Pestalozzi-Studien, Band 1 [Reprint 2015 ed.]
 9783111442655, 9783111076348

Table of contents :
1. Bern und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit
2. Lavater, Pestalozzi, Wir
3. Das religiöse Moment bei Pestalozzi
4. Die stadtzürcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis
5. Die Pestalozzi-Maske

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Pestalozzi-Studien Herausgegeben von

Artur Buchenau

Eduard Spranger

Hans Stettbacher

Band 1 mit 2 T a f e l n

Berlin und Leipzig 1927

Verlag von Walter de Gruyter & Co. vormals G. J . Göschcn'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlags· buchbandlung — Georg Reimer — Karl J . Trfibner — Veit & Comp.

Druck von Walter de Gruyter & Co., Berlin Ψ 10

Zur Einführung

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eyffarths »Pestalozzi-Studien« und Otto Hunzikers »Pestalozzi-Blätter« enthalten so manchen wertvollen Beitrag zur Pestalozziforschung, daß eine Fortsetzung der Bestrebungen, wie sie in jenen Blättern verkörpert sind, sicher von vorneherein auf freundliche Aufnahme rechnen darf. An interessantem Stoff ist kein Mangel. Seit langem schon hat der Pestalozziforschung ein kräftiges, zentrales Organ gefehlt, das die Ergebnisse an leicht sichtbarer Stelle sammelte und so zum Bindeglied zwischen den verschiedenen Forschern und Forschungsstätten wurde. Darum ist mancher Beitrag — wie gerade der erste des vorliegenden Bandes — jahrelang unveröffentlicht geblieben. Andere Arbeiten sind in Zeitschriften übergegangen, in denen sie später nicht leicht wiederzufinden sein werden. Sicherlich wird das Pestalozzi-Gedächtnisjahr 1927 eine Fülle von Beiträgen bringen, die wenigstens in ihren Haupterscheinungen festgehalten werden sollten. Hier erwächst den »Pestalozzi-Studien« eine schöne Aufgabe, namentlich wenn es gelingt, nicht nur das deutsche Sprachgebiet zu überschauen, sondern auch das Wesentlichste aus all jenen andern Kulturländern aufzunehmen, in denen Pestalozzi geehrt wird. Endlich ist es die neue wissenschaftliche Ausgabe der Werke Pestalozzis selbst, die zur Wiederaufnahme der »PestalozziStudien« drängt. Die genauen Nachforschungen nach den Quellen, aus denen Pestalozzi schöpfte, nach dem Zusammenhang seiner Bestrebungen mit der Zeitkultur, wie nach den Persönlichkeiten seines Kreises fördern manches Ergebnis zutage, das wohl zunächst in den Anhängen zu den »Werken« seinen Niederschlag findet, aber darüber hinweg zu ausführlicher Darstellung reichen Anlaß bietet. Außerdem liegt noch manches

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Zur Einführung

Dokument vor, das über Pestalozzi und seinen Kreis wertvolle Aufschlüsse zu geben vermag, ohne daß es in der wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke Aufnahme finden kann. Es sei nur an die umfangreichen Briefwechsel Niederere und Bochmanns erinnert, die noch der Bearbeitung harren. Für einen nächsten Band der »Studien« liegen ein Lebensbild Dr. Hotzes, des Goethefreundes, und ein solches von Rosette Kasthofer bereit. Kinderbriefe aus Yverdon werden ein lebendiges Bild des Instituts erstehen lassen. Der Fülle, die uns die Gedenkfeier 1927 bringt, darf nicht Armut folgen. Die »Studien« sind in der Lage, noch lange Neues zu bieten und gleichzeitig der Festalozziforschiing als zentrales Organ zu dienen. — Es sei noch darauf hingewiesen, daß die Pestalozzische Schrift: »Meine Nachforschungen über den Gang der Entwicklung des Menschengeschlechts« in der Abhandlung von Walter Nigg nach der letzten Seyffarthschen Ausgabe (Liegnitz 18990.) zitiert worden ist.

Die Herausgeber.

Inhalt Seite

f. Bern und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit 2. Lavater, Pestalozzi, Wir

von E. Lerch

von Martin Hürlimann

3. Das religiöse Moment bei Pestalozzi

5. Die Pestalozzi-Maske

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von Walter Nigg....

4. Die stadtzürcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis Emil Eidenbenz-Pestalozzi

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von 143 166

B e r n und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit. Von

Dr. E. Lerch, Bern. I. In den Pestalozziblättern (Jahrg. XXI, Nr. 2, Mai 1900) veröffentlichte Prof. Hunziker zwei Arbeiten Pestalozzis, die beweisen, daß sich der Einsiedler auf dem Neuhof stark mit Fragen der praktischen Volkswirtschaft befaßte. Die eine handelt »Über die Folgen des französischen Einfuhrverbotes von 178 5«,die andere beleuchtet »die gegenwärtige Lage der Gewerbstätigkeit mit besonderer Rücksicht auf das Gebiet der Hofmeisterei Königsfelden« und ist datiert vom 11. März 1789 und gezeichnet »Pestalozzi«. Der Herausgeber fügt bei, jene scheine ein für dritte bestimmtes Gutachten zu sein, für wen, ob für die bernische ökonomische Gesellschaft oder für Private (Tscharner ?), darüber seien höchstens Vermutungen möglich. Diese, die sich schon in der äußern Form (ad A, ad Β etc.) als Antwort auf ein Frageschema darstellt, sei wohl durch den Hofmeister von Königsfelden, Ludwig Rudolf Willading, sei's aus eigenem Antriebe oder dem der ökonomischen Gesellschaft veranlaßt worden. Die Vermutung Hunzikers ist soweit richtig, als beide Aufsätze durch äußere Veranlassung entstanden sind; aber nicht die ökonomische Gesellschaft hat die Aufforderung erlassen, bzw. die Fragen gestellt, sondern der bernische Kommerzienrat, eine von den vielen Kommissionen des aristokratisch durchorganisierten Staatswesens, die, Ende des 17. Jahrhunderts gegründet, versuchen sollte, nach damals herrschenden, also merkantilistischen Grundsätzen, den Reichtum des Landes zu fördern. Trotz des Eindringens physiokratischer Ideen betrachtete der Rat bis zu seinem und des P e s t a l o z z i - S t u d i e n T. 1

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alten Bern Ende die Erhaltung und Förderung der Industrie als seine wichtigste Aufgabe I ). Als am 10. Juli 1785 das königlich-französische Edikt erschien, das die Einfuhr aller Baumwollwaren (Mousselines, Gaze, Linons, roher und weißer, gedruckter und bemalter Baumwolltücher, Indienne usw.) zu grasten der neuen Ostindischen Gesellschaft verbot, gerieten nicht nur die Fabrikanten, die Spinner und Weber in Aufregung, da sie das Fallen der Preise und Löhne voraussahen und bald schmerzhaft erlebten, auch der Kommerzienrat rührte sich, zunächst, um sich nach den Folgen des Edikts zu erkundigen und sich, wenn nötig und möglich, gegen diese die Handelsverträge verletzenden Gewaltmaßregeln zur Wehre zu setzen. Bereits am 12. August erstattete er dem Rat Bericht; er führte aus, wie die Baumwollindustrie im Untern Aargau vor etwa 70 Jahren eingeführt worden sei. Sie habe ihren Sitz vornehmlich in der Grafschaft Lenzburg und sei dermalen in blühendem Zustande. Im Jahr vom 1. Mai 1784 bis 30. April 1785 waren 195 990 Stück von verschiedenen Qualitäten gezeichnet und verkauft worden. Bei einem mittlem Preis von 86 Batzen ergab sich ein Wert von 674 205 Kronen und ein Arbeitsgewinn von 224 735 Kronen; von dieser Industrie lebten 30—40 000 Menschen. Der größte Teil der Stoffe wurde nach Frankreich abgesetzt; darum drohte das Verbot so verhängnisvoll zu werden, »ein Donnerschlag für hiesige Manufaktur und zeiget sich schon durch die traurigsten Folgen; alle aus Frankreich erhaltene Commissionen werden widerrufen, und nach dem Bericht des Herrn Amtmann zu Lenzburg ist bereits ein Drittel seiner Angehörigen ohne Verdienst und folglich ohne Unterhalt«. Am gleichen Tage noch erging an die Vögte von Lenzburg und Schenkenberg die Einladung, »der Kammer mit Beförderung standhaften Bericht zu ertheilen, was für Wirkungen erwähntes Edikt auf die Manufakturen von Indienne und baumwollenen Tüchern in Ihren Ämtern bereits verursache und was für Aussichten in die Zukunft diesorts vorhanden seien«. Es läßt sich nun nicht direkt nachweisen, daß der Aufsatz von Pestalozzi auf Veranlassung dieser Frage entstanden sei; *) Vgl. Dr. E. Lerch, Der bernische Kommerzienrat im 18. Jahrhundert. Ergänzungsheft X X V I der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Tübingen, Lauppsche Verlagsbuchhandlung, 1908.

Bern und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit.

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aber mehr als wahrscheinlich, ist es doch, aus verschiedenen Gründen: Ein mit wenigen geringfügigen Ausnahmen wörtlich mit der Abhandlung von Pestalozzi übereinstimmender Bericht des Fabrikanten Laue von Wildegg liegt im Berner Staatsarchiv bei einer Reihe anderer ähnlicher Berichte. Er trägt über dem Titel den Vermerk* „VonHerrnLaue eingeben schon inA°. 1785; und am Schluß: Wildegg im Jahr 1785. An den verstorbenen Herrn Landvogt von Graffenried von Burgistein Wohledelgebohren mit dem Ansuchen übergeben, um dieses Memorial zur Einsicht an einige Mitglieder des Commertien Raths zu übergeben. Lau^." Sicher ist, daß Pestalozzi im Auftrag von Laue schrieb, in dessen industriellem Betrieb er und sein Sohn später sich betätigten. Es ist wohl möglich, daß der Landvogt von Lenzburg, Samuel Fischer, in dessen Amt Wildegg lag, von Laue einen Bericht verlangte, von dem dieser eine Abschrift dem ehemaligen Vogt v. Schenkenberg, v. Graffenried, sandte. Übrigens ergibt sich aus einzelnen Stellen, daß die Arbeit Pestalozzis auch bei Abfassung eines dieselbe Angelegenheit behandelnden Memorials der Fabrikanten des Amtes Lenzburg an den Landvogt Samuel Fischer, mitbenutzt wurde, findet sich doch darin die Stelle: „Die Schweiz ziehet den größten Teil der zu ihrer Industrie erforderlichen rohen War, als Baumwoll, Grapp bis deren Bewerbung dem Königreich um so viel wichtiger ist als die rohen Materien derselben in mehreren eigne Landesprodukte sind" fast wörtlich wieder (Pestalozziblätter X X I , 2, S. 12 f). Somit ist es wenigstens sehr wahrscheinlich, daß der Kommerzienrat indirekt Pestalozzis Studie veranlaßt hat. Sicherer und unmittelbarer noch läßt sich die zweite Arbeit Pestalozzis von 1789 auf ein Frageschema des Kommerzienrates zurückführen. So schlimm, wie man befürchtet hatte, waren allerdings die Wirkungen des Edikts vom 10. Juli 1785 ni :ht eingetroffen; ein Rückgang der erzeugten Menge und ein Sinken der Preise und der Löhne war allerdings zu verzeichnen. Darum „haben MehgeH. die Commerzien Räthe schon seit verschiedenen Jahren Ihre Aufmerksamkeit auf diesen Gegenstand gerichtet. . . Da Hochdieselben aber seit dem Junio ferndrigen Jahres wenige standhafte Berichte dißorts erhalten und es scheint, daß 1*

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vielleicht der Zeitpunkt vorhanden seye, um die deßthalb möglichen Versuche, wie dieser Handlungszweig wieder in Flor zu bringen, an behörigen Orten zu unternemen; damit dieses aber mit besserem Erfolg durch die Kenntnis der wahren Beschaffenheit der Sachen geschehen könne, so ersuchen MehgH. die Commercien Räthe Euer Wohledelgebohren den genauen und standhaften Bericht über nachstehende Punkten mit aller Beförderung einzuziehen und MnhgnH. längstens bis den I5ten Merz nächstkünftig zuzusenden.« (20. Februar 1789. An alle aargauischen Landvögte und die vier Städte). a. Von dem Zustand der Baumwollenen Tücher, Indiennemanufaktur und der Handlung überhaupt. b. Ob und womöglich in wie weit die Fabrikation der Baumwollenen Tücheren sich seit einem Jahr verminderet? c. Ob die Waar noch einigen Abgang habe und in welche händen mehr oder weniger? d. Der gegenwärtige Preis der verschiedenen Arten Tücher ? e. Der Fabrikationspreis des Webers, Spinners und Spuhlers. f. Ob Hoffnung zu besserem Verkehr für die Zukunft vorhanden; oder Anschein, daß dieser Handlungszweig noch mehr ins Stoken gerathen werde? Und worauf die Hoffnung oder Forcht gegründet seye? g. Zustand der Indiennefabriques, ob sie Arbeit und Abgang haben und Verhältnis mit den vorigen Jahren? h. Wie gehen die Manufakturen dieser Art in denen angränzenden Kantonen? i. Was hat der Verfall dieser Manufakturen für eine Influenz auf Euere Amtsangehörigen, deren Unterhalt und Verdienst ? k. Sind noch andere Zweige der Industrie, Handel und Fabrikation von einiger Wichtigkeit in Eurem Amt obhanden? Und worin bestehen sie? Ein Vergleich der Antworten Pestalozzis mit diesen Fragen beweist zur Genüge, daß sie zusammengehören. Pestalozzi datierte seine Arbeit vom 1 1 . März 1789. Am 16. März übersandte sie der Hofmeister von Königsfelden, Rudolf von Willading, nach Bern mit folgendem Schreiben: ,,Ich habe mich über die in Meiner hochgeehresten Herren Schreiben vom 20. des verflossenen Monats in Absicht auf die Handlung und In-

Bern und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit.

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dustrie enthaltene Fragen in meinem Amte erkundigt. Die beygeschlossene Beantwortung ist das Resultat davon, die aus der Feder eines der Sache kundigen, geschickten und redlichen, in meinem Amte sitzenden Mannes geflossen ist, welche ich" etc. Der Name Pestalozzi steht weder unter der beiliegenden Arbeit selber noch im Begleitbrief, wohl aber im zeitgenössischen Inhaltsverzeichnis des Sammelbandes im Berner Staatsarchiv (Inneres XVII./XVIII. Jahrhundert, Nr 79): Antwort von Königsfelden samt Memorial von H. Pestalutz. Die Beilage, also die genaue Abschrift der Arbeit Pestalozzis, trägt den Titel: Beantwortung der von MnhgH. den Commercienräthen in Absicht auf den Zustand der Handlung und Industrie laut Schreibens vom 20ten Februar 1789 gethaner Fragen. E r g e b n i s : Die Arbeit von 1789 ist eine Beantwortung der Fragen des Kommerzienrates, die Pestalozzi durch R. von Willading, den Hofmeister von Königsfelden, vorgelegt worden waren; die von 1785 ist verfaßt worden für Laue in Wildegg, wahrscheinlich auf Veranlassung des Kommerzienrates und wurde jedenfalls bei der Ausarbeitung des vom Landvogt eingereichten Memorials der Fabrikanten des Amts Lenzberg mitbenützt. II. Bedeutend früher schon, in der schweren Zeit der Armenschule auf dem Neuhof, war der Berner Kommerzienrat mit Pestalozzi in Berührung gekommen. Bei dem Charakter und der Aufgabe dieser Kammer konnte sie nicht anders, als sich mit der Anstalt beschäftigen; freilich liegt es ebenfalls in ihrem Wesen begründet, daß sie vor allem das wirtschaftliche Interesse daran wahrnahm. Ihr mußte es besonders darauf ankommen, dem Lande durch Entwicklung der Industrie neue Quellen des Wohlstands zu eröffnen und zu diesem Zwecke der Industrie Arbeitskräfte zuzuführen. Gewiß wollte auch

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Pestalozzi, dem Zuge der Zeit gemäß, durch Eröffnung der in der Menschenkraft liegenden Quellen des Wohlstandes die schweren sozialen Schäden heilen und ein neues System der Staatswirtschaft aufbauen helfen; aber im Vordergrund stand ihm doch die neue Erziehung des Menschengeschlechts, die seinem Leben als Endzweck vorschwebte. ,,Es ist unaussprechliche Wonne, Jünglinge und Mädchen, die elend waren, wachsen und blühen sehen, Ruhe und Zufriedenheit auf ihrem Antlitze zu sehen, ihre Hände zum Fleiß zu bilden und ihre Herzen zu ihrem Schöpfer zu erheben, Thränen der betenden Unschuld im Angesicht geliebter Kinder zu sehen und ferne Hoffnungen von Jugendempfindung und Sitten im verworfnen, verlornen Geschlechte. Ohnaussprechliche Wonne und Segen ist es, den Menschen, das Ebenbild seines allmächtigen Schöpfers in so verschiedenen Gestalten und Gaben aufwachsen zu sehen, und dann vielleicht etwan, wo es niemand erwartete, im elenden verlassenen Sohne des ärmsten Tagelöhners Größe und Genie finden und retten." Das war kaum die Absicht der G. H. von Bern und des Kommerzienrates; ihren Zweck sahen sie eher darin, „Hände zum Fleiß zu bilden". Die erste Notiz über Pestalozzi finden wir im Manual des Kommerzienrats unterm 13. Dezb. 1776. Die „Engere Kommission", d. h. der mit der Überwachung der Baum Wollindustrie betraute Ausschuß erhielt den Auftrag, „den Anzug MshH. Landvogt Gruners von Zofingen in reife Überlegung zu nemmen und MnhgH. ihre klugen Gedanken zu rapportieren: Ob nicht gut und rathsam wäre, zum Nutzen und Äufnung des seit einigen Jahren von Herrn H. Pestalotz von Zürich auf dem Birrfeld angelegten Waisenhauses, darin er junge, arme Kinder mit Nahrung und Kleidung versorget und zur Feldarbeit und sonderlich zur Baumwollen Spinnerey auferziehet und anführt und durch eine gedruckte sogenannte Bitte an Menschenfreunde und Gönner einiche Unterstützung verlangt, etwas von Seiten der Kammer beyzutragen." Im Januar darauf erstattete diese Kommission Bericht. Pestalozzi habe vor fünf Jahren auf der dürren Heide des Birrfeldes um eine mäßige Summe eine beträchtliche Weite Landes erworben (in Wirklichkeit kaufte Pestalozzi das erste Stück im Jahre 1768), dieses durch sorgfältige Kultur in ein abträgliches Landgut umgewandelt und ihm den Namen Neu-

Bern und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit.

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hof gegeben. Sein patriotischer Enthusiasmus habe ihn verleitet, arme Kinder, die dem Bettel nachgingen, aufzunehmen, „sie mit notwendiger Wohnung, Speise und Kleidung zu versehen, sie mit Hilfe seiner Frau im Lesen und Schreiben, auch in den Anfangsgründen der Religion zu unterrichten und ihre Kräfte teils zur Bearbeitung seiner Gütern, teils zur feineren Baumwollspinnerey anzuwenden". Im Laufe von vier Jahren habe er 30 Kinder beiderlei Geschlechts aufgenommen, die gegenwärtig bei ihm sind und auf neun Stühlen Moußeline weben. Diese Tatsachen haben sich unter den Augen der Amtleute von Schenkenberg z ) und Königsfelden *) zugetragen, ,,die sich, nebst andern Standes-Gliedern, für diese ErziehungsAnstalt bereits verschiedenlich günstig erwiesen". Pestalozzi sei in der Ausführung seines Planes auf verschiedene Schwierigkeiten gestoßen; vor allem nehme ihm der Unterricht viel Zeit weg. Er müsse daran denken, diesen jemand anders zu übertragen; da aber sein Vermögen nicht ausreiche, einen „Informatoren" zu besolden, habe er durch eine Bitte an Menschenfreunde und Gönner Unterstützung gesucht, und zwar bitte er um eine freiwillige Beisteuer durch Subscription von zwei Neuen Thalern, „wogegen er verspricht, die Auferziehung dieser armen Kinder (die er auf 40 auszudehnen Vorhabens ist) nach Inhalt seines gedruckten Plans in Absicht auf Religion, Arbeitsamkeit und Gesundheit mit gewissenhafter Redlichkeit zu besorgen, dieselben im Schreiben, Lesen und Rechnen unterweisen zu lassen und sie zur Feldarbeit aller Art sowohl als zur feineren Baumwollenspinner ey anzuhalten". Die Kommission fand, daß das Unternehmen löblich sei, nicht nur „eine nützliche Erziehungsschul für arme, ohne dieses sonst dem Müßiggang, Bättel und Unglück gewidmete Kinder, sondern auch eine gute Manufactur Schul werden könne, in deren für die feinere Baumwollenfilatur und Weberey gute Arbeiter gezogen werden können, welches man schon lange gewünscht". Bestärkt durch die Absicht der Ökonomischen Gesellschaft und verschiedener Privatpersonen beschloß der Kommerzienrat, Pestalozzi für das laufende Jahr ') Emanuel von Graffenried von Burgistein, geb. 1726, wax Obervogt zu Schenkenberg 1773—1779, nachher Schultheiß zu Burgdorf. ') 1770—1775 Emanuel Gruber, 1775—1781 Franz Christoph Müller.

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und ohne Verpflichtung für später 48 Kronen aus seiner Kasse zukommen zu lassen. Die Amtleute von Schenkenberg und Königsfelden wurden davon in Kenntnis gesetzt und beauftragt, die richtige Verwendung dieser Summe zu überwachen und für die Einsendung des jährlichen Berichts, von ihnen legalisiert, zu sorgen. Im Mai desselben Jahres führte eine Kommission des Kommerzienrates, bestehend aus den Mitgliedern Gruner und Wagner, eine Inspektionsreise in den Aargau aus; eine ihrer genauer umschriebenen Aufgaben lautete: ,,den Zustand der Pestalozzischen Erziehungsanstalt auf dem Birrfeld und was sich davon zu versprechen, zu erforschen". Die beiden Abgeordneten erstatteten ihren Bericht dem Rate am 7. Juni. ,,Den 16. (Mai) begaben sich MehH. nach Neuhof nahe unter Braunegg auf dem Birrfeld gelegen, besahen allda das Pestalozzische Etablißement; dieses besteht in einem nicht völlig ausgemachten Gebäude für seine Familie, in welchem sich acht Webstühle fanden, auf welchen unter Aufsicht eines FabrikMeisters soviel ältere Knaben und Mägdgen Moußeline und Baumwollene Tücher nach Art der feineren Toggenburger Tücher woben. Nicht weit hievon ist die Scheur, und in einem oberen Gemach waren 18 Kinder von 6 und mehr Jahren, die mit Baumwollen Zwirnen, Haspeln und dergleichen Arbeiten beschäftigt waren, von denen man einige Muster mitnahm. Sie scheinen vernügt und gesund zu sein, obschon sie nicht gar reinlich aussehen". Im ganzen beherbergt Pestalozzis Anstalt 26 Kinder im Alter von 6 bis zu 16 Jahren. „Man sieht wohl, daß es Herrn Pestalotz an Vermögen fehlt, dieses Etablißement sogleich in vollkommenen Stand zu setzen; er hat bei 60 Jucharten Land, welches, soviel es seine natürliche Unfruchtbarkeit zuläßt, mit Getreid und Esparcette wohl angebaut ist. Er wünschet, daß ihm von hier aus einige Waisenkinder übergeben werden möchten, die verschiedene Jahre bei ihm bleiben möchten. — Sein Bruder hilft ihm, die Kinder unterrichten und anführen. — Er ist für die von MehgH. ihm erzeigte Generosität äußerst dankbar und verspricht alles anzuwenden, um denen von ihm erwartenden Hoffnungen zu entsprechen". Ein Jahr später, im Juni 1778, machte die Engere Kommission auf den von der Ökonomischen Gesellschaft im Druck

Bern und Pestalozzi in der Neuhof-Zeit.

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veröffentlichten Bericht über Pestalozzis Unternehmen aufmerksam. Es ist Pestalozzis „ Z u v e r l ä s s i g e N a c h r i c h t " , die auch in den Ephemeriden von 1778 abgedruckt wurde. Die Herren Kommerzienräte knüpften daran die Überlegung, daß diese Anstalt ,,νοη großem Nutzen sein könne und durch selbige viele Kinder blutarmer Eltern dem Bättel und seinen traurigen Folgen entrissen und in Stand gesetzt werden können, ihr Leben durch eine ehrliche Handarbeit zu gewinnen, auch sonderlich zu hoffen, daß die Manufactur von Baumwollenen Tüchern mit der Zeit verschiedene zur feinern Arbeit geschickte Meistere in der Spinnerey und Weberey dadurch gewinnen werde . . .", und fügten ihr den Beschluß bei, für dieses Jahr 1778 der Anstalt eine Beihülfe von 15 Neuen Louisd'or zu gewähren, also von V4 aller nach Pestalozzis eigenem Bericht im Vorjahr erhaltenen freiwilligen Beiträge. Die ,,Zuverlässige Nachricht" ist das letzte Schriftstück Pestalozzis aus diesem recht düstern Abschnitt seines Lebens; leider geben uns auch unsere Quellen über die nächste und letzte Zeit der Armenschule auf Neuhof keine Auskunft mehr.

Lavater, Pestalozzi, Wir. Von

Dr. Martin Hiirlimaon. Hören wir den Namen J o h a n n K a s p a r L a v a t e r , so taucht vor uns das 18. Jahrhundert auf, jenes Jahrhundert, das geistige Eroberungen, die es vorfand, in klingende Münze umwandelte, Jahrhundert der Buntheit und Widersprüche, der heute verblassenden Theoreme, der heute noch fortlebenden und fruchttragenden höchsten Geistigkeit. Wir fühlen uns jener Zeit wieder verwandt, wir lieben sie; doch mit der Erbschaft einer Periode strengster Konzentration auf die eine Aufgabe der Naturbeherrschung behaftet, wissen wir unsere Sentimentalität zu meistern. Wir untersuchen mit wohlwollender Objektivität. Auch bei Betrachtung einer seit je umstrittenen Persönlichkeit wie Lavater empfinden wir etwas von dieser distanzierenden Objektivität, möge nun, je nach unseren Sympathien, Wohlwollen, beinahe Begeisterung, oder aber Lächeln, beinahe Ironie vorherrschen. Merkwürdig genug, daß uns diese Gestalt immer noch zu einer wenn auch gedämpften Diskussion reizt, daß sie uns zu zwingen vermag, sich mit ihr länger auseinanderzusetzen, als wir oft möchten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es kaum einen Schweizer mit solchen Wirkungsmöglichkeiten wie Lavater. Wie vor einem Rätsel stehen wir vor dem Zauber dieser Persönlichkeit, die die Besten seiner Zeit in ihre magischen Kreise zu ziehen vermochte und einem Wort von kaum verhüllter Durchschnittlichkeit in ganz Deutschland Gehör verschaffte. Lavaters äußeres Auftreten war gewinnend, bezaubernd; auf dem Parkett der Fürstenhöfe, in der Hütte der Armen, auf der Kanzel, überall vermochte er die gleiche frische Natürlichkeit und Anmut zu bewahren. Sein geistvolles Auge,

Lavater, Pestalozzi, Wir.

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weit geöffnet in froher Weltbejahung und sanfter Ergriffenheit, suchte jeden, auch den Widerwilligsten, mit seinem Liebesbekenntnis zu erhäschen. Wir kennen alle diesen von den besten Kupferstechern seiner Zeit festgehaltenen, bedeutenden, vergeistigten Kopf, dem alle Härten fehlen, mit seiner beinahe eleganten Linie; hier sind keine Falten und Unklarheiten, auch nicht solche, in denen etwa verborgene Tiefen hätten schlummern können. Etwas Glattes, Durchsichtiges mischt sich dem Zauber bei; so fehlen auch im Leben Lavaters neben einer ungeheuren Betriebsamkeit nicht Züge pedantischer Ordnungsliebe und eigensinniger Eitelkeit. Die Empfindungen, die in uns der Name Heinrich P e s t a lozzi auslöst, sind ganz anderer Art, aber im Grunde nicht viel bestimmter. Wir kennen das Pestalozzidenkmal, wir kennen die Bilder, auf denen der große Erzieher mit den armen Kindern von Stans abgebildet ist, und so stellen wir uns gewöhnlich unter „Pestalozzi" einen unendlich gütigen Waisenvater, einen etwas linkischen, lieben, runzligen alten Mann vor. Brauchte aber dieser harmlose alte Mann Heinrich Pestalozzi zu heißen? Nim, wir haben heute noch Gelegenheit, ihm in die Augen zu schauen, seine Stimme zu vernehmen und zu begreifen, warum er zum größten Schweizer ward neben dem Genfer Jean Jacques Rousseau und zum größeren Menschen als eben dieser Rousseau. Pestalozzi war häßlich, unordentlich in seiner Kleidung, und alles wäre zu belächeln an diesem Manne, im Äußern. E r hatte kleine, hellgraue Augen, wirres, halblanges Haar. Wir denken in manchem an Beethoven, nur war dieser Kopf hier viel weicher; früh schon durchfurchten Runzeln Stirn und Wangen; jeder Stoß, den ihm die große, harte Welt versetzte, schien in seiner zarten Menschlichkeit Spuren zu hinterlassen. Er war blatternarbig, und man hätte von ihm einen peinlichen Eindruck empfangen — wie von Beethoven, seinem heldischen dramatischen Gegenstück —, wäre nicht diese kindliche Ergriffenheit in den wie bestaubten, zerfurchten Zügen und dies Leuchten von Güte in den kleinen, grauen Augen. Ein Besucher schrieb einst entzückt nach Hause, jetzt habe er den wahren Jünger Jesu Christi gesehen. Ich möchte hier nicht von dem in eingeweihten Kreisen bekannten Pestalozzi der „Methode" sprechen, nicht von dem

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Martin

Hürlimann,

Erzieher im engern Sinne des Wortes. Was er als solcher geleistet hat, wird uns wohl durch die vielen Publikationen, die zur Jahrhundertfeier erscheinen werden, deutlicher als je zum Bewußtsein kommen. Die Wissenschaft sieht heute in Pestalozzi einen der einflußreichsten und den am tiefsten greifenden Anreger und Neuerer in der Entwicklung der modernen Pädagogik, weniger in seinen pädagogischen Hilfsmitteln als in der Art seines Vorgehens. Er hat die Erziehungslehre auf durchaus neue Fundamente gestellt und Entscheidendes dazu beigetragen, sie zur Wissenschaft im modernen Sinn zu machen. Und dies alles trotzdem, oder vielleicht gerade weil er als Autodidakt, also völlig unverbraucht, an alle Probleme herantrat. Die Rolle, die er in der Entwicklung der Pädagogik spielt, wurde nicht zu unrecht schon in Parallele gesetzt zu dem, was K a n t für die neuere Philosophie bedeutet; es ziehen sich auch sonst allerlei Fäden zwischen diesen beiden Männern herüber und hinüber; anderseits trennen sie freilich auch Klüfte. Hier möchte ich nun ebensowenig von dem Pestalozzi sprechen, der an Kant gemahnt, wie von Lavater dem Theologen und der Rolle, die er innerhalb des Protestantismus spielt. Dagegen sei versucht, die Anklänge und Verschiedenheiten in den Beziehungen der lebendigen Gegenwart zu den beiden Männern aufzudecken, um dadurch vielleicht einige neue Ausblicke auf Bekanntes zu gewinnen, auf Lavater, Pestalozzi und nicht zuletzt auf uns selber. Ist es aber nicht willkürlich, die beiden Männer so ohne weiteres in Zusammenhang miteinander zu bringen ? Freilich, sie entstammten der gleichen Stadt, dem gleichen Milieu, den gleichen Schulen; sie waren überdies persönlich befreundet und, von der patriotischen Woge ihrer Jugend bespült, wuchsen auch manche Ideen in gemeinsamer Begeisterung. Die Verschiedenheit ihres Wesens kommt uns aber dadurch vielleicht nur um so stärker zum Bewußtsein: Lavater war Theologe, Pestalozzi Pädagoge; Lavater, obwohl nur vier Jahre älter, gehört als Erscheinung ins achtzehnte, Pestalozzi dagegen mehr in das so ganz anders geartete neunzehnte Jahrhundert. Die Berührungspunkte erscheinen uns zufällig, die Verschiedenheiten grundlegend. Nehmen wir darüber hinweg unser Thema vorerst als gegeben hin.

Lavater, Pestalozzi, Wir.

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Was aber dürfen wir die „lebendige Gegenwart" nennen? Sind ihre Kräfte und Laster nicht ebenso mannigfaltig und widerspruchsvoll wie ihre Nöte und Sehnsüchte? Ich möchte auch hier zunächst auf ein weniger gefährliches Gebiet ausweichen, auf dem wir schon bisher am ehesten gewohnt waren, Lavater und Pestalozzi zusammen zu betrachten: in ihrer Einstellung zur L i t e r a t u r , in ihren literarischen Leistungen zeigt sich schon deutlich die Verschiedenheit ihrer Art, ihres Charakters, ihrer Beziehung zu uns vor allem, die ich nachher eingehender erörtern möchte. Beide haben übrigens Literatur nur als Mittel zum Zweck betrachtet, ein Mittel freilich, um das sie nicht herum kamen. L a v a t e r schrieb außerordentlich viel und leicht. Er war nie verlegen um zeitgemäße, schwungvolle Redewendungen. Seine Sprache gab jeder Aufwallung des Herzens willig nach; die Verse im besondern flössen ihm nur zu flink aus der Feder. Man kennt die üble Seite dieser Hemmungslosigkeit: Lavaters Uberproduktion hat literarisch keinen Wert. Denn was zu seiner Zeit gut klingen mochte, hat die zeitliche Distanz als konventionell, unpersönlich — um mich etwas barsch auszudrücken: — als charakterlos erwiesen. Dies alles nach einem literarischen Maß betrachtet, über dessen Wert man von einem allgemein menschlichen Standpunkt aus streiten kann. War es denn Lavater um Literatur zu tun? Konnten seine Ideale nicht Leuchtkraft besitzen, wenn auch seine Sprache diese Leuchtkraft nicht besaß ? Hier erkennen wir einen tiefern Mangel des Schriftstellers Lavater. Sprache ist nicht nur eine Sonderwissenschaft oder eine spezielle Fertigkeit, sondern in höherem Maße als irgend eine andere Kunst unmittelbarer Ausdruck des Menschen überhaupt; sie ist nicht nur zufälliges Kleid einer Idee, sondern bis zu einem gewissen Grade selber Idee. Ein Theologe zitiert etwas beleidigt das Urteil Adolf Freys über Lavaters Lyrik, die kurzerhand als „beinahe wertlos" beiseitegeschoben wird, und versucht demgegenüber den wertvollen Ideengehalt einiger Gedichte Lavaters aufzuzeigen. Schließlich litt aber gerade Lavaters „inneres Dichten" an ähnlicher Hemmungslosigkeit wie seine Sprache; seine Ideen blieben immer in Allgemeinheiten stecken, und so erscheint uns gerade hier die Sprache als unmittelbarer Ausdruck des. ganzen Menschen.

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Martin

Httrlimann,

Über Literatur läßt sich streiten. Über Ideen noch mehr. Haben wir ein Recht, über Lavater so brutal zu urteilen? Unfaßbar bleibt uns noch immer das Geheimnis seines Erfolges, der Zauber seiner Persönlichkeit. Vermag der heute noch auf uns zu wirken oder ist er nur noch eine historische Reminiszenz? Betrachten wir indessen Pestalozzi in seinem Verhältnis zur Literatur. Er hat die Schriftstellerei womöglich noch nebensächlicher behandelt als Lavater, er griff nur aus Not zu ihr, in Ermanglung anderer Gelegenheit zum Handeln. Es ist bekannt, wie unordentlich Pestalozzi in stilistischer und orthographischer Hinsicht schrieb und wie seine Manuskripte einer langwierigen Überarbeitung von seiten seiner Freunde bedurften, bevor sie gedruckt werden konnten. Trotz solcher schweren Mängel packt heute noch das Wort Pestalozzis an mancher Stelle mit einer Unmittelbarkeit, die wir bei vielen tadellosen Literaten und berühmten Dichtern seiner Zeit nicht mehr erleben. Seine Worte und Bilder meiden das Gewöhnliche nicht aus Gesuchtheit, sondern infolge der naiven Unmittelbarkeit in der Mitteilung stärksten Erlebens. Schildert Pestalozzi das Leben in einem Dorf, so plagt ihn dabei kein literarischer Ehrgeiz; er denkt nur an die traurige Wirklichkeit, die ihm auf der Seele brennt und die er bessern möchte. Die Darstellung der Volkstypen in Lienhard und Gertrud bedeutet von Geßners Idyllen, aber auch von dem näherstehenden, noch reichlich mit Aufklärungsparfum behafteten philosophischen Bauern Hirzeis weg einen Riesenschritt in der Entwicklung unserer Heimatdichtung, besonders im Hinblick auf das, was nachher kam, auf Gottheit vor allem. Daß Pestalozzi gerade in der Literaturgeschichte eine Rolle spielt, ist ein Zufall. Daß er darin eine wesentliche Rolle spielt, hat seinen Grund in der Notwendigkeit, aus der heraus er schrieb; er steht auch hier, wie in seiner Pädagogik, auf ganz neuem, eigenem Boden. Wieder muß ich an Beethoven erinnern, der in der Musikgeschichte einen Wendepunkt bedeutet und dies vielleicht gerade dadurch, daß es ihm nicht so sehr um Musik ,,an sich" zu tun war (obwohl er sie im Handwerklichen besser und ernsthafter beherrschte als Pestalozzi seine Literatur und selbst seine Pädagogik), als um ein religiöses Erleben, um eine prophetische Mission, die er den Menschen so verkündete, wie es ihm durch seine zufällige Sprache gegeben war.

Lavater, Pestalozzi, Wir.

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Man kann sagen, Pestalozzi sei einfach der talentiertere Schriftsteller gewesen als Lavater. Dann sind freilich seine literarischen Sünden um so größer; denn er hat den Beweis erbracht, daß er uns als Schriftsteller mehr bedeuten könnte, wenn er seine Gaben besser ausgenutzt, sich mehr konzentriert und seine Selbstkritik geschärft hätte. Doch diese Erwägungen treffen Pestalozzi nicht in seinem Innern, auch nicht in seinen literarischen Mängeln und Stärken. Das Geheimnis, das noch heute durch das Chaos seiner Schriften pulst, ist die Menschlichkeit, aus der heraus er schrieb; war er als Literat nicht konzentriert, so doch um so ausgesprochener in seiner Gesinnung. Ihm fehlte völlig der Seitenblick in den Spiegel, der Lavater anhaftete, er war absolut sachlich. Und so brauchte er weniger ein Literat als ein großer Mensch zu sein, um auch in der Literatur Spuren des Genies zu hinterlassen. Lavaters und Pestalozzis Wirken fiel in eine Zeit tiefer geistiger Umwälzungen. Die Ideen, die den Kitt einer Kulturgemeinschaft bilden, wandelten sich; die Aufklärung begann ihre Früchte zu tragen. Bisher hatte Religion die Gemüter beherrscht und die Moral diktiert; sie war anerkannter Gradmesser und Gipfelpunkt des ganzen gesellschaftlichen Lebens gewesen. Jetzt wandte sich der Modeton; Spott und Besserwisserei durchbrachen den religiösen Absolutismus, andere Gefühlswerte tauchten auf, andere Tugenden, andere Vorurteile, andere Absteckungen des Horizontes. P o l i t i k im weitesten Sinne des Wortes trat in den Vordergrund. Die geradlinig vor- und vorwärtsdrängende Aufklärung zersetzte die kirchlichen Dogmen. An Stelle von Lehrsätzen, die, aus dem Wesen des Menschen geschöpft, durch die Geschichte gebildet und in ihrer zufälligen Form als endgültig aufgestellt worden waren, trat, ihrem Wesen nach noch absolutistischer und nicht weniger unduldsam, die naturwissenschaftlich-mathematische Betrachtungsweise, die allmählich auch das Gemeinschaftsleben beherrschte. Ein wahrhaft religiöses Gemüt mußte hier den Feind aller religiösen Empfindung fühlen und alles daran setzen, ihm entgegenzuwirken. Das Wort „religiös" möge dabei hier in einem umfassenderen Sinn gebraucht sein, als es gemeinhin geschieht — zunächst nur als Annahme. Nennen wir religiös oder Religion den Glauben an Grundwahrheiten des Lebens, insbesondere des Gemeinschaftslebens, die nicht

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verstandesmäßig abgeleitet, sondern nur intuitiv erfaßt werden können, Grundwahrheiten, die zugleich dem Leben seinen Wert und Inhalt geben und die einzig durch Gott bedingt sein können oder überhaupt den Gottesbegriff selber ausmachen. — Lavater wie Pestalozzi haben den Kampf um Religion in diesem Sinn aufgenommen und als ihre Lebensaufgabe betrachtet. Beide traten als Propheten auf, beide waren tief durchdrungen von Gefühlswerten, von Religion und setzten der einseitigen, kalten, um sie herum mächtig anwachsenden Verstandeswelt ein Evangelium des Herzens entgegen. Verschieden, wie die beiden Männer, waren freilich auch ihre Evangelien und die Wege, auf denen sie deren Verwirklichung erhofften. Vergegenwärtigen wir uns, daß h e u t e alle die Dinge, die damals im Entstehen begriffen waren, sich erst voll auswirken, daß heute die Ratio, der rein mechanische, ,,wissenschaftliche" d. h. naturwissenschaftliche Wahrheitsbegriff das soziale Leben und die soziale und religiöse Diskussion beherrscht, daß heute der Kampf um das Gefühl, der Kampf um Religion in ein entscheidendes Stadium getreten ist, so erhalten die Bestrebungen der beiden Zürcher des 18. Jahrhunderts für uns eine höchst lebendige Bedeutung. Sie beide haben das Überhandnehmen des Rationalismus, das Herannahen des ,,Mechanismus" hellsichtig erkannt; doch die Welt war noch nicht so in den Strudel gerissen worden, wie sie es heute ist, die Entwicklung hatte noch nicht das besinnungslos rasende Tempo unserer Tage, es handelte sich für sie nicht um eine Notwehr, in der man hastig nach Sekunden schnappt. An der Schwelle einer neuen Zeit stehend, konnten sie freier die Weiten überblicken und einen Ausweg erspähen aus der Flut, die sie herannahen sahen.

Welcher Art ist nun das aus tiefsten Gefühlen des Menschen heraus ersehnte Evangelium der beiden Männer, welcher Art ist ihre Religion ? L a v a t e r s Glaubensbekenntnis läßt sich in ein einziges Wort zusammenfassen: C h r i s t u s g l a u b e . Die Persönlichkeit Jesu Christi bietet seinem Herzen alles, was es sich zur Freiheit ersehnt. In der durch die Kirche arg vernachlässigten Gestalt des Gottmenschen, die er wieder voll in den Mittelpunkt aller

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Religionsbetrachtung stellt, sieht er eine feste Gewähr für die Überwindung der unpersönlichen, Christus als Nebenfigur betrachtenden, sich im Moralisieren erschöpfenden Schulreligion, die er im alles religiöse Leben zersetzenden Rationalismus enden sieht. Die Grundeinstellung Lavaters ist nicht ohne Größe. Es ging ihm ums Ganze, er ging aufs Ganze, und damit müssen wir ihn auch mit dem höchsten Maßstab messen; er selber verlangt es nicht anders. War es Lavater wirklich um eine prophetische Mission zu tun? Zunächst wohl kaum mit Bewußtsein. Seine Natur drängte seit seinem geistigen Erwachen, überquellend von Leben, auf Wirkung nach außen, Wirkung beinahe um jeden Preis. Diese ungeheure Aktivität läßt sich keineswegs erschöpfend mit Lavaters angeborner, sehr starker Eitelkeit erklären. Lavaters Evangelium entsprang nicht wie dasjenige Pestalozzis einem elementaren sozialen Erlebnis. Als in der Zeit des Erwachens männlicher Reife, unter dem Eindruck, sich in schwere Sünde verstrickt zu haben, sein Christusglaube zum erstenmal heftig in ihm aufloderte, war dies eine rein persönliche, intime Angelegenheit, die ihn noch nicht direkt zu einem Auftreten prophetischer Art veranlaßte. Im Gegenteil. Gerade in seiner eigentlichen Geniezeit, da sein jugendliches Feuer vielleicht am hinreißendsten wirkte, war der junge Lavater mit den beiden Hessen zusammen ein ausgesprochener Mitläufer des Rationalismus (man denke an seine Mitarbeit am Realwörterbuch, einem typischen Aufklärungsprodukt!). Erst als seine Aktivität schon ihre schönsten Blüten getrieben hatte, konzentrierte er sich ganz auf die religiöse Aufgabe. Dann aber ging es ihm um nicht weniger als um den Kampf zur Errettung des Christentums. Er suchte nach den stärksten Mitteln, um die Überlegenheit und Notwendigkeit dieser Religion aller Welt klar vor Augen zu führen. An die Gründung einer eigenen Kirche oder Sekte, die für seine Zeitgenossen durchaus im Bereich der Möglichkeit lag, hat Lavater selber freilich wohl nie gedacht; eigentlichen Sektengeist besaß er nicht. Er war keine revolutionäre Natur. Mit seinem Draufgängertum mischte sich das beinahe ängstliche Bestreben, keine neuen Gegensätze hervorzurufen. Es lag nicht in seiner Natur, eine Kampf organisation zu schaffen, die ein Pestalozzi-Studien I .

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festumrissenes Programm erfordert hätte. Er wollte einigen, überreden, die alten Formen mit neuem Geiste füllen. In dem etwas engen Rahmen Zürichs griff er mit frohgemuter Initiative alles auf, was ihm des Kampfes um sein Evangelium wert schien. Es zeugt vom Willen zur historischen Tat, von einer durchaus prophetischen Auffassung seines Berufes, wenn der in der Blüte jungen Mannesalters und europäischen Ruhmes stehende Lavater einst vor versammelter Synode im Zürcher Rathaus auf die konventionelle Frage hin, ob hinsichtlich Lehre oder Neuerungen jemand etwas anzubringen habe, aufstand und seinen Mitgeistlichen die Gefahr des Zeitalters in eindringlichen Worten vor Augen führte, dem Atheismus bis in seine letzten Schlupfwinkel nachspürte und an den Christusglauben der Menge appellierte. Dieser Weckruf zerschellte indes an der mit Stirnrunzeln zuhörenden Synode; die Zürcher Größen duldeten es nicht, daß ein jüngerer aus ihrer Mitte so keck in die Selbstzufriedenheit ihres 'Aufklärungsoptimismus stach. Man wies den vorlauten Diakon belehrend zurecht, weidete sich an seinen offensichtlichen Schwächen und zerrte auch an seinem Ruhm in Deutschland. Das laute Hohngelächter, das eine Clique hämischer Mitbürger, ermuntert von den führenden Persönlichkeiten der Stadt, anstimmte, verhallte im großen Nachbarland zu Lavaters großem Leidwesen nicht ungehört. Warum ist der Vielgeschmähte nicht einfach von Zürich weggezogen? Fühlte er, wie sehr er in seinem ganzen bürgerlichen Wesen doch an diese Stadt gekettet war? Fühlte er, bei aller Gewißheit des bezaubernden Eindrucks, den er auf den ersten Augenblick zu machen wußte, daß auch anderswo ein Steinbrüchel und ein Hottinger seiner geharrt hätten? Fühlte er, daß der Zürcher Zopf ihn gerade deshalb so plagte, weil er auch an seinem eigenen Kopf hing ? Es ist tragisch, wie Lavater seine reiche Entfaltung nach außen vorwegnahm und dann erst sich auf die für ihn fundamentale religiöse Aufgabe konzentrierte. Und so führt auch der Weg seines Ansehens nicht von der beengenden Atmosphäre der Vaterstadt zu europäischem Ruhm, sondern der zu frühem, fast wunderbarem Glanz aufleuchtende Name verblaßte rasch wieder; die Riesen, gegen die Lavater nach Steinbrücheis spöttischer Aussage glaubte kämpfen zu müssen, wurden immer kleiner. Die Stimme

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des Propheten schöpft aus der Verkennung der engsten Heimat Kraft und dringt umso unwiderstehlicher nach außen. Finden wir aber wahrhaft prophetische Glut, prophetischen Kampfesmut, prophetische Erleuchtung bei Johann Caspar Lavater? Man kann sich fragen, ob Lavaters Christusglaube unabhängig von den Schwächen des Menschen Lavater noch genügend Lebensenergien besessen hätte, um durchgreifend das Gemeinschaftsleben seiner Zeit zu erfassen und die Religion wieder in ihre vollen Rechte einzusetzen. Bis zur Erörterung dieser letzten Frage kommen wir bei Lavater nicht. Welches ist seine L e h r e , diese Lehre, von der er selber wie von einem Evangelium sprach und die er gegen jedermann, sei es auch auf einem kleinen Konzil der Zürcher Gelehrten, verfechten wollte ? Sobald von dieser „Lehre" die Rede ist, kommen wir ins „Schwimmen", d. h. nirgends ist der Grundgedanke vom persönlichen Christusglauben in einem eindeutigen Glaubensbekenntnis oder in einer begrifflichen Sondierung gekräftigt und für die Stürme der Welt erhärtet. Die Probleme werden immer mit dem nur zu dienstfertig bereiten Schwall von Worten übergössen, ohne je bis auf den Grund durchdacht oder — was hier weit wichtiger ist — durchlebt zu werden. Am stärksten empfinden wir die Mängel von Lavaters,,Lehre" in seiner Auffassung des grundlegenden Verhältnisses von Gott, Christus und Mensch. Aus dem Gott-sein Christi und dem Christus-sein-sollen des Menschen gelangt er zu seiner fast wiedertäuferisch anmutenden Auslegung der in der Bibel erzählten Wunder in ihrer Beziehung zur Gegenwart. Deutlicher als irgendwo anders sehen wir hier in den Dualismus seines Denkens hinein. Einem auf alle möglichen Tendenzen der Zeit reagierenden Menschen wie Lavater, der nicht nur einer Offenbarungsreligion zugetan war, sondern auch dem Rationalismus, dem Nationalismus und der im Entstehen begriffenen wissenschaftlichen Dogmatik, mußte der Mut zum wahren Mystiker abgehen. Die Brücke, die er von seinem Christusglauben zur naturwissenschaftlichen Aufklärung schlägt, ist ebenso leichtfertig wie kühn. Das Zauberwort, das hier zur rechten Zeit sich einstellt, ist „ M a g n e t i s m u s " ; das klingt wissenschaftlich, greifbar und doch zugleich geheimnisvoll, mystisch, unklar. Es gehört zur besonderen Eigenart Lavaters, daß er sich 2·

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seiner reichen Menschenkenntnisse und Geistesgaben auf irgend eine Weise versichern wollte. Er hatte den Drang, nicht nur wissenschaftlich zu arbeiten, sondern Wissenschaften zu begründen, die vor allem ihm selber gerecht werden sollten. Es kam Lavater wie eine große Erleuchtung, daß die Wunder der Bibel eigentlich alle durch Magnetismus erklärt werden könnten. Deshalb konnten nach Vorbild der Bibel auch noch heute durch Magnetismus Wunder vollbracht und damit das Christentum aller Welt klar und eindeutig „bewiesen" werden! Man brauchte bloß das Tor zu öffnen, durch das der Christusglaube sieghaft einziehen würde, allen offenkundig, alle Argumente der Vernünftelei aus dem Feld schlagend, alles überstrahlend. Und Lavater versuchte das Tor zu öffnen. Er betete und betete, um Tote wieder lebendig.zu machen; er horchte auf jedes Gerücht von Wundertätern; er reiste in andere Städte und aufs Land, um Wunder und Heilige zu suchen. Der erhoffte Beweis blieb aus und als Dank für sein ernstes Streben erntete er nur den Fluch der Lächerlichkeit. Einen andern hätte vielleicht ein solcher Mißerfolg innerlich und äußerlich gebrochen. Der vielbeschäftigte Lavater hatte kaum richtig Zeit, sich den Mißerfolg einzugestehen; das Tausenderlei seiner täglichen Arbeit ließ ihn nie zum Grübler werden und ungehemmt erzeugte seine Feder weiter Erbauungsbuch um Erbauungsbuch. Vielleicht kein großer, aber ein seltsamer Mann. Voll Seele, voll Innerlichkeit, doch nie wirklich tief. Ist er für uns eine tragische Erscheinung? Vielleicht als Repräsentant. Denn er ist modern und typisch „abendländisch". Der D u a l i s m u s in Lavaters Lebensanschauung mochte der Entfaltung seiner Persönlichkeit sehr zugute kommen, bedeutete aber nicht nur für sein Denken und Fühlen, sondern auch für sein Handeln eine Hemmung. Neben seiner undiskutierbaren religiösen Grundeinstellung beseelte ihn ein starker Optimismus, ein Wille zur Versöhnung alles Gegensätzlichen. Er wollte den als einzig richtig erkannten Christusglauben in aller Reinheit ausbreiten; dadurch konnte er nicht anders als intolerant sein. Nicht minder stark war indessen sein Streben nach Toleranz, nach Liebe und Freundschaft, womit er jeden Menschen, auch seinen Feind, den er sich eben selber großgezüchtet hatte»

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verfolgte. Sah er den Grund der Unstimmigkeiten nicht, die sich daraus ergeben mußten ? War es ein Gefühl eigener Schwäche, das ihn die trennende Kluft in seinem Innern sich selber durch eine möglichst rege Tätigkeit nach außen hin verheimlichen ließ? Sein Schuldgefühl, das ihn zu einem starken Glauben vorwärtsgetrieben hatte, blieb doch persönliche Schwäche und Unsicherheit; seine Prophetentätigkeit wirkt unsicher, nicht elementar, befreiend. So haftet seinem Auftreten jenes Laute, Intolerante,Quantitative an, und so entstand jener zwiespältige, oft unangenehme Eindruck, der gerade seine bedeutendsten Freunde, die er mit magischer Kraft an sich gezogen hatte, wieder von ihm stieß. Und so strandete er an der A n m a ß u n g einer religiösen Mission, zu der ihm letzterdings doch das Ausmaß fehlte. In Stunden des Erlebens eigener Unzulänglichkeit und innerer Schuld vermochte sein Geist sich weit über das Alltägliche zu erheben, hinzureißen und zu ergreifen. Wo aber die Inspiration nachließ, führte ihn nicht wie einen Luther die vehemente Kraft des Herrisch-Prophetischen weiter, sondern da verfiel er der Routine, selbstgefälliger Geschäftigkeit, „eleganter Frömmigkeit". Ganz anderer Art als die Religiosität Lavaters ist diejenige H e i n r i c h Pestalozzis. Man bezeichnet dessen Ansichten über die ewigen Dinge oft als „bloße Morallehre" und schiebt so die ganze religiöse Einstellung mit einem irreführenden Schlagwort beiseite, um seine Aufmerksamkeit ganz auf den Pädagogen zu konzentrieren. Und doch ist das, was man Moral nennt, bezeichnen wir es hier mit dem auch nicht ungefährlichen Wort R e l i g i o n , fast auf jeder Seite, die Pestalozzi geschrieben hat, zu finden. Seine Religion ist Grundlage und Zielpunkt seines ganzen Wirkens und Strebens. Was gibt uns aber das Recht, hier von einer Religion zu sprechen? Pestalozzi hat es ausdrücklich abgelehnt, T h e o l o g e zu werden. Dagegen griff er die p o l i t i s c h e n Tendenzen, die damals mit Sturm und Drang die jungen Geister erfüllten, voll Feuer in durchaus eigener Weise auf. Es drängte ihn zu einem politischen Beruf; er wollte Anwalt seines Volkes werden. Eine noch ,,materiellere" Wendung nahm sein Betätigungsdrang, als er dem idealischen Beruf des Anwaltes den praktischen des Landwirtes vorzog. Tat er das, um sich vor der Hingabe an

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fremde Angelegenheiten in eine egoistische Erwerbstätigkeit zu flüchten? Für Pestalozzi war der soziale Drang die undiskutierte Voraussetzung des ganzen Lebens. Aber sein Genius mied die ewig ausgetretenen Pfade der Wortweisheit und führte ihn, ihm selber kaum bewußt, mitten hinein in das lebendige Leben. In der Urzelle der Volkskraft setzte er mit seiner Hände Arbeit ein; durch das Erleben der ursprünglichsten, menschlichsten Nutztätigkeit drang sein Geist zu den letzten Tiefen des Volkstums vor. Was darin und in der Ablehnung des Theologiestudiums zum Ausdruck kommt, ist nicht unreligiöse Grundeinstellung, sondern Sinn für die Zeit, intuitives, starkes Empfinden für R e a l i t ä t . Um Religion war es ihm zu tun, aber nicht um den Heidelberger Katechismus, nicht um eine sonntägliche Erbauungsstunde in der Kirche, nicht um sein spekulatives System, das sich in das Gewand der Unfehlbarkeit und Gottgewolltheit hüllte, nicht um einen Vorwand mehr zu innerem Hochmut und einer endlosen Buchstabendiskussion imaginärer Werte, — um R e l i g i o n war es ihm zu tun, um sie, die den Alliebenden allgegenwärtig sieht ,,in der aufgehenden Sonne, im wallenden Bach, im Glanz der Blume, in den Tropfen des Taus" und — vor allem — in der Berufung des Menschen. Auch bei Pestalozzi gibt es, ähnlich wie bei Lavater, eine Stelle, wo wir den wissenschaftlichen Halt verlieren, wo wir das Bohren, das Untersuchen vermissen und dafür in ein voraussetzungsloses Schwärmen geraten, wo für Momente nicht gekämpft, sondern genossen wird. Diese ekstatische Stimmung, die sich durchaus von den durch sein ewiges Tasten und Suchen zu begreifenden Unklarheiten unterscheidet, tritt aber immer an derselben Stelle ein, da, wo es sich um seinen unbedingten Glauben, um seine Religion handelt. Das Pestalozzische Glaubensbekenntnis läßt sich in drei Worte zusammenfassen: V a t e r , M u t t e r oder Vatersinn und Muttersinn und W o h n s t u b e , man könnte sagen Familiensinn. Das Primäre ist für Pestalozzi nicht das Individuum, sondern die Lebensgemeinschaft. So sucht er auch G o t t nicht in einem schwer erfaßbaren persönlichen Einzelerlebnis, sondern er findet ihn unmittelbar und höchst konkret in den Urbeziehungen der Menschen untereinander, im Verhältnis von Mutter und Kind, von Vater und Kind. Mutter-, Vater- und Kindesbegriff werden

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dabei aber nicht zugunsten eines allgemeinen Genossenschaftsbegriffes entpersönlicht, sondern im Gegenteil in ihrer natürlichen Eigenart vertieft. Wir werden bei Pestalozzi ebensowenig einen Ansatz zu dem rationalistischen, konstruktiven, mechanischen Genossenbegriff des heutigen Sozialismus finden, wie den fatalistischen Glauben an einen brutalen Sozial-Naturalismus. Freilich anerkennt auch er, daß die Natur im Menschen oft blind zu wüten scheint und tierische, gemeine Triebe zur Entfaltung zu bringen sucht. Daneben ist aber der Trieb zum Guten, zur Entfaltung des Wesentlichen im einzelnen Individuum, zum Gemeinschaftssinn und zur Menschenwürde, der K u l t u r t r i e b schlechthin, nicht minder ein Produkt der menschlichen Natur. Aus diesem bewußten Dualismus heraus erhält, ganz im christlichen Sinn, die Moral erst ihren eigentlichen, verpflichtenden Wert. Pestalozzi sagt, an einer Stelle hätte der Erzieher — und damit meint er weniger unsere Berufs-Pädagogen als Vater und Mutter — den brutalen Gang der äußern Natur und ihrer Triebe zu korrigieren, nicht im Sinne einer Vergewaltigung, sondern gerade aus dem natürlichen Wesen der Gemeinschaft als Kulturgemeinschaft heraus, im Sinne der Erfahrung der Jahrtausende. Der Mensch wird als K u l t u r Wesen aufgef aßt; Kultur aber ist edler Gemeinschaftssinn, und dieser Gemeinschaftssinn ist — Gott. Die Urgemeinschaft, von der alles andere abhängt, von der alles Gute und Edle, alle Liebe und alle Menschlichkeit erst ihren Ausgang nehmen können, ist das Verhältnis von Mutter und Kind, von Vater und Kind. Man kann dabei das Mütterliche mehr als das Unbewußte, im Guten Triebhafte, das Väterliche als das Bewußte, Kulturhafte auffassen. Im Vater begriff wird Gott unmittelbar erlebt; ohne einen lebendigen Vaterbegriff gibt es keinen Gott. Die innigste fleischliche Verwandtschaft des Menschen ist zugleich seine innigste religiöse Beziehung. Die elementarste soziale und kulturelle Regung wird so unserm großen Erzieher zum zwingenden Erlebnis Gottes. Nur eine wahrhaft begnadete Natur konnte zu einer so elementaren Religion gelangen, die an allen theologischen Verklebungen vorbei zu den Elementen des menschlichen Lebens vordrang. Pestalozzi begnügt sich nicht mit Symbolen und theoretischen Erkenntnissen; V a t e r - , Mutter- und K i n d e s s i n n sind für

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ihn nicht bloß tönende Worte, sie sind für ihn die Grundlage aller wahren Volksbildung, aller Erziehung, aller gesunden Kultur, sie sind für ihn ein E v a n g e l i u m , das er nicht dringend genug seinen Mitmenschen immer wieder in Erinnerung rufen kann. ,,Umsonst liegt Dir die Veredlung deines Geschlechtes am Heizen, wenn du ihre Fundamente nicht hier suchest: Hier nur findest du sie". „Mutter! Wenn ich dich liebe, so liebe ich Gott. Mutter und Gehorchen, Gott und Pflicht ist mir dann ein und dasselbe. Ich lebe dann nicht mehr mir s e l b s t , ich verliere mich im Kreise meiner Brüder, der Kinder meines Gottes; — ich lebe nicht mehr mir selbst, ich lebe dem, der mich in Mutterarme genommen und mich mit Vaterhand über den Staub meiner irdischen Hülle zu seiner Liebe erhoben" τ). ,,Ιη der W o h n s t u b e des Menschen vereinigt sich alles, was ich für das Volk, auch für den Armen, als das Höchste, Heiligste erachte. Ihr Heil, das Heil der Wohnstube ist es, was dem Volk allein zu helfen vermag; sie ist das erste, dessen Besorgung für das Volk nottut. Von ihr, von ihr allein geht die Wahrheit, die Kraft und der Segen der Volkskultur aus. Wo in der Wohnstube des Volkes keine Wahrheit, keine Kraft und kein Segen ist, da ist keine Wahrheit, keine Kraft und kein Segen in der Volkskultur, da ist keine wirkliche Volkskultur da" 3). ,,Der e i n z i g sichere B o d e n , auf dem wir der Volksbildung, Nationalkultur und Armenhilfe wegen zu stehen versuchen müssen, ist das V a t e r - und M u t t e r h e r z , das durch die Unschuld, Wahrheit, Kraft und Reinheit seiner Liebe den Glauben der Liebe in den Kindern entzündet, durch dessen Inneres alle Leibes- und Seelenkräfte der Kinder zum Gehorsam in der Liebe und zur Tätigkeit im Gehorsam vereinigt werden. Im H e i l i g t u m der W o h n s t u b e n ist es, wo das Gleichgewicht der menschlichen Kräfte in ihrer Entfaltung gleichsam von der Natur selbst eingelenkt, gehandhabt und gesichert wird, und dieser Punkt ist es, auf welchen von Seiten der Erziehungskunst hingewirkt werden muß, wenn die Erziehung als Nationalsache dem Volk wahrhaft Vorsehung tun und in seinem Bildungseinflug das Äußere des menschlichen Kennens, Könnens i) Ansichten u. Erfahrungen. Seyfi. IX. 247. 3) Rede an mein Haus. Seyff. X, 565.

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und Treibens mit dem innern, ewigen, göttlichen Wesen unserer Natur in Übereinstimmung bringen soll" '). Immer wieder klingt dieses Thema bei Pestalozzi an, zu dringend, sollte man meinen, als daß es überhört werden könnte. Es enthält eine unzweideutige Verurteilung alles Unorganischen, das den freien Gang der Menschennatur in ihrer göttlichen Bestimmung zur Kulturgemeinschaft vergewaltigt; es bedeutet eine scharfe Absage an alle von einem konstruktiven Ideal eingegebenen Schwärmereien und Experimente, mögen diese auch im Geist der Liebe gemeint oder gar mit Elementen aus Pestalozzis eigener „Methode" gespeist sein. Pestalozzi ist wie alle ganz großen Menschen verankert in einem Menschentum jenseits des Fortschrittes. Er fühlt sich einig mit dem Ewigen, das immer im Menschen da war und nur stets auf neue Art sich zu verwirklichen sucht. Im Innersten demütig, maßt er sich nicht an. Neues schaffen zu wollen, sondern er sucht — auch hier unbewußt an die großen religiösen Erscheinungen der Weltgeschichte anklingend — aus dem Sündenfall der Gegenwart heraus die Unschuld früherer Zeiten wieder zu gewinnen. Wir sind versucht, in Pestalozzi einen Reaktionär zu sehen, wenn wir ihn, ähnlich wie einen Konfuzius, immer wieder die Tugendhaftigkeit der Alten betonen und den alten Feudalstaat mit seiner organischen Auswirkung des Volkstums gegenüber der modernen, absolutistischen „Gleichmacherei" loben hören. Doch es war ihm weder um Formeln noch um materielle Interessen zu tun, und so steht er innerlich völlig frei übör den Vorurteilen und den geistig und sittlich unproduktiven Reaktionsoder Fortschrittsdoktrinen seiner (und unserer) Zeit. Braucht es bei ihm, der sich selber „parteiisch fürs Volk" nannte und der sein ganzes Leben voll Mühe und Entsagung vornehmlich den Armen gewidmet hat, noch besonders gesagt zu werden, daß er mit jener Reaktion, die nur aus Angst um den Geldsack entsteht, so wenig gemein hat wie mit Neidpolitik und intellektuellem Sozialismus? Es ist leicht, Pestalozzis Worte für die verschiedensten Zwecke zu mißbrauchen, mit denen er nichts gemein hat. Und doch kann sich fast jede politische Partei in dem Besten, das sie wenigstens in ihren Worten vertritt, ' ) E b e n d a X , 552.

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mit Recht ein wenig auf Pestalozzi berufen. Könnte dies nicht eine Brücke sein zu einer Menschlichkeit, die im wahren Sinne des Wortes über den Parteien steht? L a v a t e r s Glaube war individualistisch, egoistisch, zufällig. Darüber täuschen uns auch die glänzenden Mittel, die ihm zur Verfügung standen, um sich in Szene zu setzen, und selbst die hohen Qualitäten des Herzens nicht hinweg. P e s t a l o z z i s Glaube dagegen ist unbedingt, unwandelbar, absolute Voraussetzung. Nirgends diskutiert Pestalozzi die Fundamente seines Wesens, nirgends wird ein Beweis auch nur versucht. Sein Glaube ist von jener kindlichen Naivität und Einfachheit, die er allen seinen Mitmenschen so heiß wünschte und die ihm selber Riesenkräfte und jene ungeheure innere Spannkraft verlieh, die ihn zum genialen Reformator der Erziehung machten. Seine Religion ist sozial im tiefsten Sinne des Wortes, aus der Gemeinschaft heraus, für die Gemeinschaft empfunden, unabhängig von dem schwankenden Grund des auf sich selbst gestellten, höchstens durch vorübergehende Modeströmungen ergreifbaren Gefühlslebens des einzelnen. L a v a t e r in seiner Unstetheit, seiner Unsicherheit, seiner sich selbst und andere leicht forttragenden Begeisterungsfähigkeit war eine v e r b r a u c h e n d e Natur, P e s t a l o z z i dagegen eine s c h ö p f e r i s c h e . Verschieden wie die beiden Männer und ihre Lehre war auch ihre Wirkung — auf die Mitwelt wie auf uns. La vater wirkte unmittelbar, überrumpelnd, bezaubernd; alles steht und fällt mit seiner Persönlichkeit, die selbst heute ihre faszinierende Wirkung nicht ganz eingebüßt hat. Aber da er nie Entscheidendes, Eigenes zu sagen hatte, wurden seine Wirkungen nicht zu andauernden, schöpferisch fortwirkenden Faktoren im Leben der Allgemeinheit. La vater traf nie das für die Volksgemeinschaft entscheidende Zentrum der Bildung. Innerhalb der protestantischen Geistlichkeit freilich ist er vom einstigen Sektirer zu einer Art von Schutzpatron geworden, an dessen Name sich eine gewisse Sentimentalität knüpft; — aber gerade in dem Maße, wie er dies wurde, ist der einst allmächtige Protestantismus selber zu einer Sekte innerhalb des Volksganzen gesunken. La vater ist eine problematische Erscheinung, dramatisch, von Entdeckungen zitternd, unstet, vergänglich, in allem ein echtes Kind unseres heutigen Abendlandes. P e s t a -

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lozzi dagegen steht ruhig auf seinem undiskutierten Fundament, von dem aus alles andere nur Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und Tasten nach Nutzanwendung ist. Am stärksten berührt uns an Pestalozzi sein persönliches Schicksal, das von seinem Werke nicht zu trennen ist. Hier ist er Opfer, Leidender, mit kindlicher Demut hingegeben in die Hand der Vorsehung. So schicksalhaft, mit solcher Notwendigkeit vollendete sich dieser Leidensweg, dies erschütternde Beispiel, daß das Leben selber hier zum religiösen Erlebnis wird. Es ist, als hätte Pestalozzi nur deshalb keinen Erfolg gehabt mit seinem Neuhof, damit er uns Lienhard und Gertrud und die Abendstunde schenke, als sei er nur deshalb von Stans vertrieben worden, daß er neu aushole für seine Forschungen, als wären ihm immer darum die Handlungsmöglichkeiten genommen worden, damit er seine Ideen weiter entwickelte und für uns niederlegte. Ja, es erscheint uns, als sei sein Leben vom Erwachen bis zum Tod von immer tieferem Leid erfüllt gewesen, um sein Menschentum zu uns und in fernere Weiten zu tragen, um der Menschheit eine Leuchte zu sein und uns den Reichtum seines Herzens in all seiner Tiefe auskosten zu lassen. Dies Menschenschicksal lehrt uns eines, das heute von besonderer Bedeutung ist: Verachtung von Tatsachen um des Tatsächlichen willen, Triumph der Wesentlichkeit über die kleinen Wichtigkeiten des täglichen Lebens und der gesellschaftlichen Urteile. So wird uns der Leidensgang Pestalozzis zum Heldenlied, zur Botschaft der Erlösung in einer Zeit, die, vom Sachenwahn besessen, die Sachlichkeit verloren hat. Noch einmal erinnere ich an Beethoven, den Musiker, der, als die Stille der Nacht über ihn hereinbrach, als er sein Gehör verlor und ihn das Schicksal am tiefsten niederbeugte, alles menschlich Kleine von sich warf und die unerhörte Dynamik der siebenten Symphonie schuf. Pestalozzi, der Erzieher, war täppisch im Leben, so ungeschickt wie ein Kind; er konnte sich nie selber erziehen — und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb wurde er zu einem der wahren Erzieher der Menschheit. Sehen wir uns den Begriff R e l i g i o n , wie wir ihn bei Pestalozzi anwandten, etwas näher an. Worte wie Begriffe sind steter Veränderung unterworfen und manchmal ändern sich die Begriffe schneller als die dazugehörigen Worte, oder sie ändern sich auch je nach dem Himmelsstrich (wobei dann die „wörtliche Über-

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setzung" nicht ausreicht), sie ändern sich vielleicht mit jedem Gehirn, das sie denkt. Das Wort Religion faßten wir hier auf als den schöpferischen Geist der auf intuitiv erfaßtem, göttlichem Grund aufgebauten Lebensgemeinschaft. Religion in diesem Sinne ist ζ. B. diejenige des Konfuzius, für die das moderne Wort Soziallehre mit seinem rationalistischen Beiklang nicht ausreichen würde. Das soziale Evangelium ist ganz eigener Natur. Gerade hier ist das, was Pestalozzi die Erfahrung der Jahrtausende nennt, wir könnten auch vom Lebensnerv der Menschennatur überhaupt sprechen, zu einer Kristallisation gekommen, für die es, wenn uns nicht alles trügt, nur einen absoluten Gradmesser der göttlichen Klarheit, des ewigen Wahrheitsgehaltes gibt. Hier sehe ich in der Tat mit der chinesischen Lebensweisheit und mit Pestalozzi — (und meinten Kant mit seinem kategorischen Imperativ und Goethe mit dem Sinn des tätigen Lebens im Grunde etwas anderes?) — das einzige a b s o l u t e , unbedingt und unmittelbar aus der Menschennatur hervorquellende, die ganze Menschheit umfassende Evangelium, gegenüber dem alle Erscheinungsflucht des kulturellen Blühens in Kunst und Wissenschaft dem Wechsel und Vergessen geweiht ist, gegenüber dem aber auch dem, was man sonst gemeinhin Religion nennt, aller Offenbarungsreligion, aller Mystik, nur ein relativer Wert zukommt, wie dem wechselnden Wort für den unaussprechbaren Begriff. Gewiß steht die Offenbarungsreligion in ihrer Art über jener allgemeingültigen Lebensweisheit, in ihr teilt sich Gott machtvoller mit, sie regelt nicht das Leben, aber sie reißt Geist und Herzen empor zum außerordentlichen Erleben und zur außerordentlichen Tat, sie verführt die Weisen zur jubelnden Torheit und schafft Kulturen dabei, — aber sie ist wie das Kunstwerk, vollkommen in sich, aber ein Einmaliges, ewig in ihrer Schönheit, zerbrechlich in ihrer Gestalt, tragisch in ihrer vergänglichen Unsterblichkeit..— Die beiden Arten von Religion, die wir hier festzustellen versuchten, Sozialreligion und Offenbarungsreligion, brauchen durchaus keine Gegensätze zu sein; sie können unter Umständen sogar unabhängig nebeneinander bestehen. So schließt die chinesische Staatsreligion eine Religion im herkömmlichen Sinn nicht aus; der Buddhismus, der Mohammedanismus, selbst der ihr nicht sehr holde Taoismus blühten auf ihrer Grundlage

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und auch das Christentum hätte geblüht, wenn nicht den ersten erfolgreichen Missionaren der alte abendländische Geist des Absolutismus, der Intoleranz und Vergänglichkeit ins Handwerk gepfuscht hätte. Und das Glaubensbekenntnis Pestalozzis schließt das Christentum so wenig aus wie eine andere Transzendentallehre, die das menschliche Gemüt zu beglücken und zu bereichern vermag. Wir nannten Lavater das echte Kind unseres modernen Abendlandes und setzten Pestalozzi dagegen in Beziehung zur Weisheit des fernen Ostens. Gerade ein Vergleich Pestalozzis mit Konfuzius zeigt uns aber das Wesen des Abendlandes auf der einen und dasjenige des Morgenlandes auf der andern Seite, beide in ihrer vollen Schönheit und Tiefe, beide von Grund aus verschieden und doch einen herrlichen Zusammenklang ergebend zum Segen einer Menschheit, die horchen will auf den innersten Ruf der Natur. Pestalozzi besitzt nicht die unerbittliche Größe» den fürstlich überlegenen Weltblick, den asiatisch weiten Horizont eines Konfuzius. Aber ähnlich wie Jesus den größeren, weiseren Buddha überragt an erschütternder Menschlichkeit, finden wir bei Pestalozzi eine unmittelbare Wärme, eine Kraft der persönlichen Liebe, die wir im Osten umsonst suchen werden. Man spricht oder sprach viel von der K r i s e d e r G e g e n w a r t , der geistigen Krise, der sozialen Krise, der religiösen Krise. Plötzlich ist aber die Diskussion beinahe verstummt. Weil die Krise gelöst ist ? Keineswegs. Aber das Blasen mit der Auferstehungsposaune, das gleichzeitige Blasen der verschiedensten mehr oder weniger anspruchsvollen Auferstehungsposaunen hat schließlich derart ermüdet, daß sich viele der besten Geister vor all der Weltbeglückerei, vor all den Weltrevolutionen und Weltdämmerungen in die Klause der berühmten „neuen Sachlichkeit" flüchten, um hier statt des haltlosen Umherirrens im Weltanschauungsrummel wenigstens für eine kleine Gemeinschaft positive Arbeit leisten zu können. Die Krise ist damit nicht gehoben; im Gegenteil, man läßt den Karren laufen, wie er eben geht. Die Krise ist inzwischen heute zu einer solchen der Fundamente des Gemeinschaftslebens überhaupt geworden. Wie ein Hochwasser schwillt die Veräußerlichung des Menschengeschlechtes an, gespeist von der Aufklärung in ihren letzten

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Martin Hlirlimann,

Auswirkungen, gespeist von sozialistischen Ideen, gespeist vom Amerikanismus, vom Geist der Maschine, von der Sucht nach dem höhern Lebensstandard, von den Früchten eines äußerlich verstandenen Individualismus, und gefolgt von tausenderlei idealen Bestrebungen, die sich einbilden, zu führen, wo sie geschoben werden. Eine ungeheure Betriebsamkeit überflutet alle Ruhe, alle Besinnung, alle Kontemplation. Ein sich ständig steigernder, rasender Wechsel in den Erscheinungsformen, phantastische neue Verkehrsverhältnisse, das Erheben geistig minderwertiger Durchschnittlichkeit zur tyrannisierenden öffentlichen Meinung spülen alle Fundamente des Volkstums und der Kultur hinweg, machen alle Religion unmöglich. An Idealen scheint es freilich nicht zu fehlen. Wir hören bis zum Überdruß von Geist schwatzen, von sozialem Geist, vom Geist der Liebe usw. Wenn von den Idealen die Rede ist, wie wird sie da zerfahren, haltlos, geschwätzig, diese Zeit, die sich anderswo einseitig genug an einen absoluten, mechanischen, „wissenschaftlichen" Maßstab aller Dinge anzuklammern sucht. Wie eine Zuchtrute ist der Begriff „Fortschritt" hinter allem her; denn Fortschritt ist der Weisheit letzter Schluß, das Argument, das alles erledigt. Treffen wir nicht gerade hier auch unsern L a v a t e r wieder, den Lavater, den es immer gibt, der aktuell und modern ist wie je, der seiner Zeit vorauseilte und den sich gut nennenden Geist unseres Zeitalters prophetisch widerspiegelt ? Ist er nicht von dem Apotheker von Nancy begeistert, sehen wir ihn nicht nach Lourdes fahren, Tagore am Bahnhof empfangen, in Darmstadt von der Einheit der Weltweisheit sprechen, dem Papst den Fischerring küssen und zugleich eine begeisterte Studienreise nach Sowjetrußland unternehmen? Hören wir ihn nicht auf der Stockholmer Konferenz die Versöhnung der Kirchen feiern? Lesen wir nicht seine Glückwunschtelegramme an internationale Frauen-, Abstinenz-, Esperanto- und andere Kongresse ? Präsidiert er nicht allein fünf Wohltätigkeitsvereinen, ganz abgesehen von all den Ehrenmitgliedschaften bei gemeinnützigen Verbänden? Ist er nicht erfüllt von den besten Absichten, von Idealismus aller Art, unentwegt nach Frauenrechten, Arbeiter rechten, Kinderrechten, Menschenrechten rufend ? Nun, ein Lavater erkennt grundlegende Mängel der Zeit; er

Lavater, Pestalozzi, Wir.

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spricht viel vom Materialismus, den es zu überwinden gelte, vom Verderben der Gegenwart in ihrer Äußerlichkeit. Aber was tut er anderes, als auf seine Art tüchtig mitschwimmen im Strom unter dem Losungswort „Fortschritt", ohne das man aus der Arche Noa der Weltbeglücker ausgeladen wird und ertrinken soll. R e l i g i o s i t ä t aber ist nicht Fortschritt und nicht Rückschritt; sie ist Einkehr ins Ewige, Unwandelbare. Sie ist ein in-sich-selbst-Gelangen, Versenkung, Läuterung. In dieser urgründigen Weisheit ist P e s t a l o z z i bei allem Mitschwingen in seiner Gegenwart unwandelbar verankert. Sein Glaube ist R u h e ; gerade deshalb macht er ihn frei für den Kampf nach außen, für undoktrinären Wirklichkeitssinn. „Glauben an Gott — Quelle der Ruhe des Lebens; Ruhe des Lebens — Quelle innerer Ordnung; innere Ordnung — Quelle der unentwirrten Anwendung unserer Kräfte, Quelle ihres Wachstums und Bildung zur Weisheit; Weisheit — Quelle alles Menschensegens" '). In diesen Worten, die uns aus der Abendstunde des Einsiedlers vom Neuhof entgegenleuchten und die auch ein großer chinesischer Weiser gesprochen haben könnte, ist das ganze Evangelium Pestalozzis enthalten. Auch Pestalozzi erkennt die Schäden unserer Zeit. Prophetisch genug sagt er uns in derselben Abendstunde: „Ohne innere Ruhe wallet der Mensch auf wilden Wegen; Durst und Drang zu unmöglichen Fernen rauben ihm jeden Genuß des nahen gegenwärtigen Segens und jede Kraft des weisen, geduldigen und lenksamen Geistes." „Fühlst dus nicht, Erde, wie die Menschengeschlechter von dem reinen Segen ihrer häusüchen Verhältnisse abweichen und allenthalben sich auf schimmernde Schaubühnen hindrängen, um ihr Wissen zu spiegeln und ihren Ehrgeiz zu kitzeln ?" In der Kritik tun es andere Pestalozzi gleich. Aber dann, wenn es an den aufbauenden Teil geht, speist er uns nicht mit Gemeinplätzen und allgemeinen Redewendungen ab, nicht mit Worten, Worten, Worten, und mögen sie auch noch so sehr von Taten schwatzen. Er gibt uns ein Evangelium, so x ) Abendstunde. ») Ebenda.

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Martin HUrlimann,

klar und einfach wie konkret und faßbar: Die Gemeinschaft wird zusammengehalten durch Vater- und Muttersinn einerseits, Kindessinn anderseits; zwischen Regierenden und Regierten, Starken und Schwachen, Reichen und Armen, zwischen denen Klüfte bestehen, die als gegeben, dem Gang der Natur entsprechend hingenommen werden, bauen Vater- und Kindessinn die Brücken, dank denen die Menschheit zu innerer Ruhe und zum Frieden gelangen kann. In diesem Ganzen hat der Einzelne seine Aufgabe klar vorgezeichnet, sie heißt Wesentlichkeit, d. h. jeder Mensch soll die seinem Wesen, seiner besondern Veranlagung, Herkunft und Neigung entsprechende Eigenart zur freien Entfaltung bringen, handle es sich nun um einen Baumwollspinner oder einen Fürsten. Der Tagelöhner, der seinem eigenen Wesen getreu ist, kann ein freierer Mensch sein als der Reiche, der seinem Mammon tagelöhnert; daß der Geist nicht tagelöhnere, darauf allein kommt es an. Besonders interessant in unserer Zeit des Volksbildungseifers ist die Bemerkung Pestalozzis, wir sollten uns nicht von den Träumen der Menschheit umnebeln lassen und dabei den Hans vergessen, in welchem der Mensch, den wir erziehen wollen, aufwächst. Wahre Erziehung des Menschengeschlechtes ist nur durch eines möglich, nicht durch Rousseau, nicht durch ihn, Pestalozzi selber, und nicht durch die genialste Methode, sondern durch den Segen der Wohnstube, durch das Vater- und Mutterherz, durch das Wecken kindlichen Aufblickens zu Mutter, Vater und Gott. Von diesem Standpunkt aus wird allerdings die heutige Lage nicht rosiger. Denn gerade die Auflösung der Familie ist vielleicht das furchtbarste Zeichen der Veräußerlichung unseres Zeitalters. „Nomadismus" hat dies ein geistreicher Europäer genannt, und Nomadismus ist es in der Tat in zwiefachem Sinn, was heute aus Amerika herüberkommt und von den gelehrigen Europäern im Flug gelernt wird. Während bei den eigentlichen Nomaden als inneres Gegengewicht zur Heimatlosigkeit das Familienleben besonders stark ausgebildet ist, kommt bei uns zur Gelöstheit von der Scholle die Gelöstheit von der innigsten menschlichen Gemeinschaft und damit die Loslösung von allen seelischen Gemeinschaftswerten überhaupt, die uns äußere Betriebsamkeit vergessen machen muß.

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Lavater, Pestalozzi, Wir.

Wo ist da die vielgerühmte Entfaltung des innern Menschen möglich als beim Verlust des Menschentums in uns? Daß die Menschennatur schließlich doch wieder triumphieren wird, ist keine Frage oder höchstens eine der Zeit. Wenn eine Menschheit vor dem Thron der Natur ihr Leben verwirkt hat, dann rettet sie kein „Fortschritt" mehr. Gegenüber der Zersetzung, die von den angelsächsischen Mächten herüberkommt und die auch Deutschland — mehr noch unser eigenes Land — schon ergriffen hat, wenden sich unsere Blicke natürlicherweise zu den Kulturvölkern, die das Feuer im Heiligtum der Familie noch wach erhalten, zu den Italienern, zu den Chinesen; denn sie schöpfen daraus Kräfte, die ihnen den Weg in weite Fernen zeigen. — Wir brauchen aber nur in die Tiefe unseres eigenen Volkstums hinabzusteigen, um die Stimme zu hören, die uns in eine Zukunft jenseits des Fortschritts führt. Pestalozzis Religion ist keine Religion von solch hinreißender Schönheit wie diejenige von Jesus Christus. Es ist die nüchterne Morallehre des Konfuzius, wird man geringschätzig sagen. Sie ist nur ein Fundament, keine letzte Erfüllung unserer Sehnsüchte. Uns aber fehlt gerade das Fundament; denn es geht heute um alles; es geht nicht mehr um den Protestantismus, es geht nicht mehr ums Christentum, es geht um das Menschentum in uns. In diesem Kampfe dienen uns die Schwätzer nicht — und mögen sie auch von der liebenswerten, bezaubernden Art Lavaters sein — uns hilft nur er, der uns zu unserem innersten Wesen als Einzelne und als Glieder einer Gemeinschaft führt, der selbstlose Prediger von Vater-, Mutter- und Kindessinn, der selbstlose Prediger der Ehrfurcht.

Pestalozzi-Studien I.

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Das religiöse Moment bei Pestalozzi. Von

Walter Nigg, Zürich. Vorwort. In der vorliegenden Arbeit, deren Thema von der theologischen Fakultät der Universität Zürich als Preisaufgabe gestellt war, wird dem religiösen Moment bei Pestalozzi in chronologischer Betrachtungsweise nachgegangen. Die innere Bedingtheit dieser Methode für die Arbeit habe ich in der Einleitung versucht nachzuweisen. Hier sei nur bemerkt, daß es nicht in meiner Absicht lag, eine Biographie über Pestalozzi zu schreiben. Die biographischen Daten führte ich nur insofern an, als es der jeweilige Zusammenhang erforderte. Es gibt aber viele bedeutsame Begebenheiten in Pestalozzis Leben, die nicht erwähnt wurden. Auf zwei solche Begebenheiten, über deren Erwähnung man streiten könnte, will ich hier kurz eingehen. Pestalozzis Eintritt in den Illuminatenorden überging ich, da ich ihm keine religiöse Bedeutung für Pestalozzi beizumessen vermag. Es war Pestalozzi offenbar nicht ganz bewußt, was dieser Orden wollte. Er erhoffte von ihm eine Hilfe zur Verwirklichung seiner Pläne. Als er sich darin getäuscht sah, trat er aus. — Wernle berichtet von einem vorübergehenden Einfluß des Mystikers Johannes Mesmer von Thal auf Pestalozzi. Da der Brief, worin Pestalozzi an Lavater über Mesmer Näheres berichtet (vgl. Pestalozzi-Blätter X I X 1898) nicht zu datieren und sonst über diesen Verkehr nichts bekannt ist, vermied ich es, auf diesen Einfluß einzugehen. Die Werke Pestalozzis sind nach der ersten Ausgabe von Seyffarth zitiert. Nur einige Werke, die in ihr nicht vor-

Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

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handen sind, sind nach der zweiten Ausgabe vermerkt. — Am Ende findet sich ein Literaturverzeichnis derjenigen Werke, die ich zu meiner Arbeit benützte. Die Darstellungen von Süß und Hasenstamb konnte ich in der Schweiz leider nicht erreichen. Der Vortrag von Pfr. Schädelin über „Pestalozzis Glauben" in „Zwischen den Zeiten" (1926, 2. Heft) kam mir erst, nachdem meine Arbeit bereits abgeschlossen war, zu Gesicht. Er war mir zum großen Teil eine willkommene Bestätigung meiner Untersuchung. Durch Zufall wurde ich dieser Tage auf das Buch von Eberhard Grisebach: „Probleme der wirklichen Bildung" aufmerksam, worin ich eine Beurteilung von Pestalozzi und Rousseau fand (S. 52—56), die sich mit meiner Auffassung sachlich völlig deckt. Ich nenne diese beiden Arbeiten um so freudiger, als ich die bisherige Pestalozzi-Literatur im allgemeinen nicht positiv beurteilen konnte.

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W. N i g g ,

Einleitung. Das religiöse Moment bei Pestalozzi bildet den Gegenstand der nachfolgenden Arbeit. Wer sich eingehender damit beschäftigen will, muß vorerst eine klare Vorstellung vom Wesen des Religiösen besitzen. Was ist das spezifisch Religiöse? Ist es ein Zustand des Menschen, „ein Grundverhältnis zum Dasein", ist es das Durchdrungensein von der Rätselhaftigkeit unseres Lebens 1 )? Ist es das Verhältnis des Menschen zu einem außer und über ihm seienden Absoluten? Oder ist es vielleicht nur ein Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Selbst? Ist es, geschichtlich betrachtet, ein Rest mythologischer Vorstellungsarten oder ist es das, was die innerste Triebfeder der Menschheit ist? Auf alle diese Fragen gibt es nur eine Antwort, daß es keine kanonische Definition des Religiösen gibt, die allgemeingültig alle seine Merkmale umfassen würde. Selbst wenn wir die ganze Religionsgeschichte betrachten, wird es uns doch niemals gelingen das Religiöse auf eine Formel zu bringen. Der Grund ist darin zu suchen, daß wir mit unserem Denken nie an die Dinge selber herankommen können. Das Elementare entzieht sich aller begrifflichen Erfassung. Das Religiöse ist aber ein Urgegebenes. Es ist das nicht nur beim Religiösen der Fall, sondern alle unsere Definitionen wirklicher Dinge sind hypothetisch. Wir können ζ. B. nichts über das Wesen der Seele sagen, wenn wir alle Bedingungen entfernen, die ihr eine Gelegenheit zur Äußerung geben. „Was ist Zeit?" fragt Augustin im elften Buch seiner Confessionen, „Wer kann das leicht und kurz erklären ? Wer könnte dieses Wort, wenn er es ausspricht, auch in Gedanken nur umfassen? Und doch kennt unsere Sprache kein vertrauteres und kein geläufigeres Wort als das der Zeit. Und immer wissen wir dabei, wovon wir sprechen, und verstehens auch, wenn andere davon sprechen. Was also ist die Zeit? Solang mich niemand danach fragt, ist mirs, als wüßte ichs, doch fragt man mich und soll ich es erklären, so weiß ichs. nicht". Das gilt Wort für Wort auch für das Religiöse. Immer können wir eine religiöse Erscheinung von einer nicht i) Vgl. Enckendorfi: Über das Religiöse S. 3 iL

Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

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religiösen unterscheiden, immer wissen wir, was gemeint ist, wenn vom Religiösen gesprochen wird. Sollen wir aber erklären, was es ist, so versagen wir. Gelingt es uns nicht, das Religiöse in einen Begriff einzufangen, so müssen wir einen anderen Weg einschlagen. Wir bemerkten bereits, daß wir auch das Wesen gewöhnlicher Dinge nicht erkennen können, wenn wir ihnen die Gelegenheit zur Äußerung ihrer Eigenschaften nehmen. Das weist uns in eine neue Richtung. Ein Zitat aus Goethes Vorrede zu seiner Farbenlehre mag uns dazu dienen, diese Möglichkeit zu verdeutlichen: „Denn eigentlich unternehmen wir es umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfaßt wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten." Damit ist uns der Weg für unsere Aufgabe gezeigt. Es ist auch nicht das Wesen des Religiösen im allgemeinen, das hier zur Frage steht, sondern das religiöse Moment bei P e s t a l o z z i und was er darunter verstand. Diese konkrete Beziehung darf nicht aus dem Auge gelassen werden. Das Religiöse war für Pestalozzi besonders das Christlich-Religiöse, dem er sich in seiner Zeit und an seinem Ort gegenüber gestellt sah. Wie er sich zu diesem Christlich-Religiösen verhalten hat, bildet das Hauptthema dieser Arbeit *). i) Es sei hier ausdrücklich erwähnt, daß in dieser Arbeit nach der relig i ö s e n Einstellung Pestalozzis gefragt wird und nicht nach seiner t h e o logischen. Das hat zur Folge, daß ausschließlich theologische Probleme und wie Pestalozzi sich zu ihnen verhalten hat, hier nicht zur Sprache kommen. Pestalozzis Denken s t r e i f t gelegentlich an solch rein theologische Probleme, · aber man darf sich nie dadurch verführen lassen, ihn von dieser Seite verstehen zu wollen. Er hat sich nie eingehend mit ihnen beschäftigt, und wenn er sich auch gelegentlich über die Erbsünde und über die Lehre von der Erlösung, über die Offenbarung und über das Abendmahl usw. geäußert hat, so hat er doch diese Fragen nie mit letzter Energie durchdacht. Über sein tiefes Mißtrauen gegenüber der „Papierwissenschaft von den Verhältnissen zwischen Gott und Menschen" wird noch zu reden sein. Dann wird auch das Übergehen dieser Probleme verständlich werden. Hier sei nur bemerkt, daß, weil sie für ihn ohne wesentliche Bedeutung sind, sie in unserem Zusammenhang außer Betracht gelassen werden.

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W. N i g g ,

Es ist aber nicht nötig dieses „Christlich-Religiöse" hier bestimmter zu fixieren. Der Zweck dieser Darstellung ist nicht, diesen Begriff starr an die Spitze zu stellen, etwa als Wertkriterium, und daran Pestalozzis Religiosität zu messen und eventuell gar über die Klinge springen zu lassen. Diese Methode versperrt sich selbst immer den Weg zum tieferen Verständnis der Persönlichkeit. Aus Pestalozzi selbst, aus seinem Innern heraus, aus seinen Gedanken und Taten muß er erklärt werden. Der andere Weg würde zu einem Schematismus und einer vorschnellen Bewertung führen, die an anderer Stelle ihre Berechtigung hat, hier aber nur zur Verkennung des tieferen Gehaltes führen würde. Und das muß noch einmal gesagt werden, daß kein Schema und keine Formel das Wesen eines religiösen Menschen zu umfassen und wiederzugeben vermag. Noch eine andere Seite will bedacht sein. Die Frage nach dem religiösen Moment bei Pestalozzi ist nicht eine Frage von heute, sondern bereits mit einer G e s c h i c h t e der Beu r t e i l u n g belastet. Bevor wir daher an unsere eigentliche Aufgabe herantreten, müssen wir noch auf die Geschichte dieser Beurteilung eingehen. Es muß geklärt sein, was sie zur Lösung unserer Frage bereits beigetragen hat. Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß es sich dabei nicht um eine erschöpfende Darstellung dieser Geschichte handeln kann. Beachtet werden nur Darstellungen Pestalozzis, die sich mit unserem Thema beschäftigt haben oder in einer Beziehung zu demselben stehen. Daher werden ζ. B. eine „Geschichte der Pädagogik" wie diejenige von Theobald Ziegler oder eine so hervorragende Biographie wie diejenige von Heubaum hier nicht berührt, da das religiöse Problem bei Pestalozzi keine Würdigung darin gefunden hat. Auch wurden nicht alle Darstellungen herangezogen, sondern nur diejenigen, welche von irgendeiner Bedeutung in dieser Frage sind. Ferner wurde auf eine jeweilige Kritik der betreffenden Werke verzichtet, sofern sich dieselbe nicht aus ihren eigenen Voraussetzungen ergibt. Es geschah dies aus der Erwägung, daß das Ergebnis der vorliegenden Arbeit nicht als Kriterium apodiktisch vorangestellt werden, sondern erst aus der Arbeit hervorgehen soll. Schon zu Lebzeiten Pestalozzis sah sich der Schleiermacherschüler Κ. A. Dreist genötigt, den „Fabeln und Unwahr-

Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

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heiten, die über das religiöse Leben, Treiben und Bilden" des Pestalozzischen Institutes umliefen, entgegenzutreten, durch Herausgabe s e i n e r „Gottesverehrungen im Betsaale zu Iferten". Die Religiosität Pestalozzis erfuhr schon damals die verschiedenste Beurteilung. ,,Ach, daß er zu wenig von der dem Menschen anerborenen Gottentfremdung und daher auch nicht Jesum Christum als den Wiederhersteller der Menschheit erkannte", klagt W . H e n n i n g , der bis zu Pestalozzis Tod mit ihm befreundet war. R i t t e r dagegen schreibt an Pestalozzi: „Ich habe durch dich in dieser Liebe die echte Christusliebe wieder erkannt und ihre Macht im Reiche der Geisterwelt". Das waren rein persönliche Urteile, die keine weitere Bedeutung für die Öffentlichkeit hatten. Bedeutungsvoller war, daß N i e d e r e r dem Streit zwischen ihm und Pestalozzi eine religiöse Ursache unterzulegen suchte. Er bekannte, daß „Pestalozzi von einer Seite seines Gemütes und seines Geistes tief religiös war, aber von einer anderen Seite waren seine Vorstellungen und Begriffe irreligiös und antichristlich. Die Vorsehung führte ihn durch seine Eigentümlichkeit und seinen Lebensgang zum Blick in das Gesetz der Menschenbildung, d. h. in das Göttliche und Ewige derselben. Er erhielt dadurch die höchste Bestimmung, die ein Mensch in unserer Zeit für das Christentum erhalten kann, nämlich: die Bildung der menschlichen Natur im Innersten ihres Wesens auf das Christentum zu gründen und aus diesem zu entwickeln. Allein Pestalozzi stand selbst nicht auf dem christlichen Standpunkt. Er faßte und faßt noch, wie sein „Schwanengesang" unwidersprechlich beweist, das Göttliche nur irdisch, das Ewige nur zeitlich, das Geistige nur sinnlich auf, wollte dadurch den Menschen helfen und verfolgte menschlich hohe Zwecke mit tierischem Sinn" '). Es ist nicht zu verkennen, daß diese Worte ein Mensch geschrieben hat, dem der Streit mit Pestalozzi den vorurteilslosen Blick umschleierte. Die Objektivität dieser Worte zu prüfen, würde ein Eingehen auf den Streit selbst erfordern. Wir müssen aber darauf verzichten, da heute noch die Rechtsfrage in diesem Streit unentschieden ist. Den Stein ins Rollen brachte auch nicht Niederer, sondern Vgl. E . Biber: Beitrag zur Biographie Pestalozzis S. 341 (1827).

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W. N i g g ,

J o h . R a m s a u e r , der in seiner naiv geschriebenen „Kurzen Skizze meines pädagogischen Lebens mit besonderer Berücksichtigung auf Pestalozzi und seine Anstalten" (1838) vom pietistischen Standpunkt aus die Religiosität Pestalozzis bezweifelte. Von Ramsauer, der aus dem Appenzellerland zu Pestalozzi kam, bei ihm groß wurde und jahrelang sein Privatsekretär war, dürfte man eine gerechtere Beurteilung erwarten. Aber Ramsauer machte, nachdem er die Anstalt verlassen hatte, eine Bekehrung durch und diese ließ ihm dort nun alles zweifelhaft erscheinen. Er hat es daher vorwiegend auf das PietistischFromme abgesehen: „Pestalozzis Morgen- und Abendgebete hatten eine Innigkeit und Einfachheit, daß sie jeden Teilnehmenden unwillkürlich hinrissen" (S. 21). Sein Haupturteil fällt aber negativ aus: „Anstatt uns zu sagen, daß nur der Lehrer mit Segen wirken könne, der zur Erkenntnis und zum Glauben der höchsten Wahrheiten und hiermit zur Einsicht gekommen sei, daß er aus sich selbst nichts sei und daß er Alles was er Gutes tue, allein Gott zu danken habe, und daß er, wenn er mit wahrem Segen wirken wolle, des täglichen Gebetes zu seinem Berufe unumgänglich bedürfe, ja daß jeder Christ und besonders der Erzieher, täglich Ursache habe, Gott zu bitten um Geduld, Liebe, Demut und hiemit um die Weisheit im Tun und Lassen usw. statt dessen hörten wir täglich: daß der Mensch alles könne, daß er könne, was er wolle, daß er alles aus sich selbst machen, daß nur er sich selbst helfen könne. Hätte der sonst so edle Pestalozzi es verstanden die Bibel zum Fundament aller sittlichen und religiösen Bildung zu machen, wahrlich das Institut würde noch bestehen . . . Anstatt aber die Schüler mit der Bibel vertraut zu machen, kam Pestalozzi von Jahr zu Jahr immer tiefer in ein leeres Moralisieren hinein" (S. 22/23). Die Schrift blieb nicht unwidersprochen. Der Pfarrer K. F. C. B u r k h a r t veröffentlichte eine Gegenschrift unter dem Titel: „War Heinrich Pestalozzi ein Ungläubiger?" (1841) als „Beitrag zur Würdigung des Religiösen" bei Pestalozzi und „mit besonderer Rücksicht auf die Selbstbiographie von J . Ramsauer". Die Widerlegung Ramsauers veranlaßte ihn zu seiner Schrift. Er behauptet, Ramsauers Schrift sei aus einer Stimmung geflossen und beobachtet sehr richtig, daß Ramsauers Stellung zum Christentum eine andere geworden sei

Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

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als früher und ihm daher Pestalozzis Auffassung nicht mehr genüge. Aber wenn jemand auch nicht seine theologische Richtung teile, gebe das noch nicht die Berechtigung, ihn zu verdammen. Die Stärke von Burkharts Schrift liegt aber nicht allein in der liebevollen Milde, sondern vor allem in seinen Ausführungen über das Recht der Beurteilung eines anderen Menschen und über das Wesen des Glaubens. Persönlich wird Burkhart ebenfalls auf der „positiven Seite" gestanden haben, aber er erkannte, daß der „Glaube das Schwerste, das Tiefste, das Geheimste, das Feinste in uns" (S. 22) ist und wir daher keine Berechtigung haben, darüber bei anderen Menschen zu urteilen, da dieses Gott allein zukomme. Nirgends treibt er eine einseitige Apologetik und gibt ohne weiteres zu, daß Pestalozzi in verschiedenen Punkten „nicht gerechtfertigt werden könne" und hiefür nur „Entschuldigungen vorzubringen seien" (S. 40). Ramsauers Darstellung bezeichnet er als übertrieben und verfährt in den einzelnen Widerlegungen sehr geschickt. Den Hauptakzent legt er jedoch nicht darauf, sondern auf die große Liebe Pestalozzis, von der er einen so starken Eindruck erhielt, während er in der Anstalt tätig war. Nach ihm trat wieder einer aus den pietistischen Kreisen hervor. K a r l von R a u m e r , der, nach Blochmanns Aussage, seit der Trennung von Iferten den „rechten Meister" gefunden hat, berichtet im 2. Bande seiner „Geschichte der Pädagogik" (1843) des ausführlichsten über Pestalozzi. Raumer ging, unter dem Eindruck der Demütigung Deutschlands durch Napoleon und durch Fichtes „Reden" auf Pestalozzi aufmerksam gemacht, nach Iferten. Er blieb aber nur kurze Zeit dort, da seine Erwartungen auf das empfindlichste enttäuscht wurden. „Nicht wie strenge Totenrichter" will er nach Pestalozzis Christentum fragen, „sondern in aller Demut miterlöster, sündiger Mitmenschen des Toten", er will „mit dem Wunsche der Liebe fragen, daß er seelig werde" (S. 380). In der „Abendstunde" erkennt er einige „Stellen, die von christlicher Salbung durchdrungen sind" (S. 381), trotzdem sieht er sich genötigt, schließlich zu bekennen, daß „andere Stellen dieser Schrift aber, so anlockend sie auch klingen, mit den wesentlichen Lehren des Christentums im Widerspruch stehen" (S. 381). Das härteste Urteil spricht er über „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt": „Kurz die Mutter wird als die Mittlerin zwischen Gott und dem Kinde

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W. Nigg-,

hingestellt. Aber mit keinem Wort wird erwähnt, daß sie selbst eines Mittlers bedürfe, Christi Namen ist im ganzen Buche nicht genannt. Daß die Mutter eine christliche Mutter sei, Glied einer Kirche, daß sie dem Kinde lehre, was sie als Glied der Kirche selbst gelernt, das ist nirgends erwähnt. Die heilige Schrift wird ignoriert, aus dem eigenen Herzen schöpft die Mutter ihre Theologie. In diesem Werk herrscht eine entschiedene Entfremdung von Christo" (S. 332). Das Gesamturteil schließt er an das Wort Pestalozzis, daß er, schwankend zwischen den Gefühlen, die ihn zur Religion hinzogen und Urteilen die ihn weglenkten, den toten Weg seines Zeitalters gegangen sei. „Dies Bekenntnis" sagt Raumer „fanden wir in den Schriften, wie im Leben bestätigt" (S. 391). Vom gleichen Standpunkt aus schrieb K a r l J u s t u s B l o c h mann die erste Biographie über „Heinrich Pestalozzi" (1846). Auch Blochmann war in Iferten als Lehrer tätig gewesen und mit Ramsauer verbindet ihn nicht nur treue Freundschaft, sondern „ein viel stärkeres Band, durch das wir uns bei dem rechten Meister wieder fanden" (S. 63). Seine Biographie trägt das Motto „ihm ist viel vergeben, denn er hat viel geliebt". Dieses Wort muß bei den harten Äußerungen mitberücksichtigt werden, wenn man seiner Beurteilung nicht ungerecht werden will. Er bekennt offen, daß es ihm schwer falle, Pestalozzis Gestalt zu zeichnen, da sie „viele Gegensätze und mannigfache Zerrissenheit darbiete" (S. 70). Bei den „Nachforschungen" kommt ihm zuerst der Gegensatz zum Bewußtsein: „Überhaupt tritt es in keiner seiner Schriften in so hohem Grade, wie in den „Nachforschungen" hervor, wie fern er der echt-christlichen Welt- und Lebensansicht gestanden, wie wenig er das eigentlich christliche Prinzip und die biblische Ansicht über den Gang der Entwicklung des Menschengeschlechts in seine Erkenntnis aufgenommen, wie wenig er Christus gekannt. Und doch war sein Anteil an Christus groß durch den Geist der Demut und Liebe, der ihn, wie wenige, in allem seinen Tun durchdrang und leitete" (S. 42). Die Lösung der Frage, wie Pestalozzi zu Christus stand, „soll sie nicht einseitig und ungerecht sein, ist schwierig und fordert jedenfalls zuerst eine Beantwortung der Vorfrage nach der Berechtigung zu solcher Beurteilung" (S. 161). Leider bleibt Blochmann die Beantwortung dieser Vorfrage schuldig und faßt sein Urteil nach zwei Seiten zu-

Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

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sammen. W a s die Liebe anbelangt, „ist von dieser Seite seine Angehörigkeit zur echten Jüngerschaft dessen, der die Liebe und Demut selbst war, nicht nur entschieden, sondern in seltener Vortrefflichkeit erwiesen. Aber zwei Seiten des christlichen Lebenselementes erschienen in ihm schwächer und dürftiger ausgebildet, die des Glaubens und der Erkenntnis" (S. 168). Ähnlich urteilt J . C. M ö r i k o f e r in seiner „Geschichte der Schweiz. Literatur des 18. Jahrhunderts" (1861), die auch aus dem Grunde herangezogen werden mußte, weil Mörikofer noch andere Quellen außer Pestalozzis Werke zur Verfügung standen. Auch er steht Pestalozzis Religiosität mißtrauisch gegenüber. Namentlich bei der Behandlung der einzelnen Werke ist diese ablehnende Stellung nicht zu verkennen. Über „Lienhard und Gertrud" lautet sein Urteil: „Auch kann man nicht sagen, daß nicht ein christliches Bekenntnis sich kund tue; allein es ist doch nur ein blasses, sich viel bemühendes, in Wort und T a t sich unsäglich zerarbeitendes Christentum, welches durch keine siegreiche Hoffnung getragen wird. Daher hat das Bild des Pfarrers etwas Gedrücktes und Wehmütiges, wie das Wesen Pestalozzis selbst; vor allem aber ist seine Seele vom Glauben an die Einfalt und Unschuld der durch eine bessere Erziehung veredelten Menschennatur beherrscht; allein das Träumerische und Trostlose dieses Glaubens, welcher keinen anderen Boden als die eigene Kraftanstrengung hat, macht einen trübseligen und ermüdenden Eindruck" (S. 417). Analog lauten die Urteile über die „Nachforschungen" und die anderen Werke. Trotzdem kann Mörikofer zum Schluß nicht anders als bekennen, daß Pestalozzi „einen tiefern christlich-religiösen Grund als die meisten seiner Zeitgenossen hatte und denselben lebendiger und wirksamer bewahrt als viele" (S. 4 5 3 ) ; er schwächt aber alsbald dieses Zugeständnis wieder dahin ab, daß er trotzdem nur eine „Erhöhung des menschlichen Interesses für diesen mit keinem andern zu vergleichenden, rätselhaften Manne" (S. 454) zu finden vermöge. In den folgenden Jahren erst nahm das Pestalozzi-Interesse den ersten Aufschwung durch das große Werk von H. Morf „Zur Biographie Pestalozzis" (1868—89). Seine positive Einstellung zu Pestalozzis Religiosität tritt gleich im ersten Band zutage: „ I n Pestalozzi ist christliche Kraft und christliches Leben; er selbst hat in der Regel täglich des Morgens und des

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Abends betend, mahnend, ermunternd seine Zöglinge um sich versammelt, und was mehr als alle Worte ist: er hat auch seine Feinde geliebt und seinen Widersachern vergeben" (I, 291). Morf will aber auch nicht blind sein gegen Pestalozzi; wo er sich jedoch genötigt sieht von ihm abzurücken, tut er es zart und liebevoll: „Der Leser wird ohne weitläufige Auseinandersetzung von meiner Seite einen Grundirrtum in den Ansichten Pestalozzis über die Fundamente der sittlich-religiösen Bildung darin erkennen, daß er keine höheren Quellen der Religion nennt als menschliche Verhältnisse und daß Christi Wort und Tat der Rettung, der Versöhnung, der Befreiung des Lebens — dem Worte nach keine Stelle in dieser Theorie gefunden. Aber das ist ein Irrtum seines Verstandes, nicht seines Herzens" (I, 289). Es war ein Hauptanliegen des unermüdlichen und überaus verdienstvollen Pestalozzi-Herausgebers L. W. S e y f f a r t h , als Theologe auch in religiöser Beziehung für Pestalozzi einzustehen. Er versucht zu zeigen, daß die religiösen Verketzerungen Pestalozzis auf einem Mißverständnis beruhen, indem sie von etwas anderem reden als wovon Pestalozzi selber sprechen will. „Man hat Pestalozzi getadelt, ja angegriffen, noch mehr, man hat ihn verketzert wegen Nichtbeachtung der christlichen Dogmatik. Mit Unrecht. Pestalozzi will den Gang der Natur in der ersten religiösen Bildung darstellen und er stellt ihn unübertrefflich dar; es ist nicht die objektive, sondern die subjektive Seite der Religion, die er zum Verständnis bringen will. Oder war er nicht ein Christ ? Lavater sagt von ihm: Einen besseren Jünger als diesen hatte der Heiland selbst bei seinen Lebzeiten nicht. Wie Abraham auch ohne offizielles Glaubensbekenntnis dennoch im Neuen Testament der Vater der Gläubigen genannt wird, so hat Pestalozzi die Grundlagen aller religiösen Bildung klar entwickelt und könnte deshalb mit Recht auch der Vater der religiösen Bildung genannt werden" (XI, 79). Im Zusammenhang aber hat Seyffarth Pestalozzis religiöse Stellung nie behandelt. Dagegen hat er in den Vorreden, die er zu den einzelnen Werken schrieb, nie eine Gelegenheit versäumt, auf die religiösen Seiten, die darin vorkommen, hinzuweisen. In der Schrift „Das Christentum Pestalozzis" (1880) spricht H e r m a n n Debes ein unzweideutiges Bekenntnis für Pestalozzi aus. Sein „praktisches Christentum ist über alle Zweifel erhaben" (S. 7) und auch sein theoretisches Christentum läßt

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sich unumwunden verteidigen. Leider hatte Pestalozzi kein Interesse für die „wissenschaftliche Bedeutung" der Theologie. Das Haupthindernis, das gegen Pestalozzis Christlichkeit sprechen könnte, scheint ihm der bekannte Brief Pestalozzis an Nicolovius zu sein, in welchem Pestalozzi von seinem Nichtchristentum spricht. Debes sagt darüber: „es unterliegt auch nicht dem geringsten Zweifel, daß derselbe lediglich eine augenblickliche Stimmung Pestalozzis ausspricht und keine ihn beherrschende Überzeugung" (S. 13). Die stärkste Verwandtschaft von Pestalozzis Religiosität sieht Debes mit derjenigen Schleiermachers. Es ist „eine unumstößliche Tatsache, daß, noch ehe im Jahre 1799 Schleiermacher seine „Reden" über die Religion veröffentlichte und darin dieselbe als ein allem Wissen und Tun vorangehendes, ursprüngliches Leben und Weben der Seele in Gott aufzeigte, schon zwölf Jahre vorher im Jahre 1787 kein Anderer als Pestalozzi denselben Gedanken ausgesprochen und die Folgerungen daraus mit derselben Sicherheit gezogen hat" (S. 17). Bei den nachfolgenden Worten tritt nun die eigentliche Absicht Debes deutlicher zutage: „Zieht man aber den dünnen supranaturalen Schleier, der sich über seine religiösen Anschauungen ausbreitet, hinweg, so zeigt die ganze religiöse Richtung unverkennbar die innigste Verwandtschaft mit derjenigen, welche uns heutzutage in den Schriften von Heinr. Lang, Carl Schwarz und Alexander Schweizer entgegentritt" (S. 63). Als Schlußergebnis stellt er fest, daß Pestalozzis Christentum kein anderes ist als das Christentum Christi. P a u l N a t o r p war es in seinen verschiedenen Publikationen darum zu tun, in religiöser Beziehung die Übereinstimmung mit Kant aufzuweisen. Begeisterte Worte findet er für Pestalozzis religiöse Sendung: „In entscheidungsschwerer Stunde erschien er wie ein Gottgesandter, da wir am Rande des Unterganges standen. Die Unbefangensten wagten ihn, der mit Wonne sich in die Tiefen des Elends hinab warf, um zu retten, der selbst wie ein Bettler lebte, um zu lernen Bettler wie Menschen leben zu machen, dem Manne von Nazareth zu vergleichen" (Sozialpädagogik S. 59). H e r m a n n L e s e r geht nur an einer Stelle seiner Schrift: „ J . H. Pestalozzi", auf Pestalozzis religiöse Stellung ein. Zuerst bemerkt er, daß sie „mit dem gewöhnlichen Dogmatismus nichts zu tun hat" (S. 63). Pestalozzi sei ein bedeutender

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Vertreter, der „erstmalig bei Schleiermacher in philosophischer Klarheit auftretenden Einsicht, daß Religion in nichts weniger als in Theologie aufgeht" (S. 63). Aber Pestalozzis Religion sei auch nicht — etwa wie bei Kant — reiner Moralismus. Bei ihm komme das spezifisch Religiöse zu seinem Recht. Einen anderen Weg schlägt L e o p o l d C o r d i e r ein in seiner Studie über „die religions-philosophischen Hauptprobleme bei H.Pestalozzi" (1910). Er konstatiert zunächst, daß die bisherige Forschung zu keinem richtigen Ergebnis geführt habe. Schuld daran sei die bisherige Methode. Cordier betrachtet nun Pestalozzis Religiosität unter dem Gesichtspunkt eines religionsphilosophischen Systems. Darin liegt sein Fortschritt gegenüber der bisherigen Behandlungsweise, aber auch seine Schranke. Da er um jeden Preis bei Pestalozzi ein vollständiges System finden will, geht es ohne große Gewaltsamkeiten nicht ab. Ihm selbst taucht an gewissen Stellen die Einsicht auf, daß gewisse Ausdrucksformen Pestalozzis mehr dessen gelegentlichen Äußerungen zuzuschreiben seien, als einer abgerundeten Denkarbeit. Gegen Debes bemerkt er, daß dessen Schrift tendenziös sei. Die Behauptung der Übereinstimmung mit Schleiermacher versucht er zu widerlegen und findet gleich Natorp die stärkste Berührung mit Kant. In einem Anhang betrachtet er noch kurz die persönliche Religiosität und gelangt zu der These, daß sie biblischchristlich sei, aber dem Lehrgehalt der biblischen Schriften frei gegenüber stehe. Zu gleicher Zeit wie Cordier erschien das Werk von R u d o l f P f l e g e r „Pestalozzi als Christ" (1910/11). Die Schrift erschien in zwei Teilen, der erste Teil etwas vor Cordier, so daß dieser noch Bezug darauf nehmen konnte, der zweite Teil nachher, so daß Pfleger erwidern konnte. Sie ist im Gegensatz zu Cordier geschrieben und betont wieder mit Debes die Übereinstimmung mit Schleiermacher und lehnt die Auffassung, daß Pestalozzis Religion vorwiegend moralisch orientiert gewesen sei, ab. E r behauptet, daß „Pestalozzi ein Christ war und fest im Glauben stand", (I, 32) und daß „seine Gedanken über Gott, den Menschen, über Jesu Person und Werk, Christentum, Kirche und ewiges Leben durchaus biblisch sind und sich vorwiegend im Einklang mit der Kirchenlehre befinden, wenn ihnen auch die dogmatische Ausprägung fehlt" (II, 45). Im „Jahrbuch des Vereins für christliche Erziehungswissen-

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schaft" (Bd. IV, 1912) hat W i l h e l m S c h e r r e r einen kleinen Aufsatz veröffentlicht über „Pestalozzis religiöse Entwicklung". Scherrer geht von der Verworrenheit der religiösen Beurteilung Pestalozzis aus und weist deren Unzulänglichkeit nach, weil die bisherigen Beurteiler irgend eine Lebensperiode als maßgebend für das ganze Lebensbild betrachtet hätten. Pestalozzi sei ein Kind seiner Zeit gewesen und habe deshalb wie diese verschiedene Stufen der religiösen Entwicklung durchgemacht. Scherrer unterscheidet zunächst „eine Religion der Liebe des Menschengeschlechts auf Grund des Naturgefühls für Gott; dann eine Religion bloß als Sittlichkeit und Herzenssache gedacht, ohne Glaubensfundament; und endlich eine Religion des Geistes der Lehre Jesu, die zu einer Auffassung des Christentums als geschichtliche Größe führe, welche dem Bedürfnis des Glaubens entgegenkomme" (S. 251). Dieser Satz wird nun an Hand einer kurzen historischen Darstellung zu beweisen versucht. Sein Ergebnis ist, daß die Religion Pestalozzis weder als das „Christentum Christi" (wie Debes wollte) noch als Religion bloß innerhalb der Grenzen der Humanität (wie Natorp meinte) zu betrachten sei (S. 271). Eine breitere Ausführung der religiösen Entwicklung Pestalozzis gab W i l h e l m N i c o l a y in seinem Buch über „Pestalozzis Stellung zu Religion und Religionsunterricht" (1920). In der Beurteilung der einzelnen Epochen von Pestalozzis Leben und Schriften weicht Nicolay nicht von der bisherigen Beurteilung ab. Er sieht Pestalozzi in den Jünglingsjahren einen positiv-gläubigen Standpunkt einnehmen (S. 56), den er als Volksschriftsteller verlasse, weshalb er in den achtziger und neunziger Jahren zu einem religiösen Tiefstand gelange (S. i n ) , während er sich im Alter wieder zu einer positiven Frömmigkeit durchringe. Im Ganzen sei bei Pestalozzi kein Fortschritt seiner religiösen Entwicklung (S. 159) zu verzeichnen. In seinem Ergebnis schwankt Nicolay eigentümlich. Bald klagt er mit Henning, daß Pestalozzi nicht tief genug in das christliche Prinzip eingedrungen sei (S. 144), dann konstatiert er wieder, daß Pestalozzi „doch v i e l von dem Geiste Christi in sich aufgenommen" habe (S. 159), um alsbald gegen Uphues zu protestieren, der Pestalozzi einen positiv gerichteten Christen nennen möchte (S. 177). Schließlich bekennt er sich zu Kellners Formel: „Pestalozzi war außerchristlich, nicht aber wider-

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christlich" (S. 188). Die Ausführungen über den Religionsunterricht, die bei Nicolay einen großen Raum einnehmen, schließt er mit dem „Ausdruck des Bedauerns, daß ein so warmer Freund der religiösen Erziehung, wie Pestalozzi es immer gewesen sei, kein Verständnis für den Wert und die Bedeutung des Religionsunterrichts besessen habe" (S. 196). Eine neue Betrachtung versuchte F r i t z Hub er in „Heinrich Pestalozzi" (1922), die er allerdings in seinem Vortrag mehr nur skizzieren als ausführen konnte. Es war Huber nicht darum zu tun, Pestalozzi dogmatisch zu rechtfertigen. Aber er hat „den Schrei nach Erlösung der Menschheit gehört, der aus dem Herzen" (S. 73) Pestalozzis kommt und den er in leidenschaftlicher Art wiederzugeben versucht. Obwohl P a u l W e r n l e in seiner Geschichte des „Schweiz. Protestantismus im 18. Jahrhundert" (1924) nur gelegentlich auf Pestalozzi zu sprechen kommt, (zusammenfassend hat er sich im Sonntagblatt der Basler Nachrichten 1916 Nr. 4, 5 und 6 über „Pestalozzi und die Religion" verbreitet) muß seine Darstellung herangezogen werden, weil auch er auf die religiöse Entwicklung im Leben Pestalozzis eingeht. Er führt sie zwar nur andeutungsweise durch und sein Urteil lautet daher zwiefach: Einerseits sieht er bei Pestalozzi eine „ehrliche Absage an das Christentum, als konkretes Ziel der Menschheitsentwicklung und das Bekenntnis zu einer härteren, gröberen durchaus irdischen Volkssittlichkeit und Volksreligion" (Bd. II, 223). Er sei auf freiem Boden gestanden und habe sich das Christliche ins Menschliche übersetzen und vom Erlösungsglauben auf den Schöpfungsglauben zurückgreifen müssen. Andererseits habe er erkannt, daß der einfache Kindersinn den Menschen verloren gegangen sei und habe „in den spätem Jahren selbst wieder etwas vom Kindersinn besessen und das rückt ihn ganz in die Nähe von Jesus" (Bd. II, 281). Überblickt man die hier kurz skizzierte Geschichte der religiösen Beurteilung Pestalozzis, so wird man sich kaum dem Eindruck verschließen können, daß das Resultat ein sehr dürftiges ist. Wir betrachteten sie unter dem Gesichtspunkt, was sie zur Lösung unseres Themas schon beigetragen habe. Darauf muß geantwortet werden, daß sie, abgesehen von den Klärungen, die sie in einzelnen Teilfragen brachte, ein endgültiges Ergebnis in u n s e r e r Frage nicht herausgearbeitet hat. Diejenigen

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neueren Forscher, die kompetent gewesen wären, hier ein Votum abzugeben, haben diese Frage nur immer nebenbei gestreift. Vorwiegend drehte sich die Diskussion nur um die Streitfrage, ob man Pestalozzi das Christentum zuerkennen könne oder nicht. In der ersten Periode war man mehr oder weniger geneigt Pestalozzis religiöse Stellung nicht als einwandfrei gelten zu lassen. Der Grund lag in der Religiosität der Beurteiler, die von ihrem dogmatischen Standpunkt aus Pestalozzi nicht rechtgläubig genug fanden. Erst mit Seyffarth setzte eine wesentlich günstigere Beurteilung ein, deren Ursache, neben der Wirkung der freieren Richtung in der protestantischen Theologie, vor allem in der eingehenderen Beschäftigung mit Pestalozzi zu suchen ist. Trotzdem sieht man verschiedene Einwände der älteren Richtung nicht entkräftet, sondern nur durch entgegengesetzte Behauptungen übertüncht oder durch flüchtige Stimmungen Pestalozzis erklärt. Debes argumentierte besonders auf diese Weise. Es ist aber klar, daß sich auf diese Art alles und daher auch nichts erklären und behaupten läßt. Die Frage, ob Pestalozzi Christ war oder nicht, kann nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Arbeit sein. Ihre Beantwortung hängt immer von der subjektiven Gläubigkeit des Beurteilers und der Auffassung, die der Betreffende vom Christentum hat, ab. Es ist deshalb zunächst, was ein Ramsauer, Raumer und Blochmann gegen Pestalozzis Christlichkeit sagten, nicht zu widerlegen. Sie haben recht — von ihrem Standpunkt aus. Ob sich dieser Standpunkt mit demjenigen „des" Christentums deckt, ist allerdings wieder eine andere Frage, die zu beantworten uns vom Thema abführen würde. Wir sollen aber diese Frage auch gar nicht stellen. „Zu Jüngsten Richtern sind Menschen untereinander nicht berufen" (Overbeck). Aus dem Neuen Testament wissen wir, daß nicht alle, die „Herr, Herr" sagen, ins Himmelreich kommen, und es ist daher klar, daß aus den Worten eines Menschen auf seine Zugehörigkeit zu Christus nicht endgültig geschlossen werden kann. Diese Entscheidungen fallen im Menschenleben an einem Ort, der jenseits aller psychologischen Erfassung liegt. Der Umstand, daß aus den Worten eines Menschen über seine religiöse Einstellung geurteilt werden muß, bildet die Klippe aller Arbeiten, die den religiösen Charakter eines MePestalozzi-Studien l .

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sehen zum Thema haben. Ich möchte daher ausdrücklich betonen, daß ich die Möglichkeit und Berechtigung der Beantwortung dieser Fragestellung als die P r o b l e m a t i k auch der vorliegenden Arbeit betrachte. Der Hauptmangel aller bisherigen Arbeiten — abgesehen von zwei oder drei Ausnahmen — liegt in der Nichtbeachtung der religiösen E n t w i c k l u n g im Leben Pestalozzis. Sein Leben wurde als eine Einheit aufgefaßt und die Beurteiler betrachteten seine Werke, ohne ein Augenmerk darauf zu werfen, in welcher Reihenfolge diese Arbeiten entstanden sind und wie sie zeitlich auseinander liegen. Es entstanden daher die seltsamsten Widersprüche in Pestalozzis Denken, die man beseitigte, indem man diejenigen Äußerungen vorzog, die dem eigenen dogmatischen Standpunkt am nächsten lagen. Ganz abgesehen von den Wandlungen in Pestalozzis Leben, haben seine Gedanken auch eine ganz verschiedene Tönung, je nach der Lebenslage, in der sie entstanden sind. Die Gedanken, die er in den „Nachforschungen" zum Ausdruck brachte, als ihn die Verzweiflung eines verlorenen Lebens ergriff, haben eine ganz andere Färbung als diejenigen in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt", da er das Gefühl hatte, auf dem Höhepunkt seines Lebens zu stehen. Pestalozzi, der von sich selber bekannte, daß sein Herz sein Alles sei und gegen das, was sich nicht an dieses Herz knüpfe, er keine Gewalt habe, war ein Gefühlsmensch durch und durch. Ramsauer klagte auch wehmütig, daß Pestalozzis Gemüt nicht durch das Christentum geregelt war und in „derselben Stunde sehr glücklich und sehr unglücklich, höchst sanft und Hebevoll, und höchst ernst und streng, kurz, sehr leidenschaftlich" gewesen sei. Schon diese Veranlagung könnte einer entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungsweise das Wort reden. Es tritt aber noch ein bedeutenderes Moment hinzu. „Wahre Philosophie ist es" — so bekennt K a n t in der physischen Geographie —„ die Verschiedenheit und Mannichfaltigkeit einer Sache durch alle Zeiten zu verfolgen". Es muß hier als Behauptung hingesetzt werden, deren Wahrheit aber im Laufe unserer Darstellung einleuchten wird, daß nicht aus einer einzelnen Schrift Pestalozzis seine endgültige, religiöse Stellung zu entnehmen ist. Pestalozzis religiöses Leben und Denken entbehrt der Geschlossenheit. Es ist ein — wie jedes religiöse Leben — sehr kompliziertes Gebilde, welches reich an inneren Gegen-

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Sätzen und Spannungen ist. Die heterogensten Ansichten kreuzen sich oft in seinem religiösen Ringen auf die seltsamste Art. Diese Spannungen und Widersprüche beruhen nicht etwa auf Mangel an logischer Denkkraft, sondern sind Zeugen von den übernatürlichen Mächten, die in der Seele des religiösen Menschen ihren Kampf führen. Daß hier kein Konglomerat von verschiedenen Ideen vorliegt, denen leider nur das „geistige Band" (Goethe) fehlt, zeigt die innere Einheit, die wie ein roter Faden durch alle Werke Pestalozzis geht. Aber man darf nicht den Versuch machen, sie in eine Systematik zusammenzufassen, sondern muß, will man diese innere Einheit verstehen, gerade ihren einzelnen Komponenten nachgehen. Wir werden deshalb unserer Betrachtung nicht eine einzelne Schrift von Pestalozzi zugrunde legen und die früheren und späteren dieser anzupassen versuchen, sondern allen seinen W e r k e n in chronologischer Reihenfolge nachgehen. Sein L e b e n aber bildet den unentbehrlichen Kommentar dazu, der fortlaufend in Wechselbeziehung zu ihnen gesetzt werden muß. Nur wenn auf diese Weise d a s G a n z e betrachtet wird, kann man auch den einzelnen Äußerungen gerecht werden. Dem gegenüber steht ein Bedenken, das N i e d e r e r zuerst geäußert hat: Pestalozzis inneres Leben habe keine Geschichte. Diese Behauptung wurde zunächst in pädagogischer Beziehung aufgegriffen. Die Frage, ob sich in dieser Richtung bei Pestalozzi eine Entwicklung nachweisen lasse oder nicht, ist bis heute strittig. In unserem Zusammenhang interessiert uns nicht dieses Problem, sondern die Frage, wie stark in religiöser Hinsicht eine Entwicklung vorhanden ist. Die Meinung P f l e g e r s , daß eine solche Entwicklung bei Pestalozzi nicht vorhanden war, (I, 30) die er ohne Begründung einfach hinschreibt, ist nicht ernst zu nehmen, weil er sich selber widerspricht. Er gibt nämlich zu, daß Pestalozzis früh erwachte Religiosität vorübergehend wieder erkaltet sei. Wenn nun Pfleger sich dieses Erkalten nicht gerade wie das Kaltwerden einer Schüssel Kartoffeln vorstellt, so ist hier jedenfalls eine innere Entwicklung, oder wie man das immer nennen will, vor sich gegangen. Pestalozzi selbst war darüber auch anderer Ansicht als Pfleger. Anläßlich der Aufnahme seiner Fabeln in die Cotta'sehe Ausgabe (1823/24) schrieb er dazu im Vorwort: „Ich glaube zwar nicht, daß ich meine Ansichten über vieles m e r k l i c h geändert; ich 4»

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bin vielmehr überzeugt, daß ich die meisten Gegenstände des Menschenlebens heute noch wie damals mit kindlicher Unbefangenheit ins Auge fasse. Doch darf ich auch nicht denken so alt geworden zu sein, ohne daß v i e l e meiner Ansichten in mir selbst einige V e r ä n d e r u n g erlitten. E s Hegt in der Menschennatur und es ist unausweichlich, der Mensch verstärkt und verfeinert innerhalb einer solchen großen Epoche die Wahrheit seiner Ansichten und besonders seiner Lieblingsansichten fühlbar oder er verhärtet sich in dem Irrtum derselben eben so sehr" (2. Ausgabe VI, 228). Die Worte sagen nichts anderes aus, als daß Pestalozzi zeitlebens ein Ringender und Lernender gewesen ist, der sich seine Positionen in harten, inneren Kämpfen erringen mußte. Ferner will beachtet sein, daß Pestalozzi in dem Zeitalter lebte, da sich die Orthodoxie, der Pietismus und die Aufklärung erbittert befehdeten, und es ist ganz unglaubwürdig, daß diese verschiedenen Richtungen ohne Einfluß auf sein Leben geblieben seien und nicht auf sein Denken fördernd oder hemmend gewirkt haben. Dazu kommt noch das schon erwähnte reichbewegte persönliche Leben Pestalozzis, das am allermeisten für die Bildung seiner Ansichten maßgebend war. Aus dem allem geht hervor, daß es einfach nicht angeht, Pestalozzis Gedanken aus irgend einer Schrift herauszugreifen und als „seine" Ansichten hinzustellen. Aber man darf nun von dieser Entwicklung auch nicht zu große Erwartungen hegen. Überraschende Thesen lassen sich hier nicht formulieren. Pestalozzi gehört nicht zu den Denkern, die in ihren späteren Jahren völlig andere Bahnen wandeln, als sie in ihrer Jugend getan und sogar die Götter verbrennen, vor denen sie in ihren Jünglingsjahren am eifrigsten gekniet haben. Zweifellos hat Pestalozzi „viele seiner Ansichten" im Laufe seines Lebens geändert, aber nicht besonders „merklich". E s gehört ein feines Ohr dazu, um bei oft fast gleichlautenden Äußerungen die geänderte Nuance heraus zu hören. Noch ein MißVerständnis gilt es abzuwehren. Wenn wir von einer Entwicklung Pestalozzis reden, die eine chronologische Betrachtungsweise erfordert, so tun wir es auch nicht in dem Sinne, in welchem Goethe im „Wilhelm Meister" einen Jüngling sich „entwickeln", d. h. am Ende seines Lebens als harmonischen, gereiften und abgeschlossenen Menschen erscheinen läßt. Wer nur einmal einen Blick auf Pestalozzis Leben

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geworfen hat, weiß, daß in seinem Leben dies nicht der Fall war. Er steht am Ende seines Lebens vor der gleichen Frage wie am Anfang: sie ist weder geklärt noch gelöst. Wir aber betrachten Pestalozzis Leben unter einem religiösen Gesichtspunkt. Als religiöser Mensch wird man nicht geboren. Betrachten wir Augustin, Franziskus oder Luther, immer sind es schwere Kämpfe gewesen, durch die sie mußten, ehe ihr Leben als religiös angesprochen werden konnte. Das religiöse Moment bei einem Menschen, wenn es nicht nur ein „Moment" sein soll, muß darnach beurteilt werden, wie weit er in die göttliche Wirklichkeit hineingedrungen ist und welche Wahrheiten er von diesem religiösen Sein aus zu sehen vermochte. Die religiösen Realitäten können sich ihm wieder verschließen, genug, daß er zu irgendeiner Zeit seines Lebens im Lichte Gottes stand. Dies ist der Prozeß, den es nun gilt zu verfolgen.

D a s religiöse Moment im Leben und in den Werken Pestalozzis.

Das Zeitalter Pestalozzis. Die Aufklärung, der deutsche Idealismus und die Romantik sind die drei großen Zeitströmungen, die Heinrich Pestalozzi erlebte. Die Romantik wird ihn jedoch kaum berührt haben. Mit den Gedanken des deutschen Idealismus trifft er mannigfach zusammen, ohne daß eine spezielle Beeinflussung nachgewiesen werden könnte. Die Aufklärung ist das Zeitalter, aus dem er hervorgegangen ist. Das Wesen der Aufklärung, besonders in religiöser Beziehung zu schildern, ist unsere nächste Aufgabe. Man kann die Aufklärung nicht verstehen, wenn man sie losgelöst von der ideengeschichtlichen Bewegung Europas betrachtet. Ihr Ursprung ist im G e g e n s a t z zum christlichen Mittelalter und dem durch dasselbe formulierten theologischen System zu suchen. In gewisser Beziehung kann daher die Renaissance als ihre Vorläuferin gelten. Ihre eigentlichen Grundlagen liegen im 17. Jahrhundert und das 18. Jahrhundert darf d a s Jahrhundert der Aufklärung genannt werden. Mit der Aufklärung wird der Beginn der modernen Kul-

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tur angesetzt, und in ihr ist die letzte große geistige Umwälzung, die alle Gebiete des Lebens umfaßte, zu sehen I). Es liegt nicht in den Grenzen dieser Arbeit, die ganze Aufklärung, wie sie sich in ihre verschiedenen Teile spaltet, darzustellen. Für Pestalozzi war beinahe ausschließlich die deutsche Aufklärung von Einfluß, und nur die Züge, die der deutschen Aufklärung ein einheitliches Gepräge geben, seien hier kurz hervorgehoben. Von der französischen Seite war einzig Rousseau von starker Einwirkung auf Pestalozzi. Aber der Einfluß Rousseaus wird hier besser außer Betracht gelassen und in den einzelnen Beziehungen dann genauer untersucht. Der Widerspruch gegen den christlichen Supranatura1 ismus, gegen das Ideensystem der christlichen Theologie, gegen die Trennung von Vernunft und Offenbarung, gegen die dualistische Scheidung von Wissen und Glauben überhaupt, ist der Ursprung der Aufklärung. Es darf daraus aber nicht gefolgert werden, daß das Wesen der Aufklärung ein rein negatives sei. Die positive Seite ist vielmehr ein neues Weltgefühl, das diese Menschen beseelte: „das Pathos der reinen Erkenntnis spricht sich in der Gesamtheit dieser Entwicklungen in voller Kraft und Tiefe aus" (Cassirer). Es ist die Souveränität und Autonomie der Vernunft, die hier als das Prinzip für alle Lebensgebiete proklamiert wird. Keine Autorität und keine Instanz darf diesem Anspruch entgegentreten. ,,Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen" hat Kant als den eigentlichen Wahlspruch der Aufklärung bezeichnet. Die Vernunft soll aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit" heraustreten und ihr eigener Richter sein. „The proper study of mankind is man" (Pope), was oft als besonderer Wahlspruch der deutschen Aufklärung genannt wird, ist letzten Endes nur eine Folgerung aus diesem Selbstbewußtsein der Vernunft. Und auch alle weiteren Züge, die man als aufklärerische empfindet, lassen sich daraus ableiten: daß alles Bestehende durch die Vernunft kritisch geprüft und neu gestaltet werden soll, die ganze Rationalisierung des Lebens, der optimistische Glaube an einen unaufhaltsamen Fortschritt zur Freiheit, das Verlangen nach Glückselig') Vgl. Tröltsch: Aufsätze zur Geistesgeschichte der gesammelten Schriften 1925).

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k e i t und die Zuversicht aufeineVerbrüderung aller Menschen, der starke I n d i v i d u a l i s m u s und S u b j e k t i v i s m u s aller Aufklärer, und die Idee der T o l e r a n z , die alle konfessionellen Scheidewände brechen soll. Mit dem letzten Gedanken sind wir bereits bei dem Wesen der Aufklärung in r e l i g i ö s e r B e z i e h u n g angelangt. Drei Grundzüge charakterisieren hier vor allem die Religion des Aufgeklärten: der V o r s e h u n g s g l a u b e , die U n s t e r b l i c h k e i t s h o f f n u n g und das P f l i c h t g e f ü h l . Denkend will der Mensch die Vorsehung verehren und durch tugendhaftes Streben zur Vollkommenheit gelangen. Wohl ist der Widerspruch gegen das christliche Ideensystem der Ursprung der Aufklärung; aber es wäre ganz falsch, sie damit auch als Feind des Christentums an sich aufzufassen. Das Christentum soll nur seiner unvernünftigen Verzerrungen entkleidet werden. „Die Angriffe der deutschen Aufklärer gehen nicht gegen das Christentum selbst, sondern nur gegen das herrschsüchtige Kirchentum" (Hettner)1). Das Christentum selbst erfuhr trotzdem eine einschneidende Einschränkung. Es wurde der Vernunft unterstellt. Wolff meinte, daß es „für die geoffenbarte Religion genug sei, wenn die Vernunft nichts behauptet, was ihr entgegen ist". An L e i b n i z , dem Beherrscher der deutschen Aufklärung, kann dieser Gedanke noch verdeutlicht werden. In ihm zeigt sich auch der gleiche Triumph der Vernunft in religiöser Beziehung. „Die Zeit wird kommen und bald kommen, in der wir über Gott und den menschlichen Geist nicht minder sichere Sätze, als über Figuren und Zahlen haben werden", schrieb er an Oldenburg. Hier ist nichts mehr von dem gänzlich unerfor schlichen Gott der Reformatoren, dessen Wirken der Mensch in dieser Welt fremd und unerklärlich wahrnahm. Nicht mehr in der übernatürlichen Offenbarung zeigte sich Gott, sondern in der natürlichen Offenbarung seiner Weltschöpfung. Besser als in der Durchbrechung der Weltgesetze kommt das Göttliche in dem unverletzlichen und unverbrüchlichen Bestand und Dauer derselben zum Ausdruck. Alle Wunder sind Leibniz nichts und haben sich ihm aufgelöst im Wunder der Vernunft, die diese Ordnung zu erkennen i) Vgl. Hettner: Geschichte d. deutschen Literatur d. 18. Jahrh. II, 181.

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vermag. Die Vernünftigkeit des Weltalls ist d a s große Wunder 1 ). Dasselbe Weltgefühl findet sich nun auch bei B o d m e r in Zürich, der unter starkem Einfluß Leibniz' stand. Es ist die typische Auffassung der Aufklärung vom Religiösen, die er vertritt: „Ich bekenne, daß ich die Ideale von populären Predigten, die Dogmen, die Ν. B. wenig oder keinen Einfluß auf die Moralität haben, beinahe ausschließen und in die Katechismen und Systeme verweisen wollte, hingegen müßten die Texte die genauesten Beziehungen auf die alltäglichen Geschäfte, die besonderen Lebensarten, die populären Umstände und Meinungen haben, um die Leute so rechtschaffen und glücklich zu machen, wie sie im irdischen Leben werden können" „Lasse man die Lehre vom Opfertode als eine Brücke denen, welche da stehen, wo sich die Juden zur Zeit der Apostel befanden, wir denkenden Christen wohnen schon über dem Flusse". Das ist die Atmosphäre, in der Pestalozzi aufwuchs. Wie stark er von diesen Tendenzen beeinflußt war, wie weit er diese Gedanken teilte und auf welche Art und Weise er aus ihnen herauswuchs und seine eigene Welt schuf, das darzustellen wird in den folgenden Abschnitten versucht. Die J u g e n d g e s c h i c h t e . Die Vorfahren Heinrich Pestalozzis sind in der Reformationszeit ihres evangelischen Glaubens wegen aus ihrer südlichen Heimat nach Zürich ausgewandert. Wie stark dieser Glaube im elterlichen Hause, in dem Pestalozzi am 12. Januar 1746 geboren wurde, noch lebendig war, wissen wir nicht. Dem Vater war auf seinem Sterbebett die Hauptsorge das Schicksal seiner Frau und seiner Kinder. Darüber getröstet, starb er ruhig. Stärker wird von einem religiösen Einfluß der Mutter geredet werden dürfen. Ihre emste „fast alttestamentliche Frömmigkeit" (Heubaum) und ihre große Herzensgüte, sowie die Selbstverleugnung ihrer treuen Magd Babeli war von großem und nachhaltigem Eindruck auf den Jüngling. Im „Schwanen1) Natürlich sind in Leibniz' Religionsphilosophie noch wesentlich andere Züge vorhanden. Dieselben sind aber nur für sein System charakteristisch und nicht für die ganze Aufklärung.

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gesang" hat Pestalozzi seiner Mutter mit wenigen Worten ein ieines Denkmal gesetzt. Er bezeugt dort, daß sie ihm durch fhr eigenes Leben ein Beispiel gegeben habe, was echte Liebe und echter Glaube sei. Welche Gründe ihn aber veranlaßten, sich der Theologie zuzuwenden, kann nur vermutet werden. Vielleicht darf man dabei an seinen Großvater, der Pfarrer in Höngg war und bei welchem Pestalozzi des öftern in den Ferien war, denken. Über seine Wegwendung von der Theologie existieren die seltsamsten und unbegründetsten Behauptungen. So ist in vielen Biographien zu lesen, daß Pestalozzi in einer Predigt, durch die eigene Rührung übernommen, stecken geblieben sei. Ferner soll sein Freund Bluntschli, der auf seinem Sterbebett seine Zweifel an der Unsterblichkeit kalt und aufklärerisch erörterte, ihn von dem Vorsatz, Theologie zu studieren abgebracht haben. Beide Behauptungen sind gleich unbegründet. Von Bluntschli ist das Wort überliefert, daß „hinter den Wolken eine Szene glänze, die all dieses Leben verdunkle", welches nicht gerade dazu angetan ist, sein atheistisches Aufklärungsideal zu beweisen. Vielmehr ging der Einfluß Bluntschlis in einer ganz anderen, gerade entgegengesetzten Richtung. Daß Pestalozzi auch nicht in einer Predigt stecken blieb, geht daraus hervor, daß er aus unbekannten Gründen schon dem philosophischen Examen fernblieb und daher gar nicht in die theologische Klasse eintreten konnte. Soviel ist also ganz sicher: P e s t a l o z z i h a t nie Theologie s t u d i e r t . Warum, können wir nicht mit völliger Sicherheit sagen. Eine Vermutung sei hier kurz angedeutet. Im „Schwanengesang" findet sich eine Stelle, die einen Hinweis enthält, warum Pestalozzi die Laufbahn eines Pfarrers nicht ergriffen habe: „Knaben-Ideen, was in dieser Rücksicht in meiner Vaterstadt zu tun notwendig und möglich sei, brachten mich dahin, den Stand eines Geistlichen, zu dem ich früher hinlenkte und bestimmt war, zu verlassen" (XIV, 200). Frägt man, welcher Art diese „Knabenideen" gewesen seien, so wird man die Antwort erhalten, daß es vor allem dem Einfluß der Lektüre R o u s s e a u s zuzuschreiben ist. Von „Emil", diesem „Naturevangelium der Erziehung" (Goethe), bekennt Pestalozzi selbst, daß es ein „Traumbuch" sei, welches seinen unpraktischen „Traumsinn" sofort gefangen nahm (XIV, 200). Wir können uns heute kaum noch eine Vorstellung machen

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von dem gewaltigen, suggestiven Einfluß dieses Buches auf die damalige Jugend. Von der unheimlichen Gärung, die durch diese Lektüre entstand, bekommt man eine Ahnung, wenn man die Worte Pestalozzis bedenkt, daß er damals sogar fähig gewesen wäre, bei Gelegenheit einen politischen Mord zu begehen. Diesem Einfluß gegenüber war das Zerwürfnis mit einem Lehrer sicher von untergeordneter Bedeutung für die Aufgabe der Absicht, Theologie zu studieren. Genug, Pestalozzi wandte sich zunächst der Jurisprudenz zu, um später auch diese mit dem Beruf eines Landwirtes zu vertauschen. Während seiner Studienjahre hatte den stärksten Einfluß auf ihn Bodmer, den wir schon als Mann von typisch aufklärerischer Richtung kennen gelernt haben. Bodmer beherrschte im Bunde mit Rousseau das ganze Denken der damaligen Jugend. E r lenkte Pestalozzi schon damals auf die sozialpolitischen Fragen. Leibniz' Einwirkung gewann weniger selbständige Bedeutung und war nur durch die Vermittlung der Lehrer von Einfluß auf Pestalozzi. Die zwei schriftlichen Denkmäler, die wir von ihm aus jener Zeit haben, einige Aphorismen, betitelt „ W ü n s c h e " , in der Zeitschrift „Der Erinnerer" und ein Aufsatz über „ A g i s " zeigen denn auch stark die Einwirkung von Bodmers Religiosität. Es ist eine vorwiegend m o r a l i s c h e Religiosität. Der revolutionäre Drang, der gelegentlich dazwischen hervorbricht im „Agis", ist allerdings schon das erste Anzeichen der inneren Glut, mit der Pestalozzi seine Fragen ergriff. Dasselbe Bild tritt uns entgegen in Pestalozzis Briefwechsel mit seiner Braut Anna Schultheß. Es ist ein reiner V o r s e h u n g s g l a u b e , der die Brautleute verbindet. Die religiösen Redewendungen ihrer Zeit gebrauchen sie so selbstverständlich wie irgend etwas anderes, was um so seltsamer anmutet, da dieser selten feine Briefwechsel im übrigen nichts weniger als konventionell ist. Als Pestalozzi das Jawort von Anna Schultheß erhalten hatte, schrieb er ihr umgehend zurück: „Ich stehe eben auf von meinen Knien, auf denen ich zum Herrscher im Himmel gebetet. „Segne uns, Herr"! betete ich. Gib uns Mut und Entschlossenheit, den ferneren Dir allein bekannten Labyrinthen der Zukunft mit innerer Herzensruh entgegen zu gehen. Wir erkennen Deinen Willen und Deine Vorsehung in unserer Verbindung (Brautbriefe Ausg. 1924

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S. 85). Charakteristisch ist auch, daß die Vorsehung angerufen wird: „Laß mich, Vorsehung, alle Tage den Gedanken des Todes denken . . . (ibid. S. 159). Ferner gibt uns dieser Briefwechsel mannigfache Zeugnisse von den inneren Kämpfen Pestalozzis. Daß seine religiöse Entwicklung keineswegs eine geradlinige war, gesteht er selbst seiner Braut: „Wenn die Uebungen der Religion nicht von mir versäumt worden wären, so wäre ich nie in die dunkle Unruhe gefallen." (ibid. S. 271). Die Vermählung hatte auf Pestalozzi den Einfluß, daß er k i r c h l i c h e r wurde. Er geht häufiger als früher zum Abendmahl und das Gebet nimmt einen größeren Raum ein. Die jungen Eheleute halten miteinander Morgenandachten und sind von einem starken Sündenbewußtsein beherrscht. Den tiefsten Einblick in Pestalozzis damaliges religiöses Denken gewährt uns ein T a g e b u c h , welches seine Frau nach ihrer Verehelichung begonnen hatte und in das auch er schrieb. Nach der Niederkunft seiner Frau findet sich die Eintragung: „Wann werde ich die Hand der Vorsehung einst von Herzen erkennen ? wann mein Unglaube das Glück meines ehelichen Lebens nicht mehr stören ? und die Ewigkeiten für mich dunkel zu machen aufhören ? wann wird mein böses Herz von Gott geleitet zu wollen, und nicht in den wilden Wogen niederer Laster schäumen ? Ach Gott, ich näherte mich den Stunden der größten Besorgnisse und ich konnte nicht beten, nicht weinen, ich hob mein Angesicht nicht zu Gott auf! ich warf mich nicht auf meine Knie nieder und das Dasein frommer Freunde vermochte mich nicht, hinzufallen, meine Laster zu beweinen, um Gnade zu flehen, daß der Herr meine Geliebte nicht hinnehme um meiner Sünde willen, daß der Herr nicht meinen Sohn schlage um meiner Uebertretung willen. Ach, Verstockung liegt tief auf meinem Herzen! Der Willen mich zu bessern ist ferne von mir! Mein Herz ist voll arger Bosheit! Und wenn der Donner Gottes mich erschüttert und ich die Stimme des Herrn erkenne, die mir rufet: Kain, wo bist du? so eile ich von der Stätte, wo der Schrecken des Herrn mich ergriffen, von dem Ort, woher die Stimme Gottes schallte, weg — kennbar vom Laster gebrandmarkt, gehe, rufe unter jedem einsamen Baum, wo kein Zeuge um mich ist: meine Sünden sind größer, als daß sie mir verziehen werden. — Ich rufe nicht Gott; ich habe mich den Göttern der Menschen

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in Knechtschaft verkauft, ich elender Mensch!" (bei Morf I, 119). Es ist Vorsicht geboten, aus dieser und ähnlichen Tagebuchaufzeichnungen weitgehende Schlüssse über Pestalozzis Tun und Lassen zu ziehen. Es will beachtet sein, in welcher Lage Pestalozzi diese Worte schrieb, und was der Mensch in solchen Angstsituationen alles bekennt. Doch zeugen diese „Davidischen Selbstanklagen", wie Morf treffend diese Tagebucheintragungen bezeichnet, von dem tiefen inneren, religiösen Leben Pestalozzis. Wer so schreibt, dem ist das altreformierte Erbe noch nicht ganz verblichen. Wer zugibt, daß er Gottes vergessen hat, dem steht auch wieder der Weg zu Gott offen. Pestalozzi, den es damals schaudernd durchdrang, daß sein neugeborenes Söhnlein durch seine Schuld seiner Bestimmung untreu werden könnte, flehte damals ergreifend zu Gott um neue Kraft und neue Stärke: ,,Ach, ich habe des Herrn, meines Gottes, vergessen! und in der Angst meines Herzens betete ich nicht zu dem, der uns alle im Mutterleibe gebildet und Allem, was Atem hat, Leben gibt. Verzeih, Vater! ich bin nicht wert, daß ich dich Vater nenne! Sende deinen Geist von oben, gib mir jetzt neue Kraft, schaffe in mir ein neues Herz, neuen Eifer, neue Stärke!" (bei Morf I, 120). Bei der Erziehung seines Söhnchens „Jaqueli" läßt sich wiederum der Einfluß Rousseaus auf seine Erziehungsgrundsätze nachweisen. An der Hand der „Natur" soll das Kind lernen und der Lehrer nur wenig nachhelfen. In seinem Tagebuch finden sich darüber interessante Aufzeichnungen. Doch meldet sich auch schon ein leiser Widerspruch gegen Rousseau: Gehorsam muß sein, wenn auch auf Vertrauen begründet. D i e A r m e n a n s t a l t u n d die „ A b e n d s t u n d e " . Nach seiner Verheiratung hat Pestalozzi ein landwirtschaftliches Unternehmen auf dem „Neuhof" begonnen. Es war aber seiner Arbeit keine lange Dauer beschieden. Bald scheiterte seine Unternehmung und brachte ihn sogar an den Rand des Bankerottes. Da kam er auf den Gedanken, angeregt durch das eigene und das fremde Elend, das um ihn war, eine A r m e n s c h u l e zu eröffnen. Sein eigenes Elend hatte ihm die Augen geöffnet für das Elend der Welt. Auf dem „Neuhof"

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bekam Pestalozzi den ersten Eindruck von dem unsäglichen Leiden, das in der Welt ist. Namentlich die Not und Qual der K i n d e r w e l t trat ihm vor Augen wie noch nie, und mit seiner ganzen Liebe setzte er sich ein, tim hier Hilfe zu schaffen. Bettelkinder nahm er in sein Haus, lehrte sie arbeiten und gab ihnen dafür den Unterhalt. Er aß mit den Kindern am gleichen Tisch und gab ihnen die besseren Kartoffeln, während er selbst mit den schlechten vorlieb nahm. — Zum ersten Mal erfuhr Pestalozzi die Macht einer gefallenen Welt in diesen Kinderseelen, ihre Bosheit und Verderbnis. Sein Herz krampfte sich darob zusammen. „Nein, wahrlich, wir sind dem E b e n b i l d e G o t t e s im M e n s c h e n , unseren Brüdern, mehr schuldig. Wie klein, wie wenig ist der Unterschied vom Großen hinab zum Bettler am Wege, wie wesentlich sind sie sich gleich! warum wissen wir das nicht mehr, war es immer so ? . . . oder ist unser Jahrhundert schuldig, daß unser Herz tot und wir nicht mehr sehen, nicht mehr fühlen, die Seele, die in dem Sohne unseres Knechtes lebt und mit uns nach der ganzen Befriedigung ihrer Menschheit dürstet. Nein, der Sohn der Elenden, Verlorenen, Unglücklichen ist nicht da, bloß um ein Rad zu treiben, dessen Gang einen stolzen Bürger emporhebt! Nein! Dafür ist er nicht da! Mißbrauch der Menschheit, wie empört sich mein Herz" (VIII, 276). Aber es war Pestalozzi auch vergönnt, einen Einblick in die unvergängliche und unzerstörbare Natur des Menschen zu tun, die trotz aller Unterdrückung und Verwahrlosung im Menschen ist. Wie jubelte er über diesen göttlichen Funken, der trotz aller Verderbnis im Menschen noch vorhanden ist. „ E s ist unbeschreibliche Wonne" schrieb er damals, „Jünglinge und Mädchen, die elend waren, wachsen und blühen sehen, Ruhe und Zufriedenheit auf ihrem Antlitz zu sehen, ihre Hände zum Fleiß zu bilden und ihr Herz zu ihrem Schöpfer zu erheben, Tränen der betenden Unschuld im Angesicht geliebter Kinder zu sehen und ferne Hoffnungen von Tugendempfindungen und Sitten im verworfenen, verlorenen Geschlecht" (VIII, 293). Es liest sich noch heute wunderbar, wie Pestalozzi die Seele jedes einzelnen Kindes genau studiert und ihrer Eigenart entsprechend behandelte. Man spürt gleichsam noch das Wunder, das ihn in der unvergänglichen Anlage der Kinderseele überwältigte. Er war

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erfüllt von der staunenden Anbetung des Ebenbildes Gottes im Menschen, dessen Sinn sich ihm zu enthüllen begann. Wir stehen hier am Ursprung von Pestalozzis Ziel. Hier hat Pestalozzi die Entdeckung gemacht, die seine Idee an sich schon zu einer religiösen macht. E r hatte das Gefühl, daß sie für sein ganzes Zeitalter von Bedeutung sei. Es wird deutlich, daß Pestalozzis letzte Absicht mit bloßer Kinderfreundlichkeit und Gutmütigkeit nichts zu tun hat. Alle Darstellungen, die diese Seite in den Vordergrund rücken, dringen nicht bis zur letzten Grundlage vor. Es könnten diese Eigenschaften alle auch nur ein Zeichen eines schwachen, im besten Fall mitleidigen, Herzens sein. Nein, nicht bloße Mitleidsempfindungen mit der sozialen Not der Kinder war Pestalozzis primärer Ausgangspunkt, sondern die Frage nach der Bestimmung des Menschen wurde ihm zur Zentralfrage, nicht weniger als sie es für Herder und Kant war. Die Not der Menschheit hatte ihn nur darauf gebracht. Eine dogmatische, abschließende Antwort hat Pestalozzi zeitlebens nicht darauf gefunden. Aber die Idee des Menschen als E b e n b i l d G o t t e s war ihm damals in den Mittelpunkt seines Denkens gerückt. Alles was Pestalozzi von Not und Elend, von Armut und Unglück und deren Überwindung schreibt, hat nur den Sinn, daß diese das Ebenbild Gottes im Menschen nicht in die Erscheinung treten lassen. Das Tragische im Elend ist nicht der Hunger und nicht die Entblößung, die der Mensch durch dasselbe erleidet, sondern die Unterdrückung und Hemmung des wahren Menschenwesens, des Ebenbildes Gottes im Menschen. Dem Menschen ist es durch die Not bis zur Unmöglichkeit erschwert, zu seiner wahren und letzten Bestimmung durchzudringen. Hier setzten Pestalozzis Erziehungsgedanken ein. Als seine Erziehungsversuche aber fruchtbar zu werden begannen, mußte er seine Anstalt schließen (1780). Nach fünfjährigem Bestand scheiterte auch dieses Unternehmen durch die unökonomische Veranlagung Pestalozzis und durch das Nachlassen der finanziellen Hilfe von Seiten der Gönner. Unglaubliche Anstrengungen hatte Pestalozzi gemacht, um die Anstalt zu halten, und mit blutendem Herzen ließ er seine Kinder wieder in das Elend hinaus. Eine Frucht aber, die durch dieses Leiden in Pestalozzi gereift war, kam wundervoll zum Ausdruck in der „ A b e n d -

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s t u n d e eines E i n s i e d l e r s " , die 1780 in den „Ephemeriden" von Iselin erschien. Schon Raumer erkannte, daß diese kleine Schrift „Programm und Schlüssel seines pädagogischen Wirkens" (S. 297) sei, und Leser nennt sie geradezu die „bedeutendste Schrift" (S. 2) Pestalozzis. Tatsächlich enthalten diese Aphorismen den ganzen Plan seines Denkens und Wirkens. Schon durch den Stil fällt die Schrift auf. Heubaum fühlte sich dadurch ,,an die Psalmen- und Prophetensprache der Bibel" (S. 71) erinnert. Wernle meinte, das „Ganze müsse in wenigen Stunden feurigster Ergriffenheit wie ein Geschenk der Offenbarung empfangen worden sein" (II, 278). Es ist aber nicht so wie Wernle vermutete. Der Briefwechsel mit Iselin zeigt uns, wie langsam diese Schrift reifte. Pestalozzi wollte damit nicht einen „Erguß", sondern ein Bekenntnis schreiben. Die Berechtigung, in dieser Schrift ein B e k e n n t n i s Pestalozzis zu sehen, ergibt sich aus seinem ausgesprochenen Wunsch, ein Zeugnis seiner Verehrung Jesu abzulegen, „weil das Jahrhundert sich vor dem Namen des Weisen Jesu allgemein schämet, Rom. I, 1 6 " (Gundert S. 524). Aus dem Briefwechsel mit Iselin geht hervor, daß Pestalozzi damals das deutliche Gefühl hatte, daß die „kalte Wortreligion" nichts anderes sei, als „bis zur griechischen Volksverfeinerung erleuchtetes Heidentum". Dem gegenüber fühlte sich Pestalozzi gedrungen zu bekennen, daß „alle Weisen uns Licht und Wahrheit geben, aber Jesus allein zeigte der Menschheit den Vater und im Kinderglauben an diesen Vater — Erziehung, Bildung und Vervollkommnung ihres Wesens. Jesus enthüllte der Menschheit die innere Triebfeder ihrer Natur, wodurch sie allgemein fähig wird, die Wahrheit und Erleuchtung der Weisen zu benützen. Die Weisen berechneten den Wert der Tugend genau — Jesus bildet die Menschen in Einfalt, sie zu tun. So sehe ich die Sache an und so dringend scheint mir das Bedürfnis, unsere philosophische Lehrart der Einfalt Jesu wieder zu nähern" (Gundert S. 524). Das ist der Aspekt, unter dem die „Abendstunde" betrachtet sein will. Einheit ist ihr erstes Kennzeichen und Leidenschaftlichkeit ihr zweites. Unmöglich ist es, sie zu zitieren, ohne ihr Abbruch zu tun. Wenn es hier trotzdem versucht wird, so geschieht es nur deshalb, weil es das erste Doku-

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ment von Pestalozzi ist, das seine theoretischen Ansichten in eindeutiger Helligkeit zeigt und seine religiöse Kraft am reinsten und anschaulichsten zum Ausdruck bringt. Die ,,Abendstunde" fängt mit der Frage an: Was ist der Mensch? Die Weisen haben uns diese Frage nicht beantworten können. Seltsam sei es, daß der Mensch das Naheliegende dieser Frage nicht bemerkt hat. Die Antwort weist nach innen. Nur wenn das Wesen des Menschen in seinem Innersten befriedigt ist, ist die Antwort gegeben. Die E r füllung der Hoffnung, daß der Mensch mit sich in Harmonie sein muß, kann kein bloßer Traum sein. „Wer nicht Mensch ist, in seinen inneren Kräften ausgebildeter Mensch ist, dem fehlt die Grundlage zur Bildung seiner näheren Bestimmung . . (I, 55). Keine äußere Höhe kann darüber täuschen; dieses Ziel gilt für den König so wohl wie für den Bettler. Das Wesen des Menschen aber, soll es zum Durchbruch kommen, verlangt nach ordnungsgemäßer Bildung; ihr darf nicht vorangeeilt werden, und sie darf nicht einfach erzwungen werden. Vielwisserei ist kein Ersatz dafür. Die N a t u r ist das große Buch, woraus sie zu lernen ist. Im Vaterhaus ist die Grundlage zu „aller reinen Naturbildung der Menschheit" (I,6i) gelegt. Das Vaterhaus ist nur Analogon für das Vaterverhältnis Gottes. Gott ist „die nächste Beziehung der Menschheit" (I, 61) *). Denn auch das Vaterhaus kann den Menschen nicht dauernd beruhigen, sondern nur in „Gott, als Vater, als Quelle" (I, 61) liegt Ruhe und Kraft. Nicht erst gelehrt muß dieser Glaube an Gott werden, da er dem Menschen eingegraben ist, „wie der Sinn für das Gute und Böse" (I, 62). Er ist kein dialektischer Prozeß, „nicht Folge und Resultat gebildeter Weisheit, sondern reiner Sinn der Einfalt, horchendes Ohr der Unschuld auf den Ruf der Natur — daß Gott — Vater ist" (I, 62). Begründet wird dieser Satz aus der Not des Menschen. In der Not helfen ihm weder „Lehrsätze von überwiegendem Guten" (I, 63) noch das Gerede der Weisen. Nur Glaube an Gott hilft dem Menschen, „wenn die Flammen des Jammers über seinem Scheitel brennen" «) Natorp empfand diesen Satz „als einen der merkwürdigsten unter den vielen merkwürdigen Aussprüchen" (Ideal. S. 104) I I n dieser „Merkwürdigkeit" zeigt sich aber gerade der Kernpunkt des ganzen Pestalozzischen Denkens 1

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(1,63). Der Bewährungspunkt dieses Glaubens ist die Hoffnung auf Unsterblichkeit. Wenn Gott Vater der Menschen ist, so kann der Tag des Todes nicht die Vollendung sein. „Glaube an dich selbst, Mensch, glaube an den inneren Sinn deines Wesens, so glaubst du an Gott und an die Unsterblichkeit" (I, 64). Nach zwei Seiten wendet sich dieser Glaube. Zunächst macht er sich trennend geltend: „Glaube an Gott sind Scheidung der Menschheit in die Kinder Gottes und die Kinder der W e l t " (I, 64); denn der Glaube und die Einfalt sind nicht aller Menschen Teil. Aber nicht bloß als Trennung macht sich der Glaube geltend, sondern gerade auch als die wahre Verbindung der Menschen. E s gehört zum Wesen des Glaubens, daß das Eine nicht ohne das Andere zu denken ist. Die Familie, die Freundschaft, sie ruhen auf dieser Grundlage, sie sind Folgen des Glaubens. •— Wegen des Glaubens anerkennt das Volk seinen Fürsten; wegen des Glaubens ist Brudersinn unter den Menschen möglich. Daß dem nicht so ist, daran ist die S ü n d e schuld. Sie ist „Quelle und Folge des Unglaubens" (I, 67). Daher ist „dieser v e r l o r e n e K i n d e r s i n n der M e n s c h h e i t das größte Unglück der Welt, indem sie alle Vatererziehung Gottes unmöglich macht" (I, 7 1 ) . Die Wiederherstellung dieses Kindersinnes wäre E r l ö s u n g . „Der Mann Gottes, der mit Leiden und Sterben der Menschheit das allgemein verlorene Gefühl des Kindersinnes gegen Gott wieder hergestellt, i s t der Erlöser der Welt, er ist der geopferte Priester des Herrn, er ist Mittler zwischen Gott und der Gottesvergessenen Menschheit" (I, 7 1 ) . Das ist das Bekenntnis zu Christus, mit dem die „Abendstunde" schließt. Pestalozzi war sich bewußt, daß er mit dieser Schrift Saiten berührte, die in seiner Zeit unbestimmt lagen und nicht in Mode waren. So waren diese fast wehmütig-schönen und innerlich so gereiften Aphorismen, in denen Pestalozzi sich zum ersten Mal über die Bestimmung des Menschen klar zu werden versuchte, nur für ganz wenige geschrieben. Noch in zwei andern Beziehungen ist die „Abendstunde" von großer Bedeutung. Aus einer Stelle ist das V e r h ä l t n i s z u G o e t h e klar zu ersehen. Da diese Stelle in den gewöhnlichen Ausgaben der „Abendstunde" stets weggelassen ist, führe ich sie zunächst vollständig an. Sie lautet: Pestalozzi-Studien I.

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„Aeußere und innere Menschenhöhe, auf dieser reinen Bahn der Natur gebildet, ist Vaterstand und Vatersinn gegen niedere Kräfte und Anlagen. Mensch in deiner Höhe, wiege den Gebrauch deiner Kräfte nach diesem Zweck. Vatersinn hoher Kräfte gegen die unentwickelte schwache Herde der Menschheit. Ο Fürst in deiner Höhe! Ο Göthe in deiner Kraft! Ist das nicht deine Pflicht ? Ο Göthe, daß deine Bahn nicht ganz Natur ist! Schonung der Schwachheit, Vatersinn, Vaterzweck, Vateropfer im Gebrauch seiner Kraft, das ist reine Höhe der Menschheit. Ο Goethe in deiner Hoheit, ich sehe hinauf von meiner Tiefe, erzittere, schweige und seufze. Deine Kraft ist gleich dem Drang großer Fürsten, die dem Reichsglanz Millionen Volkssegen opfern." Iselin beanstandete die Stelle, nicht inhaltlich, sondern weil sie in ihrem Zusammenhang nicht verständlich sei. Pestalozzi antwortete darauf: „Goethe lasse ich gerne durchstreichen — der Sinn warum er dasteht, ist folgender — die Kraft seines dem Jahrhundert zugeschnittenen Genies — wirkt mit Fürsten und Herrscher Gewalt — wie Voltaire in seiner Zeit — und seine unbescheidene, ungläubige, alles Heiligtum der Welt nicht schonende Kühnheit — ist wahre Schwäche — Wäre Vatersinn, Vateropfer Geistesrichtung des Mannes im Gebrauch seiner Kräfte — er wäre Prophet und Mann Gottes — fürs .Volk — jetzt Irrlicht zwischen Engel und Satan, und mir in so weit niederer Verführer der Unschuld". Muthesius sieht in dieser starken Ablehnung Goethes nur die Abneigung der älteren Generation gegen das Geniewesen des „Sturm und Drang". Bestände diese Ansicht zu Recht, so hätten wir uns mit diesem Thema gar nicht zu befassen. E s würde dann lediglich einer Arbeit, die das Verhältnis zwischen Pestalozzi und Goethe untersucht, angehören. Ich glaube aber, daß die Sache hier anders hegt. Pestalozzi gehörte, als er diese Worte schrieb, noch gar nicht der älteren Generation an. E r war damals erst 34 Jahre alt, Goethe 31. Der Grund liegt vielmehr in der religiösen Sphäre. Wir sahen schon in der Armenschule, daß Pestalozzis primäre Tendenz unmittelbar eine religiöse war: die Wiederherstellung des Eben-

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bildes Gottes im Menschen. Deshalb war ihm Goethes rein humanistisches Persönlichkeitsideal unverständlich under an seinem religiösen Telos gemessen: „niederer Verführer der Unschuld". Genau dasselbe Bild ergibt sich, wenn wir nach Goethes Verhältnis zu Pestalozzi fragen. Ihm war der ganze Pestalozzische Erziehungsgang eine „babylonische Verwirrung", weil er den Unterschied von Exoterischem und Esoterischem aufhob und alle Unterschiede der Herkunft und des Standes ausglich. „Lassen wir also gesondert, was die Natur gesondert hat," war hier seine Meinung. Er konnte sich nie überwinden, ein Buch von Pestalozzi zu Ende zu lesen. Seinem aristokratischen Wesen waren alle religiös motivierten Bestrebungen dem Volk zu helfen schon aus Instinkt zuwider1). Die zweite Beziehung ist noch von größerer Bedeutung. Sie betrifft das V e r h ä l t n i s zu J. J. R o u s s e a u . Diese Beziehung taucht nicht wie diejenige zu Goethe einmal auf, sondern war während seines ganzen Lebens vorhanden. Wir sahen schon in der Jugendgeschichte den starken Einfluß Rousseaus auf Pestalozzi. Mit unter der Wirkung seiner Schriften war er ja Landwirt geworden. Die Parole „Zurück zur Na-' tur", das Evangelium der Natur gemäß zu leben, hat auch Pestalozzi ergriffen. Und gerade weil dieser Schriftsteller ihn so stark gepackt hatte in seiner Jugendzeit, setzte er sich auch zeitlebens mit ihm auseinander. Einen großen Teil seiner Terminologie hat er zweifellos von Rousseau einfach übernommen. Vor allem gehört der Begriff der „ N a t u r " auch dazu, dem wir noch oft begegnen werden. Es ist auch bei Rousseau kein leeres, nichtssagendes Wort, wenn er von der Natur redet. Nicht mehr ein bloßer Gegensatz gegen mensche liehe Institutionen und Traditionen, nicht ein bloßer Widerspruch gegen den Supranaturalismus war damit gemeint. Natur bedeutete sinnvolle Ordnung im Kosmos, bedeutete Freiheit, Urwüchsigkeit, unverbrauchtes und ungeziertes Leben, In der Natur sah Rousseu das Wirken und Walten Gottes. In diesem Sinne hat Pestalozzi in seinen Jünglingsjahren diesen Begriff übernommen. Trotzdem hat N a t o r p recht, wenn er in der „Abendstunde" den „ersten, entscheidenden ») Vgl. hinsichtlich des Verhältnisses der beiden: K . Muthesius, „Goethe und Pestalozzi". Leipzig 1908.

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Schritt über Rousseau hinaus" (Sozialpädagogik S.61) sieht. Er liegt nicht nur darin, daß Pestalozzi den Glauben an Gott dem Menschen eingegraben sieht, wie „den Sinn für das Gute und Böse", während Rousseau diesen Glauben dem Kinde erst, wenn es zur Reife gelangt, von außen beibringen will. Das ist eine lehrreiche Differenz in der Erziehungsfrage, die gewiß nicht unterschätzt werden darf. Der Gegensatz liegt aber schon in dem Begriff der Natur selbst. Er hat bei Pestalozzi eine große Erweiterung erfahren. Pestalozzi spricht oft von der Natur, gemeint ist aber vor allem die Natur des Menschen. Diese Unbestimmtheit ist wieder charakteristisch für Pestalozzis Denken. Er definiert diesen Begriff nie, sondern läßt ihn in seiner Unbestimmtheit. Heubaum fand, daß er im Laufe der Jahre immer noch unbestimmter, aber dafür reicher werde (S. 73). Natorp versuchte ihn als natura naturans, nicht natura naturata zu verstehen, was er auf „Schöpfung" als Schaffen, nicht bloß Geschaffenes deutete (Ideal. S. 94). Was nun aber für die „Abendstunde" und ihr Verhältnis zu Rousseau von Bedeutung ist, liegt in der E r k e n n t n i s des B ö s e n , das Pestalozzi in der N a t u r sah. Durch seine Erfahrungen mit der Kinderwelt und durch den Zusammenbruch seiner landwirtschaftlichen Unternehmungen war Pestalozzi die Macht der Sünde gewahr geworden, die den Glauben an Gott durchkreuzt. Er erkannte, daß diese Welt eine gefallene Welt, und „dieser verlorene Kindersinn der Menschheit das größte Unglück der Welt" (I, 71) ist. Oder, um mit H e i n r i c h von K l e i s t zu reden, wer das dritte Kapitel vom ersten Buch Moses nicht mit Aufmerksamkeit gelesen hat und diese erste Periode aller menschlichen Bildung nicht kennt, mit dem könne man nicht füglich über die folgenden, um wie viel weniger über die letzte sprechen (vgl. Marionettentheater). Darum aber bedarf diese Welt nach ihrem S ü n d e n f a l l eines Mittlers. Mit diesem Bekenntnis schließt die „Abendstunde", und dies ist die Erkenntnis, die Pestalozzi von Rousseau trennt. Rousseaus Naturenthusiasmus war ein Betrug und eine Täuschung vor der Wirklichkeit. Der Mensch wollte in Harmonie leben und die Widersprüche seines Daseins nicht sehen. Diese zu erkennen hatte Pestalozzi die Armenschule gelehrt, und in dieser Erkenntnis besteht die innere Verbindung der Armenschule mit der „Abendstunde".

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,,Ιη der Not des Menschen", so führt H u b e r feinsinnig aus, „wird für Pestalozzi Natur als Schöpfung Gottes problematisch. Am Menschen kommt Pestalozzi die Gespaltenheit alles Natürlichen zum Bewußtsein. Gottes Schöpfung heißt Natur und ist doch der Ort, wo Menschen aus tiefer Not schreien. Natur ist Schöpfung Gottes, sagt Pestalozzi, aber nicht erste Schöpfung. Das ist sein kritischer Standpunkt" (S. 59). „ L i e n h a r d und G e r t r u d " und die N e b e n w e r k e . In der „Abendstunde" erhob sich Pestalozzi über seine schmerzliche Lage zu den „tiefsten Ideen, in einem philosophisch didaktischen Gedicht, ewige Wahrheiten verkündend, indem er den Schöpfergedanken Gottes selbst nachging" (Seyffarth S. 65). Ob es am Inhalt oder an der gedrängten, fast lehrhaften Form lag, ist nicht zu entscheiden, aber Tatsache ist, daß die „Abendstunde" nicht gelesen wurde. Durch eine Zufälligkeit auf sein schriftstellerisches Talent aufmerksam gemacht, ging nun Pestalozzi daran, die gleiche Erkenntnis wie in der „Abendstunde" in der Form eines Volksbuches für die breitere Masse fruchtbar zu machen. Einmal auf diese Bahn gelenkt, arbeitete Pestalozzi in geringer Zeit den ersten T e i l von „ L i e n h a r d und G e r t r u d " (1781) aus. Wernle bemerkt zu diesem Roman, daß es kaum ein Dokument gebe in der zeitgenössischen deutschen und schweizerischen Literatur „von gleich herzlicher Schilderung der Kraft des alten Christentums" (schweiz. Protest. II, 279) '). Da „Lienhard und Gertrud" die gleiche religiöse Erkenntnis zugrunde liegt wie der „Abendstunde", so kann aus diesem Grunde auf eine eingehende Darstellung dieses Romans verzichtet werden. „Lienhard und Gertrud" darf wieder als ein Bekenntnis gewertet werden, und zwar als Bekenntnis zum einfachen Glauben des Volkes, was höchst seltsam ist inmitten der Aufklärung und höchstens seine Analogie in der ') H a m a n n hatte große Freude an „Lienhard und Gertrud" und bittet Georg Müller, den Verfasser „unbekannterweise herzlich zu grüßen". Es war das einzige Buch, das er „von neuen Sachen gekauft" hatte und er nennt es ein „rührendes D r a m a " , welcher Begriff nach Unger bei Hamann eine religiöse Färbung hat. Vgl. Unger, Hamann und die Aufklärung I, 321 und 451.

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Rückkehr Dostojewskys zum Glauben des einfachen russischen Volkes findet. Das Volk, „in der unverdorbenen Einfalt seiner Natur, weiß wenig, aber sein Wissen ist in Ordnung; seine Aufmerksamkeit ist fest und stark auf das gerichtet, was ihm verständlich und brauchbar ist; es bildet sich nichts darauf ein, etwas zu wissen, das es nicht versteht und nicht braucht" (I, 297). Die gleiche unreflektierte Art kommt auch gegenüber dem Religiösen zum Ausdruck. Die Gebote sind dazu da, um sie zu tun und zu erfüllen und nicht um darüber zu diskutieren. „Die B i b e l ist ein Mandat, ein Befehl", heißt es da in fast reformatorischer Sprache „und was würde der Kommandant zu dir sagen, wenn er einen Befehl ins Dorf schickt, man sollte Fuhren tun in die Festung und du dann anstatt in den Wald zu fahren und zu laden, dich ins Wirtshaus setztest, den Befehl zur Hand nähmest, ihn abläsest und den Nachbarn bei deinem Glas bis auf den Abend erklärtest, was er ausweise und wolle?"' (I, 220). Gewiß tragen viele Szenen stark sentimentalen Charakter — sind wir doch im Zeitalter Werthers! — aber der Schlichtheit und Einfalt eines Glaubens, wie ihn die Gertrud lebt, wird man sich kaum entziehen können. Wie Gertrud mit ihren Kindern betet und die Bibel liest; wie Pestalozzi im Kapitel „Ziehet den Hut ab; es folgt ein Sterbebett" das Sterben einer Frau schildert, ist von einfacher aber überzeugender Wahrhaftigkeit. Die Bedeutung der Gertrud, der Pestalozzi nur wenige religiöse Worte in den Mund legt, sie dafür aber um so mehr darnach tun läßt, kann kaum überschätzt werden. Wir erinnern uns, wie Pestalozzi durch das furchtbare Kinderelend auf seine Frage: Was ist der Mensch? geführt wurde und wie ihn keine dogmatische Antwort befriedigen konnte. In der M u t t e r sah Pestalozzi das hoffnungsvollste Mittel, dieser Not zu begegnen. Durch Kinder, die keine Mutter hatten, die arm und verlassen vor den Türen ihrer Mitmenschen ihr trauriges Dasein fristen mußten, wurde er sich des unbeschreiblichen Glanzes mütterlicher Liebe bewußt. An der Gertrud zeigte er, was eine Mutter sein kann in Sorge und Aufopferung für die ihrigen. Mangel an Mutterliebe ist die Ursache des Kinderelendes und unversiegliche Mutterliebe die nächste Rettung der Kinder. Unnachahmliche Worte findet Pestalozzi zu dem Zweck, die erhabene Bestimmung der Mutter zu be-

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schreiben. In der G e s t a l t der M u t t e r h i l f t G o t t s e i nen Kindern. In dieser Betrachtung liegt der tief religiöse Gehalt von „Lienhard und Gertrud". — Aber nicht allein in den direkt religiösen Äußerungen, sondern in der ganzen Art und Weise, wie er das Denken und Empfinden des Volkes schildert, gibt er sich sowohl in schriftstellerischer als in religiöser Beziehung als den Vorläufer J e r e m i a s G o t t h e l f s zu erkennen. ,,Lienhard und Gertrud" war ein Weckruf an die Zeitgenossen. Er erlangte aber als unterhaltender Roman seine Berühmtheit. Pestalozzi erblickte darin ein Mißverständnis und ein Verkennen dessen, was er eigentlich gewollt hatte und sah sich veranlaßt, in „ C h r i s t o p h und E l s e " (1782) zunächst einen Kommentar zu seinem ersten Volksbuch zu schreiben. Leise meldet sich in „Christoph und Else" ein polemischer Ton gegen Volksaberglauben und das Verkehrte im kirchlichen Unterricht. Man darf aber deswegen noch nicht behaupten, daß das Bekenntnis zum alten Kinderglauben in Pestalozzis Leben flüchtig vorübergegangen und nur eine Episode gewesen sei. Vielmehr haben wir hier noch denselben Pestalozzi vor uns, wie er sich in „Lienhard und Gertrud" gab, nur daß eine andere Seite etwas stärker in den Vordergrund tritt. An sich ist Polemik gegen Volksaberglauben und gegen Mißstände des Religionsunterrichts noch kein Beweis für eine irreligiöse Entwicklung. Man findet ganz gleiche Töne fast in jeder Erzählung Gotthelfs, den man in religiöser Beziehung gewiß nicht verdächtigen kann. In „Christoph und Else" wurde auf alles nur Unterhaltende verzichtet und der ganze Kommentar war darauf angelegt, seine pädagogische Volkserziehung rein lehrhaft vorzutragen Die religiösen Ansichten treten auf diese Weise auch direkter hervor. Die andere Seite Pestalozzis, die ihn unter dem E i n fluß der A u f k l ä r u n g zeigt, zeigt sich in der Unterscheidung von Schale und Kern in der Religion (vgl. VI, 87). Verschiedenheit im Wesen der Religion gibt es nicht; wo die menschlichen Ansichten auseinander gehen, ist Schale. Darum darf man niemanden wegen seiner Schale verdammen, und aus diesem Grunde sind Religionsstreitereien zu verwerfen. Denn wie kommt der Mensch dazu und was bildet er sich ein, von dem zu reden, was jenseits der Gräber liegt, als ob

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er schon dort gewesen wäre? Sieht er eine Sonne jenseits des Grabes, so danke er Gott dafür, er stehe aber nicht auf von seiner Anbetung, um mit seinem Bruder zu streiten, wenn der behauptet, etwas anderes zu sehen. Damit hört er auf, Anbeter im Geist und in der Wahrheit zu sein. Er glaube, daß Gott sich jedem offenbart und zeigt, der ihn liebt und ihm zu wissen kundtut, was für den Betreffenden nötig und nützlich ist. Daß hier aber noch derselbe Pestalozzi, der „Lienhard und Gertrud" schrieb, dahinter steht, geht aus dem Gedankengang hervor, der den vorhergehenden kreuzt. Gewiß ist bei den meisten Menschen gerade das Wesentliche der Religion fast immer mit Zeremonien und „geheiligten Meinungen" vermischt. Aber auch diese Religionsmeinungen sind in ihrem Wesen „gemeinlich" so wahr, daß uns niemals echte Weisheit hindern kann, uns an diesen Dingen zu stoßen. Wahre Weisheit betet gern in den Tempeln, und nur schlechte Subjekte spotten aller Kirchen. Je erleuchteter ein Weiser ist und je besonnener er über alle Meinungen denkt, desto klarer wird ihm sein, daß der Vorzug, den er vor dem Volke hat, nur im Unwesentlichen besteht und dem Volke nichts verloren geht, wenn es über die Zeremonien etwas „dunkler, aber dafür herzlich und warm denkt" (VI, 302). An der „größten Gotteslehre" haben beide teil, daß nämlich der Herr das zerkleckte Rohr nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen wird. Unter dem Gesichtspunkt, daß Gott den Menschen helfen will, ist es zu verstehen, wenn Pestalozzi sagt, daß „die Pfarrer das Volk nicht den Sternen, sondern der Menschlichkeit näher bringen sollten" (VI, 321). Er selbst fürchtet, daß er hier mißverstanden werden könnte, trotzdem aber muß er sagen, einfach deshalb, weil es wahr ist, daß der Mensch nicht für die Religion, sondern die Religion für den Menschen da ist. Religion sei nicht „ein apartes, besonderes Ding", sie sei nur dann fruchtbar, wenn sie „mehr in Kräften als in Vorstellungsarten und Worten besteht, eher eine Rüstkammer voll guter Werkzeuge als ein Saal voll reizender und einnehmender Bilder ist" (VI, 217) τ ). ') Dieses Bild, das das Wesen von Pestalozzis Religiosität sehr treffend zeigt, steht direkt im Gegensatz zu den Bildern, die S c h l e i e r m a c h e r zur Verdeutlichung seiner Religiosität gebraucht hat. Nach Schleiermacher laden

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— Auch der Begriff der Natur findet wieder eine ganz gleiche Verwendung wie in der „Abendstunde". „Die Menschennatur ist auch im Bettler erhaben und groß" (VI, 120). Der beste Pfarrer, den Pestalozzi gekannt, habe darüber gesagt, daß die Wahrheit der Natur, die Gott in das Herz aller Menschen mit seiner Hand geschrieben habe, mit der „Wahrheit des Evangeliums in ewiger, göttlicher Übereinstimmung" stehe (VI, 352). Auch die Vernunft sieht Pestalozzi im gleichen Licht: „Der gute, rechte Verstand geht aus Liebe hervor und bringt Heil, Friede und Segen für den Mann, der ihn hat und für alle die, denen er damit dienen kann" (VI, 50). Wenn man Pestalozzis V e r h ä l t n i s z u r A u f k l ä r u n g von da aus betrachtet, so ist es auch hier kein einheitliches. Noch 10 Jahre, nachdem er „Christoph und Else" geschrieben hatte, konnte er Fellenberg bekennen, daß er in seinem ganzen Leben „immer die bürgerliche Aufklärung geliebt" habe. Dann wieder war ihm „unsere gepriesene, allgemeine Aufklärung" nichts als eine „Windbeutelei". Mit einem Urteil wird diese Frage nicht zu beantworten sein, und es ist zunächst nichts anderes möglich, als allen seinen verschiedenen Äußerungen nachzugehen. Daraus wird sich ein gewisses Ergebnis von selbst ergeben. Zunächst haben wir noch zwei weitere Werke von Pestalozzi zu betrachten. Im gleichen Jahr, da „Christoph und Else" erschien, gab Pestalozzi eine Zeitschrift „ E i n S c h w e i z e r b l a t t " (1782) heraus, die aber nach einjährigem Bestehen wegen zu geringen Absatzes wieder eingehen mußte. Die Äußerungen über religiöse Probleme sind nicht zahlreich darin, man vernimmt mehr gelegentlich etwas über dieses Thema. Hier begegnen wir seinem eigenen Bekenntnis, daß ihn keine dogmatische Antwort zu befriedigen vermocht habe: „ E s ist nichts dagegen zu sagen, es war auffallend, daß ich seit meinen Knabenjahren von aller Philosophie, von aller Religion, von allem ordentlichen Denken abgekommen bin" (VII, 242). „die religiösen Gefühle den Menschen zu stillem, hingegebenem Genuß ein, und lähmen seine Tatkraft" (Dilthey: Leben Schleiermachers (1922) S. 429). Die Verwandtschaft von Pestalozzis und Schleiermachers Denken, die so oft hervorgehoben wurde, beruht m. E. auf einem Mißverständnis. Sie beruht lediglich auf der Zugehörigkeit zu der idealistischen Grundrichtung, der beide Denker angehören, aber garnicht auf ihrem persönlichen Lebenswerk.

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Seine Umstände hatten ihn längst von den Büchern weggelenkt und zu den Menschen selber hingeführt. Hier, bei den Menschen, war ihm die Frage brennend entgegengetreten, die ihn zeitlebens nicht mehr los ließ: „Was ist Wahrheit im Menschenleben? Was wirkt sie? Warum muß ich doch warm sein für Wahrheit, die nichts wirkt? Warum mich ermüden mit Träumen und rauben mir immer die Ruhe und den Lebensgenuß und den stillen lachenden Frieden des Herzens? Wie oft bin ich schon von Träumen entschlummert, von wachenden Träumen voll schwerer, ermüdender Arbeit! Ach, wenn dann Arbeit und Leiden dem Träumenden nichts war und ein hohes Ziel mich stärkte und um mich her Menschen wohltätige Träume liebten und oft dem Träumer entgegenlächelten, daß sein Mut wuchs, wenn ich sie hörte loben das Anklimmen auf steilen Bergen, loben den Mut des Retters, der ans sinkende Schiff schwimmt und dann meine Hoffnung mich doch täuschte, wenn ich scheitern sah Alle, die darauf bauten; — wie war mir? Was ist Wahrheit im Menschenleben?" (VII, 266). Das war die Frage Pestalozzis und in diesen Worten hat er sein ganzes, gequältes, vom Schicksal immer wieder zerschlagenes Leben gezeichnet. Und doch sah er das Ziel so deutlich vor Augen: „zu leben, in seinem Stand glücklich zu werden und in seinem Kreis nützlich zu sein, ist die Bestimmung des Menschen" (VII, 270). Aber war es denn möglich ? J a „leben zu lernen, ist der Endzweck aller Auferziehung; — auf verschiedene Art leben zu müssen, ist das Schicksal der Menschheit und es in seiner Lage nicht zu können und nicht recht gelernt zu haben, das größte Unglück aller Stände" (VII, 198). Pestalozzi war auch hierin mißtrauisch geworden gegen allen Optimismus von Menschenerziehung. E r hatte eine tiefe Erkenntnis vom Menschen. Ihm war „das Bild des Menschen in seiner tiefsten Entstellung auch gut" und so würdig es sich vorzustellen „als das Bild der Menschheit in seinen seltenen Höhen". „Ich liebe überhaupt", bekennt er, „die Menschheit ohne Flügel und ohne Hörner kennen zu lernen und der Kranke und Schwache hat gemeiniglich beides dieses am wenigsten" (VII, 145). Diese Wirklichkeit des Lebens brachte Pestalozzi auf seine Fragen und unter diesem Gesichtspunkt betrachtete er die Religion: „Der Mensch glaubt um seiner selbst willen an Gott, denn

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was macht das Gott, wenn der Mensch nicht an ihn glaubt und was irret es ihn, wenn er wie ein Vieh lebt auf Erden . . . Und darum, ο Sterblicher, ist dein Gottesdienst für dich immer nur in dem Grade wahr, als er dir nützet. Deine Heiligung, Mensch, die Minderung deiner Sünden ist der Zweck deines Dienstes" (VII, 259). Auch für das einfache Volk führen diese Erwägungen zu der Notwendigkeit des Gottesglaubens. Das Volk ist am allermeisten in Gefahr und allem Elend ausgesetzt, wo Gottes- und Menschenverachtung herrscht. Sein Leben wäre nicht auszuhaltendes Unrecht ohne lebendigen Glauben an Gott. Aber auch der Stand der Mächtigen hat keine Sicherheit, wenn Irreligiosität die dienende Klasse zerreißt. Ein Jahr nachdem „Christoph und Else" erschienen war, veröffentlichte Pestalozzi eine Schrift unter dem Titel: „ G e s e t z g e b u n g und K i n d e r m o r d " (1783). In der ersten Auflage bemerkt Pestalozzi, daß er sie schon 1780 geschrieben habe und die sachliche Übereinstimmung mit der „Abendstunde" kommt auch in jeder Zeile zum Ausdruck. Diese ausgezeichnete und überaus tiefe und feine Schrift, in der Pestalozzi Gedanken ausspricht, die zum Teil heute noch nicht in der Gerichtspraxis erreicht und anerkannt sind, hier eingehender zu würdigen, fällt aus dem Rahmen unseres Themas. Doch etwas muß unbedingt hervorgehoben werden. E s geht nicht an, diese glänzend geschriebene Schrift einfach ins Gebiet der Jurisprudenz zu schieben. Das eigentliche Thema von „Gesetzgebung und Kindermord" gehört mit zum Grundthema Pestalozzis. Es brauchte die ganze Glut und den inneren Willen zur Wahrhaftigkeit, wie er in Pestalozzi lebte, um in dieses dunkle Gebiet auch das Licht leuchten zu lassen. Kinderelend und Kinderqual waren die grausigen Realitäten, die Pestalozzi auf seine Fragen gestoßen hatten. In der sich selbstvergessenden und selbstverzehrenden Mutterliebe war ihm der erste Strahl der Rettung aufgeleuchtet. Was aber muß geschehen sein, wenn dieses Urgefühl im Menschen nicht mehr lebt, wenn die Mutter statt dem Kindlein ihre Brust zu reichen, ihre Finger um seinen Hals legt und es erwürgt! Wenn das geschieht, dann hat Verzweiflung und Raserei das Leben der Menschen ergriffen. Herzzerreißende Bilder entrollt Pesta-

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lozzi, um das Leben der Kindesmörderin zu schildern, die nicht von grausiger Phantasie eingegeben, sondern unerschöpflichem amtlichem Material entnommen sind. Und nun das Entscheidende des ganzen Buches. E s gilt nicht, seinem Abscheu Ausdruck zu verleihen, von Unmenschlichkeit zu reden und durch Henkershand der Mörderin ein Ende zu machen, um seinem eigenen moralischen Gefühl Genüge zu tun. Gerade das nicht! Pestalozzi hatte einen tiefen Blick getan in die unausweichliche Problematik des Lebens. E r hatte vor allem verstanden, daß diese Tat nur Folge eines verfehlten Lebens ist und wir gar kein Recht haben, diese Sünder zu verurteilen, wenn wir ihnen nicht auch die Kraft geben, der Sünde zu widerstehen. In der E r k e n n t n i s der M i t s c h u l d i g k e i t a l l e r M e n s c h e n zeigt Pestalozzi seine ethisch-religiöse Tiefe, die hoch über aller richtenden, pharisäischen Moralität liegt. E s war aber, als hätte es Pestalozzi gefühlt, daß sein Ruf zur Besinnung in diesem Buch auch kein Echo finden werde. Wohl brachte es eine ganze Literatur über Kindermörderinnen hervor, wovon diejenige von Schiller Berühmtheit erlangte *). Aber Pestalozzi war es nicht darum zu tun. Nicht umsonst liegt diese scharfe Kritik an der landesüblichen Justiz dem ganzen Buch zugrunde. Der Widerspruch gegen das Zeitalter der A u f k l ä r u n g kommt schneidend zum Ausdruck. In Vergleichung der eigenen Zeitgeschichte mit der Epoche der Reformation inbezug auf die Volkserleuchtung wird Voltaire eine ,,Satansfratze" genannt, im Gegensatz zu Luthers „Menschengesicht" (VIII, 222). Auch gegen R o u s s e a u s Naturschwärmerei wendet er sich wieder: „ewiger Winter ist der Stand der Natur, den du lobtest, guter Rousseau" (VIII, 184). Direkt gegen das Zeitalter wird gesagt, wer nicht an Gott glaube, dem fehle die Liebe des Nächsten und wem die Liebe Gottes und des Nächsten mangle, dem mangle das Fundament, auf dem allein die Erleuchtung aller Menschen aufgebaut werden könne. Die Vorschläge, die Pestalozzi seinen Gesetzgeber machen läßt, sind teils sehr gut, teils aber auch ohne Zweifel von der Zeit überholt. Das Bedeutungsvolle liegt auch nicht in diesen praktischen Vorschlägen. Vielmehr liegt das Wesentliche in dem Sinn und Geist, in welchem sein Gesetzgeber arbeitet. ') Vgl. Η. A. Korfi: Geist der Goethezeit (1923) Bd. I S. 251 fl.

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E r muß vor allem ein Ohr haben für „den unaussprechlichen lauten Ruf der Gottheit an das innerste Heiligtum des menschlichen Herzens" und gleichzeitig auch sehen, daß „dieser Ruf Gottes an die Menschheit im allgemeinen nichts weniger als erkannt und beherzigt wird" (VIII, 149). Pestalozzi faßt am Ende seiner Schrift alle Eigenschaften, die sein Gesetzgeber besitzen sollte, in das eine Wort zusammen, daß er ein C h r i s t sein müsse. „Christoph und Else" verfehlte seine Bestimmung, das Buch wurde nicht gelesen. Pestalozzi nahm daher den Faden von „Lienhard und Gertrud" wieder auf. Der z w e i t e T e i l v o n „ L i e n h a r d u n d G e r t r u d " (1783) gibt eine Erklärung, wie es zu den schlimmen Zuständen des Dorfes, die der erste Teil darstellt, gekommen ist und enthält namentlich eine eingehende Schilderung des Lebensganges des Vogtes Hummel, in welchem die ganze Schlechtigkeit, gleichsam wie in einem Brennpunkt, zusammengefaßt ist. Aber das geschieht wieder in gänzlich unmoralisierender Weise. Wieder tritt die Erkenntnis von der Mitschuldigkeit hervor. Zu richtender Überhebung liegt kein Anlaß vor. Jedem von uns, sagt Pestalozzi, hätte das gleiche Schicksal widerfahren, ein jeder in die gleiche Verderbnis versinken können, wenn er in eine entsprechende Lage gekommen wäre. Wie in „Gesetzgebung und Kindermord" weist Pestalozzi auch hier auf die Wahrheit hin, daß die Umstände den Menschen machen. E r gelangt aber nicht zu einer alles entschuldigenden Milieutheorie. Die andere Seite der Wahrheit, daß der Mensch die Umstände macht, betont er nicht weniger. Die Gestalt der Gertrud tritt gegenüber diesen E r wägungen etwas zurück, und die Seelsorgertätigkeit des sehr sympathisch gezeichneten Pfarrers und Arners nimmt einen größeren Raum ein. E s wurde schon erwähnt, daß Pestalozzi mehr als früher gegen Volksaberglauben und allzu geistliche Frömmigkeit polemisierte. Besonders in der Person des Ehegaumers Hartknopf wird gezeigt, was „Meinungsnarren" sind, die vergessen, daß „wir alle blind sind auf Erden" und die „aus der guten Lehre vom stillen, frommen Gottesglauben eine Streitlehre" (II, 159/160) machen. Zum gleichen Zweck wird an der Gestalt des Vogtes Hummel dargetan, daß aus dem bloßen „Maulbrauchen über Religion" (II, 2 1 5 ) nichts Gutes entstehen kann.

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Obwohl der zweite Teil von „Lienhard und Gertrud" schon nicht mehr den gleichen Anklang fand wie der erste Teil, der Pestalozzi zum berühmten Volksschriftsteller gemacht hatte, arbeitete er einen d r i t t e n T e i l des R o m a n s (1785) aus. E r behandelt die Heilung der Schäden und ist daher, vom pädagogischen Standpunkt aus gesehen, eigentüch der wichtigste. Uns interessiert zunächst eine andere Seite stärker. Von „Lienhard und Gertrud" wird oft geredet und man hat dabei das Gefühl, als handle es sich hier um einen Roman aus einem Guß. Wenn man aber näher zusieht, wird man sich der Einsicht nicht verschließen können, daß „Lienhard und Gertrud" in seinen fünf Teilen keine geschlossene Einheit bildet. Mehr als sieben Jahre liegen die verschiedenen Teile auseinander, eine Zeit, in der Pestalozzi die mannigfaltigsten Spannungen erlebte. Von diesen Spannungen reden auch die Blätter von „Lienhard und Gertrud" eine deutliche Sprache. Die beiden ersten Teile bilden eine gewisse Einheit. Eine kindliche, unreflektierte Frömmigkeit wird dargestellt, umgeben von dem ganzen Zauber Pestalozzischen Denkens und Fühlens. Mit dem dritten Teil tritt eine starke Veränderung ein. Die Tendenzen der A u f k l ä r u n g , unter denen wir Pestalozzi aufwachsen sahen, treten stärker in den Vordergrund und werden schärfer angewendet in der Beurteilung der religiösen Probleme. Doch darf man sich diese „Wendung" auch nicht zu ausschließlich vorstellen. Von einem Abfall von der Religion kann durchaus nicht gesprochen werden. Das wird der nächste Abschnitt eingehend beweisen. Eine erste Veränderung zeigt sich darin, daß die Charakteristik des Pfarrers anders ausfällt. Er tritt zurück. In den Überarbeitungen des Romans wurde dieser Zug noch verstärkt. — Die größte Veränderung zeigt sich aber darin, daß Pestalozzi G l ü l p h i , den „ungläubigen" Schulmeister, auftreten und die „Heidenschule" begründen läßt. Diese merkwürdige und bedeutungsvolle Gestalt bekommt ein um so stärkeres Gewicht durch den oft erwähnten Hinweis, daß Pestalozzi sich darin selbst gezeichnet habe. Mit Glülphi wendet sich der „Blick vom Himmel zur Erde" (Wernle). Wenn der Schulmeister mit den Kindern von Gott und Ewigkeit redet, so war es den Kindern, als rede er mit ihnen von Vater und Mutter, Haus und Hof. Es darf aber nicht übersehen werden, daß Glülphi nicht

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im Gegensatz zu Gertrud, dem Pfarrer und Arner auftritt, sondern aus ihrer Mitte und daß er in steter, herzlicher Verbindung mit ihnen bleibt. Wohl hat seine Frömmigkeit nicht die schlichte Art und Kraft der Gertrud, aber seine Stellung zur Bibel ist nicht gebrochen, und es will beachtet sein, daß auch er sie mit den Kindern häufig liest, genau so wie die Gertrud. Als Quelle des Gehorsams führt Pestalozzi das Gefühl der Kinder an, die deshalb lernen, weil sie merken, daß alles in ihnen selbst liege und nur aus ihnen hervorgeholt werden müsse. Neben diesem Gesichtspunkt bemerkt er aber auch, daß der Gehorsam und die Anstrengung der Kinder nicht aus dem Glauben an den Schulmeister, sondern aus dem „Glauben der Kinder an Gott und Gottes Wort" (III, 124) hervorgehen müsse. Die Polemik gegen die „geistlichen" Windbeutel wird fortgesetzt. Wohl sei es wahr, daß die Gottesfurcht zu allen Dingen nütze sei, aber das Maulbrauchen darüber habe keine Verheißung, weder des gegenwärtigen, noch des zukünftigen Lebens. Ebenso wird wieder das Streiten über die „Ansichten des Christentums" abgelehnt, weil es „nicht gut ist". „Ich sehe jetzt mehr als je", sagt der Pfarrer, „das wahre Christentum, der wahre christliche Glaube, diese Kraft Gottes zum Heil eines Jeden, der da glaubt, muß jeden einzelnen Christen zu dem kindlichen Mut, zu der kindlichen Freiheit und zu der kindlichen Freude und Liebe hinführen, die die Kinder der Gertrud beten, spinnen, arbeiten und in der Bibel lesen macht" (III, 102). Pestalozzi wußte es und war von der Wahrheit durchdrungen, daß „alle Hülfe, die uns Gott für dieses Leben gibt, nichts ist gegen die Hülfe, die er uns durch Jesus Christus zum ewigen Leben erworben hat" (III, 62). Aber dieser Glaube führte ihn nicht dazu, die äußere Lage der Menschen als gleichgültig zu betrachten. Im „Sumpfe des Elendes" wird nach Pestalozzi kein Mensch ein Mensch. Darum muß dem Volke geholfen werden, und alle Hilfe, die man ihm bieten kann, muß das Volk vor allem in den Stand setzen, sich selbst zu helfen. Echte Hilfe kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Der ganze dritte Teil ist darauf angelegt, wie durch das Zusammenwirken einiger guter Menschen ein verdorbenes Dorfleben wieder gesundet. Es zeugt für den tiefen Blick Pestalozzis, daß er die Gefahren, die durch die beginnende Umwälzung von der Landwirtschaft zur Industrie dem Volks-

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leben drohten, sofort klar erkannt und diese ganze Umwälzung in sein Buch hineingearbeitet hat. E s zeugt aber auch für seinen Glaubensgrund, daß er hier nicht nur Gefahren sah, sondern auch zu den Neuerungen Vertrauen faßte und zeigte, daß auch sie heilsam verwendet werden können. „ E s ist wahr, man muß es Gott danken, daß auch selber in tief verdorbenen Völkern, so lange in denselben nicht alle Spur des alten christlichen Lebens ausgelöscht ist und so lange das Volk in denselben im allgemeinen nur noch in der Bibel liest, betet und fleißig arbeitet, ganz gewiß noch immer Kräfte und Mittel findet, dem Verderben desselben Einhalt zu tun und den Quellen seines Unglücks mit mehr oder minderem Erfolg entgegenzuwirken" (III, 129). Im v i e r t e n T e i l v o n „ L i e n h a r d u n d G e r t r u d " (1787) wird nun das ganze Problem noch einmal, aber breiter und ausführlicher behandelt. Vom Dorf erweitert sich der Blick auf ein ganzes Land. — Die N a t u r des Menschen wird wieder kritisch beurteilt. Gegen R o u s s e a u wird bestimmt erklärt, daß der Mensch, wenn er sich selbst überlassen sei, wild und trag, furchtsam und ohne Grenzen gierig sei. Schon im siebenjährigen Kinde könne man gemeinigÜch eine äußerst niederträchtige Selbstsucht und Falschheit, ja den ganzen Sanscülottismus beobachten. Pestalozzi beweist seinen scharfen Blick, indem er erkennt, daß der Mensch in ein Stadium kommen kann, in welchem er verloren ist, und daß man dann ihn auch muß verloren geben können. Wer wollte aus dem Vogt Hummel einen anderen Menschen machen ? ,,Man muß ihn ja auch tot lassen, wenn er tot ist, und es ist umsonst, den getöteten inwendigen Menschen zum Leben rufen zu wollen" (IV, 322). Aber ein Ruhekissen darf diese Einstellung nicht werden und dem Vorhergesagten widersprechend heißt es, daß der Mensch trotzdem nie als unverbesserlich erklärt werden dürfe. Kann Herz und Kopf auch aussätzig werden und in Fäulnis geraten, kann der Mensch auch ohne Glauben, ohne Liebe und ohne Vernunft leben, die Kraft zu glauben und die Kraft zu lieben kann in ihm nie ganz ersterben. Darum hegt ,,das Tröstliche gegen alle Übel, denen das Menschengeschlecht ausgesetzt ist, in dem ewigen Göttlichen der menschlichen Natur selbst" (IV, 246). Interessant ist zu sehen, daß Pestalozzi den „ersten k a t h o l i s c h e n Geistlichen der Hauptstadt" diese Ansicht

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teilen und betonen läßt, daß sie „mit den Grundsätzen der katholischen Kirche und mit den Mitteln ihrer so fest begründeten Hierarchie übereinstimme" (IV, 243). Das Christentum ist das Höchste, wonach der erhabenste Mensch streben kann, aber wenn das Christentum ihm nur dazu dient, ihn in einen dogmatischen Schlummer einzulullen, was bleibt dann übrig? Nichts ist widerlicher, als wenn „die Lehre von der Nachfolge des Gekreuzigten zu einem anschaulichen Beleg der vis inertiae unseres Verderbens" (IV, 233) herabgewürdigt wird. Daher waren Pestalozzi alle Almosen verdächtig. „Ein wahres Almosen" ist nur das, wenn man dafür sorgt, daß der, welcher es empfängt, fernerhin keine Almosen mehr entgegen nehmen muß. Entweder ist das wahr, oder „das Almosen ist nicht ein Opfer der Weisheit und Güte, sondern etwas ganz anderes" (IV, 297). Es ist das keine Utopie von einem Reich Gottes auf Erden. Pestalozzi hat es immer abgelehnt, sich in „Träume von W e l t - und S t a a t e n v e r besserungen zu vertiefen", nach ihm kommt so etwas von selbst, wenn es reif ist. Es kann das auch nicht eine Angelegenheit des Menschen sein: „Götter mögen das Ganze, Götter mögen die Welt besorgen; der Menschen Sorge für den Menschen ist I n d i v i d u a l s o r g e und das Christentum ist Heiligung dieser Individualsorge, indem es den einzelnen Menschen als einzelnen, ohne alles Begleit und ohne Zugabe in die Arme seines Vaters hinführt und dem Herzen seines Erlösers nahe bringt" (IV, 270). Das eigentlich religiöse Interesse geht vorerst weiter in der Richtung der schon im dritten Teil geäußerten Polemik gegen den S e k t e n g e i s t und die unreinen Gottesvorstellungen. „Hart in den Kopf eingegrabene Bilder von Gott sind im Grunde um kein Haar besser und der menschlichen Natur nicht weniger schädlich, als die steinernen und erzenen Götzen, die sich die roheren Menschen schnitzeln" (IV, 325). Sie sind einfach Abgötterei und vernichten den kraftvollen, alten Sinn der Religion. Man darf sich darüber nicht täuschen, auch wenn die Leute im Dorf, weil sie reformiert sind, keine gemachten Bilder kaufen. Ihr Seelenzustand ist in dieser Hinsicht viel schlimmer als derjenige der Leute, die gestochene und gemalte Bilder nur in die Hände nehmen und vor Augen halten, weil jene alle religiösen Ansichten so verhärtet in ihrer EinbildungsPesulozzi-Studien I.

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kraft herumtragen. Dieses „Träumen und Schwatzen über die Religion und Religionsmeinungen" hat am meisten den „Fortschritt des Unglaubens und des Lumpenlebens" gebracht. Gegen allen diesen bloß religiösen Fürwitz muß gesagt werden, daß „Gott sich den Menschen verborgen und die Geheimnisse der Zukunft für ihn in undurchdringliche Schatten gelegt". E s gilt daher, gegen die Unerforschlichkeit und Verborgenheit Gottes nicht anzurennen. Es ist Gottes Weisheit, die das so angeordnet hat, und „wir verheeren unser Inneres, wenn wir dem Schatten entweichen wollen, den Gott um uns gelegt hat". Es spricht sich darin auch eine ganz ungläubige Art aus, denn „Gott hat die Nacht gemacht, wie den Tag: warum willst du nicht ruhen in Gottes Nacht, bis er seine Sonne dir zeigt ?" (IV, 326). Pestalozzi betrachtet es schon als verfehlt, wenn einer über das, was das Wort Gottes uns sagen oder nicht sagen will, zu Erklärungen, zu dem was andere Leute darüber gesagt haben, seine Zuflucht nehmen muß. Es gibt Dinge, die eine direkte Sprache zu uns reden: sind nicht Sonne und Mond, Blumen und Früchte in der Welt ? Hat der Mensch nicht ein eigenes Herz ? Die Umstände, in die der Mensch hineingestellt wurde, sind das direkte Wort Gottes an ihn, und darin kann er nicht irren, wenn er hier seine Pflichten tut. Wundervolle Worte hat Pestalozzi in der berühmten K i n d e r l e h r e gefunden, in welcher er über die echte Selbst- und Gotteserkenntnis spricht: „Gott ist für die Menschen nur durch die Menschen der Gott der Menschen. Der Mensch kennt Gott nur, insofern er den Menschen, das ist, sich selbst kennt; und er ehrt Gott nur, insofern er sich selbst ehrt, das ist, insofern er an sich selbst und an seinen Nebenmenschen nach den reinsten und besten Trieben, die in ihm liegen handelt. Daher soll auch ein Mensch den andern nicht durch Bilder und Worte, sondern durch sein Tun zur Religionslehre emporheben. Denn es ist umsonst, daß du dem Armen sagest: Es ist ein Gott und dem Waislein: Du hast einen Vater im Himmel; mit Bildern und Worten lehrt kein Mensch den andern Gott erkennen. Aber wenn du dem Armen hilfst, daß er wie ein Mensch leben kann, so zeigst du ihm Gott; und wenn du das Waislein erziehst, wie wenn es einen Vater hätte, so lehrst du es den Vater im Himmel kennen, der dein Herz also gebildet, daß du es erziehen müssest" (IV, 326/27). In der Pestalozzi-Forschung redet man hier von der humanen

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und ethischen Begründung des Glaubens. Man wird aber diesen Worten nicht gerecht, wollte man sie als reinen „Moralismus" (Natorp) verstehen. Für keinen echt religiösen Menschen erschöpfte sich je das Religiöse im rein Moralischen. Auch bei K a n t nicht, zu dessen Werk diese Worte in naher Beziehung stehen. Eine Metaphysik des Glaubens lehnte Pestalozzi allerdings ab, und seine Aussagen über Gott sind nicht zahlreich. Wir sahen schon, daß Pestalozzi die Verborgenheit Gottes stark unterstrichen hat und daß nach ihm der Mensch eigentlich nicht von Gott reden kann. Liegt aber dieser Zurückhaltung nicht größere Ehrfurcht zugrunde vor Gottes Heiligkeit als in den meisten Dogmatiken zum Ausdruck gelangt? Man wird eher an die p r o t e s t a n t i s c h e E t h i k denken dürfen, die in der Arbeit, welche der Christ im täglichen Leben tut, die echte Bewährung seines Glaubens sieht. Doch die richtige Interpretierung erfahren diese Worte erst, wenn man sich an die b i b l i s c h e G o t t e s e r k e n n t n i s erinnert: „Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist der, die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich vor der Welt unbefleckt behalten" (Jak. I, 27). In der Ausgabe von Seyffarth findet sich noch ein f ü n f t e r T e i l v o n „ L i e n h a r d und G e r t r u d " , dessen Vorwort aber die gleiche Jahreszahl (1787) wie der vierte Teil trägt. Es handelt sich also nicht um den verloren gegangenen Schluß des Romans. Das Eigentümliche des fünften Teils wird darin gesehen, daß Pestalozzi versuchte, eine Philosophie seines Romans zu geben. Das hatte zur Folge, daß gewisse Urteile noch schärfer und tiefer herausgearbeitet wurden. Schroff ist die Position gegen die A u f k l ä r u n g bezogen. Man kenne den Einfluß, den die Religion zur Hemmung ausschweifender Begierden haben könne; aber in einem Jahrhundert, in welchem der Grundsatz gelte, die Religion sei bloß die Sache einer weisen Staatskunst, und da sie mehr als je schlaffes Volksgeschwätz geworden sei, in dieser Zeit vergessen unsere Staatskünstler dieses Rettungsmittel der Menschheit zu gebrauchen und entnerven es täglich stärker. Die Geschichte der Gegenwart habe dargetan, daß dieses „Phantom unserer Zeit, die Aufklärung, wenn sie einseitig vorschreitet und nicht auf den wahren Wohlstand des Volkes" (V, 207) gegründet sei, die Menschen der Vertierung nahebringe und dem gegenüber 6*

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wirke dann alle religiöse Schwärmerei wie ein Himmelslicht. Pestalozzi redet direkt von einer „ V e r s t a n d e s p e s t " (V, 119), die wie eine Seuche um sich greife und die viele Pfarrer leider sogar bis in die kleinsten Dörfer hinaus brächten. Mit H a m a n n scher Inbrunst wird dem gegenüber das G e f ü h l und das Herz betont, das allem, was der Mensch sieht und hört und weiß, die Farbe gibt. Auch Glülphi stieg durch sein Herz und nicht durch seinen Kopf auf die Höhen seiner Menschlichkeit. — Aber auch dem P i e t i s m u s gegenüber werden kritische Vorbehalte gemacht. Seine Vorzüge werden zunächst bereitwillig anerkannt: die Pietisten sind oft unter dem gemeinen Volk die Menschlichsten und Liebreichsten. Sie besitzen für sich und andere Rat und Trost wie sonst niemand, werden viel verkannt und verlacht und sind in ihrem Verkanntsein doch noch glücklicher als ihre Spötter. Ihre Nachteile jedoch werden beinahe noch stärker unterstrichen. Sie sondern sich um Meinungen und Wörter willen von anderen Menschen ab und setzen dadurch ihre Nebenmenschen ins Unrecht. Das ist es, was Pestalozzi am stärksten von den Pietisten abstößt. Das Gesamturteil faßt er in einem Bilde zusammen, das zum besten gehört, was je über den Pietismus gesagt wurde: „Das Glück, das diese Leute in ihrer Beschränktheit besitzen, ist dem Genuß einer hellen, stillen und warmen Sternennacht zu vergleichen, bei welcher dem Menschen so innig wohl sein kann, daß er wie hingerissen wird zu denken, es könnte nichts Schöneres und nichts Größeres auf der Welt sein, als eine solche Sternennacht; aber wenn die Sonne dann aufgeht in ihrer Pracht und der Mensch der Erde den Segen ihres wärmenden Lichtes und die Sicherheit ihrer hellen Tageserleuchtung genießt, da denkt er nicht mehr, daß die Sternennacht und das trügliche Mondlicht das Schönste und Beste sei, das er auf der Erde genießen könne" (V, 122). — Im Gegensatz zu der Aufklärung und dem Pietismus wird der R e f o r m a t i o n s e p o c h e ungeteiltes Lob zuteil'). Merkwürdig fand er es, daß die Regierungen nicht stärker auf den Vorsprung aufmerksam ') V o n einem Leipziger Verleger war Pestalozzi in Aussicht genommen worden, die Reformation darzustellen. S c h i l l e r riet dringend davon ab, weil er Pestalozzi in konfessioneller Beziehung zu wenig Vorurteilslosigkeit zutraute. Diese Befürchtung war sicher vollständig unbegründet, und es ging uns dadurch ein Werk verloren, welches zur Kenntnis von Pestalozzis religiöser Stellung sehr wertvoll geworden wäre.

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wurden, den alle Länder, in denen die Reformation eingeführt war, gegenüber den katholischen Ländern hatten, und zwar dadurch, daß in der Reformation ganz andere Kräfte lebendig wurden, sowohl in leiblicher als geistiger Hinsicht, als dies im Katholizismus der Fall war. Die Menschen wurden auf sich selber aufmerksam und erhielten eine Sorge für die Ihrigen und das Ihrige. Auch der Aufschwung, der in industrieller Beziehung erfolgte und zu einer Quelle der Sparsamkeit und Hausordnung wurde, wird hervorgehoben. Noch ein Moment spielt hinein. Es kommt besonders in dem philosophischen Gespräch, welches Arner mit dem Pfarrer auf seinem Krankenbett über die U n s t e r b l i c h k e i t der S e e l e hält, zum Ausdruck. Er sagt darüber, daß „ihm das Leben und Leiden Christi ein größerer Beweis dafür sei, als seine Auferstehung, und die Gewißheit, daß der Mensch den stärksten Trieben seiner Natur entgegen handeln und für andere leiden und sterben könne, um sich besser, größer und vollkommener zu fühlen, als wenn er das nicht tun würde, sei ihm ein größerer Beweis der Unsterblichkeit" (V, 80). Die Überzeugung, daß das Leben nichts ist, brachte Arner zur Überzeugung der Unsterblichkeit. Aber Fleisch und Blut kann das nicht glauben, vom Wurm bis zum Menschen hinauf ist ihnen das Leben Alles. Alles Tun der Menschen ist nur ein Spiel, das nicht um seiner Wirkung willen, sondern um die Kräfte des Menschen in Übung zu erhalten und seine Anlagen zu entwickeln, einigen Wert hat. Diese Überzeugung bewahrte Pestalozzi vor dem Irrtum, daß je eine gesetzgeberische Weisheit die Quelle des ewigen Elendes der Erde ganz aufheben könnte. ,,Die beste bürgerliche Stimmung ist nicht genug, den Sinn des Menschen zu derjenigen Veredlung zu erheben, deren er bedarf, um real beruhigt zu sein" (V, 182). Diese Erörterungen, die immer stärker in den Vordergrund treten, zeigen, daß man Pestalozzis Glauben an das Kindschaftsverhältnis zum Vater nicht zu naiv sich vorstellen darf. Pestalozzi besaß unstreitig eine starke Kraft der Reflexion, aber er wollte nicht, daß die Ergebnisse seines Denkens in das Volk dringen. „Der Glaube an Gott und die Lehre von seinem Dienst ist für das Volk nicht Sache seines Kopfes, sondern seines Herzens" (V, 178). Der wissenschaftliche Unterricht über die Religion sei eine Menschenforderung und werde von

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der Bibel auf keine Weise als Bedingung zur Seligkeit gefordert, nicht einmal als ein Mittel zu derselben empfohlen. Die Bibel fordere vom Menschen nicht R e l i g i o n s w i s s e n s c h a f t , sondern Religionsübung. Alle Versuche, die'Religion zu erklären, bringen das Volk nur ab von seiner geraden Seelenstimmung und machen es dadurch sehr vieles verlieren. Pestalozzi war weit davon entfernt, die Religionswissenschaft als solche zu verkennen: „Der Gelehrte" sagt er einmal, freilich ironisch „mag in der Bibel Stoff zur KopfÜbung finden"; nur das Volk soll davon unbehelligt bleiben. Es soll durch den Altar nicht mit irgend einer Streitigkeit der Priester bekannt gemacht werden. „Gemütsruhe im Dunkel seiner Nacht, Ergebenheit in den Willen Gottes im Tal von Tränen und ein kindliches Aufsehen auf den Herzog und Vollender des Lebens, das ist die Bestimmung des Glaubens" (V, 175). Im existenziellen Leben muß sich das Religiöse auswirken. Nichts darf da der Beachtung zu klein und unwürdig sein. „Ein Kind, das gegen eine Geiß, die es gestoßen, vernünftig oder unvernünftig gehandelt, war eben so, wie eins, das das schönste Loblied auf Gott auswendig gelernt, ein Gegenstand seines Religionsunterrichts" (V, 185). Leidenschaftlich kontrastiert Pestalozzi die echte R e l i g i o n gegen allen Aberglauben und alle Abgötterei, insbesondere gegen den „Geist der Pfaffheit". Glühende Worte legen sich zu diesem Zwecke Pestalozzi auf die Lippen, die seine Glut und Kraft im Denken und Fühlen wiedergeben. Die wahre Religion ist die „Dienerin Gottes", sie zeigt dem Gewaltigen in seinem Sklaven das Kind des Ewigen, sie zwingt den T y rannen zu erzittern vor dem Recht der Armen und vor denTränen der Waislein, sie setzt der Wut der Menschen und ihrem Unsinn ein Ziel, sie gibt den Menschen Weisheit in ihrem Tun und erhebt sie über das Werk ihrer Hände. „Seitdem die Erde gegründet und der Mensch auf derselben sein nichtiges Werk treibt, warst du die erste Siegerin der wilden Triebe des ungebändigten Geschlechts. . . Seitdem die Menschheit lebt, befriedigt der Glaube an Gott das Innerste ihrer Natur" (V, 1 7 1 ) heißt es in fast wörtlicher Übereinstimmung mit der „Abendstunde". Aber so enthusiastisch die wahre Religion gepriesen wird, so zornerfüllt wird nun allem „ P f a f f e n g e i s t " geflucht. So lange die Welt stehe, mißbrauche er den Glauben an Gott, um die Menschen zu einem abgöttischen Wesen zu verführen. Er fülle ihre Ge-

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danken mit den Bildern von Gott und mache die heißen Stunden seines Spintisierens zu Offenbarungen des Allmächtigen, er löse die Liebe Gottes auf und binde mit Stricken seine Meinungen. Er schleiche den Fürsten nach, um Gott desto besser dienen zu können, er entmanne die Söhne des Staates und mache die Priester zu Königen. Seitdem die Welt stehe, habe er sie damit erschüttert und ein Meer von Blut und Tränen über sie gebracht: Könige gegen Untertanen, Untertanen gegen Könige gehetzt. „Wie in stillen Meeren ein sicheres Schiff an unsichtbaren Felsen scheitert, so scheitert die Menschheit an unsichtbaren Klippen. Trügerin. Du frägst das Waislein: Kennst du meinen Gott? und den Unterdrückten: Kennst du meinen Glauben auswendig? Wenn du redest, so hast du Vorbehalt in deiner Seele. Du bist den Menschen kaum ein wenig minder geworden als Gott, und dein Dienst geht den Völkern der Erde über den Dienst des Allerhöchsten" (V, 174/76). — Es kommt in diesen Worten vor allem das Anliegen der Aufklärung zum Ausdruck. Es gehört zum Besten, was wir dieser großen Geistesbewegung zu verdanken haben, daß sie diesen Protest gegen eine tote Orthodoxie, die ihres Gottes vergessen, aufgenommen hat. So vorbehaltlos dies anerkannt werden muß, so darf nicht übersehen werden, daß nicht alle Aufklärer diese tiefen Töne anschlugen, sondern des öftern durch ein oberflächliches Gerede ihre Unfähigkeit, das Wesen des Religiösen zu verstehen, dokumentierten. Pestalozzi kann hievon völlig freigesprochen werden, er schrieb nicht im geringsten diesen Aufklärungsjargon. Seine Sprache ist nur der Ausdruck des, fast möchte man sagen, heiligen Zornes, der in ihm lebte gegen alle Verunstaltung und allen Mißbrauch des Göttlichen. Ich möchte daher nicht zögern zu bekennen, daß mich diese Worte — der Distanz bewußt — unmittelbar an den Glauben und das Ethos der alttestamentlichen Propheten erinnert haben.

Die „ N a c h f o r s c h u n g e n " . Im Anfang der Neunziger Jahre schrieb Pestalozzi an Fellenberg: „Inzwischen will ich die schwindenden Stunden benützen und danke Ihnen und jedem, der mir hilft, die Brosamen meines verlorenen Lebens noch so viel als möglich zusammen zu lesen" (Unedierte Briefe S. 11). Schon bei der Betrachtung von

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„Lienhard und Gertrud" sahen Wir, daß im Laufe der Entstehung dieses Romans das Moment der Kritik immer stärker in den Vordergrund trat. Wir nannten es mit einem Wort von Wernle, daß sich der Blick vom Himmel zur Erde neige. In der zweiten B e a r b e i t u n g des Romans (1790—1792) tritt diese Tendenz noch stärker zutage I ). E s wurde darin oft eine Umbildung der Religiosität Pestalozzis gesehen. Es ist aber mit diesem Wort entschieden zu viel gesagt. Wir möchten darin vielmehr die E n t w i c k l u n g in Pestalozzis religiösem Leben wahrnehmen, die für ihn sowohl eine Vertiefung als eine Erweiterung war. Daß keine völlige Umbildung vorliegt, ist. daraus zu sehen, daß die Hauptgedanken der „Abendstunde" und der beiden ersten Teile von „Lienhard und Gertrud" beibehalten sind. Sie erhalten allerdings teilweise noch eine Hinzufügung, teilweise aber nur eine andere Färbung und Betonung. E s macht sich vor allem der D r u c k , der auf Pestalozzis Leben lastet, bemerkbar. Sein landwirtschaftliches Unternehmen war gescheitert, das Vermögen seiner Frau mehr oder "Weniger verloren, die Armenanstalt eingegangen, und was tat er ? Schon über zehn Jahre war er zu einem unfreiwilligen Nichtstun verurteilt. Er suchte und suchte eine ihm entsprechende Beschäftigung und konnte nichts finden. So stand er vor der Welt als derjenige da, der Anderen helfen wollte und nicht einmal sich selbst helfen konnte, als der unpraktische und weltuntüchtige Träumer und Sonderling, den seine Kameraden schon in der Schule als den Heiri W u n d e r l i v o n T h o r l i k o n verspottet hatten. Daß er seine besten Jahre tatenlos verrinnen lassen mußte und nach außen als Schiffbrüchiger dastand, das ist das Gefühl, das ihn damals übermannte. Daher redete er von seinem „verlorenen Leben", dessen Brosamen er noch mühsam zusammen suchen wolle. Unter diesem Gesichtspunkt will zunächst der Brief an N i c o l o v i u s vom 1. Oktober 1793 betrachtet sein, der uns am besten in den Geist der „Nachforschungen" einführt, und den ich hier unverkürzt wiedergebe: „Freund, im Gedränge meines Lebens verwirrt, trank ich wenig aus den reinen Quellen, aus denen die weisesten und •) Vgl. Rost: „Lienhard und Gertrud", Vergleichende Daxstellung der drei Ausgaben. Leipzig 1909.

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besten Menschen, indem sie die innere Heiligung ihres Wesen zum ersten Geschäft ihres Lebens machen, hohe Kräfte schöpfen; — ach, das ganze Treiben meines Lebens ist ungereinigt von Selbstsucht und gemeinen Neigungen! Ich war zwar freilich von meiner Jugend an für jedes Gute empfänglich und für vieles lebhaft eingenommen, aber der Kot der Welt, durch welchen ich mich durcharbeiten sollte, hatte eine andere Ordnung, die ich nicht verstand und für die ich nicht gebildet war ; ich war im kritischen Zeitpunkt meiner jugendlichen Ausreifung über meine Kräfte überladen und dadurch in Verwirrung gebracht und in einem hohen Grade unbefriedigt und mißstimmt. Also ging ich schwankend zwischen Gefühlen, die mich zur Religion hinzogen, und Urteilen, die mich von derselben weglenkten, den toten Weg meines Zeitalters, ich ließ das Wesentliche der Religion in meinem Innersten erkalten, ohne eigentlich gegen die Religion zu entscheiden. Ich verachte die Papierwissenschaft von den Verhältnissen zwischen Gott und Menschen ebenso wie die Winkelexperimente, mit denen Lavater der armen Papierwissenschaft über diesen Gegenstand zu Hilfe kommen wollte; aber ich verlor wahrlich die wesentliche Kraft, die die wahre Gottesverehrung dem stillen Edlen erteilt, indem ich, sorglos für mich selbst, die Schale dieses guten Kernes nirgend des Aufhebens würdig und den Kern nirgend nur Labsal und Befriedigung sichernd um mich fand. Also ward ich nach meinem eigenen Gefühl in diesem Zeitpunkt im Wesentlichen dessen, was die menschlichen Kräfte zu ihrer größten Reinheit ausbildet, sehr zurückgesetzt; vorzüglich und besonders verminderte der Schwindel meines unreifen Erziehungstraumes meine innere stille Kraft; — ich ward durch Wirtschaftsfehler in diesem Gegenstand für ein halbes Menschenalter der geschlagene Knecht eines Irrtums, dessen einseitige Wahrheit ich zu einem Götzen gemacht habe. Im unsäglichen Elend, das die Folgen dieses Götzendienstes über mich verhängten, verschwand die Kraft der wenigen religiösen Gefühle meiner jüngeren Jahre . . . Ich kann und soll also nicht verhehlen : Meine Wahrheit ist an den Kot der Erde gebunden und also tief unter dem Engelgang, zu welchem Glauben und Liebe die Menschheit zu

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erheben vermag. Du kennst Glülphis Stimmung — sie ist die meinige; ich bin ungläubig, nicht weil ich den Unglauben für Wahrheit achte, sondern weil die Stimme meiner Lebenseindrücke den Segen des Glaubens vielseitig aus meiner innersten Stimmung verschoben. Von meinen Schicksalen also geführt, halte ich das Christentum für nichts Anderes, als für die reinste und edelste Modifikation der Lehre von der Erhebung des Geistes über das Fleisch — und diese Lehre für das große Geheimnis und das einzig mögliche Mittel, unsere Natur im Innersten ihres Wesens ihrer wahren Veredlung näher zu bringen — oder, um mich deutlicher auszudrücken, durch die innere Entwicklung der reinsten Gefühle der Liebe zur Herrschaft der Vernunft über die Sinne zu gelangen. Das, glaube ich, sei das Wesen des Christentums, aber ich glaube nicht, daß viele Menschen ihrer Natur nach fähig seien, Christen zu werden; ich glaube das Groß der Menschheit so wenig einer allgemeinen Veredlung fähig, als ich dasselbe im Allgemeinen fähig glaube, irdische Kronen zu tragen. Ich glaube, das Christentum sei das Salz der Erde, aber so hoch ich dieses Salz auch schätze, so glaube ich dennoch, daß Gold und Stein und Sand und Perlen ihren Wert unabhangend von diesem Salz haben und daß die Ordnung und Nutzbarkeit aller dieser Dinge unabhangend von demselben muß ins Auge gefaßt werden. Ich glaube nämlich, aller Kot der Erde hat seine Ordnung und sein Recht unabhangend von dem Christentum, und Freund, indem sich meine Wahrheit auf das Forschen nach diesem Recht und nach dieser Ordnung beschränkt, fühle ich die Schranken meines Gesichtspunktes ganz, aber dann ahnet mir auch, meine Stimme sei wie die Stimme eines Rufenden in der Wüste, einem Andern, der nach mir kommt, den Weg zu bereiten — es ist mir oft nicht anders, als ich wüßte selbst nicht, was ich tue und wohin ich gehe. Indessen reißt mich mein Herz zu jedem Wort, das ich rede, mit unwiderstehlicher Gewalt hin, und indem ich vom Zauber der Schranken, der mich umfesselt, selbst leide, kann ich mir das Zeugnis geben, es ist mir in dem Kreis, über den ich nicht hinauszugehen vermag, bei jedem Wort Ernst, das ich rede. So stehe ich ferne von der Vollendung meines selbst und kenne die Höhen nicht, von denen mir

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ahnet, daß die vollendete Menschheit zu ihnen hinaufzuklimmen vermag. So viel, Freund, für dieses Mal von meinem Nicht-Christentum " Dieser Brief fand bis dahin noch keine gerechte Beurteilung. E r diente als Beweis für die irreligiöse Entwicklung Pestalozzis, so daß man ihn deshalb gerne unerwähnt überging. D e b e s fand kein anderes Argument dagegen, als ihn für das Produkt einer flüchtigen Stimmung zu erklären. Auch P f l e g e r , der hier, wie immer, nur in den Fußstapfen Debes folgt, sprach von einer „Stimmungsverdrossenheit", obwohl Pfleger wissen sollte, was Debes wohl noch nicht wissen konnte, daß dieser Brief nach Israels Bibliographie in zwei verschiedenen, inhaltlich aber übereinstimmenden Fassungen vorliegt und auch sonst bezeugt ist, wie genau Pestalozzi seine Briefe ausarbeitete. In der Einleitung wurde auf das Unhaltbare der Argumentation von Debes und Pfleger hingewiesen. Kein Wunder, daß bis heute die „Nachforschungen" zur Kenntnis von Pestalozzis Religiosität nicht herangezogen wurden. Eine haltbare Beurteilung von Pestalozzis Religiosität muß aber unbedingt auch diesem Brief gerecht werden können. E r fällt nicht aus dem Rahmen seines religiösen Lebens. Im Gegenteil! E r ist Ausdruck von Pestalozzis tiefster Religiosität und muß unter seinen Äußerungen an erster Stelle genannt werden. E s sind dieselben Züge, wie sie in den früheren Werken vorhanden sind, nur durch das Leiden gereifter und kritischer geformt. In den „Nachforschungen" findet sich der Beweis für diese Behauptung. — W e r n l e redet von dieser Zeit als dem Tiefstand in Pestalozzis Leben. Das Ziel Jesu und dasjenige von Pestalozzi sei ganz auseinandergefallen. E r habe aber diese Krise wunderbar überstanden und sei als „gläubiger Mann" aus ihr hervorgegangen. Daher müsse er uns auch im „Tiefstand seines religiösen Lebens ehrwürdig sein" (schweiz. Protest. II, 223—26). E s liegt in den Worten Wernles eine Bemühung, dieser Epoche in Pestalozzis Leben gerecht zu werden, indem er sie als Krisis zu verstehen sucht. Insofern ist sie sicher ein Fortschritt gegenüber dem ratlosen Übergehen dieser Zeit. Μ. E . genügt aber auch Wernles Deutungsversuch nicht, denn in den „Nachforschungen" wird die gleiche Auffassimg der Religion, wie in dem Nicolovius-Brief vertreten, und zeitlebens hielt Pestalozzi

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den Standpunkt der „Nachforschungen" aufrecht. E s würde dann die etwas sonderbare Tatsache vorliegen, daß Pestalozzi bis ans Ende seines Lebens eine Religiosität vertrat, die seinen Krisenstand repräsentiert. Das scheint jedoch ein wenig plausibler Tatbestand, und es muß daher ein anderer Weg des Verstehens eingeschlagen werden. Dieser Brief ist eines der besten Zeugnisse für Pestalozzis Janusgesicht. Eine unheimliche Zerrissenheit und A u f gewühltheit war in Pestalozzi. Stand er doch vor den letzten Fragen des menschlichen Lebens. Die gewöhnlichen Darstellungen von Pestalozzi lassen davon allerdings wenig ahnen. Die Erkenntnis von der gewaltigen inneren Bewegtheit Pestalozzis tut seiner Persönlichkeit nicht den geringsten Abbruch. Sie läßt das Dämonische, das Unheimliche, das Geniale seiner Natur nur stärker hervortreten. ,,Ich bin kein ausgeklügelt Buch ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch" (C. F . Meyer). Das sind die Worte, die über diese Periode Pestalozzis, ja, über sein ganzes Leben zu schreiben wären. In den 90 er Jahren sind sie wohl am meisten am Platze. Etwas von diesem Widerspruch hat Pestalozzi zeitlebens in sich getragen. Eine restlose Einheitlichkeit in religiöser Beziehung findet sich auch beim reifen Pestalozzi nicht. Die eine Seite des Janusgesichtes blickt wehmütig und auch ein wenig sehnsüchtig in die Vergangenheit. Wenig habe er aus den reinen Quellen getrunken, für viel Gutes sei er empfänglich gewesen und doch unentschieden den „toten Weg seines Zeitalters" gegangen. Sein Werk erschien ihm als „Schwindel eines unreifen Erziehungstraumes" und war „verunreinigt von Selbstsucht und gemeinen Neigungen". E s liegt eine tiefe D e m u t in diesen Worten, und man muß religiös erblindet •oder dogmatisch verhärtet sein, um die religiöse Einstellung, die auch diesem Brief zugrunde liegt, zu verkennen. Sub specie aeterni sieht hier Pestalozzi sein ganzes Leben. Darum weiß er, daß sein Leben nicht immer im Absoluten daher schreitet, sondern vom göttlichen Gesichtspunkt aus oft in Irrtum und Finsternis vor sich geht. Nichts nimmt er für sich in Anspruch, und allen Glauben sieht er nur bei den anderen Menschen. Das ist echteste Pestalozzische Religiosität. Daß er die T h e o l o g i e als „Papierwissenschaft" verachtet hat, besagt gar nichts

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dagegen. Es waren oft die tiefsten religiösen Naturen, die in ausgesprochenen Gegensatz zu aller Theologie gerieten. Es sind diese Äußerungen vor allem ein deutlicher Beweis dafür, wie Scharf Pestalozzi den Mißstand des damaligen Christentums durchschaut hat. Er hätte ihn nicht durchschauen können, wenn in ihm nicht etwas von der Erkenntnis des echten Christentums gelebt hätte. Die Gegenwart des Göttlichen leuchtet auch hier wieder klar hindurch. Pestalozzi beklagt auch nicht diese „Verständnislosigkeit für die Theologie" (Debes) sondern, daß ihm die „wesentliche Kraft, die die wahre Gottesverehrung dem stillen Edlen erteilt" verloren gegangen sei. Darin treten die früheren Züge seiner Religiosität deutlich hervor. Das andere Gesicht schaut zur A u f k l ä r u n g hin. Das Christentum erschien Pestalozzi als „die reinste und edelste Modifikation der Lehre von der Erhebung des Geistes über das Fleisch". In diesen Worten kommt die Auffassung der Aufklärung über das Christentum deutlich zum Ausdruck. Das Christentum ist seiner jenseitigen Beziehung entkleidet und in einen menschlichen Prozeß übergeführt. Das gleiche gilt von dem Satz, daß „das Christentum wohl das Salz der Erde sei, aber so hoch er dieses Salz schätze, so glaube er dennoch, daß Gold und Stein und Sand und Perlen ihren Wert unabhangend von diesem Salz haben, und daß die Ordnung und Nutzbarkeit dieser Dinge unabhangend von demselben ins Auge gefaßt werden müsse". Das Wesen der Aufklärung bestand darin, die Lebenswerte losgelöst vom Christentum als Werte zu behaupten. Daß hier aber nicht nur eine Zwiespältigkeit vorliegt, sondern daß Pestalozzi damals tatsächlich innerlich zerrissen war und ihm alles in Frage stand, geht aus den Worten hervor, daß er sogar von einer „Ordnung des Kotes" reden konnte. Die „Summe seiner Lebenseindrücke", die ihm den Glauben raubten und alles fraglich erscheinen ließen, drohten ihm auch das Ziel und den Sinn des Lebens zu vernichten. Daher dieser wehmütige Schluß des Briefes, worin Pestalozzi so ergreifend von seinen Schranken spricht. Wer aber Schranken fühlt, der weiß auch etwas um das Jenseits dieser Schranken. Und daß Pestalozzi auch damals etwas von diesem Wissen besaß, geht gerade aus dem Schlußabschnitt dieses Briefes unzweideutig hervor.

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In das Zentrum von Pestalozzis Denken führen uns erst seine „ N a c h f o r s c h u n g e n über den G a n g der N a t u r in der E n t w i c k l u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s " (1797). Drei Jahre lang hat er mit unglaublicher Mühe daran geschrieben. Die Biographen Blochmann, Raumer, Morf und Seyffarth sind mehr oder weniger darin einig, daß in dieser Schrift das eigentliche Wesen Pestalozzis nicht zum Ausdruck komme. Hunziker versuchte als Erster in den Pestalozziblättern (V. Jahrg. 1884) auf die Bedeutung dieser Schrift hinzuweisen. Das Hauptverdienst gebührt aber N a t o r p , der nicht müde wurde, die Tiefe dieses Werkes zu betonen. Pestalozzi selbst hielt sehr viel von dieser Schrift, wie er in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" selbst bekennt. In einer Anmerkung der zweiten Auflage (1821) bemerkt er, wie wichtig ihm dieses Werk noch sei. Heute gehört dieses Buch mit an die erste Stelle dessen, was wir von Pestalozzi erhalten haben. Das religiöse Moment in den „Nachforschungen" läßt sich nicht verstehen losgelöst aus dem Zusammenhang, in welchem es vorkommt. Aus diesem Grunde muß hier eine kurze Darstellung der Schrift versucht werden. E s braucht wohl nicht besonders gesagt zu werden, daß dabei nicht der ganze Reichtum dieser Schrift hervorgehoben werden kann, der eine kurze Skizze weit übersteigt. Den Ausgangspunkt der „Nachforschungen" bildet die gleiche Frage, die der Gegenstand der „Abendstunde" ist: „Was bin ich? Und was ist das Menschengeschlecht ? Was habe ich getan? Und was tut das Menschengeschlecht ? " (VII, 386). Die Widersprüche der menschlichen Natur haben Pestalozzi auf diese Frage gebracht, und er will eine Antwort haben darauf, wie der Gang seines Lebens verlaufe. Man fühlt sich an Sokrates erinnert, wenn er sagt, daß er von keinem philosophischen Lehrsatz ausgehen könne. Ironisch fügt er hinzu, daß er auch keinen Gebrauch machen dürfe „von dem Punkt der Erleuchtung, auf welchem unser Jahrhundert über diesen Gegenstand steht" (VII,386). Nur von sich selbst und von der Wahrheit, die in ihm liege, dürfe er seinen Ausgang nehmen. Daher werden die Grundlagen seiner „Nachforschungen" rein empirisch untersucht. E s wird geprüft, wie der Mensch zu seinem Erwerb, Besitz, gesellschaftlichen Zustand usw. kommt und alle diese Begriffe auf ihren sinnlich-tierischen Ursprung zurück verfolgt.

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Ich übergehe alle diese Untersuchungen bis zu derjenigen der Religion. Auch sie faßt Pestalozzi von diesem Gesichtspunkt aus in die Augen und kommt dann zu den Betrachtungen: „Das kühnste Wagestück deiner Natur, ο unbegreiflicher Mensch, die Erhebung deines Ahnungsvermögens über die Grenzen alles hier möglichen Forschens und Wissens, auch dieses ist in seinem Ursprung ein Kind deiner tierischen Neigung zur Behaglichkeit" (VII, 413). Aber wenn die Hülle des Entstehens tierisch ist, so gilt das keineswegs vom Ziel ihrer Vollendung. Im Gegenteil. Wo der Mensch zur Religion gelangt, da tut er wahrhaft einen „salto mortale außer sich selbst" (VII, 413). Es ist die „höchste Anstrengung", die der Mensch tun kann, den Geist herrschen zu machen über das Fleisch, da selbst seine eigene tierische Natur sich in diesem „unbegreiflichen Kampf" gegen ihn erhebt. Aber es ist dies auch des Menschen Notwendigkeit. Er findet „keine Beruhigung, bis er das Recht seiner tierischen Sinnlichkeit in sich selbst verdammt hat gegen sich selbst und gegen sein ganzes Geschlecht" (VII, 414). Aus diesem Grunde ist die Religion „heilig". Sie erhält die „Schamröte im Leib meines Todes" und sie erzeugt die „Tränen des reuenden Sünders". Beides ist daher wahr: in ihrem Äußern ist die „Religion innigst mit meiner tierischen Natur verwoben" (VII, 416), und in ihrem Innersten ist sie ganz göttlich. Daß diese beiden Wahrheiten verkannt wurden und nicht auseinander gehalten, ist die Ursache, daß „die Religionen dem Menschengeschlecht allgemein die verschobene Richtung geben" (VII, 416) und diese „schaudernden Denkmäler" hinterlassen. Das ist es, was Pestalozzi vom rein empirischen Standpunkt aus über das Religiöse zu sagen hatte. Er geht nun über zu dem „Bilde des Menschen, wie es sich seiner Individualität vor Augen stellt". Das Bild, welches Pestalozzi hier vom Menschen zeichnet, ist nichts weniger als schmeichelhaft, es ist der gefallene und verlorene Mensch. „Der Mensch in seiner Höhle", wie ihn Pestalozzi sieht, ist das vollständige Gegenteil des Bildes, das Rousseau vom Menschen entworfen hat. Aber auch im g e s e l l s c h a f t l i c h e n Z u s t a n d ist der Mensch nicht anders, weil dieser Zustand nicht im Gegensatz zum tierischen steht, sondern aus bloßer Notwehr entstanden ist und überhaupt nur eine Modifikation desselben darstellt.

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Nun schreitet Pestalozzi zur Darlegung des „Wesentlichen seines Buches". Drei Fragen treten ihm da entgegen: i. „Was bin ich im Naturzustand ? 2. Was bin ich im gesellschaftlichen Zustand ? 3. Was bin ich in dem sittlichen Zustand ?" — In der Behandlung der ersten Frage findet sich eine Antwort darauf, wie Pestalozzi über die E r b s ü n d e dachte *). Auf die Frage, ob es einen Zustand gebe, in welchem das Kind ganz rein sei, antwortet Pestalozzi mit ja. Doch nur in dem Augenblick, da das Kind geboren wird, ist es rein. Ist dieser Augenblick vorüber, so ist auch seine Reinheit vorüber. Das Gesagte gilt vom ganzen Naturzustand, wohl lebte darin der Mensch im „höchsten Grad tierischer Unverdorbenheit". Aber dieser Zustand existiert gar nicht; denn der Mensch entfernt sich stetig von ihm. In den gesellschaftlichen Zustand geht er schon als verdorbener Mensch ein. Daraus erklärt sich auch die „allgemeine Schiefheit der Menschen in allen bürgerlichen Verhältnissen" (VII, 445), in ihnen müssen unsere Naturkräfte verstümmelt werden. Der gesellschaftliche Zustand ist „in seinem Wesen eine Fortsetzung des Krieges Aller gegen Alle" (VII, 446). Natürlich gibt das der Mensch nicht zu, denn er weiß es selbst nicht. Trotzdem bleibt wahr, daß alle gesellschaftlichen Angewöhnungen nicht vermögen, seine tierischen Neigungen zu brechen. Nie vermag das gesellschaftliche Recht ihn zu befriedigen. E i n e Lücke bleibt im Menschen, die gebieterisch ihre Ausfüllung verlangt und hier schließt sich der gesellschaftliche an den sittlichen Z u stand. Der Mensch findet in sich eine Kraft, alle Dinge dieser Welt, unabhängig von seiner tierischen Natur, nur unter dem Gesichtspunkt, „was sie zu seiner innern Veredlung beitragen", (VII, 467) zu betrachten. Diese Kraft ist selbständig. Sie i s t , weil der Mensch i s t . Als gesellschaftliches Wesen bedarf er ihrer nicht. Wir können ohne S i t t l i c h k e i t miteinander leben! Ja, es gehört geradezu zu dem Wesen der Sittlichkeit — was alle Moralisten immer wieder vergessen —, daß sie ganz individuell ist und nicht zwischen zwei Menschen besteht. Sie streitet „gegen die Wahrheit meiner Natur, in welcher die tierischen, die gesellschaftlichen und die sittlichen Kräfte nicht getrennt, sondern innigst mitein') W . Hennig berichtet (bei Mörikofer S. 404), daß Pestalozzi noch zwei Jahre vor seinem Tode zu ihm geäußert habe, daß er die Erbsünde leugne.

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ander verwoben erscheinen" (VII, 470). Sie hat in der Welt keinen Raum und darum gilt sie nur dem Individuum. Der Anspruch der reinen Sittlichkeit würde mich wieder der wahren „Unschuld meiner Natur" nahe bringen. Deshalb nimmt auch Pestalozzi die Erfüllung ihrer Anforderungen nur bei J e s u s wahr, bei welchem er allein diese Identität erfüllt sieht. Wir dagegen kennen sie nur als „Arbeit an unserm verschütteten Selbst". Im Leibe dieses Todes „wallet die Sittlichkeit nur umwölkt von den Schatten, die ihren Ursprung umhüllen bis ans Grab" (VII, 472). In dieser Dreiteilung: der Mensch als Werk der Natur, als Werk des Geschlechts und als Werk seiner selbst sieht Pestalozzi das Wesen seines Buches. Er biegt nun wieder zu seiner ursprünglichen Frage zurück. Die Widersprüche der menschlichen Natur erklären sich aus dem Schwanken zwischen diesen drei Zuständen. Daraus folgt die Übereinstimmung der Grundsätze, als er die Dinge rein empirisch ins Auge faßte, mit dem jetzigen Gesichtspunkt. Ich überspringe wieder alle Zwischenuntersuchungen bis zur Religion. Auch sie wird unter diesem dreifachen Gesichtspunkt betrachtet: „Als reines W e r k der N a t u r hat mein Geschlecht keine; tierische Unschuld opfert nicht, betet nicht, segnet und flucht nicht" (VII, 505). Hier ist sie nur „Gefährtin meiner Blindheit", sie ist „ganz Aberglauben", da ihr Gott die Natur selber ist und als solcher schauerlich und unerklärlich. „Je schauerlicher ein Naturgott, je größer ist er" (VII, 506). — Von der zweiten Stufe aus, „als W e r k meines G e s c h l e c h t s , als Werk des Staates ist Religion Betrug" (VII, 505). „Indessen ist die Religion, insofern sie wirkliche und wahre Religion ist, wie die Sittlichkeit, gänzlich nur die Sache des einzelnen Menschen; ihre Wahrheit geht den S t a a t eigentlich nichts an" (VII, 508). In diesen Verhältnissen muß sie Dienerin sein, kann zu allem Unrecht gebraucht werden; „strahlt Bann und schwingt Schwert" und ist als Heiden- und Judensinn zu bezeichnen. Dennoch darf die Staatsreligion nicht verworfen, sondern muß als „eine unausweichliche Folge" begriffen werden. Dieses Verstehen darf aber nicht wieder zu einem Dogma erhärtet werden. Pestalozzi verwahrt sich selbst dagegen: „Ich erkenne also die Schonung der Nationalreligion als die Pflicht aller gesellschaftlich vereinigten Menschen; aber ich erkenne Pestalozzi-Siudien I.

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zugleich die Grenzen dieser Schonung" (VII, 507). — Wahrheit ist Religion nur als W e r k meiner selbst. Nur als innere Wahrheit macht sie mich gefeit gegen Trug und Unrecht und kann als Nährboden zur wahren Religion dienen. Der Mensch jedoch vermag nicht ohne weiteres zu ihr zu gelangen. E r braucht den Aberglauben der Naturreligion und den Zwang und die Gewalt der Nationalreligion. Die Anerkennung der Notwendigkeit dieser Stadien darf nicht so weit gehen, daß das Mittel den Zweck zugrunde richtet, um selbst erhalten zu bleiben. Der Ruf, daß dem Volke die Religion erhalten bleiben müsse, stammt aus unreiner Quelle. „Die Religion muß die Sache der Sittlichkeit sein; als Sache der Macht ist sie in ihrem Wesen nicht Religion" (VII, 509). Dieser Ruf aber stammt nicht aus der Sittlichkeit, sondern ist im Grunde ein Finanzgeschrei „bankerott gewordener Staatskünstler", die sich selbst und uns nicht helfen können. „Das C h r i s t e n t u m ist ganz Sittlichkeit, darum auch ganz die Sache der Individualität des einzelnen Menschen. Es ist auf keine Weise das Werk meines Geschlechtes, auf keine Weise eine Staatsreligion oder ein Staatsmittel zu irgend einem Gewaltzweck . . . Darum haben wir auch noch kein Christentum und werden und sollen als Nationen keines haben" (VII, 511). Eine Tatsache und zugleich eine Forderung, die uns das tiefe Verständnis Pestalozzis für das Christentum deutlich vor Augen stellt. Man glaubt K i e r k e g a a r d zu hören mit seiner An-, klage gegen die abgefallene Christenheit, wenn Pestalozzi fortfährt: „Das wirkliche Christentum scheint immer noch durch eben das Unrecht und durch eben die Irrtümer verdrängt zu werden, die ihm bei seinem Ursprung im Wege standen" (VII, 511). Ergreifend ist, wie Pestalozzi auf der letzten Seite seines Buches noch sich selbst zeichnet: wie er ein Mensch voll Liebe und Glauben war, der aber nicht in diese Welt paßte und daher, vom Hammer der Welt zerschlagen, noch immer an den Menschen glaubt, wenn er auch selbst nicht mehr ist, was er einst war. In einer Anmerkung der späteren Ausgabe gesteht er, daß diese Leiden noch lange angedauert haben. Trotz allem aber seien sie ihm zum hohen Segen geworden, so daß er noch dem Ziele seiner Lebensbestrebungen habe entgegen wandern können.

Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

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Es wird jetzt klar und verständlich sein, warum wir nicht zu laut von einer „religiösen Krise" im Sinne Wernles sprechen. Tiefste Erkenntnisse hat Pestalozzi gerade in dieser Schrift zutage gefördert. Nach seinem eigenen Bekenntnis wollte er mit seinen „ L i e b l i n g s i d e e n " einig werden. Hunziker hat in seiner Abhandlung nachgewiesen, wie früh schon Pestalozzi diesen Gedanken nachging. Pestalozzi selbst betrachtete sie nicht als unumstößliche Wahrheiten. Am Ende seiner Schrift bat er seine Zeitgenossen um Prüfung seiner Ansichten und, wenn sie nicht richtig seien, um Widerlegung derselben. Bei der zweiten Auflage wiederholte er diese Bitte. Sie wurde nicht erhört. Es ist bekannt, wie schwer Pestalozzi unter dieser Verkennung litt. Noch in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" erzählt er, wie niemand ihn verstehe und man ihm überall zu verstehen gebe, daß er wohl selbst nicht recht gewußt habe, was er mit dieser Schrift wolle. H e r d e r blieb der Einzige, der Worte der Anerkennung fand und die „Nachforschungen" als ein Werk des „deutschen philosophischen Genius" pries. „Man siehet", schrieb Herder in seiner Rezension, „daß die Grundlage dieser Gesichtskreise in R o u s s e a u liege, dessen Schriften der Verfasser stark und frühe gelesen haben muß". Die gleiche Empfindung hatte N a t o r p von den „Nachforschungen": „In Wahrheit ist das Werk an radikaler Schärfe Rousseau mindestens gleich, an Höhe der Auffassung, an Abstraktionskraft, an philosophischem Blick über ihm und bei aller Kunstwidrigkeit der Anlage im einzelnen von einer glühenden, oft hoch dichterischen, besonders an packenden Bildern reichen Sprache" (Sozialp. S. 77). In der Tat sind die „Nachforschungen" eine starke Auseinandersetzung mit Rousseau. Rousseau erhob ja zuerst den Protest gegen die Degeneration der Menschheit durch die Kultur. Sein leidenschaftliches Pathos hatte Pestalozzi in seiner Jugendzeit tief in sein Bewußtsein aufgenommen. Aber Rousseau flieht von dieser Entartung in die Romantik eines reinen und unschuldigen Naturlebens. Pestalozzi durchschaute das als Flucht ins Gebiet der Träume. Eine bloße Phantasie ist die Vorstellung von einem vergangenen, goldenen Zeitalter. Diese Romantik, der damals die Menschen so bereitwillig unterlagen, trübt nur den Blick vor der Wirklichkeit. Nicht in die holden Träume einer vergangenen Zeit gilt es

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zu fliehen, sondern die unaussprechliche Not der Gegenwart zu sehen. Darauf weist Pestalozzi immer wieder hin. Auch die Natur, von der Rousseau so Zauberhaftes zu sagen weiß, ist nach Pestalozzi selber ein Zeuge dieser Not. Durch alles Natürliche geht der Riß des „Sündenfalles", der gleich beim Beginn der „Nachforschungen" in den Vordergrund gerückt wird. Die Widersprüche der menschlichen Natur, sie sind nicht zu verdecken, sie klaffen an allen Enden auf. Törichtes Unterfangen, in diesem rein Natürlichen den Sinn des Lebens erblicken zu wollen. Der Mensch findet „keine Beruhigung, bis er das Recht seiner tierischen Sinnlichkeit in sich selbst verdammt hat" hörten wir schon; Das ist die Linie, die Pestalozzi hier wie schon in der „Abendstunde" von Rousseau trennt. — Der gleiche Gegensatz kann für das ganze Verhältnis zwischen ihnen gelten. Die Abhängigkeit Pestalozzis von Rousseau ist immer zu stark betont worden. Sogar ein J e a n P a u l unterlag diesem Irrtum. Ihm war Pestalozzi „nur der stärkende Rousseau des Volkes", wie er in der ersten Vorrede zu seiner Erziehungslehre ausführt. Die Franzosen haben Pestalozzi überhaupt nur als Schüler Rousseaus gewertet. Es ist ohne weiteres richtig, daß Pestalozzi zunächst mit Rousseauschen Kategorien arbeitete. Es würden sich da viele Beziehungen herstellen lassen. Aber auch hier besteht überall ein feiner Unterschied. Pestalozzi selbst drückt es einmal so aus, daß sich Rousseau in den Geist seiner Elemente hinein g e t r ä u m t habe, er sei aber nie bis dahin gekommen, sich der Sache in ihrem „ganzen Umfang b e w u ß t " geworden zu sein, so nahe er derselben gestanden und in wie vielen Fällen er davon unübertrefflich geredet habe. Aber so viele Beziehungen sich herstellen lassen, die Differenzen überwiegen doch immer mehr. Die Rousseauschen Kategorien, mit denen er arbeitete, füllte er mit ganz anderem Inhalt. Sehen wir nur ein Beispiel. Verwandt ist beiden Denkern die Scheidung der menschlichen Zustände in gesellschaftliche und natürliche. Der Fortschritt über Rousseau hinaus zeigt sich aber bei Pestalozzi darin, daß er den Mittelstand des Menschen zwischen Tier und sittlicher Vollendung erkannt hat. Die Ungleichheit der Menschen, schon in der Höhle, wird betont,, und die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Zustandes erkannt. Es ließen sich noch mehr Punkte anführen, aber es

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überschreitet das unsere Aufgabe. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die „Nachforschungen" letzten Endes eine starke Ablehnung Rousseaus sind, eine Warnung an seine Zeitgenossen, sich vor diesen Träumereien zu hüten und die Not des menschlichen Daseins nicht aus den Augen zu verlieren. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt auch Natorp, wenn er sagt: „Irgend eine deutliche Erinnerung an Rousseau ist in der Tat auch in den so klaren Äußerungen der „Nachforschungen" über die Autonomie des S i t t l i c h e n nirgends zu entdecken" (Sozialp. S. 198). Mit der Äußerung Natorps sind wir schon in die Sphäre des deutschen I d e a l i s m u s gekommen, zu welchem die „Nachforschungen" ebenfalls in gewisser Beziehung stehen. Schon Joh. Rud. Fischer, ein Bekannter Pestalozzis, fand in den „Nachforschungen" ein „öfteres, ungesuchtes, sogar unbewußtes Zusammenstimmen mit F i c h t e und Kant". Auch Seyffarth glaubte darin einen „ungesucht ausgeübten Einfluß Fichtes" zu erkennen. Vorerst ist zu bemerken, daß sich beide Männer gekannt haben durch die Vermittlung ihrer Frauen, die Freundinnen waren. Ferner darf man nie vergessen, daß Fichte einer der Ersten war, der die Bedeutung Pestalozzis erkannte. „Ich studiere jetzt das Erziehungssystem dieses Mannes und finde darin das wahre Heilmittel für die kranke Menschheit", schrieb Fichte an seine Frau. Fichte kommt auch das Verdienst zu, in seinen „Reden an die deutsche Nation" an bedeutsamer Stelle sein Vaterland eindringend auf Pestalozzi hingewiesen zu haben. Pestalozzi erkannte dies auch sogleich, als er die „Reden" las und schrieb an Fichtes Gattin, daß dessen „Wort für mich und mein Tun und meine Zwecke Folgen hat, wie noch keines Menschen Wort gehabt hat". Ob Pestalozzi außer den „Reden" noch weitere Bücher von Fichte gelesen hat, ist nicht bekannt und sehr unwahrscheinlich. Beschränken wir uns auf die „Nachforschungen" und untersuchen wir hier das Verhältnis. Wir sahen bei der Besprechung des Verhältnisses von Pestalozzi zu Rousseau, daß der Mensch in seiner Natürlichkeit nicht den Sinn seines Daseins finden kann. In aller Natur bleibt dem Menschen seine Unruhe. Über die Kreatur hinaus muß der Mensch greifen. Hier begegnet er der Religion. Aber auch sie ist als Werk der Natur und als Werk meines Ge-

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schlechtes in die allgemeine Verderbnis einbezogen. Das tiefe Mißtrauen, das Pestalozzi gegen sie hatte und das ihn sie als „Kind unserer tierischen Neigung" und als „Betrug" erkennen ließ, wurde bei der Darstellung der „Nachforschungen" schon hervorgehoben. Daß sich der Mensch auch in ihr nicht beruhigen kann, zeigt, daß Gott selber den Menschen in diese Unruhe geworfen hat. „Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in Gott" (Augustin). In der s i t t l i c h e n B e s t i m m u n g gelangt der Mensch erst zu sich selber. Da wird auch die Religion zur „Dienerin Gottes". Hier wird „Gott die nächste Beziehung der Menschheit". In der Erkenntnis dieser sittlichen Bestimmung berührt sich Pestalozzi zweifellos mit der Gedankenwelt des deutschen Idealismus. Aber zugleich liegt hier auch die Trennung. Durch das Pathos, mit welchem Fichte über diese Autonomie des Sittlichen reden konnte, scheidet er sich bestimmt von Pestalozzi. Fichte betonte dieses schöpferische, sittliche Vermögen im Menschen und das autogene Ichbewußtsein in einer Art und Weise, wie es Pestalozzi ganz fern lag. Nach Pestalozzi „wallet auch die Sittlichkeit im Leibe dieses Todes nur umwölkt von den Schatten, die ihren Ursprung umhüllen". Gedämpft sprach Pestalozzi von unserer Welt, die in der Mitte zwischen tierischer Unschuld und sittlicher Vollendung steht. „Der Unschuld unbeflecktes Eigentum ist nicht Teil des sterblichen Mannes", denn er habe sie beim ersten weinenden Laut an dem Schöße seiner Mutter verloren und sterbe, bevor er sie in seiner Brust wieder hergestellt habe. Nichts Menschliches gibt direkt und ungebrochen von seiner Vollendung Zeugnis. Auch „das Hohe und Gute" wird „vom Dunkel umschattet". Von der Gebrechlichkeit alles Menschlichen und von der Unerlöstheit auch der höchsten Positionen, die der Mensch seiner Bestimmung nach erreichen kann, hat Pestalozzi tiefer und ernster geredet als Fichte, der im titanischen Rausch oft letzte Grenzen überschritt. Hier liegt der wesentliche und entscheidende U n t e r s c h i e d zwischen Pestalozzi und F i c h t e . Alle anderen Differenzen, die man geltend machen kann, treten dem gegenüber zurück. Gewiß Hegt in Fichtes Religion ein ästhetisches Moment, das bei Pestalozzi nicht zu finden ist, gewiß hat der lutherische Fichte ein ganz anderes Verhältnis zum S t a a t , dem er die ganze Erziehung über-

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binden will, als der reformierte Pestalozzi, der vorwiegend der Mutter die Erziehung überlassen will; gewiß ist Fichtes E r ziehung in den „Reden" nicht religiös bedingt, wie das bei Pestalozzi der Fall ist usw. Alle diese Punkte ließen sich noch bedeutend erweitern. Wir unterlassen es, weil hier von einer Beeinflussung und Beziehung nicht mehr geredet werden kann und verweisen für dieses Thema, das nicht mehr in unsere Fragestellung gehört, auf die klaren und überzeugenden Ausführungen Vogels*). Aber nicht nur mit Fichte, sondern auch mit K a n t war Joh. Rud. Fischer eine Übereinstimmung aufgefallen beim Lesen der „Nachforschungen". Wie steht es mit dieser Beziehung? Wir haben dafür ein Zeugnis von Pestalozzi selbst, nämlich einen Brief an Fellenberg (vom 16. Januar 1794), worin er schrieb: „Ich freue mich, durch meine mündliche Unterredung mit Fichte schon überzeugt zu sein, mein Erfahrungsgang habe mich im Wesentlichen den Resultaten der Kantischen Philosophie nahe gebracht" (Unedierte Briefe S. 11). Auch Dekan Joh. I t h bekannte in seinem „amtlichen Bericht über die Pestalozzische Anstalt" (1802), daß Pestalozzi endlich zu einer Höhe herangeklommen sei, „zu welcher der erste der Philosophen unseres Zeitalters nicht anders, als durch die tiefste Erforschung der Kritik gelangt war". Dann waren es vor allem wieder N a t o r p und L e s e r (Pestalozzis Ideen sind nach Leser der Kantischen Gedankenrevolution kongenial, und er findet eine „Übereinstimmung mit der gesamten großen Lebensrichtung Kants" S. 9), die die Verwandtschaft stark betonten s ). Es muß hier wiederholt werden, was bei Anlaß von Schleiermacher bereits gesagt wurde (siehe Anmerkung S. 72). Die Verwandtschaft beruht auf dem kritischen Idealismus, den beide vertraten. Wenn aber gesagt wird, daß beide als Ausgangspunkt die Analogie mit dem Vater hatten, die Menschheit als eine Familie be1) Vogel: „Fichtes philosophisch-pädagog. Ansichten in ihrem Verhältnis zu Pestalozzi". (Langensalza 1907.) 3 ) In den „Theoretischen Voraussetzungen der Pädagogik" (26. Jahresbericht Schweiz. Gymnasiallehrer 1896 S. 38) verlangt Th. Moosher, daß „Pestalozzi — um ihn nach seinen letzten Intentionen zu verstehen und in seiner vollen geistigen Bedeutung aufzufassen — fortlaufend nach Kant zu interpretieren ist".

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trachteten etc., so ist das wieder nur eine nachträgliche Konstruktion, der keine lebendige Beziehung entspricht. Pestalozzi hatte Kant nicht gelesen, er rühmte sich geradezu, daß er „keine einzige philosophische Schule" kenne, „ihre Terminologien" seien ihm unbekannt und „von Prinzipien und Deduktionen" wisse er nichts. Wenn man sich dieser Worte bewußt bleibt, wird man sich hüten, von allzu großen Beziehungen Pestalozzis zu Kant zu reden, aber desto mehr staunen über die tatsächliche Berührung der letzten Intentionen der „Nachforschungen" mit der kritisch besonnenen Art Kants. Die R e v o l u t i o n s z e i t . In den „Nachforschungen" setzte sich Pestalozzi mit den Problemen seiner Zeit auseinander. Den seltsamen Reiz, der dieser Schrift eigentümlich ist, erlangt sie durch die persönliche Leidenschaft, mit welcher Pestalozzi mit seinen Fragen ringt. Mit seinem Herzblut hat er dieses Werk geschrieben, und aus jeder Zeile erkennt man den Menschen, dem das Leiden tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hat, dessen Augen gegen alle Illusionen geöffnet waren und der nicht ruhte, bis er den Dingen auf den Grund kam. Das ist das Bild der inneren Seite. Die „nahende Auflösung der Staaten", die drohend im Hintergrund stand, während die Blitze der französischen Revolution am Himmel zuckten, gaben der Schrift noch den ernsten und entscheidenden äußeren Rahmen. Nicht aus weitabgewandtem, „akademischem" Denken sind die „Nachforschungen" herausgewachsen. Die existenziellen Fragen bedrängten Pestalozzi. Aber er verlor sich auch nicht in den Tagesfragen. „Man muß seine Augen wegwenden von Allem, was geschieht", schrieb er im November 1793 an Fellenberg, „um für das, was geschehen sollte, in sich selbst ein reineres Gefühl zu erhalten Also müssen wir, von allem was geschieht, zurücktreten und für uns selbst, mitten unter den Schrecknissen, an denen wir keinen Teil nehmen, die von allen Begegnissen unabhängigen Wahrheitsfundamente suchen, die mit keinen Zeichen, weder der demokratischen noch der aristokratischen Zeitwut gebrandmarkt sind" (Uned. Briefe S. 7/9).

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Das ist der kritische Standpunkt, von welchem aus Pestalozzis Verhältnis zur Revolutionszeit zu verstehen ist. Schon die „Nachforschungen" waren aus dem Grunde geschrieben, um eine Orientierung zu finden. Die Richtlinien, die sich aus ihnen ergeben, lassen auch keinen Zweifel über Pestalozzis Stellung zu. Er hat die sich daraus ergebende Position konsequent bezogen. Jahrelang beschäftigte sich Pestalozzi mit politischen Fragen. Wer die tieferen Hintergründe, aus denen diese Beschäftigung geflossen ist, nicht kennt, könnte erstaunt sein, welchen Eifer Pestalozzi diesen Problemen schenkte. Er tat es aber nicht um der politischen Fragen selbst willen. „Ohne Glauben an das Äußere der politischen Form, die sich die Masse solcher Menschen selber würde geben können", habe er sich nur deshalb der Revolution zugewandt, weil ihm schien, die durch die Zeit aufgeworfenen Begriffe und Interessen seien geeignet, „hie und da etwas für die Menschheit wahrhaft Gutes daran anzuknüpfen" (XI, 15). Es muß auch hier die religiöse Einstellung Pestalozzis im Auge behalten werden, will man seiner Stellung gerecht werden. Durch die Ernennung zum „citoyen frangais", die Pestalozzi 1792 mit Klopstock und Schiller zum Ehrenbürger der französischen Republik machte, war die Veranlassung gegeben, sich mit der revolutionären Bewegung näher zu befassen. E r hoffte in Frankreich seine Erziehungspläne verwirklichen zu können. Das war aber nur die äußere Veranlassung. Weit stärker war Pestalozzis Eingehen auf die Revolution durch innere Gründe bedingt. Seit der Armenschule war in Pestalozzi die Frage nach der Bestimmung des Menschen lebendig. Als ein Rufer in der Wüste hämmerte er seinen Zeitgenossen die Wahrheit ein, daß im „Sumpfe des Elendes" der Mensch nicht Mensch werden könne. Tauben Ohren hatte er gepredigt, wie alle Besinnungsprediger. Nun aber erfuhr seine Weissagung ungeahnte, aber grauenvolle Bestätigung und Erfüllung. Der Mensch, durch Not und Unterdrückung zur Verzweiflung getrieben, erhob sich und zertrümmerte die Ordnungen der menschlichen Gesellschaft. Die wilden Instinkte der menschlichen Natur entledigten sich ihrer Fesseln und gössen ihre blutigen Verheerungen sinnlos über alles Bestehende. Throne wurden gestürzt, Staaten zerschlagen

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und geknechtete Volksinstinkte nahmen schreckliche Rache für jahrelange Unbill. Pestalozzi hat sich über das Blinde und Grauenvolle der revolutionären Massen nie getäuscht. Ein begeisterter Revolutionär war er keineswegs. Aber wegen ihrer Gräuel sich von der Revolution abzuwenden, hielt er für unberechtigt. Nur äußere Begleiterscheinungen, gleichsam Fiebererscheinungen, war ihm dieser Terrorismus. Die Gründe liegen tiefer, als der gewöhnliche, kurzsichtige Verteidiger der alten Ordnung glaubt. „Ich sah die ganze Revolution von ihrem Ursprung an für eine einfache Folge der verwahrlosten Menschennatur an und achtete ihr Verderben für eine unausweichliche Notwendigkeit, um die verwilderten Menschen zur Besonnenheit über ihre wesentlichsten Angelegenheiten zurück zu lenken" (XI, 15). War nicht das Leben der Menschen in der bestehenden Gesellschaft in ihrer Erschlaffung und seelischen Knechtung sinnlos ? Sprach es nicht aller Christlichkeit Hohn ? Was gab aber der bestehenden Ordnung das Recht, ihre Mitmenschen in Leibeigenschaft zu halten? Von ihnen Zehnten zu fordern? Kann man, darf man sich noch wundern, wenn sich der Mensch, der nach seiner Bestimmung zum Ebenbilde Gottes geschaffen ist, sich gegen diese Schmach empört? Pestalozzi erschien jedenfalls diese Erhebung besser als die viehische Stumpfheit, in welcher die Menschen bis dahin gelebt hatten. Sie bezeugt doch, daß in der Menschheit noch nicht alle Kraft und Hoffnung erstorben ist. An sich ist allerdings dieser Freiheitsdrang noch nicht gut. E s hängt alles davon ab, in welche Geleise er geleitet wird. Und hier sah Pestalozzi eine gewaltige Aufgabe: „ E s ist aber um nichts weniger zu tun, als um die Mittel aufzufinden, dem ewigen Kreislauf ein Ende zu machen, innert welchem unser Geschlecht von jeweilen her sich immer zwischen den Übeln der Barbarei und denjenigen der Erschlaffung umhertreibt" (XVIII, 256). Das waren die Einsichten, die Pestalozzi in den Tagen, da die revolutionären Wellen von Frankreich auch nach der Schweiz hinüber fluteten, unter das Volk treten ließ und damit dessen Rechte verteidigen half. Mutig war sein und Lavaters Eintreten für die Bauern des Zürichsees in den Stäfener Unruhen. Er warnte die Regierung, einfach mit Militär den Aufstand niederzuschlagen. Blind war für ihn das Vorgehen der Regierung, die glaubte, mit Ge-

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wait die frühere Ordnung wiederherstellen zu können. Er verlangte ein Eingehen auf die berechtigten Forderungen der Bauern. Seinen ganzen Zorn erregten die „gnädigen Herren", die das Wesen ihrer Regierungsweise dadurch charakterisierten, daß sie sagten: „der arbeitsame und redliche Landmann sei stets ein vorzüglicher Gegenstand unserer gnädigen Huld gewesen". Pestalozzi bezeichnet das grimmig als ein „Verscharren des Rechts in der Mistgrube der Gnade" (Vgl. Morf III, 159). Für ihn war es, wie er selber sagt, wahrlich mehr um Grundsätze als um Almosen, mehr um Rechtsgefühl als um Spitäler, mehr um Selbständigkeit als um Gnaden zu tun. Gegenüber einer Welt, die voll von „elenden, tief verdorbenen Menschen" war, in der das Volk nur „immer von Schlechtigkeit zu Schlechtigkeit, von Verderben zu Verderben, von Niedrigkeit zu Niedrigkeit herabsinken" konnte, gegenüber einer solchen Welt galt es zu bekennen, daß die Revolution mit ihrer Forderung Recht hatte. Man darf nicht mehr sagen können, es gibt keine Gerechtigkeit unter der Sonne. Pestalozzi forderte die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Aufhebung der Abgaben, die Beseitigung der „Galgen-Rad- und Galeerengerechtigkeit". Um diese Forderungen wirksam vertreten zu können, schrieb er seine F l u g b l ä t t e r und wurde Herausgeber des „Helvetischen Volksblattes". Daß der Sieg aus dem Ausland kam und die Art und Weise, wie er kam, war nicht nach Pestalozzis Wunsch. Aber es galt die Zustände zu nehmen, wie sie waren, und zu versuchen, das Beste aus ihnen herauszuschlagen. Pestalozzi beurteilte die Revolution nie idealistisch. Es galt für ihn unausweichlich, daß, wer in dieser allgemeinen Gärung e t w a s mehr a l s sich selber aus dem Schiffbruch retten wolle, der müsse sich in diesem Augenblick „an den Mann des Instinktes, an den Mann der Gewalt und an den Mann des Betruges" anschließen. Ja, Pestalozzi ging so weit zu sagen, daß der Mann der Wahrheit und des Rechts in diesen Momenten ebenfalls ein Mann des Instinktes, der Gewalt und „fast möchte ich sagen, ein Mann des Betruges werden" muß. Das ist nicht jesuitisch gedacht, sondern hier zeigt sich Pestalozzis realistisches, unvoreingenommenes Denken. Daß dieser Weg nicht der Weg des Neuen Testamentes ist, wußte Pestalozzi auch. Aber ist denn der andere Weg, der nur seine Interessen aus dem allgemeinen Schiffbruch retten will, der Weg, den

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das Evangelium vorschreibt? Warum nun plötzlich diese Maßstäbe anwenden, während sich die bestehende Ordnung bisher um alles andere kümmerte, als das Leben nach dem Neuen Testament einzurichten ? Pestalozzi wußte, daß diese Methoden gerade deshalb angewendet werden müssen, weil die Menschen nicht mehr, wie die „ersten Christen leben". Das führt uns zu der letzten Einsicht, die für Pestalozzis Stellung zur Revolution bestimmend war. Gewöhnlich wird Pestalozzis Christentum als „durch und durch sozial bestimmt" gedacht (Rost S. 85) oder, wie V o g e l sich ausdrückte, das „Christentum Pestalozzis ist die Religion des sozialen Individualismus" (S. 145). Diese Urteile sind nicht falsch. Aber sie lassen die Sache in einem Licht erscheinen, das leicht Vermutungen Raum geben könnte, die mißverständlich sind. Für Pestalozzi war die Sache nicht so einfach. In den „Nachforschungen" haben wir gesehen, mit welcher Zähigkeit und Leidenschaft Pestalozzi mit seinen Fragen rang und zu welchen grundlegenden Erkenntnissen er geführt wurde. Und an Fellenberg schrieb er, daß er die „von allen Begegnissen unabhängigen Wahrheitsfundamente suchen" wolle, die „weder mit der demokratischen noch mit der aristokratischen Zeitwut gebrandmarkt" seien. N i c h t im s o z i a l e n C h r i s t e n t u m , sondern im C h r i s t e n t u m a l l e i n , hat Pestalozzi die Orientierung gefunden, die uns not tut. Allerdings nicht im gegenwärtigen Christentum. Von dessen Verderbnis war er tief überzeugt. Das wahre Christentum aber, dem allein Pestalozzi Ewigkeitswert zuerkannte, hat nicht nötig, mit dem sozialen verbunden zu werden. Es hat das Soziale bereits in sich und überbietet alle sozialen Forderungen durch sein bloßes Dasein. Es ist nach Pestalozzi revolutionär und zweifellos „einer Art von S a n s c ü l o t t i s m u s günstig". Das hat man vergessen, und diese Erkenntnis tut not. Denn es ist so, daß es „in den Sachen des bürgerlichen Rechts und der Gesellschaft ein s i t t l i c h e s L u c k - L a s s e n g i b t , das die Menschheit in ihrem Innersten veredelt und zu welchem der Geist des Evangeliums den Menschen mit vorzüglicher Kraft hinzulenken scheint. Dieses sittliche Nachgeben in seinem Recht und der Edelmut, seine Anhänglichkeit an das Eigentum der Liebe unterzuordnen, ist unstreitig Geist des Christentums. Die ersten Christen lebten offenbar in einem moralischen Sanscülottismus, d. h. sie gaben, was der bürger-

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liehe Sanscülottismus stiehlt, sie ließen sich töten; der bürger-· liehe Sanscülottismus tötet die andern . . . Das, was man moralischen Sanscülottismus heißen kann, ist das einzig wahre Mittel, den Geist des bürgerlichen Sanscülottismus im Inneren der Menschennatur auszulöschen . . . Ich halte dafür, daß der Geist des bürgerlichen Sanscülottismus in unseren durch Geld und Eitelkeit immer mehr verderbenden Zeiten immer mehr Nahrung findet, und glaube, die Christentumslehre des Zeitalters, wie sie wirklich ist, habe wesentlich Mangel an der Wahrheit des moralischen Sanscülottismus, durch die Jesus das Innere unserer Natur über die Lügen des bürgerlichen Sanscülottismus, den unser tierischer Egoismus in allen Lagen anzusprechen sucht, empor zu heben sucht . . , Eine große weit und tief verbreitete Masse von Edelmut und teilnehmender Sorgfalt für den niedren Menschen im Land und ein wachsames Auge gegen alles, was das Gefühl der Unschuld kränken und den Sinn der Liebe in der niedersten Hütte ersticken könnte, ist nach meinem Gefühl das einzige wahre Mittel, den Geist des bürgerlichen Sanscülottismus bis in seine innersten Wurzeln auszulöschen" (2. Ausgabe Bd. VIII, S. 75). Das ist der G l a u b e und die g r u n d s ä t z l i c h e Stellung, die Pestalozzis Eintreten für die Revolution zugrunde liegt, wie er sie in dem Fragment „ D a z w i s c h e n k u n f t des Menscheng e f ü h l s im S t r e i t e i n i g e r Meinungen über das t i e r i s c h e , das g e s e l l s c h a f t l i c h e und das s i t t l i c h e R e c h t unsrer N a t u r " (genaue Entstehungszeit unbekannt) niedergeschrieben hat. Kann man über die Revolution einsichtsvoller, wahrer reden ? Aber gerade das hat das historische Christentum, hat die K i r c h e nie verstanden. An Pfarrer, denen Pestalozzi seine Stellung zur Revolution klar machen wollte, waren diese Worte gerichtet. Die aber wußten nichts anderes zu tun, als darüber zu lachen und ihre Köpfe zu schütteln. Sie fürchteten eine Verquickung von Christentum und Revolution, vor welcher ihnen graute. Bei Pestalozzi aber war ja gerade die entgegengesetzte Erkenntnis bestimmend. Scharf hatte er jede Verbindung von C h r i s t e n t u m und P o l i t i k als heillosen Kompromiß durchschaut und zwar als einen Kompromiß, der immer auf Kosten des Christentums vollzogen wird. Das Christentum, so erkannte Pestalozzi ganz klar, eignet sich seinem wahren Wesen nach nicht zu Regierungszwecken.

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Daß Pestalozzi hier aus keinem Parteiinteresse sprach, zeigt sich darin, daß er von keiner Verbindung weder nach rechts noch nach links etwas wissen wollte. Die Erkenntnis, daß das Christentum nicht mit der Politik vermengt werden darf, darf aber auch nicht zu einem quietistischen Polster werden und sich in Gleichgültigkeit gegen das Leiden der Armen zeigen. Die Geistlichen, klagt Pestalozzi, haben sich vielfach dahin erniedrigt, auch bei offenbar ungerechten Forderungen „dem Untertanen die Schuldigkeit eines ganz blinden Gehorsams unbedingt an den Hals zu werfen". Zwar „wissen die Christen alle gar wohl, daß das E v a n g e l i u m kein S y s t e m des b ü r g e r l i c h e n R e c h t e s ist, es nimmt sich der Dinge dieser Welt weder rechts noch links an, es macht keinen zum Herrn und keinen zum Knecht; aber indem es alle Christen in das nahe Verhältnis der reinsten und engsten Brüderschaft bringt, die je auf unserm Zankapfelboden stattgefunden, fordert es ganz sicher von Obrigkeiten, die Christen sind, d. h. die sich ungeheuchelt an die Brüderschaft der Christen anschließen, eine Gemütsstimmung, die beim corpore des obrigkeitlichen Standes als solchen sich in der Welt nirgends findet. Warum sollte man die Wahrheit verhehlen ? Die Welt wird nicht christlich regiert, die Regierungen als solche sind nicht christlich und der Staat als Staat handelt in seinen wesentlichsten Einrichtungen bestimmt wider das Christentum. Eine c h r i s t l i c h e A r m e e , eine christliche Schlacht, christliche Feldprediger, christliche Finanz- und Kabinetsoperationen, christliche Polizei-Maute und christliche Maßnahmen, den blinden Gehorsam der Untern und die Allmachtsrechte der Obern auf Kind und Kindeskind zu sichern, das alles sind Sachen, die, wie der Mann im Mond, nur in der Einbildung verirrter Leute ihr Dasein haben". Die Geistlichen wissen das wohl, meint Pestalozzi in seiner Schrift „ J a oder N e i n " , (geschrieben 1793, aber damals nicht veröffentlicht) nur vergessen sie es immer, wenn sie die Kleinen anklagen, und behalten es wohl im Auge, wenn sie die Großen verteidigen. „Der Heiland hat nie advokatisiert, am wenigsten für die großen Herren. Wenn er es für jemanden getan hätte, so wäre es für diejenigen geschehen, denen er zugerufen: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Die niederen Stände bedürfen des Trostes und die oberen haben Einschläferung so wenig nötig als je. Man miß-

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brauche das Christentum auf keiner Seite, man fordere nicht, daß die Fürsten christlich regieren, sie können das nicht. Aber man erlaube ihnen auch nicht, daß sie die Welt durch das Christentum rechtlos machen und die Menschen durch die Gnade Gottes, die ihnen in Jesu Christo erschienen ist, in einen Zustand zu versetzen suchen, der sie bürgerlich tiefer erniedrigt, als man sie bei einem heidnischen Regime nicht leicht erniedrigen könnte". (2. Ausg. Bd. VIII, S. 25 ff.). Aber gerade weil Pestalozzi hier keine Vermischung der Grenzen vornahm, konnte er als Anwalt der Erniedrigten und Beleidigten auftreten nach der paulinischen Maxime: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den Niedrigen" (Rom. 12, 16). Hatte er je etwas anderes gewollt ? Hatte er die Armenanstalt in einer anderen Absicht gegründet, die „Abendstunde" und „Lienhard und Gertrud" nicht deswegen geschrieben? Zeigt sich nicht da die stärkste Verwandtschaft mit C h a r l e s D i c k e n s , der in seinen Büchern auch nichts anderes als die Kinder und die Armen, die Einfältigen und die Schwachen verteidigen wollte? Ja, das ist alles schön und gut, kann man hier einwenden, aber wie verhält es sich mit der Respektlosigkeit und der Begehrlichkeit gegenüber dem B e s i t z , die sich nun plötzlich diese Armen und Unterdrückten erlauben? Ist er denn nicht eine gottgewollte Einrichtung ? Solidarität mit den Armen ist ganz recht, aber wenn die Sache an die Fundamente unserer Kultur greift, dann hört doch das Mitgefühl auf. Wer so redet, gibt damit zu erkennen, daß er Pestalozzi in dieser Frage immer noch nicht verstanden hat. Eine Selbstverständlichkeit war für Pestalozzi der Besitz nie. In den „Nachforschungen" anerkennt er so wenig wie Rousseau ein ursprüngliches Recht auf Eigentum. Es war für ihn „immer eine Torheit, daß wir die Noteinrichtungen unsers tierischen Verderbens an sich selbst ein Recht heißen". Der Mensch muß den Besitzstand respektieren, nicht weil der Besitzende ein Recht auf Eigentum hat, sondern weil er rechtlos Besitz ergreifen muß, und weil wir dieses „muß" weder gesellschaftlich noch sittlich aufheben können. Aber etwas Unchristlicheres gibt es nicht, als die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Christen ihren Besitz betrachten. Vom Christentum aus fällt immer ein Schatten auf das Eigentum. „Die Christusreligion unterwirft den Besitz des Eigentums unbedingt dem Gesetz der

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Liebe, die ein Christ dem anderen, als seinem Bruder schuldig ist. Der christliche Begriff des Eigentums ist ein mit den Ansprüchen der Not und der Leiden der Mitmenschen eigentlich belasteter Besitzstand. Wie groß und von welcher Art das Eigentum des Christen auch sein mag, er ist im Gefolg der christlichen Ansichten desselben verpflichtet, dem armen, eigentumslosen Mann, den die Vorsehung ihm nahe gestellt, mit der Gabe, die er empfangen hat, auf eine Weise zu dienen, wie er, wenn er selbst arm und eigentumslos wäre, besonders in Rücksicht auf die Ausbildung der Anlagen und Kräfte, die er zu seiner Selbsthilfe von Gott empfangen, wünschen würde und wünschen müßte, daß ihm gedient würde. Der Christ weiß und es liegt tief im Geist der Fundamentalansichten seiner Religion, daß Gott, der die erhabenen Anlagen der Menschennatur allem Volk gegeben und keinen Stand davon ausgeschlossen, nicht will, daß in irgend einem Individuum, noch viel weniger in irgend einem Stand verloren gehen, sondern in allem Volk das Leben erhalten. Der wahre Christ sieht die Handbietung, die er dem armen eigentumslosen Manne im Land diesfalls erteilt, selber als einen Gottesdienst und als eine Handlung der Nachfolge Jesu Christi an" (XIII, 390). Nicht in den erregten Tagen der Revolution hat Pestalozzi diese Worte niedergeschrieben, sondern in einer Schrift „ A n s i c h t e n über I n d u s t r i e , E r ziehung und P o l i t i k mit R ü c k s i c h t auf unsern d i e s f ä l ligen Z u s t a n d v o r und nach der R e v o l u t i o n " , deren Entstehungszeit nicht genau festgestellt werden kann, die aber gewiß über zwanzig Jahre nach der Revolutionszeit entstanden ist. Es war überhaupt nicht Pestalozzis Art, daß er sich in diesen Dingen unvorsichtig geäußert und durch die Hitze des Blutes hätte leiten lassen. Seine politischen Ansichten hatte er in jener bewegten Zeit in der Form von „ F a b e l n " (1797) herausgegeben. In Tierfabeln kleidete er seine ganze Polemik und Satire. Nur an einer Stelle bricht seine Wut gegen die Passivität gegenüber dem Leiden der Armen, die das althergebrachte Gewohnheitschristentum hatte, hervor: „Gott ist nicht da und der Glaube an Gott ist nicht da, wenn das Unrechtleiden nicht aufhört" (IX, 237). Er nannte es zwar selber ein „Wort der Verzweiflung", aber dessen ungeachtet enthalte es eine große und tiefe Wahrheit. Das Bild von Pestalozzis Stellung zu der Revolution wäre aber unrichtig gezeichnet, wenn man nicht noch ein anderes,

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wenn auch nur kleines Moment hervorheben würde. P e s t a l o z z i s f r e i e S t e l l u n g g e g e n ü b e r der R e v o l u t i o n und namentlich gegenüber der neuen Regierung, in deren Dienst er stand, zeigt sich darin, mit welcher Heftigkeit er sich einer Rache an der bisherigen Regierung widersetzte und wie mannhaft er für ihre Schonung eintrat. Diese Haltung ist wiederum charakteristisch für Pestalozzi. Bei seinem Eintreten für die Befreiung der Unterdrückten wurde er als Revolutionär verschrien und nach dem Sieg als Reaktionär gebrandmarkt. Nach seiner eigenen „ S e l b s t s c h i l d e r u n g " (1802) stand er „in der Welt wie ein Mensch, der aus einem fremden Weltteile in den unsrigen verschlagen worden ist . . . Alles was ich unternahm, war über meine Kräfte; ich sah immer Alles, was ich wollte, für unendlich leichter an, als es war, und ahnete von allen Schwierigkeiten, die es hatte, nicht einmal den zehnten Teil . . . Natürlich gelang unter diesen Umständen selten, was ich suchte; — ich scheiterte oft, aber vor dem Scheitern strengte ich auch allemal meine Kräfte an, wie der wichtige Bootsknecht, der sich dem bösen Scheitern nahe gebracht sieht, — Doch es war umsonst! — " (XVIII, 248). Einsam und unverstanden nach seinen letzten Motiven ist Pestalozzis Stellung auch in der Revolutionszeit. V o n S t a n z bis I f e r t e n . Mitten aus seiner Tätigkeit in der Revolutionszeit wurde Pestalozzi herausgerissen. Ein neues Ereignis trat in sein Leben, das für ihn selber von hoher Bedeutung wurde. Der Freiheitskampf der Nidwaldner war niedergeschlagen. Über 400 Kinder, deren Eltern im Kampf umgekommen waren oder ihr Hab und Gut verloren hatten, irrten umher. Pestalozzi bat die Regierung, ihn nach Nidwaiden zu entsenden, wo diese verlassenen Kinder der Hilfe so dringend bedurften. Die Regierung ordnete ihn ab und noch im Dezember 1798 ging Pestalozzi nach Stanz. Das Kloster der Ursulinerinnen wurde zu diesem Zweck in „brauchbaren Stand gestellt". Seit fast zwanzig Jahren hatte sich Pestalozzi gesehnt, seine Erziehungspläne zu verwirklichen und jetzt konnte er endlich „Hand anlegen an den großen Traum seines Lebens" (XI, 17). Es wird immer eine erstaunliche Sache bleiben, was Pestalozzi in so kurzer Pestalozzi-Studien I .

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Zeit alles erreichte. Mit unglaublichem Eifer stürzte er sich in diese Arbeit. In einem „ B r i e f an einen F r e u n d über seinen A u f e n t h a l t in S t a n z " (1799 geschrieben, aber erst 1807 von Niederer veröffentlicht) hat er selbst sein dortiges Wirken erzählt: „Daß mein Herz an meinen Kindern hange, daß ihr Glück mein Glück, ihre Freude meine Freude sei, das sollten meine Kinder vom frühen Morgen bis an den späten Abend in jedem Augenblick auf meiner Stirn sehen und auf meinen Lippen ahnden . . . Ich war von Morgen bis Abend so viel als allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand. Jede Hilfe, jede Handbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Aug' ruhte auf ihrem Aug! Meine Tränen flössen mit den ihrigen und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stanz, sie waren bei mir und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige. Ich hatte Nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Letzte, der ins Bett ging, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen. Alle Augenblicke mit Gefahren einer gedoppelten Ansteckung umgeben, besorgte ich die beinahe unbesiegbare Unreinlichkeit ihrer Kleider und ihrer Personen . . . Ich kannte keine Ordnung, keine Methode, keine Kunst, die nicht auf den einfachen Folgen der Überzeugung meiner Liebe gegen meine Kinder ruhen sollte. Ich wollte keine kennen" (XI, 21 ff.). E s ist ein ganz eigenartiges L i c h t , das über diesen Blättern leuchtet, in denen Pestalozzi von seinem Tun erzählt. Hilfe hatte er keine, außer einer alten Haushälterin. Er hätte auch gar keine gebrauchen können; denn sein ganzes Wirken war von außen gesehen völlig planlos. Er konnte selber nicht sagen, was er wollte. Nur ein Stammeln ist sein Reden von dem, was er i n t u i t i v s c h a u t e in diesen Kindern. Der „gänzliche Mangel an Schulbildung" den er an ihnen bemerkte, war „indessen gerade das, was ihn am wenigsten beunruhigte". E r wußte von früher her etwas „von den Kräften der menschlichen Natur, die Gott auch in die ärmsten und vernachlässigtsten

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Kinder" (XI, 18) gelegt hat. Diesen v e r t r a u t e er im Glauben, daß dieselben „mitten im Schlamm der Roheit, der Verwilderung und der Zerrüttung die herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten" entfalten können. Und allenthalben brach es auch hervor. Es war wie ein z w e i t e r F r ü h l i n g , was Pestalozzi unter diesen Kindern erlebte. Die Erfahrungen in der Armenanstalt, wo es ihn schon mit unbeschreiblicher Wonne durchdrang, im Angesicht geliebter Kinder neue Hoffnungen erblühen zu sehen, sie kehrten wieder. Er, der in der Revolutionszeit oft nahe daran war, den Glauben an die Menschen zu verlieren, faßte unter diesen Kindern neuen Mut für sein Leben. Im Umgang mit seinen Kindern sah er wieder etwas vom Ebenbilde Gottes in uns. Sie reinigten sein Herz und gössen neue Freude in dasselbe. Erschrecken durchzuckte ihn beim Gedanken, was die Gesellschaft an diesen Kleinen vernachlässigte, und etwas von der Erkenntnis dessen, der gesagt hatte, daß die Engel dieser Kinder allezeit meines Vaters Angesicht sehen (Math. 18, 10), durchdrang ihn. Das war der unverlierbare, innere Gewinn für Pestalozzi, den Stanz ihm brachte trotz dem äußeren Mißlingen. Nach fünfmonatiger Tätigkeit mußte er militärischer Gewalt sein Haus räumen. Als das Militär den Platz wieder frei gab, ließ man ihn seine Arbeit nicht wieder aufnehmen. Man behauptete, er sei als Protestant nicht der geeignete Mann, um in einem katholischen Land zu arbeiten. So mußte Pestalozzi, der erschöpft bis zum Blutspeien auf dem Gurnigel Erholung suchte, schreiben: „Ich erwache abermal aus einem Traum, sehe abermal mein Werk zernichtet und meine schwindende Kraft unnütz verschwendet" (XI, 15). Man kann sich denken, was es für Pestalozzi bedeutete, daß er sein kaum begonnenes Werk in Stanz wieder im Stich lassen mußte. Dazu kam Verleumdung, die seinen gezwungenen Weggang geflissentlich übersah, und das ganze Gerede von seiner „Unbrauchbarkeit und gänzlichen Unfähigkeit bei irgend einem Geschäft auszuharren", erneuerte. Ein Narr und ein Tor war er in den Augen aller vernünftigen Menschen, der seine Zeit mit unnützem Brüten über Träumen vergeudete. „Wenn ein Schiffbrüchiger nach müden, rastlosen Nächten endlich Land sieht, Hoffnung des Lebens atmet und sich dann wieder von einem unglücklichen Winde in das unermeßliche Meer geschleudert sieht, in seiner 8*

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zitternden Seele tausendmal sagt: Warum kann ich nicht sterben ? — und sich dann doch nicht in den Abgrund hinabstürzt und dann doch noch die müden Augen aufzwingt und wieder umherblickt und wieder ein Ufer sucht, und wenn er es sieht, alle seine Glieder wieder bis zum Erstarren anstrengt, also war ich" (XI, 102). So tragisch das Schicksal ist, das Pestalozzis Werk in Stanz, kaum begonnen, wieder zermalmte, so blühte doch gerade aus diesen Ruinen neues Leben. „ E s war eigentlich das Pulsgreifen der Kunst, die ich suchte — ein ungeheurer Griff — ein Sehender hätte ihn gewiß nicht gewagt; ich war zum Glück blind, sonst hätte ich ihn auch nicht gewagt. Ich wußte bestimmt nicht, was ich tat, aber ich wußte, was ich wollte, und das war: Tod oder Durchsetzung meines Zweckes" (XI, 98). Stanz bildet im Leben Pestalozzis einen wichtigen Einschnitt. N i e d e r e r war es zuerst, der behauptete, daß sich seit Stanz die „Pole seiner Anschauungsweise und seines persönlichen Verhältnisses zu den Kindern umzukehren" begannen. Der Mittelpunkt der Erziehung sei von der Außenwelt in die kindliche Natur selbst verlegt worden. Seit diesem Urteil wird in der Pestalozzi-Forschung über den Einfluß von Stanz auf seine pädagogischen Ansichten gestritten. Wir können in unserem Zusammenhang, da wir das pädagogische Moment nur soweit heranziehen, als es für das Religiöse bedeutsam wird, diese Frage auf sich beruhen lassen. Niederere Ausdrucksweise sagt zu viel aus, aber teilweise muß man sein Urteil anerkennen; das Gefühl, das ihm zugrunde lag, ist richtig. Die „Pole seiner Anschauungsweise" hat Pestalozzi in Stanz nicht umgekehrt, oder äußern wir uns vorsichtiger, er hat sie etwas geändert. Wir sehen auch hier ab von seiner Pädagogik und richten unsere Aufmerksamkeit allein auf das Religiöse. Was Pestalozzis Religiosität von der „Christentumslehre seiner Zeit" so tief unterscheidet, ist gerade sein g e d ä m p f t e s Halleluja, das er zu Ehren Gottes sang. Nicht ein unbegrenzter Optimismus über die Perfektibilität des Menschen lag seiner Erziehungsaufgabe als religiöse Idee zugrunde, sondern tief verborgen unter Schutt und Geröll sah er das Ewige im Menschen. Von den Widersprüchen und Rissen in der menschlichen Natur, deren

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Erkenntnis Pestalozzi von der Aufklärung und von Rousseau schied, haben wir des längern geredet. Seine L e b e n s e i n d r ü c k e haben ihn kritisch gemacht gegen alle dogmatischen Beruhigungsmittel, und in dieser bohrenden Skepsis drang er zu letzten Erkenntnissen durch. Aber es rundete sich nie zu einem System. Auch die „Nachforschungen" blieben nur F r a g e n , die er seinen Zeitgenossen zu bedenken gab. Aber in diesen Fragen hat er, der menschlichen Lage entsprechend, ehrlicher geredet vom Göttlichen, als es alle in sich geschlossenen Katechismen vermögen. Wir wollen hier nicht einen Bruch im Leben Pestalozzis konstruieren. Ein R i n g e n mit seinem Gott blieb Pestalozzis religiöses Leben immer. Aber mit Stanz begann eine etwas veränderte Entwicklung. Wir werden gleich im nächsten Werk sehen, daß Pestalozzi d i r e k t e r und e i n f a c h e r von den religiösen Fragen zu reden begann. Daß damit sein Suchen und oft verzweifeltes Ringen, seinem Leben doch noch den Sieg abzugewinnen, nicht aufhörte, werden noch seine „Reden an mein Haus" erschütternd zeigen. In Pestalozzis Innern blieb das Verhältnis das Gleiche, aber — und damit kommen wir zu dem, was hier entscheidend ist — in seiner E r z i e h u n g h a t P e s t a l o z z i o f t seine t i e f e n r e l i g i ö s e n E r k e n n t n i s s e seiner p ä d a g o g i s c h e n M e t h o d e a n g e p a ß t . Die Religion aber pädagogisch gerechtfertigt — wie etwa Friedrich Wilhelm F o e r s t e r — und damit die Rangordnung umgekehrt, und das Religiöse nur zu einem Mittel für etwas anderes erniedrigt, das hat Pestalozzi nicht getan, abgesehen von einer kleinen zufälligen Entgleisung. Er hat seine religiöse Erkenntnis, um sie den „Müttern" faßlicher zu machen, auf eine Art und Weise dargestellt, wie er es eigentlich nicht hätte tun dürfen. Darum erweckt er dann oft den Anschein, als wäre er wieder in die Nähe der Aufklärer gerückt und als würde die Sache bei ihm doch auf eine banale Vernünftigkeit hinaus laufen. Er hat aber seine Religiosität nie verleugnet. Immer wieder ist seine Glut durchgebrochen und hat die andere Linie gekreuzt. Trotz dem äußeren Versagen in Stanz gab Pestalozzi seine Hoffnung nicht auf. „Ich will Schulmeister werden" durchdrang es ihn. Er war ein ergrauter Kopf von über fünfzig Jahren als er dieses Wort aussprach. Wir haben heute kaum mehr eine Vorstellung, was dieser Entschluß damals bedeutete.

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In G o t t h e l f s „Leiden und Freuden eines Schulmeisters", das 40 Jahre nachher entstanden ist und somit schon auf dem Fundament ruhte, das Pestalozzi gebaut hatte, kann man noch einiges darüber nachlesen. Schuhmacher, ausgediente Soldaten und andere verkrachte Existenzen waren damals Schulmeister. Es war eine der untersten Stufen der sozialen Leiter. Hier stellte sich Pestalozzi ein! „Dafür fand ich Vertrauen," bemerkte er bitter. Durch die Vermittlung des Ministers S t a p f er durfte er in B u r g d o r f seine Versuche fortsetzen. Unter den demütigendsten Bedingungen fing Pestalozzi in einer Winkelschule sondergleichen seine Arbeit mit Feuereifer noch einmal neu an. Jetzt begann jene gewaltige Arbeit, die er allein unternahm und dann mit immer mehr Mitarbeitern fortführte, jenes gespannte Aufhorchen, was in der Seele der Kinder schlummere und wie sich ihre Kräfte äußern. Nach vielen tastenden Versuchen führte dies schließlich zu seiner „Methode". Es war ein langsamer Prozeß, der aber nach und nach immer festere Gestalt gewann; wir verfolgen ihn hier nicht weiter, weil er in die Geschichte der Pädagogik gehört. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch im Ausland wurde man allmählich auf Pestalozzis Tun aufmerksam. In der Schrift „ W i e G e r t r u d ihre K i n d e r l e h r t " (1801) legte Pestalozzi vor aller Welt Zeugnis ab von seiner Arbeit, die ihn immer tiefer in das Verständnis der menschlichen Natur führte. Wir stehen damit vor dem Werk Pestalozzis, das nach „Lienhard und Gertrud" die größte Verbreitung fand und seinen pädagogischen Weltruf begründete. Zum zweiten Mal drang Pestalozzis Ruhm weit über die Grenzen seines Vaterlandes. In Stanz hatte ihm aus den Augen der Kinder, die gänzlich bar aller bürgerlichen und gesellschaftlichen Gewohnheiten waren, ursprüngliches Leben entgegen geleuchtet. Aber wie bald wird in der Welt diese Schöpfung Gottes roh zerstampft! Wieder steht vor Pestalozzi, wie in „Lienhard und Gertrud"» die Gestalt der Mutter. In ihr liegen die Fähigkeiten, diesem Verderbnis Einhalt zu tun und die Gaben Gottes, die in jedem Kindlein verborgen sind, ans Tageslicht zu rufen und immer reicher zur Entfaltung zu bringen. In der Gestalt der Gertrud will Pestalozzi den Müttern Anleitung geben, den Weg zu ihren

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Kindern zu finden. Das Buch greift aber weit über den mütterlichen Unterricht hinaus. Den „Gesetzen der menschlichen Entwicklung" selbst spürt er nach und ihr Verhältnis zum Unterricht will er auffinden, um denselben mit der „Natur" in Übereinstimmung zu bringen. Darin liegt die Bedeutung des Buches. Es finden sich darin wahrhafte Intuitionen über das innere Leben der Menschen und auch die Fehlgriffe, die er dabei beging, vermögen jenen keinen Abbruch zu tun. Seine Auffassung von der menschlichen Natur „als einem Heiligtum Gottes" wird nicht zu untergraben sein. „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" ist eine der seltsamsten Schriften von Pestalozzi. Er hat viel von seinem eigenen Leben hineingearbeitet. Gleich beim Beginn seines Werkes umschreibt Pestalozzi sein Ziel: „Schon lange, ach! seit meinen Jünglingsjahren wallte mein Herz, wie ein mächtiger Strom, einzig und einzig nach dem Ziele, die Quelle des Elends zu stopfen, in die ich das Volk um mich her versunken sah" (XI, 91). Durch Irrwege und durch Kot mußte er sich zu diesem Zweck seinen Weg bahnen. „Unermeßliche Anstrengungen" hat er dafür gemacht; deshalb ging ihm auch eine „unermeßliche Wahrheit" (XI, 93) auf, und von ihrer Richtigkeit war er nie stärker überzeugt, als in dem Augenblick, in welchem sie äußerlich gänzlich scheiterte. Wäre er nicht selbst tief ins Unglück gekommen, hätte er seine Wahrheit nie entdeckt. „Ich sage es jetzt mit innerer Erhebung und mit Dank gegen die ob mir waltende Vorsehung, selber im Elend lernte ich das Elend des Volkes und seine Quellen immer tiefer kennen und so kennen, wie sie kein Glücklicher kennt" (XI, 93). Kein Hohngelächter der Menschen konnte ihn davon abhalten, seinem Ziele nachzustreben. Er kannte das Volk: „der Jubel seines Baumwollenverdienstes, sein steigender Reichtum, seine geweißten Häuser, seine prächtigen Ernten, selber das Sokratisieren einiger seiner Lehrer und die Lesezirkel unter Untervogtssöhnen und Barbieren" täuschten ihn nicht. Es war sein „Schicksal mißkannt zu sein und Unrecht zu leiden", und mit „grauen Haaren war er noch ein Kind". Es ist das Los aller großen Männer. Sein Blick war nicht der Blick gewöhnlicher Menschen. Mit anderen Augen sah er das Leben. Zwar „was niemand täuschte, das täuschte mich immer, aber was Alle täuschte, das täuschte mich nicht mehr" (XI, 93).

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Diese Erkenntnis werden wir auch in dem Thema „Menschenb i l d u n g und R e l i g i o n " finden, welches den „Schlußstein" seines Buches bildet. Die Frage lautet: „wie hängt das Wesen der Gottesverehrung mit den Grundsätzen zusammen, die ich in Rücksicht auf die Entwicklung des Menschengeschlechts im Allgemeinen für wahr angenommen habe?" (XI, 282). Den Aufschluß seiner Frage sucht er in sich selbst und er fragt sich: Wie entkeimet der Begriff von Gott in meiner Seele ? Wie kommt es, daß ich an einen Gott glaube und ihm vertraue? Da nimmt er wahr, daß die Gefühle der Liebe, des Vertrauens, des Dankes usw. in ihm entwickelt sein müssen, ehe er sie auf Gott anwenden kann. „Ich muß Menschen lieben, ich muß Menschen trauen, ich muß Menschen danken, ehe ich mich dazu erheben kann, Gott zu lieben, Gott zu danken, Gott zu vertrauen: denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie will der seinen Vater im Himmel lieben, den er nicht sieht?" (XI, 282). E r muß sich also fragen: Wie komme ich dazu, Menschen zu lieben;und zu danken ? Wie entstehen die Gefühle, auf denen Menschenliebe und Menschenvertrauen wesentlich ruhen ? Die Antwort lautet, daß „sie hauptsächlich von dem Verhältnis ausgehen, das zwischen dem unmündigen Kinde und seiner Mutter statt hat" (XI, 283). Die Mutter muß das Kind lieben, kraft eines sinnlichen Instinktes — „die Entwicklung des Menschengeschlechts geht von einer starken, gewaltsamen Begierde nach Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse aus" (XI, 284) — und entfaltet so in ihm die Keime der Liebe und des Vertrauens. Auf diese Weise werden alle Grundzüge der sittlichen Selbstentwicklung entfaltet. Indessen schwinden bald diese ersten Gründe seines Glaubens, und es kommt der Augenblick, in welchem das Kind fühlt, daß es der Mutter nicht mehr bedarf. Dann aber drückt die Mutter ihr Kind noch fester an ihr Herz und sagt ihm: es ist ein G o t t , dessen du bedarfst. Die Gefühle der Liebe und des Dankes erweitern sich und umfassen von nun an Gott wie die Mutter. Hier hängt nun alles daran, daß das „erste Fühlen der Selbstkraft durch die Neigung des Glaubens an Gott mit den eben entwickelten Gefühlen der Sittlichkeit vereinigt" (XI, 286) wird. Denn hier hören die instinktartigen Gefühle auf, und es beginnt die Erziehung als

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,,menschliche Kunst". Werden hier „die Anfangspunkte" übersehen, dann entgleitet das Kind der Führung, und die Welt nimmt es gefangen. „Es ist hier, wo du es das erste Mal nicht der Natur anvertrauen, sondern Alles tun mußt, die Leitung desselben ihrer Blindheit aus der Hand zu reißen und in die Hand von Maßregeln zu legen. Die Welt, die dem Kinde jetzt vor seinen Augen erscheint, ist n i c h t G o t t e s e r s t e S c h ö p f u n g , es ist eine Welt voll Krieg, voll Widersinnigkeit, voll Gewalt, Lug und Trug" (XI, 288). Pestalozzi war es unbegreiflich, daß die Menschheit nicht m e h r auf diesen Augenblick achtet. Er betrachtet es als eine Rettung, daß der Unterricht lange Sache des Herzens bleibt, ehe er Sache der Vernunft wird, lange Sache des Weibes bleibt, ehe er Sache des Mannes wird. Die M u t t e r muß auch in dieser zweiten Phase die Führung übernehmen. Sie, die das Kind an ihrem Busen den Namen Gottes lallen gelehrt hat, sie zeigt ihm jetzt „den Alliebenden in der aufgehenden Sonne, im wallenden Bach, in den Fasern des Baumes, im Glanz der Blume, in den Tropfen des Taues, sie zeigt ihm den Allgegenwärtigen in seinem Selbst, im Licht seiner Augen, in der Biegsamkeit seiner Gelenke, in den Tönen seines Mundes, in Allem, Allem zeigt sie ihm Gott" (XI, 294). Die Mutter lehrt das Kind erkennen, daß es keinen andern Gott erkennt als den Gott seines Herzens und sich nur im Glauben an den Gott seines Herzens als Mensch fühlt; daß der Gott seines Hirns ein Götze sei, in dessen Anbetung es sich verdirbt. Pestalozzi schließt sein Buch: „Ich habe den Ewigen in mir s e l b s t erkannt; ich habe die Wege des Herrn g e s e h e n , ich habe die Gesetze seiner Allmacht im Staube g e l e s e n , ich habe die Gesetze seiner Liebe in meinem Herzen e r f o r s c h t , — ich weiß an wen ich g l a u b e " (XI, 298). Was sollen da alle Worte, meint er, wenn die Gewißheit aus dem Herzen quillt? „Woher also die Überzeugung des Guten von Gott? — Nicht vom Verstand, sondern von jenem unerklärlichen, in keine Worte, ja in keinen Begriff zu fassenden Trieb, sein Dasein in dem höhern, unvergänglichen Sein des Ganzen zu verklären und zu verewigen: Nicht mir, sondern den Brüdern!" (XI, 299). Wir halten einen Augenblick inne. Es ist kein Zweifel, daß die d i r e k t e W e i s e , mit der hier Pestalozzi Gott in

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Allem sieht, die Art, mit der er vom Gott seines Herzens spricht, sich u n t e r s c h e i d e t vom Geist der „Nachforschungen", in denen alles Gute und Hohe vom Dunkel umwölkt ist. Aber wer wollte deswegen mit Pestalozzi rechten? Begriffliche Schärfe war nicht seine Gabe. Im Vorwort, das er zwanzig Jahre später zu „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" geschrieben hat, bekennt er selbst: „Darum werde ich auch bis an mein Grab in den meisten meiner Ansichten in einer Art von D u n k e l verbleiben; ich muß aber sagen, wenn dieses Dunkel vielseitige und genügsam belebte Anschauungen zu seinem Hintergrund hat, so ist es für mich ein heiliges Dunkel. Es ist für mich das einzige Licht, in dem ich lebe und zu leben vermag, und ich gehe in diesem H e l l d u n k e l meinem Ziel in dem Grad mit Ruhe und Befriedigung entgegen, als ich dieses mit Ruhe und in Freiheit zu tun vermag" (XI, 88). Wer aber müßte bei diesen Worten nicht an R e m b r a n d t denken, der genau wie Pestalozzi aller präzisierten Dogmatik fernstand, dessen ganzes Lebenswerk aber darin bestand, das Ewige im Menschen zu sehen, und der im Helldunkel den „Prozeß der Fleischwerdung" sah !). Inzwischen war Pestalozzis Stellung in Burgdorf eine ganz andere geworden. Aus dem Schulmeister, der mit einem alten Schuhmacher sein Schulzimmer teilen mußte, war ein Leiter im Schloß Burgdorf, einer größeren Anstalt, geworden. Durch den Beiicht von D e k a n I t h und Anton Grunder fand Pestalozzi auch von der Regierung Anerkennung für sein Tun. Es waren selten schöne Tage für Pestalozzi, als er in Burgdorf sein Werk immer reicher und größer sich entfalten sah. Doch nahmen sie ein frühzeitiges Ende. Die helvetische Republik zerfiel 1803, und die alte kantonale Verfassung trat an ihre Stelle. Die bernische Regierung brauchte angeblich das Burgdorfer Schloß, und Pestalozzi siedelte (1804) nach M ü n c h e n b u c h s e e über, wo seine Anstalt eine vorübergehende Verschmelzung mit Fellenbergs Erziehungsinstitut erfuhr. Bald löste sich dieses Verhältnis, und Pestalozzi verlegte seine Anstalt nach I f e r t e n (1805). 1) Vgl. Simmel: Rembrandt Geistes S. 1 0 8 — 1 1 3 .

S. 1 4 1 — 1 8 5 ;

Natorp: Das Weltalter des

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Hier begann jene Zeit, die in den Biographien gewöhnlich die Glanzzeit genannt wird. Pestalozzi stand auf dem Höhepunkt seines Ruhmes. Die Schriften, die wir aus dieser Zeit besitzen, sind nicht leicht zu benützen. Sie sind oft von Niederer überarbeitet, der seine unter Schellingschem Einfluß gebildete Philosophie in die Schriften Pestalozzis hineintrug und auf diese Weise Pestalozzis Denkweise verdunkelte und zum Teil direkt verschob. Das gilt auch von der „ W o c h e n s c h r i f t f ü r Mens c h e n b i l d u n g " (1807—11), die Pestalozzi mit Niederer zusammen herausgab. Es ist daher Vorsicht im Gebrauch dieser Aufsätze geboten. Die Forschung hat heute annähernd alle Aufsätze, welche von Pestalozzi stammen, mit mehr oder weniger Sicherheit bestimmt. Wir verwenden hier den Aufsatz, der zur Einführung diente, der unverkennbar nur Pestalozzisches Gedankengut enthält. Das Thema ist die W ü r d e des Menschen. „Es ist kein Geringes für den Menschen zu sein, was er sein soll. . . Die Würde des Menschen ist das einzige Ziel der Menschenbildung und zugleich das erste Mittel für sie" (XVIII, 12). Weil es sich um Menschenbildung handelt, um das Ebenbild Gottes, kann sie nicht beliebigen Schrullen der Menschen und der Zeit unterworfen sein: „Die Menschenbildung ist desnahen auch in ihren Grundsätzen und Mitteln ewig und unwandelbar sich selbst gleich" (XVIII, 22). Wohl hatte Pestalozzi seit seiner Armenschule die mannigfaltigsten Erfahrungen mit den Menschen gemacht, aber sein Glaube an den Menschen war unerschüttert geblieben trotz allen Mißgeschicken. „Die Natur ist Gottes, und das Ewige und Göttliche in der Menschennatur ist höher und göttlicher als die ganze übrige Schöpfung. Das Göttliche in der Menschennatur ist ewig wie Gott selber. Ob die Wolken am Himmel sich verdunkeln, was macht das den ewigen Sternen? Es bläst ein Wind, die Wolken gehen vorbei und der Himmel ist wieder, wie er vorher war und ewig sein wird. Mag ein böser Zeitpunkt das Göttliche in der Menschennatur mit den Wolken des Vergänglichen und Zufälligen überziehen; mag der Sturm des Windes am ganzen Horizont unseres Gesichtskreises, eine Weile siegend, alle Meere der Erde bewegen . . . Der Sturm legt sich doch wieder, das Meer wird wieder ruhig und steht

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am Morgen im Prachtglanz in der Stille da, wie wenn es nie bewegt worden wäre . . . Das Wesen der Menschennatur zeigt das nämliche. Der einzelne Mensch kann alles Göttliche in sich verdunkeln, er kann sich selber entwürdigen, er kann es verdienen, er kann es wollen, in Nacht und Schatten leben . . . Aber lebt auch heute das Menschengeschlecht ganz in der Nacht seiner Selbstsucht und in der Finsternis seines Krieges gegen Wahrheit, Liebe und höhere Kraft, dennoch bliebe das Übergewicht des Höhern der Menschheit selber gesichert . . . Am Ende steht das Gute, das Gott tut, d a . . (XVIII, 32. 33)· „Am Ende steht das Gute, das G o t t t u t , d a " , das ist der unerschütterliche Glaube Pestalozzis, der wie das Thema in einer Bachschen Fuge durch alle „Reden" immer wiederkehrt. Die „ R e d e n an mein H a u s " sind das persönlichste Werk seiner vielen persönlichen Werke, die alle zusammen als eine große Konfession betrachtet werden dürfen. Die Reden setzen allen Darstellungsversuchen beinahe unübersteigbare Schwierigkeiten entgegen. Sie bilden in sich einen so feinen dialektischen Bau, daß jedes analytische Eindringen in denselben der Tat, einem Schmetterling die Farbe von den Flügeln zu streifen, gleichkommt. E s sind nicht zusammenhängende Reden, aber alle sind von einem Grundthema durchzogen, das sie zu einer stärkeren inneren Einheit zusammenschließt als alle bloß äußere logische Verbindung. Seit 1808 begann Pestalozzi in seinem Hause zu Iferten vor versammelter Lehrer- und Schülerschaft zu Weihnachten, Neujahr und oft auch an seinem Geburtstag sogenannte „Reden" zu halten, die er später jeweilen veröffentlichte. Pestalozzi nannte sie „Reden", obwohl sie in ihrer Art zentraler um das Religiöse kreisen, als es von vielen Predigten gesagt werden kann. Es gibt kaum einen Biographen, der sich ihrer Wirkung zu entziehen vermochte. Seyffarth nennt sie in seiner Einleitung reine „lyrische Ergüsse". Mörikofer bemerkt in seiner Literaturgeschichte, daß sie das „eigentümlichste und ergreifendste Seelenbild von Pestalozzi" geben und unmittelbar an die Sprache der Bibel erinnern. Nach Israel „atmen sie echt evangelischen Geist". Von R o t h e n b e r g e r wurde hervorgehoben, daß in ihnen «ine Wendung zu einer tieferen Religiosität, als sie Pestalozzi

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in den neunziger Jahren vertreten habe, zum Ausdruck gelange (S. 74). Das ist m. E. falsch. Das Werk, das in den Jahren erschien, da Pestalozzi seine ,,Reden" hielt, und unmittelbar nachher zu besprechen sein wird, nimmt wieder die Gedanken der „Nachforschungen" auf und widerlegt somit diese Ansicht vollständig. Wie diese irrtümliche Auffassung entstehen konnte, ist leicht zu durchschauen. In den 90er Jahren nahm in Pestalozzis Denken die Polemik gegen die Zeitreligion einen breiten Raum ein. Die eigenen religiösen Gedanken kommen nur in dieser Verbindung vor und werden dadurch etwas verdeckt. In den „Reden" dagegen herrscht beinahe kein polemisches Wort, die ganze Kraft ist der eigenen positiven Darstellung gewidmet. So konnte die Meinung entstehen, Pestalozzi habe in religiöser Beziehung eine Wendung durchgemacht. Es besteht aber nach unserer Darstellung kein Zweifel, daß Pestalozzi auch in den 90er Jahren (und gerade dann!) die gleich tiefe religiöse Erkenntnis besaß. In den „Reden" setzte Pestalozzi sein ganzes L e b e n und W i r k e n in Beziehung zu G o t t . „War ich einer für Gott? oder war ich einer für mich selbst" ? (XIII, 17). Das ist der Grundakkord, der bald flehend, dann jubelnd und plötzlich wieder hadernd in allen Variationen wiederkehrt. Er war in seinem Leben nicht glücklich. Überall brach das Eis unter seinen Füßen. Sein Werk war voller Fehler. Verderben riß ein. Teure Bande lösten sich. „Eine Freundin starb mir. Seht hier ihren Schädel. — Seht hier meinen Sarg. Was bleibt mir übrig? Die Hoffnung meines Grabes. Mein Herz ist zerrissen. Ich bin nicht mehr, was ich gestern war" (XIII, 18). Der Traum ist verschwunden. Ohnmächtig war er und bat die Ohnmacht; unwissend und bat die Unwissenheit, niedrig und bat die Niedrigkeit um Hilfe für sein Werk. Aber es war eine Torheit und eine Täuschung. So verzweifelt klingt es, bis es unerwartet wieder durchbricht: Ist es denn mein Werk? Nein, und auch nicht euer Werk. „Stehet auf, es ist G o t t e s Werk". Aber wird es alle Gefahren überstehen? Schon nagt wieder der Zweifel. Sein Herz fürchtet sich und ist unruhig, er ist „stumm und rasend" : sein Werk fordert wachen und beten und er tut beides nicht. Er ist zu allem zu schwach, zu unvorsichtig und zu unüber-

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legt. Wie versank er in diese Tiefe! Er ist nicht mehr im Stande zu helfen, und das frißt wie Gift an seinem Herzen. Im „Gewitter seines Tages vergeht" er, und der „Drang der Umstände verschlingt sein Leben". Menschen können seinem Werk nicht mehr helfen. „Gott hat es aber gerettet, die Hand des Herrn hat es gerettet. Preis und Dank, hoher Preis und kindlich liebender Dank ihm, dem Retter unseres Werkes, dem Vater des Lebens, dem Herrscher der Jahre" (XIII, 26). Gott wird es in allen Gefahren nicht aus seiner Hand geben. Was soll dieser Verheißung gegenüber alle seine Unruhe, sein wechselndes Himmelanstürmen und wieder in den Boden Hineinversinken? Lag denn seinem Erziehungswerk ein anderer Glaube zugrunde ? Sollten seine Kinder nicht andere Menschen werden als die Menschen seiner Zeit? War denn „Bildung zur Mathematik", ihr Verstand und ihre Kunst das Ziel seiner Bemühung? War es nicht ein gänzlicher Irrtum, ein Irrtum, der unter allen Umständen verschwinden mußte, daß er mit seiner „Methode nur bessere Brotmittel für den armen, hungrigen Mann im Lande suche?" „0 Gott, nein, ich suche durch mein Tun Erhebung der Menschennatur zum Höchsten, zum Edelsten — ich suche seine Erhebung durch Liebe und erkenne nur in ihrer heiligen Kraft das Fundament der Bildung meines Geschlechts zu allem Göttlichen, zu allem Ewigen, das in seiner Natur liegt" (XIII, 33). Daß die Liebe in seinen Kindern wachse und in ihnen gesichert werde, das war doch das, was er suchte. Der Unterricht als solcher bildet keine Liebe, und darum war er ihm auch nie das Wesen der Erziehung. „Liebe ist ihr Wesen. Sie allein ist der ewige Ausfluß der Gottheit, die in uns thronet, sie ist der Mittelpunkt, von dem alles Wesentliche in der Erziehung ausgeht" (XIII, 35). Aber nicht die „blinde", sondern die „sehende Liebe". Sie allein bleibt, wenn Tage kommen und vergehen, die Sonne auf und nieder steigt. Im Erlöser betet er die „für uns geopferte, göttliche Liebe an". Das ist der Sinn der Weihnacht, jener unvergleichlichen Nacht, der keine irdische Nacht je wieder glich. „0 Gott, gib sie uns wieder, die schönen Tage der Welt, wo das Menschengeschlecht sich des Erlösers Jesus Christus, sich seiner Geburt wahrhaft freute" (XIII, 60); da die Menschen es noch für ein „Geringes hiel-

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ten, für den Glauben an Jesus Christus zu sterben!" So fleht er vor seinen Kindern und will damit nicht eine bloß menschliche Rührung in ihrer Vereinigung erwecken. — Nun wendet sich die ganze Betrachtung wieder und wird gleichsam ein Appell an seine Zöglinge. Wo nur das Menschliche im Menschen sich mit dem Menschlichen im andern Menschen vereinigt, da heiligt sich der Mensch nicht durch seine Vereinigung, sondern verdirbt sich. Stählung zum Kampf fürs Leben ist der Zweck ihres Beisammenseins. Ein Kampf ist die Erziehung, ein Kampf des Göttlichen und Heiligen gegen alles nur Menschliche. Schwierigkeiten und Gefahren dürfen nicht unterschätzt werden. „Irret euch nicht der Berge halber, die ihr zu ersteigen habt, sie sind höher, weit höher als sie scheinen." Den Gipfel des Berges werden seine Kinder so wenig sehen, als er ihn sah. Alles Göttliche bleibt in diesem Leben „vom Duilkel der Welt" umschattet. Mitten in diesem Dunkel aber „wallet allenthalben durch die Erscheinung des Vergänglichen die Ahnung des Unsterblichen". (XIII, 74) Was Fleisch und Blut ist am Menschen und seinem Werk, ist vergänglich und so vergänglich als nur etwas. Es erhebt ihn nicht über das Dasein des Tieres. „Alles Unvergängliche im Menschen ist die Quelle seines wirklichen Wertes, und alles Vergängliche, alles Nichtige, Zerstörbare ist die Quelle alles Unwertes, in dem er sich selbst herabwürdigt. Was ihn erhebt ist die A h n u n g der U n s t e r b l i c h k e i t " (XIII, 75). Nur der Mensch besitzt diese Ahnung. In ihm lebt ein Drang, sich zu verewigen. Darum baut er Pyramiden. Dennoch ist sein ganzes sinnliches Streben nur ein Herabgleiten. Fäulnis ist seine sinnliche Menschennatur. Nur im Heiligen und Ewigen lebt der Mensch ewig, und nur durch dieses ist er unsterblich. „Unser Zweck ist groß: wir wollen die Erziehung des Geschlechts von den Verirrungen im bloß Menschlichen und Sinnlichen zum Göttlichen und Ewigen erheben. Wir wollen in der Bildung von dem bloß Wandelbaren seines wechselnden Seins zu den ewigen Gesetzen seiner göttlichen Natur hinaufsteigen und den Leitfaden unseres diesfälligen Tuns in den ewigen Gesetzen erforschen" (XIII, 77). So steht das Bild Pestalozzis und seines Werkes vor uns, wie es sich in seinen „Reden" widerspiegelt. Es ist nie nur

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persönlich, sondern immer in Beziehung zu seinem Werk und es ist nie rein sachlich, sondern alles steht in unlösbarer Verbindung zu seiner Person. Mitten in den Erinnerungen an das Elend und die Not seines Lebens bricht er plötzlich in einen Hymnus an Gott aus, der sein Werk doch nicht in dieser Verachtung und Trübsal versinken ließ. Und mitten in den erhabensten Ausführungen über die Unsterblichkeit wendet er sich unerwartet an seine Mitarbeiter und seine Schüler. Das Zarte und das Erschütternde, das Große und das Kleine, welches das Menschenleben in sich birgt, ist der Gegenstand dieser „Reden". Mit einer Innerlichkeit und Leidenschaftlichkeit, die zuweilen an A u g u s t i n s Bekenntnisse erinnert, rückt er immer das ganze Menschenleben unter das Licht Gottes. Nur ein Mensch, der alle Zweifel Und Nöte, allen Schmerz und alle Qual des Erdenlebens durchgemacht hat und trotzdem nicht müde geworden ist in seinem Ringen und Hoffen, Suchen und Rufen nach Gott, konnte so befreite Worte sprechen über Welt und Leben. Was soll man noch weiter dazu sagen? Seine eminente innerliche Bewegtheit läßt sich mit bloßen Worten gar nicht festhalten. Alle Charakterisierungsversuche versagen da, wo jene innersten Töne erklingen, mit denen der Mensch nach Gott schreit und „Düfte des unsterblichen Lebens" (XIII, 7 1 ) sein Haupt umgeben. — Vielleicht sagt man am besten, daß von Pestalozzis „Reden" ein eigenartiges, tief e r b a u l i c h e s Licht ausgehe. Dieser Begriff aber nicht in dem viel mißbrauchten Sinn verstanden, sondern in dem Sinn, in welchem K i e r k e g a a r d seine erbaulichen Reden schrieb: Zur Erweckung und Verinnerlichung. Die „Reden" sind an Pestalozzis Haus gerichtet. Es waren im Grunde Worte, die an seine Mitarbeiter und Schüler gerichtet waren und diesen einen Einblick in seine letzten Voraussetzungen und Absichten gewähren sollten. E r lüftete hier gleichsam den Schleier und ließ sie einen Blick tun in sein Ringen mit Gott, was er sonst, wie jeder echt religiöse Mensch, nicht den Augen der Welt preisgab. Darum galten sie auch nur einem engeren Kreis. Um dieselbe Zeit wendete sich aber Pestalozzi noch einmal an eine größere Umgebung. Als Warner und Mahner trat er vor sein Vaterland mit der Schrift: „ A n die U n s c h u l d ,

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den E r n s t und den E d e l m u t meines Z e i t a l t e r s und m e i n e s V a t e r l a n d e s " (1815). Es war ein Wort, bestimmt für den weiteren Kreis seiner Zeitgenossen. — Die Schrift liest sich aber nicht leicht. Der Stil zeigt in seiner Weitschweifigkeit schon stark die Altersmerkmale seiner späteren Schriften. Auch entbehrt das Werk jeder systematischen Anlage. Inhaltlich knüpft Pestalozzi mannigfach an die Ideen der „ N a c h f o r s c h u n g e n " an, was ein schlagender Beweis dafür ist, daß die „Nachforschungen" keine zeitweilige Trübung im Denken Pestalozzis waren, wie oft behauptet wurde, sondern Ausdruck seiner „Lieblingsideen". Der Zeitraum, der zwischen beiden Werken liegt, beträgt rund zwanzig Jahre. Die besondere Schwierigkeit dieser Schrift in unserem Zusammenhang liegt an einem anderen Punkt. Der Inhalt dieser Schrift ist eigentlich ein p o l i t i s c h e r . Sie steht auch in einer direkten Verbindung mit der Tätigkeit Pestalozzis während der Revolutionszeit. Aber, wie wir schon dort sahen, daß sein Wirken auch in dieser Beziehung letztlich religiös motiviert war, so müssen wir auch hier die gleiche Feststellung machen. So wenig direkte religiöse Äußerungen diese Schrift enthält, richtig verstanden kann sie nur dann werden, wenn sie von Pestalozzis Grundidee aus betrachtet wird, die wir als eine religiöse aufgewiesen haben. F i c h t e hat in seinen „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" seine Zeit als den Zustand der vollendeten Sündhaftigkeit bezeichnet. Das ist auch der Ausgangspunkt Pestalozzis in dieser Schrift. Es ist das Zeitalter des „Halblebens und des Halbsterbens". „Siehe dich um und weine über dein Geschlecht". Der Mensch muß vor sich selber fliehen, er muß den Spiegel seines Lebens vor seinen Augen zerschlagen, denn er würde die Ekelhaftigkeit seiner tierischen Nacktheit nicht ertragen. „Die große Mehrheit der Menschheit ist eben wie die große Mehrheit der Erzeugnisse in allen Reichen der Natur gemein und schlecht" (XII, 21). Selbstsucht ist Quelle und Tendenz der allgemeinen , .Zivilisationsverderbnis". Auch die „Erschlaffungsepoche, die dem Geist der Revolution vorangegangen" ist, war eine Folge dieser allgemeinen Verirrung. Auch die Religion ist diesem Marasmus erlegen und kann sich „nur durch eine ihr inneres Wesen entkräftende Amalgamation" (XII, 49) erhalten. In Europa, das doch „auf allen Pestalozzi-Studien I .

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Landkarten als christlicher Erdteil" bezeichnet ist, herrscht nur „ S c h e i n c h r i s t e n t u m " . Das ganze Zeitalter sieht Pestalozzi verdorben. Aber den Spiegel hält er besonders seinem Vaterland vor, das ihm am nächsten stand, und nicht zuletzt seiner Vaterstadt Zürich, die einen Z w i n g l i , einen B o d m e r , einen L a v a t e r hervorgebracht hat. Diese Männer ruft er ihr ins Gedächtnis. Als diese Männer lebten, war das Volk und der Mittelstand der Träger des Vaterlandes. Heute sagt man aber, „das Volk ist schlecht" und zeigt damit, welche Gesinnung man hegt. Das Volk ist unterdrückt, und daraus fließen die Quellen des Übels. Denn „das Unrecht der Revolution ist nicht in die Unschuld des Weltteiles hineingefallen, wie die Sünde ins Paradies. Eine bis zur Niederträchtigkeit versunkene Schwäche von tausend und tausend Recht, Ehre und Treu schändenden öffentlichen Maßregeln gingen der Revolution, wie eine offene Kriegserklärung dem Brand und Mord, der dann hernach folgt, vorher" (XII, 102). Auch die Erscheinung N a p o l e o n s (Pestalozzi, der ihm einst in Paris Aug in Aug gegenübergestanden ist, zeichnet ihn in seiner dämonischen Art meisterhaft) war nur möglich, weil der „Geist des Altertums" schon verlassen war. Ein verheerendes Mißgeschick sieht Pestalozzi auch in dem Übergewicht des S t a a t e s gegenüber dem Individuum. Keine Frage, das Menschengeschlecht kann ohne eine o r d n e n d e K r a f t nicht gesellschaftlich vereinigt bleiben. Aber auch von dem bloß äußerlichen, bürgerlichen Zustand geht noch keine, die Menschennatur veredelnde Wirkung aus. Im Gegenteil. Die kollektive Existenz unseres Geschlechts hat als solche Erfordernisse, die mit den Ansprüchen der Individuen und der wesentlichen Bestimmung der Menschennatur in einem ewigen Widerspruch stehen. „Jede Staatsvereinigung hat den Keim dieses Widerspruches in sich selbst" (XII, 117). Ohne eine höhere Ansicht des Lebens veredelt sich der Mensch in keiner bürgerlichen Verfassung. Diese greift oft mit roher Gewalt in die feinsten Zartheiten seiner individuellen Existenz. „Der bloß zivilisierte Mensch kennt die Gerechtigkeit nicht, die aus Gott ist" (XII, 120). Sein R e c h t ist t i e r i s c h e Freiheit. Das alles ist aber nicht in der Linie Rousseaus gedacht. Wir brauchen nicht früher Gesagtes zu wiederholen,

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sondern verweisen einfach auf die Fortführung des Gedankenganges. Der Zweck der gesellschaftlichen Vereinigung ist trotz allem Verbesserung und nicht Verschlimmerung des Naturzustandes. K u l t u r ist nur durch höhere Begründung des menschlichen Rechtes erreichbar und nicht durch seine Entwürdigung oder sogar Vernichtung. Diese Angelegenheit kann nie Sache der Masse, der Zivilisation, sondern nur Sache des Individuums sein. Aus den „tausend blutenden Wunden", die aus der Verkennung dieser Wahrheit entstanden sind, ertönt daher der Ruf: „ L a s s e t uns Menschen w e r d e n , damit wir wieder Bürger, damit wir wieder Staaten werden können". Das haben die Regierungen vergessen, und deshalb sind ihre Probleme noch keineswegs gelöst. Es gibt auf Erden keinen anderen Weg zur Wahrheit, als allein durch das „erkenne dich selbst". Diese ganze Situation muß im Auge behalten werden, wenn nun die Schlußfolgerung der Schrift lautet: „ E s ist für den sittlich, geistig und bürgerüch gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich, als durch Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung" (XII, 218). Man hüte sich aber, diese Worte im Sinne der platten Forderung zu verstehen: hilf dir selbst, so hilft dir Gott. Kein philanthropisches Heilmittel wollte er damit verschreiben. Pestalozzi sagt unmittelbar vorher, er wisse, an wen er g l a u b e , von wem es heiße: aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du dir ein Lob bereitet, was es heiße: Eins ist not und Maria habe das bessere Teil erwählt. Im G l a u b e n an ihn, der das zerkleckte Rohr nicht zerbricht und den glimmenden Docht nicht auslöscht, im Glauben an ihn, der nicht will, daß Jemand verloren geht, sondern, daß Alle das Leben haben, hat er dieses Wort ausgesprochen. Aber darum auch die Hoffnung, die sein Buch zum Schluß, nach diesem düsteren Zeitbild, das mit vorurteilslosem Pessimismus gezeichnet ist, zum Ausdruck bringt: es wird besser, es wird gewiß besser werden. D a s W o r t der E n g e l an W e i h n a c h t e n : Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und an den Menschen ein Wohlgefallen, sichert dieses Besserwerden dem Weltteil. Das ist das Testament, das Pestalozzi in politischer Beziehung uns hinterlassen hat. Wir sehen auch hier, daß seine 9*

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Geschichtsbetrachtung und G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e r e l i g i ö s f u n d i e r t ist. Seinem Vaterland stand er vierzig Jahre zuvor mit der gleichen Erkenntnis gegenüber, wie er selbst bekennt: „Ich bin mir in dieser Rücksicht vor der Revolution, in derselben und nach ihr gleich geblieben" (XII, 303). Als diese Schrift in seine Gesamtausgabe aufgenommen wurde, bemerkt er : „ E s sind wieder fünf Jahre verflossen und ich habe nichts Neues zu sagen". Heute, da sein Vaterland durch Klassenkampf und andere Kämpfe so zerklüftet dasteht wie zu seiner Zeit, und die politische Entwicklung nicht seine Wege gegangen ist, auch heute würde Pestalozzi sagen: Ich habe nichts Neues zu sagen. Die letzten Lebensjahre. In der Neujahrsrede von 1 8 1 6 sagte Pestalozzi zu seinen Zuhörern: „Alle Jahre wurde dieser Tag, diese Stunde, in der ich jetzt mit euch rede, drückender, und mein Herz zerreißender; meine diesfällige Stimmung stieg endlich beinahe zum äußersten Grad menschlicher Verzweiflung" (XVIII, 307). Im folgenden Jahr erzählte er in der gleichen Stunde: „Mein Leben war wie ein Waldstrom, dessen Wasser in ihrem Wesen heilungs- und segenvolle Kräfte entquillen, den aber die Unbill der Zeit bald aufschwellte, daß er aus seinen Ufern trat mit Grien und Sand und Steinen vermengt. . . Gott welch ein Leben voll Gewalt, voll Stürme . . Welch ein Wechsel von Irrtum und Wahrheit, von Mut und Zaghaftigkeit! Welch ein Wechsel von Fallen und Steigen, von sich Erheben und Sinken, von Glauben und Unglauben, von Sehen und Blindsein, von Hören und Taubsein!" (XVIII, 323). So schildert Pestalozzi sein eigenes Leben und schließt dann: „Ich sondere mein Werk von mir selber. In meiner Hand ist es ein Nichts. E s steht da wie ein Schatten an Gottes Sonne, ein Gewölk erscheint und der Schatten verschwindet, aber die Sonne Gottes bleibet" ( X V I I I , 326). Was war geschehen, daß Pestalozzi solche Worte aussprach? Wir verließen ihn, als sein Institut in Herten Weltruf erlangt hatte. E s war ihm dort nach einem Leben voll unglaublicher Entbehrung und Mühsal noch ein später, aber schöner Nachsommer beschieden. Was verursachte nun diese düstere und traurige Stimmung? Harte Schicksalsschläge hatten ihn getroffen.

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Am 16. Dezember 1 8 1 5 starb seine G a t t i n , das „Weib, das um meinetwillen a l l e s Glück des Lebens mißte" ( X I I I , 23). An ihrem Sarg erzählte Pestalozzi seinen Schülern ihr gemeinsames Leben. B l o c h m a n n hat uns in seiner Biographie (S. 87) eine Stelle daraus aufgehoben, die hier erwähnt werden muß, weil sie Pestalozzis Stellung zur B i b e l zeigt, eine Beziehung, die er sonst keusch verschwieg. „Wir waren von allen geflohen und verspottet, Krankheit und Armut beugten uns nieder, und wir aßen unser trockenes Brot mit Tränen", da fragte er die entseelt im Sarge Liegende: „ W a s gab dir und mir in jenen schweren Tagen Kraft, auszuharren und unser Vertrauen nicht wegzuwerfen? Und er ergriff eine in der Nähe liegende Bibel, drückte sie der Toten an die Brust und rief: „Aus dieser Quelle schöpftest du und ich Mut und Frieden". — Kaum hatte seine Frau die Augen geschlossen, brach der Lehrerstreit zwischen Niederer und Schmid mit neuer Heftigkeit aus, nachdem er schon früher das Ansehen der Anstalt geschwächt hatte. E s gehört zum trübseligsten, was Pestalozzi in seinem an Trübsal so reichen Leben erleben mußte, daß sein Werk, das er mit so erstaunlicher Energie und Gläubigkeit gebaut hatte, durch fremde Menschen zerstört wurde. E s ist hier nicht der Ort, diese zum Teil schmutzige Geschichte des Streites zu erzählen. Der Streit nahm seinen Fortgang und untergrub den Rest des Ansehens, bis zur endgültigen Vernichtung des Instituts. 1 8 2 5 mußte Pestalozzi seine A n s t a l t a u f l ö s e n . Das Ereignis hat den fast achtzigjährigen Greis gebrochen; schwer gekränkt zog er sich zu seinem Enkel auf dem Neuhof zurück, wo er vor einem halben Jahrhundert seine Armenanstalt eröffnet hatte. All seine Arbeit und Mühe war äußerlich in Nichts zerronnen. Wieder stand er vor der Welt als der geschlagene Mann. Wie Hi ob hätte er sich in die Asche setzen und mit einer Scherbe sich schaben können (Hiob 2, 8). Inzwischen arbeitete er noch an seinem letzten Werk, dem „ S c h w a n e n g e s a n g " (1826). Noch einmal faßte er seine Grundsätze zusammen, die aber inhaltlich keine Erweiterung aufweisen, abgesehen von einzelnen besseren und genaueren Formulierungen. Aus diesem Grunde, und da die Schrift wesentlich p ä d a g o g i s c h e n Inhalts ist, kann hier von einer Darstellung abgesehen werden. E s wäre nur eine Wiederholung von früher

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Gesagtem. Ein Mißverständnis widerlegt Pestalozzi darin noch einmal, gegen welches auch wir wiederholt ankämpften, daß „seine Anstalten und alle äußeren Erscheinungen ihrer Versuche nicht seine Lebensbestrebungen" (XVI, 231) seien. Es ist das ein Irrtum, den namentlich die Pädagogen immer wieder aufbringen, und der das Pestalozzibild verfälscht. Wir haben dem gegenüber betont, daß alle Weltverbesserungspläne und Kinderfreundlichkeit Pestalozzis nicht an sein Zentralproblem heranreichen, das darin bestand, das Ebenbild Gottes im Menschen wieder herzustellen. Daß Pestalozzi auch hierin „nichts Ganzes und nichts Vollendetes hervorgebracht" (XIV, 8) hat, wußte er selbst genau. Aber er hat sein Ziel und das, worin er den Frieden gefunden, klar formuliert: „Das Streben nach Vollkommenheit, nach Vollendung, das allein geeignet ist, den Samen der Zwietracht in uns selbst in seinem Wachstum wahrhaft abzuschwächen und zu vertilgen, geht nur aus dem ernsten Suchen des göttlichen Beistandes und der göttlichen Gnade hervor. Die Wahrheit dieses Suchens führt untrüglich zur Andacht und zum Gebet" (XIV, 167). Es waren das nicht bloße Worte. Im Streit mit Niederer zeigte sich Pestalozzi stets zur Versöhnung, und die ganze Schuld auf sich zu nehmen, bereit. Niederer wies die Versöhnung immer von sich. Eine Schmähschrift schlimmster Art, die Niederer durch einen Bekannten verfertigen ließ, gab Pestalozzi den Todesstoß. Die Gemütserregung warf ihn aufs Krankenlager. Er litt Unsägliches. Sterben sei nichts, meinte er, er sterbe gern; aber gelebt, alles geopfert, und nichts erreicht zu haben, immer nur gelitten zu haben und alles zertrümmert zu sehen und so mit seinem Werk ins Grab zu sinken, das sei schrecklich und nicht zum Aussprechen. Weinen wollte er, und nicht einmal mehr Tränen kamen. Aber noch einmal raffte sich Pestalozzi zu seiner ganzen Größe auf, indem er allen alles v e r z i e h : „Möge meine Asche die grenzenlose Leidenschaftlichkeit meiner Feinde zum Schweigen bringen", sagte er auf dem Sterbebett, „und mein letzter Ruf sie bewegen, zu tun, was rechtens ist, und mit Ruhe, Würde und Anstand, wie es Männern ziemt! Möge der Friede, zu dem ich eingehe, auch meine Feinde zum Frieden führen! Auf jeden Fall verzeihe ich ihnen: meine Freunde segne ich und hoffe,

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daß sie in Liebe des Vollendeten gedenken und seine Lebenszwecke auch nach seinem Tode noch nach ihren besten Kräften fördern werden". Am 17. Februar 1827 ist Pestalozzi gestorben. Sein Antlitz soll etwas von dem Frieden, der höher als alle Vernunft ist, widergespiegelt haben. Sein V o l k aber hatte das Bedürfnis — vox populi vox dei — neben allen Verdiensten und Bezeichnungen, die es auf seinen Grabstein setzte, auch zu sagen, daß er ein Christ war. Schluß. Wir haben zum Schluß noch kurz auf das V e r h ä l t n i s v o n R e l i g i o s i t ä t und P ä d a g o g i k bei P e s t a l o z z i einzugehen. Die Frage kann so formuliert werden: welchen Einfluß hatten seine religiösen Uberzeugungen auf seine pädagogischen Ideen ? Jede Pädagogik ist notwendig weltanschaulich fundiert und deshalb gar nicht losgelöst von letzten weltanschaulichen Gesichtspunkten zu betrachten. Die beiden wesentlichsten Bestandteile, die zu jeder echten Pädagogik gehören, sind: die Zielsetzung und die pädagogische Methode. Zu unserer Frage gehört vorerst nur die Zielsetzung, da sie vorwiegend religiös fundiert ist. Auf die Frage, ob Pestalozzis Ziel ein religiöses ist, hat unsere ganze Darstellung bereits die Antwort gegeben. Wir können nur wiederholen, wie Pestalozzi auf dem Neuhof durch das Kinderelend auf die Frage gestoßen wurde: was ist der Mensch ? An diesem Problem erwachte sein ganzes Denken. Im verwahrlosten und verkommenen Menschen sah er das Ebenbild Gottes im Menschen geschändet. In der Wiederherstellung dieses U r b i l d e s im Menschen liegt das Ziel aller p ä d a g o g i s c h e n A n s t r e n g u n g e n P e s t a l o z z i s . Er hat sein Ziel verschieden formuliert, bald als die Bildung zur Menschlichkeit, wie in der Schrift: „Blick auf meine Erziehungswerke", bald als Versuch, die Quellen des Elendes, darin das Volk versunken ist, zu stopfen, wie er es in „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt" darstellt. Es bleibt sich gleich, welche Seite man mehr betont,die letzte Tiefe von Pestalozzis Bedeutung •wird man nicht erfassen, wenn man sein Ziel als reines Humanitätsideal betrachtet, sondern nur dann, wenn man die Idee

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des Menschen als Ebenbild Gottes im Auge behält. Das ist das unbekannte x, mit dem man Pestalozzis Gleichung auflösen kann; das ist der Gesichtspunkt, von welchem aus er als Überwinder der Aufklärung erscheint, wie Leser und Wernle betont haben, und das ist die Tatsache, die sein pädagogisches Ziel zu einem genuin religiösen macht. Damit wäre die Frage nach der Zielsetzung beantwortet. Aber das Problem hat noch ein Nachspiel, auf das unsere Darstellung bisher geflissentlich nicht eingegangen ist. Pestalozzi behauptet, daß seine pädagogische Methode in direkter Beziehung zu seiner Weltanschauung stehe. Im „Schwanengesang" bemerkt er, daß „das Wesen der Idee seiner Elementarbildung innig mit dem Geist des Christentums zusammenhange" (XIV, 168). Es ist zunächst nicht ganz einzusehen, was sein „Abc der Kunst", was das Prinzip der Anschauung, das Prinzip der Methode usw. mit dem Christentum zu tun haben soll. Es wäre gewiß auch ein müßiges Unterfangen, hier gewisse, vielleicht geheime Zusammenhänge zu konstruieren. Der Einklang beruht nur im „Wesen der Idee der Elementarbildung" mit dem Christentum. E s ist die Übereinstimmung in den s i t t l i c h e n Forderungen an den Menschen. Mit dieser Feststellung kommen wir wieder zu der Frage nach der Zielsetzimg von Pestalozzis Pädagogik zurück. Wir müssen aber bei der zweiten Frage beharren. Damit wir uns nicht in einem Zirkel bewegen, schlagen wir einen anderen Weg ein. Betrachten wir seine pädagogische Methode in Beziehung zur religiösen Bildung. Es ist das Problem des R e l i g i o n s u n t e r r i c h t e s bei Pestalozzi, vor dem wir hiemit stehen. Theodor W i g e t führt in den „Grundlinien der Erziehungslehre Pestalozzis" aus, daß zu beachten sei, daß bei Pestalozzi „nirgends von einem eigentlichen Unterricht in religiösen und moralischen Dingen die Rede ist" (S. 115). Das ist nicht ganz richtig, Pestalozzi hat in seinem Institut Religionsunterricht erteilen lassen und zwar für die Protestanten von einem protestantischen Pfarrer und für die katholischen Zöglinge von einem katholischen Geistlichen. Richtig ist und muß hier gesagt werden, daß es Pestalozzi nicht gegeben war, im Gebiete des Religionsunterrichtes eingreifende neue Wege zu betreten. Immerhin hat er allerhand versucht, das nicht unterschätzt werden darf.

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Pestalozzi war es, der als einer der Ersten den Heidelberger Katechismus aus dem Unterricht zurückdrängte und an seine Stelle wieder die B i b e l in den Vordergrund rückte. Schon in „Lienhard und Gertrud" ist nicht zu übersehen, wie stark Pestalozzi hervorhebt, daß Gertrud ihre Kinder alle Tage einen Abschnitt aus der Bibel lesen läßt und ihnen eine große Ehrfurcht vor dem Wort Gottes einpflanzt. Aus der Bibel bevorzugte Pestalozzi den geschichtlichen Teil, vor allem das Leben, Leiden und Sterben Jesu Christi. Zu diesem Zwecke ließ er eigens für seine Anstalt aus den vier Evangelien alles Wesentliche der Reden und Taten Jesu Christi ausziehen. Er glaubte, daß sie besser auf die Herzen der Kinder wirken, wenn sie getrennt werden von den „Zeit- und Lokalgesichtspunkten der Apostel". Diese den Kindern einzuprägen, schien ihm neben dem Wert des Gebets ,,der Anfang und das Wesen, was in Rücksicht auf den Religionsunterricht not tut". Die gleichen Gesichtspunkte waren für die religiöse Armenerziehung maßgebend. Kein Kind eines Armen durfte bei ihm auf irgend eine Weise während der Arbeit in der Religion unterrichtet werden, was Pestalozzi glaubte mit anderen Unterrichtsfächern tun zu dürfen. Ohne Gebet durfte im Armenhaus kein Morgen begonnen und kein Abend geschlossen werden, und ,,das Gesetz der heiligen Ruhe und der friedlichen Stille, sowohl am Tag des Herrn, als in jedem Augenblick, den sie Gott und der Ewigkeit zu weihen bestimmt sind, sei ein festes Gesetz unseres Armenhauses und werde in demselben in jeder einzelnen religiösen Handlung genau beobachtet" (XIII, 419). Das P r o b l e m , das in allem Religionsunterricht steckt, hat Pestalozzi klar gesehen. Nach seinen pädagogischen Erfahrungen gehörte der Religionsunterricht zu den „schwierigsten Einrichtungen in der Anstalt". Während es alle Kunst erfordere, die Unterrichtsfächer des menschlichen Wissens gleichsam gewichtslos in die menschliche Seele hinein zu versenken, so sei es „im Gegenteil im höchsten Grad wesentlich, daß der Religionsunterricht gewichtsvoll auf den Geist und das Herz der Kinder hinwirke und sie in jedem Fall im ganzen Umfang ihrer höhern Kräfte ergreife" (XVIII, 161). Diese Einsicht wird allerdings durch eine andere Forderung wieder wesentlich durchkreuzt. Pestalozzi forderte, daß die ganze religiöse Mitteilung, die den Kindern zu machen ist, ihrem Verständnis angepaßt werde und

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zwar nicht nur, daß sie von allen dogmatischen Streitfragen verschont bleiben, sondern daß auch das Gottesbild, das ihnen vermittelt werde, ihrem kindlichen Wesen entsprechend sei. Vom Gott der Prädestination, der ein verzehrendes Feuer und in dessen Hände zu fallen schrecklich ist, will Pestalozzi nichts wissen. Es würde störend auf das Gleichgewicht der kindlichen Kräfte wirken und ihre harmonische Bildung vereiteln. Wir stehen hier wieder vor der Tatsache, daß Pestalozzi den Inhalt der religiösen Mitteilung oftmals seinen pädagogischen Gesichtspunkten angepaßt hat. Es ist nicht zu leugnen, daß, wenn Pestalozzi vom Religionsunterricht redet, nicht der eigentliche Pestalozzi redet. Es ist genau, wie wenn Luther von den Werken spricht, die ein Christenmensch aus dem Glauben tue. Immer hat man das Gefühl, daß er hier von etwas sekundärem redet. Überzeugend wird Luther erst, wenn er allein vom Glauben spricht. Dasselbe Gefühl hat man bei Pestalozzi, wenn er über Religionsunterricht schreibt. Es ist stets, als schreibe er von etwas, was ihm im letzten Grunde fremd ist: Nie wird seine Sprache hier eindringend und leidenschaftlich. Es wäre aber völlig falsch, daraus den Schluß zu ziehen, er sei der religiösen Menschenbildung gleichgültig gegenüber gestanden. Unsere ganze Darstellung hat das Gegenteil bezeugt. Alle menschliche Bildung gewann bei ihm erst aus der religiösen Fundierung ihren Sinn. Seiner Einstellung zum Religionsunterricht lag eine Erkenntnis zugrunde, die nicht mit Gleichgültigkeit und Indifferenz verwechselt werden kann. Er selbst gesteht einmal: „Was soll der Katechismus, was sollen Grundsätze und Regeln gegen den Eindruck der Dinge ?" Pestalozzi hatte eine tiefe Skepsis gegen alles „Maulbrauchen" in der Religion. Auch viele und gutgemeinte Worte helfen hier nichts. „Mit Worten lehrt kein Mensch den anderen Gott erkennen" hörten wir in der großen Kinderlehre in „Lienhard und Gertrud" den Pfarrer sprechen und nur, wenn „du das Waislein erziehst, wie wenn es einen Vater hätte, so lehrst du es den Vater im Himmel kennen". Anläßlich eines Besuches, den Pestalozzi bei Zeller in Beuggen machte, schrieb Pestalozzi in dessen Stammbuch zur Erinnerung an ihre religiösen Unterredungen die Worte: „Reli-

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gionsunterricht zu geben, ohne die Religionsbildung zu sichern, heißt die Propheten töten und ihre Gräber mit Zieraten überhäufen" l ). Diese Religionsbildung aber, glaubte Pestalozzi, geht nicht aus einer menschlichen Kunst hervor und am allerwenigsten aus bloßen Worten. „Das Leben bildet" ist das einfache Sätzlein, das Pestalozzi nicht müde wurde zu wiederholen, und auf das er auch in religiöser Hinsicht abstellte. Was die Kinder mit dem machen, was sie im Religionsunterricht hören, wird sich erst später, in ganz anderen Situationen, entscheiden. Viel bedeutsamer ist der Umgang, der Verkehr mit ihnen in der Schule und in der Familie. Hier liegt ihr religiöser E r f a h r u n g s k r e i s , in welchem Religionsbildung erst möglich wird. So kann nun gesagt werden, daß die Zurückhaltung, die Pestalozzi gegenüber dem Religionsunterricht übte, ihre letzte Ursache in seiner eigenen religiösen Einstellung hat. Er hegte die Besorgnis, daß aller Religionsunterricht leicht die Meinung entstehen lasse, als sei das Religiöse etwas, das neben dem Leben hergehe, gleichsam als „heilige Musik", die alles Tun des Menschen begleite. Religion ist aber nach Pestalozzi nicht eine „religiöse Provinz" im Gemüte des Menschen, sondern L e b e n s ü b u n g . Leben aber lernt man nur lebend. Es ist nicht ganz so, wie Natorp Pestalozzi zu verstehen suchte, als hätte Pestalozzi sagen wollen „Religion ist das Leben selbst". Pestalozzi verwahrte sich einmal selbst dagegen und meinte, daß es sich von selbst verstehe, daß die Religion keinen Kaufmann, keinen Gelehrten und Künstler mache. Aber sie begründe, entfalte und sichere die Voraussetzungen, unter denen dies alles erst richtig gemacht werden könne. Das Religiöse ist nicht etwas, wie der Ehegaumer Hartknopf in „Lienhard und Gertrud" meint, darüber man streiten kann und in Andacht tändeln, sondern das, was ins Leben hinein will, in alle Gassen und Wohnstuben, um hier verwirklicht zu werden. Nicht hier das Leben und dort die Religion, sondern beides muß in stetiger Wechselbeziehung sein. Nur d a s Leben ist etwas, das vom Religiösen durchleuchtet ist, und nur die Religion taugt etwas, die im Leben drin steht ') V g l . W . J. T h i e r s c h : Christian Hein. (1876).

Zellers Leben B d .

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und sich da bewahrheitet. Die ganze Geschichte von „Lienhard und Gertrud" ist nichts anderes als eine Illustration zu diesem Satz. Erst von hier aus ist Pestalozzis Auffassung vom C h r i s t e n t u m endgültig zu verstehen. Seine innerste Tendenz wird hier sichtbar. Er fühlte vor allem als seine Aufgabe, seinen Zeitgenossen zu bedenken zu geben, daß „das Christentum nicht nur eine L e h r e , sondern auch eine Ü b u n g des L e b e n s ist, was in den Schulen, wie sie jetzt, getrennt von allem Heiligen des häuslichen Lebens in unserer Mitte dastehen, nie recht gelehrt werden kann. Es ist ganz in den Tag hinein geredet, wenn man den wirklichen Mangel des Menschlichen in den Schulen mit dem leeren Maulbrauchen über das Göttliche entschuldigen und bedecken will. Wahrlich, es ist eine Lästerung gegen das Göttliche, seinen Trugschein als einen Freibrief für den Mangel des wirklichen, wesentlich Menschlichen geltend zu machen. Das C h r i s t e n t u m — das w a h r e , ist die v o l l e n d e t s t e L e b e n s s a c h e , die die Welt je aufzuweisen vermag" (XII, 263). Nicht das banale Gerede vom Tatchristentum will Pestalozzi damit eröffnen. Er wußte genau, daß die Tat am wenigsten von denen getan wird, die immer nach ihr schreien. Nein, es ist wieder das Mißtrauen gegen alles Wortmachen, das auch in der christlichen Lehre leider einen so breiten Raum einnimmt. „Ich habe keinen Teil an allem Streit der Menschen über ihre Meinungen" (I, 91) schrieb er im Vorwort zu „Lienhard und Gertrud" und bekundet damit die gleiche Einsicht wie L e s s i n g , der in seinem „Nathan" die drei historisch bedeutsamsten Religionen behandelt und den Schwerpunkt aus dem Lehrbegriff in das Handeln verlegt. Das Christentum als „Übung des Lebens" betrachtet, das will nichts anderes sagen, als daß das Christentum nicht Lehre und Satzung ist, sondern das Tun dessen, was Jesus gesagt hat. Es scheint das so wenig und leicht zu sein und ist in der Tat so viel und so schwer. „Es werden nicht alle, die zu mir sagen Herr, Herr ins Himmelreich kommen, sondern die den Willen tun meines Vaters im Himmel" (Math. 7, 21). Keiner neuen Werkgerechtigkeit ist damit eine Tür geöffnet, denn Pestalozzi war tief durchdrungen von der Erkenntnis, daß das von Wahn und Sünde tief gebeugte Menschengeschlecht eines E r l ö s e r s bedarf, den er in Jesus Christus erkannte. Wohl aber war ihm nur

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das ein Gottesdienst, wenn man den Hungrigen ihr Brot bricht, den Nackten bekleidet und den Elenden in sein Haus aufnimmt. Nur derjenige, der tut, was Jesus gesagt hat, wird nach Pestalozzi erkennen, ob die Lehre, die Jesus verkündet, von Gott ist oder nicht. Das ist der Glaube und das Wesen von Pestalozzis Religiosität. So wendet sich sein Werk zuletzt direkt an uns selber. E s ist und bleibt unverstanden, solange es nur historisch betrachtet wird. Als Ruf zur Besinnung, als Warnung und Hinweis auf die Not unserer Brüder steht es heute noch, wie vor hundert Jahren, vor uns. Es enthält keine Zeile, die nicht davon zeugt. Pestalozzi hat für diese Erkenntnis sein Leben geopfert. Das Schicksal seines Lebens hat ihn, nach seinem eigenen Zeugnis, tiefer erniedrigt als wenige Menschen es wurden. E r selber war in eine bis „zur Wut treibende, äußerste Armut" verwickelt. „Die Notdurft des Lebens mangelte" ihm, der „tausendmal kein Mittagessen vermochte und in einer Stunde, da fast alle Armen an ihren Tischen aßen, ein Stück Brot mit Wut auf den Straßen verzehrte". Glück, Gesundheit, Wohlstand seiner Familie, alles, alles hat er geopfert mit einer Lauterkeit und Reinheit des Herzens ohnegleichen. Und doch stand er am Ende des Lebens als Tor und Narr verlacht, mit zerrissenem Herzen und gebrochenem Gemüt auf den Trümmern seines Lebenswerkes. Für seine Brüder hatte er es getan, aber roh war alles zermalmt worden. Das macht seinen Lebensgang unmittelbar zu einer Tragödie. Äußerlich ist in diesem Leben alles zerbrochen; aber inmitten dieser Verzweiflung und Bitternis glühte seine Siegesgewißheit.

Literaturangabe. Biber E.: Beitrag zur Biographie H. Pestalozzis 1827 Blochmann K. J.: H. Pestalozzi, Züge aus dem Bilde seines Lebens 1841 Burkhart K. F. C.: War H. Pestalozzi ein Ungläubiger? 1841 Cordier L.: Die relig.-philos. Hauptprobleme bei H. Pestalozzi 1910 Debes Hermann: Das Christentum Pestalozzis 1880 Dreist Κ. Α.: Gottesverehrungen im Betsaale zu Herten 1812 Heer J. J.: Das Wesen d. Pestalozzischen Methode als Grundlage einer christl. Erziehung 1870

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W. N i g g , Das religiöse Moment bei Pestalozzi.

Heubaum Alfred: Heinrich Pestalozzi 1910 Huber Fritz: Heinrich Pestalozzi ( X X V I . Aarauerkonferenz) 1922 Hflrlimann M.: Die Aufklärung in Zürich 1924 Israel: Pestalozzi Bibliographie 3 Bde. 1903/04 Über Pestalozzis Verhältnis zur Religion 1898 Leser H.: Pestalozzi, seine Ideen in systematischer Würdigung 1908 Luible Α.: Pestalozzi und Jean Paul 1912 Mann Fried.: J . H. Pestalozzis Leben und Wirken 1892 Morf: Zur Biographie Pestalozzis 4 Bde. 1868—89 Mörikofer: Die Schweiz. Literatur des 18. Jahrh. 1861 Muthesius K . : Goethe und Pestalozzi 1908 Natorp Paul: Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik 1907 Pestalozzi, sein Leben und seine Ideen 1919 Der Idealismus Pestalozzis 1919 J . H. Pestalozzis Leben und Wirken 1905 Nicolay Wilhelm: Pestalozzis Stellung zu Religion und Religionsunterricht 1920 Pestalozzi H.: Sämtliche Werke (Seyffarth) 20 Bde. 1869—73 Pestalozzi in seinen Briefen (Herausg. v. Schohaus) 1924 Pestalozzis bis dahin unedierte Briefe 1834 Pfleger Rudolf: Pestalozzi als Christ 2 Bde. 1910/11 Ramsauer Joh.: Kurze Skizze meines pädagogischen Lebens 1838 Raumer v. K . : Geschichte der Pädagogik 2. Bd. 1843 (S. 287—394) Rost Wilhelm: Pestalozzis „Lienhard und Gertrud" Vergleichende Darstellung der 3 Ausgaben 1909 Rothenberger Ch.: Pestalozzi als Philosoph 1898 Schäfer Wilhelm: Lebenstag eines Menschenfreundes (Roman) 1921 Scherrer Wilhelm: Pestalozzis religiöse Entwicklung 1912 Schmid Κ . Α.: Geschichte der Erziehung 4, 2 Bd. 1898 (S. 503—636) Schneider K . : Rousseau und Pestalozzi 1873 Seyffarth L. W.: J . H. Pestalozzi 1876 Stettbacher: Beiträge zur Kenntnis der Moralpädagogik Pestalozzis 1912 Uphues G.: Sokrates und Pestalozzi 1896 Vogel Paul: Fichtes phil.-päd. Ansichten in ihrem Verhältnis zu Pestalozzi 1907 Wernle Paul: Der Schweiz. Protestantismus im 18. Jahrh. 2. Bd. 1924 Pestalozzi und die Religion (Sonntagsblatt d. Basler Nachrichten 1916 Nr. 4, 5, 6) Wiget Th.: Grundlinien der Erziehungslehre Pestalozzis 19x4 Pestalozzi und Herbart 1891 -Ziegler: Geschichte der Pädagogik 1895 (S. 273—281)

Die stadtzürcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis. Von

Emil Eidenbenz-Pestalozzi. Die Biographen bedeutender Männer unterlassen es wohl selten, den Vorfahren ihrer Helden nachzuspüren, ihre körperlichen und geistigen Eigenschaften, wie ihre Stellung zu ihrer nähern und weitern Umgebung zu studieren, als Gaben, die dem Kind, Enkel und Urenkel von seinen Ahnen in die Wiege gelegt worden sind, sei es nun zu seinem Glück oder zu seinem Unglück. In den meisten Fällen werden aber nur die väterlichen Vorfahren, die Träger des Familiennamens weiter zurück verfolgt, der Stammütter und ihrer Väter wird seltener gedacht. In England erhalten viele Knaben den Familiennamen ihrer Großmutter als Taufnamen; man will die Erinnerung an die StammMütter in ihnen wach erhalten und den Zusammenhang mit der mütterlichen Verwandtschaft festhalten. Die Ahnenproben, die früher von den Adligen zur Aufnahme in gewisse Orden oder zur Bekleidung höherer Ämter gefordert wurden, sind außer Gebrauch gekommen; und es ist nicht schade darum, wenn die Ahnenforschung nur dazu diente, dem Probenden Vorzüge vor seinen Mitmenschen zu verschaffen, die er sich nicht selbst erworben. Die neuere Familienforschung ist zur Aufstellung von Ahnentafeln zurückgekehrt in der Überzeugung, daß der Mensch gleichermaßen von Vater und Mutter gute und böse Eigenschaften, Segen und Unsegen mit ins Leben hinausnimmt, daß die Kenntnis von den Vorfahren ihn nicht nur stolz, sondern auch bescheiden machen, ihn nicht nur anspornen, sondern auch warnen kann. Für einen Genealogen bietet jede Ahnentafel Interesse, sobald sie nicht nur leere Namen trägt, sondern auch auf Lebensdauer und soziale Stellung der Vorfahren hinweist. Zu einem Genuß kann diese Betrachtung werden, wenn wir

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Emil

Eidenbenz-Pestalozzi,

wirklich in den Ahnen Eigenschaften wiederfinden, die der Enkel in hervorragendem Maß besaß oder besitzt, wenn wir sehen, wie seine soziale Stellung nicht nur durch seine nächste Umgebung und äußere Einflüsse bedingt war, sondern schon durch die Verbindung seiner Eltern und Großeltern, ja vielleicht noch weit früher in glückliche oder unglückliche Bahnen gelenkt wurde. Eine Ahnentafel kann uns Aufschlüsse über Verkettungen geben, unter denen der Proband vielleicht litt oder die ihn aus seiner Umgebung heraushoben, ohne daß ihm selbst die Ursachen bekannt waren. Das Studium erfordert eine gewisse Kombinationsgabe; daß es nicht zu Trugschlüssen führe, hat der Genealoge durch Herbeiziehung weiteren Materials zu vermeiden. Die Veranlassung zur vorliegenden Arbeit war das Erscheinen eines Aufsatzes in einer italienischen pädagogischen Zeitschrift »über die Italianität Heinrich Pestalozzis«. Wenn der Verfasser, dem einige, seither von Herrn cand.jur.Hans Pestalozzi richtiggestellte Irrtümer mit unterlaufen sind, stolz darauf ist, daß der berühmte Pädagoge einen italienischen Namen trägt und daß seine Vorfahren am Comersee gelebt haben, so wollen wir ihm diese Freude gern lassen, und wenn infolgedessen die italienischen Lehrer eifrig Heinrich Pestalozzi studieren und dies der Schuljugend unseres Nachbarlandes zugute kommt, so wollen wir uns dessen herzlich freuen. Mich hat zuerst die Frage gelockt, wie stark der italienische Einschlag in Pestalozzis Blut zu werten ist, und das führte mich dazu, die Ahnentafel wenigstens seines Vaters aufzustellen. Auch den Ahnen mütterlicherseits nachzuforschen, dazu reichte die Zeit nicht; meine Aufgabe für die vorliegende Arbeit sei daher, zu untersuchen, was die Vaterstadt Heinrich Pestalozzi als Erbgut mitgegeben hat, und nur kurz auf den ländlichen Einschlag hinzuweisen, der in späteren Jahren seine innere Loslösung von der Vaterstadt mitbewirkt hat. Die zuverlässigen Stammtafeln der zürcherischen Genealogen Dürsteier und Hofmeister und insbesondere die prächtigen Arbeiten C. C. Keller-Eschers ermöglichten es, in kurzer Zeit die Vorfahren Pestalozzis bis zur siebenten Generation mit zwei kleinen Lücken festzustellen. Weitere Aufschlüsse geben mir das Familienbuch der Familie Pestalozzi, die Studie über die Familie Pestalozzi von Dr. Emil Pestalozzi-Pfyffer und, neben

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Die stadtzttrcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

Leus helvetischem Lexikon, das hist. Biographische Lexikon der Schweiz. Die beiden Lücken in der 7. Generation auszufüllen, hätte zu langwierigen und wahrscheinlich resultatlosen Kirchenbücherforschungen geführt; sie sind zudem nicht von Belang. Die vorliegende Tafel zeigt uns auf den ersten Blick eine Gruppierung der Vorfahren Pestalozzis in zwei ganz verschiedenen Welten, die von der Reformation, ja eigentlich schon Jahrhunderte lang vorher, und bis ins 19. Jahrhundert hinein, in den Mauern Zürichs ihr Dasein führten; eine bürgerliche und eine geistliche, beide einander tragend und fördernd; stolz und mit Macht ausgerüstet die eine, gerne sich sonnend im Glanz, den die stillere Schwester auf sie warf: die regimentsfähige Stadtburgerschaft. Bescheiden, nicht den Rang eines geistlichen Fürstentums oder einer Universität einnehmend, in ihrer äußern und innern Entwicklung stabil, wie der Staat, der sie bevormundete, und doch den Namen Zürichs immer wieder weit über die Grenzen der Schweiz hinaustragend, die andere: das Stift zum Großen Münster. Und an die erste dieser Gruppen drängt sich nun, Aufnahme heischend, die Familie Pestalozzi heran. Die Zeit, da ein Fremdling, auf der Wanderschaft nach Zürich gekommen, durch ein gutes Geschäft oder zwei schöne Augen, oder durch beides festgehalten, sich niederlassen, das Bürgerrecht erwerben und zu Amt und Ehren kommen konnte, neigte sich schon ihrem Ende zu, und Zürichs Bürgerschaft begann ihre Regimentsfähigkeit als kostbares Erbe für ihre Söhne zu reservieren, als im Jahre 1550 Andreas Pestalozza in Chiavenna seinen 13 jährigen Sohn Johann Anton (1537—1604) dem Landvogt von Waedenswil, Bernhard von Cham, dem spätem Bürgermeister, tauschweise gegen dessen Sohn Bernhard, zur weitern Ausbildung übergab. Die Pestalozza, deren früheste Spuren sich in Gravedona am Comersee nachweisen lassen, sollen sich 1292 in Chiavenna angesiedelt haben. Sie zählten zum Adel, waren, wenn wir den Stammbäumen Glauben schenken dürfen, sehr zahlreich, reich begütert und an den Handelsgeschäften beteiligt, die das am Ausgang zweier wichtiger Bündner Pässe liegende Chiavenna trieb. Offenbar hatte sich Andreas Pestalozza der evangelischen Lehre zugewandt, während andere Glieder des Geschlechtes katholisch gebheben waren. Ob sein Pestalozzi-Studien I.

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Eidenbenz-Pestalozzi,

Sohn in Zürich die höheren Schulen besuchte oder ob er in einem Handelsgeschäft tätig war, ist nicht bekannt; das letztere ist zu vermuten, denn Anton Pestalozza blieb in Zürich und verheiratete sich 1561 mit Anna Gessner, Tochter von Heinrich Gessner und Anna Hildbrand, Enkelin des Zunftmeisters zur Saffran Andreas Gessner, der 1504 von Solothurn in Zürich eingewandert war. Im Jahre 1567 erwarb Anton Pestalozza das Burgerrecht der Stadt Zürich. Sehr eilig hatte es der Rat mit der Bürgeraufnahme nicht, denn ein am 2. August 1566 ausgestelltes Zeugnis des Burgermeisters und Rates von Chiavenna, das seine legitime Abkunft und seinen alten Adel bezeugte, scheint nicht genügt zu haben; eine Empfehlung der Ratsboten gemeiner drei Bünde, dat. Chur, den 16. Januar 1567, verlieh dem Gesuch Nachdruck, und am 25. März 1567 wurde der Petent, »von seiner ehrlichen Eltern wegen, auch in Ansehen der drei Pündten schriftlicher Fürbitt und seines Schwähervaters Mr. Andreas Gessner zu Ehren« um 20 fl. Rheinisch bedingungslos zum Bürger aufgenommen. Anna Gessner starb schon nach 10 jähriger Ehe im Jahre 1671, die sieben Kinder, die sie ihrem Gatten geschenkt hatte, sind alle früh gestorben. Im Jahre 1572 vermählte sich Anton Pestalozza zum zweiten Mal mit Susanna Verzasca, der Tochter des Franziscus Verzasca und der Catharina Orella, und damit trat er in verwandtschaftliche Beziehungen zu den um ihres Glaubens willen vertriebenen Locarnern, die 1655 in Zürich Aufnahme gefunden hatten. Die zweite Gattin starb jedoch schon im folgenden Jahre, nachdem sie einem Sohn Franziscus das Leben geschenkt hatte. Dieser Franziscus ist der Stammvater der älteren Linie der Familie Pestalozzi, die im Jahre 1802 mit Herrn Johann Jakob Pestalozzi zum Thalhof ausgestorben ist. Durch seine dritte Verheiratung mit Magdalena Muralt im Jahre 1578 ward Anton Pestalozza ein dauerndes Eheglück bescheert, obschon auch dieser Gattin von den elf Kindern, die sie gebar, sechs durch einen frühen Tod entrissen wurden. Magdalena Muralt war die Tochter des Dr. jur. Martin Muralt, des Hauptes der vertriebenen Locarner, und der Lucia Orella. Dadurch wurde die Verbindung mit den Locarnern, die eine eigene Gemeinde mit italienischem Gottesdienst bildeten, noch viel enger; er zählte sich wohl mit seiner Familie ganz zu dieser

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Gemeinde, die sich erst im Jahre seines Todes, 1604, auflöste, als von den ursprünglich eingewanderten nur noch drei am Leben waren. So entstand die heute noch vielfach verbreitete, irrtümliche Anschauung, daß die Pestalozzi zu jenen um ihres Glaubens willen vertriebenen Tessiner Refugianten gehören. Auch in Geschäftsverbindung trat Anton Pestalozza, oder, wie sein Name nun in Zürich ausgesprochen und geschrieben wurde, Antoni Pestaluz, mit den Locarnern; wir sehen ihn als »Gmeinder«, d. h. Associe mit Lorenz Pebia, der mit dem Herzogtum Mailand Handel trieb, und »Tüechli, Zwilchen und Winterthurerschnüer« exportierte. Bekannt ist, daß die Locarner die Seidenfabrikation in Zürich einführten und daß angesehene Zürcher Geschlechter, wie ζ. B. die Werdmüller, sich gern die Kenntnisse der Eingewanderten zur Ausdehnung ihre Handelsbeziehungen nutzbar machten. Auch auf den Geschäften von Anton Pestalozza scheint ein Segen geruht zu haben; offenbar hat er sich eine angesehene gesellschaftliche Stellung errungen, denn wir sehen seine Kinder mit den ersten Familien Zürichs verschwägert. Susanna Verzascas Sohn, Franziscus, war mit Margaretha Keller, der Tochter des Bürgermeisters Johannes Keller und der Margaretha Waser, verheiratet; die Töchter zweiter Ehe heirateten in die Familien Holzhalb, Rahn und Bodmer. Die Nachkommen des jüngeren Sohnes, Joh. Anton Pestaluz-Schwyzer, wanderten zum Teil nach Holland aus, zum Teil erlosch ihre Branche zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Der ältere Sohn, Andreas Pestaluz (1581 bis 1646), verehelichte sich 1609 mit Anna Heidegger, der Tochter des Eisenkrämers und Ratsherrn Hs. Conrad Heidegger; er ist der Stammvater des ganzen, heute noch blühenden Geschlechtes. Sein ä l t e s t e r Sohn, Andreas Pestaluz-Hartmann, begründete die 1731 ausgestorbene Linie in der Fröschau, aus der das sog. Pestaluzenstück im Landesmuseum in Zürich stammt. Von einem j ü n g e r e n Sohn, Joh. Rudolf Pestaluz-Müller, stammt die Linie zum Mohrenkönig, ein schwacher Seitenzweig, an dem sich nun mächtig ausbreitenden Stammbaum, vom Glück wenig begünstigt, ja, durch ein widriges Schicksal der Vaterstadt zeitweise entrückt, bis er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Rudolf Alexander Pestalozzi wieder bleibend nach Zürich versetzt wurde und in der Familie der Pestalozzi auf dem Münsterhof zu neuer Blüte gelangte. Der mittlere Sohn, Joh. 10»

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Conrad Pestaluz (1616—1686), war — menschlich gesprochen — ein reich gesegneter Mann, der Ahnherr eines zahlreichen und angesehenen Geschlechtes, durch Seidenhandel vermöglich geworden und durch seine Verbindung mit Regula Rahn, der Tochter des Bürgermeisters Hs. Heinrich Rahn und der Ursula Escher, mit den angesehensten Familien der Stadt versippt. E s fällt uns auf, daß es auch diesem reichen Kaufmann ebensowenig wie seinem Vater und seinem Großvater gelang, durch die Wahl zum Zwölfer in den Großen Rat und damit ins Regiment zu kommen. Dem standen zwei Umstände entgegen. In erster Linie die Abneigung der Zürcher, das Regiment mit neuen Geschlechtern zu teilen. Joh. Anton, der Stammvater, hatte zwar das regimentsfähige Bürgerrecht erhalten, während die Locarner nur bedingt, d. h. auf alle Zeiten vom Rate ausgeschlossen, ins Burgerrecht aufgenommen worden waren. Die Muralt erlangten erst 1678, die Orelli 1679 die Regimentsfähigkeit, als auch sie schon längst mit den angesehensten Geschlechtern verschwägert waren. Ein weiterer Grund lag in der Zugehörigkeit der Pestaluzen zur Zunft zur Saffran. Diese war weitaus die stärkste Zunft, 1788 dreimal so stark als die kleinste, die Zunft zur Gerwe; aber auch sie hatte für ihre etwa 300 Zünfter nur 1 2 Sitze im Großen Rat zu vergeben. Dazu kam, daß die Zwölfer nicht von gemeiner Zunft erwählt, sondern bei Vakanzen durch die Ratsmitglieder der betreffenden Zunft durch Kooptation ergänzt wurden. Wer also unter den Vorgesetzten der Zunft nicht nahe Verwandte oder gute Freunde hatte, besaß wenig Aussicht, in den Rat zu gelangen. Nun waren zwar die Gessner zu Saffran zünftig; aber der frühe Tod der ersten Gattin und die spätere verwandtschaftliche Verbindung mit den Locarnern traten wohl bei einer Zwölferwahl Joh. Anton hindernd in den Weg. Die Heidegger waren zur Schmiden, die Rahn zum Widder zünftig; so hatten Andreas und Hans Conrad von Schwiegervätern und Schwägern keine Unterstützung zu gewärtigen. Aber es gab ein Mittel, aus dieser Verlegenheit herauszukommen. Man wechselte die Zunft, d. h. man zog von Constaffel und Saffran auf die kleinen Handwerkerzünfte, die eher Mangel an gebildeten und vermöglichen Zünftern hatten. Dann war die Aussicht auf eine Wahl in den Rat größer, wenngleich diesen Uberläufern eine Karenzzeit von 15 Jahren auferlegt war. So schickten die Väter zahlreicher Söhne häufig

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einige derselben auf andere Zünfte, ζ. B. die Schuhmachern, die Meise, die Gerwe oder das Kämbel. Diesen Zunftwechsel von Saffran auf andere Zünfte finden wir bei den Schulthess, den Ott, den Römer und andern Familien, und diesen Weg betrat nun auch Hans Conrad Pestaluz. Von seinen vier Söhnen blieb der älteste Hans Heinrich, der Urgroßvater Heinrich Pestalozzis auf der Zunft, der zweite, Rudolf, der das väterliche Haus zum weißen Turm übernahm, zog auf die Schuhmachern, der dritte, Hans Conrad Pestaluz zum Brünneli, blieb wiederum bei Saffran, und der jüngste, Hans Jakob, zog auf die Meisen. Aber keinem dieser Söhne glückte es, in den Rat zu gelangen; die Linie zum roten Turm starb 1802 aus, der jüngste Bruder, Hans Rudolf, starb kinderlos, und erst einem Sohne von Hans Conrad, Hans Jakob Pestaluz zum Steinbock, gelang es, als Zwölfer zur Meisen, also wiederum nach einem Zunftwechsel, 1767, ins Regiment zu kommen. Hans Heinrich Pestaluz (1649—1701) betrieb mit seinen Brüdern das väterliche Seidengeschäft in Zürich und Bergamo. Auch er hatte durch seine zwei Ehen Beziehungen zu angesehenen Familien. Seine erste Verbindung mit Regula Werdmüller, der Schwester des Generals Felix Werdmüller, löste der Tod der Gattin nach zwei Jahren. Im Jahre 1682 vermählte er sich wieder mit Ursula Holzhalb (t 1725). Sie war die Tochter des verstorbenen Obersten und Amtmanns in Rüti, Dietegen Holzhalb-Hirzel, eines Sohnes des Landvogts Leonhard Holzhalb in Sax und Enkels des Bürgermeisters Heinrich Holzhalb. Seinen bündnerischen Taufnamen hatte Dietegen Holzhalb aus der Familie seiner Mutter Violanda von Hartmannis, deren feierlichen Einzug in Zürich Herr Dr. Corrodi-Sulzer im Zürcher Taschenbuch für 1927 beschreibt. Der Vater dieser Violanda von Hartmannis, Dietegen, war Offizier in französischen Diensten und Vicari, d. h. Gerichtsbeamter im Veltlin gewesen. Er selbst stammte aus Parpan; ob seine Gattin, deren Name unbekannt ist, aus einem italienisch sprechenden Bündner Tal stammte, ist ungewiß. Möglich wäre es aber, daß von dieser Seite noch etwas italienisches Blut auf den Pädagogen gekommen ist. Mütterlicherseits stammte Ursula Holzhalb von dem Bürgermeister Salomon Hirzel ab (1580—1652), einem der bedeutendsten Staatsmänner des alten Zürich, den man mit Fug und Recht

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Emil Eidenbenz-Pestalozzi,

einen der Stammväter Zürichs nennen kann. Seine Söhne und Töchter haben eine so zahlreiche Nachkommenschaft hinterlassen, daß man immer wieder auf das Ehepaar Hirzel-Keller stößt, wenn man den Vorfahren eines Zürchers nachgeht. 136 Kinder und Kindeskinder hat er selbst erlebt. Daß auch er es verstand, seinen Einfluß zugunsten seiner Söhne geltend zu machen, wird durch folgende Stelle in einer kurzen Lebensbeschreibung aus der Feder seines Sohnes Salomon erhärtet: »All Sechs Söhn sind by synen läbzythen in das Regiment, und syn Sohn Salomon auch in den kleinen Rath befürderet worden: zween Tochtermenner warend auch neben Ihme des kleinen Raths, auch noch zween Hirtzel syne Vetteren, dessglychen Jkr. Hs. Conrad Grebel, syn Tochtermann, und Hans Caspar Hirtzel, syn Sohn, warend by synem Laben zu einer Zyth Ratssubstitut, besassend hiemit auch den täglichen Rath: Also war der Herr sei. zu einer Zyt sambt synen Vetteren und Söhnen selbs fünft und mit den Tochtermenneren selbs acht in dem kleinen Rath. Auch hat er noch erlebt, daß ein Sohns-Tochtermann mit nammen Herr Hans Bernhard Holzhalb in den kleinen Rath befürderet worden: welches auch ein sonderbarer Segen Gottes, und dem Herrn sei. zu großen Ehren gedienet, wie nit weniger diss, daß er sambt synen sechs Söhnen und noch vier geschlechts-verwandten uff ein Zyt in dem großen Rath (und darzu etliche Jahr lang) gewessen, derglychen Ehr auch nit vil Geschlechteren in der Stadt Zürich widerfahren.« So schien der Lebensweg für Hs. Heinrich Pestaluz und seine Kinder geebnet, als er im Jahre 1701, erst 52 jährig, dahingerafft wurde. Sein Tod bedeutete eine Katastrophe für seine Familie. Die Gattin überlebte ihn um 24 Jahre. An ihrer Familie wird sie kaum eine nachhaltige Stütze gefunden haben. Ihr Vater war ja längst gestorben, und ihre Brüder erlebten nicht ohne eigene Schuld den Niedergang dieses Zweiges der Familie Holzhalb. Ihre einzige Tochter aber reichte im selben Jahre, erst I7jährig, dem Bäckermeister Bernhard Usteri die Hand zum Ehebunde. Wir haben leider Grund, anzunehmen, daß das arme Kind nicht einer Neigung folgen durfte, sondern daß diese Ehe das Resultat wohlgemeinter verwandtschaftlicher Fürsorge war. Sie fiel denn auch unglücklich aus und wurde nach wenigen Jahren geschieden. Auch eine zweite, 1709 geschlossene, Ehe mit dem Zuckerbäcker Hans Georg Wolf war nicht vom Glück

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begünstigt, denn der Gatte begab sich in venetianische Dienste und starb 1 7 1 6 als Leutnant in Venedig, seiner Frau drei Kinder hinterlassend. Hans Heinrichs ältester Sohn Hans Conrad, scheint als Angestellter im vaterlichen Geschäft zum „Briinneli" geblieben zu sein; er war ledig und kam in spätem Jahren auf Abwege, so daß ihn das um jene Zeit entstandene Familienbuch ignoriert. Der zweite Sohn Heinrich starb ein Jahr nach seinem Vater, achtzehnjährig, der jüngste Andreas Pestaluz, geb. 1693, ergriff das Studium der Theologie, ob aus Neigung oder als standesgemäße Versorgung, müssen wir dahingestellt sein lassen. Aber er verschloß damit, ohne es zu ahnen, auch seinen Nachkommen die Laufbahn, in der seine Vorfahren sich bewegt hatten und der seine Vettern mit wachsendem Erfolg treu blieben. Für das väterliche Geschäft gab es der Anwärter genug, und für die politische Karriere fehlte es an Protektion. Im Jahre 1707 trat der Vierzehnjährige in die Schola Carolina ein, und schon als Zwanzigjähriger empfing er die Ordination. Den jungen Zürcher Geistlichen war in der Regel eine lange Wartezeit beschieden, bis sie zu einer Pfarrstelle gelangten. Söhne vermöglicher Eltern leisteten sich eine Studienreise; wer auf Verdienst angewiesen war, konnte sein Brot als Hauslehrer in der Familie eines Landvogts oder Gerichtsherrn, als Reisebegleiter, als Katechet und dergleichen finden. Andreas Pestaluz glückte es, eine Stelle als Vikar an der II. Klasse der lateinischen Schule am Großmünster zu erhalten, und damit trat er in den Bereich des Chorherrenstiftes, in dessen immerhin nicht kleinem Wirkungsgebiet sich ihm nun eine gesicherte Laufbahn zu eröffnen schien. 1 7 1 5 verheiratete er sich mit Dorothea Ott, der Tochter des Archidiakons Joh. Baptist Ott, und 1716 ward er zum Pfarrer gen Schwamendingen, der Filialgemeinde des Großmünsters, ernannt. Das Chorherrenstift zum Großen Münster, kurzweg die S t i f t genannt, war zur Reformationszeit nicht wie die andern Stifte und Klöster im Gebiete der Stadt säkularisiert, sondern nach einigen organisatorischen Änderungen von neuem in den Dienst der Kirche und der Schule gestellt worden. Wir müssen zum näheren Verständnis des Folgenden etwas auf diese Organisation eingehen. Die Zahl der Chorherren war von 24 auf 8 reduziert, 1 5 7 1 wieder auf 10 erhöht worden. Die Hälfte dieser Chor-

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herrenpfründen wurde von Rat und Bürgern besetzt und diente der Kirche und der Verwaltung, nämlich die Stelle des obersten Pfarrers oder Antistes, des ersten und zweiten Archidiakons, des Verwalters und des Pfarrers bei Predigern. Im Nebenamt waren die Archidiakonen auch in der Schule tätig. Die fünf andern Pfründen, unter Bestätigung des Rates von den Obersten Schulherren, d. h. den Pflegern und dem Konvent, besetzt, umfaßten die Professuren des Alten und Neuen Testaments, der Logik, der griechischen Sprache und der Naturwissenschaften. Dazu kamen die kleinen Professuren, von den obersten Schulherren besetzt, die Professorenstellen am Collegium humanitatis, die Stellen der Provisoren und Präzeptoren der oberen und unteren lateinischen Schule usw. Außerdem aber besaß die Stift die Kollaturen der Filialen und des Diakonats und der Leutpriesterei des Großmünsters und einiger anderer Landgemeinden, nämlich Zollikon, Albisrieden, Schwamendingen, Wytikon, Zumikon, Wipkingen, Seebach, Dällikon, Dietükon und Rorbas. Die Pfarrer dieser Dörfer wurden von verschiedenartig zusammengesetzten Wahlbehörden ernannt, in denen die Chorherren die Mehrheit hatten; Wipkingen und Zumikon besetzte der Antistes allein. Es ist verständlich, daß der Konvent bei der Besetzung der untern Lehrstellen begabte Schüler des Collegium Carolinum nachzog und sie dann in die Professuren und schließlich in die Chorherrenpfründen vorrücken ließ. Es ist menschlich, daß die Chorherren bei Vakanzen in den kleinen Pfarreien um die Stadt zuerst an ihre Söhne und Schwiegersöhne dachten und von der Gelegenheit, diese zu versorgen, ausgiebig Gebrauch machten. Bei den höheren Pfarrstellen griff dann etwa der Große Rat ausgleichend ein und berücksichtigte auch Geistliche, die vorher nicht dem Machtbereich der Stift angehört hatten. Von den 1 8 Antistites von Bullinger bis Gessner haben nur 7 vorher Chorherrenpfründen innegehabt; auch ist bezeugt, daß der Rat das Kollaturrecht für die Helferstelle zum Silberschild wiederholt an sich zu bringen suchte, wohl nicht nur, um einem Unfug zu steuern, sondern um seine eigenen Kompetenzen zu vermehren. Denn der Kandidaten für die zu vergebenden Pfarrstellen, deren Kollatur dem Rate zustand, waren viele, und bei einer Vakanz hatten die Exspektanten Eile, sich bei den Ratsherren, die, wie Antistes Finsler sagt, um ihre Stimmen gebeten sein wollten, zu empfehlen.

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Für eine Reihe von Pfarreien besaß der Rat nur das Präsentationsrecht, d. h. er durfte einen Dreiervorschlag machen, die Kollatur aber stand dem Rechtsnachfolger früherer Grundherren zu, ζ. B. dem Bischof von Konstanz, den Äbten von St. Gallen, Einsiedeln, Wettingen, St. Blasien usw., oder den Gerichtsherren, wie ζ. B. den Breitenlandenberg. So ist es begreiflich, daß die von der Stift zu vergebenden Stellen als bevorzugte, ja als Sprungbretter zu höheren Pfründen galten; und wie die Ratsherren bei Verleihung von Würden und Ämtern für ihre Söhne zuerst sorgten, so triebens die ehrwürdigen Väter »auf der Chorherren« gleichermaßen. So hatte also Andreas Pestaluz das Glück, als Schwiegersohn des Archidiakons früher als viele seiner Amtsgenossen eine Pfründe zu erhalten, und es verwundert uns nicht, wenn wir sehen, daß die Ahnen seiner Gattin durch mehrere Generationen hindurch Angehörige der Stift sind, um sich erst in der fünften Generation oder noch später im zürcherischen Handwerkerstand zu verlieren. Verfolgen wir zuerst einmal die Familie Ott. Ein altes Handwerkergeschlecht, tritt sie kurz vor der Reformation aus dem Dunkel der Vergangenheit. Der Färberberuf, dem sie durch zwölf Generationen hindurch huldigt (ein Zweig übte ihn bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aus), gibt dem ehemaligen Hause der Ritter Müllner auf dem Münsterhofe den Namen ,,zur Färb". Ein schwacher älterer Seitenast huldigt dem Krämerstand bis um die Wende des 17. Jahrhunderts. Ein stärkerer jüngerer Ast ergreift den Gastwirtsberuf und steht in der Familie der Ott zum Schwert in Ansehen, um dann im 19. Jahrhundert durch Auswanderung seiner letzten Glieder nach Amerika der Vaterstadt verloren zu gehen. Der Hauptast, die Nachkommen des Färbers Hans Heinrich Ott-Lichtenstein, teilt sich in mehrere Linien, wovon die jüngste, bekannt als die Ott zur Engelburg, durch glückliche Handelsgeschäfte und vornehme Alliancen zu hoher gesellschaftlicher Stellung gelangt, heute noch blüht. Die mittlere war in der Hauptsache dem angestammten Färberberuf treu geblieben und zum Teil zur Beamtenlaufbahn übergegangen und besaß in Bürgermeister Heinrich Ott ihren hervorragendsten Vertreter. In der ältesten Linie endlich finden wir drei Theologen. Von dem ältesten derselben, Hans Heinrich Ott, in erster Ehe

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Emil

Eidenbenz-Pestalozzi,

vermählt mit Barbara von Birch, ist wenig zu sagen. Er erhielt schon im Jahre seiner Ordination, 1611, die Pfarrei Wipkingen, siedelte aber im folgenden Jahr nach Wetzikon über, acht Jahre später nach Dättlikon.und 1634 schließlich nach Henggart, wo er starb. Ihm war das Avancement an der Stift nicht geglückt, wohl aber seinen Söhnen Hans Heinrich und Hans Rudolf, der es nach dem Tode des älteren Bruders bis zur Chorherrenpfründe brachte. Hans Heinrich Ott (1617—82), der als Sohn eines Landpfarrers in Zürich die höheren Schulen besuchte, hatte das Glück, bei trefflichen Lehrern, u. a. dem Chorherrn Engeler und dem Antistes Breitinger, in Kost zu stehen. Später war es ihm vergönnt, seine Studien in Lausanne und Genf fortzusetzen und im Jahre 1638 mit seinem späteren Amtsgenossen Hottinger Frankreich und Holland zu bereisen. An diese Reise schloß sich ein längerer Aufenthalt in Groningen und Amsterdam zum Studium der morgenländischen Sprachen und später nochmals eine Reise mit Hottinger nach England. 1641 kehrte er nach Zürich zurück, ward ordiniert und erhielt die Filiale Zumikon, zwei Jahre später die Pfarrei Dietlikon, die er ebenfalls von Zürich aus besorgen konnte, daneben war er als Bibliothekar und Archivar tätig. 1651 rückte er zum Professor der Beredsamkeit am Carolinum vor, und 1665 erhielt er die Professur für Hebräisch am Collegium humanitatis. Er scheint bei Besetzung der Professuren mehrmals übergangen worden zu sein, und erst als er 1668 Professor der Kirchengeschichte ward, konnte er das beschwerliche Pfarramt aufgeben. Seine zweite Gattin war die Tochter des verstorbenen Professors Hs. Rudolf Brunner und Enkelin des Archidiakons Caspar Murer, eines Sohnes des bekannten Malers und Glasmalers Jos. Murer. Heinrich Otts Sohn, Johann Baptist, 1661—1744, hat nach seiner Ordination ebenfalls längere Zeit in Genf studiert. Nach Zürich zurückgekehrt, beschäftigte er sich auf der Stadtbibliothek und als Katechet in Enge, und erst 1690 erhielt er das Diakonat zu Stein, im folgenden Jahre die Pfarrei Zollikon, neben der er die Lehrstelle für die hebräische Sprache bekleidete. 1706 rückte er zum Leutpriester am Großmünster, 1715 zum II. Archidiakon vor und kam zweimal, 1713 nach dem Tode Klinglers und 1718 nach dem Hinschied Zellers, bei der Antisteswahl in den engen Vorschlag, unterlag aber auch das zweite Mal gegenüber dem Pfarrer vom St. Peter, Ludwig Nüscheler,

Die stadtziircherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

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dessen Stellvertreter er von 1 7 3 1 bis 1737 war. Bei einer Vakanz, des I. Archidiakonats im Jahre 1729 war ihm vielleicht neben seinem vorgerückten Alter seine unglückliche zweite Ehe und nachherige Scheidung im Avancement hinderlich; nach Nüschelers Tode kam er nicht einmal mehr in den engeren Vorschlag, und der I. Archidiakon Wirz wurde Antistes. Heinrich Pestalozzi hat selbst auf die Ähnlichkeit seines Charakters mit dem seines Urgroßvaters Johann Baptist Ott hingewiesen. Ein bis ins Greisenalter heiteres Gemüt, schlagfertiger Witz und ein sorgloser Sinn zeichneten diesen aus. Alexander Nuesch beschäftigt sich in der Chronik von Zollikon eingehend mit ihm und schildert ihn als einen pflichttreuen, für das Wohl seiner Gemeinde besorgten Geistlichen, der sich insbesondere auch der Armen annahm. In eine von einem Vorgänger angelegte Gemeindechronik hat er sorgfältig wichtige und wissenswerte Ereignisse eingetragen, die von seinem für das Wohl und Wehe des Volkes offenen Auge zeugen. In Ordnungsliebe und Ausdauer bei wissenschaftlichen Arbeiten mag Ott den Urenkel übertroffen haben. Seine langjährige und überaus geschätzte Tätigkeit auf der Stadtbibliothek und seine vielen Publikationen zeugen von seinem Fleiß und seinen Kenntnissen, insbesondere sein Hauptwerk, die Übersetzung des Flavius Josephus, und viele weitere Arbeiten, die Manuskript geblieben sind. Joh. Baptist Otts erste Gattin war Dorothea Wolf. Auch sie konnte auf eine beträchtliche Ahnengruppe in der Stift zurückblicken. Ihr Urgroßvater Hans Ulrich Wolf, 1559—1624, war der Sohn des Pfarrers beim Fraumünster und Professor der Theologie Johannes Wolf. Er selbst hatte Medizin studiert und betrieb im Haus zum Kranz am Weinplatz eine Apotheke. E r scheint ein außerordentlich tüchtiger und unternehmender Mann gewesen zu sein und kam zu Reichtum und Ansehen. E r kaufte das Bergwerk am Gonzen und gelangte als Zunftmeister zur Saffran in den kleinen Rat. Als Landvogt von Kyburg, Statthalter und Seckelmeister bekleidete er die höchsten Ämter, die Zürich neben der Bürgermeisterwürde zu vergeben hatte, und seine Verwendung zu wichtigen Gesandtschaften zeugt von seinen politischen Fähigkeiten. Auch Hans Ulrich Wolf kann als einer der Stammväter Zürichs bezeichnet werden; von den achtzehn Kindern, die ihm seine beiden ersten Gattinnen schenkten, traten sechs Söhne und fünf Töchter in die Ehe und hinter-

156

Emil Eidenbenz· Pestalozzi,

ließen eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft. Seine dritte Gattin, Küngold Meyer von Knonau, heiratete nach seinem Tode den Bürgermeister Salomon Hirzel, dem wir als Vorfahren von Andreas Pestaluz begegnet sind. Aus Hans Ulrich Wolfs zweiter Ehe mit Elisabeth Stucki.'der Tochter des Chorherrn Hs. Wilhelm Stucki, stammt der Sohn Hans Jakob Wolf (1601—1641). Er studierte in Zürich Theologie und durfte siebzehnjährig von Groningen aus, wo er seine Studien fortsetzte, an der reformierten Synode in Dortrecht als Begleiter von Antistes Breitinger teilnehmen. Von 1627 an sehen wir ihn als Professor in Zürich, abwechselnd am Collegium humanitatis und am Carolinum, 1638 erhielt er eine Chorherrenpfründe und die Professur der griechischen Sprache, drei Jahre später starb er, erst vierzigjährig. Sein gleichnamiger ältester Sohn brachte es nur zum Präzeptor der lateinischen Schule am Großmünster; dem jüngeren, beim Tode des Vaters erst dreijährigen Sohn Hans Caspar Wolf (1638—1710) war eine glänzendere Laufbahn beschieden. Sein Studiengang führte ihn nach Metz, Groningen und Oxford; 1662 heimgekehrt, empfing er die Ordination, ward 1664 Pfarrer zu Seebach und wurde im gleichen Jahre von seinem späteren Schwiegervater Hottinger auf dessen Gesandtschaftsreise zu verschiedenen reformierten deutschen Fürstenhöfen mitgenommen. 1676 wurde er Inspektor der Alumnen, zwei Jahre später Professor der alten Sprachen am Collegium humanitatis und 1684 Professor der Theologie und Chorherr. 1689 wurde ihm auch noch die Stiftsverwaltung übertragen. Seine Gattin war Dorothea Hottinger, die Tochter eines der berühmtesten Gelehrten, die am Großmünster gewirkt haben. Als Handwerkerssohn 1620 in Zürich geboren, besuchte Hans Heinrich Hottinger ebenfalls die Stiftsschule und begab sich 1638 nach Genf, später nach Groningen, wo er sich auf das Studium der türkischen und arabischen Sprache warf. Von dort aus begleitete er den Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz nach England und kehrte über Paris nach Hause zurück. Hier machte er rasch Karriere. 1642 ward er Professor für Kirchengeschichte, 1643 für Katechese am Collegium humanitatis und Lehrer der morgenländischen Sprachen an beiden Kollegien, xo Jahre später fiel dem erst Dreißigjährigen mit der Professur für Rhetorik und Logik die Chorherrenwürde zu, die ihm auch verblieb, als er 1655 einen Ruf

Die stadtztircherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

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als Professor und Kirchenrat nach Heidelberg erhielt. Auf der Reise dahin erteilte ihm die Universität Basel den Titel eines Doktors der Theologie. Nach sechs Jahren kehrte er nach Zürich zurück, ward Schulherr und Rector gymnasii und unternahm 1664 die obenerwähnte Gesandtschaftsreise. Unterdessen war sein literarischer Ruhm durch ganz Europa gedrungen und veranlaßte Berufungen nach Deventer, Marburg und Bremen, die er aber ausschlug. Erst 1667 konnte er einem Ruf nach Leyden nicht widerstehen und rüstete sich zur Abreise. Aber bevor er am 5. Juni mit seiner Familie zu Schiff einen Abschiedsbesuch in seinem Landgut Sparrenberg machen wollte, ertrank er mit drei Töchtern und einem Sohn in der Limmat. Von seinen überlebenden Söhnen wirkte Hs. Heinrich als Professor der hebräischen Sprache und Inspector Alumnorum am Collegium humanitatis, Dr. medicinae Salomon erlangte als Professor physices, Hans Jakob als Professor des Neuen Testaments die Chorherrenwürde. Hottingers Gattin Anna Ulrich war die Enkelin des Leutpriesters und späteren Chorherren Hans Jakob Ulrich (1569—1638), der nach langem Studienaufenthalt an deutschen Universitäten in verschiedenen Lehrämtern am Großmünster gewirkt hat. Seine vier Söhne traten in die Fußstapfen des Vaters, aber nur dem jüngsten ward ein Platz in der Stift. Den ältesten Heinrich Ulrich (geb. 1596), der nach einem Studienaufenthalt in Genf und Bremen eine Reise nach Böhmen gemacht hatte, und der 1620 Diakon bei Predigern geworden war, raffte ein früher Tod schon 1623 weg. Seine Tochter wurde Hottingers Gattin. Bei diesen vielfachen Beziehungen zu der großen Stiftsfamilie scheint es verwunderlich, daß Andreas Pestaluz im Jahre 1 7 2 7 von Schwamendingen nach Höngg übersiedelte und dort nach 42jähriger Amtstätigkeit sein Leben beschloß. Langer als alle seine Vorgänger hatte er an der kleinen Filialgemeinde ausgehalten und daneben in Zürich Unterricht erteilt, ohne am Stift befördert zu werden. Es scheint, daß mit der alten Tradition, die Filialpfarrer an die Pfarr- und Schulämter der Stift vorrücken zu lassen, gebrochen wurde. Vielleicht hat die im großen und ganzen im Sande verlaufene Reformbewegung von 1 7 1 2 und 1 7 1 3 in diesen Gepflogenheiten in Staat und Kirche Wandel geschafft, war doch schon 1709 von dem späteren Bürgermeister Caspar Escher als Assessor synodi auf Mißstände

158

Emil

Eidenbenz-Pestalozzi,

in der Kirche hingewiesen worden, und der vielgeschmähte Antistes Klingler und sein Nachfolger Zeller v e r s u c h t e n wenigstens, solche zu beseitigen. Schon Joh. Baptist Ott war der letzte Pfarerr von Zollikon gewesen, der in der Stadt wohnte und nachher dort avancierte; seinem Nachfolger wurde in Zollikon ein Pfarrhaus gebaut; die Pfarrer der andern Filialgemeinden kamen nun meist auf größere Landpfründen. So mag der Wegzug nach Höngg für Andreas Pestaluz der Schlußstrich unter eine Reihe getäuschter Hoffnungen gewesen sein, und sich daher seine spätere Abneigung gegen die Stadt, die er ungern betrat, erklären. Seine Gemeinde ließ er aber diese Enttäuschung nicht entgelten, er nahm sich des Schulwesens mit besonderer Treue an und suchte manchen Ubelständen in sittlicher Beziehung abzuhelfen. Das Familienbuch sagt von ihm: »Am 23. April 1752 proponierte er im Synodo gründlich und erbaulich von denen Unfugen und Gräulen, mit denen der Samstag und Sonntag entheiligt werde, stellte auch einige Mittel vor, wie denen Unfugen und dem ausgelassenen Leben überhaupt möchte gesteuret werden.« Insbesondere hatte er ein Augenmerk auf das viele Bettelvolk, Erwachsene und Kinder, die aus äußeren Kantonsteilen und wohl auch aus Gebieten jenseits der Grenze in die reicheren Gemeinden in der Nähe der Stadt kamen. Die üblichen Betteljagden und die Bestrafung des Landstreichertums schafften natürlich keine "bleibende Abhilfe; Pestaluz drang daher auf Versorgung und Erziehung. Seine Gedanken verdichteten sich zu einer zweiten Synodalproposition, wie wir in den »Monatlichen Nachrichten« lesen. »Am 2. November 1756 wurde in der Synode in einem beredten Vortrag an M. G. H. im Namen eines ganzen ehrw. Ministerii von Herrn Pfarrer Andreas Pestaluz in Höngg rekommandiert und zur Deliberation vorgeschlagen die Erbauung eines Zuchthauses (wir würden heute sagen: einer Rettungsanstalt), wie auch über die fortwährende Entheiligung des Sabbaths geklagt.« Die Erfüllung seines Wunsches erlebte Andreas Pestaluz nicht mehr, und auch dem Enkel glückte nicht, was der Großvater angestrebt hatte. Wie sehr dieser aber bei seinen Amtsbrüdern in Ehren gehalten wurde, beweist seine "Wahl zum Dekan des Regensberger Kapitels (zu dem Höngg damals gehörte) im Jahre 1757. Der soziale Zug, den wir bei Pfarrer Andreas Pestaluz wahrnehmen, steht in seiner Familie

Die stadtzttrcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

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nicht vereinzelt da. Sein Oheim H. Conrad Pestaluz zum Brünneli, ein reicher Kaufmann, erfreute sich bei seinen Mitbürgern wegen seiner Wohltätigkeit eines großen Ansehens; seine Zeitgenossen nannten ihn den Vater der Armen. Am 18. Heumonat 1769 starb Andreas Pestaluz alt und lebenssatt; von seinen 1 3 Kindern überlebte ihn nur eine Tochter, Susanna, die Witwe seines Vikars Johannes Wolf, die dann nach seinem Tode dem letzten Vikar Johannes Wüst die Hand reichte und als Pfarrfrau in Dorf 1799 starb. Die väterliche Fürsorge, die Andreas Pestaluz den Schulkindern seiner Gemeinde angedeihen ließ, schlug bei seinem Sohne Johann Baptist (1718—1751) nicht an. Das alte Sprichwort von den Pfarrerskindern sollte sich an ihm bewähren. Zu seinem Unheil hat sich zu früh bei ihm ein Standesbewußtsein entwickelt, das ihn sich über die Dorfkinder emporheben ließ, ohne daß dem äußeren Vorteil ein innerer entsprochen hätte. Statt eine höhere Schule besuchen zu können (im Album des Carolinums findet sich sein Name nicht) kam er zu einem Chirurgen in die Lehre. Das bedeutete nahezu ein Herabsteigen in den Handwerkerstand. Die damaligen Wundärzte genossen keine wissenschaftliche Ausbildung; sie lernten ihr Gewerbe von ihren Lehrmeistern, und wenn es unter diesen auch einzelne gab, die über gründliche anatomische Kenntnisse verfügten, ja vielleicht geschickte Operateure waren, so dürften doch die meisten keine bessere Schulung genossen haben, als sie heute ein tüchtiger Samariter hat; und der Beruf schwankte zwischen der Tätigkeit eines Barbiers und der Ausübung einer primitiven UnfallMedizin. Immerhin muß gesagt werden, daß die Zürcher Chirurgen zu Anfang des 18. Jahrhunderts sich aufgerafft hatten und sich durch den bekannten Arzt, Johannes Muralt, Vorlesungen und anatomische Demonstrationen halten ließen, zu denen auch die Geistlichen und Studenten, kaum aber die Lehrlinge Zutritt hatten. Wo Johann Baptist Pestaluz seine Lehrzeit genoß, wissen wir nicht, ebensowenig, wohin ihn seine Wanderschaft führte. Vielleicht ist er schon in dieser Zeit zu der Familie seiner spätem Gattin, von der drei Brüder den Chirurgenberuf ausübten, in Beziehung getreten. Am 20. März 1 7 4 1 legte er in Zürich sein Chirurgenexamen ab und ward am selben Tag in die Gesellschaft »zum Schwarzen Garten« aufgenommen. Seine berufliche Stellung war keine glänzende; die Konkurrenz war

160

Emil

Eidenbenz-Pestalozzi,

groß; die Stadt, die mit ihrer nächsten Umgebung etwa ioooo Einwohner zählte, hatte mehr als vierzig Chirurgen, so daß er zu den zeitraubenden Nebenbeschäftigungen des Fischens und Jagens genügende Muße besaß. Wir wissen, daß er sich, als seine Familie wuchs, um Kanzlistenstellen bemühte und gelegentlich auch durch einen Weinhandel einen Schick zu machen hoffte; auch eine Geschäftsverbindung mit einem nichtbürgerlichen Seidenfabrikanten wurde einmal ins Auge gefaßt. Sein Sohn selbst sagt von ihm, daß ihm die nötige Aufmerksamkeit auf Geld und Geldeswert und damit das Fundament des bürgerlichen Glückes fehlte. Er nahm 1750 an der Stiftung des Familienfonds Teil, schwerlich mit einer großen Einlage, aber der Fond ist doch seinem Sohne wiederholt zugute gekommen. Hatte Joh. Baptist Pestaluz sich auf dem Dorfe als Herrenund Bürgerssohn gefühlt, so mußte er nun erleben, daß er unter seinen Mitbürgern weder auf seinen Namen noch auf seinen Stand pochen konnte. Zwar wird er in amtlichen Aktenstücken »Herr« tituliert — die Handwerker mußten sich sonst mit der Bezeichnung »Meister« begnügen — aber zur vornehmen Gesellschaft durfte er sich kaum rechnen. Politische Aspirationen, wenn er später je solche gehabt hat, konnte er ruhig begraben; die Gesellschaft zum Schwarzen Garten, politisch als eine Sektion der Schmidenzunft anzusehen, hatte nur drei Zwölferstellen zu besetzen. Für diese gab's unter den Ärzten vornehme Anwärter genug. Sein Verwandtschaftskreis in der Stadt war klein; die beiden Schwestern lebten damals noch im elterlichen Pfarrhaus in Höngg; in der weiteren Familie Pestaluz besaß er nur Vettern zweiten Grades; die Schwester seines Vaters Ursula Wolf-Pestaluz war längst verwitwet und lebte in ihren späteren Jahren bei einem Sohne auf dem Lande; zwei andere Söhne waren Bäcker und Zuckerbäcker in der Stadt und offenbar in bescheidenen Verhältnissen. Als Joh. Baptist Pestaluz sich in Zürich etablierte, lebte noch sein Großvater, der Chorherr Ott, dessen Vornamen er trug und dessen sorgloses Gemüt er geerbt hatte. Wenn aber Ott seine lange Lebensdauer seinem heiteren Temperament zuschrieb, so hat diese Eigenschaft den Enkel nicht vor einem frühen Ende bewahren können. Ott besaß nur noch zwei Söhne; der ältere Hans Heinrich hatte Theologie studiert und war nach England gezogen; er starb im gleichen Jahre wie sein Vater 1643. Sein Bruder Peter, Doctor medicinae,

Pestalozzi-Studien I

Die 1 Pestalozza Joh. Anton 1534—1604 Kaufmann

III

Muralt Magdalena . . . . —1630

3 Heidegger Hs. Conrad 1562-1626 Eisenkrämer Ratsherr

1578

00

4 Haller Cleophea 1566—1612

5 A Rahn Hegner Hs. Rudolf Regula 1560-1627 1567—1620 Burgerv. Winterthur meister

1585

oo I

1

1586

CO

3 Pestaluz Andreas

Heidegger Anna

1581--1644

1588--1650

Kaufmann

7 8 Escherv. Glas Fels Hs. Conrad Elisabeth 1566—1644 . . . . — 1 5 9 8 Tuchhändler v. St. Gallen Zunftmeister Landvogt zu Baden

9 Holzhalb Heinrich 1564—1637 Floretfabrikant Burgermeister

1589

4

OD

1593--1669

1591--1663

1597--1612 Landvog zu Sax

oo

.1

1587

Holzhalb Leonhard

Esther Ursula

1609

Rubli Elisabeth t vor 1603

5

•Rahn Hs. Heinrich

Burgermeister

CO

1

10

oo

1612 3

2

Pestaluz, Joh. Conrad

Rahn, Regula

1616—1686

1628—1691

Holzhalb, 1625— Commandant der zürch. Amtmann

Seidenherr z. weißen Turm

co

1664

1

2

Pestaluz, Hans Heinrich 1649—1701 Seidenhändler

Pestaluz, Andreas 1693—1769 V. D. M. 1713, Vicar der II. Classe der lat. Schule am Gr< münster 1713, Pfarrer zu Schwamendingen 1716, zu Höngg 1727, Dekan 1757.

siadizürcherischen Vorfahren von Heinrich Pesii Zusammengestellt von Emil Eidenbenz-Pestalozzi 13

Π

von Hartmarinis Dietegen Vicari im Veltlin Gesandter nach Frankreich

OD

6

15

14

Hirzel Salomon 1580—1652 Burgermeister

I

Keller Elisabeth 1579-1627

00

1595

17

16

Werdmüller Beat 1583^-1643 Kaufmann im alten Seidenhof Zwölfer zur Saffran

Holzhalb Barbara 1584—1665

1605

Werdmüller Ursula

1605—1664

1606—1680

Zunftmeister z. Saffran

-1677

Μ Ba

1583

II

10

Ott

von Birch

Brunner

Hs. Heinrich

Anna Barbara

Hs. Rudolf

1587—1648

. . . . —1630

1587—1639

Pfarrer zu Wytikon

Wetzikon, Dättlikon

rieden u. Schwamei

1624

Professor am Car oo I

1612

5

6

Hirzel, Ursula

Ott, Hans Heinrich

1694—....

1617—1682

Truppen in Mülhausen zu Riiti 00

Brunner Nikiaus 1565—.... Gerber

und Henggart

4 Dietegen

22

21

Pfarrer zu Wipkingen,

Gesandter über's Gebirg CO

20

00

1)

Hirzel Salomon

1618

19

1565

oo I

8

7

von Hartmannis Violanda

18

Ott Liechtenstein Heinrich Catherine 1568-1629 . . . . -1598 Färber Ratsherr Amtmann zu Embrach

Β

Pfarrer zu Zumikon und Dietlikon Professor am Cafolinum 1651

cc II

1645

3

Holzhalb, Ursula

Ott, Johann Baptiste

1725

1661—1744 Pfarrer zu Zollikon, Leutpriester am Gro0m II. Archidiacon

>0-

(X

1715

Pestaluz, Johann Baptista 1718—1751 Chirurg, Zünftei· z. Schwarzen Garten a> 1742 Susanne Hotz von Wädenswil.

Pestalozzi, Heinrich 1746—1827

esialozzi. 22 er KS

Mure? Barbara

23

24

25

26

Murer Hs. Caspar

Schwyzer Elisabeth

Wolf H s . Ulrich

Stucki Elisabeth

1559—1624

1569—1622

1 5 5 9 — 1633 3Γ

00

Pfarrer zu N e s s l a u und Marthalen I Archidiacon 1583

oo I

Apotheker Landvogt zu

is.

Rudolf

587--1639

28

29

Müller Elisabeth

Hottinger Caspar

1553-1628

1592-1648

Z w ö l f e r zur Schneidern

G l a s e r und S A i f f meiste r

coli

1599

cc II

13

1596—1623

Wolf Anna 1601—1669

Diacon bei P r e d i g e r n

15

1612

CO

15

1621

16

Wolf

Teucher

Hottinger

Dorothea

Hs. Jakob

Margarethe

Heinrich

Anna

1601-- 1 6 4 1

1603-- 1 6 8 7

1620-- 1 6 6 7

1622-- 1 6 9 7

P r o f e s s o r linguar,

Schwa mendlngen

Chorherr

Chorherr, in

1616

oo

II

1628

Professor

Heidelberg oo

7

1642

8 Wolf, Hans

Barbara

Ulrich

Professor am Carolinum

or am Carolinum

am

....

32

Murer

zu W y t i k o n , A l b i s -

Brunner,

1584-

31 Ulrich H s . Heinrich

Statthalter

-1659

OD

30 Thumysen Anna

Kyburg

1584

12 Brunner

27 Teudier B e a t Joachim

Hottinger,

Caspar

P f a r r e r in Seebach,

Dorothea

1 6 4 6 - -1720

1 6 3 8 - -1710 Professor

C h o r h e r r , S t i f t s Verwalter

00

Wolf,

1665

Dorothea

1666-1722 Großmünstcr

2 Ott,

Dorothea

1692—1763

Photolith.d.Lith Anstv Bogdan Gisevius, Berlin W.Bülowstr 66

Die stadtzttrcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

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praktizierte in Zürich, war aber Zünfter zur Saffran geblieben. So mag sich Johann Baptist Pestaluz mehr zur Familie seiner Gattin gehalten haben. Er hatte sich 1742 mit Susanna Hoz, der Tochter des verstorbenen Chirurgen Hans Jakob Hoz in Waedenswil und seiner dritten Gattin Barbara Haab verheiratet. Wenn die Verbindung mit einer Nichtbürgerin in gewissen stadtzürcherischen Kreisen als eine Mesalliance angesehen wurde, so war doch die Familie Hoz durch ihren äußeren Wohlstand wie durch Tatkraft, Bildung und edle Gesinnung manchem regimentsfähigen Bürgergeschlecht ebenbürtig. Fest in der hablichen Bauernbevölkerung des oberen Seeufers wurzelnd, hatte Hans Jakob Hoz als Feldscher in einem hessischen Regiment gedient und verwertete dann seine Kenntnisse in seiner Heimatgemeinde. Daß er in großem Ansehen stand, dafür zeugt seine zweite, kinderlos gebliebene Ehe mit Esther Escher, der Tochter von Junker Landvogt Hs. Heinrich Escher von Waedenswil. Aus seiner dritten Ehe mit Barbara Haab stammen drei angesehene Chirurgen und Ärzte, von denen namentlich Johannes Hoz, der sich zu Richterswil niederließ und mit Judith Gessner verehelicht war, in Heinrich Pestalozzis Leben eine Rolle spielte, ferner die mit dem Seidenfabrikanten Joh. Heinrich Weber in Hottingen verheiratete Tochter Anna Barbara und sein jüngstes Kind Susanna, die Joh. Baptist Pestaluz heimgeführt hatte. Wir sehen Heinrich Pestalozzi nach des Vaters frühem Tode mit seinem älteren Bruder Joh. Baptist, ferner einem fünf Jahre jüngeren Schwesterchen, unter der Obhut der feinfühligen, aber wohl schüchternen Mutter aufwachsen im bescheidenen, wenn auch nicht gerade dürftigen Haushalt, in dem das treue, aber zur Erziehung von zwei Buben nicht besonders befähigte Babeli den Ton angab. So wird er »eigen«, wie Hans Georg Nägeli sagt. »Eigen«, vorerst nicht auf eine unangenehme Weise; er ist gutmütig und dienstfertig gegen seine Mitschüler, mitleidig, wenig empfindlich gegen Enttäuschungen, die andere Kinderherzen verbittern. Lästig wird seine Eigenheit erst in spätem Jahren, als sich der Mangel an einer väterlichen Erziehung spürbar macht, als er sein Äußeres vernachlässigt und seinen Scharfsinn kampflustig an seinen Freunden erprobt. Was ihm in den Wurf kommt, wird zur Zielscheibe seines Spottes und Witzes, die Gesellschaft, der Staat, wohl auch Schule und Kirche. Im patriotischen Freundeskreise Pestalozzi-Studien I.

11

162

Emil Eidenbenz-Pestalozzi,

schwärmt er für Recht und Gerechtigkeit, für Redlichkeit und Tugend; aber solange er durch die Sparsamkeit seiner Mutter und auch durch die Fürsorge seiner Vaterstadt nicht genötigt ist, einen Erwerb zu suchen, verachtet er jeden Weg, in dem Gemeinwesen, in das er durch seine Geburt hineingestellt war, einen Platz zu finden, auf dem er wirken konnte. E r wollte in jugendlichem Idealismus reformieren, ehe er selbst Erfahrung besaß, den Staat umgestalten, von dem er erst den äußern, ihm nicht zusagenden Aufbau kannte, ohne sich einen genauen Plan von einem neuen Staatsgebilde machen zu können. Er wollte erziehen und zeigte auf Schritt und Tritt die Lücken in seiner Erziehung. In einem wohlgeordneten Staat ist für solche Leute nicht leicht ein Wirkungskreis zu finden. Das hat er auch eingesehen. Die Frage der Berufswahl muß ihn stark beschäftigt haben, und das Nachdenken über seine Veranlagungen und seine Neigungen dauerte bis in ein Alter, in dem andere bereits eine gesicherte Stellung in nächster Nähe sahen. An eine kaufmännische Laufbahn hat er wohl nie ernstlich gedacht. Der Handel, durch den seine Vorfahren zu Reichtum und Ansehen gelangten, war ihm nicht sympathisch, und wo er später mit Kauf und Verkauf zu tun hatte, hat er sich als ein Pechvogel erwiesen. Die staatsmännische Laufbahn war ihm vorerst verschlossen. Wenn er als Jüngling von politischen Umwälzungen träumte, so mußte er sich sagen, daß solche durch andere Leute herbeigeführt werden müßten. Wenn Söhne reicher und angesehener Väter oft schon mit 20 und etlichen Jahren, nachdem sie kaum die väterliche Zunft »erneuert« hatten, als Zwölfer in den Rat der 200 einzogen und Amt um Amt erlangten, so waren das alles Leute in gesicherter Stellung, sei es durch ererbtes Vermögen, durch Teilhaberschaft am väterlichen Geschäft oder durch Anwartschaft auf eine Gerichtsherrschaft oder dergleichen. Aber Pestalozzi mußte schon als Schüler wissen, daß es für einen Bürger, dem jede Protektion fehlte, schwer war, in den Rat zu gelangen. Wenn zwei Jahrzehnte später die Schulkameraden dem jungen Ludwig Meyer von Knonau sagten: »Du sollst wissen, daß kein Junker zum Burgermeister erwählt werden wird«, so mögen Heinrich Pestalozzi schon in den Höfen der Fraumünster-

Die stadtzttrcherischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

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schule die Mitschüler die einstige Wahl zum Zwölfer oder gar zum Landvogt und Ratsherrn abgesprochen haben. Und doch dürfte ihm die Tätigkeit eines guten Regenten als ein Ideal vorgeschwebt haben. Es ist bezeichnend, daß der Gerichtsherr in »Lienhard und Gertrud« als ein wahrer, milder Landesvater auftritt. Pestalozzi muß solche ehrenwerte Regenten gekannt haben, und der Landvogt Tscharner in Wildenstein wird nicht die einzige sympathische Figur gewesen sein, die ihm unter den schweizerischen Staatsmännern entgegengetreten ist. Läßt doch auch ein von Sympathien für das 18. Jahrhundert völlig freier Geschichtsschreiber, Johannes Scheu, gerade dem zürcherischen Regiment alle Gerechtigkeit widerfahren. Nach untergeordneten Staatsstellen zu trachten kam Pestalozzi wohl kaum in den Sinn, ihm fehlte die nötige Biegsamkeit, um zu einem Landschreiberposten oder der Stelle eines Ratsredners und dergleichen zu gelangen. Wollte er später einmal im Staate etwas gelten, so mußte er erst ein gemachter Mann sein, und dazu waren für ihn neue Wege nötig. So ließ er an dem, was ihm unerreichbar war, seinen Spott aus, erregte Mißfallen bei den Regenten, und da ihn sein äußeres Auftreten keineswegs empfahl, machte er sich zuerst lächerlich und dann unangenehm bemerkbar. Wenn Hans Georg Nägeli von ihm sagt: »Sein ungewaschenes Gesicht hätte man ihm noch eher übersehen als sein ungewaschenes Maul«, so dürfen wir annehmen, daß er in der Form seiner Kritik auch seinen besten Freunden oft zu weit ging. Ob Pestalozzi bei seinem Drang, überall zu helfen, nie an den Beruf des Arztes gedacht hat? Sein Bruder Johann Baptist wurde, wie der Vater, Chirurg; er ist auf keinen grünen Zweig gekommen, wanderte nach Amerika aus, und keine Kunde von ihm ist seither mehr zu den Seinigen gedrungen. Die Ausübung der niedrigen Chirurgie mag Heinrich Pestalozzi wenig zugesagt haben, ihm schwebte wohl die Gelehrtenlaufbahn vor, aber zu einem gründlichen Studium der Medizin auf einer Universität fehlten jedenfalls die Mittel. Die Kränklichkeit oder Krankheit, die ihn schließlich zur Aufgabe seiner Studien nötigte, hat vielleicht den Gedanken an eine ärztliche Tätigkeit nie aufkommen oder nicht zur Reife gedeihen lassen. E s blieb die Laufbahn des Geistlichen und wir dürfen anil*

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Emil

Eidenbenz-Pestalozzi,

nehmen, daß er sie einschlagen wollte, sei es, daß ihm das Pfarramt vorschwebte oder die Lehrtätigkeit an einer höhern Schule; das Studium der Philologie war ja damals noch sehr an dasjenige der Theologie gebunden und die Schola Carolina war in erster Linie eine Bildungsanstalt für Geistliche. Daß es ihm an sprachlicher Begabung nicht fehlte, bezeugt er selbst, und die Folgezeit erwies, daß es das Blut seiner gel e h r t e n Vorfahren war, das das der Kaufleute, Magistrate und der Landwirte überwog und ihn auf die Bahn des Erziehers drängte. Aber er war eine viel zu bewegliche Natur, um an einem ernsten Studium Geschmack zu finden; die Pedanterie seiner sprachkundigen Ahnen aus dem 17. Jahrhundert war nicht seine Art. Das lag mit in seiner Zeit. Er sagt ja selbst in einem autobiographischen Fragment: »Bodmer führte seine Jünglinge in eine träumerische Existenz und hatte keinen Sinn für den Grad der Kraftanstrengung, den bürgerliche Unabhängigkeit mit jedem Jahrzehend mehr forderte; er gab dem leeren Wichte zu viel Wert und führte seine Jünglinge zu idealischer Hoffnung des Lebens, wie später Lavater zu idealischer Hoffnung des Himmels. Es ist gewiß, daß in dieser Epoche Herz und Kopf der Kinder auf Gefahr ihrer Ruhe und ihres Glückes und ihrer Kraft selbst in Anspruch genommen ward. Es war ein Treiben und Drängen ohne Maß, sich als Genie zeigen zu können. Einige, die Kopf hatten, zogen sich leicht aus dem Spiel, machten Verse, mahlten, lernten Griechisch und studierten den Wolf und den Baumgarten. — Mein Loos war mir nicht so freundlich geworfen: Ich wollte tun, was die andern sagten. Ich war für jede Sache des Herzens lebhaft und meine Neigungen lenkten gewaltsam dahin, Ehre und Liebe mehr auf der Bahn der Aufopferung und Wohltätigkeit, als auf derjenigen de§ Denkens und Forschens zu suchen«. Dabei mochte aber wiederum die nüchterne Erwägung mit im Spiele sein, daß er auf eine einflußreiche Stellung in Kirche und Schule nicht rechnen durfte. Selbst bei glänzender Absolvierung der Studien hätte seiner wohl eine lange Kandidatenzeit gewartet. In den Häusern der Vornehmen, auf den Schlössern der Landvögte und Gerichtsherren hätte man den unordentlichen V.D.M. nicht als Hauslehrer für die Kinder angenommen, geschweige denn ihm die Söhne zur

Die stadtzttrchetischen Vorfahren Heinrich Pestalozzis.

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Leitung und Beaufsichtigung auf einer Studienreise übergeben. Er galt als vorlaut und als ein Spötter, und das stand einem zürcherischen Exspektanten schlecht an. Ein mageres Pfründlein im Thurgau oder in einem entfernten Kantonsteil unter der scharfen Aufsicht von Kapitel und Synode konnte ihn nicht locken, es versprach ihm nicht die Wirksamkeit, von der sein Ehrgeiz träumte. So verließ er, durch ein widriges Schicksal und nicht ohne eigene Schuld von den Wegen, die seine Vorfahren mit Erfolg beschritten hatten, abgedrängt, die jedem Tüchtigen und Fügsamen gern Lauf und Bahn gewährende Vaterstadt und ging träumend querfeldein, von einer »idealischen Hoffnung« gelockt. Ein langes, von Stürmen durchtobtes Menschenleben war nötig, bis aus seinen Träumen Gedanken, aus seinen Ideen Erfahrungen wurden. Nötig war aber auch der Zusammenbruch des Staates, dessen Regenten, von dem Bewußtsein ihres Wohlwollens erfüllt, nur mit größter Vorsicht vorwärts schritten und stürmische Neuerer mit höchstem Mißtrauen ansahen. Pestalozzis literarischer Ruhm ging seinem erfolgreichen Wirken in der Schule voraus, und erst in einer Zeit, da der neu erstehende Staat noch keine starre Formen besaß, konnte dem Manne, der der Mitwelt ein von der Liebe zur Jugend und von der Hilfsbereitschaft zu ihrer Erziehung erfülltes Herz gezeigt hatte, fern von der Heimat ein Versuchsfeld eröffnet werden, in das er seinen Samen streute und aus dem er die Früchte seiner Ideen hervorsprießen sah. Zur Ernte waren andere berufen.

Die Pestalozzi-Maske. Die Maske, die wir im vorliegenden Band in mehreren Aufnahmen wiedergeben, ist nicht eine Totenmaske, wie vielfach angenommen wird. Bildhauer Joseph Maria Christen aus Buochs (Schweiz) hat sie im Auftrage des Kronprinzen Ludwig von Bayern 1809 über dem Gesichte Pestalozzis geformt. Sie sollte einer Büste Pestalozzis als Vorlage dienen, die für die Walhalla in Aussicht genommen war. Doch ist eine Büste Pestalozzis dort nicht zur Aufstellung gelangt. — Die Maske scheint von Pestalozzi seinem Mitarbeiter El. Mieg geschenkt worden zu sein. Von den Erben Miegs kam sie an den Antiquar R. Jordan in München und wurde von diesem 1901 durch die Gottfried-Keller-Stiftung erworben, da die Mittel des Pestalozzistübchens zum Ankauf nicht ausreichten. In verdankenswerter Weise übergab die Gottfried-Keller-Stiftung die Maske als Depositum dem Pestalozzianum in Zürich. Alle Rechte der Reproduktion stehen der genannten Stiftung zu. Über die Geschichte der Maske orientiert der Jahresbericht des Pestalozzistübchens 1901 (Pestalozziblätter Januar 1902). Fügen wir noch bei, daß die Gottfried-Keller-Stiftung dem Pestalozzianum den Abguß der Maske in fünfzig numerierten Exemplaren gestattet hat, so daß Museen und Verehrer Pestalozzis die Möglichkeit erhalten, eine getreue Wiedergabe der Maske zu erwerben. St.

Pestalozzi-Studien 1

p h o t . D r . Μ. H ü r l i m a n n

P e s t a l o z z i - M a s k e 1809

Pestalozzi-Studien 1