] V[ajnkop], „Al’ban Berg o ‚Vocceke‘ [Alban Berg über ‚Wozzeck‘]“, in: Rabočij i teatr, 1927 Heft 25, S. 8. 41 Konstantin Sergeevič Stanislavskij (1863–1938), russischer Theaterregisseur, Schauspieler und Pädagoge, Theaterreformer. 42 Ein Programmheft dieser Vorstellung ist im Berg-Archiv erhalten; ÖNB, MS F 21, Berg 3158/38–42. – In Bergs Notizbuch: „Stanislawsky / Theater“; vgl. ÖNB, MS F 21, Berg 479/41, f. 16. 35

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ningrader Stadtrats am 11. abends besuchte (der in der Krasnaja gazeta [Rote Zeitung] angezeigt war), ist hingegen nicht bezeugt. Ich kam knapp vor der Generalprobe an, die öffentlich war, und mein Plan bestand darin, mir die Aufführung vom Parkett aus in strengstem Inkognito anzuhören. Doch er wurde bald zuschanden. Bevor der Vorhang aufging, trat der Regisseur vor die Rampe und verkündete meine Anwesenheit. Der Beifall, der diesen Worten folgte, war derart, daß ich nichts anders konnte, als mich von meinem Sitz zu erheben und zu danken, da der Sprecher die Gegend, in der ich saß, bezeichnet hatte.43

Die Generalprobe wurde zu einem Ereignis.44 Wie groß das Interesse war, belegt das Autographen-Album des Opernregisseurs Vladimir Dansker, das an diesem Tag mit Einträgen von Aleksandr Glazunov, dem Direktor des Leningrader Konservatoriums, des Leningrader Komponisten Vladimir Deševov und von Alban Berg selbst aufwartet.45 In Bergs Notizbuch gibt es zwar keine Hinweise auf seine Anwesenheit bei den übrigen Proben, doch beschreibt Bogdanov-Berezovskij auch eine Probe ohne Publikum: Die Schlussphase der „Wozzeck“-Inszenierung hatte denkwürdige Proben. In der Mitte des halbverdunkelten Saals saßen, von einem winzigen Schirmlämpchen nur trübe ausgeleuchtet, Radlov, Asaf’ev, Levin und, ein wenig abseits von ihnen, Alban Berg, der Autor der Oper – blass, schüchtern, mit weich-dunklen, in die Stirn fallenden Haarsträhnen und melancholischem Blick – sowie Nikolaj Michajlovič Strel’nikov. […] Radlov unterbrach hin und wieder den Durchgang, um noch an der Inszenierung zu feilen. Er begab sich zu diesem Zweck – auf einer den „Orchestergraben“ überspannenden Brücke – mit Erläuterungen zu den Akteuren auf die Bühne. Levin regelte per Fernsprecher die für die expressionistisch überhitzte Inszenierung substanziellen Lichteffekte. Dranišnikov hatte das Seine getan, um ohne Unterbrechungen zu verfahren. Er musizierte ungezwungen, die Solisten und das Orchester so sicher führend, als hätte er alle Schwierigkeiten der Partitur, ohne sie den Mitwirkenden zuzumuten, ganz alleine geschultert.46

In diesem Zusammenhang ist auch der Bericht des Opernsängers und ASM-Mitglieds Sergej Levik von Interesse, demzufolge Berg bei einer Probe selbst zu dirigieren gewünscht habe – der ziemlich missglückte Versuch sei durch den hinter Zit. nach Iron, „Gespräch mit Alban Berg“ (wie Anm. 32). Am 12. Juni telegraphierte Berg an seine Frau: „Großer Jubel nach öffentlicher Generalprobe. Theatralisch starke Aufführung“. Briefwechsel Alban Berg – Helene Berg (wie Anm. 24), S. 469. 45 Vgl. Barsova, „Nigde lučše ne prinjali moego ‚Vocceka‘“ (wie Anm. 1), S. 143f. 46 V[alerian] Bogdanov-Berezovskij, Dorogi iskusstva [Wege der Kunst], Kniga pervaja [Erstes Buch]: 1903–1945, Leningrad: Muzyka, 1971, S. 84. 43 44

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dem Komponisten Zeichen gebenden Dranišnikov ‚gerettet‘ worden.47 Diese Anekdote ist umso bemerkenswerter, als Berg ansonsten niemals in seinem Leben einen Dirigierstab in der Hand hatte und auch gar nicht über die erforderlichen Dirigierfertigkeiten verfügte. Damit erhebt sich die Frage, was Berg zu dieser Unternehmung gedrängt haben könnte. „Grosser stuermischer Erfolg“, telegrafiert Berg über die Premiere selbst an seine Frau.48 Zu einem weiteren Skandal, wie ihn Berg mit Blick auf die Prager Ereignisse befürchtet hatte, kam es nicht. Berg war offenbar mit der Aufführung zufrieden.49 Begabt mit Takt und Feingefühl, ging es gegen seine Gewohnheit, sich unmittelbar nach einer Aufführung kritisch zu äußern. Den Aufzeichnungen zufolge war Berg am Abend der Premiere Gast des Dirigenten Dranišnikov. Am folgenden Tag, dem 14. Juni, fand in der Wohnung Jurij Šaporins50 ein Festmahl der ASM statt, an das sich der Musikwissenschaftler Michail Druskin wie folgt erinnerte: Ich begleitete Alban Berg nach dem Ende des „Wozzeck“-Spektakels51 in Gesellschaft des geistreich-giftigen Kritikers und nicht untalentierten Komponisten N. M. Strel’nikov zur Kanonerskaja Straße 5, der Wohnung von Jurij Aleksandrovič [Šaporin]. Deutsch sprach ich damals schlecht, Nikolaj Michajlovič [Strelʼnikov] hingegen parlierte ohne Unterlass, und Alban Berg, hochgewachsen und von anziehendem Äußeren, in den Gesichtszügen teils an Aleksandr Blok, teils an Oscar Wilde erinnernd, S[ergej] Levik, Četvert’ veka v opere [Ein Vierteljahrhundert in der Oper], Moskau: Iskusstvo, 1970, S. 311. Inhaltlich analog wird die Anekdote auch bei Wolkow (Hrsg.), Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch (wie Anm. 31), S. 112–113, wiedergegeben. 48 Telegramm vom 14. 6. 1927, Briefwechsel Alban Berg – Helene Berg (wie Anm. 24), S. 470. In den Memoiren von Šostakovič (wie Anm. 31), S. 113, heißt es: „Die Premiere des ‚Wozzeck‘ verlief wirklich glänzend. Die Anwesenheit des Komponisten steigerte die Begeisterung“. In diesem Kontext ist jedoch auch davon die Rede, „dass die Repräsentanten der Obrigkeit ihn seltsam frostig begrüßt hatten“. Die Quelle erklärt das mit der Sorge über die Interpretin der Marie, Valentina Pavlovskaja, die an einer Angina erkrankt war und den Verlust ihrer Stimme befürchtete. 49 An dieser Stelle seien die Sänger der Aufführung vom 13. Juni namentlich genannt (vgl. das Programm der Aufführung in Konrad Vogelsang, Dokumentation zur Oper „Wozzeck“: Die Jahre des Durchbruchs 1925–1932, Laaber: Laaber, 1977, S. 37): Wozzeck – Bočarov (bei der Generalprobe – Serebrovskij), Marie – Pavlovskaja, Tambourmajor – Kuklin, Andres – Zaseckij, Hauptmann – Neždanov, Doktor – Bossė, 1. Handwerksbursche – Beljanin, 2. Handwerksbursche – Torgud, Narr – Tichij, Margret – Radzilovskaja, ein Soldat – Alekseev. 50 Es ist interessant, dass jener Jurij Šaporin zwanzig Jahre nach der Leningrader Premiere, im Lichte des Kampfs gegen den Formalismus in der sowjetischen Musik, an den verderblichen Einfluss der westlichen Opern, darunter des Wozzeck, erinnerte. Vgl. Vladimir Tarnopol’skij, „Voccek i my. Istorija odnogo ‚Vocceka‘ [Wozzeck und wir. Die Geschichte des einen ‚Wozzeck‘]“, in: Alʼban Berg, Voccek, Programmbuch zur Inszenierung des Moskauer Bol’šojTheaters am 24. November 2009, S. 74–77, hier S. 74. 51 Der Autor hat sich hier offenbar im Datum geirrt. 47

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hüllte sich in Schweigen. Während des Gastmahls beschränkte er sich auf einige, kaum gewichtige Aussprüche (ich erinnere mich nur noch, dass er einen Trinkspruch auf Georg Büchner ausbrachte, den Autor des Dramas „Woyzeck“), wenngleich er mit der Aufführung offenbar zufrieden war.52

Berg gab seiner Dankbarkeit gegenüber dem Theaterensemble nicht nur mündlich Ausdruck. Im Wiener Berg-Archiv haben sich vorskizzierte Dankesworte an das Orchester, an Radlov und Dranišnikov erhalten, die möglicherweise auf die von Berg verteilten Porträtfotografien übertragen wurden.53 Ohne Zweifel bedankte sich Berg auch bei den Sängern. Ihm seinerseits schenkte man zur Erinnerung an die Leningrader Premiere die Wozzeck-Nummer der Vierteljahresschrift Novaja muzyka [Neue Musik] mit den Unterschriften der Mitglieder der Leningrader Assoziation für zeitgenössische Musik (siehe Abbildung 2). Bergs Eindrücke von der Leningrader Aufführung spiegeln sich in den Telegrammen und Postkarten wider, die er an Helene,54 Anton Webern, Josef Polnauer,55 Erich Kleiber, Theodor W. Adorno, Soma Morgenstern und viele andere versandte. „Alles ist – wenigstens äußerlich – gut gegangen“, bekennt er Webern gegenüber eher zurückhaltend, um zugleich kundzutun, der „stärkste Eindruck von dieser Stadt sind die sogen. ‚weißen Nächte‘.“56 (Siehe Abb. 3 und 4.) An Kleiber schreibt er in ungleich begeisterterem Tone: „Nun ist auch hier unter allen Zeichen einer großen erfolgreichen Sensation der Wozzeck aufgeführt worden. Es war sehr schön“, nicht ohne ihm, dem ersten Interpreten des Werks, Reverenz zu erweisen.57 In der Ansichtskarte an Adorno ist die Rede von einer Darbietung „in ganz expressionistisch konstruktiver Regieaufmachung“.58 Am meisten hat er Morgenstern, dem Schriftsteller und engen Freund, einem wahrhaft Kundigen auch in Regiefragen, mitzuteilen, „über das herrliche Rußland, über Polen, über das Theater hier. Auch Stanislawski ist hier; er war sehr begeistert vom Wozzeck.“59 52 Michail Druskin, Issledovanija. Vospominanija [Studien, Erinnerungen], Leningrad: Sovetskij kompozitor, 1977, S. 211. 53 ÖNB, MS F 21, Berg 480/88/1,2; Berg, Handschriftliche Briefe, Briefentwürfe (wie Anm. 19), S. 58. 54 Briefwechsel Alban Berg – Helene Berg (wie Anm. 24), S. 469f. 55 Wien, Wienbibliothek im Rathaus, HS I.N. 184.053. 56 Ebd., HS I.N. 185.668. 57 Alban Berg – Erich Kleiber: Briefe der Freundschaft, hrsg. von Martina Steiger, Wien: Seifert, 2013, S. 60. 58 Theodor W. Adorno und Alban Berg, Briefwechsel 1925–1935, hrsg. von Henri Lonitz (Theodor W. Adorno, Briefe und Briefwechsel, 2), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, S. 151. 59 Postkarte vom 14. 6. 1927, in: Soma Morgenstern, Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, hrsg. von Ingolf Schulte, Lüneburg: zu Klampen, 1995, S. 182.

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Abbildung 2: Vorsatzblatt der Wozzeck-Nummer der Vierteljahresschrift Novaja muzyka mit den Unterschriften der ASM-Mitglieder60 ÖNB, MS F 21, Berg 3158, Bergs Exemplar von „Voccek“ Alʼbana Berga [Alban Bergs „Wozzeck“], Leningrad: Triton, 1927 (Novaja muzyka. Sborniki Leningradskoj Asociacii sovremennoj muzyki [Neue Musik. Sammelbände der Leningrader ASM], 1. Jg. Heft 4). – Transkription: „Herrn Alban Berg / zur Erinnerung an die Leningrader / Aufführung des Werkes. / Leningrad, / 15. Juni 27 / Leningrader Association / für moderne Musik. [Rechte Spalte:] G. Schaporin (Jur. Šaporin) / Simon Ginsburg / J. Eidlin / M Druskin / A. Kamensky / D Schostakowitsch / Vl. Deševov / (Vl. Deschevow) / N. Strelnikow. / W. Dranischnikof. / C. v. Juferoff. [Linke Spalte:] J. Waynkop. Joseph Schillinger[,] B. Assafieff (Igor Glebow)[,] Nik. Malko[,] S. Lewik[,] Sergei Radlow[,] J. Rappaport“. 60

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Abbildungen 3 und 4: Postkarte Bergs an Anton Webern vom 14. 6. 192761

Der Politik fernstehend hatte Berg eine „Oper des sozialen Mitleids“ geschrieben und war nun unsagbar froh angesichts der unpolitischen Rezeption des Werks in Sowjetrussland: „Die Wozzeck-Aufführung war tatsächl[ich] eine Sen61

Wien, Wienbibliothek im Rathaus, HS I.N.185.688.

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sation für Petersburg, aber keine politische[,] sondern eine rein künstlerische. Überhaupt war es für mich erstaunlich[,] wie wenig das Politische – u. noch dazu in einer so kritischen Zeit – dort zu verspüren war.“62 Offenbar hatte er sehr befürchtet, sein Werk könnte zu einem Spielball ideologischer Auseinandersetzungen werden. Während seines Leningrad-Aufenthalts gab Berg der Krasnaja gazeta und den Zeitschriften Rabočij i teatr und Rabis Interviews. Die Krasnaja gazeta zitierte ihn mit den Worten: War die Inszenierung des „Wozzeck“ in Berlin ziemlich realistisch und wichen die Darsteller, mit Ausnahme Leo Schützendorfs – des vorzüglichen Wozzecks –, nicht wirklich von den traditionellen Opernmustern ab, so kann man angesichts der Neuheiten der hiesigen Inszenierung nur ins Staunen kommen. Nicht nur die innovative, der Musik nirgends widersprechende Ausstattung frappiert, sondern auch eine für westliche Opernhäuser ganz ungewöhnliche Ensembleleistung. Dergleichen Sorgfalt in der Ausgestaltung von Volksszenen kennt der Westen nicht. Einwände könnten höchstens die Bildwechsel bei offenem Vorhang hervorrufen, da sie die Zuschauer von der Musik ablenken.63

„Das Orchester meisterte seine Aufgabe ganz hervorragend“, heißt es im Interview der Zeitschrift Rabočij i teatr, Regie und Bühnenbild trafen sich in einer hochinteressanten Verbindung von konstruktivistischer Inszenierung und Expressionismus mit romantischen Elementen. Auch die Sänger erstaunten mich über alle Maßen, solche Stimmen haben wir nicht. Einen besonders starken Eindruck machte die Pavlovskaja auf mich, eine ganz wunderbare Sängerin und wahrhaft große und bemerkenswerte Künstlerin. 64 Die russische Sprache klingt gut, sie ist biegsam und gesanglich wie die italienische Sprache. Ich bin überrascht von der hohen Theaterkultur Russlands und ihrer Interpreten. 65

Im Interview mit Michail Druskin für Rabis bewertet Berg die Leningrader Inszenierung zustimmend, gibt seinem „Erstaunen über die große Anzahl erstklassiger Sänger […] selbst in den Nebenrollen“ Ausdruck und hebt „ihre schauspielerische Meisterschaft“, die der Regisseur „höchst originell und wunderbar zur Geltung“ bringe, hervor, das „feinfühlige und temperamentvolle“ Dirigat, insbeBrief an Morgenstern vom 3. Juli 1927; ebd. S. 185–188, hier S. 186. O. Verf., „U Albana Berg [Bei Alban Berg]“, in: Krasnaja gazeta, 1927 Nr. 157 (1475, 14. Juni, Abendausgabe), S. 4. 64 Die Interpretin der Marie, Valentina Konstantinovna Pavlovskaja (1884–1947), wurde in der UdSSR bekannt als die erste Darstellerin der Salome in der gleichnamigen Oper von Richard Strauss. 65 Zit. nach Vajnkop, „Berg o ‚Vocceke‘“ (wie Anm. 40). 62 63

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sondere aber das Bühnenbild Levins, das sich zwar nicht ganz mit seinen Absichten decke, aber Scharfsinn und Eigenart offenbare (die Szenen in der Kaserne und in der Schenke hält Berg für die gelungensten). Während des Banketts nach der Aufführung hatte Berg die Möglichkeit, das Schaffen der jungen Leningrader Komponisten kennenzulernen, das ihn „in der Vielfalt der Stile, der schöpferischen Physiognomien und sogar der Genres“ beeindruckte. Der letzte Satz des Interviews klingt recht optimistisch, heißt es doch dort, dass Berg „seinen Leningrad-Aufenthalt als ‚Generalprobe‘ eines künftigen Besuchs“ ansehe.66 Wenden wir uns nunmehr den Künstlern der Aufführung zu. Unter ihnen ist in erster Linie Sergej Ėrnestovič Radlov (1892–1958) zu nennen, ein Regisseur der extremen Linken, hervorgegangen aus der Mejercholʼd-Schule und führender Vertreter der neuen Theaterkunst am GATOB. Er hatte diverse Opern inszeniert, z. B. Franz Schrekers Der ferne Klang, Prokofʼevs Liebe zu den drei Orangen, Modest Musorgskijs Boris Godunow und Richard Strauss’ Rosenkavalier. Als er sich mit Bergs Oper zu beschäftigen begann, blickte er bereits auf Regie-Erfahrungen mit dem expressionistischen Drama zurück,67 die nun in die Wozzeck-Inszenierung einflossen. Radlov „stellte sich die Aufgabe, ein Kammerspiel zu schaffen, das gänzlich auf die Freilegung der sozialen und psychologischen Dramatik der Helden konzentriert sein sollte.“68 Die Handlung entfaltete sich „auf einer kleinen, in die bewegliche Gesamtbühne einmontierten Spielfläche“69 − hier zeigten sich Einflüsse von Mejercholʼds Revisor-Inszenierung (1926). Radlovs Regie überzeugte durch meisterhaft geführte Massenszenen und ingeniöse Lichteffekte. Er zielte auf eine Synthese neuer Art, die er musikalische Tragödie nannte, auf einen neuen Typus von Musiktheater, bei dem das Theater als solches zur Hauptsache avancieren sollte.70 Nach Wien zurückgekehrt, schickte Berg dem GATOB einen Klavierauszug mit Hinweisen für den Regisseur und den Dirigenten.71 Ihm fügte er einen (vom 16. August 1927 datierten) Brief mit diversen Wünschen bei, in dem er vor Zit. nach M[ichail] D[ruskin], „U Albana Berga [Bei Alban Berg]“, in: Rabis, 1927 Heft 25 (67), S. 11. 67 In der UdSSR hatte man seinerzeit hinreichend genaue Vorstellungen von der Dramaturgie des expressionistischen Theaters: So hatte etwa Ernst Toller das Land besucht, und die Stücke Walter Hasenclevers erfreuten sich großer Verbreitung. 68 A[bram] Gozenpud, Russkij sovetskij opernyj teatr (1917–1941). Očerk istorii [Das russisch-sowjetische Operntheater (1917–1941). Ein Abriss seiner Geschichte], Leningrad: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1963, S. 130. 69 Ebd. 70 Eine kritische Einschätzung Radlovs stammt interessanterweise von Sergej Levik, der dem Regisseur Unkenntnis und Nichtbeachtung der Musik vorwarf, vgl. Levik, Četvert’ veka v opere (wie Anm. 47), S. 334–335. 71 Wo sich dieser Klavierauszug heute befindet, ist unbekannt. 66

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allem die Notwendigkeit genauer Szenenwechsel und ihrer Synchronisierung mit der Musik betonte.72 Der Chefdirigent des GATOB, Vladimir Aleksandrovič Dranišnikov (1893–1939), studierte mehrere Werke in Zusammenarbeit mit Radlov ein, unter ihnen Der ferne Klang und Wozzeck. Von seiner Begabung zeugte laut Bogdanov-Berezovskij, dass er „in der Lage war, mit einem Minimum an Probenaufwand ein Höchstmaß an Ausdruckskraft zu erlangen“; überdies war er für seine herausragende Fähigkeit bekannt, sich ihm unbekannte zeitgenössische Musik vom Blatt lesend zu erschließen. Dranišnikovs kollegialer Probenstil (in Interaktion mit Regisseur und Bühnenbildner, den Korrepetitoren und der Chorleitung) wurde zu einem Musterbeispiel für die Regieteams der damaligen Zeit. Die komplexe Partitur des Wozzeck erwies sich für alle Musiker als eine Herausforderung, auch für diejenigen, die bereits im Bereich der zeitgenössischen Oper Erfahrungen hatten sammeln können. Doch Dranišnikov „überwand rasch die ‚Hürde‘ des Misstrauens, nachdem er den Ausführenden die Geheimnisse der Mikrodynamik und -agogik nahegebracht hatte […]. Er lehrte sie echte Expressivität, wie etwa im Artikulieren von Einzeltönen, verdeutlichte die dramaturgische Funktion von Pausen, verhalf Rezitier-Einsprengseln zu melodiösem Gepräge und ungewöhnlichen Klangfarbenverbindungen zu Ausdruck.“73 Berg schätzte die Arbeit des Dirigenten sehr hoch ein und bekannte, „eine derartige Aufführung des ‚Wozzecks‘ noch nicht gehört zu haben; den Erfolg schrieb er in erster Linie Dranišnikov zu.“74 Wieder in Wien, schickte der Komponist Dranišnikov in Begleitung des erwähnten Klavierauszugs einen Brief (datiert vom 15. August 1927). In diesem bat er darum, „einige Tempo-Modifikationen“ zu beherzigen und verweist auf Stellen, wo eine „Abdämpfung des Orchesters“ gefordert sei, ebenso auch ein Piano bei den Sängern und Sprechern: „Vieles in den melodramatischen Teilen ist so zart instrumentiert, dass jedes – auch das leise gesprochene – Wort durchklingt.“ Alle diese Wünsche hätten nur ein einziges Ziel, „dass auch für ein unvorbereitetes Publikum jederzeit völlige musikalische Klarheit herrscht.“75 Der Sänger der Titelpartie, Michail Vasil’evič Bočarov (1872–1936), begann seine künstlerische Laufbahn noch im ausgehenden 19. Jahrhundert und beFaksimiliert bei Alban Berg, Maschinenschriftliche und handschriftliche Briefe, Briefentwürfe, Skizzen und Notizen. Aus den Beständen der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, hrsg. von Herwig Knaus und Thomas Leibnitz, Wilhelmshaven: Noetzel, 2005 (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte, 34), S. 154–156. 73 Bogdanov-Berezovskij, Dorogi iskusstva (wie Anm. 46), S. 81, 83f. 74 Levik, Četvert’ veka v opere (wie Anm. 47), S. 311. 75 Faksimiliert bei Berg, Maschinenschriftliche und handschriftliche Briefe (wie Anm. 72), S. 36f. (Hervorhebungen im Original durch Unterstreichung). 72

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endete sie erst mit 62 Jahren. Sein Repertoire umfasste 93 Partien. Bočarov hatte die Belcanto-Schule des berühmten belgischen Pädagogen Camille Everardi absolviert. In der Folge trat er nicht nur mit klassischem, sondern auch mit zeitgenössischem Repertoire hervor. Die Rolle des Wozzeck wurde zu einer seiner Glanzpartien.76 Bei Sergej Levik heißt es: „Die Kurzhalsigkeit des Sängers, eine gewisse Untersetztheit und ein leichtes Hinken, sowie sein von Natur aus wenig ausdrucksstarkes Gesicht, dem er kunstvoll stumpfsinnige Züge angedeihen ließ, halfen dem Künstler bei der Verkörperung dieses einfältigen, unterdrückten und verängstigten Menschen.“77 In seiner Deutung der Rolle erstaunten große Vielfalt und rasche Wechsel der Seelenzustände: „Da gab es völlige Apathie, das Aufblitzen tierischer Gefühle des Selbsterhalts, dann auch Angst und Hass.“78 Die Gestaltung des Bühnenbilds war Moisej Zelikovič Levin (1895–1946) anvertraut, der damals an diversen Theatern in Moskau und St. Petersburg wirkte. Noch unter dem Eindruck der Gräuel des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs stand ihm die Wozzeck-Thematik nahe. So kreierte er in der Figur des Wozzeck „ein tragisches Bild der Einsamkeit und Ruhelosigkeit des Menschen“,79 indem er den Raum deformierte, direkte und umgekehrte Perspektiven miteinander verband und das Alltägliche mit einer symbolischen Dimension versah. Ein Lichtstrahl des Scheinwerfers erfasste die Bühne – der Fleck, auf dem sich die Handlung entfaltete […]. Die abschüssige Decke der Kaserne war von zwei Pfeilern gestützt; die Soldaten schliefen in einer dichten Reihe, wie Säcke dahingestreut; alle Bewegungen warfen scharfe Schatten gegen die Wand und die Decke. Ähnlich treffend in den Details stellten sich auch das Zimmer des Hauptmanns dar, die kleine Schenke und die Hütte der Marie, deren Kargheit weniger den Behausungen als solchen galt als der seelischen Verfasstheit ihrer Bewohner: in Form niederdrückender Decken und enger Wände, in Gestalt gekrümmten Mobiliars.80

Die Übersetzung des Librettos übernahm der russische Schriftsteller Michail Kuzmin (1875–1936), der später auch die Texte der Sieben frühen Lieder Bergs ins Russische übertragen sollte. Früher viele Jahre den Kaiserlichen Theatern verbunden, arbeitete er nun für die akademischen Theater als Übersetzer, Komponist Zu Bočarov vgl. auch Boris Asaf’ev, „Voccek [Wozzeck]“ (1927), in ders., Ob opere. Izbrannye statʼi [Zur Oper. Ausgewählte Aufsätze], Leningrad: Muzyka, 1976, S. 275–277, hier S. 276. 77 Levik, Četvert’ veka v opere (wie Anm. 47), S. 425. 78 Ebd. 79 Elena Strutinskaja, Iskanija chudožnikov teatra: Peterburg – Petrograd – Leningrad: 1910 – 1920-e gody [Das Suchen der Theaterkünstler: St. Petersburg – Petrograd – Leningrad: 1910er und 1920er Jahre], Moskau: GII, 1998, S. 203. 80 Ebd. 76

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Abbildung 5: Moisej Levin, Bühnenbild zum dritten Bild des ersten Aktes der Oper Wozzeck (Mariens Stube)81

Abbildung 6: Moisej Levin, Bühnenbild zum zweiten Bild des dritten Aktes der Oper Wozzeck (Waldweg am Teich)82 81 82

ÖNB, MS 1587/5. ÖNB, MS 1587/6.

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und Musikkritiker.83 Kuzmin vertrat den Grundsatz, Übersetzungen müssten 83 und Musikkritiker. vertrat oder den jene Grundsatz, Übersetzungen müssten geistreich und flexibelKuzmin sein, da „diese Kunstmittel stets aufs Neue dem 84 Kunstmittel stets aufs Neue dem geistreich und flexibel sein, da „diese oder jene gegebenen Fall angepasst auszuwählen sind“, wobei er Verbesserungsvorschlägegebenen Fall angepasst sind“,84 wobei er Verbesserungsvorschlägen leicht zustimmte. Das auszuwählen belegt das überlieferte Exemplar des Wozzeck-Klavier85des Wozzeck-Klaviergen leicht zustimmte. Das belegt das überlieferte Exemplar auszugs, das nur so von Übersetzungsvarianten wimmelt. 85 auszugs, dasgefiel nur sodie vonÜbersetzung Übersetzungsvarianten wimmelt. Berg des Librettos, er lobte die Schönheit und Bergder gefiel die Übersetzung des Librettos, er lobte die Schönheit und Weichheit russischen Sprache, äußerte aber in einem persönlichen Gespräch Weichheit der russischen Sprache, äußerte aber in einem persönlichen Gespräch mit Sergej Levik, den er irrtümlich für den Übersetzer hielt, den Wunsch: „Die mit SergejLeute Levik,[…] densollten er irrtümlich fürderberen den Übersetzer hielt, denIch Wunsch: „Die einfachen in einem Idiom sprechen. hätte gerne einfachen Leute […] sollten in einem derberen Idiom sprechen. Ich hätte gerne mehr Konsonantisches und Fauchendes im Klang, vor allem wenn die Protagonimehr Konsonantisches und Fauchendes im Klang,überhaupt vor allem nicht, wenn aber die Protagonisten schimpfen. Zwar verstehe ich das Russische als slawisten schimpfen. Zwar verstehe ich das Russische überhaupt nicht, aber als slawische Sprache dürfte es dem Polnischen verwandt sein, und dort gibt es viel Zi86 sche dürfte esDiesem dem Polnischen verwandt sein, und die dortMoskauer gibt es viel ZischenSprache und Pfeifen.“ Wunsch trug 80 Jahre später Insze86 schen und Pfeifen.“ Diesem für Wunsch trug 80eine Jahre später die Moskauer Inszenierung teilweise Rechnung, die eigens neue Übersetzung angefertigt 87 teilweise Rechnung, für die eigens eine neue Übersetzung angefertigt nierung wurde. Allerdings erfuhr schon Kuzmins Übersetzung Retuschen. Einige der im 87 wurde. Allerdings erfuhr schonÄnderungen Kuzmins Übersetzung Retuschen. Einige der So im Klavierauszug dokumentierten sind dabei recht aufschlussreich. Klavierauszug dokumentierten Änderungen sind dabei recht aufschlussreich. So wird in der Übertragung des deutschen „Mann! – Und Du bist auch ein Weibswird in(Marie der Übertragung des deutschen „Mann! –aus Und Duursprünglichen bist auch ein Weibsbild!“ – Tambourmajor, I/5, T. 686–688) dem „Slyšʼ! bild!“ – Tambourmajor, T. 686–688) ursprünglichen – Da ty(Marie vedʼ tože duška [Hör! – I/5, Du bist doch auchaus ‘nedem Süße]“ das derbere„Slyšʼ! „Čort! – Da ty vedʼ tože duška [Hör! – Du bist doch auch ‘ne Süße]“ das derbere „Čort! I ty babenka, znaešʼ [Teufel! – Und du bist ein Weib, du weißt es]“.88 Bei – I ty babenka, znaešʼ [Teufel!von – Und du bist auch Weib, weißtSargnagel es]“.88 Bei– der gegenseitigen Begrüßung Hauptmann und ein Doktor alsdu„Herr der gegenseitigen Begrüßung von Hauptmann und Doktor als „Herr Sargnagel – Vgl. P. Dmitrijev, „‚Akademičeskij‘ Kuzmin [Der ‚akademische‘ Kuzmin]“, in: Russian russkoj filologii i Kuzmin kul’tury [Vierteljahresschrift russischein: Philologie Vgl. P.Ežekvartal’nik Dmitrijev, „‚Akademičeskij‘ [Der ‚akademische‘ für Kuzmin]“, Russian und Kultur], 1. Jg. Heft russkoj 3 (1995), S. 142–235. Studies: Ežekvartal’nik filologii i kul’tury [Vierteljahresschrift für russische Philologie 84 Ebd., S. 143. und Kultur], 1. Jg. Heft 3 (1995), S. 142–235. 85 84 Die Zentrale Ebd., S. 143. Musikbibliothek des Mariinskij-Theaters in St. Petersburg [Central’naja 85 muzykal’naja biblioteka Mariinskogo – CMB] besitzt drei (im Petersburg Verlag Universal Edition Die Zentrale Musikbibliothek desteatra Mariinskij-Theaters in St. [Central’naja erschienene) Wozzeck-Klavierauszüge, die bei der Einstudierung desVerlag WerksUniversal zum Einsatz kamuzykal’naja biblioteka Mariinskogo teatra – CMB] besitzt drei (im Edition men: je einer Wozzeck-Klavierauszüge, durch den Dirigenten (bezeichnet 1), den Regisseur (Nr. 9) undEinsatz den Souferschienene) die bei als derNr. Einstudierung des Werks zum kafleur (Nr. 16).durch In allen finden sich konvergierende handschriftliche zur men: je einer den dreien Dirigenten (bezeichnet als Nr. 1), den Regisseur (Nr.Ergänzungen 9) und den SoufÜbersetzung, Titelblatt Haupttext alshandschriftliche auch Randglossen und sogar zur die fleur (Nr. 16).sowohl In allendas dreien findenund sichden konvergierende Ergänzungen Namen der Protagonisten Vgl.den auchHaupttext Barsova, „Nigde ne prinjaliund moego ‚VocÜbersetzung, sowohl dasbetreffend. Titelblatt und als auchlučše Randglossen sogar die ceka‘“ Anm. 1), S. 141f. Eine maschinenschriftliche Kopie der Übersetzung des Librettos Namen(wie der Protagonisten betreffend. Vgl. auch Barsova, „Nigde lučše ne prinjali moego ‚Vocist in der St.Anm. Petersburger Theater-Bibliothek [Teatral’najaKopie biblioteka Sankt-Peterburga] unter ceka‘“ (wie 1), S. 141f. Eine maschinenschriftliche der Übersetzung des Librettos der 1a (A), B-48/10, Nr. 50586 archiviert. ist inSignatur der St. Petersburger Theater-Bibliothek [Teatral’naja biblioteka Sankt-Peterburga] unter 86 Četvert’ veka v opereNr. (wie Anm.archiviert. 47), S. 311. derLevik, Signatur 1a (A), B-48/10, 50586 87 86 Vgl. dieČetvert’ Übersetzung Ju.(wie Lukjanova in: Alʼban Levik, veka vvon opere Anm. 47), S. 311. Berg, Voccek, Programmbuch Moskau 87 2009 50), S. 96–135. Vgl.(wie die Anm. Übersetzung von Ju. Lukjanova in: Alʼban Berg, Voccek, Programmbuch Moskau 88 Keine beiden wurde in die endgültige Übersetzung der russischen Ausgabe 2009 (wieder Anm. 50),Varianten S. 96–135. 88 desKeine Werks Vgl. Al’ban Berg, Voccek.Übersetzung Klavir [Klavierauszug], Leningrad: deraufgenommen. beiden Varianten wurde in die endgültige der russischen Ausgabe Muzyka, 1977. des Werks aufgenommen. Vgl. Al’ban Berg, Voccek. Klavir [Klavierauszug], Leningrad: Muzyka, 1977. 83

83 Studies:

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[…] Herr Exerzizengel“ (II/2, T. 176–178) wandelt sich die Anrede an den Doktor aus „moj červʼ grobnyj [mein Grabeswurm]“ in das ausdruckstärkere „pan Grobčenko [etwa: Pan Sargitzki]“, während der Hauptmann zunächst als „moj plac parad voin [mein Platzparaden-Führer]“ bezeichnet wird, dann als „pan Muštroval’čenko [etwa: Pan Exerzierski]“.89 Interessanterweise gab es Berührungen zwischen Berg und Kuzmin über die Übersetzung des Librettos und der Texte der Sieben frühen Lieder hinaus. Auf die Namen beider stößt man schon im Blauen Reiter von 1912, dem von Vasilij Kandinskij und Franz Marc edierten Kunstalmanach ‒ dort sind ebenso Bergs Lieder op. 2 auf Gedichte von Albert Mombert wie auch Verse von Michail Kuzmin publiziert, und zwar das vierte Ghasel aus dem Sonettenkranz Der Kranz der Frühlinge in einer Nachdichtung von Kandinskij.90 Und wenige Monate nach der Leningrader Premiere lernte Berg Kuzmins Novellenband Die grüne Nachtigall kennen91 und gab seiner Begeisterung mit den Worten Ausdruck: „Diese kleinen Novellen sind allerdings etwas ganz exceptionelles und in ihrer Art höchstes Niveau. […] Und jetzt erst bin ich froh und stolz, dass ein so grosser Künstler wie Sie, Meister, an meinen ‚Wozzek‘ [sic] (indem Sie ihm Ihre Sprache gaben) mitgearbeitet hat.“92 Gleichwohl bestand Berg auf einer neuen Übersetzung im Falle weiterer Inszenierungen in der UdSSR. Genannt werden in diesem Zusammenhang das Moskauer Bolʼšoj-Theater und die Opernbühnen in Kiew, Charkow und Odessa.93

Anmerkung des Übersetzers: Offenbar wurde Bergs Wunsch nach polnischer ‚Färbung‘ entsprochen. So bediente man sich der Ansprache „Pan“ (polnisch: Herr) und der auf „grob“ (Sarg) und „muštrovatʼ“ (exerzieren, drillen) basierenden, ukrainisch anmutenden Phantasienamen „Grobčenko“ und „Muštroval’čenko“. 90 Vgl. S[olomon] Volkov und L[azar] Flejšman, „Al’ban Berg i Michail Kuzmin (K 50-letiju so dnja premʼery ‚Vocceka‘) [Alban Berg und Michail Kuzmin (zum 50. Jahrestag der ‚Wozzeck‘-Premiere)]“, in: Russian Literature Triquarterly, Nr. 14 (Winter 1976), S. 451–456, hier S. 453. 91 Michail Kusmin, Die Grüne Nachtigall und andere Novellen (Erzähler des Auslandes, 6), aus dem Russischen übertragen von Alexander Eliasberg, Weimar: Kiepenheuer, 1918. 92 Zit. nach Volkov und Flejšman, „Al’ban Berg i Michail Kuzmin“ (wie Anm. 90), S. 452 (Hervorhebung im Original). – Der Brief an Kuzmin wurde vor dem 15. November 1927 an die Adresse Nikolaj Strel’nikovs gesendet, begleitet von einem Brief an diesen selbst. In seiner Antwort vom 15. November vermeldet Strel’nikov die Übergabe des Briefes (ÖNB, MS F 21, Berg 1422/1). 93 Im Brief an Anton Webern vom 10. August 1927 teilte Berg mit: „Der Wozzeck ist so viel wie sicher in 3 russischen Städten (Odessa, Kiew, Charkow) angenommen. Moskau ist noch nicht sicher.“ (Typoskript, Wien, Wienbibliothek im Rathaus, Musiksammlung, Briefwechsel Alban Berg – Anton Webern.) 89

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Über die Inszenierung der Oper am Bolʼšoj-Theater hatte Berg bereits während seines Leningrad-Aufenthalts verhandelt. Die Initiative hierzu war offenbar vom damaligen künstlerischen Leiter des Hauses, Iosif Michajlovič Lapickij (1876–1944), ausgegangen, der 1912 das Musikdramatische Theater [Teatr muzykal’noj dramy] in St. Petersburg gegründet hatte.94 Lapickij, ein kühner Experimentator und erklärter Gegner des eingefahrenen Opernbetriebs, versuchte diesen durch ein psychologisch durchdachtes Musiktheater zu ersetzen.95 Er gestattete sich dabei Eingriffe in die Partitur, ließ Kürzungen und Änderungen des Notentextes ebenso wie der Handlung zu. Allem Anschein nach hatte Lapickij den Komponisten um einen Kommentar zum sozialen Gehalt der Oper gebeten, der ihm die Dringlichkeit der Moskauer Wozzeck-Inszenierung begründen helfen sollte. Als Berg dann im Sommer Materialien zum Wozzeck zusammenstellte, erfüllte er diese Bitte und übersandte Alexander Landaus Aufsatz „Die Musik und das soziale Problem“.96 Zur Problematik des sozialen Gehalts bekannte er: „dies kann kaum besser gesagt werden, als dies Alex. Landau im beiliegenden Artikel tut. Jedenfalls könnte ich fast jedes Wort dieses mir (nebenbei gesagt:) persönlich nicht bekannten Autors unterschreiben“.97 Beljaev vermeldete dem Komponisten die Aufnahme des Wozzeck in die Repertoireplanung des Bolʼšoj-Theaters im Brief vom 28. September 1927.98 Er kam darauf erneut im Folgebrief vom 26. Oktober 1927 zu sprechen, mit der Bemerkung, dass die Angelegenheit noch nicht entschieden sei („remains still undecided“).99 Die Idee der Moskauer Aufführung blieb mindestens ein Jahr lang in der Schwebe. Ein bemerkenswerter Hinweis auf die kommende Saison des Bergs Aufzeichnungen zufolge besuchte ihn am 14. Juni ein „Regisseur von Ukraine“ (ÖNB, MS F 21, Berg 479/41, f. 16). Höchstwahrscheinlich war dies eben Iosif Lapickij, der von 1925 bis 1927 in der Ukraine gearbeitet hatte und sich nun anschickte, zum dritten Mal die Leitung des Bolʼšoj-Theaters zu übernehmen. 95 Vgl. Vasilij Rafalovič (Hrsg.), Istorija sovetskogo teatra: Očerki razvitija [Geschichte des sowjetischen Theaters: Ein Abriss seiner Entwicklung], Bd. 1: Petrogradskie teatry na poroge Oktjabrja i v ėpochu voennogo kommunizma: 1917–1921 [Die Petrograder Theater an der Schwelle der Oktoberrevolution und in der Phase des Kriegskommunismus: 1917–1921], Leningrad: Gosudarstvennoe izdatel’stvo chudožestvennoj literatury [Staatsverlag für künstlerische Literatur], 1933, S. 347–350. 96 Alexander Landau, „Die Musik und das soziale Problem“, in: Musikblätter des Anbruch, 8. Jg. Heft 6 (Juni-Juli 1926), S. 273–276. 97 Brief vom 9. August 1927, zit. nach Solomon Wolkoff, „Ein unbekannter Brief Alban Bergs“, in: Österreichische Musikzeitschrift, 34. Jg. Heft 11 (November 1979), S. 559–561, hier S. 559. 98 ÖNB, MS F 21, Berg 543/3. 99 ÖNB, MS F 21, Berg 543/4. 94

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Bolʼšoj-Theaters findet sich im November 1928 in der Zeitschrift Die Musik, wo es heißt, man stehe „vor einer völligen Umgestaltung der Großen akademischen Oper. Sowohl bühnentechnisch als künstlerisch sollen eingreifendste Maßregeln unternommen werden.“100 Unter den Novitäten westlicher Provenienz wird hier auch der Wozzeck genannt. Dies indes blieben nur Träume. Solomon Volkov spricht von einer reservierten Haltung gegenüber der Oper Bergs in Moskau. Hier spielte wohl auch das Konkurrenzverhältnis der beiden Städte eine Rolle, ferner der stärkere Einfluss der RAPM sowie eine deutliche Abneigung gegen alles Westliche. Lapickij gab kurz darauf seine Stellung auf, sodass alle Hoffnungen auf eine Moskauer Wozzeck-Aufführung, ungeachtet der Unterstützung des Volkskommissars für das Bildungswesen Anatolij Lunačarskij, im Winde zerstoben.101 Auch zu den Aufführungen in der Ukraine kam es nicht, obwohl Kiew,102 Charkow und Odessa keineswegs zufällig genannt worden waren, denn die Welle des Interesses an der westlichen Oper hatte auch die ukrainischen Bühnen erfasst. Hier sei nur, in der Nachfolge der Leningrader und Moskauer Aufführungen, an die Inszenierungen von Jonny spielt auf in Kiew (1929) und in Odessa (1930) erinnert sowie an die einzige sowjetische Inszenierung des Maschinist Hopkins in Charkow (1931),103 einer Oper von Max Brand, den Berg stets als seinen Konkurrenten verstand. In Leningrad hielt sich der Wozzeck nicht einmal ein Jahr. Der Erstaufführung folgten sechs weitere Aufführungen: am 8. und 14. Oktober, am 19. November 1927, am 3. und 19. Januar sowie am 29. März 1928.104 Obwohl das Werk im Abonnement des Opern- und Balletttheaters für die Saison 1928/29 angekündigt war,105 kam es, soweit zu überblicken, zu keinen weiteren Darbietungen. Die Leningrader Premiere wurde in der Presse – in Musik- und Theaterzeitschriften wie auch Tageszeitungen – von ausführlichen Erläuterungen begleitet. Die 1920er Jahre dürfen ohne Übertreibung eine Zeit der aufblühenden Eugen Braudo, „Moskau“, in: Die Musik, 21. Jg. Heft 2 (November 1928), S. 150. Vgl. Wolkoff, „Ein unbekannter Brief Alban Bergs“ (wie Anm. 97), S. 561. 102 Ein Fragment des letzten Wozzeck-Bilds wurde von S. Bočarov in Kiew aufgeführt, vgl. Ja. Jurmas [d. i. Jurij Masjutin], „Sovremennja muzyka v Kieve [Zeitgenössische Musik in Kiew]“, in: Sovremennaja muzyka, 1928 Heft 28, S. 117–119, hier S. 118f. 103 Vgl. Aleksandr Čepalov, Sud’ba peresmešnika ili Novye stranstvija kapitana Frakassa. Teatral’nyj roman-issledovanie [Das Schicksal eines Spötters oder die neuen Fahrten des Kapitäns Fracasse. Eine Theaterroman-Untersuchung], Charkow: Folio, 2001. 104 Diese Angaben folgen den Anzeigen der Zeitschrift Rabočij i teatr. 105 Der Wozzeck war für das erste Abonnement an Dienstagen und das sechste an Freitagen vorgesehen, d. h., es waren mindestens zwei Aufführungen geplant (vgl. Žiznʼ iskusstva, 1928 Heft 18, Titelrückseite und S. 1). 100 101

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Kunstkritik genannt werden. Ereignisse im Musikbereich spiegelten sich in ausführlichen Besprechungen vieler Zeitschriften wider, die sich der Propagierung einer schichtenübergreifenden Kultur verschrieben hatten (wie Žiznʼ iskusstva, Rabočij i teatr, Teatr i revoljucija [Theater und Revolution]) und inhaltlich sowohl auf Fachleute wie den Musikliebhaber abzielten. Unter ihnen spielten die ASM-Zeitschriften K novym beregam [Zu neuen Ufern], Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik] und die Wozzeck-Sonderausgabe des Sammelbands Novaja muzyka [Neue Musik] eine wichtige Rolle. Anlässlich der Leningrader Premiere wurde über Bergs Schaffen als Ganzes berichtet, über die Quellen der Oper und ihre Berliner und Prager Premieren. Große Aufmerksamkeit galt dabei dem Rezipienten und seiner Vorbereitung auf das Hören der komplizierten zeitgenössischen Partitur. Diese Aufgabe hatte Boris Asafʼev übernommen, der Innovationen in der Oper für unumgänglich hielt und darlegte, wie wichtig Bergs Oper für Sowjetrussland sei. Wiederholt traten auch der Regisseur Sergej Radlov und der Dirigent Vladimir Dranišnikov mit Kommentaren zum Wozzeck hervor, in denen sie ihre Interpretationsansätze erläuterten. Die Besprechungen der Premiere lieferten zunächst vor allem Einschätzungen der Darsteller der Hauptrollen, während spätere Veröffentlichungen stärker eher auf ganzheitliche und interpretatorisch ausgefeilte Charakterbeschreibungen des Werks abzielten. So wurde Asafʼevs Aufsatz „Muzyka ‚Vocceka‘ [Die Musik des ‚Wozzeck‘]“ zum Ausgangpunkt der musikwissenschaftlichen Rezeption Bergs in Russland überhaupt und zum Mustertext für nachfolgende Generationen von Musikwissenschaftlern. Asafʼevs Analyse gilt den Besonderheiten der Dramaturgie und der Komposition der Oper, in deren Rahmen er Fragen der Genese des Bergʼschen Opern- und Orchesterstils, der Spezifik des vokalen Intonierens und der sinfonischen Dimension des Werks streift. Mit dem Wozzeck ist für Asafʼev „eine Grenze musikdramatischen Ausdrucks in der westeuropäischen Oper“ erreicht.106 In allen damaligen Publikationen wird das Werk als (expressionistisches) Musikdrama angesprochen, das die Opernkonventionen aufkündigt. Durchgängig findet die soziale Problematik des Stoffes Interesse, entweder unter moralisch-ethischem Aspekt (in Parallele zu Dostoevskij) oder unter dem Klassengesichtspunkt (Mitleid mit den Unterdrückten) in der Tradition des künstlerischen Realismus (Musorgskij, Giuseppe Verdi, Emile Zola). Die Publikationen über den Wozzeck fügen sich in eine umfangreiche (von der Zeitschrift Žiznʼ iskusstva angestoßene) Diskussion über die Perspektiven des 106 Igorʼ Glebov [d. i. Boris Asafʼev], „Muzyka ‚Vocceka‘ [Die Musik des ‚Wozzeck‘]“, in: „Voccek“ Alʼbana Berga (wie Anm. 54), S. 29–39, hier S. 38. – Neuausgabe in Asaf’ev, Ob opere (wie Anm. 76), S. 278–284.

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sowjetischen Musiktheaters. In diesem Kontext wird der Wozzeck als ein Musterbeispiel von „Sozialisierung der Oper“ gedeutet, mit der sich neue Wege für Russlands Theater auftun, als zwar nur vorübergehende Erscheinung im sowjetischen Repertoire (da mit den Kunstmitteln eines fremden deutschen Expressionismus geschaffen), die sich nur solange halten werde, bis eine zeitgenössische sowjetische Oper das Licht erblickt habe. Anders als im Westen stieß der Wozzeck auf eine recht freundliche Aufnahme, negative Besprechungen fehlen ganz. Nicht erörtert wird das Problem der Operngattung in ästhetischer und kompositionstechnischer Hinsicht, darunter die so substanzielle Verwendung von Instrumentalformen als eine der zentralen Neuerungen Bergs. Nicht berührt wird auch, unter zu erwartenden negativen Vorzeichen, die Frage der Atonalität. Der soziale Aspekt der Oper lässt gleichsam alle ihre Neuerungen legitim erscheinen. Zudem würdigte man das Werk als Teil des aktuellen westeuropäischen Repertoires der späten 1920er Jahre und setzte es musikalisch (und theatralisch) in einen Zusammenhang mit Werken wie dem Fernen Klang von Schreker, dem Sprung über den Schatten von Krenek und der Liebe zu den drei Orangen von Prokofʼev. Stets wird auch hervorgehoben, welche großen Schritte alle Musiktheater in der laufenden Saison getan hätten („vom ‚Maskenball‘ zum Wozzeck, von der ‚Gelben Jacke‘ [Želtaja kofta] zu Krenek“107). Berg verfolgte sehr aufmerksam, wie seine Oper in Russland aufgenommen wurde. Mit Genugtuung registrierte er das Ausbleiben negativer Besprechungen; überdies ließ er sich einige Rezensionen übersetzen.108 Doch auch in der westlichen Presse wurde über die Leningrader Erstaufführung berichtet.109 Die Leningrader Aufführung blieb weiterhin ein Thema in Bergs Briefwechsel. Am 8. Oktober 1927 wurde der Wozzeck mit kleinen Änderungen wiederaufgenommen (so hatte man einen Teil der Deckenkonstruktion entfernt und

P[etr] Konskij, „Ak. Opery i malyj [Akademisches und Kleines Operntheater]“, in: Rabočij i teatr, 1927 Heft 26 (145, 28. Juni), S. 6. 108 Im Berg-Archiv befinden sich Übersetzungen der in der Zeitschrift Rabočij i teatr, 1927 Heft 25, veröffentlichten Beiträge von Stefan Mokulʼskij, B. Valerianov (d. i. Valerian Bogdanov-Berezovskij) und Julian Vajnkop (ÖNB, MS F 21, Berg 2545) sowie des Aufsatzes von Vladimir Dranišnikov in Heft 23 derselben Zeitschrift (ebd., Berg 3123/177). Des Weiteren hatte man Berg Ausschnitte aus der Krasnaja gazeta und der Zeitschrift Žiznʼ iskusstva geschickt; dazu kam schließlich das Geschenk des Wozzeck-Sammelbandes der Reihe Novaja muzyka [Neue Musik] (wie Anm. 54; siehe auch Abbildung 2). 109 Igor Glebow „Russland“, in: Musikblätter des Anbruch, 10. Jg. Heft 1 (Januar 1928), S. 22f., hier S. 23; Kurzmeldung in Signale für die musikalische Welt, 85. Jg. Heft 30 (27. Juli 1927), S. 1091; „Bergs ‚Wozzeck‘ in Leningrad“, in: Nachrichtenblätter der Universal Edition, Nr. 17 (Juli 1927; Themenheft Die Oper von heute), S. 2. 107

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einen Bühnenvorhang einzusetzen begonnen).110 Strel’nikov besuchte die dritte Aufführung (am 19. November) nach der Wiederaufnahme und teilte Berg mit: „Ihr ‚Wozzeck‘ ist immer derselber [sic]: auffallend, stark, eindrücksvoll [sic], tief, hervorragend! Man hört ihn immer als ob [man] ihn zum ersten Mal hört: so wirkt er frisch, stramm und gespannt im [sic] Wirkung“111. Strel’nikov nahm eine Mittlerrolle zwischen Berg und den Leningrader Musikern ein; er übermittelte Neuigkeiten und wiederholt auch Grüße von Fritz Stiedry, Nikolaj Mal’ko und besonders von Dmitrij Šostakovič, der „alle ‚Wozzek‘ Abende im Theater von 8 bis 11 sitzt und immer ihn auf höchste bewundert“; außerdem „hat [er] eine grosse Dichtung über ‚Oktober‘ geschrieben und hat einen grossen Erfolg hier und in Moskau gehabt“.112 Die früheren Kontakte Bergs zu Beljaev und Strel’nikov flankierend ergab sich eine Freundschaft zu Boris Asafʼev, dem bedeutendsten Musikwissenschaftler Russlands und Mitglied der ASM, der die Leningrader Wozzeck-Erstaufführung mitinitiiert und zahlreiche Texte über das Werk veröffentlicht hatte.113 Lesenswert sind seine nach Bergs Tod aufgezeichneten Erinnerungen. Ausgehend von Bergs Gesichtszügen, denen er „Kindlichkeit und Unmittelbarkeit ‒ das primäre Merkmal eines Genies“ bescheinigt sowie eine „Mozartsche Natur“ (Mozart sei „Ritter, Weiser und Kind“ gewesen), zeichnet er ein höchst ungewöhnliches Porträt des Komponisten. Überdies sieht er Parallelen zur Figur des Fürsten Myškin (in Dostoevskijs Roman Der Idiot), da er sonst niemanden kenne, „der mit solcher Schärfe und Heftigkeit auf menschliches Leiden reagiert und so entschieden jegliche Grausamkeit gehasst hätte.“114 Bergs Briefwechsel mit Asafʼev, der partiell in russischer Sprache veröffentlicht wurde,115 ist der umfangreichste unter seinen russischen KorrespondenVgl. Brief Strel’nikov an Berg vom 15. November 1927 (ÖNB, MS F 21, Berg 1422/1); Bobrik, „Al’ban Berg i Nikolaj Strel’nikov“ (wie Anm. 10), S. 326f. 111 Vgl. Brief Strel’nikov an Berg vom 6. Dezember 1927 (ÖNB, MS F 21, Berg 1422/2); Bobrik, „Al’ban Berg i Nikolaj Strel’nikov“ (wie Anm. 10), S. 329–331. 112 Vgl. Brief Strel’nikov an Berg vom 15. November 1927 (wie Anm. 110); Bobrik, „Al’ban Berg i Nikolaj Strel’nikov“ (wie Anm. 10), S. 326f. – Gemeint ist Šostakovičs An den Oktober. Sinfonische Widmung (Zweite Symphonie) op. 14, uraufgeführt am 5. November 1927 in Leningrad und erstaufgeführt in Moskau am 4. Dezember 1927. 113 Asaf’ev unterzeichnete seine Texte mit dem Pseudonym Igor’ Glebov. 114 Zit. nach A[bram] Gozenpud, „Besedy s Borisom Vladimirovičem Asafʼevym [Gespräche mit Boris Vladimirovič Asafʼev]“, in: Vospominanija o B. V. Asaf’eve [Erinnerungen an Boris Asaf’ev], hrsg. von Andrej Krjukov, Leningrad: Muzyka, 1974, S. 208–225, hier S. 218f. 115 Vgl. Materialy k biografii B. Asaf’eva [Materialien zur Biographie Boris Asaf’evs], hrsg. von Andrej Krjukov, Leningrad: Muzyka, 1981, S. 136, 139, 141, 145–148 (Berg an Asaf’ev vom 11. Mai 1928, Berg an Asaf’ev vom 18. August 1928, Berg und Abram Dzimitrovskij an Asaf’ev und Šostakovič vom 29. November 1928, Asaf’ev an Berg vom 8. Juli 1929, Berg an 110

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zen. Offenbar war die Korrespondenz von Berg ausgegangen116 und erstreckte sich über zwei Jahre (die Zeit, während der Wozzeck im Repertoire war oder zumindest für Aufführungen vorgesehen war). Allem Anschein nach legte Berg großen Wert auf die Kontakte zu Asafʼev, hielt er ihn doch für einen feinfühligen und scharfsinnigen Kenner seiner Musik.117 Kaum zufällig kreiste ihr Briefwechsel vor allem um den Wozzeck. Dabei betonte Asafʼev, dass Bergs Musik immer verständlicher werden würde: „Einige alte und gute Musikanten haben gesagt: ‚Wir verstehen jetzt fast alles, was wir spielen.‘ […] Ich höre Ihre Musik so leicht und ungezwungen, wie Bachs Inventionen oder Mozarts Quartetten [sic]. Es ist nicht Prahlerei – es ist nur ein Beweis des organischen Satzes und des [sic] musikalischen Logik Ihres ‚Wozzecks‘.“118 Allerdings ging es in dem Briefwechsel nicht nur um die Wozzeck-Aufführung, sondern auch um künftige Projekte. Es ist nur natürlich, dass Berg Asafʼev keinen Einblick in seine Schaffenspläne gewährte und diese so lange wie möglich für sich behalten wollte. Dennoch versuchte Asafʼev, den Komponisten für russische Stoffe zu interessieren: „Wäre es möglich, dass Sie ein russisches Sujet genommen hätten und was für ein Sujet sei dieses? Turgeneff, Leskoff, Kuzminn, Dostojewsky [sic]?“119 Ein eigenes Thema der Korrespondenz, das Asafʼev besonders am Herzen lag, war die Wirkung des Wozzeck auf die jungen Komponisten. „Junge Komponisten-Generation von Ihnen bezaubert ist“,120 schreibt er im Jahr der Leningrader Erstaufführung. „Mit Ihrem ‚Wozzeck‘ haben Sie unseren jungen besten Komponisten (Schostakowitsch, der eine gute Oper geschrieben hat ‒ ‚Der Nase‘ [sic], nach Gogol, ‒ und Popoff) eine neue Welt geöffnet“121, ‒ ergänzt er ein Jahr späAsaf’ev vom 5. August 1929). Im Berg-Archiv finden sich die folgenden Briefe: Asaf’ev an Berg vom 17. Oktober 1927, Asaf’ev an Berg vom 27. Juni 1928, Asaf’ev an Berg vom 17. Juli 1929; ÖNB, MS F 21, Berg 513/1–3. 116 Der erste Brief an Asaf’ev ist nicht erhalten. 117 Vgl. den Brief vom 11. Mai 1928, veröffentlicht in russischer Sprache in Materialy k biografii B. Asaf’eva [Materialien zur Biographie Boris Asaf’evs], hrsg. von Andrej Krjukov, Leningrad: Muzyka, 1981, S. 136. 118 Brief vom 17. Oktober 1927; ÖNB, MS F 21, Berg 513/1. Es sei daran erinnert, dass Asaf’ev selbst große Anstrengungen darauf verwendete, das Publikum auf diese schwierige Musik vorzubereiten – vgl. zum Beispiel seinen Aufsatz „Muzyka ‚Vocceka‘“ (wie Anm. 106). Asaf’ev war von der ungenügenden Resonanz bei der Wiederaufnahme der Oper enttäuscht; vgl. „Moi nabljudenija [Meine Beobachtungen]“, in: Krasnaja gazeta, 19. Oktober 1927, Abendausgabe, S. 5. Diese Zeitungsnotiz schickte Strel’nikov am 6. Dezember 1927 an Berg (ÖNB, MS F 21, Berg 1422/2). 119 Brief vom 27. Juni 1928; ÖNB, MS F 21, Berg 513/2. 120 Brief vom 17. Oktober 1927; ÖNB, MS F 21, Berg 513/1. 121 Brief vom 27. Juni 1928; ÖNB, MS F 21, Berg 513/2. Gemeint ist der Leningrader Komponist Gavriil Popov (1904–1972).

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ter. Tatsächlich sind die Einflüsse des Wozzeck auf das Schaffen Šostakovičs deutlich zu greifen, was einmal Gegenstand einer gesonderten Untersuchung werden könnte. Berg wurde mit Šostakovič im Rahmen der Leningrader Premiere bekannt, doch entwickelten sich, ungeachtet offenkundiger wechselseitiger Sympathien, keine weiteren Kontakte. Das dürfte einerseits an der Jugendlichkeit und Schüchternheit Šostakovičs gelegen haben, andererseits vermutlich an Widerständen Asafʼevs, der – da mit Šostakovič zerstritten – dessen Korrespondenz mit Berg zu verhindern wusste.122 So geschah es, dass Bergs wohlwollende Einschätzung der Ersten Sinfonie von Šostakovič anlässlich deren Wiener Präsentation am 28. November 1928 unter der Leitung von Robert Heger nicht den Weg zu dem jungen russischen Komponisten fand. Berg bedachte das Werk, insbesondere den ersten Satz, mit dem Wort „erstaunlich“ und lobte die „großartige“ Aufführung.123 Jahre später sollte Šostakovič in einem Brief an Ivan Sollertinskij die Nachricht vom Ableben Bergs mit den Worten kommentieren: „Sein Tod hat mich nicht weniger betrübt als Dich. Der Verstorbene war ein Genie. Ich bin überzeugt davon, dass man ihn früher oder später schätzen wird.“124 Das Ende der Korrespondenz mit Asafʼev fällt mit zwei zueinander zeitnahen Ereignissen zusammen: dem Durchbruch des Wozzeck in Oldenburg, wo das Werk endgültig den Mythos seiner Unaufführbarkeit ablegte, und seinem Ausschluss aus dem Repertoire der Leningrader Oper. „Bei uns hat jetzt eine andere Richtung in der Musik den Sieg davongetragen“, bekannte Asafʼev bitter, „und deshalb weder ich, noch meine Freunde bekommen ‚Wozzeck‘ so bald zu hören [sic]!“125 Seit 1929 war die ‚Proletarisierung‘ der russischen Musikkultur beschlossene Sache; an die Stelle der zeitgenössischen westlichen Oper traten Klassiker ins Bühnenrepertoire, und immer lauter erschallte der Ruf nach Schaffung eines eigenen sowjetischen Repertoires – im Sinne einer Sowjetisierung des Theaters.126

Vgl. Wolkow (Hrsg.), Memoiren des Dmitri Schostakowitsch (wie Anm. 31), S. 113f. Berg und Dzimitrovskij an Asaf’ev und Šostakovič im Brief vom 29. November 1928; vgl. Materialy k biografii Asaf’eva (wie Anm. 115), S. 141. 124 Brief vom 9. Januar 1936, in Dmitrij Šostakovič, Pis’ma I. I. Sollertinskomu [Briefe an Ivan Sollertinskij], hrsg. von D[mitrij] I[vanovič] Sollertinskij, St. Petersburg: Kompozitor, 2006, S. 184–186, hier S. 184. 125 Brief vom 17. Juli 1929; ÖNB, MS F 21, Berg 513/3. 126 Ekaterina Vlasova sprach von dieser Periode als einer „Probe für das Jahr 1948“. Wird der Wozzeck im Repertoireverzeichnis der Staatlichen Repertoirebehörde (Glavrepertkom) von 1929 noch mit der Kennzeichnung „B“ versehen, die ein „ideologisch vollkommen akzeptables Werk“ anzeigt, fehlt er seit 1931 völlig. Vgl. Ekaterina Vlasova, 1948 god v sovetskoj muzyke [Das Jahr 1948 in der sowjetischen Musik], Moskau: Klassika-XXI, 2010, S. 47 und S. 54. 122 123

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Berg reagierte ungestüm auf Asafʼevs Mitteilung. Ihn empörte weniger sein Brief als eine Notiz der Wiener Presse, der zufolge der Wozzeck in Moskau zu einer konterrevolutionären Musik erklärt worden sei (diese Notiz klebte er in das Antwortschreiben an Asafʼev).127 Bergs Argumentation ist voll und ganz im Geiste der Schönberg-Schule gehalten, als Apologie des Komplexen und des Entwicklungsfortschritts in der Kunst.128 Wie auch Schönberg sieht Berg in einer absichtlichen, ans Primitive grenzenden Vereinfachung eine Geringschätzung des Hörers ‒ und eine umso höhere Wertschätzung verlange das Proletariat, das ‚Volk‘. Diese Erklärung illustriert er in zwei Notenbeispielen: den drei Akkorden des Wozzeck aus der zweiten Szene des ersten Akts als Beispiel für „Neues und Reiches“ und der harmonischen Wendung von Subdominante-Dominante-Tonika (SDT) als das „Billige, das in der Kunst für die Bourgeoisie längst Verbrauchte“.129 Leider widersprach dieser Vorstellung von Kunst für das Volk der schon von Lenin geprägte Begriff des Volkstümlichen denkbar scharf, d. h. die These, der zufolge die Kunst den Massen verständlich sein muss. Es ist bezeichnend, dass Asafʼev sämtliche die Wiederaufnahme des Wozzeck im Herbst 1927 begleitenden Alarmzeichen schon verdrängt hatte, als er schrieb: „Die Lage solch kühner und scharfsinniger Komponisten, die dem Alltäglichen keinen Raum geben, wie Alban Berg, wird immer tragischer. Man verlangt von ihnen die Aufgabe jener vital-modernen Musiksprache, die in einigen Jahrzehnten doch allgemein verständlich sein wird wie die Sprache der ‚Carmen‘ ‒ eine Aufgabe im Namen vorweltlicher Ausdrucksmittel.“130 Obwohl die rückwärts orientierte Repertoirepolitik schon zu greifen begann, kam es doch noch zu einer Aufführung der Sieben frühen Lieder von Berg Vgl. die Veröffentlichung des Briefes in: Solomon Volkov, „Alban Berg über die Kunst für das Proletariat: Ein unbekannter Brief Bergs an Boris Asaf’ev“, in: Schweizerische Musikzeitung, 118. Jg. (1978), S. 30–31. Der Brief ist faksimiliert in: Inna Barsova, „Die Rezeption der deutsch-österreichischen Avantgarde in Russland (1911–1948)“, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, Heft 6 (2000), S. 146–173, hier S. 172f. 128 Dieser Position konnten sich weder die Ideologen der proletarischen Kunst noch die Vertreter der Ästhetik des Neoklassizismus anschließen. 129 Einer ähnlichen Argumentation bedient sich Berg in seinem Aufsatz „Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?“. Vgl. hierzu Julija Veksler: „Muzykal’naja proza meždu apologiej i ėkzegezoj, ili ‚Počemu muzyka Šenberga vosprinimaetsja c takim trudom‘ [Musikalische Prosa zwischen Apologie und Exegese, oder ‚Warum ist die Musik Schönbergs so schwer verständlich‘]“, in: Vladimir Michajlovič Cendrovskij. Muzykant. Pedagog. Učenyj. K 80-letiju so dnja roždenija. Privetstvija. Stat’i. Materialy [Vladimir Michajlovič Cendrovskij. Musiker, Pädagoge, Gelehrter. Zum 80. Geburtstag. Grußbotschaften, Aufsätze, Materialien], hrsg. von Valerij Nikolaevič Syrov, Nischni Nowgorod: Nižegorodskaja gos. konservatorija im. M. I. Glinki, 2004, S. 137–154. 130 Asaf’ev, „Moi nabljudenija“ (wie Anm. 118). 127

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am 7. April 1929 im Großen Saal der Leningrader Philharmonie, gesungen von Lidija Vyrlan131 unter der Stabführung von Nikolaj Mal’ko.132 Die Übertragung der Texte hatte wiederum Kuzmin besorgt. Ohne den Enthusiasmus des herausragenden Mal’ko, des kommissarischen Leiters der Philharmonie, der noch 1929 die UdSSR verlassen sollte, wäre die Aufführung nicht zustande gekommen. Aus unerfindlichen Gründen wurde der Zyklus nicht vollständig gespielt – es erklangen sechs oder sogar nur fünf der Lieder.133 Anders als früher gedacht war mit dem Jahr 1929 jedoch nicht der Schlusspunkt der sowjetischen Berg-Rezeption der Vorkriegszeit gesetzt. Vielmehr beginnt hier ihre nächste, späte Etappe, mit der die Initiative von Asafʼev auf Ivan Sollertinskij überging. Wenngleich Sollertinskijs Versuche, Berg in die neue Ideologie einzuschreiben, nicht selten die Grenze zum Vulgärmarxismus überschritten, ist sein Verdienst enorm. Gemeinsam mit dem bekannten Nekrolog Strelʼnikovs stellen Sollertinskijs Aufsätze – die gedruckten wie die ungedruckten – die letzten Dokumente über Berg dar. Der erste von ihnen war im Januar 1935 einer Wiederaufnahme des Wozzeck im MALEGOT gewidmet, die damals in Planung war, aber letztlich nicht zustande kam. Nach Sollertinskij sollte die neue Inszenierung „im ‚Wozzeck‘ nicht die expressionistischen (wie früher im GATOB), sondern die musikalisch-realistischen Elemente hervorheben, und auf dieser Grundlage ein großes musikalisches Schauspiel über den Westen und den Kapitalismus bilden, über den tiefen inneren Zwiespalt der kapitalistischen Ordnung – mit Blick sowohl auf die persönlichen menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten als auch auf die Wahrung der Menschenwürde“.134 Bei dem zweiten Aufsatz handelt es sich um den Anfang 1936 verfassten Nekrolog für die Zeitung Sovetskoe iskusstvo (Sowjetische Kunst). Im Geist der Zeit liegen die Akzente hier auf der antifaschistischen Richtung des Œuvres von Berg, der als ein Komponist „von riesigem Talent, feiner Kultur und hohem ethischen Pathos“ bezeichnet wird. Aus dem Text entnimmt man, dass in zwei KonLidija Aleksandrovna Vyrlan (1900‒1965) – Kammersängerin (Mezzosopran), Auftritte hauptsächlich in Leningrad (von 1926 bis 1957). Ihr breites Repertoire schloss zeitgenössische Musik ein, darunter Liederzyklen von Schönberg und Berg. 132 In diesem Konzert trat übrigens auch Maria Judina auf, die spätere Interpretin der Klaviersonate Bergs. 133 Fünf Lieder werden genannt in der Rezension des Konzerts durch N[atalija] Volžina, „Muzykal’noe obozrenie [Musikalische Umschau]“, in: Žiznʼ iskusstva, 1929 Heft 7, S. 14. – Im Aufsatz von Dmitrijev, „‚Akademičeskij‘ Kuzmin“ (wie Anm. 83), S. 212, ist von sechs Liedern die Rede. 134 I[van] Sollertinskij, „K vozobnovleniju opery A. Berga v Malom opernom teatre [Zur Wiederaufnahme von Bergs Oper im Kleinen Operntheater]“, in: Krasnaja gazeta, 10. Januar 1935, S. 5. Vgl. Konstantin Učitelʼ, „O neizvestnoj rabote Ivana Sollertinskogo [Über eine unbekannte Arbeit Ivan Sollertinskijs]“, in: Opera musicologica, 2013 Heft 2, S. 69–74. 131

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zerten zu Bergs Gedenken am 12. und 14. Januar 1936 in der Leningrader Philharmonie unter der Stabführung Fritz Stiedrys Bergs neuestes Werk aufgeführt wurde, die Lulu-Suite. Einen ihrer Sätze bezeichnet Sollertinskij treffend als „‚Tristan‘, gebrochen durch das Prisma des Zwölftonsystems“.135 Leider haben sich von diesen Konzerten weder Plakate noch Programmhefte erhalten. Das einzige Zeugnis zu ihnen – abgesehen vom Nekrolog selbst – ist ein bisher unveröffentlichter Brief Fritz Stiedrys an Helene Berg vom 15. Januar 1936. „Ich kann Ihnen nicht schildern, mit welchen Gefühlen ich am Pult stand. Blech-, Holzbläser, Streicher – alle Stimmen klangen getrennt – mit welcher Sorgfalt, Liebe jede einzelne hingesetzt, aus jeder sprach mir Alban’s Geist, der lebendige Alban. Wie freute ich mich darauf, ihm von den Aufführungen schreiben zu können.“136 Aus dem Brief wird nicht klar, ob die Konzerte als Gedenkveranstaltungen für Berg konzipiert worden waren oder lediglich durch die Umstände zu solchen wurden. Der Aufbau der beiden Konzerte war identisch: Am Anfang sprach Sollertinskij über Berg und seine Werke, dann erklang zum Gedenken an den Komponisten die Maurerische Trauermusik KV 477 (479a) von Wolfgang Amadeus Mozart, bevor die Konzerte mit den vier letzten Sätzen der Lulu-Suite zu Ende gingen. Vom „Lied der Lulu“ hatte man Abstand nehmen müssen, weil sich keine geeignete Sängerin fand. Aus einem Brief des Dirigenten Hermann Scherchen an den Mäzen Werner Reinhart vom 9. März 1936 geht hervor, dass ein Konzert zum Andenken Bergs auch in Moskau in Planung gewesen war. Es hätte am 31. Januar 1936 unter Scherchens Beteiligung stattfinden sollen, aber „ein grosser prinzipieller Artikel in der ‚Prawda‘, der Regierungszeitung, mit Angriffen gegen die ‚Lady Macbeth‘ u. Hinweisen auf den Einfluss Bergs auf Schostakowitsch“,137 war der Grund zunächst für eine Verschiebung und schließlich die Absage des Konzerts.138 Der gemeinte Artikel „Sumbur vmesto muzyki“ (Chaos statt Musik) war am 28. Januar in der Pravda erschienen. Ungeachtet des Fehlens einer direkten Nennung Ms. im Redaktionsarchiv der Zeitung Sovetskoe iskusstvo; Moskau, Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva (Staatliches Archiv der Russischen Föderation für Literatur und Kunst, RGALI), f. 672, op. 1, ed. chr. 790. 136 ÖNB, MS F 21, Berg 2123. Ich danke Frau Dr. Regina Busch (Alban Berg Gesamtausgabe) für ihre Hinweise auf diese Quelle und auf die Briefe Hermann Scherchens an Helene Berg und Werner Reinhart. 137 Zit. nach Peter Sulzer, Zehn Komponisten um Werner Reinhart: ein Ausschnitt aus dem Wirkungskreis des Musikkollegiums Winterthur 1920–1950, Bd. 3: Briefwechsel, Zürich: Atlantis, 1983, S. 161. 138 In einem undatierten, vor dem 31. März 1936 geschriebenen Brief an Helene berichtet Scherchen erneut von seinem Bestreben, „die offizielle Gedächtnisfeier für Berg in Moskau zu dirigieren“; Wien, Wienbibliothek im Rathaus, H.I.N. 203.791. 135

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im Text war Bergs Name gleichsam mitzudenken, wenn in diesem Text „kleinbürgerliches ‚Neuerertum‘“ oder „kleinbürgerliche formalistische Bemühungen“ ‚entlarvt‘ wurden. Vermutlich stand „Chaos statt Musik“ auch der Veröffentlichung von Sollertinskijs Nekrolog im Wege, der im Redaktionsarchiv der Zeitung Sovetskoe iskusstvo verblieb. Die Lulu-Suite bildete eine Art Schlussakkord, denn Bergs Musik sollte in der UdSSR für lange Zeit nun überhaupt nicht mehr erklingen. Gleichwohl kann man die beiden Wozzeck-Jahre in der Vorkriegsrezeption nicht hoch genug einschätzen. Es waren für die Durchsetzung der Oper sehr wichtige Jahre – mit der Leningrader Premiere wurden letzte Widerstände überwunden, in deren Folge sich das Werk in einem Triumphzug auf den europäischen Bühnen verbreitete. Bergs Oper gehört zu den besten Werken westlicher Provenienz, die auf die Komponisten der Sowjetunion Einfluss ausübten. „Die aufkeimende junge Komponistenschule Leningrads war sich der Bedeutung des ‚Wozzecks‘ bewusst und vermochte alles Vitale der Partitur aufzunehmen“,139 stellte Asafʼev fest. Die Leningrader Premiere war ohne Frage ein herausragendes Bühnenereignis und stellte höchstes Inszenierungsniveau unter Beweis. „Nirgends wurde mein ‚Wozzeck‘ besser aufgenommen“,140 schrieb Berg an Boris Asafʼev und betonte die einhellig günstige Würdigung der Oper, im Unterschied zu Berlin und Prag. Dessen ungeachtet zog der Leningrader Wozzeck keine weiteren Aufführungen von Werken des Komponisten nach sich – die Oper verschwand rasch von der Bühne, die in anderen Städten geplanten Inszenierungen kamen nicht zustande, auch blieben viele Kammermusikwerke des Komponisten, die gespielt werden hätten können und sollen, unaufgeführt: die Klaviersonate op. 1, das Streichquartett op. 3 und die Lyrische Suite. Das Interesse an Berg erlosch oder, genauer gesagt, wurde gewaltsam zum Erlöschen gebracht. Für Berg, der noch unter dem Eindruck der Triumphe des Wozzeck stand, war dieser Umstand anfangs ohne Bedeutung. Doch die Zeiten änderten sich, und in seinen letzten Lebensjahren, als sich die Frage der Lulu-Aufführung in aller Dringlichkeit stellte, konnte ihm das hinter dem Eisernen Vorhang verschlossene Russland schon nicht mehr helfen. Es brauchte Jahrzehnte, bis dort Bergs Musik erneut erklingen durfte – in der Zeit des sogenannten Tauwetters. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer und Stefan Weiss

Asaf’ev, „Moi nabljudenija“ (wie Anm. 118). Aus dem Brief Bergs vom 11. Mai 1928, in: Materialy k biografii Asaf’eva (wie Anm. 115), S. 136. 139 140

TRANSFER



Dorothea Redepenning

Deutsch-russische Musikbegegnungen bis 1917* Siegmund Freiherr von Herberstein (1486–1566) reiste Anfang des 16. Jahrhunderts zweimal im Auftrag des Habsburger Hofes nach Russland. Sein Bericht Rerum Moscoviticarum Commentarii (Wien 1549) wurde mehrfach nachgedruckt und in deutscher Übersetzung in deutschsprachigen Ländern und in St. Petersburg vertrieben.1 Adam Olearius (1599–1671) begleitete im Auftrag Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf zwei Reisen ins russische Reich und verfasste darüber vielzitierte Berichte,2 in denen ebenfalls Bräuche, Gesang und Tanz, Puppentheater und offenkundig auch der Vortrag von Bylinensängern beschrieben werden. Beiden, Herberstein und Olearius, verdanken wir die ersten Beschreibungen der russischen Kultur und Lebensweise in deutscher Sprache. Mit der Übersiedlung des Zarenhofes nach Petersburg und Peters I. neuer Europa-Politik ab dem frühen 18. Jahrhundert kamen vermehrt Ausländer ins russische Reich und mit ihnen Berichte in ihre Heimatländer. Je mehr sich der Hof an Westeuropa orientierte, umso dringlicher war der Bedarf an ausländischen Künstlern, die ein europäisches Niveau versprachen. Es ging aber keinesfalls nur um Kultur. Zarin Katharina II., die als Sophia von Anhalt-Zerbst nach Russland gekommen war, erließ 1762, im Jahr ihres Amtsantritts, ein Manifest in deutscher Sprache, mit dem sie Ausländer ausdrücklich einlud, sich in ihrem großen Reich



* Alle fremdsprachigen Zitate wurden, wenn nicht anders vermerkt, von der Autorin übersetzt. 1 Zweite Auflage Basel 1551 und 1556, italienisch als Comentari della Moscovia et parimente della Russia et delle altre cose belle et notabili, Venedig: Pedrezzano, 1550, deutsch von Herberstein als Moscovia der Hauptstat in Reissen, Wien: Zimmermann, 1557, andere Übersetzung: Johannes Pantaleon, Moskoviter wunderbare Historien, Basel 1563, etliche Nachdrucke, u. a. als Die Moskovitische Chronica, unter diesem Titel auch St. Petersburg 1795 (auf Initiative Katharinas II.); außerdem: Friedrich von Adelung, Siegmund Freiherr von Herberstein. Mit besonderer Ruecksicht auf seine Reisen in Russland, Sankt-Petersburg: Gretsch, 1818. Adelung (1768–1843) wurde 1801 Direktor des deutschen Theaters in Petersburg. Einige dieser Ausgaben sind als Digitalisate online greifbar. 2 Offt begehrte Beschreibung Der Newen Orientalischen Reise / So durch Gelegenheit einer Holsteinischen Legation an den König in Persien geschehen Durch M. Adamum Olearium, Ascanium Saxonem, Fürstl: Schleßwig-Holsteinischen Hoff-mathemat., Schleswig: zur Glocken, 1647, und Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen und Persischen Reyse […] Welche Zum andern Mahl heraus gibt Adam Olearius, Schleswig: Holwein, 1656, erweitert als Adam Olearii Außführliche Beschreibung der kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien, Schleswig: Holwein, 1663.

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niederzulassen.3 Aus der Ehe ihres Sohnes Pavel Petrovič, ab 1796 als Pavel I. Zar, mit Sophie Dorothee von Württemberg (russisch: Marija Fëdorovna) gingen die späteren Zaren Aleksandr I. und Nikolaj I. sowie als Jüngster Großfürst Michail hervor, die alle mit deutschen Prinzessinnen verheiratet wurden. Zar Aleksandr II. ist Sohn Nikolajs I. und der Charlotte von Preußen (Aleksandra Fëdorovna). Michail Pavlovič wurde mit Charlotte von Württemberg (Elena Pavlovna) verheiratet. Besonders Katharina II., ihre Schwiegertochter Marija Fëdorovna und Elena Pavlovna haben nachhaltige Spuren in der russischen Kultur hinterlassen. Die dynastischen Beziehungen waren eine Ursache für ein vergleichsweise enges Verhältnis zwischen Deutschen und Russen. Die früheste ausführliche Darstellung des russischen Musiklebens des 18. Jahrhunderts stammt von dem aus Memmingen gebürtigen Gelehrten und Literaten Jacob von Stählin.4 Original-Anekdoten Peters des Grossen (1785) aus seiner Feder kursierten in verschiedenen Übersetzungen in Westeuropa; seine Nachrichten von der Musik in Rußland (1770)5 galten lange als erste Quelle. Neuere Forschungen, vor allem von Anna Porfirʼeva,6 haben deutlich gemacht, dass sich künstlerische Kontakte bis in die Gründungszeit St. Petersburgs zurückverfolgen lassen. Nach dem Einwanderungserlass Katharinas II. strömten Hunderte und Aberhunderte Deutscher ins russische Reich; mit ihnen wurde der Ausbau von Verwaltung, Industrie, Militär, Beamtenwesen vorangetrieben, Handwerker



Online greifbar unter http://www.russlanddeutschegeschichte.de/geschichte/teil1/abwerbung/manifest22.htm (Webseite Geschichte der Russlanddeutschen, abgerufen am 17. 2. 2019). 4 Stählin (1709–1785) kam aus dem Kreis um Johann Christoph Gottsched; er ging 1735 als Professor nach St. Petersburg und wurde Mitglied in der Russischen Akademie der Wissenschaften. 5 Publiziert in drei Teilen als „Zur Geschichte des Theaters in Rußland“, in: M. Johann Joseph Haigold’s Beylagen zum Neuveränderten Rußland, Teil I, Riga und Mitau: Johann Friedrich Hartknoch, 1769, S. 395–432, sowie „Nachrichten von der Tanzkunst und Balletten in Rußland“ und „Nachrichten von der Musik in Rußland“, in: dass., Teil II, Leipzig und Riga: Johann Friedrich Hartknoch, 1770, S. 1–36 bzw. S. 37–192. Nachdruck in einem Band hrsg. von Ernst Stöckl, Leipzig: Edition Peters, 1982; vgl. auch Ernst Stöckl, Musikgeschichte der Rußlanddeutschen, Dülmen: Laumann, 1993. 6 Anna Porfirʼeva (Hrsg.), Muzykal’nyj Peterburg. Enciklopedičeskij slovarʼ. XVIII vek [Das musikalische Petersburg. Enzyklopädisches Nachschlagewerk. Das 18. Jahrhundert], 3 Bände, St. Petersburg: Kompozitor, 1996, 1998, 1999. Außerdem: Anna Porfirʼeva, „Iz istorii rossijskogo pridvornogo orkestra petrovskoj ėpochi“, in: Nemcy v Rossii. Problemy kul’turnogo vzaimodejstvija [Deutsche in Russland. Probleme der kulturellen Zusammenarbeit], hrsg. von der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburger Filiale, St. Petersburg: Bulanin, 1998, S. 3–68, deutsch als: „Aus der Geschichte des russischen Hoforchesters in der petrinischen Epoche“, in: Phänomene und Wege musikkulturellen Austausches: Deutschland und Russland im 18. Jahrhundert, hrsg. von Friedhelm Brusniak und Klaus-Peter Koch (Arolser Beiträge zur Musikforschung, 8), Sinzig: Studio.Verlag, 2000, S. 125–133. 3

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siedelten sich an, und kulturelle Institutionen begannen sich zu entfalten.7 Unter den Einwanderern gab es zahlreiche Musiker, die in St. Petersburg und Moskau Anstellung fanden.8 Klaus-Peter Koch hat das eindrucksvoll belegt;9 die ErikAmburger-Datenbank, die Ausländer im vorrevolutionären Russland erfasst, gibt ausführlich Auskunft.10 Musikgeschichtlich relevanter war freilich die Präsenz italienischer Musiker. Katharina II. holte italienische Komponisten zum Ausbau einer standesgemäßen Opera seria an ihren Hof und schickte russische Musiker zum Studium



Dazu ausführlicher die von Lev Kopelev initiierte und von Karl Eimermacher weitergeführte, in München im Wilhelm Fink Verlag erschienene Reihe West-östliche Spiegelungen: Reihe A, Russen und Rußland aus deutscher Sicht, hrsg. von Mechthild Keller, Bd. 1: 9. –17. Jahrhundert, 1985, 21988, Bd. 2: 18. Jahrhundert: Aufklärung, 1987, Bd. 3: 19. Jahrhundert: Von der Jahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1800–1871), Bd. 4: 19./20. Jahrhundert: Von der Bismarckzeit bis zum Ersten Weltkrieg, 2000, Bd. 5, hrsg. von Gerd Koenen, Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924, 1998. Reihe B, Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht, hrsg. von Dagmar Herrmann, Bd. 1: 11.–17. Jahrhundert, 1989, Bd. 2: 18. Jahrhundert: Aufklärung, 1992, Bd. 3: 19. Jahrhundert. Von der Jahrhundertwende bis zu den Reformen Alexanders II., 1998, Bd. 4: 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg, 2006. – Auswahl daraus als West-östliche Spiegelungen, eine Auswahl in 2 Bänden, Bd. 1: Zauber und Abwehr. Zur Kulturgeschichte der deutsch-russischen Beziehungen, hrsg. von Dagmar Herrmann und Mechthild Keller, 2004; Bd. 2: Traum und Trauma. Russen und Deutsche im 20. Jahrhundert, hrsg. von Dagmar Herrmann und Astrid Volpert, 2003. Weitere Bände als West-östliche Spiegelungen, Neue Folge, hrsg. von Karl Eimermacher, Bd. 1: Verführungen der Gewalt. Russen und Deutsche im Ersten und Zweiten Weltkrieg, 2005, Bd. 2: Stürmische Aufbrüche und enttäuschte Hoffnungen. Russen und Deutsche in der Zwischenkriegszeit, 2006, Bd. 3: Tauwetter, Eiszeit und gelenkte Dialoge. Russen und Deutsche nach 1945, 2006. Außerdem sind zu nennen: Russkie i nemcy v XVIII veke – Vstreča kul’tur [Russen und Deutsche im 18. Jahrhundert – Begegnung der Kulturen], hrsg. von der Russischen Akademie der Wissenschaften, Redaktion Sergej Karp, Moskau: Nauka, 2000; Unsere Russen – Unsere Deutschen, Bilder vom Anderen 1800–2000 [Ausstellungskatalog], hrsg. vom Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst e.V., o. O.: Christoph Links, 2007. 8 Dazu ausführlich der Sammelband Phänomene und Wege (wie Anm. 6). 9 Klaus-Peter Koch, „Deutsche Musiker in Sankt Petersburg und in Moskau“, in: Musik und Migration in Ostmitteleuropa, hrsg. von Heike Müns, München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2005, S. 339–406. Klaus-Peter Koch hat sich bemüht, alle Personen zu erfassen, die mindestens ein Jahr in Russland gewirkt haben, und auch Nachfahren deutscher Einwanderer „bis mindestens zur zweiten Generation“ (S. 339) aufgenommen, unter ihnen etwa Heinrich Neuhaus (Genrich Nejgauz) und Svjatoslav Richter. Er bietet zwei Listen, eine für St. Petersburg und eine für Moskau, so dass viele Personen doppelt auftauchen. 10 Erik-Amburger-Datenbank. Ausländer im vorrevolutionären Russland. Online-Datenbank des IOS – Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, http://dokumente.ios-regensburg.de/amburger/?mode=0. – Bei Unstimmigkeiten zwischen Klaus-Peter Kochs Listen und der ErikAmburger-Datenbank folge ich der stets aktualisierten Datenbank. 7

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nach Italien; Dmitrij Bortnjanskij und Maksim Berezovskij hatten mit italienischen Opern Erfolg, bevor sie zurückkehrten.11 Am Zarenhof kooperierten deutsche, russische und italienische Musiker, Komponisten und Librettisten auf vielfältigste Weise.12 Einige der vielen deutschen Musiker, die bis zum Ende der Zarenherrschaft in Russland tätig waren – Sänger, Instrumentalisten, Komponisten, Klavierbauer, Musikverleger, Organisten und Musiklehrer –, seien hier eingangs namentlich genannt. Zu denen, die dauerhaft in Russland sesshaft wurden, gehören Persönlichkeiten wie Hermann Friedrich Raupach, Opernkomponist, der um 1760 die Hofkapelle leitete und dann zweiter Kapellmeister neben Tommaso Trajetta war, wie Ludwig Wilhelm Maurer und Friedrich Scholz, die als Geiger und Komponisten von russischen Vaudevilles Karriere machten, wie Daniel Steibelt, der über Paris nach St. Petersburg kam, und wie Adolf Henselt, der 1838 als Hofpianist dorthin engagiert wurde, eine russische Klavierschule aufbaute und dafür 1876 vom Zarenhof geadelt wurde.13 Ganze Musikerfamilien ließen sich in Russland nieder, wie die Familien Albrecht, Romberg und Schuberth. Karl Albrecht kam 1838 als Dirigent nach St. Petersburg, leitete erst die deutsche, dann die russische Oper, dirigierte 1842 die Uraufführung von Michail Glinkas Ruslan und Ljudmila und war ein erfolgreicher Lehrer. Sein Sohn Karl (Konstantin) wurde Cellist am Moskauer Bol’šoj-Theater, war eng mit Petr Čajkovskij und Nikolaj Rubinštejn



11 Vgl. dazu exemplarisch den Sammelband The Eighteenth Century Diaspora of Italian Music and Musicians, hrsg. von Reinhard Strohm, Turnhout: Brepols, 2001; ebenso Guido Bimberg, „Die italienische Opera seria im russischen Musiktheater des 18. Jahrhunderts“, in: HändelJahrbuch XXIX (1983), S. 85–106; Händel-Jahrbuch XXX (1984), S. 121–138 und HändelJahrbuch XXXI (1985), S. 115–129. 12 Anschaulich dazu Stefan Weiss, „Strukturen des St. Petersburger Opernlebens im dritten Viertel des 18. Jahrhunderts“, in: Die Oper als Institution in Mittel- und Osteuropa. Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa: Mitteilungen der Internationalen Arbeitsgemeinschaft an der Technischen Universität Chemnitz, Bd. 3, Leipzig: G. Schröder, 1998, S. 27–39; ders., „‚als ob sie der russischen Sprache mächtig wären …‘ – Ausländische Kapellmeister als Pioniere des russischen Musiktheaters“, in: Brusniak und Koch (Hrsg.), Phänomene und Wege (wie Anm. 6), S. 211–223, ders.: „Musiker-Migration und die Folgen: Das Beispiel St. Petersburg“, in: Probleme der Migration von Musik und Musikern in Europa im Zeitalter des Barock, hrsg. von Friedhelm Brusniak und Klaus-Peter Koch (Arolser Beiträge zur Musikforschung, 9), Sinzig: Studio.Verlag, 2002, S. 255–265; ders.: „Zur Geschichte der St. Petersburger Opernorchester im 18. Jahrhundert“, in: The Opera Orchestra in 18th- and 19th-Century Europe, I: The Orchestra in Society, hrsg. von Niels Martin Jensen und Franco Piperno, Bd. 2, Berlin: BWV, 2008, S. 601–622. 13 Ausführlich dazu Natalia Keil-Zenzerova, Adolph von Henselt: Ein Leben für die Klavierpädagogik in Russland (Diss. Leipzig), Frankfurt: Peter Lang, 2004, und Adolph Henselt und der musikkulturelle Dialog zwischen dem westlichen und östlichen Europa im 19. Jahrhundert, hrsg. von Lucian Schiwietz, Sinzig: Studio.Verlag, 2004.

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(Rubinstein) befreundet, Theorielehrer am Moskauer Konservatorium und machte sich als Verfasser thematischer Kataloge russischer und deutscher Komponisten einen Namen. Sein zweiter Sohn Eugen Maria, den er zum Musikstudium nach Leipzig geschickt hatte, wirkte als Geiger in St. Petersburg, baute dort das Kammermusik- und Streichquartettspiel auf und war als Musikpädagoge wie als Präsident der dortigen Philharmonischen Gesellschaft erfolgreich. Der dritte Sohn, Ludwig Albrecht, wurde Cellist und Cello-Professor am Moskauer Konservatorium. Die Brüder Heinrich Maria und Cyprian Friedrich Romberg machten als Geiger bzw. als Cellist in St. Petersburg Karriere; Cyprian Friedrich gehört zu den Mitbegründern der St. Petersburger Gesellschaft der Musikliebhaber. Carl Eduard Schuberth, Solocellist des Zaren, Komponist, Dirigent an der Hofkapelle, wurde als Karl Bogdanovič Šubert langjähriger Direktor der Philharmonischen Gesellschaft (von 1842 bis zu seinem Tod 1863); der Bruder Ludwig wirkte als Kontrabassist und Dirigent an der deutschen Oper, der andere Bruder Friedrich betrieb in Petersburg eine Musik- und Landkartenhandlung. Auf Heinrich Gottfried Gödicke, Dirigent des deutschen Orchesters in Petersburg, geht die Komponistenfamilie Gedike zurück. Sein Enkel Aleksandr wurde in der sowjetischen Zeit ein bedeutender Organist und Komponist; seine Enkelin Aleksandra heiratete in die gleichfalls deutschstämmige Familie Medtner ein. Ihr Sohn Nikolaj Metner, Pianist und Komponist, gehörte zu den führenden russischen Musikern des frühen 20. Jahrhunderts, bis er 1921 über Berlin nach London emigrierte. Unter den deutschsprachigen Organisten exemplarisch zu nennen sind Heinrich Gottfried Behling (Beling), Musikdirektor an St. Petri in St. Petersburg und 1822 Gründer der Singakademie, mit der er deutschsprachige Oratorien aufführte, und, aus viel späterer Zeit, Jacques Handschin, der als Sohn eines aus der Schweiz nach Moskau übergesiedelten Seidenbandhändlers bis 1920 als Organist und Orgelprofessor in Moskau tätig war. Speziell mit den Kirchenmusikern verknüpft ist die Rezeption protestantischer Kirchenmusik, insbesondere Bachs, in Russland, was sich inzwischen zu einem eigenen Forschungsfeld entwickelt hat.14 Zentrale deutsche Domänen neben praktischem Musizieren und Musikunterricht waren das Verlagswesen und der Instrumentenbau. Johan Friedrich



Žanna Knjazeva und Lucinde Braun, „Bach-Rezeption in Russland: Sankt Petersburg“, in: Michael Heinemann (Hrsg.), Bach und die Nachwelt, Bd. 2, Laaber: Laaber, 1999; Ursula Trochschitz, „Zur Bach-Pflege in Russland“, in: Brusniak und Koch (Hrsg.), Probleme der Migration (wie Anm. 12), S. 239–253; Feliks Purtov, „Was man um 1800 in St. Petersburg über Johann Sebastian Bach und seine Söhne wusste“, in: Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa: Mitteilungen der Internationalen Arbeitsgemeinschaft an der Technischen Universität Chemnitz, Bd. 11, Leipzig: G. Schröder, 2006, S. 236–246; Jana Zwetzschke (geb. Knjazeva): „… ich bin sicher, dass ich ihn lieben lerne …“: Studien zur Bach-Rezeption in Russland, Hildesheim: Olms, 2007 (zugleich Diss. Essen). 14

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Diederichs betrieb seit 1810 in St. Petersburg eine Klavierbau-Firma, die seine Söhne weiterführten. Ebenso baute Johann Friedrich Schröder (Šrëder) seit 1818 dort Klaviere; seine Söhne, Ivan Ivanovič und Karl Ivanovič Šrëder führten die Firma weiter.15 Moritz Bernhard gründete als Matvej Ivanovič das Verlagshaus Bernard, das auch zum Zentrum des Notendrucks in Russland wurde, und gab außerdem die Musikzeitschrift Nuvellist (ab 1842) heraus. Nach seinem Tod übernahm sein Sohn Nikolaj Matveevič die Geschäfte, bis der aus Estland gebürtige Pëtr Jurgenson den Verlag aufkaufte und seinem Verlagshaus einverleibte.16 Alexander Gutheil gründete als Aleksandr Gutchejlʼ 1859 ein Verlagshaus gleichen Namens, das nach seinem Tod von seinem Sohn Karl weitergeführt wurde und sich erfolgreich auf ein aus russischer und westeuropäischer Musik gemischtes Programm konzentrierte. 1914 übernahm Sergej Kusevickij das Verlagshaus.17 Hinzu kommen die vielen Konzertreisen westeuropäischer Künstler ins russische Reich und später auch russischer Künstler nach Westeuropa. Alle diese Personen sind Multiplikatoren, die zur Verbreitung von Kulturgütern beitragen und mit denen Ideen und Werke in neuen Kontexten neue Bedeutungen gewinnen. Hinzu kommen Musikzeitschriften, die den Austausch dokumentierten und beförderten. Russische Musikzeitschriften, die es seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab, waren bis auf wenige Ausnahmen kurzlebig.18 Die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung brachte regelmäßig Artikel über deutsche Musiker in Russland; die Neue Zeitschrift für Musik hatte von Anfang an Korrespondenten, die aus den europäischen Metropolen, auch aus St. Petersburg und Moskau, berichteten. Das deutsch-russische musikalische Verhältnis, das hier zur Diskussion steht, ist bis ins frühe 20. Jahrhundert asymmetrisch: Deutsche und andere Ausländer sind die Gebenden, die russischen Künstler die Nehmenden; ihre Selbstwahrnehmung ist stets auch von Vergleich und Konkurrenz geprägt. Insofern



15 Detailliert dazu Feliks Purtov, Nemeckie notoizdateli Sankt-Peterburga konca 18 – pervoj četverti 19 veka [Deutsche Notenverleger in St. Petersburg vom Ende des 18. bis ins erste Viertel des 19. Jh.], Diss. St. Petersburg 2000. 16 Der Verlag Jurgenson, Hauptverleger Čajkovskijs, wurde nach der Oktoberrevolution nationalisiert als Muzgiz (Muzykal’noe gosudarstvennoe izdatel’stvo) und ab 1964 als Muzyka weitergeführt. 2004 haben der Direktor von Muzyka und Boris Jurgenson, Urenkel des Verlegers, das Verlagshaus Jurgenson in Russland wiederbelebt. 17 Als Russländischen Musikverlag (Rossijskoe muzykal’noe izdatel’stvo); 1909 hatte Kusevickij, im Westen als Koussevitzky, das Verlagshaus Edition russe de musique gegründet. Siehe dazu den Aufsatz von Elena Poldiaeva im vorliegenden Band. 18 Vgl. die Liste der russischen Musikzeitschriften im Art. „Periodicals“, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition, hrsg. von Stanley Sadie, London: Macmillan, 2001, Bd. 28, S. 339–573, hier S. 428f.; Musikkritiken erschienen üblicherweise in allgemeinen Zeitungen.

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spielen nationalistische Abgrenzungen, Idiosynkrasien, auch kulturelle Arroganz auf beiden Seiten mit hinein. Auf russischer Seite wird das im Konflikt zwischen Slawophilie und Westlertum ausgetragen;19 auf deutscher Seite kommt es in überheblicher Musikgeschichtsschreibung zum Ausdruck.20 Ohne diese ideologischen Differenzen vertiefen zu können, sollen die engen Verflechtungen zwischen russischer und westeuropäischer Musik, konkret der aus deutschsprachigen Ländern, im Folgenden in vier thematischen Bereichen exemplarisch dargestellt werden: Institutionen (I), russische Musiker im Westen (II), russische Musik in Werken westlicher Komponisten (III) und Ästhetik (IV). I. Deutschsprachige Musiker in russischen Musikinstitutionen Im Laufe des 19. Jahrhunderts bildete sich im russischen Reich ein professionell organisiertes Musikleben nach westeuropäischem Vorbild heraus, gemeinsam getragen von Russen, die im Ausland studiert hatten, und von Ausländern, die seit Jahrzehnten für die Musikpflege in Russland zuständig waren. Auch in den Bereichen der Institutionalisierung von Konzertorganisationen und Musikerausbildung liegt ein asymmetrisches Verhältnis zugrunde: Westliche, insbesondere deutsche Modelle werden nach Russland importiert und adaptiert mit der



Allgemein und mit Quellentexten ausgestattet: Frank Golczewski und Gertrud Pickhan (Hrsg.), Russischer Nationalismus. Die russische Idee im 19. und 20. Jahrhundert. Darstellung und Texte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1998. 20 Hugo Riemann formuliert in seiner Geschichte der Musik seit Beethoven (1800–1900), Stuttgart: W. Spemann, 1901, einleitend zum Kapitel „Die Nationalen Strömungen“: „Die alle nationalen Eigentümlichkeiten möglichst ausgleichende Musikkultur ließ bis in das 19. Jahrhundert hinein eine selbständige Entwickelung der Musik-Idiome einzelner Stämme und Völker nicht aufkommen; ganz besonders gilt das von der Zeit ab, wo Deutschland vorzugsweise der Träger dieser Kultur geworden war und sowohl die französische pointierte Rhythmik als die italienische Melodiosität absorbiert und assimiliert hatte. Es bedurfte zur Hervorrufung der nationalen Strömungen erst des Durchbruchs einer Art von Verzweiflung, auf dem Wege der Klassiker deren Kunstleistungen zu erreichen; die Erscheinung Beethovens mit ihrer imposanten Größe hat nicht nur die Blüte der musikalischen Romantik, sondern auch die nationalen Richtungen in der Komposition hervorgebracht. Sie drängte alle die Kleinen, welche über diesen Berg hinüber zu kommen nicht hoffen konnten, in liebliche und anmutige Seitentäler“ (S. 499). Konkret zu den St. Petersburger Komponisten: „Die ‚Novatoren‘ haben eine Schule gebildet und das musikalische junge Rußland ist jetzt nicht mehr zufrieden mit der Beteiligung am europäischen Konzert, sondern träumt allen Ernstes von dem kommenden Übergange der musikalischen Hegemonie von den Deutschen auf die Slaven. Wenn es auch damit wohl sicher noch eine gute Weile hat, so ist doch nicht in Abrede zu stellen, daß das Bestreben geborener Russen, ihren eigenen musikalischen Dialekt zu reden, mancherlei reizvolle Anregungen gegeben hat“ (S. 508). 19

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Konsequenz, dass auch das Repertoire international ausgerichtet ist bzw. dass russische Komponisten mit einem älteren ausländischen Repertoire konkurrieren müssen. Die Oper als älteste und vom Hof im Besonderen geförderte Institution war von Beginn an international ausgerichtet. Erst mit der Entstehung eines international konkurrenzfähigen russischen Opernrepertoires (Glinka, Modest Musorgskij, Čajkovskij) pendelte sich ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen russischen und ausländischen Werken auf den Opernbühnen ein.21 Daher spielen nationale Empfindlichkeiten auch in die Bereiche hinein, in denen es um Institutionalisierung geht. Der seit Mitte des 19. Jahrhunderts schwelende Richtungsstreit strahlte auch in die Herausbildung der musikalischen Institutionen hinein. Betrachtet man die Konzertveranstalter und die Anfangsjahre der Konservatorien genauer, dann werden die Asymmetrien in den deutsch-russischen Verflechtungen sichtbar. Die älteste Konzertorganisation, die Philharmonische Gesellschaft St. Petersburgs (Filarmoničeskoe obščestvo Sankt-Peterburga), die bis in die Gegenwart existiert,22 wurde 1802 mit der russischen Erstaufführung von Joseph Haydns Oratorium Die Schöpfung23 von Musikern und Musikliebhabern gegründet. Ihr Ziel war es, dem Publikum alte und neue symphonische und oratorische Musik nahezubringen und Musikerwitwen und -waisen zu unterstützen. Die Ge-



Giuseppe Verdi hat für seine Oper La forza del destino, die im Auftrag der St. Petersburger Theaterdirektion entstand und dort im November 1862 uraufgeführt wurde, ein phantastisch hohes Honorar erhalten: 20.000 Rubel nach Robert C. Ridenour, Nationalism, Modernism, and Personal Rivalry in Nineteenth-Century Russian Music (Russian Music Studies, 1), Ann Arbor, Michigan: UMI Research Press, 1981, S. 7, Anm. 12; bzw. 60.000 Goldfranken nach A[leksandr] I. Volʼf, Chronika Peterburgskich teatrov s konca 1855 do načala 1881 g., godovyja obozrenija russkoj i francuzskoj dramatičeskoj sceny, opery, baleta [Chronik der St. Petersburger Theater von Ende 1855 bis Anfang 1881, jährliche Umschau der russischen und französischen dramatischen Bühnen, der Oper und des Balletts], St. Petersburg: Tipografija R. Golike, 1884, S. 118. Ein Dekret von 1827 legte die Gehaltsgrenze für russische Sänger und Musiker auf 1143 Rubel im Jahr fest; das war auch die Höchstsumme, die ein russischer Komponist für eine Oper erhielt. Im Zusammenhang mit der Uraufführung von Aleksandr Dargomyžskijs Steinernem Gast geriet das Dekret in die Kritik. (Nachweise bei Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 1: Das 19. Jahrhundert, Laaber: Laaber, 1994, S. 127f.) Vgl. auch Lucinde Braun, Studien zur russischen Oper im späten 19. Jahrhundert (Čajkovskij-Studien, 4), Mainz: Schott, 2000 (zugleich Diss. Berlin). 22 Siehe dazu Galina Retrovskaya, „The Music Library of the St. Petersburg Academic Philharmonic Society Named after D. D. Shostakovich“, in: Fontes artis musicae 53, Heft 3 (2006), S. 165–169; Denis Lomtev, Nemcy v muzykalʼnych obščestvennych obʼʼedinenijach Rossii [Deutsche in musikalischen Vereinigungen Russlands], in: Muzykovedenie 11 (2012), S. 9–14. 23 Boris Steinpress, „Haydns Oratorien in Russland zu Lebzeiten des Komponisten“, in: Haydn-Studien 2 (1969), S. 77–112. 21

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sellschaft gab ein bis vier Konzerte pro Saison, ihre Dirigenten in der Anfangsphase waren u. a. Karl Albrecht, Ludwig Maurer und Carl Schuberth – Männer, die sich generell für die Musikpflege in Russland engagierten; hinzu kamen später Gastdirigate (u. a. von Hector Berlioz, Richard Wagner, Hans von Bülow). Mit Anton Rubinštejn (Rubinstein), Anatolij Ljadov, dem aus Böhmen gebürtigen Eduard Napravnik u. a. ging die Leitung der Konzerte im späteren 19. Jahrhundert in russische Hände über. Den Vorsitz hatte ein Mitglied des Hofes; bei der Gründung war das Großfürstin Elena Pavlovna. Das Repertoire war zunächst ausschließlich westeuropäisch mit einem Schwerpunkt auf geistlicher Musik: 1805 Mozarts Requiem, 1806 Georg Friedrich Händels Messias und ein Te Deum von Giuseppe Sarti, den Katharina II. 1784 als Opernkomponisten nach St. Petersburg geholt hatte und der dort ein Konservatorium nach italienischem Vorbild hatte aufbauen sollen. Später folgten Ludwig van Beethovens Christus am Ölberg (1813), Giovanni Battista Pergolesis Stabat mater (1818), Luigi Cherubinis cMoll-Requiem und Carl Heinrich Grauns Der Tod Jesu (1820) sowie die Uraufführung von Beethovens Missa solemnis (1824).24 Zugleich brachte die Philharmonische Gesellschaft symphonisches Repertoire zur Aufführung und bot konzertierenden Solisten, ausländischen und russischen, ein Forum. In welchem Maße die Philharmonische Gesellschaft westeuropäisch ausgerichtet war, verdeutlicht ein Blick auf die Liste ihrer ausländischen Ehrenmitglieder:25 Angeführt wird sie von Joseph Haydn; zu den Musikern und Komponisten, die ihm folgten, gehören in der Reihe ihrer Aufnahme u. a. Sigismund Ritter von Neukomm, John Field, Adolf Henselt, Luigi Cherubini, Ludwig Maurer, Heinrich Romberg, Hector Berlioz, Henriette Sonntag, Franz Liszt, Clara Schumann, Pauline Viardot-Garcia, Henri Vieuxtemps, Anton Gerke, Giulia Grisi, Giacomo Meyerbeer, Giovanni Battista Rubini, Louis Spohr, Richard Wagner, Henryk Wieniawski, Henriette Nissen-Saloman, Adelina Patti, Camille Everardi, Leopold Auer, Arthur Nikisch. Die Philharmonische Gesellschaft schmückte sich mit ihren berühmten Ehrenmitgliedern; andererseits zeugt die komplette Liste auch davon, wie vielen Persönlichkeiten der St. Petersburger Kultur – Adligen, Militärs, Natur- und Geisteswissenschaftlern – die internationale Musikpflege ein Anliegen war. Nimmt man so eine Liste als Gradmesser für die Offenheit der Organisation, dann fällt auf, dass der Anteil ausländischer Ehrenmitglieder im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter sinkt. Nach der Aufnahme einiger Sänger 1873 ist Arthur Nikisch 1902 der nächste und letzte Ausländer auf der Liste.



24 Natan Fischmann, „Die Uraufführung der Missa solemnis“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft, 12. Jg. (1970), S. 274–281. 25 http://www.philharmsociety.spb.ru/honour1802.php, abgerufen am 16. 8. 2014.

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Bald nach der Philharmonischen Gesellschaft gründeten sich in beiden Hauptstädten weitere Institutionen zur Musikpflege; sie alle griffen maßgeblich auf die in St. Petersburg und Moskau tätigen ausländischen Musiker zurück. Die Gesellschaft der Musikfreunde (Obščestvo ljubitelej muzyki), 1828 auf Initiative des Grafen Michał Wielhorski und anderer St. Petersburger Mäzene ins Leben gerufen, legte den Schwerpunkt auf zeitgenössisches westeuropäisches symphonisches und Konzertrepertoire (Wolfgang Amadeus Mozart, Beethoven, Carl Maria von Weber); hinzu kamen konzertante Auszüge aus italienischen Opern. Gleichfalls 1828 trat die St. Petersburger Musikakademie (Muzykal’naja akademija) an die Öffentlichkeit, ihr Gründer Fëdor L’vov und seine Mitstreiter stellten symphonische und geistliche Musik in den Mittelpunkt. L’vovs Sohn Aleksej, der hier als Violinsolist auftrat, eröffnete 1835 allwöchentliche Streichquartettabende in seinem Haus, bei denen er selbst, Ludwig Maurer, Franz Böhm, Maciej Wielhorski, gelegentlich auch andere Solisten teilnahmen. Aleksej L’vov war auch der Initiator der 1850 gegründeten Konzertgesellschaft (Koncertnoe obščestvo), deren Spieler sich aus den Orchestern der kaiserlichen Theater rekrutierten und die den Schwerpunkt auf Beethovens Symphonien, aber auch auf ältere Musik (Christoph Willibald Gluck, Händel, Johann Sebastian Bach) legte. Das Niveau dieser Gesellschaft muss ausgesprochen hoch gewesen sein.26 Von anderem Zuschnitt waren die sogenannten Universitätskonzerte, die Alexander Vitzthum von Eckstädt, der Inspektor der Petersburger Universität, 1842 ins Leben gerufen hatte. Die Konzerte waren als „Proben“ deklariert (Muzykal’nye upražnenija studentov imperatorskogo Sankt-Peterburgskogo universiteta); daher waren sie nicht an die Fastenzeit (Februar, März, April) gebunden und konnten wöchentlich stattfinden. Ständiger Dirigent war Carl Schuberth. Nur in diesem Rahmen erklangen zu dieser Zeit auch Werke von russischen Komponisten. Aleksandr Varlamov organisierte erstmals 1845 ein eigens als russisch bezeichnetes Konzert (russkij koncert), bei dem seine eigenen Romanzen erklangen. Ein zweites russisches Konzert fand 1847 statt, diesmal mit Romanzen und Arien von Varlamov und Glinka; bei einem dritten Konzert 1848 kamen außerdem Werke von Aleksandr Dargomyžskij und Aleksej L’vov zu Gehör. Die Idee explizit russischer Konzerte führte Vladimir Odoevskij weiter, der im März und April 1850 je ein Konzert unter der Leitung von Karl Albrecht und von Anton



Vgl. Wilhelm von Lenz, „La société des concerts fondue par M. le Général Alexis Lvoff“, in: Journal de St. Petersbourg, 19. April 1854. 26

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Rubinštejn initiierte. Für Moskau ist ein erstes ‚russisches‘ Konzert im Mai 1851 überliefert.27 Das St. Petersburger Konzertleben blühte im Lauf des 19. Jahrhunderts dank vielfältiger Initiativen auf, die gleichermaßen von professionellen Musikern und Musikliebhabern getragen wurden. Dabei kooperierten, wie in den älteren Opernorchestern auch, russische und ausländische, vor allem deutsche Musiker mit dem Ziel, ein Konzertleben auf westeuropäischem Niveau zu institutionalisieren. Das Repertoire all dieser Konzertorganisationen unterschied sich nicht grundsätzlich von dem der westlichen Länder. Auch in St. Petersburg, eher als in Moskau, erklangen die Symphonien Mozarts und Beethovens, die neuesten Solokonzerte, Arien aus zeitgenössischen italienischen und französischen Opern, Oratorien und vereinzelt historische Werke, wobei sich Pergolesis Stabat mater in einer Instrumentierung von Aleksej L’vov über viele Jahre besonderer Beliebtheit erfreute. Die bemerkenswerte Präsenz geistlicher Werke, sowohl katholischer als auch protestantischer Provenienz, in russischen Konzertsälen zeigt, dass man auch hierin den westeuropäischen Säkularisierungstendenzen folgte, zumal diese Entwicklung die streng liturgisch gebundene orthodoxe Kirchenmusik nicht tangierte. An den wenigen als russisch deklarierten Konzerten haben sich auch deutsche Musiker beteiligt, wie das Dirigat von Karl Albrecht bestätigt. Dass man aber Werke russischer Komponisten in separaten Konzerten unterbrachte, wirft ein Licht auf eine Problematik, die den Akteuren in ihrer Tragweite möglicherweise nicht bewusst war: Man wollte der russischen Musik – vokalen und symphonischen Werken Glinkas, Dargomyžskijs, Aleksej Verstovskijs, Varlamovs, L’vovs, Aleksandr Aljab’evs, Rubinštejns – in eigenen institutionalisierten Konzertreihen Gehör verschaffen, vielleicht auch deshalb, damit sie sich nicht dem Vergleich mit einer Beethoven-Symphonie oder einem Konzertsatz Mendelssohns aussetzen müsse. Mit der Separierung und vereinzelten Konzerten aber gab man der russischen Musik einen Nischenplatz; man exotisierte sie und begegnete ihr streng genommen mit Geringschätzung. Diese Schieflage hat sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit weiteren Institutionalisierungsschritten, vor allem mit der Gründung der Konservatorien und der Professionalisierung der Musikerausbildung, korrigiert. Auch dieser Prozess vollzog sich in enger Verbindung mit ausländischen, insbesondere deutschen Vorbildern, denen ein erstarkendes nationales Bewusstsein mit zunehmender Skepsis begegnete.



Daten nach Istorija russkoj muzyki [Geschichte der russischen Musik], hrsg. von Jurij Keldyš, weitergeführt von Michail Tarakanov, Bd. 5, Moskau: Muzyka, 1988, S. 504–509, sowie Bd. 6, ebd. 1989, S. 343. 27

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Initiator der Professionalisierung der russischen Musik war Anton Rubinštejn. Seine Studien im Ausland, von denen er 1848 nach Petersburg zurückkehrte, hatten ihn davon überzeugt, dass Russland auf dem Gebiet professioneller Musikausübung rückständig sei. Bei Großherzogin Elena Pavlovna, die ihn 1852 als Klavierbegleiter engagierte, muss er auf offene Ohren für seine Reformpläne gestoßen sein; denn sie hatte die Idee zu einem Konservatorium schon 1844 gegenüber Robert Schumann angesprochen.28 Rubinštejns Pläne zielten darauf, die russische Musik auf ein der westeuropäischen Musik ebenbürtiges Niveau zu bringen. In diesem Sinne veröffentlichte er im Frühjahr 1855 in den Wiener Blättern für Musik, Theater und Kunst eine Artikelsequenz über Musik und Komponisten in Russland, mit der er das Interesse der westlichen Welt an der russischen Musik wecken wollte.29 Von den russischen Komponisten dürfe Glinka „einen ehrenvollen Rang unter den besten Meistern des Auslandes“30 beanspruchen; dank seiner Lieder dürfe er „ohne Bedenken der russische Schubert genannt werden“.31 Die bislang vorliegenden russischen Opern aber seien nicht international konkurrenzfähig; denn zum einen fehle ihnen – wegen der Vorherrschaft der glanzvollen italienischen Oper in St. Petersburg – die Infrastruktur, zum andern seien sie „in einer Weise“ komponiert, die aus der Perspektive „der Weltkunst […] den Vorwurf einer zu ausschließlichen Lokalfärbung auf sich ladet.“32 Rubinštejn argumentiert damit, dass auf der Opernbühne gezeigte Emotionen „allen Völkern der Erde eigen“ seien, daher müsse die „Inmusiksetzung dieser universellen Gefühle nicht einen Volkston, sondern einen Weltton an sich tragen“, einen Ton, den Rubinštejn, im Lichte der zeittypischen Orientalismen präzisiert: „so wenig man versucht sein würde, eine persische, malayische oder japanische Oper zu componiren, sondern im Allgemeinen eine orientalische, ebenso wenig zeugt es von gewiegter Anschauung, eine englische, französische oder russische Oper (wir meinen hier blos den musikalischen Theil) zu schreiben, sondern eine Europäische.“33



In diesem Sinne äußert sich Robert Schumann am 17. Mai 1844 in der Nachschrift zu einem Brief Clara Schumanns an Friedrich Wieck aus St. Petersburg, in: Briefwechsel Robert und Clara Schumanns mit der Familie Wieck, hrsg. von Eberhard Möller (Schumann Briefedition, Serie I, Bd. 2), Köln: Dohr, 2011, S. 239. 29 Anton Rubinstein, „Die Componisten Rußland’s“, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst, 1. Jg. Nr. 29 (11. 5. 1855), S. 113; Nr. 33 (25. 5. 1855), S. 129f.; Nr. 37 (8. 6. 1855), S. 145f.; Digitalisate bei Anno. 30 Ebd. S. 129. 31 Ebd. S. 145. 32 Ebd. S. 113. 33 Ebd. S. 129. Rubinštejn unterscheidet zwischen durchgängig nationalem Ton – in Modalität, Harmonik, Metrik, Klangfarben – im Gegensatz zu gelegentlichem Lokalkolorit und Operntypen, die zugleich national zugeordnet waren, und fährt fort: „Von dieser Ansicht sind blos 28

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Rubinštejn trieb die Institutionalisierung und Professionalisierung der Musikerausbildung systematisch voran. Der erste Schritt in diese Richtung war die Gründung der Russischen Musikgesellschaft (Russkoe muzykal’noe obščestvo, RMO), die – so die Idee der Initiatoren, an deren Spitze Elena Pavlovna und Rubinštejn standen – für die Musikkultur in ganz Russland zuständig sein sollte.34 In St. Petersburg trat sie im November 1859 mit einem ersten Konzert an die Öffentlichkeit. Diese Konzerte, Symphonische Versammlungen (simfoničeskie sobranija) genannt, fanden wöchentlich unter Rubinštejns Leitung statt; hinzu kamen Quartett- und Soloabende. Rubinštejns Repertoiregestaltung zielte auf die Verflechtung westeuropäischer und russischer Musik. Neben Bach, Händel, Gluck, Mozart, Beethoven, Schubert, Berlioz, Spohr, Mendelssohn, Liszt, Schumann standen immer auch mindestens ein Werk von Verstovskij, Glinka, Dargomyžskij, Cezarʼ Kjui und Rubinštejn selbst auf dem Programm. Rubinštejn ersetzte also die frühere Selbst-Exotisierung durch Gleichberechtigung und Vergleichbarkeit. Abteilungen der RMO wurden in Moskau (1860), Kiew (1861), Kasan (1864), Charkow (1871), Pskow, Saratow, Nischni Nowgorod (1873) und weiteren Städten eingerichtet und damit die Institutionalisierung der Musikkultur ins ganze Land getragen. 1869 übernahm die kaiserliche Familie die Schirmherrschaft über die Gesellschaft, die fortan den Zusatz ‚Kaiserliche‘ im Namen trug (Imperatorskoe, IRMO). Die Einnahmen aus den Konzerten dienten zur Mitfinanzierung von Musikkursen, die die RMO im Frühjahr 1860 in St. Petersburg eingerichtet hatte. Bis dahin lag die musikalische Ausbildung in privaten Händen bzw. war an der altehrwürdigen Hofsängerkapelle (Pridvornaja pevčeskaja kapella, gegründet 1479) angesiedelt; die Lehrer waren üblicherweise Ausländer. Rubinštejn verlieh seinen Forderungen nach Professionalisierung noch einmal Nachdruck in dem Artikel „Über die Musik in Russland“,35 in dem er beklagte, in Russland würden nur Liebhaber Musik betreiben, Menschen, die „dank ihrer Herkunft oder gesellschaftlichen Stellung nicht zum Broterwerb Musik machen, sondern zu ihrem privaten Vergnügen.“36 Man müsse zunächst Fremdsprachen lernen, bevor man Musik studieren könne; im Russischen gebe es nicht einmal den



zwei Specialitäten: die ‚Verflechtung des Volksliedes‘ und die ‚Manier‘ auszunehmen; denn nur in letzterer liegt heutzutage der Unterschied, den man zwischen italienischen und deutschen Opern zu machen gewohnt ist“ (ebd.). 34 Gegründet auf der Basis der Satzung der Symphonischen Gesellschaft (Simfoničeskoe obščestvo), die die Brüder Wielhorski und Anton Gerke 1840 ins Leben gerufen hatten. 35 Anton Rubinštejn, „O muzyke v Rossii [Über die Musik in Russland]“, in ders., Literaturnoe nasledie [Literarischer Nachlass], hrsg. von Lev A. Barenbojm, Bd. 1, Moskau: Muzyka, 1983, S. 46–53 [erstmals in der Zeitschrift Vek 1861, Heft 1]. 36 Ebd. S. 46.

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Begriff ‚Musiklehrer‘. Dieser Missstand könne nur mit der Gründung eines Konservatoriums behoben werden, das Berufsmusiker – Instrumentalisten, Sänger, Dirigenten, Komponisten – hervorbringe und dem Musikerberuf zu Anerkennung und angemessener Bezahlung verhelfe. 1862 wurde das St. Petersburger Konservatorium eröffnet, die Direktion übernahm Anton Rubinštejn; 1866 nahm das Moskauer Konservatorium seine Tätigkeit unter der Direktion von Nikolaj Rubinštejn auf.37 In den Satzungen wurde festgeschrieben, dass den Absolventen der Titel eines Freien Künstlers, also eine anerkannte Berufsbezeichnung verliehen wird. Aus der Kooperation zwischen Elena Pavlovna, dem Westen gegenüber aufgeschlossenen Fachleuten, engagierten Musikern zumeist westeuropäischer Herkunft und dem unermüdlichen Einsatz der Rubinštejn-Brüder – beide Pianisten von internationaler Reputation – gingen diese beiden Institutionen hervor, die für alle weiteren Konservatorien im Lande als Modell dienten. Die Professorenschaft rekrutierte sich aus renommierten Künstlern und Wissenschaftlern, und das waren in den ersten Jahrzehnten vornehmlich Ausländer. Zu denen, die schon zuvor an den Musikkursen unterrichteten und dann ans St. Petersburger Konservatorium übernommen wurden, gehörten neben Rubinštejn selbst der von Carl Czerny ausgebildete Pianist Theodor Leschetizky, bis er 1878 nach Wien zurückkehrte (und dort Lehrer u. a. von Artur Schnabel, Elly Ney, Paul Wittgenstein und Ignaz Friedman wurde). Weitere Klavierprofessoren waren Anton Gerke und Alexander Dreyschock. Ersterer, der in Russland geborene Sohn des aus Lüneburg stammenden August Gerke, hatte eine internationale Pianistenausbildung erfahren (bei John Field in Moskau, bei Friedrich Kalkbrenner in Paris, bei Ferdinand Ries in Hamburg, bei Ignaz Moscheles in London), bevor er 21-jährig an den St. Petersburger Hof berufen wurde. Auch Dreyschock konnte auf eine internationale Karriere zurückblicken, bevor er nach St. Petersburg kam. Zu den Schülern der aus Schweden stammenden Mezzosopranistin Henriette Nissen-Saloman, die zu den europäischen Gesangsgrößen der 1840er und 1850er Jahre zählte, gehörten u. a. Fëdor Stravinskij, Elizaveta Lavorskaja und Wilhelma Raab; ihr Lehrbuch Das Studium des Gesangs erschien posthum 1881 in russischer, französischer und deutscher Sprache. Henryk Wieniawski, der seine Ausbildung am Pariser Konservatorium erhalten hatte, wurde 1860 als Solist an den Petersburger Hof berufen und wirkte bis 1865 als Violinprofessor, bevor er eine Professur in Brüssel übernahm. Carl Schuberth war längst ein in-



Ausführlich dazu: Denis Lomtev, Nemeckie muzykanty v Rossii: k istorii stanovlenija russkich konservatorij, Moskva: Prest, 1999; deutsche Übersetzung als Deutsche Musiker in Russland: zur Geschichte der Entstehung der russischen Konservatorien (Edition IME, Reihe 1, Bd. 6), Sinzig: Studio.Verlag, 2002.

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ternational ausgewiesener Cellist und Komponist, am St. Petersburger Hof als Solist seit 1835 tätig und langjähriger Leiter der Universitätskonzerte, als er die Celloklasse des Konservatoriums übernahm. Karl Davydov, der gleichfalls ab 1862 eine Cello-Professur bekleidete, hatte sein Studium bei Schuberth begonnen, war dann nach Leipzig zu Friedrich Grützmacher gewechselt und hatte dort ab 1860 eine Cello-Dozentur sowie als Nachfolger seines Lehrers die Position des Solo-Cellisten beim Gewandhaus inne, bevor man ihn nach St. Petersburg berief. Als Theorielehrer wirkten zu Beginn der aus Böhmen gebürtige Ignaz Wojatschek und Nikolaj Zaremba, Absolvent der St. Petersburger Universität, der bei Anton Gerke Klavier gelernt und bei Adolf Bernhard Marx in Berlin Musiktheorie studiert hatte. Durch Zarembas Hände gingen u. a. Čajkovskij und Hermann Laroche (German Laroš). Dass Zaremba eine konservative Musikanschauung vertrat, ist vielfach belegt, und Musorgskij hat ihm deshalb ein unrühmliches Denkmal in seinem Raëk gesetzt. Die Muzykalʼnaja ėnciklopedija hebt allerdings hervor, dass Zaremba der Erste war, der Musiktheorie in russischer Sprache unterrichtete, also die von Rubinštejn beklagte Sprachbarriere überwand.38 Das Lehrpersonal des Moskauer Konservatoriums bestand in der Anfangsphase gleichfalls primär aus Ausländern. Zu den Klavierprofessoren gehörten – neben Nikolaj Rubinštejn selbst – Eduard Langer, der in Leipzig bei Moscheles Klavier und bei Moritz Hauptmann Theorie studiert hatte, wenig später auch dessen Vater Leopold Langer, ein aus Wien gebürtiger Pianist, Organist und Komponist. Der Field-Schüler Alexandre Dubuque (Aleksandr Djubjuk) verfasste ein Lehrbuch des Klavierspiels39 und bildete in Moskau u. a. Nikolaj Zverev aus, den späteren Lehrer Sergej Rachmaninovs, Aleksandr Skrjabins und Aleksandr Zilotis. Zu nennen sind schließlich der international renommierte Czerny-Schüler Anton Door, der 1869 nach Wien zurückkehrte, und der Liszt-Schüler Karl Klindworth, den Rubinštejn aus London nach Moskau berief. Klindworth lehrte 1866 bis 1882 am dortigen Konservatorium; Rubinštejns Tod war ihm Anlass, nach Berlin überzusiedeln, wo er die Leitung der Berliner Philharmoniker übernahm. In Moskau gingen u. a. Sergej Ljapunov und Georgij Katuar durch seine Hände. Mit Čajkovskij, zu dessen Francesca da Rimini (1880) er einen Klavierauszug verfasste, verband ihn eine Freundschaft; zu den zahlreichen weiteren Klavierauszügen seiner Moskauer Zeit zählt derjenige von Wagners Götterdämmerung.



Vgl. I[zrailʼ] M[arkovič] Jampolʼskij, Art. „Zaremba, Nikolaj“, in: Muzykal’naja ėnciklopedija [Musikenzyklopädie], hrsg. von Jurij Keldyš, Bd. 2, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, 1974, Sp. 436. 39 Aleksandr Djubjuk, Technika fortepiannoj igry [Die Technik des Klavierspiels], Moskau: Lit. Kondratʼeva, 1866. 38

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(Den zweiten Akt schickte die Moskauer Post versehentlich nach Beirut statt nach Bayreuth, so dass Klindworth eine neue Fassung anfertigen musste.)40 Als Violinprofessor gewann man in Moskau den international renommierten und in Russland gut bekannten Ferdinand Laub, aus Prag gebürtig, der u. a. die ersten beiden Streichquartette Čajkovskijs mit seinem Ensemble uraufführte. Čajkovskijs drittes Streichquartett ist Laubs Andenken gewidmet. Der Cellist Bernhard Cossmann hatte am Pariser Théâtre Italien, unter Mendelssohn am Leipziger Gewandhaus und unter Liszt am Weimarer Hoftheater gespielt, bevor ihn Nikolaj Rubinštejn und Ferdinand Laub nach Moskau holten. Die ersten Theorielehrer am Moskauer Konservatorium waren Karl (Konstantin) Albrecht und Nikolaj Kaškin, einer der wenigen gebürtigen Russen der ersten Professorengeneration, der von 1866 bis 1906 am Moskauer Konservatorium wirkte; er übersetzte Ludwig Busslers Kontrapunktlehre ins Russische und verfasste ein mehrfach aufgelegtes Lehrbuch der elementaren Musiktheorie.41 Čajkovskij, der ab 1866 am Moskauer Konservatorium lehrte, übersetzte 1865, quasi zum Einstieg seiner Unterrichtstätigkeit, François-Auguste Gevaerts Traité général d’instrumentation (1863), 1868 Schumanns Musikalische Haus- und Lebensregeln (1850) und 1869 Johann Christian Lobes Katechismus der Musik (1851) ins Russische.42 Einer der ersten Deutschen, der zum Studium nach Moskau zu Nikolaj Rubinštejn kam (1879–1981), war Emil Sauer. Grundlage der professionellen Musikerausbildung in Russland bildete die Kooperation von Russen, die im Ausland, vor allem in Deutschland studiert oder gewirkt hatten bzw. wirkten, und Ausländern, vornehmlich Deutschen, die zeitweise oder lebenslang nach Russland gingen. Erst in der zweiten und dritten Professoren-Generation nationalisierte sich die Musikausbildung und damit auch nach und nach das Personal der Orchester, Chöre und Opernensembles. Parallel dazu entwickelte sich ein gegenseitiges wissenschaftliches Interesse, das auf Vervollständigung der Informationen, durchaus in beiden Richtungen, zielte. Julij Ėngel’, einer der führenden Kritiker der Jahrhundertwende, der sich nachdrück-



40 Vgl. John Warrack und Alan Walker, Art. „Klindworth, Karl“, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Second Edition, hrsg. von Stanley Sadie, London: Macmillan, 2001, Bd. 13, S. 674f., hier S. 675. 41 Ludwig Bussler, Contrapunct und Fuge im freien (modernen) Tonsatz, Berlin: Habel, 1878, zweite erweiterte Auflage, durchgesehen von Hugo Leichtentritt, ebd. 1912, russische Übersetzung von Nikolaj Kaškin, Moskau 1885; Nikolaj Kaškin, Učebnik ėlementarnoj teorii muzyki [Lehrbuch der elementaren Musiktheorie], Moskau: Jurgenson, 1875, 271917, letzte Ausgabe Moskau 1931. 42 Nachdruck in P[etr] Čajkovskij, Literaturnye proizvedenija i perepiska [Literarische Werke und Briefwechsel], hrsg. von Anatolij Aleksandrov (Polnoe sobranie sočinenij, 3b), Moskau: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1961.

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lich für die Verbreitung musikgeschichtlichen Wissens aus Westeuropa einsetzte, gab Hugo Riemanns Musiklexikon (fünfte Auflage) 1901 in russischer Übersetzung heraus mit einer Erweiterung um etwa 800, zumeist von ihm selbst verfasste Einträge zu russischen Personen. Der aus Riga gebürtige Evgenij Braudo, ein musikalisch geschulter Philologe, trat 1912 mit einer Übersetzung von Philipp Wolfrums zweibändiger Bach-Monographie (Leipzig 1910) hervor.43 1913 ging er noch einmal zum Studium bei Hugo Riemann und Hermann Kretzschmar nach Deutschland. In den 1920er Jahren veröffentlichte Braudo neben Arbeiten zu russischen Komponisten auch Studien zu Bach, Beethoven, Schubert und Wagner.44 Die Bach-Übersetzungen stehen mit einem neu erwachten Interesse an Alter Musik, russischer wie westeuropäischer, im Zusammenhang. Aleksandr Ziloti etwa, Pianist und Dirigent, der nach dem Studium bei Zverev zu Liszt gegangen war und von dort aus eine internationale Karriere gestartet hatte, organisierte spezielle, dem Schaffen Bachs gewidmete Konzerte, zu denen er auch renommierte westeuropäische Künstler wie die Instrumentalisten Pablo Casals und Eugène Ysaÿe, die Dirigenten Willem Mengelberg und Felix Mottl (kurz vor dessen Tod) gewinnen konnte. Übersetzungs- und Publikationstätigkeit, die auf Integration westeuropäischer Musik in Russland zielte, galt Richard Wagner, der im Zeichen des literarischen Symbolismus, aber auch mit Blick auf das Wort-Ton-Verhältnis und die Auflösung der funktionalen Harmonik rezipiert wurde, ebenso Claude Debussy, Max Reger, Richard Strauss und Arnold Schönberg. Ihnen widmeten Zeitschriften wie Nikolaj Findejzens Russkaja muzykal’naja gazeta (Russische Musikzeitschrift, RMG), vor allem aber Muzykal’nyj sovremennik (Der musikalische Zeitgenosse) und Muzyka regelmäßig Einzelstudien und größere Essays, von denen die meisten aus Vjačeslav Karatygins Feder stammten. Daniel Chennevières Buch Claude Debussy et son œuvre (Paris 1913) erschien bereits 1914 in Moskau in russischer Übersetzung. Einzelne Aufsätze Schönbergs wurden in russischer Übersetzung in der Zeitschrift Muzyka (1912, Nr. 102) und im Muzykal’nyj



43 Filipp Volʼfrum, Iogann Sebastian Bach, übersetzt von Evgenij Braudo, 2 Bde., Moskau: Jurgenson, 1912. 44 Evgenij Braudo, Iogan Sebastian Bach, opyt charakteristiki [Versuch einer Charakteristik], Peterburg: Svetozar, 1922; ders, Richard Vagner, opyt charakteristiki, Petrograd: Svetozar, 1922; ders., Richard Vagner i Rossija, Novye materialy k ego biografie [Wagner und Russland, Neue Materialien zu seiner Biographie] (Nauka, literatura, iskusstvo), Petrograd: Načatki znanij, 1923; ders., Betchoven i ego vremja, 1770–1827, opyt muzykal’no-sociologičeskogo issledovanija [Beethoven und seine Zeit, Versuch einer musiksoziologischen Untersuchung], Moskau: Gosudarsvennoe izdatel’stvo – Muzykal’nyj sektor, 1927; ders., Franc Šubert, Biografija i kratkaja charakteristika [Biographie und kurze Charakteristik] (Biblioteka populjarnych muzykal’nych znanij), ebd. 1929.

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al’manach (Moskau 1914) veröffentlicht. Seine Harmonielehre (1911) wurde rezipiert und 1915 im Muzykal’nyj sovremennik besprochen. Richard Wagner, den man in Russland seit Aleksandr Serov und Vladimir Stasov als besondere Herausforderung empfand (siehe unten, Kapitel IV), gewann im Zuge des französischen Wagnérisme und des Symbolismus vor allem mit seinen späteren Werken neues Interesse. Das schlug sich nieder in zahlreichen Übersetzungen, darunter Henri Lichtenbergers Richard Wagner: poète et penseur (Paris 11898, Moskau 1905), Édouard Schurés Le drame musical, Bd. 2, Richard Wagner: son œuvre et son idée (Paris 11875, rev. 41896, St. Petersburg 1909) und Julius Kapps Richard Wagner: eine Biographie (Berlin 1910, Moskau 1913). Auch Schriften Wagners erschienen in russischer Sprache, darunter Das Kunstwerk der Zukunft (RMG 1897 und 1898), Über das Dirigieren (RMG 1899), Oper und Drama (Moskau 1906), Beethoven (Moskau und St. Petersburg 1911) und Mein Leben (in zwei Bänden, Moskau 1911 und 1912). Vor allem Karatygin widmete Wagner mehrere größere Studien, darunter eine allgemeine, „Richard Wagner“ überschriebene im Severnyj vestnik 1913 und die Einzelpublikation „Parsifal’“. Toržestvennaja sceničeskaja misterija R. Vagnera („Parsifal“. Ein Bühnenweihfestspiel R. Wagners, St. Petersburg 1914). II. Die Präsenz russischer Komponisten und ihrer Musik in westlichen Ländern Komponisten, die es sich leisten konnten, und Virtuosen, die im Ausland Geld verdienen wollten, reisten ins westliche Ausland. Einer der ersten war Michail Glinka,45 der von 1830 bis 1834 Westeuropa bereiste und zahlreiche persönliche Bekanntschaften, u. a. mit Vincenzo Bellini und Gaetano Donizetti, mit Hector Berlioz und mit Felix Mendelssohn Bartholdy machte. Das schlug sich nieder in einer fundierten Kenntnis des italienischen Belcanto, was an beiden Opern, Ein Leben für den Zaren (Žiznʼ za carja, 1836) und Ruslan und Ljudmila (1842), abzulesen ist an der kunstvollen Durchdringung von italienischen und russischen Stilelementen, was aber auch in zahlreichen Arrangements populärer italienischer Opernmelodien Ausdruck findet. Diese Rondeaux brillantes, Divertissements brillantes, Souvenirs und Variationen über Arien aus Opern von Bellini und Do-



Vgl. Michail Glinka, Aufzeichnungen aus meinem Leben, hrsg. von Heinz Alfred Brockhaus, deutsch von Ena von Baer, Berlin: Henschel, 1961; Sergej Tyško und Sergej Mamaev, Stranstvija Glinki. Kommentarij k „Zapiskam“, Bd. 2: Glinka v Germanii, ili Apologija romantičeskogo soznanija [Glinkas Reisen. Kommentar zu den „Aufzeichnungen“, Teil II: Glinka in Deutschland, oder die Apologie des romantischen Bewusstseins], Kiew: Raduga, 2002. 45

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nizetti sind in Mailand im Druck erschienen und dienten auch der Verbreitung italienischen Repertoires in russischen bürgerlichen Häusern. Die Kontrapunktstudien, die Glinka 1833/34 bei Siegfried Dehn in Berlin trieb, zeitigten FugenKompositionen und ermunterten spätere russische Komponisten, Kontrapunkt als Kompositionstechnik ernst zu nehmen. Eine zweite Reise führte ihn von 1844 bis 1848 nach Frankreich und Spanien. In Paris bekam er dank Berlioz Gelegenheit zu einem Konzert mit eigenen Werken. Auszüge aus dem Leben für den Zaren begeisterten Henri Mérimée, der Bruder des Dichters Prosper Mérimée, zu dem Ausruf: „Dies ist mehr als eine Oper, es ist ein nationales Epos; hier hat das lyrische Drama den Adel seiner ursprünglichen Bestimmung wiedererreicht, nicht als frivoles Vergnügen, sondern als eine patriotische und religiöse Feier. Obwohl ich ein Ausländer bin, habe ich dieses Werk nie ohne tiefe Sympathie und Ergriffenheit erlebt.“46 Berlioz schloss sich diesem Lob an und sagte über Ruslan und Ljudmila: Glinkas Talent ist außerordentlich schmiegsam und mannigfaltig; sein Stil hat den seltenen Vorzug, sich immer dem Willen des Komponisten anzupassen, je nach dem Charakter und den Ansprüchen des zu behandelnden Stoffes. Er kann einfach, sogar naiv sein, ohne je in eine vulgäre Wendung zu verfallen. Seine Melodien haben ganz unerwartete Akzente und Perioden von seltsamen [sic] Reiz; er ist ein großer Harmonist und behandelt die Instrumente mit einer Sorgfalt und einer Kenntnis aller geheimsten Hilfsquellen, daß sein Orchester zu einem der modernsten neuesten, lebhaftesten Orchester wird, die man hören kann.47

Die zweite Auslandsreise trug musikalisch Früchte in Gestalt eines Capriccio brillante über die Jota aragonesa (erste Spanische Ouvertüre) und eines Souvenir d’une nuit d’été à Madrid (zweite Spanische Ouvertüre, zunächst als Recuerdos de Castilla). Bei einem weiteren Besuch bei Dehn 1856 trieb Glinka auf Empfehlung Vladimir Stasovs, der ihn mit italienischer Musik des 16. Jahrhunderts bekannt gemacht hatte, Lasso- und Palestrina-Studien. Die Hoffnung, daraus Anregungen für die russische Kirchenmusik zu gewinnen, verwirklichte sich nicht. Anton Rubinštejn, der 1839 als Neunjähriger in Moskau mit Werken von Henselt, Johann Nepomuk Hummel, Sigismund Thalberg und Liszt auftrat, unternahm im Anschluss eine vierjährige Konzerttournee nach Paris und durch die



„‚Une année en Russie‘, lettres écrites de Moscou en 1840“, in: Revue de Paris, März 1844, zit. nach Glinka, Aufzeichnungen aus meinem Leben (wie Anm. 45). 47 Hector Berlioz, „Michael Glinka. Das Leben für den Zaren. Rußlan und Ludmilla“ (1845), in ders., Literarische Werke, Bd. 9, deutsch von Gertrud Savić, Leipzig: Breitkopf und Härtel, 1903, S. 145–151, hier S. 150f. 46

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westeuropäischen Metropolen. Seine kleine Etüde Undine hat Robert Schumann als „erste Arbeit des talentvollen Knaben“ gewürdigt.48 1844 bis 1846 lernten die Rubinštejn-Brüder in Berlin bei Dehn und bei dem Pianisten Theodor Kullak; nach dem Tod des Vaters kehrte die Mutter mit dem jüngeren Nikolaj nach Russland zurück, während Anton Rubinštejn weiter in Westeuropa konzertierte und 1848 nach Russland zurückkehrte. Die während des Auslandaufenthalts entwickelten Kontakte und Freundschaften, etwa zu Mendelssohn und zu Liszt, auch die Sprachkompetenz (neben Russisch auch Deutsch und Französisch) und vor allem die hohe Professionalität machten die Rubinštejn-Brüder zu Hauptfiguren der kulturellen Vermittlung zwischen Russland und Westeuropa (siehe oben, Kapitel I). Anton Rubinštejns musikalische Kontakte führten dazu, dass die meisten seiner Kompositionen im Westen uraufgeführt und später in Russland nachgespielt wurden – der Operneinakter Die Sibirischen Jäger (Sibirskie ochotniki)49 1854 in Weimar unter Liszt, die geistliche Oper Das verlorene Paradies (nach Milton) 1858 konzertant ebenfalls in Weimar, szenisch 1875 in Düsseldorf, Die Kinder der Heide 1861 in Wien, Feramors (nach Thomas Moores Lalla Rookh) 1863 in Dresden, Der Thurm zu Babel 1870 in Königsberg, Die Maccabäer 1875 in Berlin, Nero 1879, Sulamith 1879, Unter Räubern 1883 und Der Papagei 1884 jeweils in Hamburg, Moses 1892 am deutschen Theater in Prag, Christus 1894 in Stuttgart.50 Aleksandr Serov und Vladimir Stasov, der eine Kritiker und Komponist, der andere Kulturwissenschaftler und gelegentlicher Kritiker, pflegten seit ihren Reisen nach Westeuropa enge Kontakte mit dem Westen. Stasov ging 1851 ins Ausland, um in italienischen Bibliotheken und Archiven zu recherchieren, was in dem Aufsatz „L’Abbé Santini et sa collection musicale à Rome“ Niederschlag fand.51 Nach seiner Rückkehr 1854 entwickelte er sich zum Vordenker einer russisch-nationalen Kunst und Musik, die im internationalen Wettbewerb Bestand haben kann. Für dieses Ziel engagierte er sich als Musikschriftsteller; zugleich



Robert Schumann, „A. Rubinstein, ‚Undine‘“ (1843), in ders., Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, 4 Bde., Leipzig: Georg Wigand, 1854, Reprint Leipzig 1985, Bd. 4, S. 244f., hier S. 244. 49 Eine Oper, die zu einer von Elena Pavlovna und Rubinštejn projektierten Opernserie über die Nationalitäten Russlands gehörte; vgl. Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 112. 50 Zu Rubinštejns Opernschaffen vgl. Annakatrin Täuschel, Anton Rubinstein als Opernkomponist (Studia slavica musicologica 23), Berlin: Kuhn, 2001. 51 Wladimir Stassoff, LʼAbbé Santini et sa collection musicale à Rome, Florenz: Félix le Monnier, 1854 (Digitalisat bei BSB digital); russisch als Vladimir Stasov, „Abbat Santini i ego muzykalʼnye kollekcii v Rime“, in ders., Stat’i o muzyke [Aufsätze zur Musik], hrsg. von Vladimir Protopopov, Bd. 1, Moskau: Muzyka, 1974, S. 49–64. 48

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propagierte er Schumann, Berlioz und Liszt als Vorbilder und polemisierte gegen Wagner.52 Serov traf sich 1858 mit Liszt und Wagner, berichtete darüber in der Presse,53 stand fortan mit beiden im Briefwechsel und etablierte sich in Russland als Wagners Fürsprecher. Die Komponisten des Mächtigen Häufleins waren kaum im Ausland. Borodin hielt sich als Chemiker mehrfach in Heidelberg auf; Milij Balakirev reiste im Zusammenhang mit dem sich ausbreitenden Panslavismus 1866 und 1867 nach Prag und 1891 nach Polen, war aber nie im westlichen Ausland, Musorgskij hat Russland nie verlassen. Cezarʼ Kjui, mit französischen Wurzeln, publizierte in Frankreich zunächst in La Revue et Gazette musicale de Paris (1878–1880), dann 1880 seine Abhandlung La musique en Russie. Dieses Buch vermittelt den westlichen Lesern einen synthetischen Eindruck, stellt aber den unakademischen Habitus seiner Kollegen, insbesondere Musorgskijs, als unzivilisiert dar. Ganz anders verhält es sich mit Čajkovskij.54 Er hatte in Hans von Bülow einen Fürsprecher gewonnen, der über seine Werke in der deutschen Presse publizierte und 1875 in Boston die Uraufführung seines Ersten Klavierkonzerts spielte. Daran schlossen sich Aufführungen seiner Werke in den USA, in London und Wien an, bevor er selbst für längere Zeit Wohnsitz in Italien nahm. Eine



Vladimir Stasov, „Slovo sovremennika v otvet na dva izrečija cukunftistov“, in ders., Stat’i o muzyke, Bd. 1 (wie Anm. 51), S. 384–388 (russisch erstmals 1894). Laut dem Kommentar zu dieser Ausgabe (S. 418) soll eine deutschsprachige Fassung des Textes bereits 1859 unter dem Titel „Ein Wort der Gegenwart gegen zwei Phrasen der Zukunftsgilde“ in der Niederrheinischen Musik-Zeitung erschienen sein; diese Angabe ließ sich jedoch nicht verifizieren. – Vgl. auch ders., „Pisʼma iz čužich kraev [Briefe aus dem Ausland]“ (1869), ebd., Bd. 2, Moskau: Muzyka, 1976, S. 202–216; „Po povodu dvuch muzykal’nych reformatorov [Aus Anlass zweier musikalischer Reformatoren]“ (über Gluck und Wagner, 1873), ebd., S. 270– 279; außerdem „List, Šuman i Berlioz v Rossii [Liszt, Schumann und Berlioz in Russland]“ (erstmals 1889), in ders., Izbrannye sočinenia v trëch tomach [Ausgewählte Werke in drei Bänden], Bd. 3, Moskau: Iskusstvo, 1952. Vgl. dazu auch: Dorothea Redepenning, „‚…ein erbitterter Feldzug gegen die besten Werke der russischen Musik und gleichzeitig gegen Schumann, Berlioz und Liszt…‘, Bemerkungen zur Funktion Franz Liszts in der russischen Musikästhetik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Liszt und die neudeutsche Schule, hrsg. von Detlef Altenburg (Weimarer Liszt-Studien, 3), Laaber: Laaber, 2006, S. 207–219. 53 Aleksandr Serov, „Zagraničnye pisʼma [Briefe aus dem Ausland]“, in ders., Statʼi o muzyke [Aufsätze zur Musik], hrsg. von Vladimir Protopopov, Bd. 4, Moskau: Muzyka, 1988, S. 105– 148 (erstmals als Beiträge für den Teatralʼnyj i muzykalʼnyj vestnik [Theater- und Musik-Boten] 1858). – Nur die erste Artikelsequenz der „Briefe aus dem Ausland“ (1858) ist in deutscher Übersetzung erschienen, in: Alexander Serow, Aufsätze zur Musikgeschichte, hrsg. von N[athan] Notowicz [nach einer von Georgij Chubov 1950 herausgegebenen sowjetischen Edition], übersetzt von Felix Loesch, Berlin (Ost): Aufbau, 1955, S. 338–386. 54 Vgl. dazu Rüdiger Ritter, „Ambivalenzen im Deutschlandbild Pëtr Čajkovskijs“, in: Herrmann (Hrsg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 924– 971. 52

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Apanage Nadeždas von Meck (russisch: fon Mekk) hatte es ihm ermöglicht, die Professur am Moskauer Konservatorium aufzugeben und sich ganz dem Schaffen zu widmen. Sein Valse-Scherzo für Violine und Orchester wurde 1878 in Paris uraufgeführt, sein Violinkonzert 1881 in Wien, sein Zweites Klavierkonzert 1881 in New York. Das Violinkonzert erlangte Berühmtheit, auch dank Eduard Hanslicks böswilligem Kommentar: „Tschaikowskys Violinkonzert bringt uns zum ersten mal auf die schauerliche Idee, ob es nicht auch Musikstücke geben könne, die man stinken hört.“55 Der Solist war Adolf Brodsky.56 Čajkovskij hatte sich im internationalen Musikleben etabliert, dirigierte seine Werke überall in Europa und wurde als die musikalische Stimme Russlands wahrgenommen. Als Evgenij Onegin 1892 in Hamburg aufgeführt wurde, übernahm Gustav Mahler die Leitung. Seit Anfang der 1870er Jahre, als die St. Petersburger Komponisten an die Öffentlichkeit traten, machte sich Liszt zu ihrem Fürsprecher in Europa.57 Mit Stasov und Serov, auch mit Wilhelm von Lenz58 stand er bereits im Briefwechsel. 1872 heißt es in einem Brief an von Lenz: „Haben Sie Kontakt mit dem jungen musikalischen Russland und seinen sehr bemerkenswerten Koryphäen, den Herrn Balakirev, Kjui, Rimskij-Korsakov? Ich habe kürzlich einige ihrer Werke gelesen; sie verdienen Aufmerksamkeit, Lob und Verbreitung.“59 Liszt nutzte offenbar jede Gelegenheit, an Noten der St. Petersburger Komponisten zu kommen, wie man aus Briefen an französisch schreibende Briefpartner wie Kjui und den Verleger Vasilij Besselʼ entnehmen kann. Besselʼ hatte ihm über den Verlag Kahnt diverse Partituren zukommen lassen. Liszt bedankt sich, lässt übermitteln, dass man Rimskij-Korsakovs Sadko bei der Tonkünstler-Versammlung 1876 in



Eduard Hanslick, Concerte, Componisten und Virtuosen der letzten fünfzehn Jahre, 1870– 1885, Berlin: Allgemeiner Verein für deutsche Literatur, 1886, S. 269. 56 Aus Russland gebürtig, hatte er in Wien bei Josef Hellmesberger und in Moskau bei Ferdinand Laub studiert, lehrte dann am Moskauer Konservatorium (1874–1878) und übernahm schließlich am Leipziger Konservatorium eine Professur (1883–1891) und die Konzertmeisterposition am Gewandhaus-Orchester, bevor er 1895 endgültig nach Manchester übersiedelte. 57 Ausführlich dazu Dorothea Redepenning, „‚Ils valent la peine qu’on s’en occupe sérieusement, dans l’Europe musicale.‘ Franz Liszt als Mediator russischer Musik in Westeuropa“, in: Russische Musik in Westeuropa bis 1917. Ideen – Funktionen – Transfers, hrsg. von Inga Mai Groote und Stefan Keym, München: edition text + kritik, 2018, S. 17–31. 58 Wilhelm von Lenz war in Westeuropa bestens bekannt seit seinem Buch Beethoven et ses trois stiles, 2 Bde., Brüssel: Stapleaux, 1852 und 1855, deutsch als Beethoven. Eine Kunststudie, 3 Bände, Bd. 1 und 2 Kassel: Ernst Balde, 1855, Bd. 3 Hamburg: Hoffmann & Campe, 1860. 59 Franz Liszt’s Briefe, gesammelt und hrsg. von La Mara [i. e. Marie Lipsius], Bd. 2: Von Rom bis an’s Ende, Leipzig: Breitkopf & Härtel, o. J. [1893], S. 176 (original französisch). 55

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Weimar mit Erfolg aufgeführt habe und fährt fort: „Im kommenden Jahr werde ich vorschlagen, dass man andere Werke der erwähnten russischen Komponisten spielt. Sie verdienen, dass man sich mit ihnen im musikalischen Europa ernsthaft beschäftigt.“60 1877 war Borodin in Weimar zu Besuch und spielte seine zweite Symphonie vierhändig mit Liszt. Als 1879 die von Balakirev herausgegebene Partitur von Ruslan und Ljudmila im Druck erschien, ließ Ljudmila Šestakova, die Schwester Glinkas, Liszt ein Exemplar zukommen. Er dankte ihr mit den für den ganzen Komponistenkreis bestimmten Worten: „Glinka bleibt der PatriarchProphet der Musik in Russland.“61 Die russischen Komponisten dankten es ihm mit Widmungen. Im Oktober 1884 bedankte sich Liszt beim „confrère Balakirev“ für die Widmung der Symphonischen Dichtung Tamara, erbat sich einen vierhändigen Klavierauszug und fügte, wieder mit Blick auf den ganzen Kreis, hinzu: „In dieser unerschrockenen russischen musikalischen Phalanx grüße ich von Herzen Meister, die mit einer seltenen Lebensenergie ausgestattet sind: Sie leiden in keiner Weise an der Anämie an Ideen, einer Krankheit, die in einigen Ländern sehr verbreitet ist.“62 Wie ernst es Liszt mit der russischen Musik war, kann man aus seinen späten Bearbeitungen ersehen: 1879 veröffentliche er Dargomyžskijs Tarantelle, transcrite et amplifiée pour le piano à deux mains und eine Klavierfassung der „Polonaise“ aus Evgenij Onegin. 1880 steuerte Liszt zu den sogenannten Chopsticks-Variationen – gemeint ist eine einfache Variationenreihe, an der zahlreiche St. Petersburger Komponisten beteiligt waren – seine Variation, prélude à la polka de Borodine bei. Musorgskij, der 1881 starb, kommt hier nicht vor. Aus seinem Briefwechsel erfährt man, dass Besselʼs Bruder Ivan Liszt mehrfach Noten aus dem Verlag mitgebracht hat. Nach einem Weimar-Besuch überbrachte er Musorgskij die Nachricht, sein Liederzyklus Kinderstube (Detskaja) habe Liszt in helle Begeisterung versetzt: „Wenn das stimmt und keine Übertreibung ist, dann setzt Liszt mich mit seiner Begeisterungsfähigkeit in Erstaunen, das wäre unglaublich! […] Was wird Liszt erst sagen oder denken, wenn er einmal den Boris – und sei es auch nur im Klavierauszug – zu Gesicht bekommen sollte?“63 Liszt hat den Boris nicht zu Gesicht bekommen, und die ungarische Liszt-Forschung hat nachgewiesen, dass Liszt auch die Kinderstube nicht kennengelernt hat.64



Ebd., S. 239 (original französisch). Ebd., S. 285 (original französisch). 62 Ebd., S. 370 (original französisch). 63 Modest Mussorgski, Briefe, ins Deutsche übertragen und hrsg. von Dieter Lehmann und Christoph Hellmundt, Leipzig: Reclam, 1984, S. 149. 64 Ausführlich dazu Mártha Papp, „Liszt and Musorgsky: The genuine and false documents of the relationship between the two composers“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae 29 (1987), S. 267–284. 60 61

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Mit Louise de Mercy-Argenteau, die in Belgien Konzerte mit russischer Musik veranstaltete, stand Liszt in den letzten Jahren vor seinem Tod in engem brieflichen Kontakt. Die Comtesse begeisterte sich derart für die Musik der St. Petersburger Komponisten, dass sie die russische Sprache lernte und am Ende ihres Lebens sogar nach St. Petersburg übersiedelte. Mit Kjui korrespondierte sie in ihrer Muttersprache, arrangierte 1886 in Liège eine Aufführung seines Gefangenen im Kaukasus (Kavkazskij plennik) und publizierte eine Kjui-Monographie.65 Ein anderes Forum der Verbreitung schuf Mitrofan Beljaev, ein Musikliebhaber, der durch Holzhandel reich geworden war, indem er 1885 in Leipzig den Musikverlag M. P. Belaieff gründete. Ziel des Verlages war die Verbreitung der russischen Musik im Ausland. Die Verlagsgründung im Ausland stellte die Autorenrechte sicher, denn Deutschland war, anders als Russland, bereit, der sogenannten Berner Übereinkunft beizutreten.66 Die im Verlag Belaieff erscheinenden Werke waren gut ausgestattet und die Texte dreisprachig (russisch, französisch, deutsch) wiedergegeben, um so von vornherein die internationale Rezeption zu ermöglichen. Die Autoren wurden im Vergleich besser bezahlt und behielten das Recht, über Aufführungen zu verfügen. Die Werkauswahl traf Beljaev anfangs allein, später bildete sich eine beratende Jury, die anfangs aus RimskijKorsakov, Ljadov und Aleksandr Glazunov bestand. Bei der Pariser Weltausstellung 1878 war erstmals russische Musik erklun67 gen. Nikolaj Rubinštejn hatte zwei Konzerte dirigiert mit Orchesterwerken und Opernauszügen aus Werken von Glinka, Dargomyžskij, Čajkovskij und Serov sowie geistlichen Chorwerken von Bortnjanskij und Nikolaj Bachmet’ev. Stasov hatte darüber berichtet und ausführlich aus der französischen Presse zitiert.68 Bei der nächsten Pariser Weltausstellung 1889 war die russische Musik wieder mit zwei Konzerten präsent, die am 22. und 29. Juni 1889 im Palais du Trocadéro stattfanden, nun vertreten durch Beljaev und seinen Verlag. Das erste war angekündigt als „Concert russe, 100 musiciens sous la direction de Rimsky-Korsakow“. Auf dem Programm standen die populärsten und erfolgreichsten Werke



Louise de Mercy-Argenteau, César Cui: esquisse critique, Paris: Fischbacher, 1888. Als völkerrechtlicher Vertrag 1886 abgeschlossen; am 5. 12. 1887 traten Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien, die Schweiz und Tunesien bei. 67 Zur Rezeption russischer Musik in Frankreich vgl. Inga Mai Groote, Östliche Ouvertüren. Russische Musik in Paris 1870–1913 (Schweizer Beiträge zur Musikforschung, 19), Kassel: Bärenreiter, 2014. 68 Stasov, „Pis’ma iz čužich kraev [Briefe aus dem Ausland]“ (erstmals 1878), in ders., Stat’i o muzyke Bd. 2 (wie Anm. 52), S. 330–356, besonders Brief 4, „Russkij koncert [Russisches Konzert]“ (S. 337ff.) und Brief 5, „Vtoroj russkij koncert [Zweites russisches Konzert]“ (S. 346ff.). 65 66

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– die Ouvertüre zu Glinkas Ruslan und Ljudmila, Borodins symphonisches Bild Eine Steppenskizze aus Mittelasien, der erste Satz aus Čajkovskijs Erstem Klavierkonzert, Rimskij-Korsakovs Antar, Balakirevs Ouvertüre über russische Themen, Kjuis Marche solennelle, Klavierstücke von Ljadov, Dargomyžskijs Finnische Fantasie und Glazunovs Stenʼka Razin. Beim zweiten „Concert russe“ erklangen Glazunovs Zweite Symphonie, Rimskij-Korsakovs Klavierkonzert, Glinkas Kamarinskaja, die Polowetzer Tänze aus Borodins Fürst Igor, Musorgskijs Nacht auf dem Kahlen Berge, Klavierstücke von Balakirev, Čajkovskij und Feliks Blumenfelʼd sowie Ljadovs erstes Scherzo für Orchester und RimskijKorsakovs Capriccio espagnol. Die Konzerte verliefen erfolgreich und wurden in der Pariser Tagespresse (Figaro, Le Soir, Moniteur, Indépendance, Monde illustré etc.) positiv besprochen; Stasov publizierte Übersetzungen dieser Rezensionen. Rimskij-Korsakov berichtet, dass die Konzerte wegen zu bescheidener Werbung schlecht besucht waren. Sein Fazit klingt düster: Beljajew mußte eine Menge Geld zusetzen, doch größer war der Schaden, der sich nicht durch Geld gutmachen ließ: Auf solche Weise war es unmöglich, daß die russische sinfonische Musik die nötige Verbreitung und die erhoffte Beachtung beim westeuropäischen Publikum fand, und das konnte Beljajew ja bestimmt nicht gewollt haben. Erklärte sich der dürftige Besuch der Konzerte aus der mangelnden Reklame, so lag die tiefere Ursache für den geringen Widerhall unserer Veranstaltungen in der Tatsache, daß man im Ausland der russischen Musik überhaupt nur untergeordnete Bedeutung beimißt. Das Publikum bringt es einfach nicht fertig, sich mit etwas Unbekanntem zu beschäftigen; es begrüßt nur das Bekannte und – was auf dasselbe hinausläuft – das gerade in Mode Stehende. Für die Kunst gibt es, um diesen Teufelskreis zu sprengen, nur zwei Mittel: wirksame Reklame und zugkräftige Künstlernamen. Auf beides hatten wir von vornherein verzichtet.69

In der Zeit, als die nächste Generation an die Öffentlichkeit trat und Komponisten wie Skrjabin und Rachmaninov das Interesse der westlichen Welt erregten, machte sich Sergej Djagilev daran, die russische Kunst, vor allem die Musik, in Paris zu propagieren. 1906 veranstaltete er dort eine Ausstellung mit Ikonen und neuerer Malerei; 1907 folgte eine Serie von fünf Konzerten mit russischer Musik, bei denen Rimskij-Korsakov, Glazunov, Skrjabin, Rachmaninov, außerdem Arthur Nikisch und Fëdor Šaljapin mitwirkten, 1908 brachte Djagilev Musorgskijs Boris Godunov heraus, in der Fassung von Rimskij-Korsakov und mit Šaljapin in der Titelpartie. 1909 fand die erste ‚Saison russe‘ mit Ballettproduktionen statt. Gegeben wurden die Polowetzer Tänze aus Borodins Knjaz’ Igor’,



Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow, Chronik meines musikalischen Lebens, übersetzt und hrsg. von Lothar Fahlbusch, Leipzig: Reclam, 1968, S. 325 [erstmals russisch 1909]. 69

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Nikolaj Čerepnins Le Pavillon d’Armide und Les Sylphides, basierend auf Musik von Chopin und instrumentiert von Igorʼ Stravinskij. 1910 folgte Stravinskijs Feuervogel (Žar-ptica), 1911 Stravinskijs Petruška (Pétrouchka, Petruschka) und Čerepnins Narcisse et Echo, 1912 Vaclav Nižinskijs spektakuläre DebussyChoreographie L’Après-midi d’un faune und Maurice Ravels Daphnis et Chloé, 1913 Stravinskijs Le Sacre du printemps. Mit diesen Aufführungen war die russische Musik in Westeuropa angekommen. III. Russische Musik in Werken westlicher Komponisten Bis ins späte 19. Jahrhundert gab es im Westen ein lebhaftes Interesse an russischen Volksliedern und an populären russischen Melodien, die in die gehobene Unterhaltungsmusik eingingen; die Vorstellung aber, dass von russischer Musik – in Form von Opern, symphonischen Werken, Kammermusik, Kirchenmusik – ein schöpferischer Impuls ausgehen könnte, wäre Komponisten wie Richard Wagner oder Johannes Brahms absurd erschienen. Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert mit der wachsenden Präsenz russischer Musik, vor allem dank Djagilevs Aktivitäten in Paris, entwickeln westeuropäische Komponisten ein schöpferisches Interesse etwa an Musorgskijs oder Stravinskijs Kompositionstechniken. Am Anfang dieser Entwicklung stehen Volkslieder. Zunächst erblickte man in ihnen die Schönheit verschiedener nationaler Musiksprachen; dann rückte ihre Wichtigkeit für die Ausprägung nationaler Identität in den Vordergrund, worüber man sich international einig war. Johann Gottfried Herders Volkslieder (1778/79), posthum erweitert erschienen als Stimmen der Völker in Liedern (1807), ist eine Sammlung von volkstümlichen Gedichten bzw. Liedtexten aus diversen Regionen der Welt, die späteren Sammlern als Modell diente. Aus der gleichen Zeit stammt Georg Joseph Voglers Polymelos (1791), eine Sammlung von 16 Instrumentalstücken über Melodien aus allen Teilen der Welt.70 Später wird es Usus, Sammlungen mit Liedern nur aus einem Land und mit Noten zu den Texten zu veröffentlichen. Zu den ersten Beispielen dieser Art gehört die Sobranie russkich narodnych pesen s ich golosami (Gesammelte russische Volkslieder mit ihren Melodien, St. Petersburg 1790), gemeinsam herausgegeben von dem Dichter, Folkloreforscher und Musiker Nikolaj L’vov und dem tschechisch-



70 Detailliert dazu Silke Leopold, „Grönland in Mannheim: Abbé Voglers Polymelos und die Idee der ‚nazional-karakteristischen‘ Musik“, in: Das Andere – Eine Spurensuche in der Musikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hrsg. von Annette Kreutziger-Herr (Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, 15), Frankfurt: Peter Lang, 1998, S. 203–224.

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deutschen Komponisten Johann Pratsch (Jan Práč, Ivan Prač). Diese Sammlung gelangte über Graf Andrej Razumovskij, den russischen Botschafter in Wien, in Beethovens Hände und inspirierte die dem Grafen gewidmeten drei Streichquartette Op. 59. Beethovens Interesse für Folklore anderer Länder und seine Arrangements schottischer Lieder gehen auf diese Erfahrung zurück. Als direkte Antwort und Ergänzung zu Herders Stimmen der Völker in Liedern verstehen sich die von Peter von Goetze herausgegebenen Stimmen des russischen Volks in Liedern (Stuttgart 1828), auch eine Textsammlung, in deren „Prospectus“ Goetze ausdrücklich das Ziel formuliert, „eine Lücke in Herder’s Stimmen der Völker auszufüllen und für die russische Volksdichtung überhaupt einiges Interesse zu erwecken.“ Die Sammlung ist „Ihrer Majestät der Kaiserin von Rußland Maria Feodorowna“ gewidmet und war auch als politisches Signal gemeinsamer kultureller Traditionen und Ziele gedacht.71 Von der internationalen Beliebtheit solcher Lieder zeugen zahllose Bearbeitungen. Am Anfang steht die Kamarinskaja-Melodie, die durch Glinkas Orchesterbearbeitung (1848) im russischen musikalischen Selbstbewusstsein nobilitiert wurde. Die Melodie taucht in Pavel Vranickýs Ballett Das Waldmädchen (1796) auf und erscheint unter Joseph Haydns zweifelhaften Bearbeitungen. Beethoven verfasste darüber zwölf Variationen (WoO 71, 1797), die der Gräfin von Browne gewidmet sind.72 John Field, der große Multiplikator russischer Musik, verfasste selbstverständlich Variationen über die Kamarinskaja (Moskau 1809); es bleibt eine offene Frage, über welche Kanäle diese beliebte Melodie weiter in den Westen gelangte. Widmungen, wie sie in Beethovens Kamarinskaja-Variationen und seinen Streichquartetten Op. 59 deutlich werden, machen einen weiteren Aspekt des Kulturdialogs durch Musik sichtbar. Haydns Streichquartette Op. 33 (1781) heißen „russische“, weil sie Pavel Petrovič, dem späteren Zaren Pavel I., gewidmet sind und in seinem Wiener Wohnsitz erstmals erklangen. Beethoven widmete seine Violinsonaten Op. 30 (1803) dem Zaren Aleksandr I. Franz Schubert verfasste 1825 auf den Tod dieses Zaren eine Grande marche funèbre (D 859) und auf die Inthronisierung Nikolajs I. 1826 eine Grande marche héroïque (D 885). Widmungen dieser Art dienen auch der Pflege politischer Beziehungen zwischen den europäischen Herrscherhäusern.



Stimmen des russischen Volks in Liedern, gesammelt und übersetzt von P[eter] von Goetze, Stuttgart: Cotta, 1828 [Digitalisat bei Google Books, Reprint bei Nabu Books 2012], S. [iii] (Widmung) und 5 (Prospectus). 72 Anna Margaretha von Vietinghoff, Ehefrau des livländischen, aus Irland gebürtigen Generals George von Browne, Schülerin Beethovens und Widmungsträgerin mehrerer seiner Werke. 71

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Beethovens Zeitgenosse Ferdinand Ries, der 1811/12 mit Bernhard Romberg in Westrussland konzertierte, verfasste zahllose Rondos und Variationen für Klavier und für Kammermusikbesetzungen über russische Themen. Die späteren reisenden Klaviervirtuosen hatten selbstverständlich Variationen und Fantasien über beliebte Melodien im Gepäck, darunter auch über russische. Aus Thalbergs Repertoire erfreuten sich Deux airs russes variés (1836) besonderer Beliebtheit,73 virtuose Doppelvariationen, von denen die zweite die von Aleksej L’vov verfasste Zaren-Hymne zum Gegenstand hat. Bei Henri Herz, der lange in Nord- und Südamerika konzertiert hatte, bevor er 1859 in St. Petersburg und Moskau gastierte, findet sich unter „Œuvre 2“ ein überaus virtuoses Rondo alla Cosacca.74 Alle solche Werke erschienen bei renommierten Verlagen, etwa bei Peters in Leipzig, bei Artaria in Wien oder bei Erard in Paris; auf diese Weise war gesamteuropäische Verbreitung gesichert. Das Genre ist keinesfalls für russische Volkslieder spezifisch: Genauso populär waren schottische, irische, polnische, spanische, ungarische, böhmische, tiroler, schweizer, bei Henri Herz auch amerikanische Lieder. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeugt dieses Interesse von einer durchaus kosmopolitischen Offenheit, wobei das Zitieren etwa polnischer Lieder auch ein Zeichen internationaler Solidarität sein kann. Kompositionstechnisch unterscheiden sich Variationen, Rondos und Fantasien nicht von den Bearbeitungen populärer Opernmelodien. Auch Johannes Brahms verfasste ein Souvenir de la Russie für Klavier vierhändig, das er 1852 bei dem Hamburger Verleger Cranz unter dem Pseudonym G. W. Marx herausbrachte. An dessen Anfang steht L’vovs Hymne, dann folgen Bearbeitungen von Liedern von Nikolaj Titov, Aleksandr Varlamov, Aleksandr Aljabʼevs überaus populäre Nachtigall (Solovej) und zwei Zigeuner-Romanzen. Brahms Liebeslieder-Walzer op. 52 für vierstimmigen Chor und Klavier vierhändig, denen Texte aus Georg Friedrich Daumers Polydora. Ein weltpoetisches Liederbuch (1855) zugrunde liegen, enthalten auch russische Lieder. Der Band erschien 1869 bei Simrock in Berlin und später (ohne Jahresangabe) bei Jurgenson in Moskau und St. Petersburg mit russischem und deutschem Text im Druck. Eine Sonderstellung bei der Vermittlung russischer Musik im Westen kommt Franz Liszt zu. Als reisender Virtuose bearbeitete er diverse Stücke, darunter Aljab’evs Nachtigall als Le Rossignol, air russe d’Alabieff (Leipzig, 1842)



Vgl. Robert Schumanns Rezension, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 5 Nr. 17 (26. 8. 1836), S. 71–73, insbesondere S. 73. Nachdruck in ders., Gesammelte Schriften (wie Anm. 48), Bd. 2, S. 54f. 74 Ohne Jahresangabe in Paris bei Pacini erschienen. Ein deutscher Druck desselben Werks (Leipzig: Fr. Hofmeister, o. J.) lässt sich aufgrund der Plattennummer 1267 auf ca. 1826–1828 datieren. 73

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und ein Zigeunerlied als Chanson bohémienne (Hamburg, 1843), die er 1879 als Deux mélodies russes (Arabesques) herausbrachte, ein Souvenir de Russie, feuillet d’album (St. Petersburg, 1842) und diverse Transkriptionen von Liedern und populären Melodien. Als er 1842 und 1843 in St. Petersburg gastierte, soll er, wie mehrfach berichtet wird, die ganze Oper Ruslan und Ljudmila vom Blatt gespielt haben. Den Marsch des Černomor (Nr. 19) hat er als Tscherkessen-Marsch bearbeitet (Leipzig 1843, Neuedition 1875). IV. Ästhetik: deutsche Einflüsse auf die russische Musik Die vielen Variationen, Rondos, Transkriptionen und Fantasien über russische Volkslieder, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert bis hinauf zu Johannes Brahms finden, stehen auf einer Linie mit ungarischen Rhapsodien75 und slawischen Tänzen: Es ist ein überaus beliebtes musikalisches Material, das aber bei westeuropäischen Komponisten für die großen Gattungen ohne Konsequenzen bleibt.76 In Oper, Symphonie, Streichquartett halten sie sich an einen „europäischen“ oder einen „Weltton“, wie Anton Rubinštejn es formulierte,77 bzw. ihre Schreibweise ist „universell“, wie es in Hermann Mendels Musikalischem Conversations-Lexikon für die „deutsche Musik“ postuliert wird.78 Für süd-, nordund osteuropäische Komponisten ist der Rückgriff auf national konnotierte Materialien eine offene Frage, die kontrovers diskutiert wurde. Ferenc Erkel etwa plädierte in seinen Opern Hunyadi László (1844) und Bánk Bán (1861) ausdrücklich und durchgehend für den Ton der ungarischen Rhapsodien, der im eigenen Lande als klingende nationale Identität begrüßt wurde und eine Rezeption im Ausland erschwerte. Bedřich Smetana dagegen verzichtete in seinen Opern über



Ungeachtet der Tatsache, dass Franz Liszt in den ungarischen Nationalmelodien ein Epos in Tönen erblickte, das es zu bewahren und künstlerisch zu veredeln galt; vgl. dazu z. B. Detlef Altenburg, „Liszts Idee eines ungarischen Nationalepos in Tönen“, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae, 28. Jg. (1986), S. 213–223. 76 Vgl. dazu Adam Gellen, Brahms und Ungarn. Biographische, rezeptionsgeschichtliche, quellenkritische und analytische Studien (Diss. Heidelberg), Tutzing: Hans Schneider, 2011. 77 Wie Anm. 33. 78 Dort wird die Schlussfolgerung gezogen, es sei „das charakteristische Merkmal der deutschen Musik, dass sie in ewig mustergiltigen [sic] Formen ihre Ideale […] darstellt. Die deutsche Musik ist von unseren Meistern immer nur in diesem Sinne als Kunst geübt worden, und deshalb ist sie nicht nationaler Beschränkung verfallen […], sondern sie ist universell geworden im besten Sinne.“ August Reissmann, Art. „Deutschland, deutsche Musik“, in: Musikalisches Conversations-Lexicon. Eine Encyklopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften. Für Gebildete aller Stände, hrsg. von Hermann Mendel, Bd. 3, Berlin: R. Oppenheim, 1873, S. 137–139, hier S. 139. 75

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Stoffe aus der nationalen Geschichte ausdrücklich auf tschechische Volksmusik (Melodien und Tänze), um seinen Werken den Weg in die internationale Rezeption nicht zu verbauen.79 In Russland plädierte man mit Berufung auf Glinka für eine Durchdringung des musikalischen Satzes mit nationalen Intonationen, gerade in der Oper, aber auch in Symphonie und Kammermusik. Von Čajkovskij stammt das viel zitierte Wort, Glinkas Orchesterfantasie Kamarinskaja sei die Eichel, aus der die gesamte russische Musik hervorgegangen sei.80 Die Sättigung der musikalischen Sprache mit national konnotierten Melodien, Rhythmen, Klangfarben und harmonischen Wendungen wurde als unterscheidendes Charakteristikum und als Postulat in musikgeschichtlichen Arbeiten festgeschrieben und perpetuiert.81 Das große Narrativ einer durch Glinka begründeten nationalen Musik ist in Betracht zu ziehen, wenn man nach deutschen Einflüssen auf russische Komponisten fragt. Das Lehrprogramm der Konservatorien basierte auf dem klassischen westeuropäischen Repertoire. Auch im Kreis um Balakirev, wo man die akademische Ausbildung als unzeitgemäß ablehnte,82 übte man sich an Beethovens Symphonien. Man eiferte diesem Symphonie-Typus nach und nahm sich zugleich Liszts Symphonische Dichtungen und Berliozʼ programmatische Symphonien zum Modell. Vladimir Stasov, ästhetischer Mentor und Ideengeber des Kreises, wurde von den Mitgliedern respektvoll „Bach“ genannt, während man etwa über Händels Musik spottete. Vornehmste Gattung und Ziel aller kompositorischen Bemühungen war die Oper, das heißt, auf dem Gebiet der Oper Glinkas Erbe anzutreten. In der Phase, als sich der Balakirev-Kreis formierte und die beiden Konservatorien in St. Petersburg und Moskau ihre Arbeit aufgenommen hatten, erlebte



Zur Problematik ‚nationaler Musik‘ vgl. Dorothea Redepenning, „‚…unter Blumen eingesenkte Kanonen…‘ Substanz und Funktion nationaler Musik im 19. Jahrhundert“, in: Kreutziger-Herr (Hrsg.), Das Andere – Eine Spurensuche (wie Anm. 70), S. 225–245, und dies., „Russischer Stoff, europäische Form. Der Dialog der Kulturen in der Musik“, in: Osteuropa, 53. Jg. Heft 9–10 (September/Oktober 2003), S. 1262–1280; russisch als „Muzykal’nyj gorod Peterburg. Razmyšlenija o dialoge kul’tur“, in: Neprikosnovennyj zapas [Die eiserne Ration], 2003 Heft 4, S. 182–193. 80 Peter Tschaikowski, Die Tagebücher, hrsg. von Ernst Kuhn, übersetzt von Heinz-Joachim Grimm, Berlin: Ernst Kuhn, 1992, S. 275. 81 Das gilt vor allem für Stasovs Komponisten-Monographien und die große Abhandlung „Naša muzyka za poslednie 25 let [Unsere Musik seit den letzten 25 Jahren]“, Erstdruck 1883 als dritter Teil der Aufsatzfolge Dvadcatʼ pjatʼ let russkogo iskusstva [Fünfundzwanzig Jahre russischer Kunst], in ders., Stat’i o muzyke (wie Anm. 51), Bd. 3, Moskau: Muzyka, 1977, S. 143–197. 82 Hintergrund waren die in der Kunstakademie immer noch geforderten klassizistischen Sujets als Examensthema, gegen die die sogenannten Wandermaler (Peredivžniki) rebellierten. 79

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Wagners Lohengrin 1868 eine glanzvolle St. Petersburger Premiere.83 Anfang 1863 war Wagner auf Einladung der Philharmonischen Gesellschaft in St. Petersburg und in Moskau zu Gast gewesen, hatte mehrere Konzerte mit Auszügen aus seinen Werken dirigiert und vor Mitgliedern des Hofes aus seinen Operndichtungen vorgelesen. Serov, der Wagner im Zürcher Exil aufgesucht hatte und von da an Wagners Musik in der russischen Presse propagierte,84 stand ihm bei diesem Gastspiel hilfreich zur Seite.85 Nun, fünf Jahre später, kam Lohengrin in russischer Übersetzung von Konstantin Zvancov heraus86 und etablierte sich in der ersten Spielzeit mit elf Aufführungen unter der Leitung von Konstantin Ljadov (dem Vater des Komponisten Anatolij Ljadov) im Repertoire. Mit Lohengrin und mit Tannhäuser, der im Dezember 1874 folgte und sich gleichfalls im Repertoire halten konnte, sahen sich die russischen Komponisten mit dem Modell einer deutschen Nationaloper konfrontiert, das auf Mythen und Legenden basiert, bei dem Text und Musik dank der Personalunion von Librettist und Komponist ideal aufeinander abgestimmt sind – im Fall Lohengrins zugleich mit einem modernen Operntypus, in dem Rezitativ und Arie zugunsten der dramatischen Wahrhaftigkeit weitgehend aufgehoben sind. Diese Opernkonzeption traf auf Komponisten, die im Begriff waren, eine eigene, innovative Opernkonzeption zu entwickeln. Zu diesem Zeitpunkt war Dargomyžskij noch mit dem Steinernen Gast (Kamennyj gostʼ, nach Aleksandr Puškin) beschäftigt; Musorgskij hatte die Arbeit an der Oper Die Heirat (Ženit’ba, nach Nikolaj Gogolʼ) abgebrochen und befasste sich ab Oktober 1868



Ausführlich dazu Dorothea Redepenning, „Die russische Opernästhetik und Richard Wagner. Zur Wagner-Rezeption um 1870“, in: Vierzehn Beiträge (nicht nur) über Richard Wagner, hrsg. von Christa Jost (Musikwissenschaftliche Schriften der Hochschule für Musik und Theater München, 4), Tutzing: Hans Schneider, 2006, S. 241–256. 84 Ausführlich dazu Dorothea Redepenning, „Opernschriften Franz Liszts in der Übersetzung von Aleksandr Serov. Anmerkungen zur frühen Wagner-Rezeption in Rußland“, in: Musikkulturgeschichte, Festschrift Constantin Floros zum 60. Geburtstag, hrsg. von Peter Petersen, Wiesbaden: Breitkopf & Härtel, 1990, S. 325–340, russisch als „Opernaja kritika F. Lista v perevodach A. N. Serova“ in: Rossija – Evropa, Kontakty muzykal’nych kul’tur, hrsg. von E[lena] Chodorkovskaja (Problemata musicologica, 7), St. Petersburg: Rossijskij institut istorii iskusstv (RIII), 1994, S. 168–185. 85 Wagner hat seinen St. Petersburg-Besuch ausführlich beschrieben; hier wird auch deutlich, dass Wagner und Serov sich in ihrem Antisemitismus derart einig sind, dass Wagner Verständnis für Serovs böse Attacken gegen Rubinštejn zeigt. Vgl. dazu Richard Wagner, Mein Leben, hrsg. von Martin Gregor-Dellin, München: Goldmann-Schott, 1963, S. 727–735. 86 Konstantin Ivanovič Zvancov (1823–1890), Kritiker, Librettist und Komponist, übersetzte Mozarts Don Giovanni sowie Wagners Tannhäuser und Lohengrin ins Russische. Zvancovs Lohengrin-Übersetzung erschien 1868 in St. Petersburg im Druck (neuere Ausgabe Moskau: A. Gutchejlʼ, 1892). Er schrieb auch das Libretto zu Serovs Judith. 83

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mit Boris Godunov (nach Puškin), Rimskij-Korsakov arbeitete an der historischen Oper Pskovitjanka (nach Lev Mej). Serov, Wagners Fürsprecher in der russischen Presse, hatte 1865 mit seiner Oper Rogneda (auf ein eigenes Libretto) einen noch größeren Erfolg gefeiert als mit seiner ersten Oper Judith (1863).87 Mit ihrem aus der slawischen Geschichte zur Zeit der Christianisierung entnommenen Sujet, ihrer engen Symbiose von Text und Musik und ihrer ausdrücklichen Benennung als „muzykal’naja drama“ (Musikdrama) in Serovs Vorwort88 ließ Rogneda keinen Zweifel an ihrer Wagner-Nähe zu. Als Lohengrin 1868 auf die St. Petersburger Bühne kam, schien die junge russische Oper, vertreten durch Serov, eine Wagner folgende Richtung einzuschlagen, bevor das sogenannte ‚Mächtige Häuflein‘ und Čajkovskij mit eigenen Opern an die Öffentlichkeit getreten waren. So nimmt es nicht wunder, dass Wagner für diese Komponisten eine Provokation darstellte, auf die sie mit heftigster Ablehnung reagierten, umso mehr, als Serov Wagners Position in der Presse vertrat und diese Position mit zahlreichen positiven Rezensionen, gepaart mit Einführungen in seine Schriften und seine Ästhetik, stärkte.89 Vor diesem Hintergrund ist die Häme zu verstehen, mit der Kjui über Lohengrin in der Presse herfiel. Wagner sei ein vollkommen unbegabter Künstler, dem es an schöpferischen Fähigkeiten mangelt; zudem noch liegt in Wagners Natur die Neigung zu grober Geschmacklosigkeit, von der er sich in keiner Weise freimachen kann. Daher ist der allgemeine Plan seines Werks groß konzipiert, alle kleinsten Details klug überdacht, das Kolorit vollkommen wahrhaft, doch die ganze Ausführung ist grob, gewöhnlich und maßlos langweilig. […] Wagner bemüht sich, eine „dramatische Melodie“ zu schaffen, die von der getreuen Sprachdeklamation ausgeht; einfacher gesagt, er anerkennt die Bedeutung des Rezitativs und möchte es schaffen. Und tatsächlich verstärkt die musikalische Phrase die Bedeutung der Worte nur dann, wenn sie die Möglichkeit gibt, sie klar, vernünftig und nachdrücklich und mit Ausdruck an der richtigen Stelle auszusprechen. Wagner geht nur bis zur richtigen Betonung der entsprechenden Silben. Wagners Rezitative sind unbedeutend – es gibt sie überhaupt nicht. Was die Rezitative betrifft, haben die Italiener Wagner weit überflügelt.90



87 Die Nähe der Judith zu Wagners Opernkonzeption hat Richard Taruskin herausgearbeitet; vgl. ders., „Opera and drama in Russia: the case of Serovs Judith“, in: Journal of the American Musicological Society, 32. Jg. Heft 1 (Spring 1979), S. 74–117. 88 Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 21), Bd. 1. S. 136f. 89 Ausführlich zitiert bei Redepenning, „Die russische Opernästhetik und Richard Wagner“ (wie Anm. 83). 90 Sankt-Peterburgskie vedomosti [St. Petersburger Mitteilungen], Nr. 278 vom 11. (23.) 10. 1868. Kjuis Ton ist in dieser Rezension derart unqualifiziert und beleidigend, dass man den Text in der Ausgabe seiner Schriften (C[ezarʼ] A[ntonovič] Kjui, Izbrannye statʼi [Ausge-

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Was Kjui Wagner als Mangel vorwirft, hatte er wenige Monate zuvor in vorwirft, Steinernen hatte er wenige zuvor in einem Was Text Kjui über Wagner Puškins als undMangel Dargomyžskijs Gast Monate als Qualität hereinem Text über Puškins und Dargomyžskijs Steinernen Gast als Qualität herausgestrichen. Diese damals noch unaufgeführte Oper sei, so Kjui, ausgestrichen. Diese damals noch unaufgeführte Oper sei, so Kjui, .

das erste bewusste Experiment, ein zeitgemäßes Operndrama ohne alle Zugeständnisse das erste bewusste Experiment, einsein, zeitgemäßes Operndrama ohne alle Zugeständnisse zu schaffen. Dies wird ein Kodex an dem russische Vokalkomponisten die Wahrzu Dies wird ein sein, ihrer an dem russische Vokalkomponisten die Wahrheitschaffen. ihrer Deklamation undKodex die Treue Wiedergabe der Textnuancen überprüfen heit ihrerHier Deklamation und die Treue ihrerzuWiedergabe der Textnuancen überprüfen können. wird dramatische Wahrheit ihrem höchsten Ausdruck gebracht, in können. Hiermit wird dramatische Wahrheitmeisterlichem zu ihrem höchsten Ausdruck gebracht, in Verbindung Intelligenz, Erfahrung, Handwerk und musikalischer Verbindung mitDargomyžskijs Intelligenz, Erfahrung, Handwerkeinen und musikalischer Schönheit [...]. Don Juanmeisterlichem wird einen Ehrenplatz, herausragenSchönheit [...]. Dargomyžskijs Don Juan einen Ehrenplatz, eineninherausragenden Platz nicht nur in der Geschichte derwird russischen Oper, sondern der Weltgeden Platzder nicht in der Geschichte russischen Oper, sondern in derund Weltgeschichte Opernur einnehmen; denn diesder ist der erste ernsthafte, ehrenwerte ungeschichte Oper einnehmen; dies ist vollkommen der erste ernsthafte, ehrenwerte91und ungewöhnlichder begabte Versuch, dasdenn Opernideal zu verwirklichen. wöhnlich begabte Versuch, das Opernideal vollkommen zu verwirklichen. 91

Dargomyžskij ist über dem Steinernen Gast gestorben. Die Oper wurde 1872 Dargomyžskij istvon überKjui dem Steinernen Gast gestorben. Die Oper wurde 1872 posthum in einer komplettierten und von Rimskij-Korsakov instrumenposthum in einer von Kjui komplettierten und von Rimskij-Korsakov instrumentierten Fassung uraufgeführt und verschwand nach sechs Vorstellungen von der tierten Fassung uraufgeführt verschwand nach sechs Vorstellungen der Bühne. 1873 kam Lohengrinund erneut auf den St. Petersburger Spielplan.von InzwiBühne.hatten 1873Kjuis kam William Lohengrin erneut auf den1869) St. Petersburger Spielplan. Inzwischen Ratcliff (Februar und Rimskij-Korsakovs Pskoschen hatten Kjuis William Ratcliff (Februar 1869) und Rimskij-Korsakovs vitjanka (Januar 1873) ihre Uraufführungen erlebt. Nun ergriff HermannPskoLavitjanka 1873) ihre Uraufführungen erlebt. Nun und ergriff Hermann Laroche, der(Januar sich selbst als konservativ bezeichnete, das Wort machte, durchaus roche, der sich selbst als konservativ bezeichnete, das Wort undzwischen machte, durchaus mit polemischem Unterton, einen genetischen Zusammenhang Wagner mit Unterton, einen genetischen Zusammenhang zwischen Wagner und polemischem dem ‚Mächtigen Häuflein‘ deutlich: und dem ‚Mächtigen Häuflein‘ deutlich: Als Wagner 1863 zu Konzerten in Petersburg und Moskau herbeireiste, waren die Säle Als Wagner 1863 zu Konzerten in Petersburg und Moskau waren dieeines Säle brechend voll. Einige Monate später wurde [Serovs] Judith,herbeireiste, die deutliche Spuren brechend voll. Einige Monate später wurde [Serovs] Judith, die deutliche Spuren eines starken Wagner-Einflusses trägt, im Mariinskij-Theater inszeniert und mitfühlend aufstarken Wagner-Einflusses trägt, im Mariinskij-Theater inszeniert und mitfühlend genommen. Und dann folgten schon die Werke der „Neuen russischen Schule“, aufwie genommen. Und dann folgten schonRatcliff, die Werke „NeuenGast, russischen Schule“,Boris wie sie einige Herren nennen: William Der der steinerne Pskovitjanka, sie einige –Herren William Ratcliff, Der steinerne Gast,in Pskovitjanka, Boris Godunov Werke,nennen: die niemals in der Form existieren würden, der wir sie kennen, Godunov – Werke, die niemals derdas Form existieren würden, in derder wirZukunft. sie kennen, gäbe es nicht Lohengrin, Tristaninund Traktat über Das Kunstwerk Die gäbe es nicht Lohengrin, Tristansich undnicht das Traktat Das Kunstwerk der Zukunft. Die Verfasser dieser Opern haben nur dasüber Prinzip des musikalischen Dramas Verfasser Opern haben sich nicht nurtechnische das Prinzip des musikalischen Dramas angeeignet,dieser sondern sie kopieren auch offen Einzelheiten aus Wagners Stil: angeeignet, sondern Schreibweise sie kopieren auch offen „chromatizm“], technische Einzelheiten aus Wagners Stil: seine chromatische [russisch seine unruhigen Modulaseine Schreibweise [russisch seine „chromatizm“], seinemit unruhigen Modulationen,chromatische seine nicht endenden Dissonanzen, Instrumentation ihrem Überfluss tionen, seine nicht endenden Dissonanzen, seine Instrumentation mitWagner ihrem Überfluss an Blasinstrumenten und hohen Geigen; nur gelingt dies alles bei weicher, an Blasinstrumenten und hohen Geigen; nur gelingt dies alles bei Wagner weicher,

  wählte Aufsätze], hrsg. von I[zrailʼ] L[azarevič]

Gusin, Leningrad: Gosudarstvennoe muzykalʼnoe izdatelʼstvo, weggelassen hat. wählte Aufsätze], hrsg. 1952) von I[zrailʼ] L[azarevič] Gusin, Leningrad: Gosudarstvennoe 91 C[ezarʼ] A[ntonovič] Kjui, „‚Kamennyj gostʼ‘ muzykalʼnoe izdatelʼstvo, 1952) weggelassen hat. Puškina i Dargomyžskogo [‚Der Steinerne 91 Gast‘ von Puškin und Dargomyžskij]“, in ders., (wie Anm. 90), 144–147 C[ezarʼ] A[ntonovič] Kjui, „‚Kamennyj gostʼ‘Izbrannye Puškina i statʼi Dargomyžskogo [‚DerS.Steinerne [erstmals übersetzt bei Redepenning, Geschichte der russischen der soGast‘ von1868]; Puškinkomplett und Dargomyžskij]“, in ders., Izbrannye statʼi (wie Anm. 90), und S. 144–147 wjetischen1868]; Musikkomplett (wie Anm. 21), Bd.bei 1, Redepenning, S. 210f. [erstmals übersetzt Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 210f.

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Dorothea Redepenning sympathischer, talentvoller als bei seinen russischen Nachahmern. Bemerkenswert dabei ist, dass der Presse-Herold dieser Richtung [Kjui] jede neue Erscheinung des Wagnerismus in Russland begeistert begrüßt, Wagner selbst aber nicht anerkennt und ihn als unbegabt bezeichnet. Er hängt die neue Schule an die große Glocke, aber tadelt ihr Haupt; er predigt sozusagen den enthaupteten oder, wenn Sie wollen, den kopflosen Wagnerismus.92

Vor allem, was den Verzicht auf Arien und Rezitative zugunsten eines textgebundenen Arioso angeht, hat Laroche Recht: Diese ästhetische Ausrichtung vollzog sich in Auseinandersetzung mit Wagner. Dennoch hat sich aus Kjuis im Lichte dieser Auseinandersetzung verfasster Apologie des Steinernen Gastes – eines Werkes, das Čajkovskij mit guten Gründen als kompositionstechnisch schwach und ästhetisch misslungen einschätzte93 – eine tragende Ideologie der Entstehung der russischen Oper entwickelt, die Stasov im Rückblick in einer Gegenüberstellung Wagners und Dargomyžskijs festgeschrieben hat: Wagner ist viel weniger Künstler, als ein denkender, erfindender und darstellender Mensch; Dargomyžskij dagegen ist von Kopf bis Fuß ein Künstler, mit Eingebung, Nervenkraft und allen seelischen Fähigkeiten schaffend. Ungeachtet all seiner Reformen bleibt Wagner ein Anhänger der „glänzenden Spektakel“, der Ballette, Märsche, Prozessionen und aller eingefahrener Theaterbräuche, Falschheiten und Gemeinplätze; Dargomyžskij dagegen denkt in seinem Steinernen Gast nur an Wahrheit gegenüber dem Leben und psychischen Prozessen; er verachtet die ganze veraltete Theaterpraxis mit ihren Nichtigkeiten. Wagner hatte wenig Talent, er war extrem künstlich und entbehrte jeder Begabung zum Rezitativ und zur Deklamation. Dargomyžskij war eine flammende, glühende Begabung, beherrscht und beherrschend, ein Künstler erfüllt von Dramatik und Pathos, gleichzeitig von Humor und Komik; er war stets erfüllt von Wahrheit und Natürlichkeit, und darüber hinaus mehr als jeder andere zum Rezitativ und zur Deklamation begabt. Schließlich ist der eine ein äußerster Idealist, der andere ein äußerster Realist, der eine einzigartige Begabung für das realistische Rezitativ besaß. Der letzte Unterschied zwischen beiden ist der schärfste und entscheidendste: Dargomyžskij ist der Begründer des Realismus in der Musik. Vor ihm hat es in dieser Richtung nur einige unentschlossene Versuche gegeben. Poesie, Liebe, Leidenschaft, drückende Tragik, Humor, Komik, subtile Charakteristik und ein übernatürliches Phänomen [der Komtur] sind zu einer wunderbaren organischen Einheit verschmolzen.



Golos [Die Stimme], Nr. 61, 2. (14). 3. 1873. Diese Rezension fehlt in der Ausgabe: G[erman] A[vgustovič] Laroš [Hermann Laroche], Izbrannye statʼi [Ausgewählte Aufsätze], 5 Bde., hrsg. von Abram Gozenpud, Leningrad: Muzyka, 1974–1978. 93 „Durchschnittlich begabt und technisch unausgerüstet zu sein und sich zugleich für einen Innovator zu halten – das ist wahrer Dilettantismus. Dargomyschski schrieb seinen Steinernen Gast am Ende seines Lebens und glaubte ernstlich, daß er alte Festungen einreiße und auf ihren Ruinen etwas Neues, Kolossales baue. Ein bedauerlicher Irrtum!“ Tschaikowski, Tagebücher (wie Anm. 80), S. 251. 92

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Gleichzeitig hat der realistische Ausdruck eine solche Kraft und künstlerische Vollendung in dieser Oper erreicht, dass sie eine neue Ära in der Musik eröffnet und zweifellos als Basis für die zukünftige Entwicklung der Musik, für die europäische Zukunftsmusik [deutsch] dienen wird. Die Zukunftsmusik findet sich viel weniger in Wagners Opern, als in Dargomyžskijs Steinernem Gast.94

Auch wenn Stasovs Gegenüberstellung in ihrer bizarren Überzeichnung unfreiwillig komisch wirkt, so steckt in dieser Deutung des Steinernen Gastes doch ein produktiver Kern: Man nehme ein literarisch anspruchsvolles Werk ohne Veränderungen als Libretto und man verzichte auf Rezitativ und Arie zugunsten eines wortbasierten Arioso, das allen Feinheiten des Textes zu folgen vermag und dennoch musikalische Gesetzmäßigkeiten nicht preisgibt. Wagners Idee der Verschmelzung von Wort und Melodie, von Text und Musik wird in russischer Lesart zu einer Errungenschaft Dargomyžskijs und zum Muster eines modernen Opernstils. Puškins Kleine Tragödien sind nach und nach alle in ähnlicher Weise vertont worden – Mozart und Salieri 1898 von Rimskij-Korsakov, das Festgelage während der Pest 1900 von Kjui (und zahlreichen andern bis hinauf in die Gegenwart), der Geizige Ritter 1906 von Rachmaninov. Musorgskij folgte in der Fragment gebliebenen Heirat Dargomyžskijs Modell und setzte dieses in erweiterter Form in Boris Godunov, der Chovanščina und dem Jahrmarkt von Soročincy um. Die Vorstellung einer Opernästhetik, die durch die enge Verschmelzung eines autonomen – nicht als Libretto für Musik verfassten – Textes mit einem musikalischen Satz charakterisiert ist, der dieser Textsorte durch den Verzicht auf geschlossene Formen Rechnung trägt, basiert auf Wagners Konzeption des musikalischen Dramas, wurde in Russland aber Dargomyžskij zugeschrieben und weitergeführt in allen Opern, die – dann unter der Bezeichnung Literaturoper – literarische Werke ohne zwischengeschaltetes Libretto in Musik setzen. Bei Erzählungen und Romanen werden üblicherweise die wörtlichen Reden als Libretto benutzt, wie etwa in Prokof’evs Der Spieler (Igrok, nach Fedor Dostoevskij), Dmitrij Šostakovičs Die Nase (Nos, nach Gogolʼ), Rodion Ščedrins Die toten Seelen (nach Gogolʼ) und den sogenannten Mono-Opern der 1960er und 1970er Jahre.95



Stasov, „Naša muzyka za poslednie 25 let“ (wie Anm. 81), S. 157f. Vgl. dazu Aleksandr Selickij, „Bespodobnyj tip opery… [Ein Operntyp ohne Beispiel (zur Monooper)]“, in: Sovetskaja muzyka, 1978 Heft 1, S. 24–29; ders., Sovremennaja sovetskaja monoopera: Istoki, voprosy specifiki žanra [Die zeitgenössische sowjetische Mono-Oper: Wurzeln, Fragen zur Spezifik der Gattung], Diss. Moskau 1981; außerdem Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Bd. 2: Das 20. Jahrhundert, Laaber: Laaber, 2008, S. 624–632. 94 95

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Wagner wurde in Russland nicht nur als Erfinder des Musikdramas wahrgenommen, sondern auch als derjenige Komponist, der die Idee der Nationaloper, basierend auf Stoffen aus vorhistorischer Zeit, am deutlichsten repräsentierte. Dass Wagner am Ring des Nibelungen arbeitete, war in Russland bekannt. Er hatte bei seinem Besuch 1863 aus der Dichtung vorgelesen. Stasov erlebte 1869 die Rheingold-Premiere in München und verfasste einen Bericht, der damit beginnt, dass jeder wisse, dass Wagner seine Stoffe aus der altdeutschen Poesie wähle; das aber habe ihm nicht mehr genügt. Einst kam ihm in den Sinn, dass man ein solches Sujet nehmen müsse, dass, wenn es sich mit seiner, Wagners, Musik verbindet, ein großes nationales Monument der deutschen dramatischen Kunst entstehen müsse. Daher wählte er denn auch jene Dichtung, die viele gutherzige Deutsche von jeher für etwas in der Art ihrer heimischen Ilias und Odyssee halten – und das sind die Nibelungen. Es lag nahe, dass von dem Augenblick an, an dem Wagners Nibelungen erscheinen, die deutsche Kunstwelt um ein bedeutendes Werk reicher sein würde, ein Werk, das von seiner musikalischen Seite her ein vollkommenes Pendant zu den beiden Dichtungen Homers darstellt.

Mit einem Seitenhieb gegen borniertes Slawophilentum zu Hause heißt es abschließend: „Richard Wagner ist ein echter deutscher Slawophiler in der Musik, und daher erklärt sich sein Erfolg in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung. Diesen Leuten ist nicht so sehr seine Musik wichtig, sondern eher die eng-patriotische, kurzsichtig-nationale Richtung seiner Opern.“96 Homers Dichtungen galten dem europäischen Bildungsbürgertum als Wiege der Kultur; daran mit national konnotierter Kunst anzuknüpfen, ja ebenbürtig zu werden, war die Herausforderung, die Stasov im entstehenden Nibelungen-Projekt erblickte und nun – gleichsam im Wettstreit der Nationen – in Russland verwirklicht sehen wollte. Schon im Frühjahr 1869 hatte er an Borodin ein Szenarium zu Fürst Igor geschickt – das Igor-Lied (Slovo o polku Igoreve) ist das älteste erhaltene Zeugnis der russischen Literatur; es hat in der Literaturgeschichtsschreibung und im nationalen Selbstverständnis den Stellenwert, den man in Deutschland dem Hildebrand-Lied und dem Nibelungen-Lied, in Frankreich der Chanson de Roland, in Tschechien der Chronica Boemorum beimisst. Und noch 1894, als Rimskij-Korsakov an seiner Oper Sadko arbeitete, ermunterte Stasov ihn: „Unser Sadko ist die russische Wiederholung des griechischen Odysseus“.97



Stasov, „Pisʼma iz čužich kraev“ (1869, wie Anm. 52), S. 202–216, Zitate S. 203 und S. 209f. 97 Brief vom 7. 6. 1894, hier nach Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik (wie Anm. 21), Bd. 1, S. 175. 96

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Stasov hatte russische Mythen und Legenden, ebenso die großen Wendepunkte der nationalen Geschichte als Sujets für Kunstwerke längst im Blick, als sich der Komponistenkreis um Balakirev formierte. Schon 1861 empfahl er Balakirev, den Sadko-Stoff in einer Symphonischen Dichtung zu verarbeiten. Was es bislang zur Wasser-Mythologie gebe, wie z. B. Wagners Fliegender Holländer, seien „unerträgliche Plattheiten“, Sadko dagegen, „der auf goldenen Gusli in der Hütte des Meereszaren spielt und ihn zu immer wilderem Tanzen animiert […] ein Pendant zu Glucks Orpheus, nur mit einem ganz anderen Sujet und – in russischer Art.“98 Als der Ring des Nibelungen 1876 uraufgeführt wurde, reiste Čajkovskij nach Bayreuth und ließ in seinem Bericht für die russische Presse deutlich erkennen, wie wenig ihm die ganze Kunstrichtung gefiel.99 Laroche, sein Freund und Kollege, machte in dem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass die Idee zu Evgenij Onegin (begonnen Mai 1877) auch im Lichte des Bayreuth-Erlebnisses zu verstehen sei: Čajkovskij habe sich dezidiert für ein Sujet aus der Gegenwart mit menschlichen Problemen und Konflikten entschieden und zugleich für Schlichtheit und Bescheidenheit in der künstlerischen Aussage plädiert. „All diese Wotane und Brünhilden, Friggas usw. sind so unmöglich, so gar nicht menschlich, daß es einem schwerfällt, ihr Schicksal voll lebendiger Teilnahme zu verfolgen“,100 schrieb er 1877 unter dem Eindruck einer Walküren-Aufführung aus Wien an Nadežda von Meck. Die Werke, die im Lichte der Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von Wagner konzipiert wurden und die als Konkurrenz-Entwürfe zu Wagner gelesen werden können, gelangten an die Öffentlichkeit, als diese Auseinandersetzung längst Geschichte geworden war. Borodins Fürst Igor kam posthum 1890 in einer von Rimskij-Korsakov und Glazunov fertiggestellten Fassung auf die Bühne. Ein Jahr zuvor erlebte der Ring des Nibelungen am Mariinskij-Theater als Gastspiel von Angelo Neumanns ‚wanderndem‘ Wagner-Theater seine Erstauf-



M. A. Balakirev i V. V. Stasov, Perepiska [Briefwechsel], 2 Bde., hrsg. von A[nastasija] S[ergeevna] Ljapunova, Bd. 1, Moskau: Izdatel’stvo „Muzyka“, 1970, S. 123 (Brief vom 13. 2. 1861). 99 „Bajrejtskoe muzykal’noe tvorčestvo“, in Russkie vedomosti vom 13. Mai, 3., 4., 14., 18. August 1876, Nachdruck in: Petr Čajkovskij, Muzykal’no-kritičeskie stat’i, Leningrad: Izdatel’stvo „Muzyka“, 1986, deutsch als „Bayreuther Festspiele“, in: Peter I. Tschaikowski, Erinnerungen und Musikkritiken, hrsg. von Richard Petzoldt und Lothar Fahlbusch, Leipzig: Reclam, 1974, S. 176–188. Čajkovskij schildert vor allem atmosphärische Eindrücke; er zollt Wagners Leistung Respekt, fühlt sich aber von der Grandiosomanie des Projekts abgestoßen. Von Čajkovskij erfahren wir, dass auch Kjui, Aleksandr Famincyn, Laroche und Klindworth anwesend waren. 100 Ena von Baer und Hans Pezold (Hrsg. und Übersetzung), Teure Freundin. Peter Tschaikowskis Briefwechsel mit Nadeshda von Meck, Hanau: Dusien, 1964, S. 103. 98

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führung in Russland. Die deutschen Sänger wurden vom Mariinskij-Orchester begleitet; die Leitung hatte Karl Muck. Es gab vier Wiederholungen. RimskijKorsakov, der seit 1871 als Professor am Konservatorium tätig war und damit den Streit um die Ausbildungsformen beigelegt hatte, berichtet in seiner Autobiographie über das Ereignis und macht deutlich, dass ihn und Glazunov vor allem technische Fragen wie die der Instrumentation interessierten.101 Sein Sadko kam 1898 in Moskau auf die Bühne, die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitež und der Jungfrau Fevronija (Skazanije o nevidimom grade Kiteže i deve Fevronii), die erst 1907 in Petersburg herauskam, ist eine russische Antwort auf Wagners Parsifal, die nicht mehr im Zeichen eines Konkurrenzkampfes zu lesen ist. Dass in den ersten russischen Opern sowohl die Verabschiedung von Rezitativ und Arie und die Bevorzugung arioser Deklamation als auch die Sujetwahl aus der frühen Geschichte, aus Mythen und Legenden, ebenso das Bestreben nach einem national identifizierbaren musikalischen Tonfall wesentlich als Reaktion auf die Herausforderung durch Wagner konzipiert wurden, wird demnach durch die langen Entstehungszeiten verdeckt. Im Bereich der Symphonik war man sich in Russland einig, dass sie programmatisch ausgerichtet sein sollte. Für Symphonische Fantasien und Symphonische Bilder nahm man erklärtermaßen Liszts Symphonische Dichtungen als Modell. Stasov schrieb dies als Charakteristikum russischer Symphonik fest.102 Am klarsten ist der Liszt-Bezug bei Čajkovskij insofern ausgeprägt, als er westeuropäische literarische Werke als Programme auswählte: Byrons Manfred als Symphonie, Shakespeares Romeo und Julia, Sturm und Hamlet als Fantasien, Francesca da Rimini aus Dantes Divina Commedia als Symphonische Fantasie. Auch die nächste Generation folgte noch diesem Modell – Glazunov, ganz in russischer Manier, mit der Symphonischen Dichtung Stenʼka Razin, dem Symphonischen Bild Kremlʼ und weiteren programmsymphonischen Werken, Rachmaninov mit den Symphonischen Dichtungen Knjazʼ Rostislav (nach Aleksej Tolstoj), Der Felsen (Utës, nach Anton Čechov) und Die Toteninsel (Ostrov mërtvych, nach Arnold Böcklin), Aleksandr Skrjabin mit Le poème divin (Dritte Symphonie), Le poème de l’extase und Prométhée, Le poème du feu. In der Oper sind, wie Glinkas beide Opern zeigen, zunächst italienische Vorbilder wirksam, ungeachtet der zahlreichen russischen Intonationen. Die Orientierung an französischen Vorbildern, insbesondere der Grand Opéra, zeigt sich bereits in Glinkas Ruslan und Ljudmila in der fünfaktigen Anlage und den Tanzszenen im dritten und vierten Akt; deutlich greifbar wird sie dann bei Musorgskij

 101 102

Rimski-Korsakow, Chronik meines musikalischen Lebens (wie Anm. 69), S. 319ff. Stasov, „Naša muzyka za poslednie 25 let“ (wie Anm. 81).

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mit den konkreten Bezügen zu Meyerbeer,103 die sich leicht nachweisen lassen, ungeachtet der negativen Haltung Musorgskijs gegenüber Meyerbeer. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass die Auseinandersetzung mit, besser: der Widerstand gegen Wagner die stärkste Triebfeder bei der Herausbildung der russischen Oper darstellt. Nicht nur das von Generation zu Generation weitergereichte ariose Rezitativ, auch die direkte Übernahme autonomer literarischer Werke unter Umgehung eines Librettos im strengen Sinne ist eine Antwort auf Wagner und seine Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Text und Musik. Evgenij Onegin schließlich, der als Opernkonzept auch Schule gemacht hat, kann als Antithese zu Wagners Götterwelt gelesen werden. In Umkehrung zu Čajkovskijs berühmtem Wort zur Kamarinskaja kann man sagen, das Ego der russischen Oper in all ihren Ausprägungen und Verästelungen formierte sich als Reaktion auf Wagners Opernkonzeption, im positiven wie im negativen Sinne.



103 So entspricht etwa im Prolog des Boris Godunov der Chor-Dialog nach dem Bittgesang, Ziffer 11, klanglich wie dramaturgisch dem Kommentar der Bauern auf den Choral der Wiedertäufer „Ad nos, ad salutarem undam“ (Le Prophète, 1. Akt, Nr. 3). Die Dramaturgie der Chovanščina ist ohne Meyerbeers Hugenotten und den Propheten nicht zu denken.

Inna Barsova

Die Rezeption der Musik Paul Hindemiths im Schaffen Aleksandr Mosolovs Die Blüte des kompositorischen Schaffens von Aleksandr Mosolov fällt in die kurze Zeitspanne der Jahre 1924 bis 1929. Es war eine Phase angestrengter Suche nach dem eigenen Weg innerhalb einer spannungsgeladenen und zugleich schöpferisch reichen Atmosphäre. Ein kurzer, wenig beachteter Aufsatz Mosolovs – „P. Hindemiths neue Kammerkonzerte“, erschienen Ende 1925 in der Zeitschrift Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik] – belegt sein unzweifelhaftes Interesse am Schaffen Paul Hindemiths. Es handelt sich hierbei übrigens um Mosolovs einziges publizistisches Hervortreten der frühen Jahre. Zu dieser Zeit waren in der Sowjetunion zwei gerade edierte Werke Hindemiths erhältlich geworden: Die Kammermusik Nr. 2 (Klavierkonzert) op. 36 Nr. 1 und die Kammermusik Nr. 3 (Cellokonzert) op. 36 Nr. 3. Interesse verdient die klar zum Ausdruck gebrachte Haltung, mit der der russische Autor die stilistische Situation dieser Jahre resolut bewertet. Das zentrale Schaffensproblem der zeitgenössischen Komponisten sieht Mosolov im Streben nach „kammermusikalischem Stil“. Hauptmerkmal von Hindemiths Kompositionsstil sei die „konsequente Durchführung des Prinzips des ‚linearen‘ Kontrapunkts“. Dabei gilt ihm Hindemith als der „fortschrittlichste unter den zeitgenössischen Komponisten.“1 Hier mag sich der Verdacht aufdrängen, dass Mosolov zu einem eilfertigen Apologeten des deutschen Komponisten wurde. Dies war jedoch zweifellos nicht der Fall, denn der angesprochene Aufsatz enthält kritische Passagen zu unterschiedlichen grundlegenden Prinzipien der hindemithschen Orchestertechnik. Wo er eine „rhythmische, zuweilen an Monotonie grenzende Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit“2 anspricht, verbirgt sich dahinter aller Wahrscheinlichkeit nach eine Missbilligung der bei Hindemith so beliebten Ostinatoformen (Basso ostinato und Soprano ostinato). Ohne den Kompositionsstil des deutschen Meisters auf der Ebene des musikalischen Materials oder derjenigen seiner EntwickAleksandr Mosolov, „Novye kamernye koncerty P. Chindemita [Die neuen Kammerkonzerte Paul Hindemiths]“, in: Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik], 2. Jg. (1925) Heft 11, S. 18–20. 2 Ebd. 1

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lung zu kopieren, übernahm Mosolov von Hindemith einige fundamentale schöpferische Prinzipien, von denen im Weiteren noch die Rede sein wird. Um dieses Thema zu entfalten, muss man sich vergegenwärtigen, auf welche Weise die jungen russischen Komponisten die zeitgenössische westeuropäische Musik nach der Revolution und nach dem Ende des Bürgerkriegs kennenlernten. Die kulturelle Isolation des Landes hatte bei den jungen Musikern ein geschärftes Bedürfnis nach gegenseitigem Austausch geweckt.3 Es kamen ‚Kreise‘, ‚Gesellschaften‘ und andere private ‚Versammlungen‘ auf, in denen man Werke, deren Noten unter Mühen aufgetrieben worden waren, am Flügel oder an zwei Flügeln vorstellte. Auf diese Treffen kommt z. B. der Leningrader Komponist und Theoretiker Jurij Nikolaevič Tjulin in seinen Erinnerungen an das Jahr 1921 zu sprechen: Vladimir Ščerbačëv erzählte mir von einem kleinen Kreis von Komponisten, die sich montags zum gemeinsamen Musizieren versammelten. Mit großer Wärme berichtete er über die jüngsten Mitglieder des Kreises […], und besonders über den jüngsten und talentiertesten von ihnen, Mitja Šostakovič. […] Das Interesse galt auch der zeitgenössischen ausländischen Musik, die aus unterschiedlichsten Quellen ihren Weg in den Kreis gefunden hatte. Schon damals konnten wir uns mit den Werken Stravinskijs, der Komponisten der französischen Gruppe „Les six“, Hindemiths, Kreneks und Schönbergs bekannt machen.4

Wichtigste Voraussetzungen zum Kennenlernen zeitgenössischer Musik waren das Studium von Partituren und Musikbüchern aus der Feder ausländischer Komponisten. Doch musste man derlei Quellen erst einmal ‚auftreiben‘ [dostatʼ] – ein typisch sowjetisches Wort, geboren aus dem permanenten Mangel an materiellen und geistigen Werten in der Sowjetunion. Auf diese Weise entdeckten die jungen Leute eine neue Welt ihnen bisher unbekannter zeitgenössischer Musik. So notierte der damals 20-jährige Komponist Gavriil Popov 1925 in sein Tagebuch: „Gestern kaufte ich die ‚Petruschka‘-Suite von Stravinskij für Klavier zu zwei Händen und die Suite ‚1922‘ von Hindemith. Bin ungewöhnlich glücklich. ‚Petruschka‘ – welch ein Luxus, welch Freude und Licht! Und Hindemith? Sein beißender ‚Urbanismus‘ reizt das Blut und schärft das Denken.“ Und weiter: „Stravinskij, Schönberg, Hindemith, Prokofʼev – das sind meine Sterne.“5 WähVgl. Lidia Ader, „Kružki i salony [Kreise und Salons]“, in: Šostakovič v Leningradskoj konzervatorii 1919–1930 [Schostakowitsch im Leningrader Konservatorium 1919–1930], hrsg. von Ljudmila Kovnackaja, Bd. 3, St. Petersburg: Kompozitor, 2013, S. 298–302. 4 Jurij Tjulin, „Junye gody D. D. Šostakoviča [Dmitrij Šostakovičs Jugendjahre]“, in: Dmitrij Šostakovič, hrsg. von G[ivi] Ordžonikidze, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1967, S. 73–81, hier S. 73f. 5 Gavriil N. Popov, „Dnevniki [Tagebücher]“, in: Gavriil Popov. Iz literaturnogo nasledija. 3

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rend der Arbeit an seinem Septett6 notierte Popov am 11. Mai 1926 im Tagebuch: „Zu meinen nächsten Plänen gehört es, mir die Meisterschaft und Erfahrung der fortschrittlichen Komponisten der Gegenwart anzueignen (Stravinskij, Schönberg, Prokofʼev, Hindemith). Ohne dies kann ich mir keine organische Entwicklung meiner schöpferischen Absichten vorstellen.“7 Der ‚Notenhunger‘ war noch in den 1930er Jahren nicht gestillt. Davon zeugt Popovs Brief vom 20. August 1931 an den Dirigenten Nikolaj Malʼko, der zu dieser Zeit schon die Sowjetunion verlassen hatte: An Noten hätte ich gerne: 1) Alban Berg – „Wozzeck“ (Klavierauszug und vielleicht kleine Partitur), 2) Stravinskij – Capriccio (Klavierauszug und kleine Partitur), 3) Hindemith – Konzert für Klavier, das zweite8 – nicht op. 36, das habe ich – (Klavierauszug und kleine Partitur), 4) Hindemith – „Neues vom Tage“ (Klavierauszug der Oper und kleine Partitur), 5) Hindemith – Orgelkonzert (Klavierauszug und kleine Partitur), 6) Krenek – „Jonny spielt auf“ (Klavier und kleine Partitur), 7) Bizet – „Carmen“ (kleine Partitur, sofern erschienen), 8) Hindemith – Symphonie (kleine Partitur oder Klavierauszug). Für die Übersendung der Noten vielen Dank.9

Wie man sieht, machten Werke Hindemiths den Löwenanteil dieser bemerkenswerten Liste aus. Der 1926 im Tagebuch geäußerte Wunsch, „die Meisterschaft und Erfahrung der fortschrittlichen zeitgenössischen Komponisten zu erlangen“, wurde allmählich verwirklicht. Dabei beschäftigte Popov vorrangig die Problematik, wie ‚Horizontale‘ und ‚Vertikale‘ in der Musik zu verknüpfen seien, was nicht nur zu einem Angelpunkt seiner Kompositionstechnik wurde,10 sondern auch zum Gegenstand mündlicher und brieflicher Erörterungen. In dieser Hinsicht ist ein Brief

Stranicy biografii [Aus dem schriftlichen Nachlass. Facetten der Biographie], hrsg. von Zarui Apetjan, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1986, S. 190–339, hier S. 223f. (Eintrag vom 1. Mai 1925). 6 Das Septett für Flöte, Klarinette, Fagott, Trompete in B, Violine, Violoncello und Kontrabass op. 2 (1926–1927) war die Diplomarbeit Popovs in der Klasse Vladimir Ščerbačëvs am Leningrader Konservatorium. 7 Popov, „Dnevniki“ (wie Anm. 5), S. 226. 8 Wahrscheinlich meint Popov die Konzertmusik für Klavier, Blechbläser und zwei Harfen ор. 49, komponiert 1930. 9 Gavriil N. Popov, „Perepiska [Briefwechsel]“, in: Gavriil Popov. Iz literaturnogo nasledija (wie Anm. 5), S. 38–189, hier S. 58. 10 Zu dieser Thematik vgl. Tamara Levaja, „Gorizontalʼ i vertikalʼ v fugach Šostakoviča i Chindemita [Horizontale und Vertikale in den Fugen Šostakovičs und Hindemiths]“, in: dies., Kontrasty žanra. Očerki i issledovanija o D. Šostakoviče [Genre-Kontraste. Skizzen und Untersuchungen zu Dmitrij Šostakovič], Nižnij Novgorod: Izdatelʼstvo Nižegorodskoj konservatorii, 2013, S. 67–91.

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Popovs an Vladimir Ščerbačëv vom 17. August 1927 aufschlussreich, in dem es heißt, dass sich der Musiktheoretiker Nikolaj Chejfec „stark für Ihre ‚linearen‘ und ‚erfinderischen‘ Ideen interessiert […] Mein allgemeiner Eindruck dieser Gespräche ist: Chejfec akzeptiert zwar (im Prinzip) die Idee der Linearität und anderes, versteht jedoch vieles praktisch nicht, da er nicht die grundlegende Feinheit und die Flexibilität des ‚horizontalen Denkens‘ begreift.“11 Die neuen westeuropäischen Kompositionstechniken wurden in Russland gleichwohl keineswegs eindeutig aufgenommen. Und das bezieht sich nicht einmal auf die hoffnungslos konservativen Einstellungen, denen häufig die Vertreter der älteren Generation anhingen. Denn zur schwärmerischen Begeisterung der russischen Musiker gesellte sich zugleich ein Effekt des Schocks oder der schmerzlichen Reflexion hinsichtlich der eigenen schöpferischen Einstellungen und etablierten Schultechniken. Aufschlussreich ist auch ein Passus aus einem Brief von Ščerbačëv, dem schon genannten Komponisten und Professor für Komposition am Leningrader Konservatorium. Er schreibt 1935: Gestern bekam ich von ihm [Fritz Stiedry] die Partitur von Alban Bergs Lulu – d. h. den symphonischen Fragmenten aus der Oper – und Hindemiths Suite Mathis der Maler. Die nur flüchtige Durchsicht der Sachen hinterließ mich in stärkster Verwirrung, und dieser Eindruck lastet heute den ganzen Tag auf mir, und ich weiß nicht, wer Recht hat – sie oder wir, doch spüre ich eine gewaltige Kluft zu ihnen im Technischen und in Bezug auf die Kunst. Jedenfalls bin ich entsetzt, in meiner Musik tiefste Provinzialität, Epigonentum und Zurückgebliebenheit feststellen zu müssen, auch wenn ich diese Musik überhaupt nicht empfinde und verstehe. Doch das ist ein weites Feld. 12

Da der Einfluss Hindemiths auf die Musik Mosolovs sich als recht vielseitig erwies, sei hier eine Gliederung in die Themenkomplexe „Kammerorchester und Kammerensemble“ und „Kammeroper“ vorgenommen. Kammerorchester und Kammerensemble Der neue kammerorchestrale Stil ging vor allem von Hindemith und seinen Kammermusiken der 1920er Jahre aus. Der Bedarf nach Kammerorchestern oder -ensembles wurde damals von zahlreichen schöpferisch denkenden Musikern empfunden und resultierte aus dem unerhörten Anwachsen der Orchesterbesetzungen Popov, „Perepiska“ (wie Anm. 9), S. 42. Vladimir Ščerbačëv, Stat’i, materialy, pis’ma [Aufsätze, Materialien, Briefe], hrsg. von Raisa Slonimskaja und Andrej Krjukov, Leningrad: Sovetskij kompozitor, 1985, S. 246–247. 11 12

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zum ‚Über-Orchester‘.13 Allenthalben suchte man einen Ausweg aus den eng gewordenen Grenzen der harmonischen Tonalität und dem „vorwiegend vertikalen Musikempfinden“14 zugunsten der Horizontalen, d. h. einer polyphonen Satztechnik. Das Hauptziel der Bemühungen war dabei auf die Schaffung eines ökonomischen musikalischen Organismus gerichtet, der leicht die neue Forderung nach Polyphonie erfüllen könnte. Dieser Prozess war eng an den beginnenden Wandel des modalen Denkens gebunden, ebenso wie an die Wiedergeburt der klassischen Funktionsharmonik. Erste Versuche in dieser Richtung führten zur Bildung von Kammerorchestern und klangfarblich verschiedenartigen Kammerensembles. Da der Unterschied zwischen beiden anfangs nicht klar erfasst wurde, trugen die neuen Formationen mitunter irreführende Bezeichnungen. Ursprünglich verstand man unter Kammerorchester im Idealfall ein Ensemble solistischer Instrumente, und zwar mit jeweils einem Musiker für jeden Part und jede Klangfarbe. Zum Pionier der neuen Richtung wurde Arnold Schönberg mit seiner 1906 entstandenen Kammersymphonie für 15 Solo-Instrumente op. 9 in der Besetzung: Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette in D, Klarinette in A, Bass-Klarinette in A, Fagott, Kontra-Fagott, 1. und 2. Horn in F, 1. Violine, 2. Violine, Bratsche, Violoncello, Kontrabass. Klanglich doppelt vertreten sind – als Ausnahme – nur die Hörner. Doch man bemerkte rasch die unausgewogene Klangbalance: „Ich glaube das ist doch ein Irrtum, diese Solobesetzung der Streicher gegen soviele Bläser. Es fehlt nämlich eine Möglichkeit: kein einziges Instrument, keine einzige Gruppe kann im vollen Tutti dominierend über dem Ganzen stehen“, bekannte der Komponist im Jahr 1916 gegenüber Alexander Zemlinsky.15 Schönberg suchte einen Ausweg aus der gewählten Konzeption über eine Korrektur seiner „Fehler“, indem er neue Versionen der Symphonie vorlegte.16 Dessen ungeachtet 13 Im Russischen „sverch-orkestr“; gemeint sind übergroße Besetzungen wie z. B. in Mahlers Achter Symphonie, Schönbergs Gurreliedern, Stravinskijs Le Sacre du printemps und Bergs Wozzeck. 14 Egon Wellesz, Die neue Instrumentation, 1. Teil (Max Hesses Handbücher, 90), Berlin: Max Hesses Verlag, 1928, S. 31. 15 Brief Schönberg an Zemlinsky vom 13. 12. 1916, in Alexander Zemlinsky, Briefwechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Franz Schreker, hrsg. von Horst Weber (Briefwechsel der Wiener Schule, 1), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, S. 159 [kursiv i. O.]. 16 Zu den verschiedenen Redaktionen der Kammersymphonie siehe Julija Veksler, „Kamernaja simfonija op. 9 Arnol’da Šenberga (k probleme versij) [Arnold Schönbergs Kammersymphonie op. 9 (zum Problem der Versionen)]“, in: Orkestr bez granic: Materialy meždunarodnoj konferencii pamjati Ju. A. Fortunatova [Orchester ohne Grenzen: Materialien der internationalen Konferenz zum Andenken an Jurij Fortunatov], hrsg. von Inna Barsova und Irina Viskova, Moskau: Moskovskaja konservatorija, 2009, S. 217–227.

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begriffen Zeitgenossen das Werk als Leitstern der neuen Musik. Das belegt etwa die dritte Szene des zweiten Akts der Oper Wozzeck von Berg. In der Partitur findet sich (bei Takt 366) der aufschlussreiche Hinweis: „Ein Kammerorchester (in der Besetzung von Arnold Schönbergs Kammersymphonie)“. Die musikalische Praxis brachte die Komponisten bald zu verschiedenen Lösungen des skizzierten Problems: − An die Stelle solistischer Besetzungen der Streicher traten Mehrfachbesetzungen; − bei der Beibehaltung solistischer Streicherbesetzungen wurde mit Blick auf die Klangbalance die Anzahl der Blasinstrumente verringert. 1912 erschien Schönbergs Melodram Pierrot Lunaire ор. 21. Erneut vermied der Komponist bei der Drucklegung eine terminologische Bestimmung der Besetzung und nannte nur die Instrumente auf dem Titelblatt: „Für eine Sprechstimmе, Klavier, Flöte (auch Piccolo), Klarinette (auch Bass-Klarinette), Geige (auch Bratsche) und Violoncell“. An der Ausführung sind fünf Musiker beteiligt, die acht Instrumente spielen, und eine Sängerin. Im atonal-polyphonen Gewebe des Pierrot Lunaire wurden die solistisch kontrastierenden Klangfarben der Instrumente zu Trägern von Mikrothematik, wodurch die ‚kollektivistische‘ Vorstellung der Vereinigung von Orchestergruppen aufgegeben wird. Auf diese Weise kam das klangfarblich vielseitige Kammerensemble individualisierter Instrumente auf – ein Ensemble neuen Typus. Als „Sonnengeflecht“ und „Salz“ in der Musik des frühen 20. Jahrhunderts bezeichnete Igorʼ Stravinskij den Pierrot Lunaire.17 Die russischen Komponisten gingen an der Figur Schönbergs nicht achtlos vorüber. Unter den frühen Eindrücken sei eine Äußerung Ščerbačëvs zur Harmonielehre Schönbergs angeführt, die er 1923 in Dresden gekauft hatte: „Das Buch enthält einen Brunnen der Weisheit, in ihm verbinden sich harmonische Tiefe und die Fähigkeit zur Detailbetrachtung mit der Weite der zeitgenössischen Ansichten eines Komponisten wie Schönberg“.18 In den 1920er Jahren wuchs das Interesse an der Musik Schönbergs zweifellos an. Popov, einer der Leiter des Leningrader Kreises Novaja muzykalʼnaja kulʼtura (Neue Musikkultur), initiierte eine Gruppe zum Studium der Kammermusik Stravinskijs, Hindemiths, Schönbergs und Ernst Kreneks.19 Dessen ungeachtet kam Popov, nachdem er 1935 Schönbergs Variationen für Orchester op. 31 unter der Leitung von Fritz Stiedry gehörte hatte, zu folgendem Resümee: „Schönbergs Prinzip (das Fehlen von Tonalität, die 12-Stu17 Igorʼ Stravinskij, Dialogi, razmyšlenija, kommentarii [Dialoge, Gedanken, Kommentare], hrsg. von Michail Druskin, Leningrad: Muzyka, 1971, S. 107. 18 Ščerbačëv, Stat’i, materialy, pis’ma (wie Anm. 12), S. 178–179. 19 Popov, „Perepiska“ (wie Anm. 9), S. 123.

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figkeit u. a.) befriedigt mich überhaupt nicht. Ich halte es für wenig ausdrucksstark.“20 Hindemiths Wirkung stellte sich demgegenüber als fruchtbarer und vorwärtsweisender heraus. Egon Wellesz hat Recht mit der Feststellung, dass die wichtigsten Versuche, in den 1920er Jahren mit dem Kammerorchester anstelle des großen Orchesters zu arbeiten, von Hindemith ausgingen.21 Zwischen 1921 und 1927 schuf der deutsche Komponist eine Folge von Konzerten für obligates Instrument und Kammerorchester. Dabei kamen verschiedene Soloinstrumente zum Einsatz. Für solcherart Besetzungen verwendete er den allgemeineren Terminus ‚Kammermusik‘, bisweilen mit Hinweis auf die Anzahl solistisch verwendeter Instrumente.22 Nachstehend eine Auflistung der Hindemithʼschen Kammermusiken (die Titel folgen den Titelblättern im Schott-Verlag, Mainz): − Kammermusik Nr. 1 für zwölf Solo-Instrumente op. 24 Nr. 1 − Kleine Kammermusik für fünf Bläser op. 24 Nr. 2 − Kammermusik Nr. 2 (Klavierkonzert) für obligates Klavier und 12 SoloInstrumente op. 36 Nr. 1 − Kammermusik Nr. 3 (Cellokonzert) für obligates Violoncello und zehn Solo-Instrumente op. 36 Nr. 2 − Kammermusik Nr. 4 für Solo-Violine und größeres Kammerorchester op. 36 Nr. 3 − Kammermusik Nr. 5 (Bratschen-Konzert) für Solo-Bratsche und größeres Kammerorchester op. 36 Nr. 4 − Kammermusik Nr. 6, Konzert für Viola dʼamore und Kammerorchester op. 46 Nr. 1 − Kammermusik Nr. 7, Konzert für Orgel und Kammerorchester op. 46 Nr. 2 In diesen Werken kreuzen sich das Bestreben, das Musizieren auf Streichinstrumenten wiederzubeleben (einige von ihnen beherrschte Hindemith in Vollendung), und die Realisierung des neuen linearen Klangideals im Rahmen klangfarblich verschiedenartiger Kammermusiken. Im Weiteren sollte die Kategorie quantitativ großer Besetzungen im Instrumentalbereich ihre Vorrangigkeit einbüßen.

Popov, „Dnevniki“ (wie Anm. 5), S. 259 (Eintrag vom 23. Januar 1935). Wellesz, Die neue Instrumentation (wie Anm. 14), S. 33–34. 22 Bezeichnenderweise verwendete Popov 1926 fast dieselbe Bezeichnung ‚Kammermusik‘ [Kamernaja muzyka]: „Gegenwärtig […] arbeite ich am dritten Satz einer Kammermusik für sieben individualisierte Instrumente“, Popov, „Dnevniki“ (wie Anm. 5), S. 226. 20 21

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Eine der fesselndsten Perspektiven, die sich mit dieser Art von Kammermusik auftat, betraf die Möglichkeiten der freien Wahl klangfarblich verschiedenartiger Kombinationen aus der Gesamtheit der Instrumente des großen Orchesters. Das neue experimentelle Potenzial zum Leben zu erwecken vermochte – im Unterschied zum Orchesterstil – vor allem der kammermusikalische Stil innovativen Typus. Gerade in ausgewählten Besetzungen lag der Grundstein dieser Art Kammermusik. Die Komponisten waren wie besessen von der Möglichkeit, Besetzungen zu ‚kreieren‘ und dadurch ein exklusives, individualisiertes Klangfarbenmaterial des Werks im noch vorthematischen Stadium des Schaffensprozesses entstehen zu lassen. Unter den sowjetischen Komponisten, die in den 1920er Jahren Einflüsse von Hindemiths ‚Kammerbewegung‘ aufnahmen, empfing Mosolov offenbar die nachhaltigsten Prägungen. Seine frühen Kompositionen der 1920er Jahre wie auch sein oben erwähnter Aufsatz belegen, mit welcher Intensität er sowohl die schöpferischen Experimente des deutschen Komponisten im Bereich musikalischer Gattungen als auch mit Blick auf das musikalische Material der Werke selbst verfolgte. Wie gut konnte Mosolov Hindemiths Werke gekannt haben? Im Jahr 1925, als Mosolovs Aufsatz erschien, waren bereits Hindemiths Kammermusiken Nr. 2 für Klavier und Kammerorchester und Nr. 3 für Violoncello und Kammerorchester erschienen. Mosolov war allerdings zu Ohren gekommen, dass auch schon Konzerte für Violine und für Bratsche vorlägen und wartete ungeduldig auf deren Veröffentlichung. Im Schaffen Hindemiths eröffnete sich dem russischen Komponisten die ganze Vielfalt der Möglichkeiten individualisierter, exklusiver Instrumentalbesetzungen. An dieser Stelle sind einige Hinweise auf die Verschiedenartigkeit und enorme Bandbreite der Besetzungen in Hindemiths Kammermusiken angebracht: Die kleinste Besetzung vertritt das Quintett für Blasinstrumente (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn in der Kleinen Kammermusik ор. 24 Nr. 2), die größte die Kammermusik Nr. 4 (Violinkonzert) für Solo-Violine und größeres Kammerorchester op. 36 Nr. 3: 23 Solo-Instrumente und 4 Trommeln. Dazwischen steht der Typus des reinen Kammerorchesters wie in der Kammermusik Nr. 2 (KlavierKonzert) für obligates Klavier und 12 Solo-Instrumente op. 36 Nr. 1, mit der Besetzung: Große Flöte, kleine Flöte (gespielt von einem einzigen Musiker), Oboe, Klarinette in B, Bassklarinette in B ad libitum, Fagott, Horn in F, Trompete in C, Posaune, Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass. Die Wahl des obligaten Instruments bestimmt nicht selten auch die Besetzung der Solisten-Gruppe. So verzichtet Hindemith in den Kammermusiken Nr. 6 und Nr. 7 – den Konzerten für Viola d’amore und Kammerorchester (op. 46 Nr. 1) sowie für Orgel und

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Kammerorchester (op. 46 Nr. 2) – auf die solistische Violine und Bratsche, um hohe Klanglagen auszuschließen. Mosolov schrieb sein Konzert Nr. 1 für Klavier (1926–27) zweifelsohne unter dem Einfluss Hindemiths. Die Überschrift des Verfassers auf der ersten Partiturseite lautet „Koncert dlja fortepiano / Klavier-Konzert [deutsch!] / s soprovoždeniem malogo orkestra [mit Begleitung eines kleinen Orchesters]“. Allerdings widerspricht die solistisch-konzertante Behandlung der Bläser dem traditionellen Begriff eines ‚kleinen‘ Orchesters. In der Tat ist die vom Komponisten auf einem gesonderten Blatt ausgewiesene Orchesterbesetzung als Kammerorchester mit vergrößerter Streichergruppe angelegt: „Flauto (poi piccolo) / Oboe / Clarinetto in A / Fagotto / 2 Corni in F / Tromba in A / Trombone / Timpani / Triangolo / Piatti / Tamb[uro] milit[are] / Gr[an] Cassa / Tam-tam / 8 V[iolini] I / 6 V[iolini] II / 4 Viole / 3 Violoncelli / 2 Contrabassi“ (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Mosolov, Autograph des Ersten Klavierkonzerts (Archiv der Universal Edition Wien), „Sostav orkestra“ (Besetzung des Orchesters)

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Der Einfluss des deutschen Komponisten auf Mosolovs Klavierkonzert äuDerauf Einfluss des deutschen Komponisten Mosolovs äußert sich recht eigentümliche Weise. Bei derauf Analyse der Klavierkonzert Partitur stößt man ßert sich auf recht eigentümliche Weise. Bei der Analyse der Partitur stößt man auf Besonderheiten eines individuellen Orchesterstils, der sich an die Stilistik auf Besonderheiten individuellen der sich Momente an die Stilistik Hindemiths anlehnt. eines Im Folgenden seien Orchesterstils, einige charakteristische nicht Hindemiths anlehnt. Im Folgenden seien einige charakteristische Momente nicht nur der Ähnlichkeit, sondern auch des Kontrasts in der Schaffensart der beiden nur der Ähnlichkeit, sondern auch des Kontrasts in der Schaffensart der beiden Komponisten benannt. Komponisten benannt. Es darf nicht vergessen werden, dass Hindemith auf dem Höhepunkt des Es darf nichtProtests vergessen werden, dass Hindemith auf dem Höhepunkt des antiromantischen in die europäische Musikgeschichte eintrat. Diese antiromantischen Protests in einen die europäische eintrat. Diese ästhetische Position bedingte Rückhalt desMusikgeschichte Komponisten in der Orchesterästhetische Position bedingte einen Rückhalt des Komponisten in der Orchesterpraxis des Barock, vor allem in dem ans Gruppenmusizieren gebundenen Conpraxis des Barock, vor allem in dem ans Gruppenmusizieren Concerto grosso. Der Musik Hindemiths ist in hohem Maße der gebundenen Geist kollektiven certo grosso. Der Musik Hindemiths ist in hohem Maße der Geist kollektiven Konzertierens eigen, Freude an musikalischer Kommunikation und am gemeinKonzertierens eigen, Freude an musikalischer Kommunikation und am gemeinsamen Musizieren. Nicht zufällig bezeichnet Siglind Bruhn die Kammermusiken 23 samen Musizieren. Nicht zufällig bezeichnet Siglind Bruhn die Kammermusiken op. 36 und op. 46 als „neue ‚Brandenburgische Konzerte‘“. Auch Mosolov, als 23 op. undprofiliertesten op. 46 als „neue ‚Brandenburgische Konzerte‘“. Auchund Mosolov, als einer36der sowjetischen Komponisten der Moskauer Leningraeiner der profiliertesten sowjetischen Komponisten derder Moskauer der Schule, befreite das Konzert von der Subjektivität Emotion,und dieLeningranoch von 24 der Schule, befreite das Konzert von der Subjektivität der Emotion, die noch der Pianistik der Nachfolge Skrjabins geprägt war. Er sondierte – nicht ohnevon auf 24 der der Nachfolgezurückzugreifen Skrjabins geprägt– war. Er sondierte – eines nicht ohne auf die Pianistik Hindemith-Erfahrung die Möglichkeiten frischen die – dieJahren, Möglichkeiten frischen und Hindemith-Erfahrung bildhaften ‚Tons‘, derzurückzugreifen dann in den 1930er in bereitseines eingespielter und bildhaften ‚Tons‘, der dann in den 1930er Jahren, in bereits eingespielter Form, folgende Dominanten aufwies: Freude am Motorischen, feierliche ToccaForm, folgende aufwies: Freude am Motorischen, feierliche Toccatenhaftigkeit undDominanten Affinität zum Humoristischen. In der sowjetischen Musikgetenhaftigkeit und Affinität zum Humoristischen. In der sowjetischen Musikgeschichte war es das erste antiromantische Konzert, entstanden sechs Jahre vor schichte warKlavierkonzert es das erste antiromantische Konzert,Die entstanden sechs Jahre vor dem Ersten Dmitrij Šostakovičs. Kammermusiken Hindedem Ersten Klavierkonzert Dmitrij Šostakovičs. Die Kammermusiken Hindemiths führten Mosolov zurück in die vergessene Tradition des Concerto grosso. miths führten Mosolov zurück inKonzertieren die vergessene des Concerto grosso. Der Idee, das gemeinschaftliche alsTradition „ein musikalisches Wetteifern Der Idee, das gemeinschaftliche Konzertieren als „ein musikalisches Wetteifern der Instrumente mit dem Orchester-Tutti, entsprechend den Konzertformen des 25 den Konzertformen des der Instrumente mit dem Orchester-Tutti, entsprechend 17. und 18. Jahrhunderts, wiederaufleben zu lassen“, waren damals viele ver17. und 18. Jahrhunderts, wiederaufleben zu lassen“,25 waren damals viele verfallen. fallen. Siglind Bruhn, Hindemiths große Instrumentalwerke (Hindemith-Trilogie, 3), Waldkirch: Edition Gorz, 2012, S. 131. große Instrumentalwerke (Hindemith-Trilogie, 3), Waldkirch: Siglind Bruhn, Hindemiths 24 EinenGorz, ersten2012, Ausbruch ins ‚Barbarische‘ hatte bereits der junge Sergej Prokof’ev in seinem Edition S. 131. 24 Ersten (1912) unternommen, dessen Linie Prokof’ev selbst EinenKlavierkonzert ersten Ausbruch ins ‚Barbarische‘ hatte bereits deraber, jungevon Sergej Prokof’ev inabgeseseinem hen, niemand fortführte. Das Koncert masterov orkestra [Konzert derProkof’ev Meister des Orchesters] Ersten Klavierkonzert (1912) unternommen, dessen Linie aber, von selbst abgesevon Vladimir Ėnke entstand viel später, im orkestra Jahre 1936. hen, niemand fortführte. Das erst Koncert masterov [Konzert der Meister des Orchesters] 25 Igor’ GlebovĖnke [d. i.entstand Boris Asaf’ev], den Programmnotizen von Vladimir erst vielaus später, im Jahre 1936. zum Konzert vom 13. Oktober 25 1926, dem das des Leningrader der Leitung Igor’inGlebov [d.Orchester i. Boris Asaf’ev], aus den Konservatoriums Programmnotizenunter zum Konzert vomvon 13.Vladimir Oktober Dranišnikov Nr. 2 op. 25 von Ernst Krenek spielte. Am 20. von Oktober des1926, in demdas dasConcerto Orchestergrosso des Leningrader Konservatoriums unter der Leitung Vladimir selben Jahresdas erklang übrigens in Nr. Leningrad Konzertspielte. für Orchester. Am 20. Oktober desDranišnikov Concerto grosso 2 op. 25Hindemiths von Ernst Krenek selben Jahres erklang übrigens in Leningrad Hindemiths Konzert für Orchester. 23 23

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In den Ecksätzen des Konzerts behandelt Mosolov das Orchester als Ganzes (im Geiste des barocken Concerto ripieno), den zweiten Satz dagegen, ein Tema con concertini, legt er als einen Wettstreit der Solisten an. In dieser aus neun Variationen bestehenden Folge, gleichsam dem Herz des Konzerts, stößt man auf die scharfsinnigsten Trouvaillen des Komponisten. Das Element des Wettstreits erfasst im Grunde alle Instrumente. Die Streichergruppe (bestehend aus 23 Musikern) stellt ebenfalls ihre Solisten vor, die sich gleichberechtigt mit dem obligaten Klavier profilieren. Möglicherweise sah Mosolov in der Abfolge der Hindemithʼschen Kammermusiken – deren jede ihr obligates Instrument vorführt – ein Muster seiner Nachahmung, versammelte hier aber einzelne, kontrastierende Facetten innerhalb eines einzigen Satzes.

Notenbeispiel 1: Paul Hindemith, Kammermusik Nr. 3 (Cellokonzert) für obligates Violoncello und zehn Solo-Instrumente op. 36 Nr. 2, zweiter Satz, T. 2–626 26 Quelle: Inna Barsova, „Kamernyj orkestr Paulja Chindemita [Das Kammerorchester Paul Hindemiths]“, in: Muzyka i sovremennostʼ [Musik und Gegenwart], Bd. 9, hrsg. von D[mitrij] Frišman, Moskau: Muzyka, 1975, S. 226–261, hier S. 250.

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Von besonderem Interesse beim Kammerkonzert des 20. Jahrhunderts ist die Disposition der Vertikalen. In Hindemiths Kompositionen hatte das Streben nach Deutlichkeit der Linien eine Revision früherer homophoner Vorstellungen einer klangfarblich und dynamisch ausgerichteten Vertikalen zur Folge. Im Zentrum seiner Aufmerksamkeit standen profiliert klingende, sich voneinander abhebende polyphone Linien. Hindemith erreicht Plastizität halbmelodischer Linien, indem er kontrastierende Klangfarben in den Orchesterraum einführt. Eine Vorstellung davon gibt ein dreistimmiges Beispiel aus dem Violoncello-Konzert (Notenbeispiel 1): Das Thema liegt in der Oboe, darunter das begleitende SoloCello und die Bässe der Streicher. Mosolov bedient sich häufig dieses Verfahrens und spitzt ebendiesen Effekt nicht selten zu. Am hitzigen Konzertieren sind einige klang-‚scharfe‘ Unisono-Stimmen beteiligt, verteilt auf die Außenregister, darunter auch die linke und rechte Hand des obligaten Klaviers (der Lage nach von oben nach unten: die rechte Hand des einstimmigen Klavierparts, die Solo-Violine, das Fagott, die linke Hand des einstimmigen Klavierparts). „Sempre forte“ ist vorgeschrieben, damit dieses grimmige Unisono-Quartett auch durchdringt (Notenbeispiel 2).

Notenbeispiel 2: Mosolov, Erstes Klavierkonzert, erster Satz, Ziffer 3, Autograph

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Inna Barsova Inna Inna Barsova Barsova Inna Barsova

Aufmerksamkeit verdient, wie Mosolov den Klavierpart behandelt, der Aufmerksamkeit verdient, wie den der offenkundig Einflüsse der Kammermusik Nr. 2 (Klavier-Konzert) aufgenommen Aufmerksamkeit verdient, wie Mosolov Mosolov den Klavierpart Klavierpart behandelt, behandelt, der Aufmerksamkeit verdient, wie Mosolov den Klavierpart behandelt, der offenkundig Einflüsse der Kammermusik Nr. 2 (Klavier-Konzert) aufgenommen hat, war dochEinflüsse der russische Komponist mitNr. der2Partitur dieses Werks gut vertraut. offenkundig der Kammermusik (Klavier-Konzert) aufgenommen offenkundig Einflüsse der Kammermusik Nr. 2 (Klavier-Konzert) aufgenommen hat, war doch der russische Komponist mit der Partitur dieses Werks gut vertraut. Er charakterisiert sie mit denKomponist Worten: „Die klangliche des gut Konzerts ist hat, war doch der russische mit der PartiturFremdheit dieses Werks vertraut. hat, war doch der russische Komponist mit der Partitur dieses Werks gut vertraut. Er charakterisiert sie mit den Worten: „Die klangliche Fremdheit des Konzerts ist hauptsächlich durch dieden Zweistimmigkeit des Soloinstruments dessen Er charakterisiert sie mit Worten: „Die klangliche Fremdheit des und Konzerts ist Er charakterisiert sie mit Worten:bedingt“. „Die klangliche Fremdheit des und Konzerts ist hauptsächlich die Zweistimmigkeit des Soloinstruments dessen Nutzung großerdurch Registerabstände Notenbeispiel 3 zeigt eines von hauptsächlich durch dieden Zweistimmigkeit des Soloinstruments und dessen hauptsächlich durch die Zweistimmigkeit des Soloinstruments und dessen Nutzung großer Registerabstände bedingt“. Notenbeispiel 3 zeigt eines von vielen möglichen Beispielen. Nutzung großer Registerabstände bedingt“. Notenbeispiel 3 zeigt eines von Nutzung großer Registerabstände bedingt“. Notenbeispiel 3 zeigt eines von vielen möglichen Beispielen. vielen möglichen Beispielen. vielen möglichen Beispielen.

Notenbeispiel 3: Hindemith, Kammermusik Nr. 2 (Klavierkonzert) für obligates Klavier und Notenbeispiel 3: Hindemith, Hindemith, Kammermusik Kammermusik Nr. 22Satz, (Klavierkonzert) für Klavier 12 Solo-Instrumente op. 36 Nr. 1, erster T. 104–110 (nur Klavierpart) Notenbeispiel 3: Nr. (Klavierkonzert) für obligates obligates Klavier und und 12 Solo-Instrumente op. 36 Nr. 1, erster Satz, T. 104–110 (nur Klavierpart) Notenbeispiel 3: Hindemith, Kammermusik Nr. 2 (Klavierkonzert) für obligates Klavier und 12 Solo-Instrumente op. 36 Nr. 1, erster Satz, T. 104–110 (nur Klavierpart) 12 Solo-Instrumente 36 Nr. 1, erster Satz, T. 104–110 Klavierpart) Das Laufwerk ergeht sich op. in gleichförmiger Bewegung der(nur beiden Hände, jedoch

Das ergeht in Bewegung der nicht in komfortablen Oktavparallelen, sondern in Parallelen derHände, großenjedoch None Das Laufwerk Laufwerk ergeht sich sich in gleichförmiger gleichförmiger Bewegung der beiden beiden Hände, jedoch Das Laufwerk ergeht sich in gleichförmiger Bewegung der beiden Hände, jedoch nicht in komfortablen Oktavparallelen, sondern in Parallelen der großen (Takt 1 des Beispiels); Oktavparallelen, da gibt es gebrochene Intervalle in beiden Genicht in komfortablen sondern in Parallelen derHänden großeninNone None nicht in komfortablen Oktavparallelen, sondern in Parallelen der großen (Takt 1 des Beispiels); da gibt es gebrochene Intervalle in beiden Händen in Gegenbewegung wie auchda weitere Muster der der Fin(Takt 1 des Beispiels); gibt esmodernisierte gebrochene Intervalle in ‚Geläufigkeit beiden Händen inNone Ge(Takt 1 des Beispiels); da gibt es gebrochene Intervalle in beiden Händen in Gegenbewegung wie auch weitere modernisierte Muster der ‚Geläufigkeit der Finger‘ aus den Klavierschulen vonmodernisierte Hanon und Czerny Wechsel mit großer Akgenbewegung wie auch weitere Musterimder ‚Geläufigkeit der Fingenbewegung wie auch weitere modernisierte Muster ‚Geläufigkeit der Finger‘ von Hanon und im Wechsel mit Akkord-Technik. Mosolov besaß Neigung zu Oktavund Akkordtechnik mit ger‘ aus aus den den Klavierschulen Klavierschulen voneine Hanon und Czerny Czerny imder Wechsel mit großer großer Akger‘ aus den Klavierschulen von Hanon und Czerny im Wechsel mit großer kord-Technik. Mosolov besaß eine Neigung zu Oktavund Akkordtechnik mit komplizierter außerdem zu dissonanten Passagen in NonenAkmit kord-Technik.Intervallstruktur, Mosolov besaß eine Neigung zu Oktav- und Akkordtechnik kord-Technik. Mosolov besaß eine Neigung zu Oktavund Akkordtechnik komplizierter Intervallstruktur, außerdem zu dissonanten Passagen in mit weit über die Tastatur geworfenen Händen (zwei zweistimmige Linien in Notenkomplizierter Intervallstruktur, außerdem zu dissonanten Passagen in Nonen Nonen mit komplizierter Intervallstruktur, außerdem zu dissonanten Passagen in Nonen mit weit über die Tastatur geworfenen Händen (zwei zweistimmige Linien in Notenbeispiel nurTastatur Klavierpart). weit über4,die geworfenen Händen (zwei zweistimmige Linien in Notenweit über die Tastatur geworfenen Händen (zwei zweistimmige Linien in Notenbeispiel 4, nur Klavierpart). Eines derKlavierpart). interessantesten Themen, das Mosolov in seinem Aufsatz über beispiel 4, nur beispiel 4, nur Klavierpart). Eines der Themen, das in Aufsatz über Hindemith ist der Geist der Improvisation die seiner Meinung Einesanschneidet, der interessantesten interessantesten Themen, das Mosolov Mosolov und in seinem seinem Aufsatz über Eines der interessantesten Themen, das Mosolov in seinem Aufsatz über Hindemith anschneidet, ist der Geist der Improvisation und die seiner Meinung nach damitanschneidet, verbundene ist Absenkung Qualität des musikalischen Hindemith der Geist der Improvisation und die seiner Materials Meinung Hindemith anschneidet, derallem Geisteine der Improvisation undrussischen die seinerKomponiMeinung nach verbundene Absenkung Qualität musikalischen Materials selbst. Bemerkenswert vor nach damit damit verbundeneistist Absenkung der Beobachtung Qualität des des des musikalischen Materials nach damit verbundene Absenkung der Qualität des musikalischen Materials selbst. Bemerkenswert ist vor allem eine Beobachtung des russischen Komponisten: sei „ein nur ihm eigener Kult derKomponiKontrastselbst.Charakteristisch Bemerkenswertfür ist Hindemith vor allem eine Beobachtung des russischen selbst. Bemerkenswert ist vor allem eine Beobachtung des russischen Komponisten: Charakteristisch für Hindemith sei „ein nur ihm eigener Kult der bildung, der sich in einer unmittelbaren Gegenüberstellung von thematisch schösten: Charakteristisch für Hindemith sei „ein nur ihm eigener Kult der KontrastKontraststen: Charakteristisch für Hindemith sei „ein nur ihm eigener Kult der Kontrastbildung, der sich in einer unmittelbaren Gegenüberstellung von thematisch bildung, der sich in einer unmittelbaren Gegenüberstellung von thematisch schöschöbildung, der sich in einer unmittelbaren Gegenüberstellung von thematisch schö-

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nen Stellen zeigt […], die teils improvisatorische Musik in sich aufnehmen und oftmals sowohl in thematischer Hinsicht unangenehm, unfertig und nachlässig als auch im Harmonischen hilflos eintönig sind.“27 Es geht, wie erwähnt, um die in der Technik der linearen Polyphonie geschriebenen Werke Hindemiths.

Notenbeispiel 4: Mosolov, Erstes Klavierkonzert

Es hat den Anschein, als sei Mosolov, der in den Kompositionsklassen von Rejngolʼd Gliėr und Nikolaj Mjaskovskij ausgebildet wurde (1925 besuchte er noch als Student des zweiten Studienjahres das Konservatorium), mit den Grundlagen des linearen Kontrapunkts nicht vertraut gewesen. Die funktionale Verankerung der Stimmen und ihres Klangcharakters in Formen von Basso ostinato oder Soprano ostinato wird bei Hindemith allerdings nicht durch Improvisationen ins Gleichgewicht gebracht, sondern durch eine gewisse ‚fixierte Freiheit‘ der ‚klangfarblich‘ exponierten Stimmen des Satzes, d. h. die Verbindung vorsätzlich einfacher Floskeln in der einen Ostinato-Schicht mit einer intervallisch komplexen, scheinbar zufälligen Struktur in der anderen. Der Effekt, der sich aus der Kombination eines streng fixierten Ostinatos und eines quasi-Ostinatos ergibt,28 setzt fraglos eine Vorbereitung des Hörers, d. h. Fertigkeiten der Wahrnehmung voraus. Vor diesem Hintergrund dürfte wohl die Mosolov störende Empfindung von „Monotonie“ und jener „nachlässigen“ und „unfertigen“ Schreibweise zu erklären sein, die er „improvisatorisch“ nannte. Mosolovs Vorwurf an die Adresse Hindemiths könnte paradox erscheinen. Es ist schwer zu entscheiden, ob die teils wenig interessante Thematik in Mosolovs Klavierkonzert der Unreife des Komponisten geschuldet ist oder aus einer Protesthaltung heraus zu erklären ist, dem Wunsch, einfach ‚nicht schön zu sein‘. Mosolov, „Novye kamernye koncerty P. Chindemita“ (wie Anm. 1), S. 18. Zu diesem Terminus vgl. Hugo Riemann, „Basso ostinato und Basso quasi ostinato. Eine Anregung“, in: Festschrift zum 90. Geburtstage Sr. Exzellenz des Wirklichen Geheimen Rates Rochus Freiherrn von Liliencron, überreicht von Vertretern deutscher Musikwissenschaft, Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1910, S. 193–202. 27 28

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Diese Besonderheit des von Mosolov eingeschlagenen Tonfalls ist stets in Betracht zu ziehen, wenn bestimmte Eigenschaften seiner Musik wie die Dominanz der Erfindung über das Material erörtert werden. Allerdings besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass die Strenge und Disziplin des linearen Stils, die Hindemith in seinen ostinaten Formen praktiziert, dem Eigensinn und der ungezügelten Fantasie Mosolovs in seiner halbmelodischen Polyphonie ganz unähnlich sind. Die musikalische Technik des untadelig in den russischen Konservatorien erzogenen enfant terrible könnte zufällig und willkürlich anmuten, besitzt indes gleichwohl ihre verborgenen Gesetzmäßigkeiten.29 Noch einer weiteren Besonderheit des Hindemithʼschen konzertanten Stils folgte Mosolov, nämlich der Leidenschaft für bestimmte Genres, insbesondere für die Straßenmusik mit ihren Fanfaren, Trommeln und sonstigen Attributen des heiteren Lebens. So betitelte Hindemith das Finale seiner Kammermusik Nr. 5 (Bratschen-Konzert) als „Variante eines Militärmarsches“. Der Satz rekurriert auf das Thema eines bayrischen Militärmarsches, des ‚Avanciermarsches‘ (Notenbeispiel 5). Anstelle der üblichen akkordischen Begleitformeln begegnet man einem halbmelodischen Gewebe mit Fanfaren in den Holzbläsern. Die Trompeten und Hörner ‚schneiden‘ in diese Faktur mit ihren Fanfaren-Repliken ein, in einem Tonfall komischer Ernsthaftigkeit. Das ‚kleine Potpourri‘ aus der Kammermusik Nr. 2 (Klavier-Konzert) beginnt mit einer gedämpften Solotrompete und der zwei Oktaven höher spielenden Piccoloflöte. Eine derartige Instrumentierung in Oktavkoppelung unter gänzlichem Fortfall der Mittellage provoziert einen humoristischen Effekt (Notenbeispiel 6). Eine der scharfsinnigsten Eingebungen Mosolovs findet sich im zweiten Satz seines Klavierkonzerts. Es ist die Episode mit der Kadenz von Schlagzeug und Solo-Piccoloflöte (Notenbeispiel 7). Die humoristische Stilistik des Militärmarsches und Einzelheiten der Instrumentierung könnten Assoziationen zu Passagen in den Konzerten Hindemiths aufkommen lassen. Viktor Beljaev weist in seinem Aufsatz über Mosolov auf diese Ähnlichkeit hin und versucht sie als einen besonderen Kunstgriff des Komponisten zu erklären. Gemeint ist der „mittlere Satz des Konzerts mit seinen ‚Variationen‘, der offenbar ein wenig den Stil uns bekannter Komponisten parodiert. Das ist eine der neuen Lösungen der Problematik des Porträtierens in der Musik […].“30 Soweit ein mögliches Deutungsangebot, dem sich der heutige Leser nicht anschließen muss. Siehe hierzu Inna Barsova, „Das Frühwerk von Aleksandr Mosolov“, in: Aleksandr Skrjabin und die Skrjabinisten II (Musik-Konzepte 37/38), hrsg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn, München: edition text + kritik, 1984, S 122–167. 30 Viktor Beljaev, „A. V. Mosolov“, in: Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik], 3. Jg. (1926) Heft 13/14, S. 81–88, hier S. 88. 29

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Notenbeispiel 5: Hindemith, Kammermusik Nr. 5 (Bratschen-Konzert) für Solo-Bratsche und größeres Kammerorchester op. 36 Nr. 4, vierter Satz, T. 1–4

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Notenbeispiel 6: Hindemith, Kammermusik Nr. 2, dritter Satz, T. 1–7

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Notenbeispiel 7: Mosolov, Erstes Klavierkonzert, zweiter Satz, sechs Takte vor Ziffer 3231 31 Quelle: Inna Barsova, „Rannee tvorčestvo Aleksandra Mosolova (dvadcatye gody) [Mosolovs Frühwerk (1920er Jahre)]“, in: A. V. Mosolov. Stat’i i vospominanija [Aufsätze und Erinnerungen], hrsg. von N[ina] Meško, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1986, S. 44–122, hier S. 76f.

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Kammeroper 1928 schrieb Mosolov für das Festival der Kammeroper im deutschen Kurort Baden-Baden (13.–15. Juli) die Oper Geroj [Der Held] op. 28. Die Ausrichter des Festivals hatten „einaktige Werke mit einem kurzen charakteristischen Sujet“ erbeten. In der vorangegangenen Saison (1927) waren Opern von nie dagewesener Kürze und Prägnanz präsentiert worden: Paul Hindemiths Sketch Hin und zurück (Dauer 12 Minuten) und Darius Milhauds „Minuten-Oper“ Die Entführung der Europa (9 Minuten). Es erscheint nur folgerichtig, dass Mosolov die Einladung annahm und die einaktige Oper Geroj für Kammerorchester komponierte, die am 15. Juli aufgeführt werden sollte. Die Veranstalter des Festivals verschickten Einladungen an Ehrengäste. Unter ihnen war auch der sowjetische Volkskommissar für Bildung Anatolij Lunačarskij. Nachstehend sei das an ihn gerichtete Schreiben von Heinrich Burkard, einem der Organisatoren des Festivals, dokumentiert: Dear Sir, it will afford us very great pleasure if you can possibly arrange to honour us with your presence on the occassion of our forthcoming „German Chamber Music“ Festival which is to take place in Baden-Baden betweeen the 13th and 15th July. The program contains also a great russian work, the Chamber opera „The Hero“, composer: Alexander Mossolow.32

Von der für den 15. Juli angekündigten Uraufführung existieren sowohl Programme als auch Plakate. Angesichts dessen könnte man davon ausgehen – wie etwa die Mosolov-Artikel verschiedener sowjetischer Nachschlagewerke33 –, dass die Vorstellung tatsächlich stattfand. Dies jedoch ist nicht der Fall gewesen. Folgt man einem deutschen Rezensenten, musste die Oper in letzter Minute abgesagt werden, weil „das Notenmaterial nicht rechtzeitig vorlag.“34 Mosolovs Moskau, Rossijskij gosudarstvennyj archiv sozial’no-političeskoj istorii – RGASPI [Russisches staatliches Archiv der Geschichte der Sozialpolitik], fond [Sammlung] 142 (Lunačarskij), opisʼ [Verzeichnis] 1, d. 796, l. 3. Olesja Bobrik stellte der Autorin dieses Schreiben freundlicherweise in Kopie zur Verfügung. 33 M. M. Jakovlev, Art. „Mosolov“, in: Muzykal’naja ėnciklopedija [Musikenzyklopädie] in sechs Bänden, hrsg. von Jurij Keldyš, Bd. 3, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, 1976, Sp. 692; Art. „Mosolov“, in: Muzykal’nyj ėnciklopedičeskij slovarʼ [Musikenzyklopädisches Wörterbuch], hrsg. von Georgij Keldyš, Moskau: Sovetskaja ėnciklopedija, 1990, S. 356. In beiden ‚Mosolov‘-Artikeln ist irrtümlich als Aufführungsort Frankfurt am Main unterstellt. 34 Ė. Prejsner [Eberhard Preußner?], „Festivalʼ kamernoj muzyki v Baden-Badene [Das Baden-Badener Kammermusikfestival]“, in: Muzykalʼnoe obrazovanie [Musikerziehung], 1928 Heft 4/5, S. 44–47, hier S. 46. 32

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Oper konnte auch in der Folge weder im deutschen noch im sowjetischen Kulturleben Fuß fassen, da das Manuskript des Werks verloren ging und erst 1979 wiederentdeckt wurde.35 Es wäre interessant, diese Partitur einmal mit Hindemiths Sketch zu vergleichen. Zwar hatte Mosolov diese Musik nicht gehört. Doch auf wie zahlreiche Gemeinsamkeiten konzeptioneller Art stößt man in der musikalischen und literarischen Stilistik dieser Werke! Der Erfinder absurder Situationen, derer das 20. Jahrhundert so reich ist, war in Russland zweifelsohne nicht alleine Nikolaj Gogolʼ, sondern auch Koz’ma Prutkov36 mit der Komödie in einem Akt Fantasia, der Operette in drei Bildern Čereposlov, sirečʼ Frenolog [Der Schädelbohrer, oder Der Phrenologe] und dem Drama in drei Akten Ljubovʼ i Silin. Prutkov brachte eine qualitativ neue Tradition hervor, enthält doch das satirische Verfahren der Fantasia „in Vollendung die Charaktereigenheiten des Vaudevilles bis hin zum Absurden.“37 Zu den Genre-Wurzeln von Mosolovs Oper Geroj [Der Held] (auf einen eigenen Text) gehört damit auch das viele Klischees der Tragödie, Komödie und Operette erfolgreich ‚aufspießende‘ russische Vaudeville, d. h. das ins Lächerliche ziehende Vaudeville Koz’ma Prutkovs. Möglicherweise unterlag Mosolov auch Einflüssen der im damaligen Theaterleben erfolgreichen Farce. Seit 1922 lief nämlich im Theater Vsevolod Mejercholʼds mit ungeheurem Erfolg eine „‚Tragifarce‘ im utopischen Genre“, Le Cocu magnifique [Der Hahnrei] von Fernand Crommelynck. Doch Mosolov schrieb seine Oper für Deutschland. Und ohne dabei die russische Tradition außer Acht zu lassen, orientierte er sich natürlich an den Bühnen Deutschlands. Damals wurde in Deutschland gerade ein neuer Typus des Theaterspektakels geschaffen, und Hindemith wirkte an dieser Erneuerung der Theaterästhetik überaus aktiv mit. An die Stelle der ‚großen Oper‘ mit narrativer

Einzelheiten siehe in: Inna Barsova, „Opera ‚Geroj‘ Aleksandra Mosolova. Istorija sozdanija i sud’ba rukopisi [Aleksandr Mosolovs Oper ‚Geroj‘. Zu ihrer Entstehungsgeschichte und dem Schicksal des Manuskripts]“, in: dies., Kontury stoletija. Iz istorii russkoj muzyki XX veka [Konturen eines Jahrhunderts. Aus der Geschichte der russischen Musik des 20. Jh.], St. Petersburg: Kompozitor, 2007, S. 55–63. 36 „Koz’ma Prutkov“ steht als kollektives Pseudonym für eine Gruppe russischer Dichter, die in den Zeitschriften Sovremennik [Der Zeitgenosse] und Iskra [Der Funke] satirische Verse und Aphorismen veröffentlichte. Ihr gehörten Aleksej Konstantinovič Tolstoj, Aleksej und Vladimir Žemčužnikov an. 37 D[avid] Zaslavskij, „Koz’ma Prutkov i ‚Sovremennik‘ [Koz’ma Prutkov und der ‚Zeitgenosse‘]“, in: Sočinenija Koz’my Prutkova [Die Werke Koz’ma Prutkovs], hrsg. von A[leksandr] Baboreko, Moskau: Gosudarstvennoe izdatelʼstvo chudožestvennoj literatury, 1955, S. 5. 35

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Handlungsstruktur traten nun kurze, oft einaktige Spektakel mit häufig alogischen szenischen Aktionen. Jahr für Jahr legte Hindemith neue Operneinakter vor: Mörder, Hoffnung der Frauen ор. 19 (1919), Das Nusch-Nuschi ор. 20, ein einaktiges Stück für burmanische Marionetten (1920), Sancta Susanna ор. 21 (1921). Alexander Zemlinsky führte alle drei Werke zusammen am 3. März 1923 in einem Prager Konzert auf. Doch waren sie allesamt für großes Orchester geschrieben. Bestrebungen zu kammermusikalischer Reduktion zeigten sich, fast ruckartig, erst 1927, als beim Festival Deutsche Kammermusik in Baden-Baden gleich vier Kammeropern vorgestellt wurden: Hin und zurück von Paul Hindemith, Kurt Weills Songspiel Mahagonny, L’Enlèvement d’Europe von Darius Milhaud und Die Prinzessin auf der Erbse von Ernst Toch. Die aktuellste Quelle der Gattung Oper könnte für Mosolovs Geroj insoweit Hindemiths Hin und zurück gewesen sein – ein „Sketch mit Musik“ op. 45a, Text von Marcellus Schiffer –, ein Werk, das er zwar nie hörte, aber fraglos kannte. Darauf deutet Einiges hin: So beginnen beide Opern mit einer ‚Streitszene‘; auch ähneln sich die Namen der typenhaften Protagonisten: Da gibt es bei Hindemith einen Professor, einen Krankenwärter und ein Dienstmädchen; bei Mosolov einen Fecht-Professor, einen Doktor und ein Stubenmädchen. Die Ausrichtung auf ein deutsches Publikum ist auch in Mosolovs Libretto zu greifen: So ist der russische Text stellenweise mit einer deutschen Übersetzung versehen; und auch im gesprochenen Russisch tauchen deutsche Worte auf. Mosolov bezeichnete das Viktor Beljaev gewidmete Werk laut erster Partiturseite als „einaktige Oper für Gesang und Kammerorchester“ (Notenbeispiel 8). Auf der letzten Seite ist das Datum der Fertigstellung vermerkt: „18/VI 1928, Moskau“. Das Orchester der Oper Geroj besteht aus einem kleinen, klanglich kargen Instrumentalensemble: Flauto (auch Piccolo), Oboe, Clarinetto in B, Fagott, Corno in F, Tromba in A, Trombone (Tenor, Bass), 4 Violini I, 4 Violini II, 2 Viole, 2 Violoncelli, 2 Contrabassi, Timpani, Triangolo, Piatti, Tamburo militaire. Es gibt zehn Gesangssolisten: „Sie“, „Ihn“, den Reisenden, den Freund, den Professor, das Stubenmädchen, den Sergeant, den Doktor, die Dame und den Herrn. Die exakte Besetzung von Hindemiths Hin und zurück dürfte Mosolov kaum gekannt haben: Große Flöte, Klarinette (B), Alt-Saxophon (Es), Fagott, Trompete (C), Posaune, Klavier zu vier Händen, weiteres Klavier zu zwei Händen sowie Harmonium hinter der Szene. Das klangliche Übergewicht der beiden Klaviere (zu vier und zu zwei Händen) über die sechs Blasinstrumente rückt die Oper in die Nähe nichttraditioneller Theaterformen.

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Notenbeispiel 8: Mosolov, Geroj (Der Held) op. 22, erste Partiturseite Wien, Stadt- und Landesbibliothek

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Da die Oper Geroj nicht Teil des russischen Kulturlebens wurde, ihre Partitur verloren ging und 50 Jahre der Vergessenheit anheimfiel, konnten sich russische Musiker einer frappierenden Parallele nicht bewusst werden. Im selben Jahr 1928 schuf Dmitrij Šostakovič nämlich seine dreiaktige Oper Nos [Die Nase] für Kammerorchester, aller Wahrscheinlichkeit nach vollkommen unberührt vom deutschen Kontext. Die beiden Werke entstanden unabhängig voneinander. Šostakovič stützt sich auf einen Stoff von Gogolʼ, der eine Fülle verschiedenartigster Traditionen einschließt, von der absurden Literatur bis hin zu einer eigenen russischen ‚Nasenwissenschaft‘ [russ. ‚Nosologija‘, d. h. der wissenschaftlichen Erforschung von Gogols Nase; Anmerkung des Übersetzers]. So unterschiedlich die Ergebnisse eines direkten Vergleichs auch ausfallen, und so unvorteilhaft Mosolovs Oper sich dabei darstellt, sind doch die verbindenden Momente ungleich wichtiger. Angesprochen ist damit die polemische Haltung zum Opernkanon und die Opposition zum ‚großen Stil‘ ‒ Eigenschaften, die freilich auch die deutschen Operneinakter der Zeit auszeichnen. Das Wichtigste, was womöglich unbewusst in der schöpferischen Atmosphäre der frühen Sowjetunion heranreifte, war der tief verborgene Gedanke an Scheinexistenz, Scheingröße, Scheinheldentum und Pseudo-Persönlichkeit. Der Bogen reicht von Jurij Tynjanovs historischer Erzählung Poručik Kiže [Leutnant Kiže] über Šostakovičs Nos – ein erklungenes und weiter erklingendes – hin zu Mosolovs Geroj – einem stumm gebliebenen Werk. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre schlossen sich der ‚kammermusikalischen Bewegung‘ in der Sowjetunion weitere Komponisten an und brachten ihre klanglichen Innovationen in die verschiedensten musikalischen Gattungen ein. Bei Nikolaj Roslavec kam das Interesse an kammermusikalischen Ensembles mit ungewöhnlichen Besetzungen schon viel früher auf, wie sein Nocturne für zwei Harfen, Oboe, zwei Violen und Violoncello aus dem Jahr 1913 belegt. Als in den Konzerten der Moskauer Musikausstellungen38 wieder einmal neue Werke Arnold Schönbergs gespielt wurden, verfasste er einen bemerkenswerten Aufsatz über den Komponisten, in dem es unter anderem heißt: „Im ‚Pierrot lunaire‘ präsentiert sich Schönberg bereits als souveräner Meister neuer Klangempfindungen und rennt jahrhundertealte Vorstellungen von musikalischer Schönheit selbstbewusst und tollkühn über den Haufen.“39 Im Weiteren begann Roslavec an einer Vgl. Inna Barsova, „Recepcija avstro-nemeckogo muzykalʼnogo avangarda v Rossii 1920ch godov [Die Rezeption der österreichisch-deutschen Musikavantgarde im Russland der 1920er Jahre]“, in: Vestnik istorii, literatury, iskusstva [Mitteilungen für Geschichte, Literatur und Kunst], Bd. 7, hrsg. von Grigorij Bongard-Levin, Moskau: Sobranie, 2010, S. 242–252, hier S. 246. 39 Nik[olaj] Roslavec, „Lunnyj P’ero Arnol’da Šenberga [Arnold Schönbergs Pierrot lu38

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unvollendet gebliebenen Kammersymphonie zu arbeiten, von der Fragmente aus dem Jahre 1926 überliefert sind.40 Gavriil Popov war, wie schon erwähnt, von Hindemiths Schaffen begeistert und schuf unter diesem Eindruck das Septett ор. 2 für Flöte, Klarinette, Fagott, Trompete, Violine, Violoncello und Kontrabass (1928). Aleksej Životovs Fragmenty für Nonett op. 241 schließlich sind ein Zyklus von Miniaturen in der Besetzung „Flauto, Clarinetto, Fagotto, Tromba, 2 Violini, Viola, Cello e Piano“ (Angaben laut Titelblatt). Als sie 1929 gemeinsam mit den Aphorismen von Šostakovič und Mosolovs Zeitungsannoncen aufgeführt wurden, stießen sie auf ein überwältigendes Echo. Hindemiths Einwirkung auf das Schaffen russischer Komponisten der 1920er Jahre ist nicht nur auf die Behandlung des Orchesters begrenzt. Beziehungen gibt es auch auf anderen Ebenen; so hat z. B. Stefan Weiss überzeugend auf thematische Hindemith-Anlehnungen bei Šostakovič hingewiesen.42 Mit Blick auf das Orchester und den Orchesterstil könnte der Einfluss des deutschen Meisters auf die russische Musik recht bescheiden anmuten, bezieht er sich doch nur auf zwei oder drei nennenswerte Figuren. Doch geht es nicht um einzelne Namen. Es gelang Hindemith (wie auch Schönberg und Stravinskij), bei den russischen Musikern das Interesse an Ausdrucksbereichen zu wecken, die sich auf ein ganz neues Verhältnis von Melodie, Harmonie und Klangfarbe stützen und damit für jeden Komponisten ungeahnte Möglichkeiten der Individualisierung eröffneten. Diese Entdeckung war ein zentraler Impuls für vielfältige Entwicklungen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer

naire]“, in: K novym beregam muzykalʼnogo iskusstva [Zu neuen Ufern der Musik], 1923 Heft 3, S. 28–33, hier S. 28. 40 Siehe Marina Lobanova, Nikolaj Andreevič Roslavec i kul’tura ego vremeni [Roslavec und die Kultur seiner Zeit], Moskau: Petroglif, 2011, S. 351. 41 Životovs Fragmenty erschienen 1930 im Verlag der Wiener Universal Edition (9240) und bei der Musiksektion des sowjetischen Staatsverlags (Nr. 9539). 42 Vgl. Stefan Weiss, „Wind aus dem Westen: Zur Hindemith-Rezeption des jungen Schostakowitsch“, in: Zwischen Bekenntnis und Verweigerung: Schostakowitsch und die Sinfonie im 20. Jahrhundert. Symposium Zürcher Festspiele 2002, hrsg. von Hans-Joachim Hinrichsen und Laurenz Lütteken (Schweizer Beiträge zur Musikforschung, 3), Kassel: Bärenreiter, 2005, S. 81–97; ders., „Schostakowitsch ... Hindemith: sechs Relationen“, in: HindemithJahrbuch Bd. 36 (2007), Mainz: Schott, 2007, S. 9–46.

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Paul Hindemith in sowjetischen Publikationen und Dokumenten der 1920er Jahre In der Geschichte der deutsch-russischen Musikbeziehungen gehörten zweifelsohne die Gastspielreisen Paul Hindemiths mit dem Amar-Quartett in die Sowjetunion zu den Glanzpunkten.1 Das Ensemble reiste im Dezember 1927 nach Leningrad; im Winter 1928/29 führte die Tournee dann über Leningrad hinaus auch nach Moskau, Riga, Odessa, Kiew und Charkow. Hindemith war nicht nur der Bratscher des Quartetts, sondern stellte sich dem Publikum und den Musikerkollegen auch als Komponist von Kammermusikwerken vor. In den Konzerten erklangen neben Werken älterer und zeitgenössischer Autoren (von Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven bis hin zu Igorʼ Stravinskij, Sergej Prokofʼev, Alfredo Casella und Bohuslav Martinů) auch Hindemiths Violasonate ор. 25 Nr. 1, das Streichtrio oр. 34, Fünf Stücke aus dem Schulwerk ор. 44 sowie seine Streichquartette (das Dritte häufiger als alle anderen).2 Hindemiths Auftritte riefen in der sowjetischen Presse lebhafte Reaktionen hervor ‒ vor allem in den Mitteilungen und Periodika der Assoziation zeitgenössischer Musik (АSМ) und ihrer Leningrader Unterabteilung (LASM). 3 Große Bedeutung hatte die Möglichkeit direkter Kontakte zu dem deutschen Kollegen, der durch die Personalunion von Komponist und Interpret beeindruckte.4 BegünDas Amar-Quartett war seinerzeit sehr bekannt und hatte Gastspiele in zahlreichen Ländern. Es war 1921 in Frankfurt am Main gegründet worden und spielte in der Besetzung: Licco Amar (erste Violine), Walter Caspar (zweite Violine), Paul Hindemith (Viola) und Maurits Frank (Violoncello). Anfangs spielte der jüngere Bruder Hindemiths, Rudolf, das Cello. 2 Daten zu den Gastspielen des Amar-Quartetts in der Sowjetunion finden sich in Band 2 der vorliegenden Publikation: Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917–1933. Dokumente und Chroniken, hrsg. von Wolfgang Mende und Elena Poldiaeva, Hildesheim: Olms [Druck in Vorbereitung]. 3 Beide Vereinigungen positionierten sich als Abteilungen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM), die im August 1922 auf dem Festival für zeitgenössische Kammermusik in Salzburg, dem ersten internationalen Festival nach dem Ersten Weltkrieg, gegründet worden war. Das erklärt auch weitgehend die Ausrichtung der russischen Vereinigungen, die sich vor allem als Brückenbauer zur neuen Kunst des Westens verstanden. 4 Über Konzerte hinaus kam es auch zu Treffen mit sowjetischen Musikern, so z. B. im Dezember 1927 im Rahmen einer Konzert-Begegnung Hindemiths mit jungen Leningrader Komponisten, bei der Dmitrij Šostakovič seine Erste Klaviersonate präsentierte. Vgl. Ljudmila Kovnackaja, Šostakovič v protokolach LASM [Schostakowitsch in den Protokollen der 1

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stigt wurde die Rezeption jedoch durch ein ungleich tiefer liegendes Moment ‒ Hindemiths stilistische Affinität zur neuen russischen Musik. Michail Druskin schreibt in seinen Erinnerungen an diese Zeit, „nicht romantische Sehnsucht, hysterische Aufschwünge und leidverhangene Seelenbekenntnisse“ hätten die damaligen Komponisten angezogen, „sondern das pulsierende Leben, stürmische Kraftentfaltung und seelische Gesundheit.“5 Laut Druskin distanzierten sich die jungen Tonkünstler von den Imperativen der sich auf Richard Wagner und Richard Strauss beziehenden Richtungen und bevorzugten gegenüber dem Expressionismus das neoklassizistische Idiom, als dessen Vertreter und Vorkämpfer sie Paul Hindemith begriffen. Hinter diesen Worten ist unschwer die ästhetische Haltung jenes Teils der ASM zu erahnen, dessen avantgardistische Ambitionen zwar keinen so radikalen Charakter wie bei den Vertretern der Zweiten Wiener Schule trugen, aber doch an Entschiedenheit nichts zu wünschen übrig ließen.6 In jedem Fall vermochten die russischen Musiker den innovativen Aspekt des Hindemithʼschen Schaffens in vollem Umfang zu würdigen. Mit seinem Namen verbanden sich vor allem die Festivals Neuer Kammermusik in Donaueschingen, der prestigeträchtigsten Unternehmung ihrer Art in ganz Europa. Seine Musik schien die ganze Fülle der musiksprachlichen Neuerungen in einer Trias von Groteske, Neobarock und Konstruktivismus in sich zu vereinen. Ebendies bedingte in den Kulturkreisen Leningrads und Moskaus ein hochgespanntes Interesse am Schaffen des deutschen Komponisten. Selbst vor dem Hintergrund der damaligen allseitigen Begeisterung für die schöpferischen Neuerungen des Westens würde man sich mit der Behauptung, dass Hindemith der am meisten aufgeführte und erforschte Autor war, kaum zu weit vorwagen. LASM], in dies. (Hrsg.), D. D. Šostakovič. Sbornik statej k 90-letiju so dnja roždenija [D. D. Schostakowitsch. Sammelband zum 90. Geburtstag], St. Petersburg: Kompozitor, 1996, S. 48– 67, hier S. 55. 5 M[ichail] Druskin, „Iz chroniki muzykal’noj žizni Leningrada 20-ch godov [Aus der Chronik des Leningrader Musiklebens der 1920er Jahre]“, in: Sovetskaja muzyka [Sowjetische Musik], 1974 Heft 9, S. 113–122, hier S. 121. 6 Detlef Gojowy rechnet in seinem Buch Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Laaber: Laaber, 1980, die Experimente im Bereich der Zwölftontechnik, der Mikrotonalität und neuer Klangfarben der avantgardistischen Richtung im eigentlichen Sinne zu. Allerdings könnte der Begriff der „ersten musikalischen Avantgarde“ (wie auch derjenige der „sowjetischen Avantgarde der 20er Jahre“), zu welcher unzweifelhaft die führenden Figuren der Assoziation zeitgenössischer Musik (ASM) gehörten, aus gutem Grund auch auf einen größeren Kreis von Erscheinungen bezogen werden. Vgl. Inna Barsova, „Verdrängte Moderne. Russische Avantgardemusik in den zwanziger Jahren“, übersetzt von Andreas Wehrmeyer, in: Berlin – Moskau 1900–1950 [Ausstellungskatalog], hrsg. von Irina Antonowa und Jörn Merkert, München: Prestel, 2. Auflage 1995, S. 166–171.

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Verschiedenen Konzertankündigungen nach zu urteilen, hatte das russische Publikum schon lange vor dem ersten Besuch des Amar-Quartetts die Möglichkeit gehabt, Musik Hindemiths kennenzulernen.7 Eine der ersten HindemithAufführungen in der UdSSR fand am 4. Dezember 1923 in Moskau statt, als Vadim Borisovskij, der Bratschist des Quartetts des Moskauer Konservatoriums (später Beethoven-Quartett), die Sonate für Viola und Klavier op. 11 Nr. 4 spielte. Die ASM brachte in ihrem ersten Konzert am 18. Februar 1924 im Saal der Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften (Gosudarstvennaja akademija chudožestvennych nauk ‒ GAChN) Musik von Hindemith zur Aufführung;8 im selben Saal erklang auch am 17. Februar 1926 der Liederzyklus Des Todes Tod op. 23a (mit Olʼga Tartarinova und Borisovskij).9 In den Konzertsälen wurden ferner das Zweite und das Vierte Streichquartett vorgestellt (gespielt vom Quartett des Moskauer Konservatoriums), die Klaviersuite 1922 (mit dem Pianisten Аleksandr Kаmenskij im Kleinen Saal der Leningrader Philharmonie, 19. Februar 1926) und das Konzert für Orchester ор. 38 (unter dem Dirigenten Fritz Stiedry im Großen Saal der Leningrader Philharmonie, 20. Oktober 1926). Mit der Zeit wuchs das Interesse an Hindemiths Musik stetig an. Zu einer Häufung von Erstaufführungen kam es im Dezember 1927, als die Gastspiele des AmarQuartetts die Philharmonischen Konzerte in ein echtes Hindemith-Festival verwandelten. Am 13. Dezember stand im Kleinen Saal des Moskauer Konservatoriums die Kammermusik Nr. 2 für obligates Klavier und zwölf Soloinstrumente auf dem Programm (mit dem Pianisten Isaak Rabinovič unter Leitung von Stephan Strasser). Im Folgejahr erklang dann in Leningrad erstmals die Kammermusik Nr. 1 op. 24 Nr. 1 (unter der Stabführung von Aleksandr Gauk, April 1928). Am 23. Dezember 1928 konnte das dortige Publikum ferner die VioloncelloWerke des Komponisten kennenlernen (mit dem gerade in der UdSSR konzertierenden Cellisten Emanuel Feuermann), und am 30. Dezember dirigierte Nikolaj Malʼko in der Leningrader Philharmonie die Kammermusik Nr. 5. Den Part der Solobratsche spielte der Komponist, der sich damals auf seiner zweiten sowjetischen Reise mit dem Amar-Quartett befand. Zu Hindemith-Aufführungen in der Sowjetunion im Einzelnen vgl. Tamara Levaja und Oksana Leont’eva, Paulʼ Chindemit. Žiznʼ i tvorčestvo [Paul Hindemith. Leben und Werk], Moskau: Muzyka, 1974, S. 338–347, sowie Dokumente und Chroniken (wie Anm. 2). 8 Ein seinerzeit von Vladimir Deržanovskij zusammengestelltes Verzeichnis der Werke, die in den Kammer- und Sinfoniekonzerten der Assoziation für zeitgenössische Musik (ASM) aufgeführt wurden (dokumentiert bei Olesja Bobrik, Venskoe izdatel’stvo ‚Universal Edition‘ i muzykanty iz sovetskoj Rossii [Der Wiener Verlag ‚Universal-Edition‘ und die Musiker aus Sowjetrussland], St. Petersburg: Izdatelʼstvo imeni N. I. Novikova, 2011, S. 320–327), bedarf mit Blick auf Hindemith (ebd. S. 327) einiger Präzisierungen. 9 Offenbar wurde der Zyklus in einer Transkription für Stimme und Viola aufgeführt. 7

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Angesichts des so starken Interesses seitens der Interpreten ist es kaum verwunderlich, dass sich auch die sowjetischen Fachjournale dem Komponisten zuwandten und sogar einige ihm gewidmete Themenhefte veröffentlichten. Seit Anfang 1924 tauchte der Name Hindemiths zunehmend in der ASM-Monatszeitschrift Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik] auf, in den Zeitschriften Muzyka i revoljucija [Musik und Revolution], Žiznʼ iskusstva [Kunstleben] und den Veröffentlichungen des Verlags Triton [Tritonus]. Autoren waren Viktor Beljaev, Michail Druskin, Aleksandr Veprik, Vasilij Širinskij, Aleksandr Mosolov und andere zum engeren Kreis der ASM gehörende oder ihm verbundene Musiker. Hindemith blieb für etwa fünf Jahre, von 1924 bis 1929, eine der zentralen Figuren der modernefreundlichen sowjetischen Musikpublizistik. Ersten Erwähnungen Hindemiths begegnet man in sowjetischen Periodika allerdings schon früher. Es handelt sich um knappe redaktionelle Hinweise, die aus der westlichen Presse übernommen wurden, zu Aufführungen seiner Werke auf den Festivals zeitgenössischer Musik in Salzburg, Donaueschingen, Wien und Berlin. Solche Informationen finden sich in den entsprechenden Rubriken des Sammelbands Muzykalʼnaja letopisʼ [Musikchronik] und der Zeitschriften Muzykalʼnaja kulʼtura [Musikkultur] und K novym beregam [Zu neuen Ufern]. Hier ist von den Gastspielen des Amar-Quartetts die Rede, von Aufführungen des Zweiten und Dritten Streichquartetts (das letztere wird als atonal bezeichnet oder steht, eine Formulierung des Komponisten aufgreifend, in „HindemithDur“). 10 Unter den Auslandsnachrichten der Muzykalʼnaja kulʼtura heißt es: „Paul Hindemith, das Haupt der jungdeutschen Komponisten, zeigte in seinem Streichtrio hitziges Temperament und überschäumenden Gedankenreichtum.“11 In der stärker konservativ eingestellten Muzykalʼnaja letopisʼ wird Hindemith jenen „äußerst jungen“ europäischen Autoren zugeordnet, deren Musik sich durch „horizontalen Stil“ auszeichne, Sorglosigkeit in der Anwendung „klanglicher Härten der Stimmführung“, Ergebenheit gegenüber der „Atonalität“ und eine unkontrollierte, selbstmörderische „Freiheit“. 12 Eine differenziertere, wenn auch ideologisch höchst zweifelhafte Bewertung der neuen Musik bietet Adolf Weißmanns Aufsatz „Rassen und Gegenwart“, der in der ASM-Zeitschrift als ÜberO. Verf., Rubrik „Za rubežom [Im Ausland]“, in: K novym beregam [Zu neuen Ufern], 1923 Heft 2, S. 63. 11 Paul A. Pisk, „Internacional’nye muzykal’nye prazdnestva v Prage i Zal’cburge [Die internationalen Musikfeste in Prag und Salzburg]“, Übersetzung aus dem Deutschen von B[oris] Jurgenson, in: Muzykal’naja kul’tura [Musikkultur] 1. Jg. Heft 2 (1924), S. 162–164, hier S. 163. 12 „Š.“, „Berlinskij sezon i novejšaja muzyka (pis’mo iz Berlina) [Die Berliner Saison und die neueste Musik (Brief aus Berlin)]“, in: Muzykal’naja letopis’ [Musikchronik], Bd. 2, hrsg. von Andrej Rimskij-Korsakov, Petrograd: Izdatelʼstvo „Myslʼ“, 1923, S. 153–155, hier S. 154. 10

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setzung aus dem Deutschen erschien.13 Den Halt gebenden nationalen Traditionen im Schaffen Hindemiths stellt er das „Judentum“ Arnold Schönbergs und dessen zerstörerischen Einfluss auf die deutsche Musik gegenüber.14 Nur zehn Jahre sollten ins Land gehen, bis die Nationalsozialisten beiden Künstlern das Etikett ‚entartete Kunst‘ anhefteten. Aber kehren wir zurück zu den sowjetischen Periodika von 1923, die Hindemith nicht nur recht widersprüchlich darstellten, sondern auch in manchem faktisch ungenau. Das ist etwa der Fall bei der biographischen Skizze der Zeitschrift K novym beregam, in der Hindemith zum „Vorkämpfer der neuen Musik in Deutschland“ erklärt wird mit Hinweis auf „drei einaktige Opern, nach Texten von Franz Blei“15 – es sei daran erinnert, dass Letzterer nur der Autor des NuschNuschi war, während den beiden anderen hier gemeinten Opern Texte von Oskar Kokoschka und von August Stramm zugrunde lagen. Aber bereits 1924 veröffentlichte die Zeitschrift Muzykalʼnaja novʼ [Musikalisches Neuland] eine ausführliche „Autobiographische Mitteilung“ aus der Feder Hindemiths selbst,16 die dem Informationsdefizit um seine Person ein Ende setzte. Nach und nach enthalten die sowjetischen Periodika immer genauere und regelmäßigere Informationen über Hindemiths Schaffen, die über rein faktische Angaben hinaus auch Deutungsversuche und ästhetische Wertungen liefern. Als Katalysator dieses Prozesses dienten die erwähnten Gastspiele des Amar-Quartetts und die damit einhergehenden Begegnungen zwischen sowjetischen und deutschen Musikern. Die hiervon ausgehenden neuen Impulse lassen sich aus damals veröffentlichten Rezensionen und Werkeinführungen herausleA[dolf] Vajsman [Weißmann], „Rasy i sovremennost’ [Rassen und Gegenwart]“, in: Sovremennaja muzyka [Zeitgenössische Musik], 1. Jg. (1924) Heft 4, S. 106–110. 14 Vgl. Bobrik, Venskoe izdatel’stvo ‚Universal Edition‘ (wie Anm. 8), S. 38–39. 15 O. Verf., „Kratkie biografičeskie svedenija o kompozitorach, ispolnjavšichsja v Internacionalʼnych kamernych koncertach v Zalʼcburge (Po dannym žurnala Musikblätter des Anbruch) [Kurzbiographien der bei den Salzburger Internationalen Kammermusikkonzerten aufgeführten Komponisten, nach Angaben der Musikblätter des Anbruch]“, in: K novym beregam, 1923 Heft 1, S. 31. Hier zitiert im Wortlaut der deutschen Originalveröffentlichung: o. Verf., „Das Programm der Internationalen Kammermusik-Aufführungen“, in: Musikblätter des Anbruch, 4. Jg. Nr. 13–14 (Juli 1922), S. 215–220, hier S. 216. 16 Paulʼ Chindemit, „Avtobiografičeskja zapiska [Autobiographische Mitteilung]“, Übersetzung aus dem Deutschen von B[oris] Jurgenson, in: Muzykal’naja novʼ [Musikalisches Neuland] 1924 Heft 4. Wenig später nimmt Viktor Beljaev diesen Text in seine monographische Broschüre Paulʼ Chindemit – očerk, Leningrad: Triton, 1927, S. 11–12, auf. (Deutsche Übersetzung von Gottfried Eberle, nach der hier zitiert wird, als „Paul Hindemith. Eine Skizze“, in: Hindemith-Jahrbuch 1996/XXV, S. 238–255, hier S. 243–244.) Beljaev erklärt dort, dass der autobiographische Text auf seine Bitte hin am 22. Mai 1923 von Hindemith verfasst worden und dann auf ihm „unbekannten Wegen in die Zeitschrift Muzykal’naja novʼ […] gelangt“ sei (ebd., S. 243). 13

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sen. Verwiesen sei auf Julian Vajnkops Einführung zum Konzert vom 30. Dezember 1928, in dem Hindemith als Solist seiner Kammermusik Nr. 5 auftrat. Auf Paul Bekker Bezug nehmend, merkt der Autor an, die Musik dieses Komponisten scheine vom Instrument für sich selbst geschaffen, so sehr folgt sie seiner eigenen instrumentalen Idiomatik […]. Die Viola erwachte zum Leben und begann aus sich selbst heraus zu musizieren. Nirgendwo gibt es äußere Effekte und leere musikalische Spielereien, es fehlen „Emotionen“ und melodramatische Gefühlsduselei. Alles integriert sich in einem kraftvoll geschlossenen Bewegungsstrom, in dem Rhythmus und Melos das Alpha und Omega sind.17

Neben solch klugen Einsichten in Hindemiths Musik konzentrierten sich andere Autoren auf deren mit dem Terminus ‚Gebrauchsmusik‘ bezeichnete Grundhaltung. So lenkt der Aufsatz „Paul Hindemith und sein Quartett“ ‒ eine Kollektivarbeit, unterzeichnet von einer ganzen Gruppe Leningrader Kritiker18 ‒ den Blick auf Hindemiths Darbietungskunst und sein Bestreben, sein Schaffen an den sozialen Anforderungen des Publikums zu orientieren, bis hin zur Schul- und Hausmusik (zum Repertoire des Amar-Quartetts gehörten auch Stücke aus dem Schulwerk).19 Diese Haltung deckte sich fast bruchlos mit dem aufklärerischen Geist der 1920er Jahre sowie den damals aufkommenden Konzeptionen von Massenkunst – übrigens auch im Umfeld der ASM. Die Hindemith geltenden Rezensionen und Besprechungen erhielten mit dem Aufkommen der ASM und ihrer Zeitschrift Sovremennaja muzyka im Januar/Februar 1924 Aktualität und zukunftsweisende Bedeutung. Diese Texte hatten meist einführenden Charakter und waren einzelnen Instrumentalwerken geZit. nach Levaja/Leont’eva, Paulʼ Chindemit. Žiznʼ i tvorčestvo (wie Anm. 7), S. 342. Der Text „Paulʼ Chindemit i ego kvartet [Paul Hindemith und sein Quartett]“, in: Žiznʼ iskusstva [Kunstleben], 1929 Heft 5, S. [14], ist wie folgt unterzeichnet: „Vereinigung der Musikkritiker am Komitee für zeitgenössische Musik des Staatlichen Instituts für Kunstgeschichte: B[oris] Asafʼev, V[alerian] Bogdanov-Berezovskij, A[ndrej] Budjakovskij, Ju[lian] Vajnkop, N. Volžina, P[avel] Vulʼfius, S[emen] Ginzburg, A. Gres [d. i. Semen Kukuričkin], R[oman] Gruber, M[ichail] Druskin, A[leksandr] Krjuger, N[ikolaj] Malkov, V[ladimir] Muzalevskij [d. i. Vladimir Bunimovič], I[van] Sollertinskij.“ 19 Diesem Akzent entsprechen die folgenden Worte des Komponisten in einem Interview für die Zeitschrift Rabočij i teatr [Arbeiter und Theater]: „Die russische Musik kenne ich gut und beobachte sie, so dass ich nicht davon ausgehe, hier vor Ort viel Neues zu entdecken, aber ich bin außerordentlich daran interessiert, die Organisation eures musikalischen Bildungswesens kennenzulernen. Da gibt es etwas zu lernen.“ Vgl. „Paulʼ Chindemit. Naši besedy [Paul Hindemith. Unsere Gespräche]“, in: Rabočij i teatr 1927 Heft 51, S. 14, zit. nach Konstantin Učitelʼ, „‚Novosti dnja‘: MALEGOT i Chindemit – nesostojavšeesja sotrudničestvo [‚Neues vom Tage‘: das MALEGOT und Hindemith ‒ eine nicht zustande gekommene Zusammenarbeit]“, in: Muzykal’naja akademija [Musikakademie], 2008 Heft 2, S. 38–50, hier S. 39. Der vollständige Wortlaut des Interviews findet sich im Anhang zu diesem Aufsatz. 17 18

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widmet (wie sich denn die russischen Hindemith-Aufführungen überhaupt, von Ausnahmen abgesehen, auf das Instrumentalschaffen beschränkten). Viktor Beljaev etwa reflektierte in seinem Aufsatz über das Klavierkonzert ор. 36 Nr. 1 (Kammermusik Nr. 2) in erster Linie die Moskauer Erstaufführung des Werks im Dezember 1927.20 Er bietet eine knappe analytische Studie mit hauptsächlich einstimmigen Notenbeispielen zur Illustration des Themenmaterials. Andere Autoren gingen über die Aufgabe einer Einführung hinaus und versuchten sich an allgemeineren Deutungen. So enthalten die Aufsätze von Vasilij Širinskij über das Erste Streichquartett und die Sonaten ор. 1121 Überlegungen zum frühen Stil Hindemiths. Širinskij zeigt anhand des Ersten Streichquartetts (1919), wie sich der bereits aufkommende Hindemith-Kontrapunkt mit überlebten Elementen der ‚Strauss-Nachfolge‘ verbindet (Letzteres ist übrigens auch für die Oper Mörder, Hoffnung der Frauen charakteristisch, entstanden ebenfalls 1919). Aleksandr Mosolovs Aufsatz „P. Hindemiths neue Kammerkonzerte“22 ist vor allem unter dem Gesichtspunkt der kompositorischen Rezeption neuer westlicher Musik von Interesse. In seiner Analyse des Klavier- und des Cellokonzerts aus op. 36 hebt er diverse Besonderheiten der Werke hervor wie z. B. die vollkommene Beherrschung des kammerkonzertanten Stils, das Prinzip des linearen Satzes, modernisierte ‚Bachismen‘ und die raffinerte polyphone Faktur. In einigen Fällen weitet sich sogar die Betrachtung einzelner Schaffensbereiche dank tiefschürfender Materialanalyse und ausgefeilter Schlussfolgerungen zu einer monographischen Studie. Das gilt z. B. für Michail Druskins Aufsatz „Das Klavier im Schaffen Hindemiths“. Er leistet eine viele Werke einschließende Betrachtung von den frühen Cellosonaten bis zum Konzert für Orchester ор. 38, wobei er Hindemith anderen „Rationalisten der neuen Musik“ ‒ Schönberg und Stravinskij ‒ gegenüberstellt. Doch gilt sein Augenmerk vor allem dem Hauptgegenstand der Untersuchung, den Werken mit Klavierbeteiligung. Über die Soloklavierwerke hinaus (die Suite 1922 und das Klavierkonzert oр. 36 Nr. 1) finden auch die Duosonaten, die Klavierkammermusik-Ensembles und Vokalzyklen Berücksichtigung. Das Hauptproblem des „pianistischen Hindemith“ sieht Druskin in seiner musikalischen Sozialisation an den Streichinstrumenten, was sich in einer Erziehung zu linearem Melos niederschlägt. Der Suite 1922 Viktor Beljaev, „Fortepiannyj koncert Chindemita [Hindemiths Klavierkonzert] op. 36 Nr. 1“, in: Sovremennaja muzyka, 4. Jg. (1927) Heft 25, S. 69–70. 21 Vasilij Širinskij, „Pervyj kvartet P. Chindemita [Paul Hindemiths Erstes Streichquartett]“ und „Sonaty Chindemita [Hindemiths Sonaten] op. 11“, in: Sovremennaja muzyka, 1. Jg. (1924) Heft 1 (Januar-Februar), S. 8–10, 11–14. 22 Aleksandr Mosolov, „Novye kamernye koncerty P. Chindemita [P. Hindemiths neue Kammerkonzerte]“, in: Sovremennaja muzyka, 2. Jg. (1925) Heft 11, S. 18–20. – Vgl. auch den Beitrag von Inna Barsova im vorliegenden Band. 20

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attestiert er jedoch eine bereits vollkommen pianistische Faktur, und beim Konzert op. 36 Nr. 1 hebt er das „obligate“ Prinzip der Klavierbehandlung und seine Beziehung zu Instrumentalensembles der Renaissance und des Barocks hervor.23 Bemerkenswert ist, dass Druskin seine Studie viele Jahre vor der Entstehung von Hindemiths fünf Klaviersonaten verfasste (dreier Solosonaten und jeweils einer Sonate für Klavier zu vier Händen und für zwei Klaviere) ‒ Werken, die zusammen mit den späten Klavierkonzerten gleichsam das innere Zentrum von Hindemiths Klavierschaffen bilden sollten. Möglicherweise stellt sich ihm deshalb Hindemiths Klavierstil zuweilen als widersprüchlich und nicht ganz ausgereift dar, d. h. in Abhängigkeit vom Streicheridiom. Allerdings nimmt Druskin zufolge in einer Reihe von Werken, z. B. dem Liederzyklus Marienleben, die „polyphon-lineare Spannkraft des Melos“, die sich in einer breiten Verwendung fugierter und ostinater Formen ausdrückt, einen überaus organischen und künstlerisch überzeugenden Charakter an. Zu ergänzen bleibt, dass die späteren SoloKlavierwerke (wie z. B. die Dritte Sonate und die Sonate für zwei Klaviere mit ihren grandios fugierten Finali) die Treue des Komponisten zu seinem hier eingeschlagenen Weg bestätigten. Außer Druskin legten auch Viktor Beljaev und Boris Asafʼev (Letzterer unter dem Pseudonym Igorʼ Glebov) größere Arbeiten zu Hindemith vor, wobei sich beide dieser Aufgabe mindestens zweimal stellten ‒ zur Mitte und am Ende der 1920er Jahre. Mag auch der Zeitabstand der jeweiligen Paare nur gering sein, so weisen doch die Portraits substanzielle Unterschiede auf, was sich durch die gewachsenen Kenntnisse der ASM-Mitglieder ebenso erklärt wie durch die fortschreitende Durchdringung des Hindemithʼschen Schaffens. Die frühesten Arbeiten betrachteten Hindemith gleichsam aus einer Vogelperspektive und beschrieben ihn überwiegend unter dem Aspekt allgemein-kulturhistorischer und nationaler Parallelen. So schreibt Beljaev 1924 ebenso über Hindemiths Verwurzelung in der deutsch-österreichischen Musiktradition wie über die bei ihm anzutreffenden französischen und russischen Einflüsse (‚asymmetrische Rhythmen‘ der russischen Schule, Stravinskij).24 Glebov sieht in seinem Aufsatz „Hindemith und Casella“ 1925 die beiden Komponisten als Exponenten zweier Kulturen, einer „gotischen“ und einer „romanischen“. Er hält Hindemith für einen Vertreter der jungen Kunst Deutschlands, die sich ungeschliffen, aber lebens- und temperamentvoll äußert. Er wertschätzt den Komponisten, er-

Michail Druskin, „Fortepiano v tvorčestve Chindemita [Das Klavier im Schaffen Hindemiths]“, in: Novaja muzyka [Neue Musik], 2. Jg. (1927–28) Heft 2, S. 25–37. 24 Viktor Beljaev, „Paulʼ Chindemit [Paul Hindemith]“, in: Sovremennaja muzyka, 1. Jg. Heft 1 (Januar-Februar 1924), S. 3–8, hier S. 5. 23

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kennt aber in seiner „Vielschreiberei und Allesfresserei“25 bestimmte Gefahren. Gewisse Vorbehalte gegenüber dem jungen Komponisten meldet auch Beljaev an, indem er eine „improvisierte Skizzenhaftigkeit“ einzelner Werke tadelt sowie Unausgeglichenheit und sogar Gleichgültigkeit in der Wahl des Materials.26 In den Jahren 1927/28 hatte die Bekanntschaft mit den Werken Hindemiths ein qualitativ neues Niveau erreicht,27 und die Kritiker schrieben viel inhaltsreicher und gründlicher über sie. Dabei traten in den Aufsätzen unterschiedliche Gesichtspunkte zutage, einerseits soziokulturelle, andererseits musikalisch-analytische. Beljaev bemühte sich in seiner 1927 im Verlag Triton [Tritonus] erschienenen Broschüre Paul Hindemith – eine Skizze, den zeitgenössischen Kontext des Hindemithʼschen Schaffens zu weiten, und erörterte die revolutionäre Situation in der Musik, den Wandel der Psychologie der Gemeinschaft sowie die Untrennbarkeit der Kriterien eines sozialen und künstlerischen Ganzen. Letzterer Aspekt war offenbar durch zeitweilige und sich verschärfende Angriffe der RAPM hervorgerufen worden (die in der Regel Kriterien künstlerischer Bedeutung in der Musik unberücksichtigt ließen). Dabei verfällt der Autor übrigens nicht selten selbst in Vulgärsoziologismen – zumindest auf der Ebene der Formulierungen, die zuweilen in Anführungszeichen gesetzt sind. So heißt es zum Beispiel im Vergleich des orchestralen Denkens früherer Zeiten mit demjenigen der Gegenwart: „Im ersten Fall erleben wir kollektive Unterwerfung, eine spezifisch ‚kapitalistische‘ Dressur der Massen, im zweiten Fall eine spezifisch ‚proletarische‘ Disziplin, die Übereinstimmung der individuellen Willensäußerungen, die einen einheitlichen Impuls hervorbringt.“28 Ungeachtet derlei ‚Soziologismen‘ enthält Beljaevs Skizze von 1927 einige neue und wertvolle Informationen. Fast zum einzigen Mal in einer sowjetischen Druckveröffentlichung findet die Oper Cardillac Erwähnung,29 erstmals wird eine Periodisierung von Hindemiths Schaffen 25 Igorʼ Glebov [d. i. Boris Asaf’ev], „Chindemit i Kazella [Hindemith und Casella]“, in: Sovremennaja muzyka, 2. Jg. (1925) Heft 11, S. 11–13, hier S. 11. 26 Beljaev, „Paulʼ Chindemit“ (1924, wie Anm. 24), S. 7. 27 Über die Gastspiele des Komponisten hinaus wirkte sich hier offenbar auch schon die Belebung der europäisch-russischen Kulturkontakte aus. Barsova, „Verdrängte Moderne“ (wie Anm. 6), S. 170, spricht mit Blick auf das Jahr 1926 von einem echten „Durchbruch“ im Kennenlernen neuer westlicher Musik. „Die jungen Musiker trafen sich in diesen Jahren im Saal der Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften (GAChN) [Gosudarstvennaja akademija chudožestvennych nauk] in Moskau (in der Pretschistenka Straße Nr. 32). Hier wurden internationale Ausstellungen veranstaltet, zum Beispiel Vorlesungen von Le Corbusier und natürlich auch Konzerte mit zeitgenössischer Musik.“ In diesem Saal erklangen offenbar auch Werke Hindemiths. 28 Beljaev, Paulʼ Chindemit – očerk (wie Anm. 16), Übersetzung Eberle, S. 246. 29 Ebd. S. 252 heißt es über Cardillac: „Wie der Steinerne Gast von Dargomyžskij kann Hindemiths Oper wirklichen Eindruck nur in einer Kammer-Inszenierung machen oder in der

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versucht (von den romantisch-symbolistischen frühen Stücken und dem OpernTriptychon bis hin zur Suite 1922 und dem neokonzertanten Stil der Kammermusiken). Außerdem enthält der Text die erwähnte Autobiographie des Komponisten und ein Verzeichnis seiner Werke. Glebovs im selben Jahr 1927 veröffentlichter Aufsatz „Die Elemente des Hindemithʼschen Stils“30 darf mit Recht als die umfassendste und grundlegendste Charakterisierung von Hindemiths Werk in der sowjetischen Literatur der 1920er Jahre bezeichnet werden. Er lässt sich in gewissem Sinne den Arbeiten deutscher Forscher an die Seite stellen,31 nicht nur hinsichtlich der tiefschürfenden musikalischen Analysen, sondern auch im Blick auf die Geschwindigkeit, mit der auf eine neue künstlerische Erscheinung reagiert wird. Einmal mehr bestätigt der Aufsatz, dass die russischen Musiker, Musikwissenschaftler und Kritiker sich das Schaffen Hindemiths praktisch zeitgleich mit ihren deutschen Kollegen aneigneten. Glebovs Abriss enthält Betrachtungen einer Reihe von Werken (darunter der Suite 1922, die der Autor ein „Poème der modernen Stadt“ nennt) sowie eine Analyse des Hindemithʼschen Stils auf unterschiedlichen Ebenen. Zur Sprache kommen die Erneuerung der alten Musikformen durch deutsche Komponisten, „gesunde Dissonanzhaftigkeit“, rhythmische Elastizität und der marschmäßige Zuschnitt einer Reihe von Themen (worin Glebov eine Gemeinsamkeit mit Prokofʼev sieht), schließlich Bezüge seiner musikalischen Fertigungsweise zur „gediegenen und kraftvollen malerischen Faktur Dürers“. Letzterer Vergleich fand in späteren Arbeiten über Hindemith, die sich der Frage einer nationalen Färbung seines Schaffens zuwandten, einen Nachhall. Ebenso scharfsinnig wie tiefschürfend sind ferner Glebovs Beobachtungen einer Hindemithʼschen Neigung „zu rein musikalischen Konzeptionen“ und seiner Fähigkeit, „das musikalische Material, seine Eigenschaften und Qualitäten zu denken“,32 sowie zu einer Spezifik der Hindemithʼschen Tonalität, in der es nicht um Verneinung von Tonalität als solcher geht, sondern um das Sammeln tonal-harmonischer Merkmale in einer rein melodischen Faktur ‒ wie im ersten Thema der Kleinen Kammermusik für fünf Bläser op. 24 Nr. 2 und anderen Werken.33

Aufführung eines so subtilen Theaters, wie es das Opernstudio Stanislavskijs in Moskau ist, gesetzt den Fall, dieses Theater würde Sympathien für die Neue Musik entwickeln.“ 30 Igorʼ Glebov [d. i. Boris Asaf’ev], „Ėlementy stilja Chindemita [Die Elemente des Hindemithʼschen Stils]“, in: Novaja muzyka [Neue Musik], 2. Jg. (1927/28) Heft 2, S. 7–23. 31 Der ersten deutschsprachigen Hindemith-Monographie – Heinrich Strobel, Paul Hindemith, Mainz: B. Schott’s Söhne, 1928 (31948) – waren einzelne Aufsätze in Sammelbänden und Zeitschriften vorangegangen. 32 Glebov, „Ėlementy stilja Chindemita“ (wie Anm. 30), S. 11. 33 Ebd., S. 17.

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Wie bereits erwähnt, war das Interesse des russischen Publikums und der Kritik an Hindemith durch seine Besuche in der Sowjetunion im Dezember 1927 und im Winter 1928/29 stimuliert worden. Diese Reisen zeitigten übrigens noch ein anderes Resultat. Während des ersten Gastspiels des Amar-Quartetts in Leningrad fasste der deutsche Komponist, voller Begeisterung über die Inszenierung von Ernst Kreneks Oper Der Sprung über den Schatten im Kleinen Leningrader Operntheater [Malyj Leningradski gosudarstvennyj opernyj teatr – MALEGOT], den Plan, für dieses Theater eine Oper zu schreiben. Diese Absicht äußerte er in zwei Interviews der Zeitschrift Rabočij i teatr [Arbeiter und Theater].34 Im ersten von 1927 sagte er: „allein wegen des ‚Sprungs über den Schatten‘ im Kleinen Operntheater hätte sich die Anreise aus Deutschland gelohnt. Das ist eine erstaunliche, verblüffende Inszenierung, und auch in musikalischer Hinsicht tadellos gemacht.“35 Das zweite, ein Jahr später gegebene Interview, zeugt schon vom Beginn einer Zusammenarbeit: Ich habe den ersten Akt meiner jüngsten Oper „Neues vom Tage“ mitgebracht, die ich für das kleine Operntheater vorgesehen habe. Bei Smolič und Samosud weiß ich sie in besten Händen. Als Ausstatter würde ich mir Lebedev wünschen. Seine Zeichnungen für Kinderbücher begeistern mich sehr.36

Interessanterweise handelte es sich bei dem geplanten Spektakel nicht um das einzige Hindemithʼsche Opernprojekt in Russland. In ebendiesem Jahr gab die österreichische Zeitschrift Musikblätter des Anbruch ihren Lesern bekannt, dass Konstantin Stanislavskij in seinem Musiktheater einen Abend mit drei einaktigen Werken vorbereite: Kreneks Opern Der Diktator und Schwergewicht sowie Hindemiths Sketch Hin und zurück.37 Am Ende sollte indes keine einzige Hindemith-Oper auf einer sowjetischen Bühne erscheinen. Das ist überaus bezeichnend aus dem Blickwinkel der russisch-deutschen kulturellen Allianz, die um 1929/1930 die negativen Auswirkungen der sich verschärfenden sozialen und politischen Konfrontationen zu spüren bekam. Siehe Anhang zu diesem Aufsatz. „Paulʼ Chindemit. Naši besedy“ (wie Anm. 19). 36 „V ‚Novosti dnja‘ [In ‚Neues vom Tage‘]“, in: Rabočij i teatr 1929 Heft 4 (20. Januar), S. 15, zit. nach Učitelʼ, „‚Novosti dnja‘: MALEGOT i Chindemit“ (wie Anm. 19), S. 41. – Nikolaj Smolič wirkte als Regisseur und künstlerischer Leiter des Kleinen Leningrader staatlichen Operntheaters (MALEGOT), Samuil Samosud als sein Chefdirigent und künstlerischer Bühnenleiter. Der bildende Künstler Vladimir Lebedev machte sich einen Namen mit Illustrationen zu den Kinderbüchern von Samuil Maršak und Daniil Charms. 37 Musikblätter des Anbruch, 10. Jg. Heft 8 (Oktober 1928), S. 300. – Gemeint ist hier offenbar das Opernstudio Stanislavskijs am Bolʼšoj-Theater. Hinweise zu den hier geplanten Aufführungen in russischen Veröffentlichungen konnten nicht nachgewiesen werden. 34 35

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Dies belegt die Geschichte der nicht realisierten Inszenierung von Hindemiths Neues vom Tage sehr eindrücklich. Sie wurde vor einigen Jahren in einer Forschungsarbeit von Konstantin Učitelʼ rekonstruiert.38 Der Autor stützt sich in seiner Darstellung auf Material aus Theaterarchiven, vor allem auf die Protokolle der Sitzungen des Künstlerisch-politischen Rats des MALEGOT. Diese zeigen, dass die geplante Inszenierung zunächst auf Interesse und Wohlwollen stieß, sodass das Stück in die Saison-Planung 1930/31 aufgenommen wurde. Argwohn erweckte nur der satirische Text von Marcellus Schiffer, dem Autor des Librettos: Die in ihm dargestellte Absurdität des Systems der Massenkommunikation passte nicht in den Kontext der sich immer stärker artikulierenden Sowjetideologie (sodass eine Variante des Operntexts in Form einer vollständigen Überarbeitung erwogen wurde). Ein Ausweg aus der Situation fand sich in der Zusammenarbeit mit dem in das Projekt einbezogenen Vsevolod Mejercholʼd, der die in diesen Jahren aktuelle Idee eines ‚Theaters im Theater‘ vertrat. Diesem Ansatz entsprechend, der seinerzeit bereits in der Inszenierung von Prokofʼevs Liebe zu den drei Orangen realisiert worden war, hätte sich Hindemiths Oper, gespielt in der deutschen Originalversion, in der Tiefe der Bühnen entfalten sollen, während auf der Vorbühne und in den Logen „auf das Tagesgeschehen“ hin orientierte Attraktionen dargeboten worden wären, unter Beteiligung sowjetischer und ausländischer Journalisten.39 Berücksichtigt man, dass die Oper selbst in gewisser Weise ein ‚Theater im Theater‘ entfaltet (laut Libretto stellen die Protagonisten die Geschichte ihres Scheidungsprozesses an unterschiedlichsten Orten dar ‒ vom Kino und Varieté bis hin zum Zirkus und Vergnügungspark), besteht aller Grund zur Annahme, dass sich Mejercholʼds Regiekonzept ganz organisch mit dem Hindemithʼschen Original verbunden hätte. Allerdings vermochte Mejercholʼds Regiekonzept einer ‚Opern-Zeitung‘ die sowjetische Inszenierung der Hindemithʼschen Oper, um die ein veritabler Machkampf tobte, nicht zu retten. Zunächst neigten die Kräfte zu ihren Gunsten; und trotz der aggressiven Kritik Michail Čulakis, der das Werk der Kontrabande nationalfaschistischer Ideologie bezichtigte, votierten die Mehrheit der Mitglieder des Künstlerisch-politischen Rats für seine Annahme.40 Doch die Schlusspunkte der ganzen Geschichte setzten erst Učitelʼ, „‚Novosti dnja‘: MALEGOT i Chindemit“ (wie Anm. 19). Das Regiekonzept Mejercholʼds wurde vom Vorsitzenden des Künstlerisch-politischen Rats des MALEGOT, Fomičev, in einem Referat dargestellt (Protokoll der Sitzung der Produktions- und Repertoire-Abteilung des Künstlerisch-politischen Rats des MALEGOT vom 15. November 1931, Central’nyj gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva SPb [Zentrales staatliches Archiv für Kunst und Literatur St. Petersburg], 290, op. 1, d. 4, l. [Blatt] 60). Vgl. Učitelʼ, „‚Novosti dnja‘: MALEGOT i Chindemit“ (wie Anm. 19), S. 44. 40 Vgl. ebd., Protokoll der Sitzung der Produktions- und Repertoire-Abteilung des Künstlerisch-politischen Rats des MALEGOT vom 14. Februar 1932, St. Petersburg, Central’nyj go38 39

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zwei Dokumente des Jahres 1932: Bald nach der April-Resolution „Über den Umbau der literarisch-künstlerischen Organisationen“, beschlossen vom Zentralkomitee der Allunions-Kommunistischen Partei der Sowjetunion (B [= der Bolschewiken]), wurde ein vertraulicher instruktiver Brief an das MALEGOT gerichtet. Er führte zur Etablierung von Kontroll- und Zensur-Instanzen über das Theaterrepertoire, womit Werken ‚moderner‘ Orientierung der Weg auf die Bühnenbretter faktisch dauerhaft verschlossen war.41 Die geplatzte Erstaufführung der Oper Neues vom Tage erklärt sich insoweit kaum durch künstlerische Beweggründe – sie erwies sich vielmehr als Spiegelung des sich verändernden politischen Kurses des Sowjetstaats und der ihm folgenden Kräfte seiner Kulturpolitik. Alles andere als zufällig verschwand damals auch die Oper Die Nase von Dmitrij Šostakovič von der Bühne des MALEGOT – ein Werk, das sich bis dato beim Publikum und der Kritik unverkennbaren Erfolgs erfreut hatte. Was Novitäten des westlichen Musiktheaters angeht, zogen die sich in den 1930er Jahren verschärfenden Verhältnisse des Eisernen Vorhangs und der kulturellen Isolation einen Schlussstrich unter jegliche Projekte dieser Art. Ähnliches geschah auch in Deutschland. Am 8. Juni 1929 fand die langerwartete Premiere von Hindemiths Oper unter der Leitung von Otto Klemperer in der Berliner Staatsoper am Platz der Republik (Kroll-Oper) statt. Doch schon 1931 war dieses Theater, das sich als Zentrum höchst kühner und exponierter Operninnovationen einen Namen gemacht hatte (und darin dem MALEGOT glich), gezwungen zu schließen. Dieser Schritt war der Kürzung staatlicher Unterstützung geschuldet, die ultrakonservative Parteien der Stadtverwaltung abgepresst hatten. Damit trat die schöpferische Arbeit Hindemiths und vieler seiner Landsleute, bedroht von Verfolgungen und Nachstellungen, in eine neue historische Phase, die bis hin zum Verbot der Oper Mathis der Maler 1934 durch die nationalsozialistischen Machthaber reichte. Der Komponist war sehr bald einer Hetzkampagne ausgesetzt, der sich der Dirigent Wilhelm Furtwängler mutig, aber letztlich erfolglos entgegenstemmte. Im Weiteren blieben Hindemith nur noch Arbeitsreisen ins Ausland und schließlich der Schritt in die Emigration. Aber kehren wir nach Sowjetrussland zurück. Ende der 1920er und in der ersten Hälfte der 1930er Jahre waren Hindemiths Werke noch auf den Konzertpodien präsent. An russischen Erstaufführungen, vorwiegend in Leningrad, waren meist westliche, insbesondere deutsche Musiker beteiligt. Diese Aufführungen wurden begünstigt durch zwangsweise von Deutschland in die Sowjetunion sudarstvennyj archiv literatury i iskusstva [Zentrales staatliches Archiv für Kunst und Literatur], 290, op. 1, d. 9, l. [Blatt] 19. 41 Vgl. Učitelʼ, „‚Novosti dnja‘: MALEGOT i Chindemit“ (wie Anm. 19), S. 48.

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übergesiedelte Persönlichkeiten wie z. B. die Dirigenten Fritz Stiedry und Kurt Sanderling, die eng mit dem Orchester der Leningrader Philharmonie zusammenarbeiteten. Wie schon früher wurden ausschließlich Instrumentalwerke vorgestellt, darunter auch erst jüngst geschriebene. So erklangen am 14. Dezember 1929 die Konzertmusik für Blasorchester op. 41 (dirigiert von Rudolf Siegel), am 24. Januar 1932 die Kammermusik Nr. 7, Konzert für Orgel und Kammerorchester op. 46 Nr. 2 (Solist Heinrich Boell, Dirigent Eric-Paul Stekel) und am 11. Oktober desselben Jahres die Bostoner Sinfonie (Konzertmusik für Streichorchester und Blechbläser) ор. 50, dirigiert von Fritz Stiedry. Am 13. Januar 1933 fand die Leningrader Erstaufführung des Philharmonischen Konzerts statt (dirigiert von Paul Breisach), am 6. Februar 1934 ebendort die Konzertmusik für Klavier, Blechbläser und zwei Harfen (dirigiert von Gustav Brecher, der Solist am Klavier war Michail Druskin). Am 16. und 18. Dezember 1936 dirigierte Fritz Stiedry im Großen Saal der Leningrader Philharmonie die Sinfonie Mathis der Maler. Letzteres Ereignis setzte ein Zeichen, lag doch dem im März 1934 unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler in Berlin uraufgeführten Werk Material aus der gleichnamigen, verbotenen Oper zugrunde, womit es zu einem Symbol des Widerstands gegen das Hitler-Regime wurde. An erneute Aufführungen der Sinfonie in Deutschland war nicht zu denken, bedeutete doch die aktuelle Hetzkampagne faktisch ein Verbot aller Hindemith-Aufführungen. Allerdings sollten Verbots-Aktionen auch in der Sowjetunion nicht lange auf sich warten lassen. Eine neue Windung der stalinistischen ‚Kulturrevolution‘ signalisierten 1936 die redaktionellen Pravda-Artikel „Sumbur vmesto muzyki [Chaos statt Musik]“ und „Baletnaja falšʼ [Verlogenes Ballett]“. Sie richteten sich nicht nur gegen Šostakovič, sondern setzten zum finalen Schlag gegen die ‚modernistischen‘ und innovativen Kunstrichtungen als solche an. Unter den Bedingungen der sich zunehmend ideologisierenden Presse hatten allenfalls Werke der ‚reinen‘, außerhalb der Zensur stehenden Musik noch eine Chance, aufgeführt zu werden (zu denen die meisten Werke der Hindemithʼschen Erstaufführungen zählten). Doch auch über diesen Werken verdichteten sich zuweilen die Wolken, was die Schicksale der Ersten Sinfonie von Gavriil Popov und der Vierten Sinfonie von Šostakovič belegen. Unterm Strich glitt das Land in ein geistiges Vakuum ab: Mit der Abwicklung der ASM (1931) stellten auch zahlreiche Musikverlage, -zeitungen und -zeitschriften, die sich mit der neuen Musik befasst und sie propagiert hatten, ihre Tätigkeit ein. Angesichts um sich greifender offiziöser Gesinnungsgleichheit verschwanden nach und nach alle widerstreitenden Berichte, Meinungen und Standpunkte. Dem fiel auch der lebendige Kontakt mit der zeitgenössischen Kunst des Westens zum Opfer, an dessen Stelle nun die Indoktri-

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nation mit der Ideologie des sozialistischen Realismus trat. Das betraf selbstverständlich auch Figuren wie Hindemith. Jedoch konnte das kulturelle Vakuum auch in den tiefsten Zeiten des Stalinismus nicht verhindern, dass es ‚rettende Risse‘ im ‚Eisernen Vorhang‘ gab. So zeigen z. B. die Tagebücher von Nikolaj Mjaskovskij (in dessen Privatbibliothek sich eine größere Anzahl von Hindemith-Partituren erhalten hat), dass man sich nach wie vor auf die eine oder andere Weise mit den westlichen Novitäten vertraut machen konnte, darunter den aktuellen Werken Hindemiths. So spielten Mjaskovskij und Pavel Lamm 1935 bei Vladimir Deržanovskij zuhause die Sinfonie Mathis der Maler vierhändig am Klavier; 1937 lernte der Komponist die frisch komponierten Klaviersonaten kennen, 1946 die Sinfonischen Tänze. Das Interesse an der Musik Hindemiths wurde sogar teilweise durch offizielle Kreise unterstützt. Das indiziert ein an Hindemith adressierter Brief der Moskauer Abteilung des Sowjetischen Komponistenverbands von 1942 ‒ unterzeichnet von Rejngolʼd Gliėr, Viktor Belyj und Vano Muradeli ‒, in dem der Wunsch geäußert wird, die jüngste Sinfonie des Komponisten kennenzulernen.42 Gemeint ist offenbar die Sinfonie in Es, von der Šostakovič etwa 1944/45 eine Fragment gebliebene Bearbeitung für zwei Klaviere herstellte.43 Ungeachtet dieser Begebenheiten, die ein milderes Licht auf die Verhältnisse werfen könnten, entbrannte bald nach dem Kriegsende der sogenannte Kampf gegen den ‚Kosmopolitismus‘, der abermals – in Form der Ždanovschen Resolutionen der Jahre 1946 bis 1948 – das Rad der Geschichte zurückdrehte und die Verhältnisse kultureller Isolation verschärfte. Zur ‚Wiederankunft‘ des Komponisten in der Sowjetunion kam es erst zwanzig Jahre nach der letzten großen Hindemith-Erstaufführung (der erwähnten Mathis-Sinfonie von 1936). Sie fiel in die Phase des sogenannten ‚Tauwetters‘, als man seine Werke erneut zu spielen begann44 und sich sowohl journalistisch,

Siehe die Übersetzung dieses Briefs im Anhang. Leider ist ungewiss, ob der Komponist das Schreiben las und wie er gegebenenfalls auf seinen Inhalt reagierte. 43 Vgl. Liudmila Kownazkaja [Ljudmila Kovnackaja], „Schostakowitschs Hindemith: die verbotene Wahrheit“, in: Musik – Raum – Akkord – Bild. Festschrift zum 65. Geburtstag von Dorothea Baumann, hrsg. von Antonio Baldassarre, Bern: Peter Lang, 2012, S. 437–458. 44 Ende der 1950er und im Laufe der 1960er Jahre kamen in der UdSSR zahlreiche Werke zur Aufführung – unter den Orchesterwerken die Trauermusik für Viola und Streichorchester, die Symphonischen Metamorphosen über ein Thema von Weber, die Sinfonie Harmonie der Welt, die Pittsburgh Symphony und die Serenade, im Bereich von Kammer-, Klaviermusik und Lied der Klavierzyklus Ludus tonalis, der Liederzyklus Marienleben sowie diverse Sonaten für verschiedene Instrumente. Für diese Werke hatten sich führende sowjetische Musiker eingesetzt, unter ihnen die Instrumentalisten David Ojstrach, Mstislav Rostropovič, Svjatoslav Richter, Oleg Kagan, Natalja Gutman, Marija Judina, Aleksandr Vedernikov und Aleksandr 42

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wissenschaftlich als auch in Erinnerungen mit seinem Schaffen befasste. 45 Es gehörte zu den Zeichen der neuen Zeit, dass der Lebens- und Schaffensweg des Komponisten (der im Dezember 1963 verstarb) nun in aller Breite behandelt wurde und man um Glaubwürdigkeit und Objektivität bei der wissenschaftlichanalytischen Erschließung seiner Musik bemüht war. Letzteres war umso dringlicher, als die Zeitschrift Sovetskaja muzyka [Sowjetische Musik] noch Ende der 1950er Jahre Iosif Ryžkins Aufsatz „Der Faustus des 20. Jahrhunderts und der unrechte Weg des Modernismus“46 veröffentlicht hatte, der mit seiner Fülle an ideologischen Klischees einmal mehr das Beharrungsvermögen und problematische Erbe des sozialistischen Realismus vor Augen führte. Allerdings begann sich die Situation rasch zu wandeln. Der ‚Hindemith-Boom‘ der 1960er Jahre erinnerte in gewisser Weise an die 1920er Jahre mit ihrem Hunger nach Neuem und dem Bestreben, auf der Bühne der großen Welt ein Wort mitzureden. In diesem Sinne behielten Beljaevs prophetische Worte ihre Gültigkeit, der Paul Hindemith 1927 „eine der bedeutendsten schöpferischen Figuren unter unseren Zeitgenossen“ genannt hatte.47 Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer

Bachčiev, die Sängerin Lidija Davydova sowie die Dirigenten Evgenij Mravinskij und Gennadij Roždestvenskij. 45 Genannt seien die Arbeiten von Druskin, Boris Levik, Oksana Leont’eva, Inna Barsova, Vsevolod Zaderackij, Juzef Kon, Jurij Cholopov, Natalija Batʼ, Ljubovʼ Berger und Mark Ėtinger. Als erste große Hindemith-Publikation erschien in den 1970er Jahren Levaja/Leont’eva, Paulʼ Chindemit. Žiznʼ i tvorčestvo (wie Anm. 7). Es ist die bis heute einzige russischsprachige Monographie über den Komponisten. Wenige Jahre später erschien der Sammelband Paulʼ Chindemit. Stat’i i materialy [Paul Hindemith. Aufsätze und Materialien], hrsg. von Irėna Prudnikova, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1979. An der Wende zum 21. Jahrhundert begannen sich russische Wissenschaftler bislang weniger geläufigen Aspekten des Hindemithʼschen Schaffens zuzuwenden wie zum Beispiel dem frühen Opern-Triptychon (Elena Vorobʼeva), den Chorwerken (Peter Kiselev) u. a. 46 Iosif Ryžkin, „Faustus XX veka i nepravyj putʼ modernizma [Der Faustus des 20. Jahrhunderts und der unrechte Weg des Modernismus]“, in: Sovetskaja muzyka, 1959 Heft 9, S. 167– 177. Ein anderer Aufsatz desselben Autors trägt den Titel: „Paulʼ Chindemit – čerty stilja [Paul Hindemith – Züge seines Stils]“, in: Sovetskaja muzyka, 1959 Heft 6, S. 177–185. 47 Beljaev, Paulʼ Chindemit – očerk, Übersetzung Eberle (wie Anm. 16), S. 244.

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Tamara Levaja

Anhang Gespräche mit Paul Hindemith O. Verf., „Paulʼ Chindemit. Naši besedy [Paul Hindemith. Unsere Gespräche]“, in: Rabočij i teatr, 1927 Nr. 51, S. 14: „Eine Reise nach Sowjetrussland ist für jeden europäischen Musiker ziemlich interessant. Wir erwarten viel von ihr, und unsere Erwartungen werden durch die sowjetischen Leistungen auf einem Nachbargebiet der Musik bestätigt, dem Gebiet des Theaters. Das Beste, was wir in Berlin gesehen haben – die Arbeiten von Erwin Piscator –, sind unter dem Einfluss von Mejerchol’d entstanden, besonders dem von ‚Rasputin‘. Die russische Musik kenne ich gut und beobachte sie, so dass ich nicht davon ausgehe, hier vor Ort viel Neues zu entdecken, aber ich bin außerordentlich daran interessiert, die Organisation eures musikalischen Bildungswesens kennenzulernen. Da gibt es etwas zu lernen. Wir haben hier noch nicht viel gesehen, aber allein wegen des ‚Sprungs über den Schatten‘ im Kleinen Operntheater hätte sich die Anreise aus Deutschland gelohnt. Das ist eine erstaunliche, verblüffende Inszenierung, und auch in musikalischer Hinsicht tadellos gemacht. Ein großes Vergnügen war es für uns auch, in der Akademischen Philharmonie die ‚Gurre-Lieder‘ von Schönberg zu hören. Die Aufführung solcher Werke ist der beste Beweis für das hohe Niveau der Musikkultur in Leningrad. Ich selbst schreibe nichts. Nachdem ich aber den ‚Sprung über den Schatten‘ gesehen habe, habe ich Lust bekommen, eine Oper für dieses Theater zu schreiben.“

O. Verf., „Novosti dnja [Neues vom Tage]“, in: Rabočij i teatr, 1929 Nr. 4, S. 15: „Das Kleine Operntheater erschien mir schon im letzten Jahr als das interessanteste. ‚Jonny‘ ist für mich eine brillante Inszenierung, gerade der letzte Akt ist verblüffend. Die Idee, Max und Daniello in satirischen Tönen darzustellen, erscheint mir außerordentlich gelungen und scharfsinnig. Die Oper gewinnt dadurch an Sinn und Idee. Bei uns würden sie so etwas nicht durchgehen lassen: das sagt Hindemith. Ich habe den ersten Akt meiner jüngsten Oper ‚Neues vom Tage‘ mitgebracht, die ich für das kleine Operntheater vorgesehen habe. Bei Smolič und Samosud weiß ich sie in besten Händen. Als Ausstatter würde ich mir Lebedev wünschen. Seine Zeichnungen für Kinderbücher begeistern mich sehr. Abschließend will ich sagen, dass wir voller Ungeduld auf das Erscheinen sowjetischer Opern warten. Die Blicke aller Musiker sind auf die UdSSR gerichtet. Ich denke, dass Leningrad, das über solche musikalischen Ressourcen verfügt wie über eure jungen Komponisten und über solche Kraftzentren der Musikkunst wie das Kleine Operntheater und die Philharmonie, in diesem Bereich das erste Beispiel geben sollte.“ Übersetzung aus dem Russischen: Wolfgang Mende

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Brief des Moskauer Komponistenverbands an Paul Hindemith, November 1942 Briefkopf „Moskovskij sojuz sovetskich kompozitorov [Moskauer Verband der sowjetischen Komponisten]“ Maschinenschriftlicher Brief mit eigenhändigen Unterschriften, datiert 25. 11. 1942 und gerichtet an „Mr Paul Hindemith / Yale University / New Haven, Conn.“ „Lieber Mr. Hindemith! Aus Mitteilungen der amerikanischen Presse haben wir erfahren, dass Ihre neueste Sinfonie in den USA aufgeführt wurde. Ihre sinfonischen und kammermusikalischen Werke sind unter Musikern der Sowjetunion bekannt, und wir würden uns sehr gerne sowohl mit Ihrer neuen Sinfonie als auch mit anderen Werken vertraut machen, die Sie in der letzten Zeit geschrieben haben. Wir wären Ihnen sehr dankbar für die Übersendung Ihrer neuen Werke und für Mitteilungen über Ihre schöpferischen Pläne für die nächste Zukunft. Wir senden Ihnen einen herzlichen Gruß Das Präsidium des Sowjetischen Komponistenverbands R[ejngolʼd] Gliėr V[iktor] Belyj V[ano] Muradeli“

Quelle: Frankfurt a. M., Hindemith-Institut, Ordner „VIP“. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fondation Hindemith, Blonay (Schweiz). Übersetzung aus dem Russischen: Stefan Weiss

KOOPERATIONEN

Lidia Ader

Mikrotonale Allianz: Russland und Deutschland in den 1920er Jahren Die Mikrotonalität, eine der Schlüsselkomponenten der modernen Musik, zog seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Interesse von Musikern, Physikern und Akustikern auf sich. Sie kam auf als Alternative zur vorherrschenden Tonordnung, derer man überdrüssig geworden war. Im Fokus der vorliegenden Untersuchung stehen die 1920er Jahre als die wohl fruchtbarste Phase neuer Klangtheorien und -experimente. In dieser Zeit gab es mit Deutschland und Russland zwei Zentren der Mikrotonalität. Deutschland nahm in diesen Jahren, die Chronisten gerne als ‚Aufbruch‘ bezeichnen, eine Hauptrolle ein und unterstrich in musikalischer Hinsicht seine Führungsposition. Mit der Weimarer Republik verbindet sich ein beispielloser Aufschwung der Kultur auf den verschiedensten Gebieten. Dieser Prozess verlief ungeplant und – entgegen dem flüchtigen Eindruck – alles andere als einförmig. Die deutsche Kulturpolitik war von tiefen inneren Widersprüchen geprägt – sie strebte nach Modernisierung und hatte zugleich Angst vor ihr; radikale Absichten prallten auf Wünsche einer vordergründigen Bewahrung der Kulturwerte. Der Kurs vollständiger Umgestaltung trug in allen Bereichen Früchte, und in kürzester Zeit war nach dem Krieg der ‚Neuanfang‘ vollzogen. In Russland lassen sich die 1920er Jahre als ein ‚vielschichtiges Jahrzehnt‘ bezeichnen. Nach düsteren Revolutionsjahren zur Besinnung gekommen, revitalisierte sich die Kultur. Das allgemeine Bildungsniveau begann zu steigen, zur selben Zeit standen jedoch unerträgliche Lebensbedingungen einem vollständigen Wiederaufleben entgegen. Die kommunistische Ideologie und die Prinzipien des Leninismus schlugen allmählich im Massenbewusstsein Wurzeln, die Kaderausbildung wurde von eigens dafür ins Leben gerufenen Fakultäten übernommen. Der Mobilisierungsprozess der Intelligenzija fiel mit der Wiedergeburt des „zweiten Staats“ (Dmitrij Lichačëv) zusammen – eines persönlichen, von der äußeren Politik verborgenen Staats, der das kulturelle Gedächtnis in seinem Inneren bewahrt. Schöpferische Tätigkeiten entfalteten sich in der Auseinandersetzung und im Kampf mit den offiziellen Mächten, was für die nachfolgenden Jahrzehnte eine „Opposition des Geistes“ festigen half.1 1

Dmitrij Lichačëv, Ja vspominaju [Ich erinnere mich], Moskau: Progress, 1991, S. 152.

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In Deutschland formierten sich zu dieser Zeit bedeutende zeitgenössische Kulturzentren, die ihre Kraft und Position zum Teil bis ins nächste Jahrhundert bewahren sollten. Damals setzte eine starke Bewegung weg von den großen Zentren ein. Markante Kulturereignisse verlagerten sich in kleine, Radikalexperimenten aufgeschlossene Orte, die dadurch zu einem Mekka ihrer Art wurden. Verwiesen sei auf die Donaueschinger Kammermusikaufführungen zur Förderung zeitgenössischer Tonkunst, wo sich seit 1921 die fortschrittlichsten Komponisten und Interpreten sowie alle diejenigen versammelten, die sich mit Klangexperimenten bis hin zur Entwicklung neuer Instrumente befassten. In Russland vollzog sich ein umgekehrter Prozess. Moskau und Leningrad, die beiden Kulturzentren des Landes, zogen die talentierte Jugend, prominente ausländische Ensembles und führende Komponisten an, ohne dass die Regionalzentren Entwicklungschancen gehabt hätten. So bildeten sich gerade in den beiden Hauptstädten Vereinigungen und Kreise, die sich um zeitgenössische Musik bemühten (wie z. B. die Assoziation zeitgenössischer Musik [ASM], der Kreis der Kammermusikfreunde, der Kreis junger Komponisten, der Kreis neuer Musik). Eben dorthin strebte die junge Musikergeneration, denn die genannten Vereinigungen eröffneten einzigartige Aufführungsmöglichkeiten für aktuell geschaffene Werke. Obwohl unterschiedliche kulturelle Voraussetzungen und Perspektiven mitbringend, begannen sich die Wege der beiden Länder in den 1920er Jahren zu kreuzen, zu jener Zeit also, als ultramoderne Tendenzen ihr Recht einforderten. Zu ihnen gehörte auch die mikrotonale Musik, als ein beständiger Kontrapunkt der hervorragendsten theoretischen Konzeptionen jener Zeit. Wirft man einen Blick auf die Sphäre ihrer Hauptakteure, lässt sich kaum von einer festgefügten Gruppe (von Komponisten, Physikern und Akustikern) sprechen, die zielgerichtet an die Arbeit gingen. Die mikrotonale Musik war eine Sache von Einzelgängern. Zu nennen sind Ivan Vyšnegradskij in Paris, Alois Hába in der Tschechoslowakei, Julián Carrillo in Mexiko, Jörg Mager, Richard H. Stein und Willi Möllendorff in Deutschland, Georgij Rimskij-Korsakov, Artur Lurʼe (Arthur Lourié) und Arsenij Avraamov in Russland. Dessen ungeachtet operierten die Genannten in einem gemeinsamen Raum, der sich durch intensive Briefwechsel, Veröffentlichungen und Konzertpraxis – manchmal in realer Nähe, manchmal über große Distanzen hinweg – definierte. In diesem Sinne konnte Richard H. Stein 1923 bilanzieren: Somit bilden wir auch keine neue „Richtung“, bei der es einen „Meister“ nebst zahlreichen Nachahmern und Mitläufern gibt, sondern wir sind in mancherlei künstlerischen Dingen Gegner, oft geradezu Antipoden, und wir verstehen es selber kaum, daß wir unabhängig voneinander, der eine in Berlin, der andere in Petersburg, der dritte irgend-

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wo in Tschechien die gleiche Notwendigkeit empfunden haben, Vierteltöne in unserer Musik zu verwenden. Was uns bei der großen Verschiedenheit unserer künstlerischen Ziele verbindet, ist vielleicht nur das eine: künstlerische Ehrlichkeit und starke Intensität des musikalischen Empfindens.2

Die Idee mikrotonaler Musik entwickelte sich in Russland und Deutschland unter dem Vorzeichen eines intensiven Informationsaustausches. Angestoßen hatten ihn Mitglieder des Leningrader Kreises der Vierteltonmusik („Kružok četvertitonovoj muzyki“), die mit Ivan Vyšnegradskij (Berlin/Paris) und Jörg Mager (Berlin) in eine Korrespondenz eintraten. Im Herbst 1922 fand in Deutschland eine erste internationale Zusammenkunft der Vierteltonkomponisten statt; unter den Teilnehmern waren Mager, Möllendorff, Lurʼe, Vyšnegradskij, Hába und Silvestro Baglióni. Für Stein, die treibende Kraft, offenbarte das Treffen eine derartige Divergenz der Meinungen, daß nach stundenlangen Debatten nicht einmal über die Frage der Notierung eine Einigung zu erzielen war. Das ist bedauerlich, da die Herstellung des Notenmaterials einheitlich sein muß und die ausführenden Musiker unmöglich bei jedem Werk umlernen können.3

Trotz aller Differenzen vermochte das Treffen die Interessen zu bündeln und die Bewegung programmatisch werden zu lassen. Die Verschiedenheit der Auffassungen stimulierte allerlei ideologieträchtige Debatten und zog dadurch neue Interessenten an. Eine grundlegende Differenz zeigte sich bereits im Verständnis der Mikrotöne: Für die einen waren sie Chromatismen zur Bereicherung und Ausschmückung des Zwölftonsystems, für die anderen Elemente eines kategorial neuen Systems, das andere Wechselverhältnisse, Hierarchien und Tonvorstellungen einschloss. Andererseits aber sahen sich alle aufgefordert, die herrschende Temperierung preiszugeben und nach neuen Ausdrucksmitteln zu suchen. Während die deutschen Komponisten keinen geschlossenen Kreis zu bilden in der Lage waren, etablierte die russische Gruppe – nachdem junge Leute die Verantwortung übernommen hatten – eine Art Zentrum, das zwischen den Komponisten der verschiedenen Länder vermittelte. Die Vorgeschichte der Mikrotonalität ist an die Erforschung der physikalischen Beschaffenheit des Tons gebunden. Im Kontext der großen wissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts begannen sich Forscher wechselweise auf den Gebieten der Mathematik, Akustik, Physik und Musikwissenschaft für Richard H. Stein, „Vierteltonmusik“, in: Die Musik, 15. Jg., 2. Halbjahresband, Heft 7 (April 1923), S. 510–516, hier S. 511. – Russische Übersetzung als Richard Štejn, „Četvertetonnaja muzyka“, in: K novym beregam [Zu neuen Ufern], 1923 Heft 3 (Juni–August), S. 10–15, hier S. 11. 3 Ebd., S. 514 (russ. Übersetzung S. 13). 2

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die Grundlagen der Tonmaterie zu interessieren. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen dann grundlegende Arbeiten zur musikalischen Temperierung. Überdies fing man an, Instrumente (neu geschaffene wie rekonstruierte alte) unter klangtechnischen Gesichtspunkten zu optimieren und Übersetzungen alter Musiktraktate anzufertigen. Zu den Protagonisten gehörten Hugo Riemann, Hermann von Helmholtz und Alexander John Ellis. Sie erörterten die akustischen Eigenschaften des Tons und seiner Wirkung und arbeiteten mathematische Modelle der Tonskalen und -beziehungen aus. Auf ihre Veröffentlichungen reagierten unverzüglich Vertreter der musikalischen Praxis, die sich vor allem für brauchbare Temperierungen, die Naturstimmung und das künstlerische Potential des musikalischen Tons interessierten. In Russland fand die Idee mikrotonaler Musik erstmals Ausdruck in Nikolaj Kulʼbins 1909 veröffentlichtem Pamphlet Freie Musik. Die Anwendung einer neuen Theorie des Kunstschaffens auf die Musik,4 das eine grundlegende Neuorganisation der Musik als Kunst forderte. Was den Gedanken neuer Tonteilungen anlangt, hatte sich Kulʼbin durch Freunde aus dem futuristischen Milieu, unter ihnen Michail Matjušin, Lurʼe, Avraamov und Leonid Sabaneev, inspirieren lassen. Die Gruppe kreierte den Mythos einer schrankenlosen Musik, die keinerlei Hindernisse mehr kennt. In den Jahren 1916 bis 1923 ging die mikrotonale Musik gleichsam ‚in den Untergrund‘. In dieser Zeit machten sich ihre Repräsentanten erstmals daran, die Teilungen in Mikrotöne und ihre schöpferischen Experimente zu begründen. Charakteristisch dafür ist die Polemik zwischen Avraamov und Sabaneev in der Musikzeitschrift Muzykal’nyj sovremennik [Der musikalische Zeitgenosse] 1916. Ihre Konzepte offenbarten in technischer und methodischer Hinsicht einen erheblichen Dissens. Der Streit wurde in Rubriken geführt, die Fragen der Ästhetik und der Instrumentenkunde vorbehalten waren. Die kompromisslose Debatte zwischen ‚linken‘ Radikalen und Konservativen gab denjenigen Nahrung, die zur Assimilation verschiedener Strömungen neigten. Der Komponist und Musikkritiker Nikolaj Strelʼnikov, ein Kommentator des Petrograder/Leningrader Musiklebens der 1910er und 1920er Jahre, fand etwa, Vierteltöne klängen „weitaus weniger revolutionär, als man annehmen würde“.5 Ihm und anderen konservativ gesonnenen Kritikern trat Vyšnegradskij in den Aufsätzen „Die Befreiung des Nikolaj Kulʼbin, Svobodnaja muzyka. Primenenie novoj teorii chudužestvennogo tvorčestva k muzyke, St. Petersburg: Voennaja tipografija [Militärdruckerei], 1909. Deutsche Fassung: N. Kulbin, „Die freie Musik“, in: Der blaue Reiter, hrsg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc, München: Piper, 21914 [erstmals 1912], S. 69–73. 5 N[ikolaj] Strelʼnikov, „Muzyka buduščego [Zukunftsmusik]“, in: Žiznʼ iskusstva [Kunstleben], 1919 Nr. 326, S. 1. 4

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Tons“ und „Die Befreiung des Rhythmus“ entgegen,6 und etwas später bekräftigte Georgij Rimskij-Korsakov die neuen Systeme in seinem Aufsatz „Grundlegung des musikalischen Vierteltonsystems“.7 Die theoretische Polemik zwischen Avraamov und Sabaneev hatte die genannten Auseinandersetzungen weitgehend vorbereitet. Die 1920er Jahre markieren in der Geschichte der mikrotonalen Musik eine neue Epoche. An die Stelle des ersten Eifers traten ambitiöse Konzeptionen und Versuche, die früheren Ideen zum Leben zu erwecken und aktuelle Visionen auszuformulieren. Am mikrotonalen ‚Steuerrad‘ des Jahrzehnts stand ein Musiker, dessen Familienname von seinen Zeitgenossen wohl am allerwenigsten mit Avantgarde-Bestrebungen in Verbindung gebracht wurde: Georgij Rimskij-Korsakov (1901–1965). Als radikaler, „bis zur Exzentrik erfindungsreicher“8 Innovator suchte er die Grundlagen des temperierten Systems zu reformieren, als Komponist präsentierte er sich mit mikrochromatischen Werken. Im Wetteifer dieser Felder trat mal das Eine, mal das Andere in den Vordergrund. Zwei Ereignisse prägten das Jahr 1923. Im Herbst rief Hába am Prager Konservatorium Kurse für Vierteltonmusik ins Leben. Er konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf eine dreijährige Beschäftigung mit Mikrotönen zurückblicken. Und schon im Frühjahr hatte Rimskij-Korsakov beschlossen, seine Studienkameraden, die sich wie er für das Phänomen der Ultrachromatik interessierten, im Leningrader Kreis der Vierteltonmusik zusammenzubringen. Die Presse nahm rasch von diesem Kreis Notiz; Hinweise auf ihn finden sich, wenn auch nicht frei von Entstellungen, sowohl in russischen als auch westlichen Zeitschriften. So berichtete Boris Šlecer (Schloezer) 1924 in einer Pariser russischen Emigrantenzeitung von einer Gruppe „junger Musiker, die sich mit der Nutzung von Vierteltönen befasst. An der Spitze der Gesellschaft steht Georgij Rimskij-Korsakov, ein Neffe des berühmten Komponisten; in die Arbeit eingebunden ist Vjačeslav Ka-

I[van] Vyšnegradskij, „Osvoboždenie zvuka [Die Befreiung des Tons]“, in: Nakanune [Am Vorabend], Berlin 7. 1. 1923; ders., „Osvoboždenie ritma [Die Befreiung des Rhythmus]“, ebd., 18. und 25. 3. 1923. 7 Georgij Rimskij-Korsakov, „Obosnovanie četvertitonovoj muzykalʼnoj sistemy [Grundlegung des musikalischen Vierteltonsystems]“, in: De musica. Vremennik razrjada Istorii i Teorii muzyki gosudarstvennogo instituta istorii iskusstv [Jahrbuch der Abteilung Geschichte und Theorie der Musik des Staatlichen Instituts für Kunstgeschichte], Bd. [1], Leningrad 1925, S. 52–78. 8 Evgenij Šolpo, „Iskusstvennaja fonogramma na kinoplenke kak techničeskoe sredstvo muzyki [Das künstliche Phonogramm im Kino als technisches Mittel der Musik]“, in: Sbornik naučnych trudov i materialov Gosudarstvennogo Naučno-issledovatelʼskogo instituta teatra i muzyki [Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten und Materialien des Staatlichen wissenschaftlichen Instituts für Theater und Musik], Leningrad 1939, S. 246–275, hier S. 259. 6

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ratygin.“9 Tatsächlich jedoch hatte nicht ein Neffe, sondern ein Enkel Nikolaj Rimskij-Korsakovs die jungen Interpreten und Komponisten, alles Enthusiasten mikrotonaler Musik, zusammengeführt. Durch sein Engagement erhielt der Gedankenaustausch wesentliche Impulse, auch über Russland hinaus. Die Teilnehmer des Kreises führten eine reiche Korrespondenz mit verschiedenen russischen und europäischen Komponisten, und bald begannen auch ihre Werke auf dem Podium zu erklingen. In den Bibliotheken sammelte sich entsprechende Literatur. Dank der weisen Politik Aleksandr Ossovskijs, des damaligen Prorektors des Konservatoriums, scheint der Senat für Lehre den Kreis unterstützt, zumindest aber nicht behindert zu haben. Der zunächst zahlenmäßig kleine Kreis wuchs durch auswärtige Mitglieder – Vertreter diverser Kompositions- und Theorieabteilungen, darunter fast alle Komponisten der ersten deutschen Zusammenkunft 1922. Der wichtigste Korrespondent Rimskij-Korsakovs war Ivan Vyšnegradskij (1893–1979), ein russischer Komponist, der 1920 nach Frankreich emigriert war. Ab 1923 lebte er längere Zeit in Deutschland, wo er insbesondere seine Untersuchungen der mikrotonalen Musik vorantrieb, sich um den Bau eines Vierteltonflügels kümmerte sowie aktiv am dortigen Musikleben mitwirkte. In dieser Zeit setzte ein langanhaltender und inhaltsreicher Briefwechsel mit Rimskij-Korsakov ein, der sich über zwei (getrennte) Jahrzehnte erstrecken sollte – die 1920er und die 1960er Jahre. Die dreißigjährige Pause erklärt sich durch eine Krise in Rimskij-Korsakovs Verhältnis zur Vierteltönigkeit – in dieser Zeit wandte er sich anderen Forschungen zu, Fragen der Farbenmusik und der Elektroakustik. Ihre Briefe sind ein schöpferisches Laboratorium, in dem beide, gleichermaßen als Denker wie Praktiker, an ihren Ideen feilen und sich freigebig dem jeweils anderen mitteilen. Dank dieser Korrespondenz lässt sich für die 1920er Jahre eine Art Chronologie des Denkens über die Vierteltonproblematik etablieren, auch mit Blick auf die Einstellungen anderer Musiker zu ihr.10 Als Initiator der Korrespondenz verstand es Rimskij-Korsakov, diese zu einer Tauschbörse von theoretischen Konzepten, Viertelton-Partituren und wissenschaftlicher Literatur zu entwickeln. Beide halfen einander dabei, ihre Werke zu propagieren und diese in den von ihnen ausgerichteten Konzerten aufzuführen. 9 Boris Šlecer, „O četvertitonovoj muzyke [Über Vierteltonmusik]“, in: Zveno [Die Kette], Paris, 22. September 1924. 10 Georgij Rimskij-Korsakovs Briefe aus den 1920er und den 1960er Jahren sind in der Sammlung Ivan Wyschnegradsky der Paul Sacher Stiftung in Basel archiviert; Ivan Vyšnegradskijs Briefe der 1960er Jahre befinden sich in der Handschriftenabteilung der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg (OR RNB, Fond 1162, opis’ [Verzeichnis] 1, edinica chranenija [Aufbewahrungseinheit] 135).

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Der Tscheche Alois Hába (1893–1973) errang als einer der ersten mikrotonalen Komponisten internationale Anerkennung. Er war Absolvent der Berliner Musikhochschule, hatte zuvor aber bei Franz Schreker in Wien studiert, als Redakteur der Universal Edition gearbeitet und sich als Lehrer an der SchallingerSchule durchgeschlagen (wie andere Schreker-Schüler auch, z. B. Felix Petyrek und Heinrich Knöll11). Die jungen Komponisten der 1920er Jahre scharten sich um Schreker wie um einen Leitstern. Er verhalf ihnen zu Aufführungen und zum Druck ihrer Werke, nicht zuletzt aber auch zu prestigeträchtigen Aufträgen. In Moskau und Leningrad wurden Hábas Aktivitäten aufmerksam verfolgt. Im Jahre 1925 hieß es in der Zeitschrift Muzykal’noe obrazovanie [Musikalische Bildung] des Moskauer Konservatoriums: Der tschechische Komponist Alois Hába, bekannt durch seine Versuche auf dem Gebiet der Vierteltonmusik, hat zwei Bühnenwerke geschrieben: „Geschlechtstrieb [Polovoe čuvstvo]“12 und „Selbsterhaltung [Samosochranenie]“,13 in denen er das Wesen der Naturinstinkte unter naturwissenschaftlichem und philosophischem Gesichtspunkt behandelt. An die Stelle szenischer Verkörperung und abstrakter Darstellung treten an einigen Stellen auch Filmszenen und farbenprächtige Bilder. Die Musik ist für Vierteltonklavier, Klarinetten, Streichquintett und zwei im Vierteltonabstand voneinander gestimmte Harfen.14

Und ein Jahr später war zu lesen: Der bekannte Verfechter der Vierteltonmusik, der Komponist Alois Hába, setzt seine pädagogischen Ansätze bereits in großem Stil um. In einem Prager Konzert stellte er im Frühjahr fünf Schüler mit Viertelton-Kompositionen vor. Die deutsche Prager Zeitschrift „Der Auftakt“ brachte in ihrer vierten Nummer einen Aufsatz des bekannten Pianisten [Erwin] Schulhoff, in dem dieser die Spieltechnik des Vierteltonflügels auf zwei Manualen erläutert (das System der Klavierfabrik Förster).15

Die Informationen der deutschen Zeitungen wurden unverzüglich in den sowjetischen Chroniken aufgegriffen. Dabei tauchte der Name Hábas am häufigsten

Zu Knöll vgl. Vlasta Reittererova, „The Haba ‚School‘“, in: Czech Music, 2005 Heft 3, S. 9–17, hier S. 10. 12 Ein Werk dieses oder ähnlichen Namens ist in der Hába-Forschung nicht bekannt. 13 Gemeint ist wahrscheinlich das damals projektierte Werk Sebezachování [Selbsterhaltung], das 1942 als Přijď království Tvé [Dein Reich komme] op. 50 vollendet wurde. 14 O. Verf., „Varia“, in: Muzykal’noe obrazovanie [Musikalische Bildung] (Ausgabe der Werktätigengruppe des Moskauer Staatlichen Konservatoriums), 1925 Heft 1–2, S. 58. 15 O. Verf., „Varia“, in: Muzykal’noe obrazovanie (Ausgabe der Werktätigengruppe des Moskauer Staatlichen Konservatoriums), 1926 Heft 5–6, S. 141. 11

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auf. So gab es etwa Verlautbarungen über einen von ihm entwickelten VierteltonFlügel, über seine Konzerte, Erfolge und Misserfolge. Mit Hába, seinem zweiten Korrespondenten, trat Rimskij-Korsakov gleich mit der Gründung des Kreises in Kontakt. Allerdings teilte Hába nicht ganz den Enthusiasmus der russischen Kollegen. Er schickte nur ein Porträtbild, was sich als Grußgeste deuten lässt, ließ sich aber nicht in die Aktivitäten des Kreises einbinden. Unter den Arbeitsgrundlagen des Kreises befanden sich Hábas Aufsatz „Die harmonischen Grundlagen des Vierteltonsystems“ und einige von Vyšnegradskij übersandte Angaben über ihn mitsamt Notenausgaben.16 Als Hába Mitte der 1920er Jahre seine Ideen der Mikrotonalität in ersten Werken erprobt hatte und auf Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Interpreten zurückblicken konnte, stellte er seine ‚Missionsbemühungen‘ ein und nahm eine Lehrtätigkeit am Prager Konservatorium an. Seine Klasse war multinational, in ihr trafen sich Studenten aus Serbien, Kroatien, Slowenien, Lettland, aus der Türkei, Polen, Bulgarien und anderen Ländern. Hábas Lehrverpflichtungen standen einer Mitwirkung in anderen Gruppen in vielerlei Hinsicht im Wege, überdies begannen sich Mitte der 1920er Jahre seine Werke einer wachsenden Verbreitung zu erfreuen, was eine gewisse Entfremdung von den Kollegen aus der Sphäre der Mikrotonalität zur Folge hatte. Am 28. November 1922 fand in Berlin ein wegweisendes Konzert mit Vierteltonmusik statt. Dazu hatte man Vertreter der Musiköffentlichkeit, der Wissenschaft und aus den Ministerien eingeladen. Auf dem Programm stand nur ein Werk, Hábas Zweites Streichquartett, das zweimal vom Havemann-Quartett gespielt wurde.17 Dem Konzert vorangestellt war ein Vortrag des bekannten deutschen Musikwissenschaftlers Georg Schünemann. 18 Er gab einen historischen Überblick, in dem er die europäische und nichteuropäische Musikkultur verglich, die Musik des Mittelalters thematisierte, Spezifika des Klangs, das Phänomen der tonalen Strebung, die temperierte Stimmung und andere Dinge mehr. Hábas Streichquartett wurde ungeachtet seiner experimentellen Ausrichtung als gültiges Kunstwerk rezipiert. Der Satz basiert auf einem dicht gefügten Vierteltongewebe, dem sich zuweilen Halbtöne in der Funktion von Hilfs- und Durchgangstönen hinzugesellen. Die Stimmen, in meist polyphone Faktur einge16 Die Notenabteilung der Russischen Nationalbibliothek (RNB) besitzt Hábas in den 1920er Jahren veröffentlichte Streichquartette und Klavierwerke, die offenbar damals nach Russland expediert worden waren. 17 Eine solche Praxis war auch im von Arnold Schönberg und seinem Kreis initiierten Wiener Verein für musikalische Privataufführungen üblich. 18 Die Thesen dieses Vortrags sind in der Staatsbibliothek zu Berlin erhalten (Mus. Nachl. 75, A 84).

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bettet, verfolgen eine eigenständige Dramaturgie und fügen sich nur in Schlüsselmomenten zu homophoner Bewegung. Spätromantisch im Geist, vermittelte das Werk in seiner hochgradig emotionalen Konzentriertheit den Eindruck eines einzigen großen organischen Ganzen. So notierte Vyšnegradskij, hier gebe es „überhaupt keine Themen mehr“, alles präsentiere sich als „eine kontinuierlich fließende Naturgewalt“.19 Das Konzert hatte nicht nur die Berliner Musiköffentlichkeit angezogen, sondern auch die Komponistenkollegen aus der Sphäre der mikrotonalen Musik. Auf Vyšnegradskij wirkte der Abend beflügelnd; er reagierte nicht nur mit einem grundlegenden Aufsatz, sondern ließ sich durch Hábas Werkideen zu eigener intensiver Schöpfertätigkeit anregen. Die günstige Aufnahme des Streichquartetts inspirierte neben Vyšnegradskij auch andere Komponisten und stellte damit die Lebensfähigkeit der mikrotonalen Musik unter Beweis. Ein weiterer Korrespondent Rimskij-Korsakovs war der Erfinder und Radioingenieur Jörg Mager (1880–1939), der bereits 1911 bei der Entwicklung eines neuen Harmoniums mit ungewöhnlichen Temperierungen experimentiert hatte. 1918 veröffentlichte er einen Aufsatz über Vierteltonmusik,20 in dem er unter sowohl wissenschaftlichem als auch autobiographischem Vorzeichen darlegte, wie sein Interesse für die mikrotonale Musik begann, und Einblicke in ihre technischen Parameter, ästhetischen Probleme und einzelne Spezifika gab. Sein Interesse galt den harmonischen und melodischen Eigenheiten der Vierteltonintervalle, die er im Einzelnen klangfarblich charakterisiert. Mager war von dem Wunsch erfüllt, die klingende Welt zu verändern und das Elixier einer schönen und ewigen Harmonie zu entdecken. Seine Suche war, wie bei vielen anderen Erfindern auch, romantisch inspiriert; die Erhabenheit der Ziele deckte sich jedoch nicht immer mit den irdischen Realitäten. Den Innovationsbemühungen seiner Kollegen im Bereich der akustischen Instrumente stand er skeptisch gegenüber und meinte, es müssten elektronische Apparate zur Darstellung absolut exakter Tonhöhe entwickelt werden. „Die absolute Musik, der ganz geschlossene Alltonkreis lag vor mir! Der Tonozean in seiner Unermeßlichkeit!“, verkündete er in Vorfreude auf neue Entdeckungen.21

19 Ivan Vyšnegradskij, Piramida žizni: Dnevnik, stat’i, pis’ma, vospominanija [Die Lebenspyramide: Tagebücher, Aufsätze, Briefe und Erinnerungen], hrsg. von Alla Bretanickaja (Russkoe muzykal’noe zarubež’e v materialach i dokumentach [Das musikalische Russland jenseits der Grenzen in Materialien und Dokumenten], 2), Мoskau: Kompozitor, 1999, S. 137. 20 Jörg Mager, Vierteltonmusik, Aschaffenburg: Franz Kuthal, 1918. 21 Jörg Mager, Eine neue Epoche der Musik durch Radio, Berlin: Selbstverlag, 1924, S. 5 (Hervorhebung im Original gesperrt).

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Mager wie Rimskij-Korsakov wünschten, die Kräfte bei der Suche nach der idealen Temperierung und der Erweiterung der Klanggrenzen zu bündeln. Ohne von den Leningrader Forschern zu wissen, suchte Mager selbstständig den Kontakt zur russischen Kulturszene. Am Anfang der 1920er Jahre – Mager war in finanziellen Schwierigkeiten und ohne festes Einkommen – wandte er sich an mehrere sowjetische Institute mit der Bitte um Kenntnisnahme und Förderung seiner Erfindungen. Eine Antwort erhielt er jedoch nicht. Im Frühjahr 1922 schrieb Mager an Anatolij Lunačarskij, den sowjetischen Volkskommissar für das Bildungswesen – eine Verzweiflungstat, zu der seine schlechten Lebensumstände geführt hatten. Er klagt in seinem Schreiben über den beschwerlichen Alltag und die Unmöglichkeit eines „Brotverdienstes“, um dann sein brennendes Interesse an den Erfindungen der Futuristen zu bekunden, darunter die vierteltönige Musik. Alle theoretischen Forschungen lägen bereits in einer allgemein zugänglichen Broschüre vor – der seinen. 22 Und Mager erwähnt, dass sogar Sergej Tolstoj (offenbar einer der Söhne Lev Tolstojs) seinerzeit ein Exemplar der Untersuchung erhalten habe. „Helfen Sie!“, fleht er Lunačarskij an, „möglicherweise können die Russische Musikgesellschaft oder die Akademie mich unterstützen.“ Weiterhin berichtet er von dem Plan einer pädagogischen Konferenz, beschwert sich aber, dass die russischen Kollegen ihm nicht antworteten. Er schließt den Brief mit den Worten: „Mit kommunist[ischem] Brudergruss“.23 Magers Brief blieb unbeantwortet, doch erhielt er ein Jahr später eine Nachricht von Rimskij-Korsakov aus Petrograd: Dieser hatte inzwischen Magers Adresse durch Vyšnegradskij in Erfahrung gebracht und beeilte sich nun, mit ihm in Kontakt zu treten. Der Briefwechsel der beiden erörtert Konstruktionsvarianten und den Innenbau des künftigen Viertelton-Flügels für den Kreis. Mager sträubte sich lange Zeit, Mitglied des Kreises werden, so dass Rimskij-Korsakov schließlich verzweifelt die Frage aufwarf: „Was ist es nun? Ist es deutscher Chauvinismus oder will er etwa als der erste Vierteltöner unsere Ehrenmitgliedschaft?“24 Anfang 1924 plante Mager eine Russlandreise, um die Arbeiten des Kreises kennenzulernen, kam aber nicht zu den geplanten Auftritten, da man seine Fahrtkosten nicht erstatten konnte. So blieb es beim Austausch publizierter Aufsätze – Rimskij-Korsakov schickte seine „Grundlegung des vierteltönigen

Gemeint ist Mager, Vierteltonmusik (wie Anm. 20). Brief von Jörg Mager an Anatolij Lunačarskij, 22. Mai 1922; Moskau, Rossijskij nacionalʼnyj muzej muzyki [Nationales Musikmuseum Russlands, ehemals Glinka-Museum], Fond 17, edinica chranenija 271. 24 Brief von Rimskij-Korsakov an Vyšnegradskij vom 22. November 1923, Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 6 verso des Briefs. 22 23

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Musiksystems“,25 Mager seine als Aufsätze veröffentlichten Radiovorlesungen. Zudem versandte Mager Werke von Hába und Möllendorff sowie seinen Psalm. Unter den deutschen Korrespondenten des Kreises verdienen zwei weitere Figuren Beachtung. Der eine ist der Komponist und Theoretiker Richard Heinrich Stein (1882–1942), ein Absolvent der Universität Erlangen. Von 1920 bis 1922 war er Direktor des Konservatoriums Berlin-Nikolassee, 1924 der Berliner wissenschaftlichen Gesellschaft Urania. 1925 wirkte er als musikalischer Leiter des Berliner Rundfunks. Stein war viel auf Reisen, wodurch er sich für außereuropäische Kulturen und exotische Tonarten zu interessieren begann, was ihn schließlich zu Experimenten mit Vierteltönen brachte. Als Theoretiker der Mikrotöne befasste er sich mit ihrer Natur und Idee. Seine Gedanken legte er in verschiedenen Aufsätzen sowie im Vorwort zu seinen vierteltönigen Zwei Konzertstücken dar. Der andere ist Willy von Möllendorff (auch Willi Möllendorff, 1872– 1934), ein Erfinder und Komponist, der 1917 seine Abhandlung Musik mit Vierteltönen vorlegte. In ihr berichtet er nicht nur von Experimenten mit kleineren als den üblichen Tonschritten, sondern auch von einem eigens entwickelten System, das sich in seinen Werken bewährt habe. Dem traditionellen Tonsystem hält er vor, den musikalischen Ausdruck und den Fortschritt zu behindern.26 Das zwölfstufige System vergleicht er mit einem alten, Licht und Luft raubenden Wohnblock am Ende einer Sackgasse, der den Weg in die Zukunft versperre. „Legen wir durch den alten Häuserblock unseres zwölfstufigen Systems die neue Straße der Vierteltöne mitten hindurch!“, proklamiert Möllendorff. „Verdoppeln wir also die Zahl der Tonstufen! Alles Dunkel und alle Engigkeit muß dann auch hier schwinden, denn wir gewinnen so die neue, helle und breite Straße des vierundzwanzigstufigen Systems […].“27 Möllendorff begründet den Viertelton mit der Symmetrie des halbtönigen Systems, dessen Erweiterung die Einführung eines ebenso symmetrischen Vorrates zwölf neuer Stufen erzwinge. Zwar streift der Autor auch das interessante Thema der Achteltöne, bricht den Gedanken aber sogleich ab und prophezeit ihnen erst „in abermals tausend Jahren“ Aktualität.28 Was die Anwendung von Vierteltönen betrifft, ist Möllendorff vorsichtig; für ihn sind sie nur ein ergänzendes Element, das der Auszierung dient. Ihre ständige Nutzung sei nicht erforderlich. Georgij Rimskij-Korsakov, „Obosnovanie četvertitonovoj muzykal’noj sistemy“ (wie Anm. 7). 26 Willi Möllendorff, Musik mit Vierteltönen. Erfahrungen am bichromatischen Harmonium, Leipzig: F. E. C. Leuckart, 1917, S. 8. 27 Ebd., S. 8f. 28 Ebd., S. 10. 25

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Für die sich festigenden russisch-deutschen Beziehungen war die Veröffentlichung von Rimskij-Korsakovs Studie „Theorie und Praxis der Reintonsysteme in Sowjetrussland“ in der deutschen Zeitschrift Melos im Januar 1928 ein wichtiges Ereignis.29 Von Notizen in den Chronik-Spalten abgesehen, war das die erste deutschsprachige Publikation über die sowjetischen Vierteltonexperimente überhaupt. Der Autor hebt drei Komponisten hervor – Michail Matjušin, Vyšnegradskij und Lurʼe –, dank derer die Experimente in ein neues Stadium eingetreten seien. Genaue Datierungen vernachlässigend, umreißt Rimskij-Korsakov die experimentellen Bestrebungen seiner Zeit. Ein eigener Abschnitt ist Avraamov und dessen Traktat Das universale Tonsystem gewidmet (das mit 48und 96-tönigen Temperierungen experimentiert), ebenso den Moskauer Forschern Ėmilij Rozenov, Nikolaj Garbuzov und Pavel Lejberg. Einen vergleichbaren, der Mikrotonbewegung in einem einzelnen Land gewidmeten Aufsatz hatte es in den internationalen Fachzeitschriften bis dahin noch nicht gegeben. Ebendeshalb ist Rimskij-Korsakovs Aufsatz als authentische Quelle zu den frühen sowjetischen Tonexperimenten von hoher Bedeutung. Ein Leitmotiv der Korrespondenzen ist die Beschäftigung mit Plänen und Konstruktionszeichnungen von Musikinstrumenten. Das Aufkommen der mikrotonalen Musik gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts fand Unterstützung in den Bestrebungen zur Modernisierung älterer und der Entwicklung neuer Instrumente. Bei letzteren waren die Konstrukteure und Komponisten frei davon, sich an exakt fixierte Tonhöhen halten zu müssen. Man diskutierte, wie die Vierteltöne eingeführt werden sollten und in welchen Instrumenten zuerst. Dazu schrieb Möllendorff: Im Prinzip leicht möglich ist dies auf vielen Instrumenten, z. B. auf der Geige und Bratsche in den tieferen Lagen, auf dem Violoncello in fast allen Lagen, ebenso auf dem Kontrabaß. Von den Blasinstrumenten käme hier vor allem die Posaune in Betracht. Aber, ach! wir wollen ja durch das Bichroma in erster Linie die musikalische Harmonie bereichern! Da nützen uns alle diese Tonwerkzeuge vorderhand gar nichts, denn sie sind ja ihrer Natur nach auf ein einstimmiges Musizieren angewiesen.30

Viele Komponisten glaubten, die Zukunft der mikrotonalen Musik läge in einer forcierten Verwendung stimmlicher Ressourcen und nichttemperierter Instrumente. Deshalb wurden die ersten Werke hauptsächlich für Streichinstrumente in Viertel- oder Sechsteltönen mit traditionell gestimmtem Flügel als Begleitung geschrieben. Diese Methode fand rasch Verbreitung. Bereits Mitte des 29 Georg Rimsky-Korssakoff, „Theorie und Praxis der Reintonsysteme im Sowjetrussland“, in: Melos 7 (1928), S. 15–17. 30 Möllendorff, Musik mit Vierteltönen (wie Anm. 26), S. 12.

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19. Jahrhunderts waren sowohl Streichinstrumente als auch die Stimme zur Darstellung von Mikrotönen eingesetzt worden, z. B. in Fromental Halévys Kantate Prométhée enchaîné (1849) nach Aischylos. John Foulds (1880–1939), der Pionier der mikrotonalen Musik in England, schrieb sein erstes vierteltöniges Werk für Streichquartett,31 Richard Stein für Violoncello und Klavier (wobei der Vierteltonpart dem Solisten oblag), Hába für Streichorchester usw. Auch Vyšnegradskij schöpfte die Möglichkeiten der Violine voll aus, als er 1916, bevor er nach Frankreich emigrierte, mit seinen Klangexperimenten begann. Die Violine als klanglich flexibles und transportables Instrument, auf dem sich unterschiedliche Temperierungen realisieren lassen, ohne dass die Konstruktion verändert werden muss oder gar Schaden leidet, kam den mikrotonalen Komponisten in besonderer Weise entgegen. So äußerte etwa Vyšnegradskij: „Die Violine spielt nicht nur Vierteltöne, sondern auch andere Mikrointervalle. Ich nahm zum Beispiel eine Terz und verkleinerte sie progressiv in fünf oder sieben Teile, wodurch ich ein System von 20 Tönen in der Oktave erhielt.“32 Unterschiedliche Instrumente bevorzugend, stellten die Komponisten für sich eine Art Hierarchie auf. So wies Matjušin dem Flügel (einem der am meisten verbreiteten Instrumente) unter den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten die unterste Stufe zu. Gegen ihn sprachen seine Sperrigkeit, vor allem aber die starren (gleichschwebend-fixierten) Tonhöhen. Die Streichinstrumente standen dagegen ganz oben auf seiner Liste: „Sie lassen eine ungehinderte Teilung des Tons in Viertel[töne] zu, indem man den Halbton in zwei Hälften teilt“, sind klanglich flexibel, handhabbar und ermöglichen „die Erschließung eines ganz neuen Klangwerts“.33 Ebendeshalb griffen die Komponisten und Erfinder hauptsächlich zu den Streichinstrumenten. Nichtsdestoweniger verfolgte der Kreis der Vierteltonmusik auch weiterhin Adaptionen des traditionellen Instrumentariums. So wurde kurz nach seiner Gründung eine Harfe vorgestellt, die drei um einen Viertelton tiefer gestimmte Saiten besaß (es, ges, b), was dann in der Oktave 20 Töne ergab (es fehlten cit, det, g, at).34 Vyšnegradskij bevorzugte eine Methode, die ihm eine zumindest annähernd exakte Wiedergabe von Mikrotönen erlaubte. Er arbeite mit dem Klavier Weder das Notenmaterial des Werks noch Rezensionen seiner Aufführung sind erhalten. Vyšnegradskij, Piramida žizni (wie Anm. 19), S. 97. 33 Michail Matjušin, Rukovodstvo k izučeniju četvertej tona dlja skripki: Princip obščej sistemy izučenija udvoennogo chromatizma [Leitfaden zum Studium des Vierteltons für die Violine: Das Prinzip eines allgemeinen Systems zum Studium der verdoppelten Chromatik], Petrograd: Žuravl’ [Kranich], 1915, unpaginierte Seite vor S. 1. 34 Nomenklatur der Vierteltöne bei Rimskij-Korsakov: cit – ein um einen Viertelton höheres c, det – ein um einen Viertelton tieferes d, at – ein um einen Viertelton tieferes a [Anm. d. Übers.]. 31 32

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(einem ‚konservativen‘, aber weit verbreiteten Instrument), dem er dadurch Vierteltöne abgewann, dass er zwei Flügel im Abstand eines Vierteltons stimmen ließ. Diese Methode fand rasch Verbreitung; sie wurde nicht nur in Russland praktiziert, wo Vyšnegradskij auf diese Weise bereits in den 1910er Jahren erste Erfahrungen sammelte, sondern auch in anderen Ländern Europas und Amerikas. In diesem Kontext ereignete sich Kurioses: Einige Flügel waren der neuen Stimmung nach der Umstimmung nicht gewachsen (die Höherstimmung um einen Viertelton gab nach und rutschte auf Normalstimmung zurück). Lange Zeit widersetzte sich die Konservatoriumsleitung einer solch ‚barbarischen‘ Behandlung des Instruments und beschloss, für derlei Experimente auf keinen Fall mehr einen zweiten Flügel zur Verfügung zu stellen. Diese Verfügung wurde auch über Russland hinaus bekannt. Mager erklärte mit vollem Ernst, man müsse sich in dieser Angelegenheit „an die Frau Lenins und an Lunačarskij“ wenden.35 Damit war die Suche nach einem Tasteninstrument indes nicht beendet. Im Oktober 1921 entschloss sich Vyšnegradskij zum Bau eines vierteltönigen Flügels. Er schrieb 60 Klavierbauer in Berlin an und bot ihnen eine Zusammenarbeit an, worauf aber nur die Unternehmen Westermayer und Roth & Junius (und zwar wenig erfreut) reagierten.36 Durch seinen Umzug nach Deutschland kam er in Kontakt zu den damals führenden Vertretern der Mikrotonbewegung (Hába, Möllendorff, Stein und Mager). Gemeinsam mit Hába entwickelte Vyšnegradskij (auf Vermittlung Möllendorffs, aber heimlich vor den anderen) den Plan eines Vierteltonflügels. Ausgehend von seinen Erfahrungen beim Spiel auf zwei Manualen schlug Vyšnegradskij eine dreimanualige Klaviatur vor. Gerüchte über solche Instrumente wurden unverzüglich in russischen Zeitschriften aufgegriffen: Die Klavierfabrik A. Förster (Tschechoslowakei) hat zwei Typen vierteltöniger Instrumente entwickelt und produziert; das eine, sperrigere, besitzt zwei Resonanzkästen und zwei gesonderte Saiten-Rahmen; bei dem anderen, moderneren, gibt es nur einen Resonanzkasten für die beiden Rahmen, einen oberen und unteren. Laut Alois Hába, dem Vierteltonkomponisten, hat der Flügel einen erstklassigen, ausgewogenen Klang mit vollem Ton in allen Registern, was sich offenbar der großen Anzahl an Resonatoren und der starken Annäherung der 24-tönigen Temperierung an die Obertonreihe verdankt. Dabei ist das Instrument uneingeschränkt praxistauglich – auch wenn nur eines der Manuale für herkömmliche Musik im 12-stufig temperierten System genutzt wird.37

Zit. nach dem Brief Rimskij-Korsakovs an Vyšnegradskij vom 22. November 1923, Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 6 des Briefs am Rand. 36 Vyšnegradskij, Piramida žizni (wie Anm. 19), S. 131. 37 O. Verf., „Za rubežom. Chronika [Im Ausland. Chronik]“, in: Muzyka i revoljucija [Musik und Revolution], 1926 Heft 3 (März), S. 45. 35

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Der Flügel war 1924 spielbereit. Interessanterweise bauten gleich zwei Firmen – August Förster und Grotrian-Steinweg – unabhängig voneinander im Frühjahr 1924 einen vierteltönigen Flügel. Sie arbeiteten offenbar parallel, ohne von den Plänen der Konkurrenz zu wissen. Die Instrumente gelangten im Abstand von nur einem Monat auf den Markt. Damit war eine entscheidende Wende auf dem Gebiet der Vierteltonmusik vollzogen. Waren die Komponisten bislang ohne Möglichkeit gewesen, auf dem Klavier, dem beliebtesten aller Instrumente, Vierteltöne darzustellen, so eröffneten sich ihnen im März/April 1924 schlagartig neue Perspektiven, was dann auch zu einer rasch wachsenden Anzahl klanglich neuartiger Werke führte. Die Firma Grotrian baute einen einmanualigen Flügel mit zwei Korpussen (Schalldeckeln). Während mit der Berliner Musikhochschule über die Leihgabe oder den Verkauf des Instruments verhandelt wurde, hofften die Firmenvertreter auf Interesse unter den Studenten und Professoren. Allerdings nahm Hába, der wichtigste Repräsentant mikrotonaler Musik an der Lehranstalt, das Instrument offenbar nicht an. Hába war damals mit dem weniger sperrigen dreimanualigen Flügel der Firma Förster beschäftigt. Dieser hatte zwei standardisierte Tastenreihen, in deren Mitte eine weitere mit Vierteltönen eingelassen war. Die Reihen unterschieden sich der Länge nach – die untere hatte die für Flügel übliche Maße, die mittlere war ein wenig kürzer und die obere am kürzesten. Das Instrument firmierte als ‚experimentelles‘ und sollte das einzige seiner Art bleiben. Es wurde von der Berliner Musikhochschule erworben. Dieser Umstand wirkte sich auf Hábas schöpferische Karriere günstig aus: Von der zweiten Hälfte der 1920er bis in die 1930er Jahre konzertierte er nämlich mit diesem Instrument in Deutschland, Frankreich, Italien, der Tschechoslowakei und anderen Ländern. Laut Albert Wellek schickte sich sogar ein Professor des Prager Konservatoriums, Jan Heřman (1886–1946), zur Ausarbeitung einer dreimanualigen Klaviertechnik an.38 Am 3. Juni 1924 spielte Heřman eine Klaviersuite von Hába und einige kleinere eigene Klavierstücke. Ihrer technischen Schwierigkeiten ungeachtet, waren die Stücke von primär pädagogisch-instruktivem Charakter; Wellek nannte sie „archaisch“.39 Da ein Kauf des Förster-Flügels wegen der hohen Kosten keineswegs in Frage kam, machten sich die Mitglieder des Kreises der Vierteltonmusik (d. h. Rimskij-Korsakov und Nikolaj Malachovskij) an die Projektierung eines eigenen Instruments mit achtstufiger Temperierung, das drei Manuale in schwarzer, weißer und roter Farbe haben sollte. Für die Tasten der vorderen Reihe war 7/8 der 38 Albert Wellek, „Quarter Tones and Progress“, in: Musical Quarterly 12. Jg. Heft 2 (April 1926), S. 231–237, hier S. 234. 39 Ebd.

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Tastenbreite eines Standardflügels vorgesehen. Ungelöst blieb indes die Frage der inneren Konstruktion des Flügels, da man nicht auf Hábas Konstruktionszeichnungen zurückgreifen konnte. Das Projekt blieb schließlich unrealisiert. Mitte der 1920er Jahre fanden einige bedeutende Konzerte mit mikrotonaler Musik statt. Am 13. April 1925 veranstalteten die auf öffentliche Ausstrahlung bedachten Mitglieder des Kreises ein Konzert in der Roten Ecke (einem mit ideologischen Symbolen der Sowjetunion geschmückten Raum) des Leningrader Konservatoriums. Auf dem Programm standen neben vierteltönigen Stücken, die Vyšnegradskij40 und Mager (Psalm) geschickt hatten, Möllendorffs Komposition op. 26 Nr. 1, Melodik [Melodika] und Poème [Poėma] von Malachovskij, Etüde [Ėtjud] und Präludium [Preljud] für zwei Flügel sowie Poème [Poėma] für ein Ensemble von Flügeln, Harfe und Harmonium von Rimskij-Korsakov. Als Publikum hatten sich Professoren, Studierende und Freunde des Kreises versammelt. Den musikalischen Darbietungen ging ein Vortrag von RimskijKorsakov voran. Er sprach über die Geschichte der vierteltönigen Musik in Russland, das Wirken des Kreises und seine Kontakte zu ausländischen Kollegen. Ferner referierte Malachovskij zum Thema „Die Beziehung der Vierteltonmusik zur proletarischen Kunst [Otnošenie ¼-tonnoj muzyki k proletarskomu iskusstvu]“. Valerian Bogdanov-Berezovskij reagierte auf die Veranstaltung mit einem Beitrag über die Aktivitäten des Kreises (veröffentlicht unter dem Pseudonym „Bemolʼ“), in dem er kritisch anmerkte, dass in Malachovskijs Referat „unverständlich geblieben“ sei, „weshalb die Vierteltonmusik lebensnotwendig und von den Massen benötigt“ sei.41 Weit mehr aber entmutigte der erste Satz, in den sich ein übler Druckfehler eingeschlichen hatte: „Der mustergültige Abend des ‚Viertelton‘-Kreises des Leningrader Konservatoriums, der am 13. April in den Räumen der Roten Ecke stattgefunden hatte, zeigte, wie wenig initiativ der Kreis bisher organisatorisch und in seiner inhaltlichen Arbeit agiert hat.“42 Die Empörung der Vierteltöner war grenzenlos, hatten sie doch tatsächlich in kurzer Zeit nicht wenig auf die Beine gestellt.43 In Russland war es das erste Konzert, das Vierteltonmusik vorstellte. Ein Teil des Publikums ging mitten in der Veranstaltung, der andere studierte aufEigentlich sollten von Vyšnegradskij auch Stücke für zwei Klaviere gespielt werden, doch hatten sich die Pianisten im Übeaufwand getäuscht, so dass dieser Programmpunkt entfallen musste. 41 Bemol’ (d. i. Valerian Bogdanov-Berezovskij), „V kružke ljubitelej četvertitonovoj muzyki [Im Kreise der Liebhaber der Vierteltonmusik]“, in: Žizn’ iskusstva [Kunstleben], 1925 Heft 17, S. 18. 42 Ebd. (Hervorhebung der Autorin). 43 Vgl. Brief Georgij Rimskij-Korsakovs an Ivan Vyšnegradskij vom 19. April 1925, Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 3f. des Briefs. 40

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merksam die Partituren.44 Es bildeten sich zwei Lager. Das eine hielt die Verwendung der neuen Tonstufen für gewagt und übertrieben, das andere dagegen für nicht hinreichend radikal. Die Angehörigen des letztgenannten Lagers meinten, die Komponisten hätten sich nicht vom Halbton-Bewusstsein gelöst und verschleierten nur das traditionelle Dur und Moll, was die Musik aber nur noch tiefer in die Arme der temperierten Stimmung treibe. In diesem Licht ist eine Äußerung des Dirigenten Igorʼ Miklaševskij bezeichnend, eines Viertelton-Verächters, der seinem alten Freund Vyšnegradskij schrieb: „Sie“ [die Mitglieder des Kreises der Vierteltonmusik] – sind in St. Petersburg leider nur ein Haufen „grüner“ und wenig gebildeter Konservatoristen, und so konntest Du in meinem Ton einen Anflug von Geringschätzung spüren. Sie überschütten mich mit Einladungen zu ihren Sitzungen, aber ich gestehe, dass ich zu keiner einzigen hingegangen bin, da ich ihren „Mangel an Seriosität“ kenne, oder besser (seriös wollen sie ja sein), ihre „Grundlosigkeit“. Ich glaube nicht, mein Lieber, dass ich ein Konservativer geworden bin, der nur einem Diplom Bedeutung beimisst, um Gottes willen; doch wenn blutjunge Leute vom Schlage Korsakows, die über triviale Salonsachen nicht hinausgekommen sind – er brachte mir seine Partitur offenbar in der Hoffnung, dass ich sie mit meinem Orchester spiele –, anfangen sich über Vierteltöne auszulassen, dann wird es lächerlich. Insgesamt versetzt mich die weitere „Befreiung“ der Musik hinsichtlich ihrer Temperierung nicht gerade in Begeisterung […].45

Doch selbst in den heftigsten Angriffen lag ein Moment der Wahrheit. Anstoß erregte vor allem die Einbettung in die Tonalität, befürchtete man doch, die Vierteltöne könnten ihre Grenzen erweitern. Rimskij-Korsakov bekannte: „Ich sah ein, dass auf Dreiklangsharmonien und selbst auf Quarten und Quinten angewandte Vierteltöne nicht den Eindruck wesenhafter Vierteltönigkeit erwecken, sondern eigentlich nur den einer applizierten.“46 Diesem Problem versuchte er lange Zeit durch die Ausarbeitung neuer ‚multitemperierter‘ Systeme zu entgehen. Der englische Komponist Alan Bush bezeichnete alle Versuche, die zwölfstufige Temperatur zu erweitern, als „Obskurantismus“: Eine solche Methode sei ‚Partituren‘ nannte man im Kreis nicht nur Partituren im üblichen Wortsinn, sondern auch zu einem Part zusammengefasste Notenausgaben für zwei Flügel. Es gab sowohl praktische Ausgaben (für jedes einzelne Instrument), in denen die Vierteltöne nicht ausgeschrieben, sondern allein durch die Stimmung des Instruments vorgegeben waren (ein Viertelton höher oder tiefer), als auch Studienpartituren, in denen sämtliche Vierteltöne als solche vermerkt waren. 45 Aus dem Brief Igorʼ Miklaševskijs an Ivan Vyšnegradskij vom 28. Januar 1924, in: Briefe Georgij Rimskij-Korsakovs an Ivan Vyšnegradskij, Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 3–4 des Briefs. 46 Aus einem Brief Rimskij-Korsakovs an Vyšnegradskij vom Mai 1925 (erstes Monatsviertel), in: Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 3 des Briefs. 44

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nicht überlebensfähig, da es ihr nicht nur an einem Fundament und der Stütze durch das Gehör fehle, sondern auch an der künstlerischen Komponente.47 Der US-amerikanische Musikhistoriker William Austin konstatierte betrübt in seiner Überblicksdarstellung Music in the 20th Century, dass die Mehrzahl der ersten Versuche mit „mikroskopisch kleinen Intervallen“ den Stempel misslungener Experimente getragen hätten: Spekulationen mit Vierteltönen um des Kultes der neuesten Kunst willen. 48 Der deutsche Musikkritiker und Komponist Artur Holde urteilte 1938, nach seiner Emigration in die USA, über die Zukunft der vierteltönigen Musik zurückhaltend, da sich beim Hören keine fremdartigen Empfindungen einstellten. Es erinnert an Ferruccio Busoni: Als dieser sein in Dritteltönen gestimmtes Instrument vorstellte, nahmen seine Freunde nur die ihnen vertraute chromatische Leiter wahr. Ähnliche Eindrücke hatten auch die Hörer von Hábas vierteltöniger Oper Die Mutter – in den meisten instrumentalen und vokalen Partien wurde man der Vierteltöne nur unter Mühen gewahr. Immerhin ermahnte Holde seine Leser zu Geduld: „We should not therefore dismiss a theory as false simply because it cannot immediately be put into practice“.49 Am Ende seiner Überlegungen zur Zukunft der Vierteltöne stellt er die Frage, ob die bisherigen Erschließungsversuche nicht nur ein ‚leerer Zeitvertreib‘ gewesen seien. Er vertritt die Auffassung, Vierteltöne hätten ihren musikgeschichtlichen Platz vor allem in der mechanischen Musik, wo exakte Wiedergabemöglichkeiten gesichert seien.50 Dem ersten Konzert mit mikrotonaler Musik in Russland folgte am 25. Mai 1925 ein zweites. Es wiederholte die meisten Stücke des ersten Konzerts, ferner erklang das fertig einstudierte vierhändige Stück von Vyšnegradskij. Zur Diskussion gestellt wurden ein neues Präludium von Rimskij-Korsakov für zwei Flügel, zwei Hörner und Harmonium sowie zwei Skizzen von Aleksandr Kenelʼ für zwei Flügel, Harmonium und Harfe. Der Musik schlossen sich Grußworte und eine harmonisch verlaufende Erörterung über die Gründungschancen eines VierteltonOrchesters an. Die von der Tiefe der Beiträge selbst überraschten Vierteltöner planten schon für September eine Fortsetzung mit Konzerten im Haus der Künste oder im Kreis der Kammermusikfreunde. 51 Unter Hochdruck begannen die Vgl. A[lan] Buš, „Sovremennye tečenija zapadnoj muzyki [Zeitgenössische Strömungen der westlichen Musik]“, in: Sovetskaja muzyka, 1938 Heft 12, S. 93–101, hier S. 96. 48 William W. Austin, Music in the 20th Century from Debussy through Stravinsky, New York: Norton, 1966, S. 381. 49 Vgl. Artur Holde, „Is There a Future for Quarter-Tone Music?“, in: The Musical Quarterly, 24. Jg. Heft 4 (1938), S. 528–533, besonders S. 532f. (Zitat S. 532). 50 Ebd., S. 533. 51 Vgl. Brief Rimskij-Korsakovs an Vyšnegradskij vom 20. September 1925, Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 1 des Briefs. 47

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Komponisten an neuen Werken zu arbeiten: Rimskij-Korsakov an einem Lied [Romans] mit begleitendem vierteltönigen Ensemble, Malachovskij an einer Kammersymphonie [Kamernaja simfonija] für dasselbe Ensemble und Kenelʼ an einer Sonate für ebenfalls dasselbe Ensemble, ergänzt um zwei Klarinetten in B und Ait52 sowie eine Violine mit einer umgestimmten Saite. Vor dem Hintergrund der anwachsenden Aktivitäten des Kreises wurde am 22. Juni 1925 im Institut für die Geschichte der Künste am Isaaksplatz ein einzigartiges musikakustisches Laboratorium eröffnet. In ihm machten sich neben Musikwissenschaftlern auch Elektrotechniker und sogar auf die Gehörorgane spezialisierte Ärzte an die Erforschung von Hör- und Redephänomenen. Zu den Referenten bei der Eröffnung gehörte (neben den Professoren Valentin Kovalenkov, Vladimir Feoktistov und Sergej Dianin) auch Rimskij-Korsakov, der in seiner Eigenschaft als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts ultrachromatische Klänge an Apparaten des Laboratoriums vorführte.53 In der Folge wurde er regelmäßig zu Seminaren und Konferenzen zu Fragen der Ultrachromantik eingeladen. Auf die intensiven Aktivitäten des Kreises der Vierteltonmusik reagierte das Staatliche Institut für Musikwissenschaft in Moskau mit einer von Pavel Renčickij initiierten Vortragsreihe zu Fragen der Temperierung. Und im April 1927 referierte Rimskij-Korsakov dort über vierteltönige diatonische Leitern und Kombinationstöne und präsentierte den Moskowitern sein – sich von den Ansätzen der Kollegen unterscheidendes – System der Mikrotöne. Am 11. April 1927 kam es zu einer Vorführung von Vierteltonmusik auf Instrumenten, die schöpferische Kräfte des Moskauer Konservatoriums (im Rahmen von dessen Möglichkeiten) hergerichtet hatten. Wichtige Musiker der Vorstellung waren Lev Oborin und Vissarion Šebalin, d. h. Mitglieder der sogenannten Moskauer Sechs [Šesterka]54 und Freunde Dmitrij Šostakovičs. Der Rezensent des Abends, der Musikwissenschaftler Viktor Beljaev, war beeindruckt von der Musikalität der vier Werke. Er war soeben erst von einem Konzert mit Vierteltonmusik aus Prag zurückgekehrt und konnte vergleichen. Hábas Fantasie Nr. 2 op. 19 für Vierteltonklavier bezeichnet er nur als „klinMit „ait“ wird gemäß der Nomenklatur Rimskij-Korsakovs ein um einen Viertelton erhöh– tes a bezeichnet [Anm. d. Übers.]. 53 O. Verf., „Obzor. Institut istorii iskusstv [Umschau. Das Institut für die Geschichte der Künste]“, in: Žizn’ iskusstva, 1925 Heft 27, S. 24. 54 Moskauer Sechs – Kreis junger Moskauer Komponisten, der seinen Namen in Anlehnung an die französische Gruppe Les Six erhielt. Ihm gehörten über Lev Oborin (1907–1974) und Vissarion Šebalin (1902–1963) hinaus Michail Starokadomskij (1901–1954), Michail Čeremuchin (1900–1983), Jurij Nikolʼskij (1895–1982) und Michail Kvadri (1897–1929) an [Anm. d. Übers.]. 52

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gende Mathematik“, und obwohl er den drei Stücken für Harmonium, Flügel und Harfe von Malachovskij (Präludium), Kenelʼ (Skizze) und Rimskij-Korsakov selbst (Gedicht) Naivität und Hausbackenheit in der Darbietung attestiert, bringt er ihnen recht hohe Wertschätzung entgegen. Folgt man Beljaev, eigneten sich die russischen Vierteltöner die neue komplizierte Tonmaterie unter dem Vorzeichen der Emotion an, „und nicht als musikalisch-abstraktes Kompositionssystem wie Hába bei seinen schöpferischen Experimenten mit Vierteltonmusik.“55 Auf dem Höhepunkt der Aktivitäten des Kreises der Vierteltonmusik zeigten sich erste Zerfallserscheinungen. Bereits im Sommer 1926 hatte Rimskij-Korsakov sich gegenüber Vyšnegradskij skeptisch über das Fortleben des Kreises geäußert.56 Sich weiter zu engagieren, empfand er als Bürde und entschied daher, den Kreis aufzulösen oder, genauer gesagt, in ein Seminar umzuwandeln, dessen Leitung er (ab Mai 1927) am Konservatorium übernahm. So wurde aus dem Kreis nach und nach ein Musikseminar zur Vermittlung historischen Wissens über musikalische Temperierungen. Die ganze praktische Arbeit des Kreises ging in sein Seminar über. Planungen sahen vor, das musikalische Instrumentarium (womit die Aufgabe der Konzerttätigkeit verbunden war) an das bereits inoffiziell kooperierende Institut der Geschichte der Künste zu überführen, wo damals (Anfang Oktober 1927) eine der physikalisch-mathematischen Kommission (der Theoriesektion) beigeordnete ‚ultrachromatische Unterkommission‘ gebildet worden war. Ob diese Planungen umgesetzt wurden, ist unbekannt. Das Seminar existierte noch einige Jahre. Am 7. April 1928 schreibt Rimskij-Korsakov voller Begeisterung an Vyšnegradskij: „Bei mir am Konservatorium vierteltönt es; eine neue Interpreten-Generation ist eingetroffen.“57 Anfang 1929 verteidigte Rimskij-Korsakov seine Dissertation Die Lehre von der musikalischen Tonreihe [Učenie o muzykal’nom zvukorjade] und erhielt den Rang eines wissenschaftlichen Mitarbeiters erster Ordnung am Russischen Institut der Geschichte der Künste. Die Arbeit sollte publiziert werden, was jedoch nicht geschah; die Dissertation selbst ist verschwunden.58 Zu dieser Zeit zerfiel der Kreis endgültig, und auch die Kontakte zu den deutschen Komponistenkollegen brachen ab. Was könnte der Auslöser dafür gewesen sein?

55 Viktor Beljaev, „Četvertitonnaja muzyka [Vierteltonmusik]“, in: Žizn’ iskusstva, 1927 Heft 19, S. 8. 56 Aus dem Brief Rimskij-Korsakovs an Vyšnegradskij vom 4. Juni 1926, in: Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1, fol. 2 des Briefs. 57 Postkarte Georgij Rimskij-Korsakovs an Ivan Vyšnegradskij vom 7. April 1928, in: Sammlung Ivan Wyschnegradsky (wie Anm. 10), MF 258.1. 58 Georgij Rimskij-Korsakovs Archiv ging während der Leningrader Blockade verloren.

Mikrotonale Allianz

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Dass Rimskij-Korsakov über die Passivität der Mitglieder des Kreises klagte, war nicht anders zu erwarten: Bis 1929 hatten sämtliche Mitglieder das Konservatorium absolviert, neue Kräfte kamen nicht hinzu. Die Komponisten Kenelʼ und Malachovskij gingen auf den gleichschwebend-temperierten Weg über. Der Kreis erneuerte sich in verschiedenen Seminaren zu Problemen der Temperierung, doch neue Enthusiasten kamen nicht hinzu. Überdies begann sich auch Rimskij-Korsakov selbst in neue Gebiete zu vertiefen – in Probleme der physikalischen Beschaffenheit des Tons, der Akustik, der Farbenmusik und der Funktionsweise musikalischer Maschinen. Doch gibt es noch eine andere Lesart: So erinnert sich ein Mitglied des Kreises, Marija Ožigova, an einen „zähnesplitternden“ Artikel der Leningradskaja Pravda (offenbar aus Anlass eines Konzerts von 1925), in dem die Vierteltöner als „Vorkämpfer des Formalismus“ beschuldigt „und dem Treiben ein Ende gesetzt wurde. Der Kreis zerfiel, doch blieben die Freundschaften innerhalb der ‚Viertelton-Gruppe‘ erhalten und festigten sich sogar.“59 Es ist gut möglich, dass der Kreis durch die Konservatoriumsleitung faktisch härteren Sanktionen ausgesetzt war, was der gedeihlichen Arbeit ein Ende setzte. Ende der 1920er Jahre kamen die Aktivitäten des Staatlichen Instituts für Musikwissenschaft, das kaum ein Jahrzehnt lang existiert hatte, fast zum Erliegen. Die Sowjetregierung hatte zu dieser Zeit längst die Förderung innovativer Ansätze, die selbst in der Sphäre der Kunst nur noch ein lahmes Echo fanden, aufgegeben. In Russland brach die Entwicklung der mikrotonalen Musik auf ihrem Höhepunkt ab. Jahrelang hatte man Forschungsanstrengungen verstärken, Experimente optimieren und eine wachsende Anzahl neugieriger Forscher und Musiker einbinden können. Die erwähnten Projekte, Kompositionssysteme und musikalischen Werke zeugen von einer hohen Energie und Schöpferkraft ihrer Protagonisten. Das spezifische Interesse der mikrotonalen Anstrengungen in Russland galt den Geheimnissen des Klangs, seiner Qualität und Rolle in der künftigen Musik. In der Nutzung von Vierteltönen sahen die Novatoren der 1910er und 1920er Jahre das einzige Mittel zur Erweiterung der zwölfstufigen Temperierung. Zaghafte Versuche der Einführung eines 53-stufigen Systems in der Oktave waren seinerzeit nicht von Erfolg gekrönt. Doch viel wichtiger ist, dass die Komponisten und Theoretiker sich überhaupt den Forderungen nach einer Erweiterung des halbtönigen Systems anschlossen. Marija P. Ožigova, „Mitja, Dmitrij Dmitrijevič“, in: Muzykal’naja pedagogika v idejach i licach. Sbornik statej k 25-letiju konservatorii [Musikpädagogik in Konzepten und Personen, Sammelband mit Aufsätzen zum 25-jährigen Bestehen des Konservatoriums], hrsg. von Aleksandr Selickij, Rostow am Don: Izdatelʼstvo Rostovskogo gosudarstvennogo pedagogičeskogo instituta, 1992, S. 84–97, hier S. 85f. 59

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Die Idee mikroskopischer Genauigkeit des Ausdrucks war ein Anliegen derer, die für eine Musik ohne Schranken kämpften. Diese Akteure einte der Wille, die herkömmliche Temperierung zu entthronen, und ihre Bestrebungen kulminierten in den ereignisreichen 1920er Jahren, einer Epoche des stürmischgrellen Aufblühens der mikrotonalen Musik. Mit den 1930er Jahren folgte eine Zeit der Reaktion, in der man die Errungenschaften der Vergangenheit sowie die Ergebnisse des intensiven Kulturaustauschs zwischen Sowjetrussland und Deutschland zunächst einmal zu verarbeiten hatte. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer

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„Mittler für die deutsch/russischen Musikbeziehungen“ – Wladimir Vogel und die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland An den intensiven Kontakten, die nach dem Ersten Weltkrieg zwischen den Musikszenen der Sowjetunion und der Weimarer Republik einsetzten, wurden in der Literatur bislang vor allem die produktiven Aspekte des künstlerischen Austauschs und der gegenseitigen Inspiration hervorgehoben. Die älteren Arbeiten stammten überwiegend aus der Sowjetunion oder ihrem hegemonialen Vorfeld und priesen die Zeit zwischen 1918 und 1933 als erste Blüte einer ‚deutsch-sowjetischen Freundschaft‘, die durch die faschistische Aggression unterbrochen, danach aber zumindest im östlichen Teil Deutschlands wieder aufgenommen worden sei.1 Damit wurzelte die rundum positive Bewertung dieser Phase zunächst fest in der Sowjetideologie. Spätere Studien hingegen, zumal aus westlicher Perspektive, akzentuierten die repressiven Züge der Kulturpolitik in der UdSSR. Sie konzentrierten sich auf Komponisten und Musiker, die ab den frühen 1930er Jahren unter Stalin verdrängt worden waren und demzufolge in der älteren Literatur nicht vorkamen.2 Obgleich demnach das neuere Urteil über die fragliche Phase einem diametral anderen Impuls entsprang als das ältere, fiel es aufgrund der vielfältigen Entdeckungen, die es zu machen gab, ähnlich begeistert aus. Rückblickend wäre allerdings selbstkritisch einzuräumen, dass dieser Enthusiasmus den Blick für die Hürden und Grenzen, die dem deutsch-sowjetischen Musikaustausch in der Realität gesetzt waren, ein wenig getrübt hat. Gesehen wurden eher die geglückten als die gescheiterten Kontakte, eher die erfolgreichen als die vergeblichen Bemühungen. Damit das Bild indessen nicht idealisiert ausfällt, müssen auch die Schwierigkeiten, die es gab, gezielt erforscht und klar benannt werden. 1 Typisch hierfür etwa Israil Nestjew, „Eisler und Dawidenko: Schöpferische Beziehungen zwischen zwei Komponisten der Arbeiterklasse in Deutschland und der Sowjetunion“, in: Musik und Gesellschaft, 28. Jg. Heft 7 (1967), S. 406–441. 2 Stellvertretend seien hier die Pionierarbeiten von Inna Barsova und Detlef Gojowy genannt: Inna Barsova, „Aleksandr Mosolov: dvadcatye gody [Die 1920er Jahre]“, in: Sovetskaja muzyka, 1976 Heft 12, S. 77–86; Detlef Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Laaber: Laaber, 1980.

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Exemplarisch lässt sich hier mit Blick auf die Musiksektion der Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland differenzieren. Die Zusammenarbeit dieser Sektion mit den sowjetischen Kollegen ist in der Vergangenheit – insbesondere von mir selbst – aufgrund der publizierten Quellen als partnerschaftlich und ergiebig dargestellt worden.3 Das trifft auf der Ebene der beteiligten Künstler auch durchaus zu. Doch habe ich dabei die Frage, inwieweit die Gesellschaft autonom agierte oder der auswärtigen Kulturpolitik Sowjetrusslands als Werkzeug diente, zu stark ausgeblendet. Denn einige Forscherinnen und Forscher vertreten mittlerweile die Meinung, dass sich die UdSSR mit Hilfe der Gesellschaft, wie etwa Olga Saitschenko befindet, „in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten“ einmischte.4 Um diese Sicht zu untermauern, weisen Saitschenko und andere insbesondere auf die engen Verbindungen zwischen der Gesellschaft und der staatlichen sowjetischen Vsesojuznoe obščestvo kulʼturnoj svjazi s zagranicej hin (VOKS, Allunionsgesellschaft für kulturelle Verbindungen mit dem Ausland). Gegründet 1925, wurde die VOKS bis 1929 von Olʼga Kameneva geleitet, der Schwester Lev Trockijs und ersten Ehefrau von Lev Kamenev. Inoffiziell hatte Kameneva bereits seit 1923, dem Gründungsjahr der Gesellschaft, die auswärtigen Kulturbeziehungen koordiniert. Sie verlor jedoch nach Trockijs und Kamenevs Sturz 1927 zunehmend an Einfluss, wurde 1935 verbannt und schließlich 1941 hingerichtet. Ihr folgte als Leiter der VOKS Fedor Petrov, mit dem die Gesellschaft dann bis zu ihrer Auflösung Anfang 1933 zu tun hatte. Die weitreichende Abhängigkeit der Gesellschaft von der VOKS geht aus den Akten der letzteren, die im Gosudarstvennij archiv Rossijskoj Federacii (GARF, Staatsarchiv der Russischen Föderation) aufbewahrt werden, klar hervor. So bezahlte die VOKS etwa den einzigen Mitarbeiter der Gesellschaft, der sich „Sekretär“ nannte – ein Posten, den nach der Gründung im Juni 1923 zunächst 3 Vgl. Friedrich Geiger, Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin, Kassel: Bärenreiter, 2004, S. 45–50. 4 Olga Saitschenko, „Die Kulturpolitik der UdSSR gegenüber Deutschland in der Weimarer Republik“, in: Annäherungen an die russische und die deutsche Geschichte: Berichte des Forschungszentrums für deutsche Geschichte in Moskau, hrsg. von Jakow Drabkin, Köln: Wostok, 1996, S. 65–76, hier S. 71. Die Gesellschaft insgesamt liefert aus Saitschenkos Sicht „bereits in ihrer Gründungsphase und während ihres gesamten Bestehens ein Beispiel für die grobe Einmischung der UdSSR in innere Angelegenheiten Deutschlands, um dort die öffentliche Meinung zu formen“ (ebd., S. 75). Siehe zur Gesellschaft und ihren Hintergründen auch die Arbeiten von Edgar Lersch, Die auswärtige Kulturpolitik der Sowjetunion in ihren Auswirkungen auf Deutschland 1921−1929, Frankfurt am Main: Peter Lang, 1979, vor allem S. 75–84; Rolf Elias, Die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland. Mit vollständigem Inhaltsverzeichnis aller Jahrgänge der Zeitschrift „Das neue Rußland“ 1923–1932, Köln: Pahl-Rugenstein, 1985 sowie Christoph Mick, Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan und deutsche Rußlandpolitik 1928−1932, Stuttgart: Franz Steiner, 1995, vor allem S. 182–197.

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der Kunsthistoriker Erich Lehmann-Lukas, ab Februar 1924 dann der Journalist und Jurist Erich Baron innehatte. Die VOKS finanzierte zudem die Zeitschrift Das neue Rußland, die zwischen 1923 und 1932 erschien und übereinstimmend als wichtigster Kanal für die Arbeit und Anliegen der Gesellschaft betrachtet wird.5 Vor diesem Hintergrund gewannen die regelmäßigen detaillierten Tätigkeitsberichte, die der Sekretär der Gesellschaft nach Moskau sandte, den Charakter von Rapporten. In einem Konzeptpapier der VOKS aus dem Jahr 1926 heißt es denn auch unmissverständlich: „Im politischen Teil ihrer Arbeit organisiert die UGKB [= VOKS6] in den kapitalistischen Staaten eine Öffentlichkeit zugunsten der Sowjetunion. Zu diesem Zweck hat die UGKB die Gesellschaften für Kulturbeziehungen mit der UdSSR gegründet“ – auch die deutsche Gesellschaft wird demnach aus sowjetischer Perspektive ausschließlich als Instrument der Propaganda und der auswärtigen Politik gesehen. „Diese Gesellschaften“, so heißt es genauer, „schaffen unter Leitung der UKGB eine günstige gesellschaftliche Lage zur Unterstützung des politischen Kurses der sowjetischen bevollmächtigten Vertretungen und beeinflussen entsprechenderweise die Intelligenz der kapitalistischen Staaten.“ Zugleich setzte sich die VOKS zum Ziel, über die kulturelle Arbeit der Gesellschaften „einen Teil der Bourgeoisie zu neutralisieren und ihn bei einer beliebigen politischen Komplikation in bedeutendem Maße lahmzulegen.“7 An den Absichten, welche die sowjetische Außenpolitik mit der Gesellschaft verfolgte, bleiben hier keine Zweifel. Gerade der Blick auf die Musikarbeit der Gesellschaft zeigt jedoch auch, dass Letztere die Pläne der VOKS keineswegs reibungslos umsetzte, sondern dieser lange Zeit durch Eigeninitiative, Naivität bezüglich der sowjetischen Absichten8 und abweichende Konzepte Verdruss bereitete. Wenn daher im Folgenden die musikalischen Aktivitäten der Gesellschaft umrissen und untersucht werden, bezweckt dies nicht einen lückenlosen Überblick, der in Anbetracht der hierfür erforderlichen umfassenden Recherchearbeit einer späteren Darstellung vorbeVgl. die in der letzten Anmerkung genannte Literatur. UGKB ist das deutsche Äquivalent der Abkürzung VOKS und steht für „Unions-Gesellschaft für kulturelle Beziehungen“. 7 Moskau, GARF, ehemals CGAOR (Zentrales Staatliches Archiv der Oktoberrevolution), Fond 5283, Bestand 1, Akte 100, Bl. 118; zitiert nach Saitschenko, „Kulturpolitik der UdSSR“ (wie Anm. 4), S. 71. 8 Dabei formulierte Olʼga Kameneva die Interessen der VOKS mehrfach sehr deutlich, etwa in einem Brief an Erich Baron vom 17. (?) 3. (?) 1928: „Besonders wäre erwünscht Charakteristiken über mehrere Mitglieder der Gesellschaft, Angaben über ihr politisches Gesicht, Vergangenheit und Gegenwart, Fach, Profession, wissenschaftliche Arbeiten und Verdienste u.s.w. Dieses Material ist für uns von grosser Wichtigkeit“; Berlin, Bundesarchiv (im Folgenden BArch), N 2626/47. 5 6

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halten bleiben muss. Vielmehr geht es darum, stichprobenartig die Übereinstimmungen und Diskrepanzen auszuloten, die zwischen der VOKS und der Gesellschaft hinsichtlich der Musikarbeit bestanden, und die Bedeutung und Reichweite der Musiksektion besser einzuschätzen. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem Komponisten Wladimir Vogel (Vladimir Fogelʼ, 1896–1984) zu, der zwischen 1926 und 1932 die Arbeit der Musiksektion in der Gesellschaft aktiv mitbestimmte.9 In Moskau als Sohn eines deutschen Vaters und einer russischen Mutter geboren, kam Vogel nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin, wo ihn Ferruccio Busoni in seine Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste aufnahm. Der internationale Durchbruch glückte dem Komponisten 1931 mit den Zwei Etüden für Orchester, einem Sensationserfolg. Doch die sich anbahnende Karriere brach mit der Machtübergabe an die NSDAP abrupt ab. Bereits im April 1933 verließ Vogel, der seiner jüdischen Herkunft und seiner kommunistischen Gesinnung wegen akut bedroht war, das Land und begab sich auf eine jahrelange Odyssee, bis er ab 1939 in der Schweiz dauerhaft Zuflucht fand. Neben den Artikeln, die Vogel für Das neue Rußland verfasste,10 und der einschlägigen Literatur dient für das Folgende als Quellenkorpus der Vorlass der Archivarin und promovierten Historikerin Gerlinde Grahn (*1938), den sie vor wenigen Jahren dankenswerterweise dem Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde übergab. Grahn hatte jahrelang Material für eine umfassende Darstellung der Gesellschaft und ihres Generalsekretärs Erich Baron gesammelt und unter anderem die im GARF vorhandenen Bestände ausgewertet. In Kopie finden sich große Teile der Korrespondenz zwischen dem Sekretariat der Gesellschaft und der VOKS, die zumindest punktuelle Einblicke in musikbezogene Angelegenheiten ermöglichen.

Bei der Entscheidung für die durchgängige Verwendung der transkribierten Namensschreibweise folgt der Aufsatz Vogels eigener Präferenz. Ausführlich zu Vogels Biographie und Œuvre siehe Friedrich Geiger, Die Dramma-Oratorien von Wladimir Vogel, 1896–1984, Hamburg: von Bockel, 1998 und Doris Lanz, Zwölftonmusik mit doppeltem Boden. Exilerfahrung und politische Utopie in Wladimir Vogels Instrumentalwerken, Kassel: Bärenreiter, 2009. 10 Namentlich gezeichnete Artikel sind: „Neue russische Musik“, in: Das neue Rußland, 4. Jg. Heft 1/2 (1927), S. 85f.; „Fünf Jahre Persimfans. Das Orchester ohne Dirigenten“, ebd., Heft 7/8, S. 73–75; „Russische Musik und russische Musiker in Berlin“, ebd., Heft 9/10, S. 109f.; „Neue Musik vor einem Arbeiterauditorium“, ebd., 5. Jg. Heft 11/12 (1928), S. 50; „Die erste allukrainische Musikolympiade“, ebd., 8. Jg. Heft 6/7 (1931), S. 84f.; „Die Oper in der Sowjetunion“, ebd., S. 85f.; „15 Jahre Arbeit an der musikalischen Front“, ebd., 9. Jg. Heft 7/8 (1932), S. 83–85. 9

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Von der Innovation zur Ideologie – die Musikveranstaltungen der Gesellschaft Am 6. September ihres Gründungsjahres 1923 hatte die Gesellschaft 160 Mitglieder, wie aus einem Bericht von Lehmann-Lukas hervorgeht.11 Unter den Namen, die er aufzählt, finden sich aus dem musikalischen Bereich Persönlichkeiten wie Gustav Brecher, Max von Schillings, Rudolf Serkin und Adolf Weißmann. Letzterer fungierte ab November 1923, als die Gesellschaft verschiedene „Arbeitssektionen“ einrichtete,12 als Musikfachmann innerhalb der „Sektion für Kunst“ − „an deren Spitze“, so Lehmann-Lukas, „je ein prominenter Vertreter der verschiedenen Gebiete steht“. Neben Weißmann waren dies der Kunsthistoriker und Kulturpolitiker Erwin Redslob für die bildenden Künste, der Schriftsteller Bernhard Kellermann für Dichtung und Leopold Jessner, der Regisseur und Intendant des Staatlichen Schauspielhauses in Berlin, für Theater.13 Bereits in der frühen Phase der Musikarbeit in der Gesellschaft ist die Absicht erkennbar, musikalisch Innovatives aus der Sowjetunion zu präsentieren. So berichtete Lehmann-Lukas am 30. November 1923 an Kameneva, es sei für die Wintersaison ein „musikalischer Abend geplant, an welchem Generalmusikdirektor [Paul] Scheinpflug, der Mitglied der Gesellschaft wurde, mit dem philharmonischen Orchester und einer Pianistin, welche speziell neueste russische Musik kultiviert, neue, noch unbekannte russische Musik zur Aufführung bringen wird“.14 Allerdings ließ sich bisher nicht verifizieren, ob das Konzert tatsächlich stattgefunden hat und falls ja, mit welchem Programm. Der musikalisch eher im späten 19. Jahrhundert beheimatete Scheinpflug (1875–1937), damals Musikdirektor der Duisburger Oper,15 war jedoch langfristig wenig geeignet, den musikalischen Aktualitätsanspruch der Gesellschaft umzusetzen, während sich Weißmanns Engagement in Grenzen gehalten zu haben scheint. Zumindest vermitteln die musikalischen Aktivitäten in den Anfangsjahren eher einen improvisierten Eindruck. Wenn prominente russische Künstler in Berlin gastierten, ergriff Baron die Gelegenheit und versuchte, sie für einen zusätzlichen Auftritt im Namen der Gesellschaft zu gewinnen. Auf diese Weise kam etwa am 25. Januar 1926 ein Konzert mit Nathan Milstein zustande: „Der grosse Saal des ‚Russischen Hofes‘ war überfüllt. Presse, Publikum, Prominente aller Art“, rapportierte Baron an die „Umfassender Bericht über die Arbeit der Berliner ‚Gesellschaft der Freunde des neuen Russland‘“, o. D. [September 1923], BArch N 2626/34. 12 Erich Lehmann-Lukas an Kameneva, 30. 11. 1923, BArch N 2626/37. 13 Ebd. 14 Lehmann-Lukas an Kameneva, 30. 11. 1923, BArch N 2626/37. 15 Vgl. Erwin Kroll, Art. „Scheinpflug, Paul“, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 11, Kassel: Bärenreiter, 1963, Sp. 1655f. 11

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VOKS. „Milstein spielte besonders hinreissend Teufelstrillersonate, das Glazunoffkonzert und Carmenfantasie von Sarasate“16 – ein Programm also, das ganz auf den Virtuosen zugeschnitten war, anstatt Einblicke in das aktuelle russische Musikschaffen zu gewähren. Offenkundig bestand demnach ein gewisses Vakuum hinsichtlich der Musikarbeit, das schließlich der damals 30-jährige Vogel zu füllen vermochte. Ab dem Spätsommer 1926, für den die Korrespondenz erstmals seine Mitarbeit dokumentiert,17 kam man den ursprünglichen Intentionen spürbar näher − die Veranstaltungen folgten nun einem deutlicheren Konzept. Im September 1926 berichtete Baron der VOKS, die Gesellschaft wolle demnächst den 1. Russischen Musikabend veranstalten. Es soll an 3–4 solchen Abenden den Mitgliedern und darüber hinaus ein Ueberblick über die schöpferische musikalische Arbeit, die seit der Revolution in Russland geleistet wurde, ermöglicht werden und Werke junger russischer Komponisten zu Gehör gebracht werden. Für die Wiedergabe haben bedeutende russische und deutsche Künstler Zusagen gemacht. Wichtige Vorarbeiten für die Programme leisten die Musiker [Wladimir] Vogel und [Ernst Boris] Chain, Frau [Therese] Petzko-Schubert u. a. m. Es liegt uns nun daran, durch Ihre Vermittlung etwa von [Leonid] Sabanejew und [Samuil] Feinberg, denen ich davon Mitteilung zu machen bitte, für die Konzerte veröffentlichtes und unveröffentlichtes Material in Kammer-, Instrumental- und Vokalmusik (auch Chöre) zu erhalten. Es müsste durch Sie direkt an unsere Gesellschaft geschickt werden. Sowohl durch die Pressebesprechungen wie durch die Interessengemeinschaft mit radikalen Künstlervereinigungen (Novembergruppe, Internationale Gesellschaft f. neue Musik) wird das Interesse weiter geführt und Austauschprogramme, Künstlergastspiele können zustande kommen. 18

Da das erste Konzert dann bereits zwei Wochen später, am 30. September 1926, im großen Saal des Hotels Russischer Hof in der Georgenstraße stattfand, konnte hier noch kein Material aus Moskau Verwendung finden. Das Programm, das Franz Osborn, Olga Schaeffer-Eisner und Bruno Eisner interpretierten, brachte Sonaten und Lieder von Aleksandr Skrjabin, Sergej Prokof’ev und Anatolij Aleksandrov. Zwar konnte man das Manko, dass es sich dabei nicht wirklich um „junge russische Komponisten“ handelte und die Veranstaltung somit noch eher im bisherigen Fahrwasser dümpelte, notdürftig mit der chronologischen Anlage der Abende rechtfertigen. Gleichwohl spießte die Kritik in der Presse genau diesen Aspekt auf. „So unbekannt und der Förderung bedürftig, wie der Vorsitzende Baron an Kameneva, 26. 1. 1926 (BArch N 2626/44). Auch mit Vladimir Horowitz verhandelte Baron um diese Zeit; ein Konzert für die Gesellschaft lässt sich allerdings bisher nicht nachweisen (vgl. Baron an Kameneva, 15. 1. 1926, ebd.). 17 Baron an das Sekretariat der VOKS, 17. (?) 9. 1926, BArch N 2626/45. 18 Ebd. 16

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der Gesellschaft meint, sind die nun aufgeführten Autoren bei uns freilich nicht“, schrieb beispielsweise die Deutsche Tageszeitung. „Skrjabin dürfte zudem kaum zu ihnen gehören −, immerhin hört man gerne eine Klaviersonate von Prokofjev, deren erster Satz einen thematischen Keim zu interessanter Entfaltung bringt, während Lieder von Alexandrow recht romantisch-sentimental anmuteten.“19 Nachdem dann – offenkundig durch Vermittlung der VOKS – der Russische Staatsverlag Werke geschickt hatte,20 konnte man in den nächsten beiden Konzerten endlich Novitäten präsentieren. Das zweite, ebenfalls im Russischen Hof, fand am 7. Dezember 1926 statt.21 Es erklangen Werke von Nikolaj Roslavec (Cellosonate), Sergej Evseev (Heroisches Poem), Aleksandr Krejn (Poème) und Aleksandr Dzegelenok (Klaviertrio), gespielt von Stefan Frenkel (Violine), Paul Hermann (Cello) und Antin Rudnickij (Klavier).22 Das dritte Konzert fand unter dem programmatischen Titel „Neue Russische Musik“ am 21. Januar 1927 im Meistersaal in der Köthener Straße statt. Vogel war es gelungen, mit Claudio Arrau und dem Guarneri-Quartett damals noch wenig bekannte, aber erstklassige Interpreten zu verpflichten, die ausschließlich deutsche Erstaufführungen präsentierten.23 Arrau eröffnete den Abend mit zwei Choralvorspielen von Johann Sebastian Bach in einer Bearbeitung von Samuil Fejnberg – ein Programmpunkt, der vielleicht bewusst deutsch-russische Musikbeziehungen symbolisieren sollte. Es folgten Trois Préludes en forme de canons von Aleksej Stančinskij, Sonatine 1923 von Adrian Šapošnikov, das Streichquartett g-Moll op. 7 von Anatolij Aleksandrov, eine Sonate für Viola und Klavier von Vasilij Širinskij, Einfache Rede (Drei Klavierstücke) von Aleksandr Abramskij und die Sechste Klaviersonate op. 13 von Samuil Fejnberg. Wenige Tage nach dem dritten Konzert konnte Baron der VOKS berichten, es habe „bei unseren Mitgliedern und der Presse grossen Anklang“24 gefunden. Aus demselben Brief geht hervor, dass seitens der VOKS offenkundig der „Wunsch auf engere Verbindung der russischen mit den deutschen musikalischen Stellen“ bestand, den Baron „durch unsere Musiksektion weitergeleitet“ hatte.25 Möglicherweise ist es auf diesen Wunsch zurückzuführen, dass das nächste Kon19 Dr. Peter Wadernagel, „Konzerte“, in: Deutsche Tageszeitung, Abend-Ausgabe vom 5. 10. 1926, S. 2–3, hier S. 3. 20 Vgl. Vogel, „Neue russische Musik“ (wie Anm. 10), sowie das Schreiben des VOKSSekretariats an Baron, 28. 9. 1926, BArch N 2626/45. 21 Notiz in Das neue Rußland, 3. Jg. Heft 11/12 (1926), S. 55–56. 22 Vgl. ebd., Vogel, „Neue russische Musik“ (wie Anm. 10), sowie den kurzen Bericht in der Rubrik „Konzert“ der Musikblätter des Anbruch, 9. Jg. Heft 5–6 (Mai/Juni 1927), S. 261. 23 Programmzettel in BArch N 2626/46. 24 Baron an VOKS, 1. 2. 1927, BArch N 2626/46. 25 Ebd.

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zert am 20. September 1927 offiziell als Kooperation mit der „Assoziation für zeitgenössische Musik“ (Associacija sovremennoj muzyki, ASM) in Moskau angekündigt wurde.26 Zugleich jedoch machte Vogel in seinem Artikel über das Konzert keinen Hehl daraus, dass hier pragmatisch die „Anwesenheit einiger prominenter Vertreter der russischen Musiker, die […] in Berlin weilten und zum Teil für große Tourneen in Deutschland und im Ausland verpflichtet sind“, genutzt worden war.27 Fejnberg, Mitglied der ASM und gefeierter Klaviervirtuose, spielte im Meistersaal ein Programm mit eigenen Werken, die durch Kompositionen der ASM-Kollegen Anatolij Aleksandrov, Nikolaj Mjaskovskij und Leonid Polovinkin sowie durch Werke von Stančinskij und Skrjabin ergänzt wurden.28 Mit diesem Abend, der „einer der nachhaltigsten“ gewesen sei, zeigte sich der sehr anspruchsvolle Vogel in seiner Besprechung rundum zufrieden. Er wies ausdrücklich darauf hin, dass neben Vertretern der russischen Botschaft und „zahlreichen Kritikern hauptsächlich Berliner Musiker versammelt“ gewesen seien, die bei dieser Gelegenheit mit dem vorgestellten Repertoire in Berührung kamen.29 Nachhaltig wirkte das Konzert indessen auch bei Vogel selbst, wie die bemerkenswerte Verwandtschaft zwischen Fejnbergs Berceuse und dem Klavierstück Variétude (Chaconne) zeigt, das Vogel im Juni 1931 komponierte (siehe Notenbeispiele 1a und 1b).30 Beide Stücke stehen, bei vergleichbarem Umfang, 31 in langsamem Tempo und in ungerader Taktart. Begleitung und Melodiestimme beginnen im selben hohen Register, mit einem nahezu identischen Ambitus von es1 bis c2 in der Begleitung bzw. des2 bis as2 in der Melodiestimme bei Fejnberg, d1 bis c2 in der Begleitung bzw. b1 bis ges2 in der Melodiestimme bei Vogel. Als Begleitung fungiert in beiden Fällen eine ostinate, aus einer aufsteigenden Dreitonfolge gewonnene Pendelfigur. Die Konturen der Diskantmelodien weisen Programmzettel in BArch N 2626/46. Vogel, „Russische Musik und russische Musiker“ (wie Anm. 10). 28 Im Einzelnen nennt der Programmzettel die Sonate F-Dur und Esquisses von Aleksej Stančinskij, Obsession von Leonid Polovinkin, eine Auswahl aus dem Zyklus Visionen op. 21 und Étude aus op. 6 von Anatolij Aleksandrov; die Vierte Sonate c-Moll von Nikolaj Mjaskovskij, Werke von Samuil Fejnberg (Fantasie Nr. 1 op. 5, Vierte Sonate op. 6 in einem Satz, Berceuse, zwei Préludes aus op. 15 in Fis-Dur und C-Dur, Fantasie Nr. 2 op. 9) sowie die Vierte Sonate von Aleksandr Skrjabin (BArch 2626/46). 29 Vogel, „Russische Musik und russische Musiker“ (wie Anm. 10). 30 Die folgende Analyse greift auf Geiger, Musik in zwei Diktaturen (wie Anm. 3), S. 45–50 zurück. Ihr liegen als Notenausgaben zugrunde: Samuil Feinberg, Wiegenlied [Berceuse], op. 19a, in: Frühe sowjetische Klaviermusik, hrsg. von Nikolai Koptschewski, Leipzig/Dresden: Edition Peters, 1987, S. 51–54 und Vladimir Vogel, Variétude (Chaconne), Piano Seul, London: Edition Russe de Musique, 1931. 31 Berceuse dauert etwa viereinhalb, Variétude etwa fünfeinhalb Minuten. 26 27

Wladimir Vogel und die Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland

Notenbeispiel 1a: Samuil Fejnberg, Berceuse (ca. 1927), T. 1–10

Notenbeispiel 1b: Wladimir Vogel, Variétude (Chaconne, 1931), T. 1–9

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große Ähnlichkeiten miteinander auf, zudem arbeiten Fejnberg wie Vogel mit einer Abwärtssequenzierung des Motivs. Zu diesen Übereinstimmungen kommen dramaturgische Parallelen wie das verebbende Ausklingen im pianissimo (in der Berceuse eine klangmalerische Entsprechung zum Einschlafen des gewiegten Kindes). Folglich bleibt, hält man die beiden Klavierwerke nebeneinander, kaum ein Zweifel daran, dass Vogel, als er in Frankfurt seine Variétude komponierte, bewusst auf das Stück des Moskauer Kollegen Bezug nahm. Zugleich zeichnen sich bestimmte Entwicklungslinien innerhalb der Skrjabin-Nachfolge ab. In Fejnbergs Stück lässt sich, vergleicht man die Berceuse etwa mit dem 1895 komponierten Prélude Nr. 15 aus Skrjabins Opus 11 (siehe Notenbeispiel 2), dessen Spur leicht erkennen. Die konstruktive Idee dieses Prélude besteht darin, das Thema zuerst über der Begleitung, dann darunter und schließlich reprisenhaft wieder darüber erklingen zu lassen. Dieselbe konstruktive Idee prägt auch Fejnbergs Stück. So spaltet er das dreitönige Kopfmotiv ab, um es abwechselnd über und unter die begleitenden Mittelstimmen zu setzen.32 Derartige Strukturelemente, die den Satz gut hörbar durchziehen, dienen Skrjabin wie Fejnberg als ausgleichende Elemente in einem primär ausdrucksbetonten Idiom. Solche Ansätze zu konstruktiver Verstrebung des Expressiven, die bei Fejnberg noch eher unter der Oberfläche liegen, entwickelte Vogel dann gezielt weiter. Mit der Variétude verwirklichte er die explizite Absicht, „das konstruktive Thema und die stimmungsmäßig bedingte, bald lichte, bald düstere Einkleidung desselben, also Konstruktives und Expressives, miteinander zu vereinigen“.33 Programmatisch formuliert dies schon der Titel seines Klavierstücks, eine Synthese der Begriffe ‚Variation‘ und ‚Etüde‘ (im Sinne einer freien Komposition). In der Tat zeigt das Werk gegenüber Fejnbergs Berceuse eine deutliche Intensivierung des konstruktiven Denkens. Während Fejnberg beispielsweise eine vierteilige Wiederholungsform etabliert, handelt es sich bei Vogel um einen Variationensatz,34 dessen additive, baukastenartige Faktur nicht nur nicht verschleiert, sondern geradezu hervorgekehrt wird. Wie Skrjabin (beispielsweise in der Siebten Klaviersonate op. 64) notieren beide Komponisten bisweilen auf drei, Vogel sogar auf vier Systemen. Bei Fejnberg ist diese Notation spieltechnisch motiviert, während der Hörer weiterhin zwei Satzschichten wahrnimmt. Vogels SchreibT. 11–14, T. 23–26, T. 50–53. Wladimir Vogel, „Variétude, Chaconne (1932)“, in ders., Schriften und Aufzeichnungen über Musik, hrsg. von Walter Labhart, Zürich: Atlantis, 1977, S. 139–141, hier S. 140. 34 Fejnberg: A (T. 1–26) – B (T. 27–40) – A’ (T. 41–53) – B’ (54–62). Vogel: Thema (T. 1– 16) – Var. 1 (T. 17–27) – Var. 2 (T. 28–40) – Var. 3 (T. 41–49) – Var. 4 (T. 50–64) – Var. 5 (T. 65–76) – verkürzte Themenreprise (T. 77–85). 32 33

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weise hingegen bildet einen substantiellen satztechnischen Sachverhalt ab, nämlich den Schichtenbau der Komposition, den der Interpret transparent machen soll.

Notenbeispiel 2: Aleksandr Skrjabin, Prélude op. 11 Nr. 15

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Die Gesellschaft veranstaltete noch weitere Musikabende, die hier nicht im Detail besprochen werden können.35 Insgesamt zeichnet sich jedoch deutlich eine Tendenz ab, die als zunehmende Ideologisierung beschrieben werden kann – eine Entwicklung, welche die Gesellschaft, gelenkt von der VOKS, insgesamt nahm und die schließlich viele gemäßigte Mitglieder auf Distanz gehen ließ.36 Bei den ersten Konzerten hatte − wie gezeigt − die Absicht im Vordergrund gestanden, russische Musik zu präsentieren, die im Sinne der Neuen Musik als avanciert gelten konnte, was sich auch in der Zusammenarbeit mit der ASM ausdrückte. Wenige Jahre später jedoch boten die Programme ein ganz anderes Bild. So fand am 5. April 1932 ein „Abend sowjetrussischer Musik“ im Russischen Hof statt, über den Das neue Rußland berichtete: Es wurde ein Querschnitt aus der sogen. Klub-Konzert-Literatur gebracht. Das Leitmotiv der Darbietungen war die Verbindung des gedanklichen und künstlerischen Zusammenwirkens im Sinne der Parole „Schützt den friedlichen Aufbau“ einer neuen Welt, wie er insbesondere auch aus den volkstümlichen Liedern der Stoßbrigaden im sozialistischen Wettbewerb erklingt. Besonders hervorgehoben seien die Kompositionen von Wladimir Vogel und die Gesangsleistungen Iso Gollands […]. Der Erfolg des Abends gibt Anlaß zu einem Konzert im vergrößerten Rahmen, wobei die neuartige Form der proletarischen Musik in einer abendfüllenden Montage für Sprecher, Chöre und Orchester im Mai oder Juni gezeigt werden soll.37

Die Tendenz dieser Veranstaltung entsprach somit genau der Linie, die von den ideologischen Gegenspielern der ASM − der RAPM (Russische Assoziation proletarischer Musiker) − verfolgt wurde.

35 Dokumentiert sind in den entsprechenden Ausgaben von Das neue Rußland beispielsweise am 26. 1. 1928 ein Konzert des Russischen Staatschors unter dem Motto „Lieder der Völker der Sowjetunion und altrussische Themen“ in der Berliner Philharmonie; am 17. 11. 1928 im Berliner „Meistersaal“ ein Abend „Zeitgenössische Russische Musik“ mit James Simon, Klavier; Stefan Frenkel, Violine; Alice Jacob-Loewenson, Klavier; Leo Rjasanzew [wohl Lev Rjazancev], Gesang; Alice Schuster, Gesang und Walther Kaempfer, Klavier. Das Programm brachte, sämtlich als Berliner Erstaufführungen, Musik von Nikolaj Roslavec, Polovinkin, Aleksandr und Grigorij Krejn, Anatolij Aleksandrov, Michail Gnesin, Aleksandr Veprik, Iosif Šillinger, Vladimir Deševov, Vladimir Ščerbačëv u. a. 36 Vgl. die in Anm. 4 genannte Literatur. 37 Ungezeichnete Notiz in Das neue Rußland, 9. Jg. Heft 3/4 (1932), S. 79.

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Grenzen der Kooperation Am 9. Mai 192838 schrieb Vogel an den „Sekretär der Musiksektion von VOKS“ einen längeren Brief (siehe Abbildung 1 und 2), der konkrete Vorschläge zur weiteren Gestaltung der Zusammenarbeit enthält. Zunächst berichtet er über die Absicht, in der Zeitschrift Das neue Rußland künftig „dem Musikleben in der UdSSR eine große Rubrik zu widmen“, für die er zuständig sei. In Anbetracht „der Krise des hiesigen gesellschaftlichen Musiklebens, die ihrerseits ein Resultat der bröckelnden allgemeinen gesellschaftlich-künstlerischen Ordnung“ in Deutschland sei, wolle man in dieser Rubrik „die Fakten, Symptome, die bei Ihnen zutage treten, systematisch und intensiv verfolgen und auf diesem Wege alle positiven Errungenschaften von S.R. [Sowjetrussland] im Bereich des musikalischen Aufbaus propagieren“. Vogel bittet darum, ihn zu diesem Zweck mit Material zu versorgen. Interessant seien Musikzeitschriften, Berichte, Programme und Kritiken von Konzerten, Opern, Material aus dem Bereich der pädagogischen Arbeit in Staatskonservatorien, Studios usw., des Weiteren, nach Möglichkeit, fotografisches Material, um den Text zu beleben. Darauf folgen originale Artikel zu den uns interessierenden Fragestellungen, für die wir uns dann erlauben werden, einige Persönlichkeiten in Ihrem gesellschaftlich-musikalischen Leben anzufragen.

Falls Teile des zugesandten Materials nicht in Das neue Rußland untergebracht werden könnten, so Vogel, werde er es an Hans Mersmann oder Eberhard Preußner weiterreichen, damit es in den Musikzeitschriften Melos beziehungsweise Die Musik unterkomme. Seinerseits versichert er seine Bereitschaft, „Sie mit allen Materialien zu versorgen, die Sie interessieren, und unsere Korrespondenz kann sich in intensivem Maßstab entwickeln.“ Ferner macht sich Vogel erbötig, die Kontakte zwischen deutschen und sowjetischen Musikern anzukurbeln. Da er mit „verschiedenen Berliner Musikvereinen zusammenarbeite, und als Komponist selbst in engem Kontakt zu vielen hiesigen Musikern stehe, ist es möglich, dass ich bezüglich der Frage nach dem Austausch und der Einladung von Gastinterpreten ein nützliches Kettenglied sein kann.“ Schließlich schlägt er die „Gründung einer dauerhaften Musikbibliothek Die Datierung ist nicht mit letzter Gewissheit zu entscheiden. Der Brief ist in den Akten der VOKS (und in Kopie im BArch N 2626/47) als Typoskript in russischer Sprache erhalten und trägt rechts oben den Vermerk „Kopija [Kopie]“, darunter die Datierung 9. 5. 1926. Handschriftlich vermerkt ist links oben allerdings der Eingang 19. Mai 1928. Da auch im Brief auf Mai 1928 Bezug genommen wird, scheint eher die Jahreszahl 1926 ein Irrtum und 9. 5. 1928 die korrekte Datierung zu sein.

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Abbildung 1: Brief Wladimir Vogel an VOKS, 9. Mai 1928 (Kopie in Berlin, Bundesarchiv, N 2626/47), S. 1

des Vereins“ vor, die der interessierten Öffentlichkeit zugänglich sein solle und so „die Bekanntschaft und Propaganda russischer Musik erhöhen und vertiefen könnte“.39 Neben der Veranstaltung von Konzertabenden mit russischer Musik, die in dem Brief ebenfalls angesprochen werden und bislang die Musikarbeit der Gesellschaft vor allem ausgemacht hatten, schlug Vogel der VOKS demnach konkret drei weitere Formen der Zusammenarbeit vor – nämlich a) publizistische Propaganda, b) Distribution von Repertoire über eine Musikbibliothek und c) Künstleraustausch. Was entwickelte sich aus diesen Anregungen im Einzelnen? Vogel an den Sekretär der Musiksektion von VOKS, 9. 5. 1926 [recte: 1928], BArch N 2626/47. 39

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Abbildung 2: Brief Wladimir Vogel an VOKS, 9. Mai 1928 (Kopie in Berlin, Bundesarchiv, N 2626/47), S. 2

Was zunächst die publizistische Aktivität Vogels angeht, so lässt sich an den Artikeln, die er für Das neue Rußland schrieb, vor allem jene zunehmende Ideologisierung ablesen, die bereits mit Blick auf die Veranstaltungen konstatiert wurde. An seinem ersten Konzertbericht aus dem Jahr 1927 fallen zwei Punkte besonders auf: Zum einen fehlt zu diesem Zeitpunkt noch jeder politische Unterton; der Komponist befasst sich ausschließlich mit musikalischen Fragen. Zum anderen merkt man ihm eine gewisse Enttäuschung über die mangelnde Avanciertheit der dargebotenen Werke an. Selbst mit Blick auf Dzegelenok, den er für den fortschrittlichsten Kollegen hält, konstatiert er, dass dessen „Versuch der Überwindung und Neugestaltung der tonalen Beziehungen“ − laut Vogel das „Kernproblem der neuen Musik“ − „noch im Anfang steht“. Es gehöre daher zu

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den „wichtigen künstlerisch kulturellen Aufgaben“ der Gesellschaft, durch „große öffentliche Aufführungen von neuen Werken mit russischen und deutschen Künstlern“ das „Interesse für die neue russische Musik“ anzufachen.40 Hier stehen ausschließlich kompositorische Probleme im Vordergrund; die Arbeiten der russischen Kollegen interessieren unter dem Aspekt ihrer künstlerischen Fortschrittlichkeit. Ganz anders fällt dann fünf Jahre später der Artikel „15 Jahre Arbeit an der musikalischen Front“ aus, den Vogel als letzten in Das neue Rußland veröffentlichte. Der Komponist berichtet hier über die musikalische Entwicklung in der Sowjetunion seit der Revolution: Im Gegensatz zu der bürgerlichen Musik stehen die sowjetrussischen Komponisten nicht außerhalb des Lebens, des täglichen Kampfes, als Einzelgänger, sondern nehmen an dem Kampf auf den verschiedenen Fronten des sozialistischen Aufbaus teil. Die Durchfechtung dieser Forderung hat einen erbitterten Kampf gekostet und das Verdienst, die „weltfremden“ Komponisten der Wirklichkeit und dem sozialistischen Aufbau näher zu bringen, fällt in einem heute schon überwundenen Zeitabschnitt der „Assoziation proletarischer Musiker“ zu. Die Verbindung der Kunst- und Gebrauchsmusik als Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens, Durchtränkung der musikalischen Inhalte mit ideologischen und soziologischen Zielen, ist durch die allgemeine Begeisterung am Aufbau in Form von Massen-, Arbeits- und Kampfliedern in die breiten Massen getragen worden. Das wachende Auge der Selbstkritik und das Vorwärtsstreben der kulturellen Entwicklung konnte vor diesen einfachen, zwar nicht kunstlosen, aber kleinen Formen nicht haltmachen. Die Aufgabe des Tages ist heute, auch in der Musik große, monumentale Formen zu schaffen, die nicht einseitig nach den Richtlinien einer Gruppe von Komponisten sich orientiert [sic], sondern die Merkmale der großen Kunst der Vergangenheit, sowie des heutigen sozialistischen Aufbaus tragen.41

Vogel bekennt sich hier klar zu einem Musikkonzept, das unmittelbar die sowjetischen Diskurse nach dem so genannten ‚Aprilbeschluss‘ 1932 widerspiegelt, der den Sozialistischen Realismus als verbindliche Kunstdoktrin der UdSSR festschrieb.42 Die Schlüsselbegriffe lauten: Antiindividualismus, Durchdringung der Musik mit politischer Tendenz, die breiten Massen als Adressaten, Orientierung an klassischen Modellen und die große, monumentale Form. Wie die Programme der Veranstaltungen zeigt auch die publizistische Ebene, dass es der VOKS gelungen war, die Musiksektion der Gesellschaft ideologisch auf Linie zu bringen. Inzwischen wirkte auch Hanns Eisler, der mit den Mitgliedern der RAPM in KonVogel, „Neue russische Musik“ (wie Anm. 10). Vogel, „15 Jahre Arbeit“ (wie Anm. 10), S. 84. 42 Zum ‚Aprilbeschluss‘ vgl. Dorothea Redepenning, Geschichte der russischen und der sowjetischen Musik, Band 2: Das 20. Jahrhundert, Laaber: Laaber, 2008, Teilband 1, S. 299– 318. 40 41

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takt und wie kein zweiter Komponist für das Konzept einer kommunistischen ‚Kampfmusik‘ stand, in der Leitung der Sektion mit.43 Bemerkenswert ist schließlich die künstlerische Nachhaltigkeit der sowjetideologisch fundierten Anregungen. Denn obgleich Vogel hier von der Sowjetunion spricht, ist unverkennbar, dass er sich mit der von ihm beschriebenen Musikauffassung identifizierte und wesentliche Aspekte seiner Ästhetik ganz offenkundig der direkten Anregung durch das sowjetische Vorbild verdankte. Hierzu gehört insbesondere die „Durchtränkung der musikalischen Inhalte“ mit politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Anliegen, die Vogel – mehr oder minder latent − bis zum Ende seines Lebens beibehielt. Andere Aspekte wiederum, die ihm von anderer Seite her wichtig waren, glaubte er in der sowjetischen Musikauffassung wiederzufinden. So schwingt in der Formulierung von den „Merkmale[n] der großen Kunst der Vergangenheit“ eindeutig Busonis Idee einer „Jungen Klassizität“ mit, der sich dessen Meisterschüler Vogel ebenfalls lebenslang verpflichtet fühlte. Aufschlussreich ist schließlich die Forderung, man müsse nun „in der Musik große, monumentale Formen“ schaffen, die diese Merkmale mit den Forderungen des sozialistischen Aufbaus vereinen – aus dieser Perspektive zeigt sich Vogels ureigenstes Gattungskonzept des Dramma-Oratorio, das sich um diese Zeit auszuformen begann, noch stärker mit der sowjetrussischen Musikauffassung verbunden als gedacht.44 Nicht allzuviel lässt sich gegenwärtig mit Blick auf die Notenbibliothek sagen. Bereits Ende 1927 war in Das neue Rußland die Ankündigung erschienen, die Gesellschaft wolle „auf Anregung von Professor Feinberg“ eine „Leihstelle für im Russischen Staatsverlag erschienene Noten“ einrichten.45 Leider gibt die gegenwärtige Quellenlage kein deutliches Bild von dieser Einrichtung, durch die möglicherweise etliche deutsche Musikerinnen und Musiker das aktuelle sowjetrussische Repertoire kennenlernten. In der Korrespondenz finden sich nur spärliche Erwähnungen. Zumindest geht daraus hervor, dass der Russische Staatsverlag mehrfach Noten schickte und dafür auch deutsche Noten erhielt. So kündigte Baron am 10. April 1930 der VOKS eine Sendung „im Austausch mit dem an unsere Musiksektion z. H. von W. Vogel gesandten armenischen Musikmaterial“ an.46 Allem Anschein nach forderte Vogel nicht gezielt bestimmte Werke an, sonAm 13. 4. 1932 schrieb Baron der VOKS über „unsere Musiksektion, deren Leitung bei Vogel, Eisler und Franz Osborn liegt“ (BArch N 2626/51). Und bereits am 2. 1. 1931 erwähnt Baron Eisler, für dessen Musik sich die VOKS offenbar interessiert und Noten angefordert hatte (N 2626/50). 44 Vgl. hierzu Geiger, Dramma-Oratorien (wie Anm.9), S. 42–46, sowie Lanz, Zwölftonmusik mit doppeltem Boden (wie Anm. 9), S. 57–63. 45 Ungezeichnete Notiz in Das neue Rußland, 4. Jg. Heft 9–10 (1927), S. 110. 46 BArch N 2626/49. 43

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dern erhielt eine seitens der VOKS getroffene Auswahl. Diese spiegelt ebenfalls unmittelbar die zunehmende Ideologisierung der sowjetischen Musikpolitik. So teilte die VOKS-Referentin für Deutschland am 5. April 1932 mit: „Wir schicken für die Musikalische Sektion der Gesellschaft einige Lieder Hefte und Kompositionen unserer proletarischen Musiker“; auch Schallplatten waren beigefügt.47 Im Gegenzug erbat sie Material aus Deutschland. Aus der Antwort Barons vom 13. April 1932 geht hervor, dass die Gesellschaft im Russischen Hof mittlerweile über „einen eigenen Raum auch für die russisch-musikalischen Werke“ verfügte, „wo Vogel die Noten klassifiziert und verwaltet“48 – die entleihbaren Werke scheinen demnach eine nicht unbeträchtliche Anzahl erreicht und Nachfrage durchaus bestanden zu haben. An der Frage des Künstleraustauschs schließlich lässt sich das asymmetrische Verhältnis zwischen der VOKS und der Gesellschaft besonders gut erkennen. Am 3. Januar 1931 hatte Baron einen Bericht „über die Tätigkeit der Musiksektion der Gesellschaft“ unter der Leitung von Vogel nach Moskau geschickt, worin er stolz die zurückliegenden musikalischen Aktivitäten aufzählte.49 Die VOKS reagierte darauf jedoch erst über einen Monat später und ziemlich kühl. Auf die Inhalte der Musikarbeit wird nicht eingegangen, sondern lediglich pauschal bemängelt, dass die Sektion „nicht sehr viele Veranstaltungen aufzuzählen hat“. Lob finden hingegen die Kontakte zu den Massenmedien – es sei „sehr zu begrüssen, dass es durch diese Sektion gelungen ist eine dem Anschein nach recht gute Verbindung mit den Berliner und Frankfurter Sendern zu schliessen.“50 Dieser Propagandaaspekt war der VOKS offenkundig erheblich wichtiger als Fragen des musikalischen Austauschs. In dieser Hinsicht ließ sie die Vertreter BArch N 2626/51. Ebd. 49 Im Einzelnen zählt Baron auf: Veranstaltungen mit dem Moskauer Harmonika-Trio des Mejercholʼd-Theaters, einen Konzertabend und die Einspielung mehrerer Schallplatten bei der Grammophonfirma Karl Lindström. Er erwähnt eine Notensendung des Muzsektor im Sommer 1930, die der Notenbibliothek einverleibt worden sei. Mit Hans Flesch, dem Berliner Rundfunkintendanten, habe eine Besprechung stattgefunden, als deren Resultat nun sehr gute Kontakte zum Rundfunk bestünden. So habe es eine Sendung „Neue volkstümliche Kammermusik aus Russland“ im Berliner Sender gegeben, „die von Wladimir Vogel am Mikrophon eingeleitet wurde. Ein zweiter Abend russischer Musik kommt im Berliner Sender am 23. Januar 1931 unter Leitung von Wladimir Vogel und Mitwirkung der Moskauer Sängerin A. Dolina.“ Michail Druskin sei für eine Sendung in Frankfurt am 2. Februar und an die Zeitschrift Melos vermittelt und der Moskauer Dirigent Leo Ginzburg für eine Radiosendung in Berlin und an die Krolloper zur Mitarbeit verpflichtet worden. Viele andere Sender habe man mit Blick auf die Hundertjahrfeier [recte: 50. Todestag] für Modest Musorgskij beraten (BArch N 2626/50). 50 VOKS an Baron, 16. 2. 1931, BArch N 2626/50. 47 48

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der Gesellschaft auflaufen, wie aus den zunehmend verzweifelten Versuchen Barons und Vogels ersehen werden kann, hier zu einer geregelten Zusammenarbeit zu kommen. Am 8. Januar 1931 schlug Vogel der VOKS die „Anbahnung und Festsetzung konkreter Formen eines Austausches von russischen und deutschen konzertierenden Künstlern“ vor,51 was eimal mehr zeigt, dass für die Zeit davor von eher zufälligen und informellen Kontakten auszugehen ist. Als erstes mögliches Tandem nennt Vogel den Pianisten Franz Osborn auf deutscher und den Musikwissenschaftler Michail Druskin auf russischer Seite. Darauf reagierte die VOKS zunächst einmal gar nicht. Erst auf mehrfache Nachfrage hin erteilte sie der Initiative Vogels am 16. Februar eine klare Abfuhr: Der von Wladimir Vogel vorgeschlagene Austausch von Musikkünstlern findet bei unserer Musiksektion keinen Anklang und zwar aus folgenden Gründen: 1. Franz Osborn war bereits einmal in Moskau und seine Konzerte hatten nur einen sehr geringen Erfolg. 2. Michail Druskin ist bereits in Berlin und kommt daher als Austausch-Kandidat nicht in Frage, da es doch für uns wenig vorteilhaft ist, wenn die Reisespesen nur von unserer Seite getragen werden. 3. Wir wollen immer neuen Sowjetmusikanten die Möglichkeit geben ins Ausland zu reisen und Druskin ist ja bereits seit einem halben Jahr dort. 4. Unsere Absicht ist es beim Austausch von Musikern die Wege zu bahnen. 5. Wir ziehen den Austausch ganzer Musikbrigaden vor, womöglich Musiktheoretiker an der Spitze, der Vorträge über das Musikleben in der Sowjetunion halten wird und vice versa.52

Das Schreiben lässt – wie der Briefwechsel insgesamt − die Ziele, welche die VOKS mit den Musikkontakten verfolgte, unmissverständlich hervortreten. Erwünscht war maximale Öffentlichkeitswirkung, weshalb man sich auf sowjetischer Seite nur für „ganz erstklassige Kräfte“ interessierte, wie es schon 1928 in einem früheren Brief hieß53 − Franz Osborn galt hier offenkundig als zu kleiner Fisch. Wirkungsvollere Propaganda erhoffte man sich durch größere Anzahl und Abwechslung von Künstlern, deren musikalische Aktivitäten zudem durch Vorträge ideologisch gerahmt werden sollten. Eine große Rolle spielten ferner die Finanzen. Immer wieder wird thematisiert, dass das „Regime der Oekonomie“ den „Import von Künstlern [nur] äußerst beschränkt“ erlaube.54 Schließlich wird der unverhandelbare Führungsanspruch von sowjetischer Seite formuliert und die

Vogel an die VOKS, 8. 1. 1931, BArch N 2626/50. VOKS an Baron, 16. 2. 1931 (zweiter Brief), ebd. 53 Sekretariat VOKS an Baron, 6. 3.(?) 1928, BArch N 2626/47. 54 Ebd. 51 52

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Gesellschaft in ihre Schranken verwiesen – welche Seite „beim Austausch von Musikern die Wege zu bahnen“ habe, wird eindeutig klar gestellt. Doch entweder kam die Botschaft bei der Leitung der Gesellschaft nicht deutlich an oder sie versuchte, dagegen zu halten. Jedenfalls insistierte Baron darauf, den Musikaustausch zu zentralisieren und zu strukturieren, und versuchte weiterhin, der VOKS Vogel als den geeigneten Mann hierfür schmackhaft zu machen. Hatte er schon zuvor „die künstlerische und menschliche Qualität Vogels“ gerühmt, ausführlich über den „geradezu sensationellen Erfolg“ seiner Zwei Etüden für Orchester berichtet und ihn als idealen „Mittler für die deutsch/russischen Musikbeziehungen“ angepriesen,55 so hielt ihn nun auch die barsche Reaktion der VOKS nicht davon ab. Die Absicht war, Vogel nicht direkt bei der Gesellschaft, sondern bei der Gemeinnützigen Vereinigung zur Pflege Deutscher Kunst zu installieren, die für seine Arbeit ein Honorar von 150 bis 200 Reichsmark zugesagt hatte.56 Zugleich war jedoch vollkommen klar, dass Baron den Komponisten, wie er im selben Brief an die VOKS schrieb, „als Ihren ständigen Vertreter als Musikfachmann“ betrachtete – eine bemerkenswerte Formulierung, die offenlegt, dass sich die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt mehr oder minder als Außenposten der VOKS begriff. Allerdings drang Baron mit diesem Plan bei der russischen Seite nicht durch. Immer flehentlicher bat er in mehreren aufeinander folgenden Briefen, man möge sich doch zu seinem Vorschlag äußern, und wies auf Probleme in der Vergangenheit hin: Sie dürfen nicht vergessen, dass Sie besonders auch für Musik und Theater die geeignete Begutachtung vorher haben könnten ehe ein Durcheinander geeigneter und ungeeigneter Kräfte entsteht. Man sollte zur Vermeidung von Unannehmlichkeiten, wie sie bisher nicht selten vorgekommen sind, doch endlich die geeigneten Vorkehrungen treffen, wie wir sie mehrfach vorgeschlagen haben.57

Schließlich verlor Baron die Geduld. Am 7. April 1931 teilte er mit, dass Vogel ab sofort seine Tätigkeit aufnehme und dafür von der „Gemeinnützigen Gesellschaft“ 150 Reichsmark Honorar erhalte.58 Ganz wohl war der Kunstgesellschaft jedoch nicht bei dieser Eigenmächtigkeit. Baron wandte sich deshalb am 16. April nochmals an die VOKS: „Ausserdem bat mich Herr Michaelis von der deutschen Kunstgesellschaft auf die schriftliche Genehmigung der Mitarbeit Wladi-

Baron an VOKS, 9. 2. 1931, BArch N 2626/50. Baron an VOKS, 7. 3. 1931, BArch N 2626/50. 57 Baron an VOKS, 27. 2. 1931, BArch N 2626/50. Vgl. auch die Briefe Barons vom 9. 2. 1931, 19. 2. 1931 und 7. 3. 1931. 58 Baron an VOKS, 7. 4. 1931, BArch N 2626/50. 55 56

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mir Vogels, die faktisch bereits begonnen hat, hinzuwirken.“59 Auch darauf ist keine Reaktion dokumentiert. Die folgende Korrespondenz zeigt, dass die VOKS ihre reservierte Haltung gegenüber der Musiksektion – wie gegenüber der Gesellschaft insgesamt − nicht nur beibehielt, sondern zunehmend zu immer massiverer Kritik verhärtete. Schließlich dürfte eine Besprechung, die am 1. Oktober 1931 in Moskau stattfand, Baron endgültig aller Illusionen über den Charakter der Zusammenarbeit mit der VOKS beraubt haben. Das Protokoll dieses Treffens zeigt, dass Baron hier einem Tribunal gegenübersaß, das aus dem Leiter Petrov und neun weiteren Funktionären und Funktionärinnen bestand. Zunächst war der Sekretär der Gesellschaft aufgefordert, über deren Arbeit zu berichten. Dabei sprach Baron auch die Distanz an, die mittlerweile zu der ursprünglichen bürgerlichen Zielgruppe herrschte. Nicht zuletzt die Musiksektion erregte offenbar Misstrauen: „In vielen Zeitungen“, so Baron laut Protokoll, „wird in der letzten Zeit der Gedanke verbreitet, dass die Gesellschaft eine bolschewistische Agentur sei, die bestrebt ist, ihre Leute in deutsche Einrichtungen einzuschleusen wie z. B. W[ladimir] Vogel.“60 In dem anschließenden Gespräch brach über Baron und die Gesellschaft dann vernichtende Kritik der Funktionärsriege herein. Deren Erwartung, die aktuelle Parteilinie konsequent und effizient umgesetzt zu finden, hatte die deutsche Zweigstelle nicht erfüllt. Die Beratung schloss daher mit dem Fazit: „Die Arbeit der Gesellschaft ist unbefriedigend. Die Arbeit muß den neuen Bedingungen entsprechend verändert werden.“61 Der deutliche ideologische Schub, der die Aktivitäten der Musiksektion im letzten Jahr ihres Bestehens kennzeichnete, ist sicherlich auf diesen Warnschuss aus Moskau mit zurückzuführen. Zugleich waren, trotz des erkennbar reduzierten Interesses der VOKS an einem Musikeraustausch, zumindest von deutscher Seite aus etliche Künstlerreisen in die Sowjetunion zu verzeichnen. So berichtete die deutschsprachige Moskauer Rundschau im April 1932: 62 Bekannte deutsche Dirigenten und Künstler wie Klemperer, Knappertsbusch, Abendroth, Schnabel, Feuermann, Kulenkampff waren häufige Gäste in Leningrad und neuerdings auch in Moskau. Im Jahre 1931 und 1932 sind viele jüngere gute deutsche Baron an VOKS, 16. 4. 1931, BArch N 2626/50. Protokoll der Beratung bei der VOKS in Moskau am 1. 10. 1931, BArch N 2626/50. 61 Ebd. 62 O. Verf., „Entwicklung der kulturellen Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland in den letzten Jahren“, in: Moskauer Rundschau vom 17. 4. 1932, S. 7. Vgl. hierzu auch Eckhard John, „Gastarbeiter des sozialistischen Aufbaus: Deutsche Dirigenten in Sowjetrussland (1922–1938)“, in: Das Orchester, 48. Jg. Heft 1 (2000), S. 2–6. 59 60

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Friedrich Geiger Dirigenten auf den Konzertpodien der Union gestanden. Verhältnismäßig selten ist das Auftreten russischer Künstler in Deutschland trotz starker Bemühungen der am Austausch interessierten Deutschen Kunstgesellschaft […].

Der Künstlertransfer glich demnach eher einer Einbahnstraße. Stellt man in Rechnung, dass die VOKS eine staatliche Institution und die Gesellschaft in kulturellen Angelegenheiten ihr hauptsächlicher Partner in Deutschland war, dann lag die Arbeit der Musiksektion auf einer vergleichsweise hohen Ebene. Der damit verbundende Anspruch konnte jedoch aus verschiedenen Gründen nur teilweise eingelöst werden. In den ersten Jahren bestand das Problem darin, dass die beiden Partner unterschiedliche Ziele verfolgten. Das Interesse der Gesellschaft richtete sich – wie schon ihr Name mit der Betonung des „neuen Russlands“ signalisiert – stark auf die innovativen Impulse, die kulturell und künstlerisch von dem jungen Sowjetstaat ausgingen. Vogel und die Musiksektion suchten anfangs primär nach avantgardistischen Konzepten, die für das eigene Schaffen Anregungen liefern sollten. Das Interesse der VOKS hingegen lag in der Propaganda und der Breitenwirkung, die sich mit Avantgarde naturgemäß schlecht verträgt. Dieser grundsätzliche Konflikt beeinträchtigte die Zusammenarbeit so lange, bis die VOKS unter neuer Führung Anfang der 1930er Jahre ihre Vorstellungen von einer ideologisch nützlichen Kunst bei den Protagonisten der Musiksektion durchsetzte. Zwar funktionierte die Kooperation dann etwas besser, wenngleich insbesondere der Künstleraustausch weitgehend einseitig blieb. Zugleich jedoch kostete die ideologische Radikalisierung Sympathien im bürgerlichen Lager, das sich durch das Konzept einer ‚Kampfmusik‘ provoziert sah. Insofern darf die Reichweite der Musikarbeit in der Gesellschaft aufs Ganze gesehen gewiss nicht überschätzt werden. Für Vogel und Eisler jedoch hatte der Kontakt mit den sowjetischen Kollegen eminente und nachhaltige künstlerische Konsequenzen – und es liegt nahe, dass dies, wenngleich in unterschiedlicher Intensität, auch für andere Komponisten galt, die über die Konzerte oder die Notenbibliothek der Musiksektion, von ihr organisierte Gastspiele oder auch ihre Rundfunksendungen mit der sowjetrussischen Musik in Berührung kamen.

Olesja Bobrik

Die Zusammenarbeit zwischen der Universal Edition und der Musikabteilung des sowjetischen Staatsverlags Die Zusammenarbeit zwischen der österreichischen Universal Edition (im folgenden ‚UE‘) und der Musikabteilung des sowjetischen Staatsverlags (Muzykalʼnyj sektor Gosizdata, abgekürzt Muzsektor, seit 1931: Muzgiz)1 erstreckte sich über die Jahre 1927 bis 1932. Für die Musikbegegnungen zwischen Sowjetrussland und Westeuropa war das eine sehr wichtige Episode. Von ihrer Bedeutung zeugt die Anzahl der sowjetischen Publikationen, die in diesen Jahren in den Verlagskatalog der UE eingingen: 458 Notenausgaben und drei Bücher.2 Zum Vergleich: Vom Russischen Musikverlag (Rossijskoe muzykal’noe izdatel’stvo), dem bedeutendsten Verlag des russischen Musikerexils und zugleich wichtigsten Verleger der Werke Sergej Prokofʼevs, Sergej Rachmaninovs und Igorʼ Stravinskijs, übernahm die UE in etwa demselben Zeitraum nur 184 Notenausgaben (d. h. etwa ein Drittel der Menge).3 Nimmt man die Verlagsnummern der UE zwischen 1925 und 1933 als Ganzes, machte Musik aus Sowjetrussland etwa ein Sechstel des gesamten Verlagskatalogs aus. Das war beispiellos: Kein anderer westlicher Verlag zeigte ein so starkes Interesse an sowjetischer Musik. In diesem Zusammenhang muss an die für die Weltwirtschaft krisenhaften Zwischenkriegsjahrzehnte erinnert werden, in denen Verlagskooperationen, Verkäufe älterer Verlagsrechte und die Übernahme von Verlagsrepräsentanzen zur allgemein verbreiteten Geschäftspraxis gehörten. So lebten zum Beispiel die russischen Verlage in der EmiNach der Reorganisation des Staatsverlages (Gosudarstvennoe izdatel’stvo – Abk. Gosizdat) 1931 wurde seine Musikabteilung (Muzykal’nyj sektor – Muzsektor) zum eigenständigen Staatlichen Musikverlag (Muzykal’noe gosudarstvennoe izdatel’stvo – Muzgiz). 2 Eine Auflistung der Werke russischer Komponisten, die von der Universal Edition (UE) von anderen Verlagen zwischen 1900 und 1945 übernommen wurden, findet sich in: Olesja Bobrik, Venskoe izdatel’stvo ‚Universal Edition‘ i muzykanty iz Sovetskoj Rossii. Istorija sotrudničestva v 1920–30-e gody [Die Wiener ‚Universal Edition‘ und Musiker aus Sowjetrussland. Die Geschichte ihrer Zusammenarbeit in den 1920er und 1930er Jahren], St. Petersburg: Izdatel’stvo im. N. I. Novikova, 2011, S. 338–449. 3 Stephan Buchon (Österreich) ermittelte für die Kooperation von Muzsektor und Russischem Musikverlag mit der UE bis 1930 anderslautende Zahlen: 486 Ausgaben des Muzsektors, 103 des Russischen Musikverlags (Brief Buchons an die Autorin vom 9. März 2004; Archiv der Autorin). 1

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gration ganz wesentlich von Einnahmen durch den Wiederverkauf alter Editionen.4 Wenden wir uns der ‚sowjetischen‘ Komponente des Verlagsprogramms der UE und den in ihm vertretenen Namen zu. Der Handschriftenkatalog und die Notensammlung im Historischen Archiv der UE, Dokumente aus der Sammlung UE in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus und andere Materialien belegen, dass fast alle bedeutenden Werke, die der wichtigste Musikverlag der UdSSR veröffentlichte, nach Wien gelangten. Man begegnet dabei 110 Namen von Komponisten und Komponistinnen – angefangen von Aleksandr Abramskij, Ilʼja Ajsberg, Anatolij Aleksandrov, Daniil Amfiteatrov, Boris Antjufeev, Valentin Beleckij, Viktor Belyj, Igorʼ Bėlza, Vladislav Blaževič, Feliks Blumenfelʼd, Aleksandr Borchman und Vadim Borisovskij über viele andere bis ans Ende des Alphabets: Jurij Šaporin, Adrian Šapošnikov, Vissarion Šebalin, Boris Šechter, Aleksandr Šenšin, Iosif Šillinger, Vassilij Širinskij, Ivan Šišov, Vladimir Šokin, Vasilij Soloduev, Dmitrij Šostakovič, Aleksandr Spendiarov, Aleksej Stančinskij, Lev Švarc, Petr Teplov, Aleksej Titov, Jurij Tjulin, Rudolʼf Valašek, Sergej Vasilenko, Pantelejmon Vasilʼev, Julija Vejsberg, Aleksandr Veprik, Fabij Vitaček, Vjačeslav Volkov, Stefanija Zaranek, Aleksandr Žitomirskij, Aleksej Životov und Vasilij Zolotarev. Die Auflistung folgt dem Anfang und Ende des lateinischen Alphabets, ohne nur einen Namen auszulassen. Ein Viertel der Genannten wird nicht nur dem deutschen, sondern auch dem russischen Musikliebhaber kaum etwas sagen. Und nur in wenigen Fällen – wie bei Šostakovič und vielleicht auch noch bei Aleksandrov, Šaporin, Šebalin, Šenšin, Šillinger, Spendiarov, Vasilenko, Vejsberg, Veprik und Životov – dürften sich die Namen mit konkreten musikalischen Eindrücken verbinden. Zu den bekannteren sowjetrussischen Repräsentanten des UE-Katalogs gehören noch Aram Chačaturjan, Vladimir Deševov, Samuil Fejnberg, Rejngolʼd Gliėr, Nikolaj Mjaskovskij, Aleksandr Mosolov, Leonid Polovinkin, Gavriil Popov, Sergej Protopopov und Nikolaj Roslavec. Gleichwohl wirft der Katalog Fragen auf. Die Universal Edition vertrat die bedeutendsten Komponisten der europäischen Gegenwart – z. B. Arnold Schönberg, Alban Berg, Anton Webern, Alfredo Casella, Alois Hába, Béla Bartók, Ernst Krenek, Leoš Janáček und Kurt Weill – und bahnte Kontakte nur vorsichtig und selektiv an.5 Warum aber nahm der Verlag so große Mengen unterschiedlichVgl. Viktor Juzefovič, Sergej Kusevickij. Gody v Pariže. Meždu Rossiej i Amerikoj [Sergej Kusevickij. Die Pariser Jahre. Zwischen Russland und Amerika], Moskau: Centr gumanitarnych iniciativ [Zentrum geisteswissenschaftlicher Initiativen], 2013, S. 48–51. 5 So wurden z. B. Arnold Schönbergs Lieblingsschüler Alban Berg und Anton Webern trotz der Empfehlungen des Lehrers erst zu einem Zeitpunkt Autoren der UE, als sie bereits eine gewisse Bekanntheit erreicht hatten. Alban Berg, der für die UE in den 1910er Jahren als 4

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ster Musik aus der UdSSR in seinen Katalog auf? Worauf gründete die Zusammenarbeit der Universal Edition mit dem Muzsektor bzw. Muzgiz und seinen Komponisten wirtschaftlich und rechtlich? Die nachstehenden Ausführungen versuchen darauf zu antworten. Der Vertrag über gemeinsame Editionen musikalischer Werke zwischen dem Muzsektor des Staatsverlags und der UE wurde am 2. April 1927 in Anwesenheit des Leiters des sowjetischen Verlags, Aleksandr Naumovič Jurovskij,6 geschlossen. Das Vertragsdatum lässt sich nur noch anhand eines späteren Briefs von Jurovskij an die UE (vom 24. März 1928) rekonstruieren (Abbildung 1). In diesem Brief geht es mit Hinweis auf die vertragliche Vereinbarung vom 2. April 1927 um die Bedingungen einer gemeinsamen Edition des Tanzes für Klavier ор. 30 Nr. 1 von Leonid Polovinkin. Die Richtigkeit des Datums wird indirekt durch weitere Quellen bestätigt – erstens durch Aufzeichnungen des UE-Direktors Emil Hertzka für seine Mitarbeiter, zweitens durch Briefe von Abram Dzimitrovskij,7 der die Russische Abteilung Universal Edition A.G. leitete, an die russischen Musiker Nikolaj Mjaskovskij,8 Boleslav Javorskij9 und andere, sowie drittens durch Verlautbarungen in österreichischen und russischen Periodika. Der Vertragstext als solcher ist der Autorin nicht bekannt. Die heutige Leitung der UE gestattet keine Einblicke in finanzielle Angelegenheiten des Verlags, zu denen auch Verlagsverträge gehören. Dokumente des Muzgiz (archiviert im Korrektor, Arrangeur und Musiktheoretiker gearbeitet hatte, gab seine Werke bis Anfang der 1920er Jahre auf eigene Rechnung heraus. Erst 1924 begannen seine Werke in der UE zu erscheinen. Ähnlich verhielt es sich mit der Aufnahme Anton Weberns in den Kreis der UEAutoren: Einen Verlagsvertrag erhielt er erst 1920. 6 Aleksandr Naumovič Jurovskij (1882–1952), Leiter und Redakteur des Muzsektor von 1925 bis 1944. Jurovskij, Absolvent des Moskauer Konservatoriums im Fach Klavier bei Aleksandr Golʼdenvejser (1922), war der Bruder des bedeutenden Wirtschaftswissenschaftlers Leonid Jurovskij, der in leitender Funktion 1922 bis 1924 die Geld- und Finanzreformen in der UdSSR durchführte. 7 Abram Dzimitrovskij (1873–1943), Chorleiter und Editor, von 1925 bis 1933 Leiter der Russischen Abteilung der UE. 8 Den Vertragsabschluss belegt der Brief Dzimitrovskijs an Nikolaj Mjaskovskij vom 26. April 1927: „Ich stehe in Ihrer Schuld, weil ich so lange nicht geschrieben habe, aber glauben Sie mir, ich war so wahnsinnig beschäftigt und hatte einfach keine freie Minute. Aleksandr Naumovič [Jurovskij] wird Ihnen von allem erzählen.“ (Moskau, Rossijskij gosudarstvennyj archiv literatury i iskusstva [RGALI – Staatliches Archiv für Literatur und Kunst Russlands], Fond 2040 [Nikolaj Mjaskovskij], Verzeichnis [Opis’] 2, Angelegenheit [Delo] 140, Blatt [List] 26.) 9 Boleslav Leopolʼdovič Javorskij (1877–1942), Musikwissenschaftler, Pädagoge, Pianist und Organisator, Begründer der Theorie des modalen Rhythmus [teoria ladovogo ritma], in den 1920er Jahren Bevollmächtigter des Volkskommissars für das Bildungswesen der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), Anatolij Lunačarskij.

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Russischen Staatlichen Archiv für Literatur und Kunst [RGALI], Fond 653), haben sich nur partiell erhalten, und die der Autorin bekannt gewordenen Erwähnungen der UE beziehen sich allein auf das Jahr 1930. Somit kann der Beginn der Zusammenarbeit nur indirekt rekonstruiert werden, insbesondere anhand von Dienstvermerken und Geschäftskorrespondenzen der Mitarbeiter des Wiener Verlags.

Abbildung 1: Brief Muzsektor an UE, 24. März 192810 Der Brief wurde der Autorin durch Werner Schembera-Teufenbach, Mitarbeiter des Historischen Archivs der UE, zugänglich gemacht. 10

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Wenige Wochen vor Vertragsabschluss notierte Emil Hertzka seine Gedanken zu den Perspektiven und Schwierigkeiten einer Zusammenarbeit mit dem russischen Partner (Abbildungen 2 a, b und c). Im gegebenen Kontext sind vor allem die Notizen vom 9. und 17. März von Belang (letztere auf dem Briefpapier der Hotels Britannia & Beau-Site in Menton, Südfrankreich).

Abbildung 2a: Mitteilung Emil Hertzkas an Mitarbeiter der UE, 9. März 1927 (Historisches Archiv der UE) Transkription: „Jurowsky Musector [sic!] Vertrag. Ich glaube wir sollen die Sache – obwohl die materiellen Vorteile[,] die jetzt zu erblicken sind, nicht nennenswert sind [–] zum Abschluss bringen, denn es hat besondere Prestige-Vorteile. – Der Vertrag ist ja im Grossen Ganzen schon früher genau durchstudiert worden und wenn Sie Verbesserungen erreicht sehen umso besser. – Komplizierter ist allerdings die Affaire mit dem Aufdruck unser Fa. [Firma] zum Schutze der Musector Werke[.]“

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Abbildungen 2b und 2c: Mitteilung Emil Hertzkas an Mitarbeiter der UE, 17. März 1927 (Historisches Archiv der UE) Transkription: „Jurowsky. Die Frage der Feststellung welche der Musector Werke im Ausland lieferbar sind, ist nicht allzu schwer festzustellen. Es sind der Hauptsache nach die 2 Möglichkeiten festzustellen u[nd] z[war] 1) ob es sich um von dem Musector erstmalig gedruckte also früher überhaupt noch ungedruckte Werke handele oder 2) ob die betreffenden Werke schon früher in einem Verlag erschienen sind und in welchem! Kategorie 1) ist fraglos Musector Eigenthum Kategorie 2) in den meisten Fällen geschützt. Die Nationalisierung (Socialisierung) der Verlagsrechte konnte die Sowjet Republ[ik] nur innerhalb Russland[s] durchführen. Werke[,] die vorher in Deutschland oder Frankreich etc. geschützt waren[,] sind durch die Musector-Übernahme der Verlagsrechte nicht betroffen. Auch eine Neurevision oder neue Arrangements derartiger Werke sind in Europa nicht Musector-pflichtig (z. B. Scriabines Werke).

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[Fortsetzung der Transkription:] Dagegen muss sich Herr Jurowsky darüber klar werden, dass der ganze bisherige neue Musector-Verlag in Europa absolut frei ist, und dass nur wir in der Lage sein dürften die kommenden Auflagen zu schützen.“

Aus den Notizen geht hervor, dass Hertzka vor allem argwöhnte, die sowjetischen Verlagsprodukte könnten Autorenrechte ignorieren. Zwar existierten die alten russischen Notenverlage in der Emigration weiter, doch fielen deren Editionen nunmehr, als Folge der Nationalisierungspolitik, in das Verlagsprogramm des Muzsektors: Das betraf die Verlage Robert Forberg (Nachfolger des P. Jurgenson Musikverlags), den schon erwähnten Russischen Musikverlag, W. Bessel und Co., den Julius Heinrich Zimmermann Musikverlag und andere. Von diesen hatte die UE in den 1920er Jahren eine ganze Reihe bereits vor der Revolution erschienener Werke aufgekauft. Daher konnte die Mitwirkung der UE an der Verbrei-

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tung in der UdSSR nationalisierter Notenausgaben unangenehme rechtliche Folgen haben (was, wie im Weiteren deutlich wird, auch der Fall war). Gleichwohl hielt Hertzka die Zusammenarbeit mit dem größten Verlag Sowjetrusslands für dringend geboten. Der Muzsektor verfügte zu dieser Zeit über keine eigenen Kanäle einer zentralen Auslands-Auslieferung seiner Verlagsproduktionen,11 und der Status einer „Generalvertretung des Muzsektors des Staatsverlags der RSFSR“,12 den die UE mit dem Vertragsabschluss erzielte, war zweifelsohne von einigem Prestige. Mit der Zeit stellten sich auch die von Hertzka zunächst bezweifelten „materiellen Vorteile“ ein. Davon zeugen die nach Moskau überwiesenen Beträge. Laut der Buchhaltung des Мuzsektors erzielten die Exporte der UE für 1930 eine positive Bilanz von 7.056 Rubeln und 60 Kopeken, dem damaligen offiziellen Kurs entsprechend 3.598 US-Dollar. Dieser Betrag überstieg die bei anderen ausländischen Partnern erzielten Einnahmen um ein Vielfaches: Für den Warschauer Notenverlag Leon Idzikowski sind z. B. 121 Rubel und 50 Kopeken oder 61 USDollar ausgewiesen, für den nach der UE (hinsichtlich der Einnahmen) zweitgrößten ausländischen Partner des Мuzsektors, den russischsprachigen Rigaer Verlag Kultura (gemeint ist offenbar der lettische Verlag Dzīve un kultūra [Leben und Kultur]) 905 Rubel und 65 Kopeken oder 461 US-Dollar.13 Die Leitungen beider Verlage schätzten die vertraglich gesicherten Vorteile in vielerlei Hinsicht ähnlich ein. Das belegt Jurovskijs Aufsatz „Die Tätigkeit des Muzsektors des Staatsverlags“, veröffentlicht im November 1927 in der Zeitschrift Muzyka i revoljucija (Musik und Revolution). Dort heißt es über den Vertrag des Мuzsektors mit der UE unter anderem: 11 Später, seit Anfang 1929, ließ der Muzsektor seine Ausgaben in Paris direkt durch die sowjetische Botschaft und durch Sergej Kusevickijs Notengeschäft in der Rue d’Anjou verbreiten; siehe hierzu: Sergej Prokof’ev, Dnevnik, Čast’ vtoraja. 1919–1933 [Tagebuch, zweiter Teil, 1919–1933], Paris: Serge Prokofiev Estate, 2002, S. 677–678; Juzefovič, Sergej Kusevickij (wie Anm. 4), S. 48. Es ist bezeichnend, dass der Kusevickij gehörende Russische Musikverlag, anders als die Universal Edition, keine Werke sowjetischer Komponisten in seinen Verlagskatalog aufnahm; sein Ladengeschäft nahm Noten des Muzsektors nur zum Weiterverkauf an. Laut der Buchhaltung des Muzsektors bzw. Мuzgiz für 1930 wurden Notenausgaben damals auch durch die sowjetischen Handelsvertretungen (in den baltischen Staaten, in China, Polen und anderen Ländern) verbreitet. 12 Siehe Vordruckblatt des Briefs von Dzimitrovskij an Mjaskovskij vom 18. Januar 1928. (RGALI, Fond 2040, Opis’ 2, Delo 140, List 41.) 13 Muzykal’nyj sektor. Gosudarstvennoe muzykal’noe izdatel’stvo [Musiksektor. Staatlicher Musikverlag] („Muzgiz“), Delo [Angelegenheit] Nr. 1, Otdel buchgalterii [Buchhaltung], Godovoj otčet Muyzkal’nogo sektora za 1930 god [Jahresabrechnung des Musiksektors für 1930], in: RGALI, Fond 653, Opis’ 15, Delo 658, List 56. Der Nachweis für 1930 ist unter den im Мuzgiz-Archiv aufbewahrten Dokumenten der früheste. Ab 1931 werden weder die UE noch andere ausländische Partner erwähnt.

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Das Jahr 1927 markiert hinsichtlich der Verbreitung unserer Musikproduktionen im Ausland eine Wende. Auch wenn die Lage des Notenimports nach wie vor nicht normal ist, haben wir doch den Export und die Reklame für unsere Produktionen auf ein gutes Gleis gebracht. Die der Universal Edition in Wien übertragene Generalvertretung unserer Editionen im Ausland, die Aufnahme unserer Notenausgaben im Katalog dieser Firma wie auch der mit ihr geschlossene Vertrag über neue gemeinsame Werkeditionen garantiert nicht nur eine maximale Propaganda und Verbreitung unserer Noten im Ausland, sondern auch die Wahrung unserer Autorenrechte auf dem Territorium der Berner Konvention.14

Der Text zeigt, dass Jurovskij den Autorenrechten der sowjetischen Komponisten bei der Verbreitung ihrer Werke im Ausland (durch die Aufnahme in den Katalog der UE) eine ebenso große Wichtigkeit beimaß wie Hertzka. Mit Inkrafttreten des Vertrags erhielten sowjetische Autoren bei Aufführungen ihrer Werke nämlich Vergütungen (Tantiemen) von der österreichischen AKM – der Staatlich genehmigten Gesellschaft der Autoren, Komponisten und Musikverleger. Darüber hinaus sprach die Perspektive einer zielgerechten Propagierung sowjetischer Musik für eine Zusammenarbeit mit der UE. Als die Sowjetunion in den 1920er Jahren diplomatische Beziehungen mit dem Ausland aufzunehmen begann, war sie zugleich auch an der Vermittlung sowjetischer Kultur im Ausland interessiert.15 Es kam zu einer Fülle bemerkenswerter Unternehmungen: Genannt seien hier nur die Westeuropa-Gastspiele des Moskauer Kammertheaters unter der Leitung von Aleksandr Tairov und des Mejerchol’d-Theaters, die Westeuropa- und Amerika-Tourneen des Moskauer Akademischen Künstlertheaters (Moskovskij chudožestvennyj akademičeskij teatr – MCHAT) mit Konstantin Stanislavskij sowie des Staatlichen Jüdischen Theaters Moskau, die Teilnahme der UdSSR an der Pariser Weltausstellung des Kunstgewerbes und des Industriedesigns 1925,16 die Aufführungen neuer sowjetischer Musik in den Konzerten der 14 Aleksandr Jurovskij, „Dejatel’nost’ Muzykal’nogo Sektora Gosizdata [Die Tätigkeit des Muzsektors des Staatsverlags]“, in: Muzyka i revoljucija [Musik und Revolution], Nr. 11/1927, S. 29–35, hier S. 35. Die Berner Konvention zum Schutz von Werken der Kunst und Literatur wurde 1886 in Bern angenommen (Revisionen 1908 in Berlin, 1928 in Rom, 1948 in Brüssel, 1967 in Stockholm und 1971 in Paris). Sie trat 1887 zunächst in acht Ländern in Kraft (Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Schweiz, Spanien und Tunesien), inzwischen haben sich ihr über hundert Staaten angeschlossen. Der Berner Übereinkunft liegt das sogenannte ‚Schutzlandprinzip‘ zugrunde, demzufolge jeder Vertragsstaat den Schutz der Werke von Autoren anderer Vertragspartner genauso anerkennt wie den Schutz der Werke eigener Autoren. 15 Dieser Aufgabe widmete sich die 1925 gegründete Allunionsgesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland (Vsesojuznoe obščestvo kul’turnoj svjazi s zagranicej – VOKS). 16 In den Sälen des sowjetischen Pavillons waren u. a. auch Verlagsprodukte des Staatsverlags ausgestellt.

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Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (ab 1924), die Teilnahme sowjetischer Pianisten am Warschauer Chopin-Wettbewerb 1927 (mit Lev Oborin als Gewinner) und die Gastspiele des Opernstudios des Leningrader Konservatoriums in Salzburg (1928). Die Zusammenarbeit des Мuzsektors mit der UE fügte sich in das Konzept kultureller sowjetischer Expansion. Der österreichische Musikverlag hatte sich nicht nur erfolgreich als Verlagszentrum der zeitgenössischen europäischen Musik etabliert, sondern verstand es überdies, seine Verlagsprodukte durch ausgefeilte Werbestrategien zu vermarkten. Davon konnten sich die sowjetischen Musiker auf Auslands-Tourneen einen Eindruck verschaffen. Zur Illustration sei aus einem Brief des Musikwissenschaftlers Viktor Beljaev an Mjaskovskij zitiert (Wien, 3. November 1924), in dem er die Vorzüge und Mängel der soeben begonnenen Zusammenarbeit Mjaskovskijs mit der UE erörtert: Was die Vertragsbedingungen mit der Universal Edition anlangt, rate ich Dir vor allem zwei Dingen Aufmerksamkeit zu schenken: 1) Die Honorare und Vergütungen liegen hier [in Österreich – О. B.] für vieles, insbesondere für geistige Tätigkeiten, mindestens dreimal niedriger als in Russland, und 2) Die Universal Edition hat so großartige Kontakte zur gesamten Musikwelt und macht eine allen Vergleichen spottende Reklame. Sie bewirbt die von ihr herausgegebenen Werke in ungeheuerlicher Weise, lässt sie aufführen und schickt ihre Vertreter und Kritiker zu den Aufführungen usw. usw. Im Übrigen handelt es sich um ein seinem Wesen nach europäisches kommerzielles Unternehmen. Doch dieses Unternehmen hat die gesamte neue Musik in seinen Händen.17

Das Kalkül von sowjetischer Seite hinsichtlich der Werbemöglichkeiten des Verlags ging auf, wie 1931 eine Aufführungsstatistik in den von der UE herausgegebenen Musikblättern des Anbruch verdeutlicht. Ihr zufolge fanden „in letzter Zeit im Auslande“ ungefähr zweihundert Konzerte mit zeitgenössischer russischer sinfonischer Musik statt. „An erster Stelle kommt Mjaskowsky mit 61, Schostakowitsch mit 38 Aufführungen, dann kommen Goedicke mit 14, Ippolitow-Iwanow mit 10, Wassilenko mit 6, Knipper und Krein mit je 5 und die anderen mit einer kleineren Anzahl Aufführungen.“18 Die Zahlen wirken noch überzeugender, wenn man nähere Angaben zu den Konzerten ermittelt. So berichtet Dzimitrovskij in Briefen an Mjaskovskij über Aufführungen von dessen Sechster Sinfonie in Wien unter der Leitung von Konstantin Saradžev (1926), der Siebenten Sinfonie in New York unter Wilhelm Furtwängler (1927) und der Achten Sinfonie in Boston unter Richard Burgin (1929). Anfang der 1930er Jahre reüs17 18

RGALI, Fond 2040, Opis’ 1, Delo 103, List 41. N.N., „Moderne russische Musik im Ausland“, in: Anbruch 13/1 (Januar 1931), S. 23.

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sierten Mjaskovskijs Serenade Es-Dur, die Sinfonietta h-Moll und das Lyrische Concertino G-Dur (vereint zur Orchestersuite Zerstreuungen [Razvlečenija] op. 32 Nr. 1–3). Laut einer Mjaskovskij übersandten Auflistung des Verlags kam es zwischen 1931 und 1934 zu insgesamt 27 Aufführungen seiner Werke, darunter in Prag, London, Brünn, Riga, Zürich, Stockholm, Wien, Kopenhagen, Amsterdam, Chicago, Philadelphia, Den Haag, Lyon und Rom.19

Abbildungen 3-4: Titelblätter der Russland-Sonderhefte des Anbruch In der Zeitschrift wurden auch die gemeinsamen Noteneditionen der UE mit dem Мuzsektor unablässig beworben (Abbildung 5).

Hinter dieser beeindruckenden Statistik standen engagierte Mitarbeiter der UE, die sich mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für die neue sowjetische Musik einsetzten. In den Musikblättern des Anbruch20 waren zwischen 1925 und 1934 mehr als 60 Beiträge der Musik der UdSSR gewidmet. Zwei Nummern der Zeitschrift (März 1925 und November/Dezember 1931) hatten als Themenschwerpunkt das Musikleben der UdSSR (Abbildungen 3 und 4). Unter den Die Angaben entstammen dem Brief Dzimitrovskijs an Mjaskovskij vom 7. Juni 1934 (RGALI, Fond 2040. Opis’ 2, Delo 142, List 38). 20 Seit Januar 1929 nannte sich die Zeitschrift nur noch „Anbruch“. 19

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Autoren waren sowohl sowjetische als auch österreichische Fachleute und Kritiker, unter ihnen Igorʼ Glebov (Boris Asafʼev), Viktor Beljaev, Leonid Sabaneev, Paul A. Pisk,21 Paul Stefan und Fannina Halle.22

Abbildung 5: Werbung aus den Musikblättern des Anbruch, Mai–Juni 1927 21 Paul Amadeus Pisk (1893–1990), Komponist, Musikpädagoge und -kritiker, war ein Schüler Arnold Schönbergs. 22 Die Schriftstellerin und Kunstwissenschaftlerin Fannina Halle (1881–1963) publizierte über russische Sakralkunst und über sowjetische Frauen. Sie legte u. a. die Studie Frauen des Ostens. Vom Matriarchat bis zu den Fliegerinnen von Baku (Zürich: Europa, 1938) vor. Halle war mehrfach in Sowjetrussland und schrieb für den Anbruch Artikel über russische Musiker und das russische Musikleben.

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Als ein ebenso effektives Werbemittel diente eine spezielle Arbeitsgruppe der UE, die sowjetische Musik sichtete, zu Werklisten zusammenstellte und zielgerecht an Dirigenten, Konzertveranstalter und Radiosender versandte. Eine dieser Listen war einem Brief der UE an Nikolaj Mjaskovskij vom 2. Januar 1934 beigefügt:23 ALEXANDROW, BACH-GOEDICKE, GLIERE, GOEDICKE, KNIPPER, MJASKOWSKY,

MOSSOLOW, MOUSSORGSKY,

POLOWINKIN, SCHOSTAKOWITSCH,

STEINBERG, STSCHERBATSCHEW, WASSILENKO, WEPRIK,

23

Ouvertüre über russische Volksweisen Passacaglia Saporoger Kasaken Tanz der russischen Matrosen Orgelkonzert Kleine lyrische Suite Märchen eines Gypsgottes IV. Symphonie V. “ VI. “ VII. “ VIII. “ IX. “ X. “ XII. “ Serenata Sinfonietta Concertino lirico Eisengiesserei Klavierkonzert Scherzo (neue Originalausgabe von P. Lamm) Intermezzo “ Marfas Lied “ Feierl[icher] Marsch “ Nacht für eine Singstimme mit Orchester Tänze der Rätsel Telescop I. Symphonie III. “ Suite aus der Oper „Die Nase“ Suite a[us] d[em] Ballett „Das goldene Zeitalter“ 2 Stücke für Streichorchester III. Symphonie I. Symphonie Hindu Suite Chinesische Suite Lieder und Tänze des Gettos

„Liste der Orchesterwerke“, RGALI, Fond 2040, Opis’ 2, Delo 324, List 39.

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Kehren wir noch einmal zu Jurovskijs oben zitiertem Aufsatz „Die Tätigkeit des Muzsektors des Staatsverlags“ zurück. Es fällt auf, dass ein wichtiger Geschäftsvorteil überhaupt nicht zur Sprache kommt. Der Vertrag mit der UE gestattete es nämlich, über die Propagierung sowjetischer Musik und den Schutz heimischer Autorenrechte im Ausland hinaus noch ein weiteres Problem zu lösen, das nicht nur die Leitung des Мuzsektors beschäftigte, sondern auch das Volkskommissariat für Bildungswesen – die Abwanderung sowjetischer Komponisten zu ausländischen Verlagen.24 Eine Gruppe Moskauer Komponisten der Аssoziation zeitgenössischer Musik hatte längst die Notwendigkeit einer umfassenden Teilhabe am europäischen Musikleben einschließlich der Sicherung ihrer Autorenrechte im Ausland erkannt, und so war es bereits mehrere Jahre vor dem Vertragsabschluss mit der UE zu einer Reihe von Einzelverträgen mit dem Verlag über die Herausgabe zumeist kammermusikalischer Werke gekommen. Als Vermittler dieser Kontakte fungierte Vladimir Deržanovskij, ein Musikkritiker und -manager, Redakteur verschiedener Musikzeitschriften sowie von 1922 bis 1929 Leiter der Notenabteilung der sowjetischen Aktiengesellschaft Internationales Buch (Meždunarodnaja kniga – abgekürzt Kniga [Buch]). Dank seiner Bemühungen waren zwischen 1924 und 1927 zahlreiche Werke sowjetischer Komponisten im Katalog der UE vertreten, unter anderem die Drei Präludien ор. 15 und die Sechste Klaviersonate ор. 16 von Samuil Fejnberg, die Fünfte Klaviersonate ор. 22 von Anatolij Aleksandrov, die Sechste, Siebente und Achte Sinfonie sowie die Vierte Klaviersonate op. 27 von Mjaskovskij, das Erste Streichquartett ор. 24 und die Zwei Nocturnes für Klavier ор. 15 von Aleksandr Mosolov, das Nocturne (Quintett für Harfe, Oboe, zwei Bratschen und Violoncello), das Erste Streichquartett und die Erste Sonate für Violine und Klavier von Nikolaj Roslavec. Zwei Komponisten – Mjaskovskij und Mosolov – waren bereits durch ältere Verträge an die UE gebunden.25 Die UE war bei der Aushandlung des Vertrags mit dem Мuzsektor bereit, dem hartnäckigen Sowjetstaat die Werke dieser Autoren unter der Bedingung „zurückzugeben“, dass es zu einer Kooperation käme. Von der Nützlichkeit einer solchen Kooperation überzeugte Dzimitrovskij, der Vertreter der UE, seinen Korrespondenten Deržanovskij auf sowjetischer Seite im Juni 1925: Es liegt weder in unseren noch in den Interessen der Musikabteilung von „Kniga“, sich mit dem Muzsektor zu streiten, und wir haben das auch gar nicht vor. 24 Siehe hierzu ausführlicher Bobrik, Venskoe izdatel’stvo ‚Universal Edition‘ (wie Anm. 2), S. 160–164. 25 Mjaskovskijs Vertrag mit der UE galt von 1925 bis 1930, Mosolovs ab 1927 (der Zeitpunkt des Auslaufens ist nicht bekannt).

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Machen Sie deshalb dem Leiter des Muzsektors klar, dass die Univ[ersal] Edit[ion] nicht daran denkt, russische Komponisten auszutauschen; im Gegenteil, der Verlag ediert sie, um ihnen zum Durchbruch zu verhelfen. […] Ich bin überzeugt, dass[,] falls der Muzsektor Werke russischer Autoren drucken möchte, selbst solcher, die durch einen Fünfjahresvertrag an uns gebunden sind, die Univ[ersal] Edition nachgeben wird, allerdings nur, wenn der Komponist das der U[niversal] Ed[ition] selbst vorschlägt. Natürlich ist die U[niversal] Ed[ition] keinesfalls mit Abtretungen an irgendwelche Verlage im Ausland einverstanden, wird aber dem Мuzsektor ansonsten in allem entgegen kommen. Wenn indes die U[niversal] Ed[ition] eine Edition des Muzsektors zu kaufen plant, sollte das eine beiderseitige Arbeit werden, d. h. der Muzsektor kann die in der U[niversal] E[dition] edierten Werke russischer Komponisten in seinen Katalog aufnehmen und umgekehrt, d. h., wir beziehen die Ausgaben des Muzsektors für andere Länder in unseren Katalog mit ein. […] Mit einem Wort, uns ist es angenehm mit dem Muzsektor in Frieden zu leben. 26

Dieser Brief wie auch andere Materialien belegen, dass der Мuzsektor rasch die Kontrolle über einen Großteil der ins Ausland abgewanderten Musik erlangte. Auch nach dem Vertragsabschluss oblag es der Notenabteilung des Internationalen Buchs, Kontakte zwischen der UE und Sowjetrussland zu vermitteln. Es gibt Hinweise, dass die Notenabteilung sogar eine eigene vertragliche Vereinbarung mit dem Wiener Verlag besaß (dazu mehr am Schluss des Aufsatzes). Wie stellte sich nun die Zusammenarbeit zwischen der UE und dem Мuzsektor konkret dar? Die gemeinsamen Ausgaben wurden in der UdSSR gedruckt, was insbesondere die Gestaltung der Notenumschläge zeigt. Über die gesamte Vertragsdauer hinweg verwendete der Мuzsektor ein nur leicht variiertes Design sowohl bei den gemeinsamen Ausgaben als auch bei seinen Eigenausgaben, letzteres auch noch Jahrzehnte später (Abbildungen 6 und 7). Zur Registrierung der Ausgaben des Мuzsektors wurden die Korrekturabzüge nach Wien geschickt, wo sie von der Verlagsabteilung eine gesonderte Nummer erhielten. Danach gingen die Abzüge zurück nach Moskau und in den Druck. Diese Arbeitsteilung von Herstellung und Vertrieb – d. h. des Drucks der Werke in Russland und ihrer Propagierung durch die UE – erwies sich für beide Seiten als vorteilhaft. Eine mögliche Erweiterung der Zusammenarbeit zeichnete sich am Ende der 1920er-Jahre ab, als die Ausgabe neuer Werke seitens der UE ins Stocken geriet. Dieser Sachverhalt wird mehrfach in den Briefen Dzimitrovskijs an Mjaskovskij gestreift, z. B. am 20. November 1929: „Die Verlagsabteilung erstickt förmlich an Massen neuer, jahrelang herum liegender Werke, die zu drucken sie nicht in der Lage ist.“27 Die Schwierigkeiten erwiesen sich als so 26 Moskau, Rossijskij nacionalʼnyj muzej muzyki [Nationales Musikmuseum Russlands, ehemals Glinka-Museum], Fond 3 (Deržanovskij), Nr. 1048, Blatt 1 und Blatt 1 verso. 27 Brief vom 20. November 1929; RGALI, Fond 2040, Opis’ 2, Delo 141, List 13 verso.

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groß, dass die UE dem Мuzsektor sogar vorschlug, Taschenpartitur-Vorlagen zeitgenössischer nichtrussischer Komponisten in Moskau zu drucken, „und sei es nur, um damit zu werben“28. Der Мuzsektor reagierte indifferent, da ihn der Import zeitgenössischer Musik nicht interessierte; er konzentrierte sich ausschließlich auf die Reklame und rechtliche Absicherung seiner Ausgaben.

Abbildungen 6 und 7: Umschlaggestaltung der gemeinsamen Ausgaben (links, 1928) und der sowjetischen Ausgaben nach Ablauf des Vertrags (rechts, 1946)

Die Auswahl der nach Wien geschickten Werke oblag der Leitung des Мuzsektors. Sie war alles andere als tendenziös und bezog praktisch alle bedeutenden Komponisten Moskaus und Leningrads ein, darunter anerkannte wie junge, Vertreter des modernen wie konservativen Lagers. Blickt man auf die Namen im Einzelnen, macht es den Anschein, dass der Мuzsektor keine ‚Aussonderungen‘ aus politischen Gründen vornahm. Vertreten waren sowohl die Mitglieder der Assoziation proletarischer Musiker Russlands (Rossijskaja associacija proletarskich muzykantov, RAPM) und des Produktionskollektivs der Studenten des Moskauer Konservatoriums (Proizvodstvennyj kollektiv studentov Moskovskoj konservatorii, Prokoll) wie Viktor Belyj, Sara Levina, Boris Šechter, Nikolaj Mjaskovskij im Brief vom 29. August 1933 an Sergej Prokof’ev, in: S. S. Prokof’ev i N. Ja. Mjaskovskij. Perepiska [Der Briefwechsel zwischen Sergej Prokofʼev und Nikolaj Mjaskovskij], hrsg. von Miral’da Kozlova und Nina Jacenko, Moskau: Sovetskij kompozitor, 1977, S. 404–406, hier S. 405. 28

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Čemberdži, Dmitrij Kabalevskij, Aram Chačaturjan und andere, als auch alle namhaften Vertreter der Assoziation zeitgenössischer Musik (Associacija sovremennoj muzyki, ASM) wie Mjaskovskij, Šostakovič, Mosolov, Gavriil Popov und Iosif Šillinger. Laut späterer Auskünfte der UE wurde das sowjetische Verlagsprogramm des Мuzsektors ohne Abstriche übernommen; nur politisch-tendenziöse Werke waren vertragsgemäß aus der gemeinsamen Herstellung ausgeschlossen.29

Abbildung 8: Umschlagtitel des Klavierzyklus Našim rebjatam / Unsern Kindern von Vladimir Fere

Vgl. Detlef Gojowy, Neue sowjetische Musik der 20er Jahre, Laaber: Laaber-Verlag, 1980, S. 36.

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Der Мuzsektor hielt sich an diese Vereinbarung: Abgesehen von einigen offenbar als nicht anstößig empfundenen Werken wie dem Kinderstück „Am Maifeiertag“ op. 12 Nr. 6 von Vladimir Fere (Abbildung 8) blieb das Wiener Verlagsprogramm frei von Agitationsmusik. Selbst für die Zweite (An den Oktober) und Dritte Sinfonie (1. Mai) von Šostakovič – die als selbstständige sowjetische Veröffentlichungen in der Phase der Zusammenarbeit erschienen – wurden keine Ausnahmen gemacht. Man hielt es ungeachtet des starken Interesses an der Musik Šostakovičs für besser, die beiden Programmsinfonien ihrer aktuellen politischen Thematik wegen nicht in den Verlagskatalog aufzunehmen. Dennoch gehörte die Dritte Sinfonie zu den Werken, deren Noten (siehe die oben angeführte Werkliste) Mitte der 1930er Jahre, d. h. bereits nach der Aufhebung des Vertrags mit dem Мuzgiz, über die UE bestellt werden konnten. In welchem Ausmaß wurde sowjetische Musik über die Werke Mjaskovskijs, Šostakovičs und Mosolovs hinaus, d. h. in ihrer ganzen Breite, wie sie sich im UE-Katalog abbildete, nachgefragt? Die vorliegenden Quellen, darunter Angaben über nach Moskau überwiesene Gelder (siehe oben), gestatten die vorsichtige Annahme, dass das Kalkül der UE aufging, d. h. dass der Verkauf sowjetischer Ausgaben Gewinne abwarf. Doch selbst die am meisten nachgefragten sowjetischen Komponisten waren, verglichen mit Stravinskij oder Prokofʼev, nur mittelmäßig erfolgreich. Das belegt auch der Katalog des Historischen Archivs der UE, der die Stückzahlen sämtlicher Ausgaben enthält, darunter die von der UE selbst gedruckten wie die von anderen Verlagen aufgekauften. So erfreuten sich unter den Gemeinschaftsausgaben vor allem folgende Titel einer größeren Nachfrage: die Zwei Stücke für Streichoktett op. 11 von Šostakovič (106 Exemplare; hier und im Weiteren die Stückzahlen laut Katalog für die Phase der Zusammenarbeit mit dem Мuzsektor in Klammern), der Klavierzyklus Vergilbte Blätter von Mjaskovskij (110), die Zweite Klaviersonate von Aleksej Stančinskij (115), die Drei Etüden für Klavier op. 31 von Anatolij Aleksandrov (125), die Dritte Klaviersonate op. 15 von Polovinkin (200), das Zweite Streichquartett ор. 16 von Maksimilian Štejnberg (251), die Rhapsodie für Klavier ор. 17 von Julian Krejn (300), die Stimmen der Ersten Orchestersuite (bearbeitet für Streichquintett und Klarinette) von Julij Ėngelʼ (400). In den meisten Fällen waren die aus der UdSSR bezogenen Stückzahlen niedriger und schwankten zwischen 30 und 70 Exemplaren. Eine Reihe von Werken fand weder bei den Interpreten noch bei den Mitarbeitern der UE Anklang. So stößt man im Historischen Archiv der UE auf bis heute unaufgeschnittene Werkausgaben, darunter der Klavierauszug des Konzerts für Balalaika und Orchester von Sergej Vasilenko, Partituren des Streichquartetts op. 8 von Dmitrij Kabalevskij, der Cavatine für Klavierquintett

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op. 19 von Sergej Evseev, des Zweiten Streichquartetts op. 4 von Borys Ljatošynsʼkyj, des Streichquartetts op. 2 von Vissarion Šebalin u. a. Die Anzahl der nach Wien geschickten Exemplare hing nicht nur vom Prestige der jeweiligen Komponisten ab, sondern auch von der Gattung und Besetzung. Es liegt auf der Hand, dass sich Kammermusik im Ausland weit besser verkaufen ließ als Orchester- oder Vokalmusik, da sie einen geringeren Besetzungsaufwand erforderte und nicht an Textübertragungen gebunden war. Kammermusikwerke wurden aus der UdSSR in der Regel, wie erwähnt, nur in wenigen Dutzend Exemplaren bestellt. Kostspieligere Partituren und Orchesterstimmen kamen nur stückweise nach Wien, im Mittel 5 bis 20 Exemplare je Werk. Angesichts dessen dokumentieren allein die Stückzahlen der Bestellungen ein bestimmtes Interesse an einzelnen Partituren, wie etwa an der Ersten Sinfonie von Šostakovič (30 Exemplare), der Serenade op. 32 Nr. 1 von Mjaskovskij (45 Exemplare) und der Eisengießerei (Zavod) von Mosolov (73 Exemplare). Um die aus Sowjetrussland bezogenen Stückzahlen der UE besser einordnen zu können, ist es hilfreich, sie mit analogen Zahlen der russischen Musikverlage in der Emigration abzugleichen. Der Katalog des Historischen Archivs der UE bietet dazu Anhaltspunkte, finden sich doch in ihm auch Zahlen zu Ankäufen aus dem Russischen Musikverlag, den Verlagen Chester, Forberg, Zimmermann, Carl Fischer und anderen.30 Die vorgefundenen Zahlen belegen, dass die Werke Stravinskijs und Prokofʼevs, der beiden führenden Komponisten der russischen Emigration, um ein Vielfaches stärker nachgefragt wurden als die Musik der sowjetischen Komponistinnen und Komponisten. So bestellte die UE beim Kusevickij-Verlag mehrfach Prokofʼevs Klavierfassung des berühmten Маrsches aus der Oper Die Liebe zu den drei Orangen und bezog diese Ausgabe zwischen 1925 und 1940 in mehr als 1.600 Exemplaren. In etwa demselben Zeitraum erwarb sie bei Forberg auch 1.800 Exemplare von Prokofʼevs Präludium für Klavier ор. 12 Nr. 7. Auch wenn sich nicht alle Werke Prokofʼevs eines so großen Interesses der österreichischen Musiker und Musikliebhaber erfreuten (mit deutlicher Präferenz für Klaviermusik), überstieg doch ihre Nachfrage diejenige nach den vom Muzsektor übernommenen Noten aus der Sowjetunion deutlich. Noch gefragter war das Schaffen Stravinskijs. So kaufte die UE in den 1920er und 1930er Jahren tausende Taschenpartitur-Exemplare bei Chester (die Katzenwiegenlieder, Renard, den Ragtime für 11 Instrumente, die Pribaoutki, die Geschichte vom Soldaten, Les Noces und andere Werke).31 30 Siehe hierzu Bobrik, Venskoe izdatel’stvo ‚Universal Edition‘ (wie Anm. 2), S. 398–405, 406-411 und 422–427. 31 Die genannten Partituren waren zunächst im Katalog des Wiener Philharmonischen Verlags enthalten, bevor sie mit eigenen Ausgaben in den Katalog der UE übergingen.

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Doch kehren wir zurück zu den Editionen des Мuzsektors. Die stärkste Nachfrage im Westen hatten um 1930 nicht sowjetische Kompositionen, sondern die neuen Bände der Werkausgaben Aleksandr Skrjabins und Modest Musorgskijs. Handelte es sich um (postum) erstmals edierte Werke, kaufte die UE bis zur Hälfte der Auflagen in der UdSSR an. So gelangten jeweils 150 der 300 Exemplare von Skrjabins Valse für Klavier und der Romanze für Horn und Klavier sowie 230 von 500 Exemplaren des fünften Bands der Mussorgskij-Edition mit Romanzen und Liedern in der Redaktion von Pavel Lamm nach Wien. Wiederausgaben von Werken, die vor der Oktoberrevolution erschienen waren, erwiesen sich als rechtlich problematisch, wie von Hertzka noch vor Vertragsabschluss mit dem Мuzsektor vorhergesehen. So zog der Versuch der UE, den Klavierauszug des Boris Godunov von Musorgskij in der Redaktion von Lamm zu vertreiben, eine Klage des Bessel-Verlags nach sich. Dabei hatte man den neuen Klavierauszug des Boris Godunov nicht einmal in den Katalog der UE aufgenommen und versuchte offenbar nur einzelne Exemplare abzusetzen. Gleichwohl siegte Bessel, der Erstverleger der Oper in der Redaktion des Autors und Nikolaj Rimskij-Korsakovs, im Rechtsstreit über die UE.32 So konnte sich der Wiener Verlag erst in der zweiten Jahreshälfte 1931, als das ‚Veto‘ des Bessel-Verlags (mit dem Ablauf des damaligen Urheberrechts 50 Jahre nach dem Ableben des Autors) seine Grundlage verloren hatte, an den Vorbereitungen zur ersten Aufführung des Boris Godunow in der Redaktion von Lamm außerhalb Russlands beteiligen. Möglicherweise druckte die UE für ebendiese Aufführung 1932 auch das (von Lamm redigierte und von Max Hube ins Deutsche übersetzte) Libretto des Boris Godunow in einer Auflage von 4.000 Exemplaren. Die deutsche Erstaufführung der Urfassung des Boris Godunow fand am 26. Februar 1932 im Berliner Rundfunk unter der Leitung des aus der Sowjetunion emigrierten Dirigenten Nikolaj Mal’ko statt.33 Mitarbeiter der UE verfolgten die Aufführung im Funk; in der Pause schrieb Dzimitrovskij an Lamm: Wir sitzen hier und hören den „Boris“ […]. Eine Gruppe von Musikern hat sich zusammengefunden, alle sind wie verzaubert und merken erst jetzt, welch ein Genie Musorgskij war und zu welch packenden Orchestereffekten fähig. Wir haben auf Ihre Gesundheit angestoßen, ein Dankeschön dem Staatsverlag, Ihnen und Glebow [d. i. Boris Asaf’ev] für diese Großtat. Ich bin glücklich, diesen Moment erleben zu dürfen. Die Indirekte Hinweise hierzu finden sich im Briefwechsel von Nikolaj Mal’ko 1931 mit russischen Korrespondenten. Vgl. Nikolaj Mal’ko. Vospominanija, stat’i, pis’ma [Nikolaj Mal’ko. Erinnerungen, Aufsätze, Briefe], hrsg. von Olga Dansker, Leningrad: Muzyka, 1972; besonders S. 221–223. 33 Vgl. Paul Stefan, „Im Rundfunk: ‚Boris Godunow‘ in der Urfassung“, in: Anbruch 14/2–3 (Februar/März 1932), S. 54–55. 32

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Sänger sind vorzüglich, das Orchester unter der Leitung von Malʼko spielt tadellos. Jetzt ist Pause, wir warten auf die Szene vor der „Vas[ilij] Blažennij“[-Kathedrale]. Herzliche Grüße, Ihr A. Dzimitrovskij.34

Der Vertrag zwischen der UE und Мuzgiz endete wahrscheinlich am 31. Dezember 1932. An diesem Tag lief die Abmachung mit der Mittlerorganisation Internationales Buch aus.35 Im Frühjahr 1932 sollte UE-Direktor Hertzka den Moskauer Partner besuchen, doch wurde er kurz vor der geplanten Reise krank und starb am 9. Mai 1932. Möglicherweise hätte der Abbruch der Verlagsbeziehungen durch Verhandlungen Hertzkas mit dem neuen Direktor von Мuzgiz, Adolʼf Verchoturskij, herausgezögert werden können. Doch bleiben wir bei den Fakten: Nur drei Monate nach dem Ableben Hertzkas ging ein Schreiben nach Wien ab, das den Vertrag zwischen dem Internationalen Buch und der UE aufkündigte. Da das Internationale Buch ebenso beim Versand von Noten wie bei Geldüberweisungen u. a. eine Mittlerfunktion innehatte, kam die Vertragskündigung faktisch dem Abbruch der Beziehungen zwischen den Verlagen gleich. Allerdings bedeutete die Beendigung des Vertrags nicht gleichzeitig den Abbruch aller Geschäftskontakte. So enthielt der Katalog der UE zwar 1933 letztmals Titel des Мuzgiz, doch fanden 1935 noch Nachbestellungen aus Russland den Weg nach Wien. Die UE versuchte seit 1933, unmittelbar nach der Vertragskündigung mit dem Internationalen Buch, Kontakte zum Sowjetischen Komponistenverband herzustellen. Diese Versuche blieben jedoch in der Mehrzahl der Fälle ohne Erfolg. Nach dem Abbruch der Vertragsbeziehungen machte sich Мuzgiz die fehlende Zugehörigkeit der UdSSR zu internationalen Autorenrechts-Konventionen zunutze und fing an, bei der UE verlegte Werke nachzudrucken. So erschien 1934 in Moskau eine Transkription von Mjaskovskijs Sechster Sinfonie für Klavier zu vier Händen, deren Rechte bei der UE lagen. Mjaskovskij berichtete seinem Freund Prokofʼev im August 1933 von den Vorbereitungen dieser Ausgabe: Die Annahme, „dass die Univ[ersal] Edit[ion] der Ausgabe der Sechsten Sinfonie für Klavier durch Muzgiz deshalb zugestimmt hat, weil es einen Vertrag über gemeinsame Editionen gibt, ist falsch; dieser Vertrag gilt schon lange nicht mehr: die Sechste Sinfonie ist das ausschließliche Eigentum der Universal Edition.“36 Der Abbruch der Beziehungen zwischen der UE und Мuzgiz war durch den Gang der Geschichte vorherbestimmt. In Österreich, das wie andere Länder der Welt auch die Weltwirtschaftskrise durchlebte, verzeichneten die NationalsoziaBrief vom 26. Februar 1932; RGALI, Fond 2743 (Lamm), Opis’ 1, Delo 364, List 481. Dieses Datum wird im Brief Dzimitrovskijs an Mjaskovskij vom 30. August 1932 genannt; RGALI, Fond 2040, Opis’ 2, Delo 141, List 61 verso. 36 Mjaskovskij im Brief vom 29. August 1933 an Sergej Prokof’ev (wie Anm. 28), S. 405. 34 35

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listen in den Wahlen vom April 1932 Erfolge. Der kurze Bürgerkrieg von 1934, der mit der Hinrichtung von Vertretern der Sozialdemokratie und einer weiteren Annäherung an das nationalsozialistische Deutschland endete, bestätigte diese Entwicklung. Die Sowjetunion bewegte sich zu dieser Zeit allmählich in die internationale Isolation; ihre Absage an die Idee des „weltrevolutionären Feuers“ (und der damit verbundenen praktischen Schritte einer Stärkung des Einflusses der UdSSR im Ausland) führte nach und nach zur Ausbildung der stalinistischen Staatskonzeption – dem Aufbau des Sozialismus in „einem für sich stehenden Land“.37 Damit waren die Beziehungen der UE zu den Musikern Sowjetrusslands vorläufig beendet; sie lebten erst Jahrzehnte später wieder auf, als Werke der Aufbruchsgeneration der 1960er Jahre – der Komponisten Ėdison Denisov, Arvo Pärt, Nikolaj Karetnikov u. a. – Eingang in den Katalog des Wiener Verlagshauses fanden. Übersetzung aus dem Russischen: Andreas Wehrmeyer

37 Michail Lobanov, Stalin v vospominanijach sovremennikov i dokumentach ėpochi [Stalin in Erinnerungen von Zeitgenossen und in Dokumenten der Epoche], Мoskau: Algoritm, 2008, S. 347.

Die Autorinnen und Autoren LIDIA ADER promovierte am St. Petersburger Konservatorium über mikrotonale Musik in Europa und Russland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Seit 2006 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rimskij-Korsakov-Museum St. Petersburg, seit 2013 künstlerische Leiterin des Zentrums für neue Technologie in den Künsten „Art-parkING“. Als Kuratorin internationaler Projekte betreut sie Festivals, Konferenzen und multimediale Ausstellungen. Sie veröffentlichte über 40 Aufsätze in fünf verschiedenen Sprachen und ist Herausgeberin bzw. Mitherausgeberin von zehn russisch- bzw. englischsprachigen Buchveröffentlichungen zur russischen und westeuropäischen Musik. Ihr Schwerpunkt liegt auf interdisziplinären Studien zu Mikrotonalität, russischer und sowjetischer sowie zeitgenössischer Musik. INNA BARSOVA wurde 1927 in Smolensk geboren. 1951 schloss sie ihr Studium an der Fakultät für Theorie und Komposition des Moskauer Konservatoriums ab, woran sich bis 1954 eine Aspirantur in der Klasse Igorʼ Sposobins anschloss. Seit 1954 unterrichtet sie am Moskauer Konservatorium, zunächst in den Abteilungen für Instrumentation und Musiktheorie, dann in der Abteilung Russische Musikgeschichte. Nach dem Abschluss ihrer Promotion (1978) wurde sie 1981 zur Professorin ernannt. 1994 erhielt sie den Ehrentitel „Verdiente Kunstschaffende der Russischen Föderation“, 2008 den Orden „Professional Rossii“. Sie ist Autorin mehrerer Bücher und zahlreicher Aufsätze. OLESJA BOBRIK promovierte 2007 über Die Wiener ‚Universal Edition‘ und Musiker aus Sowjetrussland – die Geschichte ihrer Zusammenarbeit in den 1920er und 1930er Jahren (Publikation in russischer Sprache 2011). Gegenwärtig ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Staatlichen Institut für Kunstgeschichte in Moskau (GII) und am Archiv der Musikbibliothek des Bolʼšoj Theaters, außerdem Dozentin am Moskauer Konservatorium. Als Herausgeberin betreut sie seit 2017 die digitale Enzyklopädie Pёtr Il’ič Čajkovskij des GII. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der Musik von Čajkovskij, Arthur Lourié (Artur Lurʼe), Dmitrij Šostakovič und der russischen Emigration sowie der Geschichte der Vokalmusik.

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Autorinnen und Autoren

FRIEDRICH GEIGER, geboren 1966, studierte Musik, Musikwissenschaft sowie Lateinische Philologie in München und Hamburg. 1997 Promotion über den russisch-deutschen Komponisten Wladimir Vogel (1896–1984). Von 1997 bis 2002 Leiter des Forschungs- und Informationszentrums für verfemte Musik an der TU Dresden. 2003 Habilitation mit der Studie Musik in zwei Diktaturen. Verfolgung von Komponisten unter Hitler und Stalin. 2003 bis 2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin, 2007 bis 2020 Professor für Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg, 2020 Ruf an die Hochschule für Musik und Theater München. Arbeitsgebiete in der Musikgeschichte seit dem 18. Jahrhundert sowie der griechisch-römischen Antike. Schwerpunkte bilden die Musik in Diktaturen und im Exil, die Historiographie der populären Musik, die Geographie der Musikgeschichte und das musikalische Urteil. TAMARA LEVAJA ist Professorin und Leiterin der Abteilung für Musikgeschichte des Glinka-Konservatoriums in Nischni Nowgorod. Zu ihren Publikationen gehören die Bücher Paul Hindemith – Leben und Werk (Moskau 1974, gemeinsam mit Oksana Leontʼeva), Russische Musik des frühen 20. Jahrhunderts im künstlerischen Kontext der Epoche (Moskau 1991) und Das 20. Jahrhundert im Spiegel der russischen Musik (St. Petersburg 2017). Sie ist Autorin und Mitherausgeberin der Geschichte der russischen Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (St. Petersburg 2005) und Verfasserin von über hundert Aufsätzen zur Musik des 20. Jahrhunderts. Wissenschaftliche Kontakte mit Deutschland fanden ihren Ausdruck in Vortragszyklen, der Teilnahme an Symposien und Konferenzen sowie in einer Reihe von deutschsprachigen Publikationen. WOLFGANG MENDE studierte Musikwissenschaft, Slavistik und Indogermanistik in Regensburg, Marburg, Moskau und Hamburg. Von 1999 bis 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Musikwissenschaft der TU Dresden, wo er 2005 über Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur (Köln: Böhlau, 2009) promovierte. Seit 2018 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Richard-Wagner-Stätten Graupa. Seine Forschungsthemen sind die russische und sowjetische Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts, die Musikkultur der Spätromantik und frühen Moderne, Instrumentation als semantisches System sowie Richard Wagner und dessen Umfeld. ELENA POLDIAEVA studierte Musikwissenschaft am Moskauer Gnessin-Institut und arbeitete von 1991 bis 1996 als Redakteurin der Zeitschrift Muzykalʼnaja akademija (Musikakademie), der Nachfolgezeitschrift von Sovetskaja muzyka (Sowjetische Musik). 1994 promovierte sie am Moskauer Staatlichen Institut für

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Kunstgeschichte mit einer Arbeit über die russische musikalische Avantgarde der 1910er Jahre. Ab 1996 forschte sie in Archiven in Paris, Basel u. a. über die russische musikalische Emigration, von 1998 bis 2000 im Prokofiev Archive des Goldsmithsʼ College London. 2008 erschien ihre Monographie über Nikolaj Obuchov (Übersetzung ins Französische, Paris 2011). Zur Zeit wirkt sie mit an der Edition der Briefe Petr Čajkovskijs im Schott-Verlag. MARINA RAKU studierte Musikwissenschaft am Rimskij-Korsakov-Konservatorium St. Petersburg und unterrichtete von 1982 bis 2017 an verschiedenen musikalischen Bildungsinstitutionen (Theater-Institut Jekaterinburg, Konservatorium Kasan, Gnessin-Institut Moskau). Seit 2006 ist sie leitende Forscherin des Staatlichen Instituts für Kunstgeschichte in Moskau und wissenschaftliche Redakteurin der Neuen Gesamtausgabe von Dmitrij Šostakovič (DSCH-Verlag). Vorrangige Interessensgebiete sind die Geschichte des Musiktheaters vom 19. bis zum 21. Jahrhundert sowie die Musikkultur der Sowjetunion. Sie ist Autorin der in russischer Sprache veröffentlichten Monographien Wagner (2007), Klassische Musik im Mythenschaffen der Sowjetära (2014), für die sie die Auszeichnung „Buch des Jahres“ erhielt, Opernstudien (2019) und von über 200 Aufsätzen und Artikeln in internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften, Sammelbänden und Enzyklopädien. DOROTHEA REDEPENNING ist Professorin i. R. für Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg, Mitglied in diversen Fachgesellschaften und im Editorial Board internationaler Zeitschriften, assoziierte Professorin am Graduiertenkolleg Europäische Traumkulturen an der Universität des Saarlandes (seit 2015) und Mitglied im Promotionskolleg Kunst, Kultur und Märkte. Geschichte der europäischen Kulturwirtschaft vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart (seit Oktober 2017). Arbeitsschwerpunkte sind die Musik Osteuropas, besonders Russlands, der Sowjetunion und der postsowjetischen Zeit, die Musik des 19. und 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Symphonie und der Oper, Musik und Politik, Filmmusik, interkulturelle Prozesse, Musik und Literatur. CAROLIN STAHRENBERG ist Professorin für Musikwissenschaft an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Sie studierte Musik und Deutsch für das höhere Lehramt sowie Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover (HMTMH) und schloss diese Studien mit einer Dissertation zur populären Musik im Berlin der Zwischenkriegszeit mit besonderem Fokus auf Mischa Spoliansky ab. Stahrenberg arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an Instituten in Deutschland (Forschungszentrum Musik und Gender

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Autorinnen und Autoren

der HMTMH; Zentrum für Populäre Kultur und Musik Freiburg i. Br.) und Österreich (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Universität Innsbruck), bevor sie als Juniorprofessorin für Musikwissenschaft / Gender Studies an die Universität der Künste Berlin berufen wurde. JULIJA VEKSLER studierte Musikwissenschaft am Glinka-Konservatorium Nischni Nowgorod und Deutsche Philologie am dortigen Dobroljubov-Institut für Fremdsprachen. Seit 2000 ist sie Professorin am Lehrstuhl für Musikgeschichte am Glinka-Konservatorium Nischni Nowgorod. Ihre Forschungen konzentrieren sich zeitlich auf das 20. Jahrhundert und räumlich auf deutschsprachige Länder; vorrangige Interessensgebiete sind die Musikkultur der Wiener Moderne und der 1920er–1930er Jahre, die Wiener Schule, insbesondere Alban Berg, der Schaffensprozess sowie die Methodologie der Musikwissenschaft. STEFAN WEISS studierte Musikwissenschaft, Anglistik und Germanistik an der Universität zu Köln (Promotion 1996 über Die Musik Philipp Jarnachs). Von 1997 bis 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Musik Dresden, seitdem ist er Professor für Historische Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Seine Forschungen gelten vorwiegend der Musik des 20. Jahrhunderts und haben ihren Schwerpunkt in der russischen und deutschen Musikgeschichte. Von 2012 bis 2016 war er Leiter des DFG-Projekts Deutsch-russische Musikbegegnungen 1917–1933: Analyse und Dokumentation, aus dem die vorliegende Publikation hervorgegangen ist.

Personenregister Abendroth, Hermann 77–82, 105 Abramskij, Aleksandr 331, 348 Achron, Izidor 71 Adelung, Friedrich von 219 Ader, Lidia 11, 162, 369 Adorno, Theodor W. 195 Aischylos 315 Ajsberg, Ilʼja 348 Akopjan, Levon 26 Albrecht, Eugen Maria 222f. Albrecht, Karl (Konstantin) 222, 227–229, 234 Albrecht, Ludwig 222f. Aleksandr I., Zar 220, 245 Aleksandr II., Zar 220 Aleksandra Fëdorovna, Zarin (Charlotte von Preußen) 220 Aleksandrov, Anatolij 330–332, 336, 348, 359f., 364 Aljab’ev, Aleksandr 56, 229, 246 Amar, Licco 282 Amfiteatrov, Daniil 348 Annenkov, Jurij 33 Ansermet, Ernest 101 Antjufeev, Boris 348 Aron, Paul 176 Arrau, Claudio 331 Asaf’ev, Boris (Pseudonym: Glebov, Igorʼ) 17, 23f., 108, 115, 182, 193, 207, 209– 213, 215, 267, 287, 289, 291, 358, 366 Aseev, Nikolaj 30 Auer, Leopold 227 Austin, William 320 Avraamov, Arsenij 115, 304, 306, 314 Babeuf, François Noël 34 Bach, Johann Sebastian 17, 71, 132, 176, 210, 223, 228, 231, 235, 248, 288, 331, 359 Bachčiev, Aleksandr 297 Bachmet’ev, Nikolaj 242 Baglióni, Silvestro 305 Bagrinovskij, Michail 33 Bakunin, Michail 22 Balaban, Emanuel 132f., 164 Balakirev, Milij 50f., 239f., 243, 248, 255 Balʼmont, Konstantin 26, 134

Baratynskij, Evgenij 46 Barbusse, Henri 21 Barchan, Paul 41 Baron, Erich 327–331, 341–345 Barsova, Inna 11, 184, 188, 297, 325, 369 Bartók, Béla 173, 176, 181, 348 Baškirov, Boris Nikolaevič (Verin) 89 Batʼ, Natalija 297 Bauer, Harold 110 Bebutov, Valerij 34 Beck, Walter 106 Beethoven, Ludwig van 8f., 16–30, 33, 38, 68, 71, 77, 124, 161, 169, 177, 180, 225, 227–229, 231, 235f., 245f., 248, 282 Beevor, Antony 117 Behling, Heinrich Gottfried, 223 Behne, Adolf 76f. Bekefi, Julia 60 Bekker, Paul 22–24, 27, 287 Beleckij, Valentin 348 Beljaev, Mitrofan 117, 155, 158, 242f. Beljaev, Viktor Michajlovič 115, 185f., 205, 209, 272, 278, 285f., 288–290, 297, 321f., 356, 358 Bellini, Vincenzo 236 Belyj, Andrej 63, 88, 159, 296, 299, 348, 362 Bėlza, Igorʼ 348 Benjamin, Walter 36 Béranger, Pierre-Jean de 47, 51 Berezovskij, Maksim 222 Berg, Alban 10, 114, 181, 184–215, 260– 263, 348 Berg, Helene 187, 189f., 195, 214 Berger, Ljubovʼ 297 Berlioz, Hector 168, 227, 231, 236f., 239, 248 Bernhard, Moritz (Matvej Ivanovič) 224 Bernhard, Nikolaj Matveevič 224 Besselʼ, Ivan 240f. Besselʼ, Vasilij 240 Bezymenskij, Aleksandr 26 Biek, Hermann 131f., 163 Birk, Hans 47 Bizet, Georges 175, 260 Bjucov, Vladimir 48, 51 Blaževič, Vladislav 348

374 Blech, Leo 108 Blei, Franz 286 Blok, Aleksandr 22, 121, 134, 156, 173, 182, 194 Blumenfelʼd, Feliks 243, 348 Blüthner Julius 157 Bobrik, Olesja 11, 276, 369 Bočarov, Michail Vasil’evič 200f. Bočarov, S. 206 Böcklin, Arnold 256 Bodanzky, Artur 110 Boell, Heinrich 295 Bogdanov-Berezovskij, Valerian 120, 155, 188, 193, 200, 208, 287, 318 Boguslavskaja, Ksenija 43–45 Böhm, Franz 228 Böhmer, Ulrike 12 Böhmig, Michaela 48 Bohnke, Emil 130 Borchman, Aleksandr 348 Borisovskij, Vadim 284, 348 Borodin, Aleksandr 16, 51, 239, 241, 243, 254, 255 Borovskij, Aleksandr 102, 104f. Bortnjanskij, Dmitrij 222, 242 Botstein, Leon 121 Brahms, Johannes 71, 77, 169, 244, 246f. Bran, Mėri 104f. Brand, Max 206 Brandts Buys, Jan 175 Braudo, Evgenij 235 Braunsweg, Julian 144 Brecher, Gustav 75, 295, 329 Breisach, Paul 295 Brežnev, Leonid 83 Brjusov, Valerij 33 Brodsky, Adolf 240 Browne, George von 245 Bruckner, Anton 71, 101 Bruhn, Siglind 267 Büchner, Georg 195 Buchon, Stephan 347 Budjakovskij, Andrej 287 Bülow, Hans von 227, 239 Bulwer-Lytton, Edward 34 Bunimovič (Muzalevskij), Vladimir 287 Burgin, Richard 356 Burkard, Heinrich 276 Busch, Adolf 75 Busch, Fritz 127–132, 136, 164, 169, 173– 175, 177 Busch, Grete 158

Personenregister Busch, Regina 214 Bush, Alan 319 Busoni, Ferruccio 130, 320, 328, 341 Bussler, Ludwig 234 Bützow, W., siehe Bjucov, Vladimir Bychkova, Maria 12 Byron, George Gordon (Lord) 256 Čajkovskij, Petr 7, 16, 49–51, 70f., 81, 127, 132, 143, 148, 158, 175, 222, 224, 226, 233f., 239f., 242f., 248, 250, 252, 255– 257 Carrillo, Julián 304 Casella, Alfredo 176, 188, 282, 289, 348 Caspar, Walter 282 Čechov, Anton 117, 180, 256 Cederbaum, Vladimir Nikolaevič 96 Čeliščev, Pavel 88 Čemberdži, Nikolaj 363 Čeremuchin, Michail 321 Čerepnin, Aleksandr 135 Čerepnin, Nikolaj 244 Chačaturjan, Aram 348, 363 Chain, Ernst Boris 330 Changoschwili, Selimchan 7 Charms, Daniil 292 Chejfec, Nikolaj 261 Chennevière, Daniel 235 Cherubini, Luigi 227 Cholopov, Jurij 297 Chopin, Frédéric 16f., 70f., 244, 356 Chruščev, Nikita 21 Coates, Albert 185 Codina, Lina 87, 89 Cooper, Emil 170 Cossmann, Bernhard 234 Cranz, August 246 Crommelynck, Fernand 277 Čulaki, Michail 293 Cvetaeva, Marina 63 Czerny, Carl 232, 233, 270 Damrosch, Walter 110 Dansker, Vladimir 193 Dante Alighieri 182, 256 Dargomyžskij, Aleksandr 51, 226, 228f., 231, 241–243, 249, 251–253, 290 Daumer, Georg Friedrich 246 David-Fox, Michael 116 Davydov, Karl 233 Davydova, Lidija 297 Debussy, Claude 235, 244

375

Personenregister Dehn, Siegfried 237f. Delibes, Leo 49 Delova, Maria 12 Demčinskij, Boris 108f. Denisov, Ėdison 368 Deržanovskij, Vladimir 284, 296, 360 Deševov, Vladimir 26, 115, 193, 336, 348 Dianin, Sergej 321 Diederich, Johan Friedrich 224 Diesterweg, Adolf 70 Djagilev, Sergej 87f., 107, 110, 112, 125, 141f., 145–147, 149, 151, 164, 243f. Dobrovejn, Isaj 20, 127–129, 131, 134, 143f., 159, 164, 172, 175, 177 Dobrynin, N. 55 Dobužinskij, Mstislav 33, 126, 147, 163, 173, 178f. Dolina, A. 342 Donizetti, Gaetano 236, 237 Door, Anton 233 Dostoevskij, Fëdor 157, 207, 209f., 253 Dranišnikov, Vladimir Aleksandrovič 121, 185, 187f., 193–195, 200, 207f., 267 Dreyschock, Alexander 232 Drigo, Riccardo 49 Druskin, Michail 119, 194, 198, 283, 285, 287–289, 295, 297, 342f. Dubuque, Alexandre (Djubjuk, Aleksandr) 233 Dukas, Paul 118 Dulova, Vera 118 Dürer, Albrecht 291 Dymšic-Tolstaja, Sofija 16 Dzegelenok, Aleksandr 331, 339 Dzimitrovskij, Abram 349, 356, 360f., 366f. Ėberg, Ėrnest Aleksandrovič 94, 96–100, 102f. Eberl, Heidrun 12 Eimermacher, Karl 221 Einstein, Albert 75 Eisler, Hanns 82f., 119, 340f., 346 Eisner, Bruno 330 Ėjzenštejn, Sergej 36f., 114 Ėkskusovič, Ivan 189f. Elena Pavlovna, Großfürstin (Charlotte von Württemberg) 220, 227, 230–232, 238 Ellis, Alexander John 306 Ėluchen, Aleksandr Karlovič 96 Eluchien, A. 51 Emeljanoff, E. 51 Ėngel’, Julij 234, 364

Ėnke, Vladimir 267 Ėrenburg, Ilʼja 63 Erkel, Ferenc 247 Esenin, Sergej 26, 63 Ėtinger, Mark 297 Everardi, Camille 201, 227 Evseev, Sergej 331, 365 Fabian, Johannes 41 Fall, Richard 107 Famincyn, Aleksandr 255 Fejnberg, Samuil 26, 115, 330–334, 341, 348, 360 Feoktistov, Vladimir 321 Fere, Vladimir 363f. Feuermann, Emanuel 284 Field, John 227, 232, 245 Finck, Werner 62 Findejzen, Nikolaj 235 Fink, Wilhelm 221 Fitelberg, Grzegorz 104f. Flesch, Hans 342 Fomičev 293 Fortunova, Anna 12 Foucault, Michel 61 Foulds, John 315 France, Anatole 145 Frank, Maurits 282 Franke 157 Frenkel, Stefan 331, 336 Fried, Oskar 107 Friedland, Martin 69 Friedman, Ignaz 232 Friedrich III. von Schleswig-HolsteinGottorf, Herzog 219 Friedrich, Hedwig 159 Furtwängler, Wilhelm 96, 107, 131, 294f., 356 Gail, Hermann Rudolf 186 Ganzen, Cecilija 88 Garbuzov, Nikolaj 314 Garšin, Vsevolod Michajlovič 180 Gauk, Aleksandr 284 Gedike, Aleksandr 91, 223, 356, 359 Gedike, Aleksandra 223 Geiger, Friedrich 11, 70, 75, 370 Gerke, Anton 227, 231–233 Gerke, August 232 Gessen, Iosif 102, 104 Gevaert, François-Auguste 234 Gieseking, Walter 174

376 Ginzburg, Leo 119, 342 Ginzburg, Semen 287 Glazunov, Aleksandr 49, 70–72, 88, 102, 113, 115, 125, 132, 149, 193, 242f., 255f., 330 Glebov, Igorʼ, siehe Asaf’ev, Boris Gliėr, Rejngolʼd 271, 296, 299, 348, 359 Glinka, Michail 16, 35, 45f., 49–51, 54, 70, 143, 222, 226, 228–231, 236f., 241–243, 245, 248, 256 Gluck, Christoph Willibald 228, 231, 255 Gnesin, Michail 26, 115, 336 Gödicke, Heinrich Gottfried 223 Goetze, Peter von 245 Gogockij, Nikolaj 48–51, 54, 62 Gogolʼ, Nikolaj Vasilʼevič 180, 210, 249, 253, 277, 280 Gojowy, Detlef 283, 325 Golʼdenvejser, Aleksandr 349 Golland, Iso 336 Gor’kij, Maksim 20, 63 Gorodeckij, Sergej 35, 38 Gottsched, Johann Christoph 220 Grabowsky, Adolf 75 Grahn, Gerlinde 328 Graun, Carl Heinrich 227 Grečaninov, Aleksandr 90, 115 Grisi, Giulia 227 Grjunberg, Evgenij 102 Großmann, Stefan 55, 60 Gruber, Roman 287 Grützmacher, Friedrich 233 Günther, Hans 31 Gutchejlʼ, Aleksandr Bogdanovič 92 Gutchejlʼ, Karl 92, 97, 99, 110, 224 Gutman, Natalja 296 Gutschoff, Ernst von 143f. Haas, David Edwin 120 Hába, Alois 117, 176, 304f., 307, 309–311, 313, 315–318, 320–322, 348 Halévy, Fromental 315 Halle, Fannina 358 Händel, Georg Friedrich 68, 227f., 231, 248 Handschin, Jacques 223 Hanon, Charles-Louis 270 Hanslick, Eduard 240 Hasenclever, Walter 199 Hauptmann, Moritz 233 Haydn, Joseph 226f., 245, 282 Hébertot, Jacques 109 Heger, Robert 211

Personenregister Heller, Abraham 118 Hellmesberger, Josef 240 Helmholtz, Hermann von 306 Henselt, Adolf 222, 227, 237 Herberstein, Siegmund Freiherr von 219 Herder, Johann Gottfried 244, 245 Heřman, Jan 317 Hermann, Paul 331 Herrmann-Neiße, Max 48, 56, 60 Hertzka, Emil 135, 164, 349, 351–355, 366f. Herz, Henri 246 Hindemith, Paul 9, 11, 114, 117, 181f., 258– 281, 282–299 Hindemith, Rudolf 282 Hirschberg, Walther 133 Hitler, Adolf 8, 35, 38, 83, 110f., 117 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 142f. Holde, Artur 320 Holy, Karl 108 Homer 254 Horowitz, Vladimir 330 Hube, Max 366 Hummel, Johann Nepomuk 237 Huntly Green, Gertrude 161 Ippolitov-Ivanov, Michail 49f., 54, 98, 356 Ivanov, Michail 98 Ivanov, Vjačeslav 33 Ivanov-Boreckij, Michail 115 Izjumov, A. 134 Jacob-Loewenson, Alice 336 Jacques-Dalcroze, Emile 171, 173 Jakulov, Georgij 34 Janáček, Leoš 348 Jarnach, Philipp 117, 130 Jarno, Georg 130 Járosy, Friedrich 44, 46–48 Javorskij, Boleslav Leopolʼdovič 115, 349 Jaworsky, A. 55 Jessner, Leopold 329 Jordan 55 Judina, Maria 213, 296 Jung, Carl Gustav 159 Jurgenson, Boris 224 Jurgenson, Pëtr 224 Jurovskij, Aleksandr Naumovič 349, 351– 355, 360 Jurovskij, Leonid 349 Jushny, Jascha (Južnyj, Jakov Davidovič) 39f., 42f., 45f., 51f., 55, 58f., 62

Personenregister Kabalevskij, Dmitrij 30, 363f. Kac, Boris 125 Kaempfer, Walther 336 Kagan, Oleg 296 Kalafati, Vasilij 168 Kalkbrenner, Friedrich 232 Kamenev, Lev 326 Kameneva, Olʼga 326, 327, 329 Kamenskij, Aleksandr 284 Kandinskij, Vasilij 204 Kapp, Julius 236 Karatygin, Vjačeslav 235, 236, 307f. Karetnikov, Nikolaj 368 Karsavin, Lev 164 Kaškin, Nikolaj 234 Kastalskij, Aleksandr 19 Kataev, Vitalij 121 Katharina II., die Große, Zarin 219–221, 227 Katuar, Georgij 115, 233 Kaufmann, Willy 51 Kedrov, Michail 20 Keldyš, Jurij 29 Kellermann, Bernhard 329 Kenelʼ, Aleksandr 320–323 Keržencev, Platon 33 Kestenberg, Leo 75 Kirsanov, Semen 26 Kiselev, Peter 297 Kjui, Cezarʼ 231, 239f., 242f., 250–253, 255 Kleiber, Erich 184, 188, 195 Klemperer, Otto 27f., 75, 79, 81f., 96, 119, 188, 294 Klindworth, Karl 233, 255 Knappertsbusch, Hans 27 Knipper, Lev 115, 117, 356, 359 Knöll, Heinrich 309 Koch, Klaus-Peter 221 Kogan, Z. 48 Kokoschka, Oskar 286 Koljasin, Wladimir 39 Kolomijcev, Viktor 38 Kon, Juzef 297 Konjus, Julij Ėduardovič 96 Kopelev, Lev 221 Košic, Nina 110 Kovalenkov, Valentin, 321 Kozlov, Ivan 56 Krauss, Clemens 106 Krejn, Aleksandr 26, 331, 336 Krejn, Grigorij 117f., 336 Krejn, Julian 117f., 356, 364

377 Křenek, Ernst 181, 186, 192, 208, 259f., 263, 267, 292, 348 Kretzschmar, Hermann 235 Kreutzer, Leonid 70 Krjuger, Aleksandr 287 Krueger, Elsa 143 Krupskaja, Nadežda Konstantinovna 316 Kučerjavyj, Nikolaj 102 Kukuričkin, Semen (Gres, A.) 287 Kulʼbin, Nikolaj 306 Kullak, Theodor 238 Kurth, Ernst 182 Kusevickaja, Natalʼja 98, 100, 111 Kusevickij, Sergej 10, 66, 70, 87f., 90–102, 104, 110f., 224, 354, 365 Kuzmin, Michail 201, 203f., 210, 213 Kvadri, Michail 321 Lamm, Pavel 296, 359, 366 Landau, Alexander 205 Langer, Eduard 233 Langer, Leopold 233 Lapickij, Iosif Michajlovič 205f. Laroche, Hermann (Laroš, German) 233, 251f., 255 Lasso, Orlando di 237 Laub, Ferdinand 234, 240 Lavorskaja, Elizaveta 232 Lebedev, Vladimir 292, 298 Le Corbusier 290 Lederer, Felix 107 Léhar, Franz 192 Lehmann-Lukas, Erich 327, 329 Lejberg, Pavel 314 Lenin, Vladimir Ilʼič 20f., 26, 30, 33, 63, 212, 303, 316 Lenz, Wilhelm von 240 Leoncavallo, Ruggero 68, 145 Leontʼeva, Oksana 297 Leschetizky, Theodor 232 Leskov, Nikolaj 173, 180, 210 Levaja, Tamara 11, 370 Levik, Boris 297 Levik, Sergej 193, 199, 201, 203 Levin, Moisej Zelikovič 193, 199, 201f. Levina, Sara 362 Lichačëv, Dmitrij 303 Lichtenberger, Henri 236 Lindemann, Ewald 106 Lindner, Edwin 174 Lindström, Karl 342 Lippold, Max 175

378 Liszt, Franz 70f., 132, 138, 227, 231, 233– 235, 237, 239–242, 246–248, 256 Ljadov, Anatolij 70f., 227, 242f., 249 Ljadov, Konstantin 249 Ljapunov, Sergej 233 Ljatošynsʼkyj, Borys 365 Lobe, Johann Christian 234 Lopuchov, Fedor 21f. Lourié, Arthur, siehe Lur’e, Artur Lunačarskij, Anatolij 19–23, 27, 33, 206, 276, 312, 316, 349 Lurʼe, Artur (Lourié, Arthur) 113, 162f., 304–306, 314 L’vov, Aleksej 228f., 246 L’vov, Fëdor 228 L’vov, Nikolaj 244 Mager, Jörg 304f., 311f., 316, 318 Mahler, Gustav 22f., 71, 121, 174f., 181, 240, 262 Majakovskij, Vladimir 30, 63, 88, 114, 134, 192 Malachovskij, Nikolaj 317f., 321–323 Mal’ko, Nikolaj 209, 213, 260, 284, 366f. Malkov, Nikolaj 129, 136, 154, 287 Mann, Thomas 75 Manteuffel, Graf 100 Marc, Franz 204 Marija Fëdorovna, Zarin (Sophie Dorothee von Württemberg) 220, 245 Maršak, Samuil 292 Martinů, Bohuslav 282 Marx, Adolf Bernhard 233 Massenet, Jules 145 Matjušin, Michail 306, 314f. Maurer, Ludwig Wilhelm 222, 227f. Meincke, Anna 165–167, 180 Mej, Lev 250 Mejerchol’d, Vsevolod 34, 114, 199, 277, 293, 355 Mekk, Nadežda fon (von Mekk) 240, 255 Mende, Wolfgang 10, 12, 298, 370 Mendel, Hermann 247 Mendelssohn Bartholdy, Felix 70, 229, 231, 234, 236, 238 Mengelberg, Willem 235 Mercy-Argenteau, Louise de 242 Mérimée, Henri 237 Mérimée, Prosper 237 Mersmann, Hans 337 Mesuere, Felisa 12 Metner, Anna Michajlovna 160

Personenregister Metner, Ėmilij 129, 159f., 171, 174 Metner, Nikolaj 64, 88, 90–92, 122, 129, 134f., 137, 140, 143, 150, 159–161, 163, 171, 174, 223 Meyerbeer, Giacomo, 227, 257 Meyrink, Gustav 149, 173 Michaelis 344 Michail Pavlovič, Großfürst 220 Mičurin, Ivan Vladimirovič 29 Miklaševskij, Igorʼ 319 Milhaud, Darius 176, 276, 278 Misch, Ludwig 67, 69 Mjaskovskij, Nikolaj 25f., 101, 121, 271, 296, 332, 348f., 356f., 359–361, 363– 365, 367 Moissi, Alexander 59 Mokulʼskij, Stefan 208 Möllendorff, Willi (Willy von) 304f., 313f., 316, 318 Mombert, Albert 204 Moores, Thomas 238 Morgenstern, Christiane 12 Morgenstern, Soma 195 Moscheles, Ignaz 232f. Mosolov, Aleksandr 11, 26, 114f., 258, 261, 265–272, 275–281, 285, 288, 348, 359f., 363–365 Mottl, Felix 235 Mozart, Wolfgang Amadeus 51, 71, 143, 174, 209f., 214, 227–229, 231, 249, 253, 282 Mravinskij, Evgenij 297 Muck, Karl 256 Muradeli, Vano 296, 299 Musil, Robert 54 Musorgskij, 233, 239, 241, 243f., 249, 253, 256f. Musorgskij, Modest 16, 23, 29, 49, 51, 70– 72, 175, 199, 207, 226, 342, 359, 366 Nabokov, Nikolaj 63, 65, 67, 72–74, 111 Napravnik, Eduard 227 Narbutov 135 Naue, Willy 174 Navalʼnyj, Aleksej 7 Nejgauz, Genrich (Neuhaus, Heinrich) 221 Nemtsov, Jascha 118 Nestʼeva, Marina 89 Neumann, Angelo 255 Ney, Elly 232 Nikisch, Arthur 102, 143, 227, 243 Nikolaj I., Zar 220, 245

Personenregister Nikolʼskij, Jurij 321 Nissen-Saloman, Henriette 227, 232 Nižinskij, Vaclav 244 Oborin, Lev 321, 356 Obuchov, Nikolaj 162 Odoevskij, Vladimir 228 Ojstrach, David 296 Olearius, Adam 219 Orlov, Aleksandr 34 Orlov, Genrich 120 Osborn, Franz 330, 341, 343 Ossovskij, Aleksandr 91f., 149f., 308 Ožigova, Marija 323 Paderewski, Ignacy Jan 136 Pajčadze, Gavriil Grigorʼevič 94, 96f., 109– 111 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 237 Pärt, Arvo 368 Paščenko, Andrej 26 Pasternak, Boris 63 Patti, Adelina, 227 Pavel I. (Pavel Petrovič), Zar 220, 245 Pavlova, Zinaida 66 Pavlovskaja, Valentina Konstantinovna 187f., 194, 198 Pergolesi, Giovanni Battista 227, 229 Perl, Carl Johann 143 Petr I., der Große, Zar 219 Petri, Egon 27, 78, 81f. Petrov, Fedor 326, 345 Petyrek, Felix 309 Petzet, Walter 143 Petzko-Schubert, Therese 330 Pfitzner, Hans 174f. Picasso, Pablo 144 Piscator, Erwin 298 Pisk, Paul Amadeus 358 Planas Pla, Ferran 12 Pokrovskij, Michail 16 Poldiaeva, Elena 10, 12, 370 Polgar, Alfred 57, 61f. Poliziano, Angelo 145 Poljakin, Miron 70 Poljakova, Ada 72 Polnauer, Josef 195 Polovinkin, Leonid 26, 332, 336, 348f., 359, 364 Pomerancev, Jurij 102, 143, 145 Popello-Davydov, Michail 48f. Popov, Aleksandr 210

379 Popov, Gavriil 26, 259–261, 263f., 281, 295, 348, 363 Porfirʼeva, Anna 220 Poulenc, Francis 176 Pratsch, Johann (Práč, Jan; Prač, Ivan) 245 Pratt, Mary Louise 40 Preußner, Eberhard 337 Pringsheim, Heinz 69f. Prokof’ev, Oleg 89 Prokof’ev, Sergej 10, 64, 74, 87–112, 114, 118, 125, 132, 143, 146, 148, 158, 184, 188, 199, 208, 253, 259f., 267, 282, 291, 293, 330f., 347, 354, 364f., 367 Prokof’ev, Svjatoslav 89 Prokofʼeva, Lina 89 Prokofʼeva, Marija Grigorʼevna 89 Protopopov, Sergej 115, 348 Prutkov, Koz’ma 277 Pšibyševskij, Boleslav 29f. Puškin, Aleksandr Sergeevič 175, 249–253 Putin, Vladimir 7f. Raab, Wilhelma 232 Rabinovič, Isaak 284 Rachmaninov, Sergej 64, 71f., 90–92, 96, 114, 136–138, 140, 158–160, 181, 233, 243, 253, 256, 347 Rachmanov, Aleksandr 34 Radlov, Sergej Ėrnestovič 10, 185, 187, 193, 195, 199f., 207 Rakint, Vladimir 144f., 147, 163 Raku, Marina 9, 371 Rasch, Hugo 66f., 69 Rasputin, Grigorij 298 Raucheisen, Michael 72 Raupach, Hermann Friedrich 222 Ravel, Maurice 68, 244 Razin, Stepan (Stenʼka) 33 Razumovskij, Andrej 245 Redepenning, Dorothea 11, 371 Redslob, Erwin 329 Reger, Max 130, 152, 169, 174, 177, 181, 235 Reinhart, Werner 214 Reiwachowsky, F. 55 Remizov, Aleksej 88 Renčickij, Pavel 321 Richter, Svjatoslav 221, 296 Riemann, Hugo 225, 235, 306 Ries, Ferdinand 232, 246 Ries, Franz 172 Riesemann, Oskar von 129, 131

380 Rimskij, Leonid 163 Rimskij-Korsakov, Georgij 304, 307f., 310–312, 314f., 317–323 Rimskij-Korsakov, Nikolaj 16, 49–51, 70, 167f., 232, 240, 242f., 250f., 253–255, 308, 366 Ritter, Sigismund 227 Rjabinin, Josef 55 Rjazancev, Lev (Rjasanzew, Leo) 336 Romanov, Boris 142–149, 163f., 166, 172 Romberg, Bernhard 246 Romberg, Cyprian Friedrich 222f. Romberg, Heinrich Maria 222f., 227 Roslavec, Nikolaj 25f., 114, 280, 331, 336, 348, 360 Rostropovič, Mstislav 296 Roždestvenskij, Gennadij 297 Rozenov, Ėmilij 314 Rubini, Giovanni Battista 227 Rubinštejn (Rubinstein), Anton 158, 227, 229–233, 237f., 247, 249 Rubinštejn (Rubinstein), Ida 118 Rubinštejn (Rubinstein), Nikolaj 222, 232– 234, 238, 242 Rudnickij, Antin 331 Rybnikova, Ljubov’ 91 Ryžkin, Iosif 297 Saal, Max 118 Sabaneev, Leonid 16, 24, 26, 36, 74f., 91, 306, 330, 358 Sabinina, Marina 26 Said, Edward 40 Saitschenko, Olga 326 Sakheim, Arthur 39 Salieri, Antonio 253 Šaljapin, Fëdor 243 Salter, Norbert 98, 102 Saminskij, Lazarʼ 136–138, 140, 151, 164 Samosud, Samuil 292, 298 Sanderling, Kurt 295 Sanzio, Raffaello 173 Šaporin, Jurij Aleksandrovič 194, 348 Šapošnikov, Adrian 331, 348 Saradžev, Konstantin 356 Sarasate, Pablo de 330 Sarti, Giuseppe 227 Satin, Aleksandr 137f., 159f. Satina, Varvara 137f., 159f. Satina, Sofija 137 Sauer, Emil 234 Ščedrin, Rodion 253

Personenregister Ščerbačëv, Arkadij 155 Ščerbačëv, Fëdor 155 Ščerbačëv, Oleg 154, 171 Ščerbačëv, Vladimir Fëdorovič 154 Ščerbačëv, Vladimir Vladimirovič 10, 26, 112–183, 259–261, 263, 336, 359 Ščerbačëva, Marija 119, 121–124, 126, 128f., 131f., 134–137, 142, 144, 146, 148f., 153f., 161f., 166, 168, 170–174 Schaeffer-Eisner, Olga 330 Schein, K. 51, 55 Scheinpflug, Paul 329 Schembera-Teufenbach, Werner 350 Scherchen, Hermann 119, 214 Schiffer, Marcellus 278, 293 Schillings, Max von 75, 329 Schlögel, Karl 63 Schnabel, Artur 27, 119, 232 Schnéevoigt, Georg 140 Schnoor, Hans 59 Scholz, Friedrich 222 Schönberg, Arnold 10, 152, 173, 177, 184, 212f., 235, 259f., 262f., 280f., 286, 288, 298, 310, 348, 358 Schreker, Franz 80, 114, 118, 199, 208, 309 Schröder, Johann Friedrich (Šrëder, Johann Friedrich) 224 Schubert, Franz 17, 51, 71, 230f., 235, 245 Schuberth, Carl Eduard (Šubert, Karl Bogdanovič) 222f., 227f., 232f. Schuberth, Friedrich 222f. Schuberth, Ludwig 222f. Schulhoff, Erwin 309 Schumann, Clara 227, 230 Schumann, Robert 70f., 132, 230f., 234, 238f. Schuncke, Familie 158 Schünemann, Georg 310 Schuré, Édouard 236 Schuster, Alice 336 Schuster, Polina 49, 50 Schütz, Heinrich 176 Schützendorf, Leo 198 Schwers, Paul 66, 69f. Ščuko, Vladimir 33 Šebalin, Vissarion 26, 30, 321, 348, 365 Šechter, Boris 348, 362 Seidler-Winkler, Bruno 107 Šenšin, Aleksandr 348 Serkin, Rudolf 329 Serov, Aleksandr 236, 238–240, 242, 249– 251

Personenregister Šeršenevič, Vadim 34 Šestakova, Ljudmila 241 Shakespeare, William 256 Siegel, Rudolf 77, 79, 295 Šillinger, Iosif 336, 348, 363 Simon, James 336 Simrock, Karl 246 Širinskij, Vasilij 285, 288, 331, 348 Sirota, Leo 71 Šišov, Ivan 348 Šklovskij, Viktor 63 Skrjabin, Aleksandr 16, 18, 90f., 114, 127, 131f., 143, 158, 169, 177, 233, 243, 256, 267, 330–332, 334f., 352, 366 Šlecer (Schloezer), Boris 307 Slobodskaja, Oda 67 Slonimskaja, Raisa 120–122, 135, 149, 154, 163, 174, 177, 179, 182 Slonimskij, Sergej 120 Smetana, Bedřich 247 Smolič, Nikolaj Vasilʼevič 192, 292, 298 Sobinov, Leonid 38 Šokin, Vladimir 348 Sollertinskij, Ivan 211, 213–215, 287 Soloduev, Vasilij 348 Sonntag, Henriette 227 Šostakovič, Dmitrij 7, 26, 114f., 118, 190, 210f., 214, 253, 259, 267, 280–282, 294–296, 321, 348, 356, 359, 363–365 Spendiarov, Aleksandr 348 Spengler, Oswald 178 Spohr, Louis 227, 231 Spoliansky, Mischa 56 Šrëder, Ivan Ivanovič 224 Šrëder, Karl Ivanovič 224 Stählin, Jacob von 220 Stahrenberg, Carolin 9, 371 Stalin, Iosif 8, 21, 83 Stančinskij, Aleksej 331f., 348, 364 Stanislavskij, Konstantin Sergeevič 192, 195, 291f., 355 Starokadomskij, Michail 321 Stasov, Andrej 133, 148, 161 Stasov, Dmitrij 148 Stasov, Vladimir 50, 148, 236–238, 240, 242, 248, 252–256 Stefan, Paul 358 Steibelt, Daniel 222 Stein, Richard Heinrich 304f., 313, 315f. Steinberg, Hans Wilhelm 78, 80 Steiner, Rudolf 159 Štejnberg, Maksimilian 149f., 359, 364

381 Stekel, Eric-Paul 295 Štern, Ljudmila 76 Steuermann, Eduard 117 Stiedry, Fritz 77, 209, 214, 261, 263, 284, 295 Stramm, August 286 Strasser, Stephan 284 Strauss, Johann (Sohn) 49 Strauss, Richard 71, 90, 130, 145, 167f., 172, 175, 186, 198f., 235, 283, 288 Stravinskij, Fëdor 232 Stravinskij, Igorʼ 59, 64, 71, 74, 88, 90, 93f., 96, 98f., 110, 114, 125, 131, 143, 160, 177, 244, 259f., 262f., 281f., 288f., 347, 364f. Strel’nikov, Nikolaj Michajlovič 187, 190, 192–194, 204, 209f., 213, 306 Strohbach, Hans 107 Struve, Nikolaj Gustavovič 93f., 96 Suhl, Abraham 57 Šuster, Polina 48 Suvčinskij, Pëtr Petrovič 87f., 97, 99, 101, 103–105, 110, 146 Švarc, Lev 348 Szell, Georg 106 Szenkar, Eugen 107, 109 Szigeti, Joseph 27 Tairov, Aleksandr 355 Tamler, Genrich 27 Taneev, Sergej 90, 143 Tannenbaum, Eugen 60 Tartarinova, Olʼga 284 Taruskin, Richard 50, 250 Tatlin, Vladimir 16, 114 Teplov, Petr 348 Terpis, Max 106 Tessenow, Heinrich 171 Thalberg, Sigismund 237, 246 Titov, Aleksej 348 Titov, Nikolaj 246 Tjulin, Jurij 259, 348 Tjutčev, Fëdor 134 Toch, Ernst 278 Toller, Ernst 199 Tolstoj, Aleksej Konstantinovič 63, 192, 277, 256 Tolstoj, Lev 80, 180, 312 Tolstoj, Sergej 312 Toscanini, Arturo 110 Trajetta, Tommaso 222 Tret’jakova, Elena 31, 34

382 Trockij, Lev 33, 326 Trojnickij, Sergej Nikolaevič 163, 179 Tschalnin (Sergej?) 51, 55 Tschechowa, Olga 117 Tucholsky, Kurt 59 Turgenev, Ivan 210 Tynjanov, Jurij 280 Učitelʼ, Konstantin 293 Unger, Heinz 76, 81, 175 Vajnkop, Julian 208, 287 Valašek, Rudolʼf 348 Varlamov, Aleksandr 228f., 246 Vasilenko, Sergej 348, 356, 359, 364 Vasilʼev, Pantelejmon 348 Veber, Fedor Vladimirovič 96, 108, 110 Vedernikov, Aleksandr 296 Vejsberg, Julija 348 Vejsman, Adolʼf 117 Veksler, Julia 10, 372 Veprik, Aleksandr 115, 285, 336, 348, 359 Verchoturskij, Adolʼf 367 Verdi, Giuseppe 17, 50, 68, 207, 226 Verstovskij, Aleksej 229, 231 Viardot-Garcia, Pauline 227 Vietinghoff, Anna Margaretha von 245 Vieuxtemps, Henri 227 Vinogradov, Nikolaj Glebovič 34, 35 Vitaček, Fabij 348 Vitzthum von Eckstädt, Alexander 228 Vizenberg, Anna Iosifovna 155 Vlasova, Ekaterina 211 Vogel, Wladimir (Fogelʼ, Vladimir) 81, 325–346 Vogler, Joseph 244 Volkov, Solomon 206 Volkov, Vjačeslav 348 Volžina, Natalija 213, 287 Vorobʼeva, Elena 297 Vranický, Pavel 245 Vulʼfius, Pavel 287 Vyrlan, Lidija Aleksandrovna 213 Vyšnegradskij, Ivan 161f., 304–306, 308, 310–312, 314–316, 318–320, 322 Wagner, Cosima 151 Wagner, Franz 169 Wagner, Richard 9, 17f., 22, 30–38, 50, 71, 156, 167f., 174f., 227, 233, 235f., 239, 244, 249–257, 283 Wagner, Siegfried 151

Personenregister Walter, Bruno 79, 96, 107, 109, 188 Weber, Carl Maria von 175, 228 Webern, Anton 184, 195, 197, 204, 348f. Wehrmeyer, Andreas 12, 38, 111, 215, 281, 297, 324, 368 Weill, Kurt 278, 348 Weingartner, Felix 78f. Weismann, Julius 117 Weiss, Stefan 12, 215, 281, 299, 372 Weißmann, Adolf 117, 285, 329 Wellek, Albert 317 Wellesz, Egon 176, 264 Wieck, Friedrich 230 Wielhorski, Maciej 228, 231 Wielhorski, Michał 228, 231 Wieniawski, Henryk 227, 232 Wilde, Oscar 145, 172, 194 Wilhelm II., Kaiser 168 Wittgenstein, Paul 232 Wladimiroff 51 Wojatschek, Ignaz 233 Wolff, Albert 109 Wolff, Hermann 172 Wolff, Luise 172 Wolfrum, Philipp 235 Wolzogen, Ernst von 46 Ysaÿe, Eugène 235 Zacharov, Boris 88 Zaderackij, Vsevolod 297 Zaranek, Stefanija 348 Zaremba, Nikolaj 233 Ždanov, Andrej Aleksandrovič 83, 296 Žemčužnikov, Aleksej 277 Žemčužnikov, Vladimir 277 Zemlinsky, Alexander 262, 278 Ziloti, Aleksandr 71, 92, 136, 138f., 164, 233, 235 Ziloti, Vera Pavlovna 138 Zingel, Erik 96, 99 Žitomirskij, Aleksandr 348 Životov, Aleksej 26, 281, 348 Znamenskaja, Vera Alekseevna 122, 180 Zola, Emile 207 Zolotarev, Vasilij 348 Zvancov, Konstantin Ivanovič 249 Zverev, Nikolaj 233, 23