Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert [Reprint 2013 ed.] 3484651059, 9783484651050

Ein beträchtlicher Teil der Exil- und Emigrationsliteratur des 20. Jahrhunderts stammt von jüdischen Autorinnen und Auto

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German Pages 310 [308] Year 1993

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Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert [Reprint 2013 ed.]
 3484651059, 9783484651050

Table of contents :
Vorwort
Existenz und Tradition. Zur Bestimmung des 'Jüdischen' in der deutschsprachigen Literatur
Zum Paradigmenwandel in der Exilliteraturforschung
Deutsch-jüdische Exilliteratur und Literaturgeschichtsschreibung
‘Judesein’ im Jahre 1933. Selbstbesinnung und die Diskussion um Judentum und Deutschtum
“... dann sind wir als Letzte auf dem Posten gestanden”. Kosmopolitische Bekenntnisse und Europaprophetien von Exilierten vor und nach der ‘nationalen Revolution’
Zur deutschsprachigen Literatur Israels
Deutsch-zionistische Literaten im ‘Heimat-Exil’. Manfred Sturmann, Hans Rosenkranz und die zionistische Kritik der deutschsprachigen Literatur in Palästina/Israel
Von der deutschen zur jüdisch-hebräischen Kultur: Die Märchen für Kinder von Ludwig Strauß
Verbotene Bilder. Zur Interpretation des Exils bei Gertrud Kolmar
Nelly Sachs, Arnold Zweig und Karl Wolfskehl - Briefe aus dem Exil
Alfred Döblin und das Judentum
Nathan am Broadway. Gastgeschenk des deutschen Juden Ferdinand Bruckner an ein Immigrationsland
Ernst Toller und sein Judentum
Assimilationsproblematik in Georg Hermanns letztem Exilroman Der etruskische Spiegel
Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben .... Zum Verhältnis von ‘Katholizismus’ und Judentum bei Joseph Roth
Albert Ehrenstein: “Nicht da nicht dort”. Exil, eine jüdische Erfahrung?
Das Ende des Weges. Leben und Tod von Kafkas Schwester Otla
Die Stimme im Dornbusch. Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins
Deutsch-jüdische Exil- und Emigrations¬literatur im 20. Jahrhundert. Nach-Gedanken zu einer Konferenz
Ein Brief, der nie geschrieben wurde. Zum Andenken an meinen Vater Dr. David Schlossberg
Verzeichnis der Autoren
Personenregister

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Conditio Judaica

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Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Hans Otto Horch in Verbindung mit Itta Shedletzky

Deutsch-jüdische Exilund Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert Herausgegeben von Itta Shedletzky und Hans Otto Horch

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert / hrsg. von Itta Shedletzky und Hans Otto Horch. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Conditio Judaica; 5) NE: Shedletzky, Itta [Hrsg.]; Conditio Iudaica ISBN 3-484-65105-9

ISSN 0941 -5866

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Dannstadt Einband: Hugo Nädele, Nehren

Inhalt

Vorwort

1

Itta Shedletzky (Jerusalem): Existenz und Tradition. Zur Bestimmung· des 'Jüdischen' in der deutschsprachigen Literatur

3

Ernst Loewy (Frankfurt am Main): Zum Paradigmenwandel in der Exilliteraturforschung

15

Ehrhard Bahr (Los Angeles): Deutsch-jüdische Exilliteratur und Literaturgeschichtsschreibung

29

WulfKoepke (Austin): 'Judesein' im Jahre 1933. Selbstbesinnung und die Diskussion um Judentum und Deutschtum

43

Sigrid Thielking (Leverkusen): "... dann sind wir als Letzte auf dem Posten gestanden." Kosmopolitische Bekenntnisse und Europaprophetien von Exilierten vor und nach der 'nationalen Revolution'

63

Margarita Pazi (Tel Aviv): Zur deutschsprachigen Literatur Israels

81

Mark H. Gelber (Beersheva): Deutsch-zionistische Literaten im 'Heimat-Exil'. Manfred Sturmann, Hans Rosenkranz und die zionistische Kritik der deutschsprachigen Literatur in Palästina/Israel

95

Dafna Mach (Jerusalem): Von der deutschen zur jüdisch-hebräischen Kultur: Die Märchen für Kinder von Ludwig Strauß

111

Birgit R. Erdle (München): Verbotene Bilder. Zur Interpretation des Exils bei Gertrud Kolmar

121

Gert Mattenklott (Marburg): Nelly Sachs, Arnold Zweig und Karl Wolfskehl - Briefe aus dem Exil

139

VI

Klaus Müller-Salget (Bonn): Alfred Döblin und das Judentum

153

Hans-Peter Bayerdörfer (München): Nathan am Broadway. Gastgeschenk des deutschen Juden Ferdinand Bruckner an ein Immigrationsland

165

Alfred Bodenheimer (Basel): Ernst Toller und sein Judentum

185

Laureen Nussbaum (Portland): Assimilationsproblematik in Georg Hermanns letztem Exilroman Der etruskische Spiegel

195

Hans Otto Horch (Aachen): "Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben ...". Zum Verhältnis von 'Katholizismus' und Judentum bei Joseph Roth 205 Hanni Mittelmann (Jerusalem): Albert Ehrenstein: "Nicht da nicht dort". Exil, eine jüdische Erfahrung?

237

Anna Maria Jokl (Jerusalem): Das Ende des Weges. Leben und Tod von Kafkas Schwester Otla

249

Heinrich Detering (Göttingen): "Die Stimme im Dornbusch". Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins

253

Jürgen Nieraad (Jerusalem): Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert. Nach-Gedanken zu einer Konferenz ....

271

Shulamit Arnon (Bet-Schemesch): Ein Brief, der nie geschrieben wurde. Zum Andenken an meinen Vater Dr. David Schlossberg 281 Verzeichnis der Autoren

291

Personenregister

293

Vorwort

Im Mai 1989 veranstaltete die Deutsche Abteilung an der Hebräischen Universität Jerusalem ein internationales Symposion über "Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert". Gleichzeitig präsentierte die Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt, gemeinsam mit der National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, im Foyer der Bibliothek eine Ausstellung, die unter dem Titel "Wider das Vergessen" dem selben Thema gewidmet war. Der hier vorgelegte Band besteht größtenteils aus Referaten dieses Symposions; die Beiträge von Shulamit Arnon, Alfred Bodenheimer, Jürgen Nieraad (Initiator und Mitveranstalter des Symposions), Laureen Nussbaum und Sigrid Thielking kamen später hinzu. Da dies die erste Tagung war, die sich spezifisch mit der jüdischen Problematik der Exil- und Emigrationsliteratur befaßte, waren Lücken nicht zu vermeiden. Besonders bedauerlich ist allerdings das Fehlen eines Beitrags über Else Lasker-Schüler: Der beim Symposion gehaltene Vortrag über Das Hebräerland konnte aus persönlichen Gründen nicht für den Druck bearbeitet werden. Technisch und personal bedingte Umstände führten zu einer nicht unerheblichen Verzögerung der vorliegenden Publikation. Auch bei früherem Erscheinen freilich hätte die ein halbes Jahr nach dem Symposion vollzogene deutsche Vereinigung zu einer Neugewichtung einiger Themen Anlaß gegeben. Im ganzen jedoch ist die Darstellung der Probleme wohl nicht überholt; aktuelle Debatten können an den Diskussionsstand von 1989 unmittelbar anknüpfen. Im Rahmen des Symposions lasen in Israel lebende Autorinnen und Autoren aus ihrem deutschsprachigen Werk. Ein besonderes Ereignis war der Beitrag von Anna Maria Jokl: Sie las ihren bereits 1968 in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erschienenen Text Leben und Tod von Kafkas Schwester Otla, den Peter Härtling 1979 in seine Auswahl Mein Lesebuch aufgenommen hat. Wie sehr die während des Jerusalemer Symposions diskutierten Fragen sich "auf den lebendigen Menschen" (Nieraad) beziehen, bezeugt Shulamit Arnons Brief, der nie geschrieben wurde; er wurde im Anschluß an das Symposion verfaßt und den Veranstaltern mit einem erklärenden Begleitbrief zugesandt.

2

Der Deutsche Akademische Austauschdienst hat dankenswerterweise die Reisekosten der deutschen Symposionsteilnehmer übernommen. Dank gebührt ferner den Erben Ludwig Rosenthals, die zu seinem Andenken die Ludwig Rosenthal-Stiftung an der Deutschen Abteilung der Hebräischen Universität Jerusalem eingerichtet haben. Der Eröffnungsvortrag des Symposions von Ernst Loewy war zugleich die erste Ludwig Rosenthal Memorial Lecture; eingeleitet wurde sie durch eine Würdigung von Leben und Werk Rosenthals. Schließlich sei Hans Otto Horch herzlich für die wesentliche Hilfe bei der Herausgabe und Drucklegung dieses Bandes gedankt; in den Dank mit eingeschlossen ist das Aachener Team Doris Vogel, Beate Wunsch und Willi Terlau.

Jerusalem, im Oktober 1992

Itta Shedletzky

Itta Shedletzky (Jerusalem)

Existenz und Tradition Zur Bestimmung des 'Jüdischen' in der deutschsprachigen Literatur

Gegen Ende seiner Rede Über das absurde Theater sagt Wolfgang Hildesheimer: Während der Niederschrift meines Vortrages stellte ich fest, daß diese Notizen in zunehmender Weise manifestativen Charakter annahmen. Daß ihnen sogar ein gewisses Pathos innewohnt, das ja ihrem Objekt, dem absurden Theater, fremd ist. Das liegt aber wohl an der anomalen Position, in der man sich befindet, wenn man etwas, mit dem man sich selbst identifiziert, von außen zu analysieren sucht. 1 In ähnlicher Weise schwierig empfinde ich meine Position als Jüdin, die nicht anders kann, als sich ständig und intensiv mit dem Judesein und dem Judentum auseinanderzusetzen und nun versuchen soll, das 'Jüdische', gleichsam von außen, methodisch-wissenschaftlich genau zu analysieren und definieren. So haben denn die folgenden Überlegungen weder manifestativen noch anderen Anspruch, das 'Jüdische' in irgendeiner Weise absolut festzulegen. Es kann hier nur mitgeteilt und zur Diskussion gestellt werden, was einem ganz spezifisch geprägten und persönlich engagierten Blick als wesentlich erscheint am 'Jüdischen', wie es in der Literatur deutschsprachiger Autoren jüdischer Herkunft explizit und implizit zum Ausdruck kommt. Blick und Wahrnehmung also etwa im Sinn des Satzes, den, laut Gershom Scholem, "die späte Kabbala" mit Bezug auf die "siebzig Gesichter der Tora" aufstellt: daß jedem einzelnen Juden die Tora ein besonderes, nur ihm allein bestimmtes Gesicht zuwendet, daß er also seine Bestimmung nur dann eigentlich realisiert, wenn er dies nur ihm zugewandte Gesicht wahrnimmt und in die Überlieferung hineinnimmt. 2 Einen Punkt möchte ich dennoch, bei aller Vorsicht, grundsätzlich festhalten. Er betrifft auch nicht das 'Jüdische' direkt, sondern das Verhältnis der Exilund Emigrationsliteratur zur deutsch-jüdischen Literatur vom Ende des 18. Jahrhunderts bis 1933 in bezug auf die Aspekte des 'Jüdischen'. Die Literatur 1

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Wolfgang Hildesheimer: Theaterstücke. Über das absurde Theater. Frankfurt am Main 1976. S.179. Gershom Scholem: Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum. In: Ders., Über einige Begriffe des Judentums. Frankfurt am Main 1970. S. 110, 112.

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Ina Shedletzky

nach 1933 muß in dieser Hinsicht als Teil der gesamten deutsch-jüdischen Literatur gesehen werden, auf der sie weitgehend basiert. Sie hat keine grundsätzlich neuen Fragestellungen oder Formen der Auseinandersetzung mit dem 'Jüdischen' geschaffen, sondern intensiviert, verschärft oder mit neuen Akzenten versehen, was in dieser oder jener Form in der Literatur vor 1933 schon vorgegeben oder zumindest andeutungsweise vorhanden war. Die Auseinandersetzung mit Existenz und Tradition, mit Judesein und Judentum, bildet im wesentlichen und mit wechselnden Akzenten die jüdische Substanz der deutsch-jüdischen Literatur. Das Entstehen dieser Literatur an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert ist geprägt durch die Tatsache und das Bewußtsein der mit dem Emanzipationsprozeß eng verbundenen, teils willentlichen, teils aufgezwungenen Entfremdung von der Tradition. Jüdische Existenz und jüdische Tradition, die ursprünglich eine selbstverständliche Einheit bilden, klaffen im Lauf des 19. Jahrhunderts immer mehr auseinander. Nach den "jüdischen Anspielungen" 3 in Heines Werk, den Ghettogeschichten und den Versuchen des liberalen und des orthodoxen Judentums, eine didaktische Erzählliteratur zu schaffen 4 , um die bedrohte Kontinuität der Tradition zu sichern, konzentriert sich die wesentliche literarische Auseinandersetzung mit dem 'Jüdischen' gegen Ende des 19.Jahrhunderts zunehmend auf das neue und problematische Phänomen jüdischer Existenz ohne Tradition: ein Judesein, das keinen eigentlichen Sinn und Identitätswert mehr hat, von dem man aber infolge des zunehmenden Antisemitismus nicht loskommen kann. Repräsentativ für die deutsch-jüdische Literatur der Jahrhundertwende sind jene Romane, die sich - nach Samuel Lublinskis Formulierung um "psychologische Erkenntnis der Judenfrage" 5 bemühen, wie etwa Ludwig Jacobowskis Werther der Jude (1892), Jakob Wassermanns Die Juden von Zirndorf (1897), Robert Jaffes Ahasver (1900) oder Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie (1908). 6 Mit der fortschreitenden Integration der Juden in die deutsche Sprache und Kultur steigt auch ihr quantitativer und qualitativer Anteil an der deutschen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Aber gerade jetzt zeigt das Werk der meisten jüdischen Autoren - auch und gerade außerhalb des Rahmens der von Martin Buber geprägten und zionistisch orientierten 'jüdischen Renaissance' 7 - immer deutlichere Spuren der Hinwendung zur jüdischen Geschichte und 3

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Hannah Arendt: Heinrich Heine: Schlemihl und Traumweltherrscher. In: Dies., Die verborgene Tradition. Frankfurt am Main 1976. S.54. Hans Otto Horch: Auf der Suche nach der jüdischen Erzählliteratur. Die Literaturkritik der 'Allgemeinen Zeitung des Judentums' (1837-1922). Frankfurt am Main 1985; Itta Shedletzky: Literaturdiskussion und Belletristik in den jüdischen Zeitschriften in Deutschland 1837-1918. Diss. phil. Hebräische Universität Jerusalem 1986. Samuel Lublinski: Ein jüdischer Roman. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum 1 (1901) Sp.59-62, hier S.62. Zu diesen Romanen und ihrer Rezeption in der deutschjüdischen Literaturkritik vgl. Shedletzky (Anm.4), S.188-231. Martin Buber: Jüdische Renaissance. In: Ost und West (Anm.5), Sp.7-10.

Existenz und Tradition

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Tradition - vor allem zur Bibel8 - als Herausforderung und Fundus der dichterischen Inspiration. Dies gilt, bei aller Differenz und notwendigen Differenzierung, für Alfred Mombert und Else Lasker-Schüler, für das Gros der expressionistischen Autoren jüdischer Herkunft, für Franz Kafka, Walter Benjamin, Alfred Döblin, Joseph Roth, Lion Feuchtwanger und andere. Es mag sein, daß die zunehmende Selbstsicherheit und Souveränität der kunstfertigen Autoren bei dieser "Eroberung des Judentums durch die Kunst" 9 eine Rolle spielt. Zutreffender scheint mir aber eine andere Erklärung: Je längerfristig und tiefergehend die Entfernung und Entfremdung von der Tradition und je größer gleichzeitig der Druck von außen, der den Juden ihr Judesein aufzwingt, desto stärker das Bedürfnis, dieser unabänderlichen und schwer erträglichen Existenz einen Sinn zu geben. Bekannt sind in diesem Zusammenhang etwa Else Lasker-Schülers Hebräische Balladen (1913), Joseph Roths Hiob. Roman eines einfachen Mannes (1930), Lion Feuchtwangers historischer Roman Jud Süß (1925) und seine Joie/jftuj-Trilogie (1932-1945). Bemerkenswert ist aber darüber hinaus, daß und wie beispielsweise die Opferung Isaaks nicht nur in den Hebräischen Balladen, sondern auch in Ludwig Jacobowskis Prosaskizze Die Falte (1901) oder in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1930) zur Sprache kommt. In Jacobowskis wohl im wesentlichen autobiographischer Skizze 10 versucht der Ich-Erzähler, ein nicht mehr gläubiger Jude, seiner konfliktreichen Liebesbeziehung zu einer gläubigen Christin Ausdruck zu geben. Als problematisch erscheint hier nicht so sehr das Verhältnis zwischen Andersgläubigen, einem Juden und einer Christin, sondern eher die Glaubenslosigkeit des jüdischen Partners. Der Text kulminiert in der Beschreibung seines ambivalenten Hochgefühls, einer Art Liebesfrömmigkeit, während eines gemeinsamen Besuchs in der Kirche. Die Begebenheit wird aus der erinnernden Perspektive des nächsten Tages erzählt ("Doch gestern bin ich wieder fromm gewesen [...]"). Die Berührung mit einer "Falte ihres Kleides" löst das Hochgefühl des Juden in der Kirche aus: 8

Dazu schreibt Hans-Peter Bayerdörfer in bezug auf Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz: "Es ist darauf hinzuweisen, daß die Bibelmotive nicht im Sinne eines jüdisch-christlichen Gemeingutes verwendet werden, sondern dem Alten Testament entnommen sind (Genesis- und Vätergeschichten, Jeremia, Prediger Salomo, Hiob, Esther). Eine Ausnahme bilden die Motive der neutestamentlichen Johannes-Apokalypse, die sich aber ganz an den Babylon-Fluch Jeremias anschließen. [...] Die interpretatorische Konsequenz besagt, daß das 'spezifisch Christliche' aus dem biblischen Motivkranz des Werkes ausgespart bleibt." ("'Ghettokunst'. Meinetwegen, aber hundertprozentig echt." Alfred Döblins Begegnung mit dem Ostjudentum. In: Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Gunter E.Grimm u. Hans-Peter Bayerdörfer. Königstein/Taunus 1985. S.176) Ob und wie weit dies auch für andere Autoren gilt, müßte näher untersucht werden.

9

Moritz Goldstein: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur. Berlin o.J. [1912]. S.16. Stumme Welt. Symbole. Skizzen aus dem Nachlaß von Ludwig Jacobowski. Hrsg. v. Rudolf Steiner. Minden 1901. S.3-10.

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Itta

Shedletzty

Ich fühle sie, ich fühle dich. Und langsam steigt es heiß in mir auf. Aus der Falte in die kalten, zitternden Finger, langsam und langsam bis gerade in mein Herz. Und nun höre ich ein seltsames Tönen und Singen durch die Stille, Mädchenstimmen jauchzen so süß und selig. Donnerworte drängen sich herauf aus eifrigem Priestermund, und hoch oben schweben sie dahin, als wollten sie die Wände durchbrechen und am Kreuz des Ewigen emporflattern zum alleinigen Gott (S.9). Das Liebesverhältnis zwischen Jude und Christin scheint den Ich-Erzähler weniger zu irritieren als seine Partnerin: "Ich gehe jetzt zur Kirche!" Sie hob den blonden Kopf, und aus dem schmalen Gesicht mit dem treuen, warmen Mädchenblick las ich eine stumme Frage. Ich lächelte. "Wenn ich auch nicht deines Glaubens bin, so bin ich doch deines Gottes. Und ich gehe mit dir." Das klang wunderlich, fast biblisch. Der Klang der ehernen Glocke mußte meine Seele berührt haben. Und ich hörte wieder seltsame Töne um mich, als schrieen und sprachen die Donnerschläge der Kirche allein für mein glaubensleeres, gottloses Herz. Und im Schweigen, mit halbgeschlossenen Augen ging ich neben ihr dahin. Zaghaft schritt sie mir zur Seite. Und unbewußt, als wäre ihre Liebe zu mir ein leises Verbrechen vor Gott, ihrem Herrn, ließ sie einen winzigen Zwischenraum zwischen uns. Die Maiensonne konnte jetzt zwischen uns hindurchwehen, eine unsichtbare Mauer konnte sich zwischen uns aufrecken, und sie allein hatte es verschuldet. Sie fürchtete sich, sie schämte sich vor Gott (S.6f.). Den Ich-Erzähler beschäftigt vor allem seine 'Gottlosigkeit', deren Genese er im ersten Teil der Skizze ausführlich beschreibt: Nein. Schlächter konnten keine guten Menschen sein. Und weit im Bogen schlich ich vorbei, wenn der Henker der Tiere breitbeinig vor der Thür seines Ladens stand, die weiße, gestraffte Schürze über dem plumpen, gewölbten Bauch; das Schärfeisen klirrte dann gegen das rechte Bein und die roten, blutroten, üppig gerundeten Hände strichen die Schürze glatt in unendlich gesättigtem Behagen. Immer hing mein furchtsamer Blick an seinen Augen. Und grell und rot schien es herauszuleuchten, und wenn er um sich sah, dachte ich, er würde jetzt mitten hinein greifen in die Herde der Kinder und Frauen, die vor dem Laden schwatzten, und ... So kam es, daß ich nie dem Erzvater Abraham liebliche Gedanken weihen konnte. Er hatte Schlächterinstinkte. Und selbst wenn er es Gott zu Gefallen that, - ich zitterte vor Bangnis und Entrüstung - Gott konnte kein Freund der Schlächter sein. Und ich war doch fromm. Fromm, wenn ich am Krankenbett der Mutter saß und ihre abgewelkte, magere Hand strich und kein armseliges Wort herausbringen konnte vor überhastiger Empfindung und sprechschwerer Zunge. Fromm, wenn ich an der Kirche

Existenz und Tradition

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vorbeiging, und der Abend seine grauen Spinngewebe um Haus und Garten, Himmel und Erde wob. Dann lehnte ich das horchende Ohr an das kalte Gemäuer, um den Engelsang der Mädchenstimmen einzuschlürfen mit der endlosen Gier der jungen Seele, die vor den Wundern des Herrn erzitterte. Dann schien das klanglose Gestein der roten Mauer mitzuklingen, mein Ohr bebte mit, und die Tonwellen wankten und taumelten jauchzend mir ins beseligte Herz, daß ich nahe fühlte den Herrn der Heerscharen, den Herrn Zebaoth. Was weiß ich heute vom Herrn der Heerscharen? Weil er kein Herr der Heerscharen auf Erden war, habe ich ihn vergessen. Und mein kluger Kopf hat ihn ausgelöscht und sich selbst auf seinen Thron gesetzt. Frech und vermessen, breit und höhnisch steht meine kalte Vernunft auf seinem Thron, und wenn wie aus Nebeln und Dampf verschämtes Jugendgedenken emporsteigt, bringe ich es um, wie einen Verräter. Ich laß1 ihm das Haupt abhacken, den Körper vierteilen und in den Strom des Vergessens versenken. Ich habe meinen Glauben hingeschlachtet (S.2-4). Dies ist die einzige Stelle in Ludwig Jacobowskis Werk, wo 'Jüdisches' nicht im Kontext von Antisemitismus und 'Judenfrage' 11 , sondern als Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition zur Sprache kommt. Was, auf Grund von Bibelunterricht und anderen Kindheitseindrücken, das Verhältnis des IchErzählers zum Judentum prägt und seine Abwendung von Gott und Glauben bedingt, sind die grausameren Aspekte der Geschichte von der Opferung Isaaks und das Bild des richtenden, strafenden Gottes 12 in seiner Funktion als 'Herr der Heerscharen'. Gott wird auch als 'deus absconditus' ("Weil er kein Herr der Heerscharen auf Erden war") in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu liegt Else Lasker-Schülers Verhältnis zum Judentum das - ebenfalls in der Kindheit aus der Bibel rezipierte - Bild des liebevollen, barmherzigen Gottes zugrunde. Dementsprechend rechtfertigt sie in ihrem Gedicht Abraham und Isaak Abrahams Opferbereitschaft, und der Verzicht Gottes auf das Opfer erscheint als bedeutsamer Ausdruck seiner Liebe zu Abraham: Und Gott ermahnte: Abraham!! Er brach vom Kamm des Meeres Muscheln ab und Schwamm Hoch auf den Blöcken den Altar zu schmücken.

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Vgl. dazu Itta Shedletzky: Ludwig Jacobowski (1868-1900) und Jakob Loewenberg (1856-1929). Literarisches Leben und Schaffen "aus deutscher und aus jüdischer Seele". In: Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposium. Hrsg. v. Stephane Moses u. Albrecht Schöne. Frankfurt am Main 1986. S. 194-207. In der Tradition bezeichnet der Name 'Elohim' den richtenden Gott (midat hadiri), der Name 'Jahwe' hingegen den barmherzigen Gott (midat harachamim).

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Ina

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Und trug den einzigen Sohn gebunden auf den Rücken zu werden seinem großen Herrn gerecht Der aber liebte seinen Knecht. 13 Alfred Döblins Behandlung der Opferung Isaaks in seinem Roman Berlin Alexanderplatz läßt - im Ansatz - eine erstaunliche Analogie zur traditionellen jüdischen Bibelexegese erkennen. Ausgehend von der in der Bibel erwähnten Frage Isaaks nach dem Opferlamm und Abrahams Antwort darauf, konstruiert Döblin einen ausführlichen Dialog zwischen Vater und Sohn auf dem Weg zur Opferstätte. 14 Der biblische Dialog lautet: Und Jizchak sprach zu Abraham seinem Vater und sagte: Mein Vater! Und er sprach: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier das Feuer und das Holz, wo aber ist das Lamm zum Opfer? Und Abraham sprach: Gott wird sich ersehen das Lamm zum Opfer, mein Sohn! Und sie gingen beide zusammen. 15 Im Gegensatz zu der ausweichenden Antwort Abrahams im biblischen Text spricht Döblins "alter Mann" sehr offen mit seinem Sohn und versucht, ihn zur Opferbereitschaft zu überreden: Ja, das Messer hab ich, ich muß dich ja schlachten, ich muß dich opfern, der Herr befiehlt es, tu es gern, mein Sohn. 16 Auch in der traditionellen jüdischen Bibelexegese wird Abrahams Antwort nicht als ausweichende, sondern als direkte und offene interpretiert. So heißt es im Kommentar von Raschi zu Gen. 22,8: Wird sich das Lamm erwählen, d.h. ersehen und sich das Lamm erwählen; und wenn kein Lamm zum Ganzopfer da sein wird, meinen Sohn; obschon Jizchak jetzt verstand, daß er hinging, geopfert zu werden, gingen sie beide miteinander, mit gleichen Herzen. 17 Nach Raschi wie nach Döblin muß der Bibelvers mit folgender - in der hebräischen Syntax durchaus möglichen - Interpunktion gelesen werden: "Gott wird sich ersehen das Lamm zum Opfer: mein[en] Sohn!" Also: Du, mein Sohn, bist das Opfer. Dagegen weicht Döblins Darstellung der Reaktion Isaaks wesentlich von Raschis Interpretation ab. Die letzten Worte von Vers 8 - "Und sie gingen beide zusammen" - bezeugen für Raschi das sofortige 13 14

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Zitiert nach Else Lasker-Schüler: Gedichte 1902-1943. München 1986. S.292. Im folgenden zitiert nach Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. München 1965. S.255256. Gen. 22,7-8. Zitiert nach: Die vierundzwanzig Bücher der Heiligen Schrift nach dem masoretischen Texte. Unter der Redaktion von Dr. Leopold Zunz übersetzt von H. Arnheim, Dr. Julius Fürst, Dr. M. Sachs. 17. Aufl. Berlin 1935. S.24. Berlin Alexanderplatz (Anm.14), S.255. Zitiert nach: Raschis Pentateuchkommentar. Vollständig ins Deutsche übertragen u. mit einer Einleitung vers. v. Rabb. Selig Bamberger. 2. Aufl. Hamburg 1928. S.59.

Existenz und Tradition

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Einverständnis Isaaks und, daraus hervorgehend, seine Ebenbürtigkeit mit Abraham, was den beispielhaften Gehorsam und das absolute Vertrauen zu Gott betrifft. Bei Döblin lehnt sich der Sohn anfangs gegen Gott und den Vater auf: "Nein, ich kann es nicht tun, ich schreie, faß mich nicht an, ich will nicht geschlachtet werden." 18 Im Kontext von Döblins Roman, dem Weg Franz Biberkopfs entsprechend, ergibt sich der Sohn erst allmählich, nach langem Hin und Her, dem göttlichen Willen. Nach 1933 vertieft und verschärft sich die Notwendigkeit einer Sinngebung der jüdischen Existenz. Die totale Unentrinnbarkeit und das unermeßliche Leid erzwingen gleichsam eine neue Kohäsion von Existenz und Tradition, wie sie im Werk von Karl Wolfskehl, Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und Paul Celan , wiederum in verschiedenen Formen, zum Ausdruck kommt. Daß eine solche Rückwendung zur jüdischen Tradition, nicht auf fundamentalistischreligiöser, sondern auf säkularisiert-universeller Basis, überhaupt möglich ist, liegt wohl nicht zuletzt an der spezifischen Beschaffenheit dieser Tradition, an der ihr immanenten Vieldeutigkeit, Dialektik und Offenheit, wie Gershom Scholem sie in seinen Büchern Zur Kabbala und ihrer Symbolik und Über einige Grundbegriffe des Judentums dargestellt hat: So liefen im Lauf der Generationen viele Sätze um, die als "Halacha an Moses vom Sinai her" bezeichnet wurden. Bald aber erweiterte sich der Bereich der Anwendung des Begriffs, Alles, was von den Schriftgelehrten besprochen wurde, was in den Lehrhäusern überliefert wurde - Gesetzliches, Historisches, Ethisches, Homiletisches - wurde in den fruchtbaren Bereich der Tradition eingepflanzt, die nun ein ungemein lebendiges geistiges Phänomen wurde. 19 Es ist wichtig darauf hinzuweisen, daß Scholem von der Tradition und ihrer Wirkung vor dem in der Neuzeit erfolgten Bruch spricht. An einer Stelle jedoch, in seinem Aufsatz über Religiöse Autorität und Mystik, bringt er "die Situation der talmudischen Mystiker" in Zusammenhang mit der "Kafkaschen Welt": Als ein Schlüssel zur Offenbarung - so stellt sich die neue Offenbarung dar, die dem Mystiker zuteil wird. Ja mehr: der Schlüssel mag selbst verlorengehen - noch immer bleibt der unendliche Antrieb, ihn zu suchen. Das ist nicht nur die Situation, in der die Schriften Franz Kafkas die mystischen Antriebe, gleichsam auf dem Nullpunkt angelangt, und noch im Nullpunkt, auf dem sie zu verschwinden scheinen, so unendlich wirksam zeigen. Es ist das schon die Situation der talmudischen Mystiker des Judentums, wie sie schon vor siebzehnhundert Jahren einer von ihnen anonym und an verstecktester Stelle großartig formuliert hat. Origenes 18 19

Berlin Alexanderplatz (Anm. 14), S.255. Gershom Scholem (Anm.2), S.96.

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Shedletzky

berichtet in seinem Psalmenkommentar, daß ihm ein "hebräischer" Gelehrter, wohl ein Mitglied der rabbinischen Akademie in Caesarea, gesagt habe, die heiligen Schriften glichen einem großen Haus mit vielen, vielen Gemächern, und vor jedem Gemach liegt ein Schlüssel - aber es ist nicht der richtige. Die Schlüssel von allen Gemächern sind vertauscht, und es sei die Aufgabe, groß und schwierig in einem, die richtigen Schlüssel zu finden, die die Gemächer aufschließen. Dies Gleichnis, das die Kafkasche Situation schon innerhalb der in höchster Entfaltung befindlichen talmudischen Tradition aufreißt, ohne etwa in irgendeiner Weise negativ gewertet zu werden, mag einen Blick dafür öffnen, wie tief letzten Endes auch die Kafkasche Welt in die Genealogie der jüdischen Mystik hineingehört. 20 Nachdem hier bislang nur ganz allgemein von Existenz und Tradition die Rede war, soll nun anhand dreier markanter Passagen aus dem traditionellen jüdischen Schrifttum etwas konkreter gezeigt werden, was diese Begriffe im ursprünglichen jüdischen Bewußtsein bedeuten, aber auch: wie schon in der Tradition selber - eine Art 'blue print1 - die Möglichkeit der Auflehnung gegen sie, der Uminterpretation und des erneuten Anknüpfens an sie auf universeller Basis vorgezeichnet ist. Jüdische Existenz bedeutet Existenz im Exil eines seiner Sünden wegen aus seinem Land vertriebenen Volkes, bis zu der von Gott bestimmten Erlösung: Und um unserer Sünden willen sind wir verbannt aus unserem Lande und entfernt von unserem Boden, und wir können nicht ausüben unsere gottesdienstlichen Pflichten in Deinem erwählten Hause, dem erhabenen heiligen Hause, darüber Dein Name genannt ist, wegen der Gewalt, die gegen Deinen Tempel feindlich sich gewandt. 21 Dies ist nicht irgendein beliebiges Zitat. Es sind die Worte, die das Hauptgebet an den hohen Feiertagen - Neujahr und Versöhnungstag - einleiten und somit ein besonders starkes Einprägungsvermögen haben. Es wird hier aber nicht nur die mit Schuld belastete Exilexistenz im Bewußtsein der Juden perpetuiert. Gleichzeitig manifestiert sich hier auch ein Akt der Abstraktion, der Vergeistigung, im Übergang vom Opferdienst im Tempel zum Gebet, und darin ist das Potential einer positiven Bedeutung enthalten. Bezeichnenderweise äußerte sich die harmonisierende Auflehnung der religiös-liberalen Reformbewegung gegen die Tradition nicht zuletzt in einer neuen Sinngebung des Exils. Das Leben in der Diaspora wird nicht mehr als Strafe für vergangene Sünden verstanden, sondern im Gegenteil: als Aufgabe, als Sendung Israels, 'Träger des reinen Monotheismus', das 'Licht der

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Gershom Scholem: Religiöse Autorität und Mystik. In: Ders., Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt am Main 1973. S.22-23. Zitiert nach: Gebetbuch der Israeliten. Übersetzt und erläutert von Dr. Michael Sachs. 2. Aufl. Breslau 1906. S.436.

Existenz und Tradition

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Völker' zu sein. 22 Dem realen Bewußtseinsstand der säkularisierten Juden wohl eher entsprechend war - im Vergleich und Kontrast dazu - die oben erwähnte literarische und publizistische Auseinandersetzung mit der 'Judenfrage'. 2 3 Nach 1933, und noch deutlicher nach 1945, entsteht ein neues Bewußtsein des totalen, absoluten Exils, welches bei Else Lasker-Schüler und, schärfer noch, bei Peter Szondi besonders eindringliche Dimensionen erreicht. In ihrem Drama Ichundich läßt Else Lasker-Schüler ihren Mephisto die schwerwiegenden Worte sprechen: Nur Ewigkeit ist kein Exil. Zu ihr finden, Heinrich, durchstreiftest du das Erdental - nicht immer tugendhaft, doch immer unbefleckt das Land der - Sünden. 24 Für Else Lasker-Schüler gibt es Erlösung vom Exil in der Ewigkeit. In Peter Szondis Interpretation von Georg Büchners Drama Danrons Tod gibt es keine Ewigkeit, keine Erlösung, keine Befreiung von der Schuld, weder im Leben noch im Tod. Szondi liest Büchners Danton mit dem geschärften Blick eines äußerst sensiblen Shoah-Überlebenden, belastet mit einem - jenseits des persönlichen Gewissens angesiedelten - Schuldbewußtsein: Und ebensowenig ist es sein [Dantons] eigener Entschluß, die Vergangenheit vor das Tribunal des Gewissens zu zitieren. Nannte er doch das Gewissen im Gespräch mit Robespierre einen "Spiegel, vor dem ein Affe sich quält". Die Einsicht in das "Muß" kann ihn nicht beruhigen, denn er erkennt es als Ursache nicht nur der Taten sondern auch des Gedächtnisses, das ihm ebenso fremd ist wie die Morde, die es richtet. Deshalb verweigert er ihm den Namen Gewissen. Und aus dem inneren Kampf, in dem er nicht mitkämpfen kann, flieht Danton zu seinen Mördern, um nicht sein eigener Mörder zu werden. 25 Peter Szondi, der hier die Möglichkeit erwägt, daß Büchners Danton in der Szene "Freies Feld" an Selbstmord dachte 26 , wurde wenige Jahre später selbst "sein eigener Mörder". In der jüdischen Tradition ist nicht nur die tradierte Lehre, sondern auch der Akt des Empfangens und Überlieferns an sich von fundamentaler Bedeutung. So heißt es am Anfang des Mischna-Traktats Sprüche der Väter:

22

Vgl. dazu Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Berlin 1933. S. 145-147, 149-150, 170-174.

23

Vgl. Anm. 5 u. 6. Else Lasker-Schüler: Ichundich. Eine theatralische Tragödie. Hrsg. v. Margarete Kupper. München 1980. S.42. Peter Szondi: Dantons Tod. In: Ders., Schriften I. Frankfurt am Main 1978. S.257. Georg Büchner: Werke und Briefe. München 1980. S.35.

24

25 26

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Itta

Shedletzky

Mose empfing die Tora auf [dem Berge] Sinaj, überlieferte sie Jehosua, Jehosua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten sie den Männern der Groß-Synode. 27 Nun ist auch dieser sechs Kapitel umfassende Traktat nicht irgendein Text. Er wird jährlich an sechs bestimmten Sabbaten Kapitel für Kapitel gelesen und 'gelernt' und ist deshalb im Gebetbuch abgedruckt. Besonders interessant ist in unserem Kontext die Erklärung des Mischna-Kommentators Ovadja aus Bertinoro zur Frage, warum gerade dieser Mischna-Traktat eingeleitet wird mit dem Hinweis auf die Überlieferung. Seine Antwort lautet: Ich sage, weil dieser Traktat nicht begründet ist auf Erklärungen der Tora-Gebote wie die übrigen Traktate der Mischna. Er besteht ausschließlich aus allgemein gültigen ethischen Maximen, die auch in den Weisheitsbüchern der anderen Völker zu finden sind, deren Verfasser nach eigenem Gutdünken bestimmt haben, wie die Menschen sich zueinander verhalten sollen. Deshalb beginnt gerade dieser Traktat mit dem Hinweis auf die Übergabe der Tora an Moses am Sinai: um zu betonen, daß die ethischen Grundsätze in diesem Traktat nicht von den Gelehrten der Mischna selbst erfunden, sondern daß auch sie am Sinai offenbart und überliefert wurden. 28 Der Kommentator des 15. Jahrhunderts verwahrt sich hier unter anderem gegen die Annäherung an die Völker und gegen die Möglichkeit eines von den praktischen Geboten entfremdeten, rein ethischen Judentums, wie es dann, rund dreihundert Jahre später, zur Realität wurde. Besonders brisant ist nun, im Zusammenhang mit der zentralen Funktion der Ethik im Judentum und ihrem Verhältnis zu den Geboten der Tora, die folgende Passage aus dem Talmud-Traktat Makkoth. Im Kontext einer minutiösen Diskussion, wie die in der Tora verordneten Todesstrafen zu umgehen seien, sagt Rabbi Hananja ben Gamliel: Wenn dem, der nur eine Sünde begangen hat, dieserhalb das Leben genommen wird, um wieviel mehr wird dem, der ein Gebot ausgeübt hat, sein Leben geschenkt. 29 Dazu sagt Rabbi Hanina ben Akasja: Der Heilige, gepriesen sei er, wollte Israel verdienstlich machen, daher verlieh er ihnen das Gesetz und viele Gebote (S.231). Zu diesem Punkt und zum Stichwort 'ein Gebot' trägt nun Rabbi Simlaj eine längere Erörterung vor: 27

28 29

Zitiert nach: Der babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. Bd. 9. Berlin 1934. S. Aus dem Hebräischen übersetzt v. der Verf. Der babylonische Talmud (Anm.27), S.231.

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Sechshundertdreizehn Vorschriften sind Mose überliefert worden: dreihundertfünfundsechzig Verbote, entsprechend den Tagen des Sonnenjahres, und zweihundertachtundvierzig Gebote, entsprechend den Gliedern des Menschen. [...] Hierauf kam David und brachte sie auf elf, denn es heißt [Ps. 15,1-5]: Ein Psalm Davids. Herr, wer darf in deinem Zelte wohnen, wer darf auf deinem heiligen Berge ruhen? Wer makellos wandelt und recht tut und vom Herzen Wahrheit redet, auf seiner Zunge nicht Verleumdung hegt, seinem Nächsten nichts Böses zufügt und nicht Schmach auf seinen Freund lädt; dem der Verworfene als verächtlich gilt, während er, die den Herrn furchten, in Ehren hält; der, wenn er zu seinem Schaden geschworen hat, es doch nicht abändert; der sein Geld nicht um Zins gibt und nicht Bestechung gegen den Unschuldigen annimmt. Wer solches tut, wird nimmermehr wanken. [...] Hierauf kam Jesaja und brachte sie auf sechs, denn es heißt [Jes.33,15]: Wer in Rechtschaffenheit wandelt, und Redlichkeit redet, wer Gewinn durch Erpressung verschmäht, wer Bestechung mit den Händen abwehrt, wer sein Ohr verstopf, um nicht Mordpläne zu hören, und seine Augen verschließt, nicht das Böse zu schauen. [...] Hierauf kam Micha und brachte sie auf drei, denn es heißt [Micha 6,8]: Er hat zu dir gesagt, ο Mensch, was frommt! Und was fordert der Herr von dir außer Gerechtigkeit zu tun, sich der Liebe zu befleißigen, und demütig zu wandeln vor deinem Gott. [...] Hierauf kam Jesaja abermals und brachte sie auf zwei, denn es heißt [Jes.56,1]: So spricht der Herr: Wahret das Recht und übet Gerechtigkeit. Alsdann kam Arnos und brachte sie auf eines, denn es heißt [Arnos 5,4]: So spricht der Herr zum Hause Israel: Forscht nach mir, damit ihr am Leben bleibt. Rabbi Nachman ben Jitzhak wandte ein: Vielleicht ist unter forschen zu verstehen, nach der ganzen Tora!? - Vielmehr, hierauf kam Habakuk und brachte sie auf eines, denn es heißt [Hab.2,4]: der Fromme wird durch seinen Glauben leben.30 In dieser Talmud-Passage werden die 613 Vorschriften der Tora auf eine einzige reduziert, die wohl Kern und Sinn aller Gebote ist, aber auch in ihrer Vieldeutigkeit für sich allein stehen kann. Darüber hinaus erscheinen die Propheten in gewissem Antagonismus zu Moses. Dies wird noch deutlicher aus der Fortsetzung der Diskussion, die genau an diesem Punkt von Rabbi Jose ben Hanina weitergeführt wird: "Vier Verhängnisse sprach Mose aus und hierauf kamen vier Propheten und hoben sie auf [...]" (S.235). Der Vers des Propheten "Aber der Fromme (Gerechte) wird in seinem Glauben leben", der sich im direkten Kontext des Buches Habakuk auf die Erlösung bezieht, erscheint im Talmud als Quintessenz der jüdischen Tradition. Von dieser Reduzierung auf den einen Punkt des individuellen Glaubens (sein Glauben, nicht der Glauben) als Lebensbedingung des Menschen scheint etwas anzuklingen in Franz Kafkas Aphorismen über "das Unzerstörbare": Theoretisch gibt es eine vollkommene Glücksmöglichkeit: An das Unzerstörbare in sich zu glauben und nicht nach ihm zu streben. 30

Ebd., S.233-235.

Ina Shedleizky

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oder: Das Unzerstörbare ist eines: jeder einzelne Mensch ist es und gleichzeitig ist es in allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung der Menschen. 31 In Kafkas Vor dem Betreten des Allerheiligsten wird gewissermaßen das in der zitierten Talmud-Passage vorgezeichnete Durchdringen durch alle Schalen bis zum Kern nach vollzogen: Vor dem Betreten des Allerheiligsten mußt du die Schuhe ausziehen, aber nicht nur die Schuhe, sondern alles, Reisekleid und Gepäck, und darunter die Nacktheit und alles, was unter der Nacktheit ist, und alles, was sich unter dieser verbirgt, und dann den Kern und den Kern des Kerns, dann das übrige und dann den Rest und dann noch den Schein des unvergänglichen Feuers. Erst das Feuer selbst wird vom Allerheiligsten aufgesogen und läßt sich von ihm aufsaugen, keines von beiden kann dem widerstehen. 32 Als 'Gerechte, die in ihrem Glauben leben', haben auch die jüdischen Expressionisten ihre Rolle als 'Dichterpropheten' 33 verstanden, wohl noch intensiver als ihre nichtjüdischen Kollegen, wie denn überhaupt das 'Jüdische' im wesentlichen als eine intensivierte Form menschlicher Erfahrung zu verstehen ist. Nicht nur im deutschjüdischen Bereich der neuen und neuesten Zeit - hier aber besonders stark und ambivalent - ist es die immer akuter werdende Spannung zwischen dem 'Unentrinnbaren' und dem 'Unzerstörbaren', welche die jüdische Erfahrung und deren Ausdruck in der Literatur bestimmt.

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33

Franz Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Frankfurt am Main 1953. S.47. Franz Kafka: Das dritte Oktavheft. In: Hochzeitsvorbereitungen (Anm. 31), S.104f.

So etwa bei Else Lasker-Schüler (Hebräische Balladen, Der Wunderrabbiner von Barcelona, Das Hebräerland, Ichundich), in der Erzählung Daniel von Ernst Weiss (Berlin 1924) und in Alfred Wolfensteins Aufsatz Das neue Dichtertum des Juden (in: Juden in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Gustav Krojanker. Berlin 1922. S.333-359).

Ernst Loewy (Frankfurt am Main)

Zum Paradigmenwandel in der Exilliteraturforschung

Es ist mir eine willkommene Pflicht, diesen Vortrag mit einigen Worten des Gedenkens an einen Mann zu beginnen, auf dessen Namen von seinen Erben eine Stiftung für die deutsche Abteilung dieser Universität eingerichtet wurde. Aus ihren Mitteln wird auch dieses Symposium mitfinanziert. Mir war Dr. Ludwig Rosenthal, wenn leider auch nur dem Namen nach, von seiner Mitgliedschaft in der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen bekannt, deren Mitglied auch ich bin. Ludwig Rosenthal, ein Nachkomme des berühmten Rabbi Meir von Rothenburg, wurde am 7. November 1896 in Bergen bei Frankfurt geboren. Er studierte 1915 bis 1918 in Frankfurt am Main und München, promovierte 1920 in Würzburg und war in den zwanziger Jahren als Rechtsanwalt in Frankfurt tätig. Rosenthal emigrierte 1933 über die Niederlande nach Guatemala, dem Geburtsland seiner Frau, wo er bis 1968 als Kaufmann und Plantagenbesitzer tätig war. Er starb am 29. Juni 1988 in Guatemala City. Rosenthal hatte sich in seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten einen Namen als Historiker gemacht. Sein erstes Buch Zur Geschichte der Juden in der ehemaligen Grafschaft Hanau (1963) befaßte sich mit der jüdischen Territorialgeschichte seiner engeren Heimat. Unter seinen späteren Schriften, darunter acht selbständigen Titeln, sind weitere Arbeiten zur jüdischen Geschichte des genannten und der angrenzenden Territorien zu finden, mehrere Arbeiten zur Geschichte der Judenverfolgung in Deutschland von der frühesten Zeit bis zur Shoah sowie einige Arbeiten zur Familiengeschichte von Heinrich Heine. Die Erforschung des deutschsprachigen Exils, und damit auch der Exilliteratur, befindet sich in einem Umbruch. Er ist äußerlich markiert durch das Ende einer zehnjährigen Förderung, vornehmlich der Grundlagenforschung, seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Jahre 1983 und der kürzlichen Einrichtung eines mehrjährigen Schwerpunktprogramms, gleichfalls durch die DFG, zum Thema 'Wissenschaftsemigration'. Ein weiterer Schwerpunkt über die Remigration soll folgen. Inhaltlich läßt sich als deutE i n e stark gekürzte und völlig überarbeitete und aktualisierte Fassung dieses Vortrags, in der insbesondere auch die Situation nach der Vereinigung Deutschlands berücksichtigt wird, erschien in: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. B d . 9 (1991): Exil und Remigration. M ü n c h e n 1991, S.208-217.

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lichstes Merkmal dieses Umbruchs das Abgehen von einer weitgehend einseitigen Festlegung des Erkenntnisinteresses auf das emphatisch als 'antifaschistisch' bezeichnete Exil konstatieren. Grundsätzlich ist eine Umorientierung auch in der Exilliteraturforschung, sowohl in der BRD als auch in der DDR, wiewohl in unterschiedlicher Intensität, festzustellen. Das Zustandekommen dieser Tagung ist ein Ausdruck dieser Wandlung. Bevor ich im Detail darauf zu sprechen komme, lassen Sie mich die Entwicklung unseres Forschungsgebietes kurz skizzieren. Die erste zusammenfassende und analysierende Darstellung der deutschsprachigen Emigration ist bereits im Jahre 1935 in Paris erschienen. Ich meine die mit dem anspruchsvollen Titel versehene Schrift von Wolf Franck Führer durch die deutsche Emigration1. Wenn man den Forschungsbeginn mit Quellensichtung gleichsetzt, so würde ich allerdings den Beginn der Exilforschung mit dem Jahre 1937 datieren. In diesem Jahr kam mit Heft 4/5 der in Moskau erschienenen literarischen Monatsschrift "Das Wort" 2 die erste gedruckte Bio-Bibliographie zur Exilliteratur heraus. Sie verzeichnete bereits über hundert Autoren und ihre Werke. Nicht nur im gleichen Jahr, sondern fast zur gleichen Zeit, nämlich nur einen Monat früher, erschien das als 'geheim' klassifizierte Leitheft Emigrantenpresse und Schrifttum3 des Reichsführer SS, das für den internen Gebrauch der Verfolger bestimmt war und diesen das für ihre Ziele erforderliche Herrschaftswissen vermittelte. Die Schrift, zum ersten Mal im Jahre 1973 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, bietet einen nicht uninteressanten Aufriß des Verlags- und Pressewesens des Exils, wobei die seinerzeit wichtigsten Zeitschriften detailliert beschrieben und die Buchproduktion, nach Verlagen geordnet, vorgestellt werden. Als der eigentliche Nestor der Exilliteraturforschung kann mit Fug und Recht Walter A. Berendsohn bezeichnet werden, der bereits 1946 den ersten Teil seines Werkes Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur4 vorlegen konnte, welches die Zeit von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939 beschreibt. Verlegerisches Desinteresse, in Verbindung mit dem Provisorischen, das einem solchen Werk notwendigerweise anhaftete, hatte das Erscheinen des zweiten Bandes leider sehr lange verzögert. Das Manuskript lag bereits 1949 vor, erschien jedoch erst 1976, so daß ihm am Ende nur noch ein historischer Wert zuzusprechen war. 5 Mit der kurz nach dem Kriege erschienenen Textsammlung Verboten und verbrannt von Richard Drews und Alfred Kantorowicz 6 sowie dem Buch Unter fremden 1 2 3

4 5 6

Wolf Franck: Führer durch die deutsche Emigration. Paris 1935. Das Wort. Jg. 2 (1937), H. 4-5, S. 154-204. In: Herbert E. Tutas: NS-Propaganda und deutsches Exil 1933-39. Worms 1973, S.135188. Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. 1. Teil. Zürich 1946. Ders.: Die humanistische Front. 2. Teil. Worms 1976. Alfred Kantorowicz, Richard Drews: Verboten und verbrannt. Berlin u. München 1947.

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Himmeln von F. C. Weiskopf 7 schien das Kapitel 'Exilliteratur' für die bundesrepublikanische Germanistik so gut wie abgeschlossen, jedenfalls für die kommenden zwei Jahrzehnte. Zwar wurden einzelne Autoren (bzw. Werke) des Exils schnell wieder verlegt oder auch zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht, einige, wie die Thomas Manns, schon früh, andere, wie die Arnold Zweigs, sehr spät, in jedem Fall aber unter größtmöglicher Ausklammerung aller exilspezifischen Fragestellungen. Dafür hier nur ein Beispiel: Die Sammlung der Rundfunkreden Thomas Manns während der Zeit des Zweiten Weltkrieges Deutsche Hörerl, in den diversen Gesamtausgaben des Autors natürlich enthalten, wurde als Einzelausgabe erst vor wenigen Jahren in der Bundesrepublik herausgebracht. 8 Glaubte man, sich dieser engagierten Texte und ihres kämpferischen Pathos schämen zu müssen? Allerdings hatte sich das bundesdeutsche Verlagswesen sehr früh und verdienstvollerweise solcher Autoren angenommen, die wie Robert Musil oder Hermann Broch für die Emigranten selber eher Geheimtips, oder jener Autoren der literarischen Avantgarde, die in den literaturpolitischen Auseinandersetzungen des Exils die Verlierer geblieben waren. Ich erinnere hier an die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt herausgegebene Reihe "Verschollene und Vergessene", in der schon zu Beginn der fünfziger Jahre an Autoren wie Albert Ehrenstein, Carl Einstein, Max Herrmann-Neisse, Else Lasker-Schüler und Alfred Wolfenstein erinnert wurde. 9 Die sich nach 1945 herausbildende, allen 'Vätern' abholde westdeutsche Nachkriegsliteratur, stark beeinflußt durch die sich zwar als 'engagiert' definierende, doch in ihrer Frühzeit eher unpolitische "Gruppe 47", empfand diesen Autoren gegenüber jedenfalls eine sehr viel stärkere Affinität als jenen, die sich mit ihrem Werk oder ihrer Person dem 'antifaschistischen', genauer: dem am Volksfrontdenken orientierten Paradigma verpflichtet fühlten. Zu vermerken bleibt freilich, daß auch im Zeichen der vielbeschworenen 'Vergangenheitsbewältigung', aber auch aufrichtiger Betroffenheit zahlreiche jüdische Autoren und deren Werke in das Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit gelangt waren - ich denke hier zum Beispiel an Nelly Sachs, die 1966 zusammen mit Samuel Josef Agnon den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Auch denke ich an die stattliche Zahl vorwiegend nichtfiktionaler Autoren des Exils wie den Verleger Max Tau, Martin Buber, Paul Tillich, Ernst

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8 9

Franz Carl Weiskopf: Unter fremden Himmeln. Berlin 1947. (Um e. Textanhang erw. Nachdr. Berlin/DDR 1981). Thomas Mann: Deutsche Hörer. Frankfurt a.M. 1987. Vgl. Wider das Vergessen. Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, unterdrückt in der Zeit des Nationalsozialismus, vergessen nach 194S. Begleitheft zur Ausstellung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt, und der Stadt- und Universitätsbibliothek, Frankfurt am Main 1985 (die Ausstellung wurde während des Jerusalemer Symposiums in der Hebräischen Nationalbibliothek gezeigt).

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Bloch, Alfred Grosser und andere, die Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels geworden sind. Nicht zu vergessen ist schließlich aber auch die im Stillen geleistete Arbeit der Bibliothekare und Bibliographen, die wie Hanns Wilhelm Eppelsheimer und Werner Berthold in Frankfurt, Wilhelm Sternfeld in London, Horst Halfmann in Leipzig, Walter Huder in Berlin durch das Sammeln der Quellen schon früh das Fundament dafür legten, auf das zu gegebener Zeit aufgebaut werden konnte. Unvergessen bleiben gleichfalls die erste Ausstellung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main (1965) sowie das fortgesetzte Wirken von Walter A. Berendsohn, der mit der von ihm begründeten Stockholmer Koordinationsstelle für die deutsche Exilliteratur, mit den von dieser herausgegebenen Berichten und den von ihr initiierten internationalen Kongressen (der erste fand 1969 in Stockholm, der zweite 1972 in Kopenhagen statt), wichtige Anstöße gegeben hatte. Ohne all dieses wäre die neuere Exilforschung - man könnte sie datieren mit Hans Albert Walters frühen Aufsätzen aus den mittleren sechziger Jahren - nicht denkbar. Sie hat sich erst langsam, dann um die Wende zu den siebziger Jahren nahezu explosionsartig entwickelt. Die Entwicklung in der DDR war im Vergleich zu der in der Bundesrepublik nahezu spiegelverkehrt. Allein schon aus Legitimationsgründen hatte die DDR das antifaschistische Exil (so wie den antifaschistischen Widerstand) zu einem von ihr zu verwaltenden Erbe erklärt. Dieses blieb für lange Zeit freilich auf die seinerzeitige 'Volksfront'-Praxis orientiert und damit auch durch Rezeptions- und Forschungslücken charakterisiert, welche jene Zwänge reproduzierten, die bereits während der NS-Zeit die Volksfrontpolitik bestimmten. Auf diese Weise blieben gerade viele der in der BRD rezipierten Autoren von einer Rezeption in der DDR weitgehend oder völlig ausgeschlossen, einige davon bis heute. Ich denke bei den letzteren vor allem an solche Autoren, die wie Koestler, Regler oder Sperber mit der Kommunistischen Partei gebrochen hatten. Der mit dem Verdikt des 'Formalismus' einst belegten Moderne hatte sich die DDR schon wesentlich früher, wenn auch zunächst nur zögernd, geöffnet. Vermerkt sei hier vor allem das Beispiel der Zeitschrift "Sinn und Form", die unter der Leitung von Peter Hüchel bereits in den fünfziger Jahren Autoren veröffentlicht und ihre Werke zum Gegenstand der Forschung gemacht hatte, die wie Adorno, Benjamin, Broch oder Musil in der DDR anscheinend als außerhalb des herrschenden Literaturkanons stehend angesehen wurden und bis heute auch nur erst zaghaft rezipiert worden sind. Während in der DDR das politische Denken einem zur Staatsraison, erhobenen, gleichsam 'verordneten Antifaschismus' gehorchte, bedurfte es in der BRD erst der Herstellung eines Klimas, einer politischen Kultur von unten,

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um einen 'nachgeholten Antifaschismus' zu befördern. Es war nur zu natürlich, daß im Zuge der politischen Bewegung gegen Mitte und Ende der sechziger Jahre radikaldemokratisch und internationalistisch, wie sie gestimmt war, die überlieferten und durch den Nationalsozialismus diskreditierten nationalistischen Traditionen deutscher Vergangenheit ernsthaft infragegestellt, gleichzeitig aber auch neue Orientierungspunkte, sowohl der älteren wie der jüngeren deutschen Geschichte,"anvisiert wurden: in der Folge eben auch das deutsche Exil, seine Philosophie und seine Literatur. Das neu gewonnene Interesse an der Exilliteratur, insbesondere auch für die sich betont als 'antifaschistisch' definierende, führte zwar zu einer gewissen Annäherung zwischen der ost- und westdeutschen Forschung, war jedoch noch weit davon entfernt, Kooperation zu stiften, wie sie sich zum Beispiel in gemeinsam ausgerichteten Kongressen hätte darstellen können. Ein Versuch dieser Art, nämlich dem Stockholmer Kongreß von 1966 sowie dem Kopenhagener von 1972 einen weiteren in Wien folgen zu lassen, ging in die Brüche, kaum daß mit der Vorbereitung eines solchen begonnen wurde. 1 0 Dies konnte freilich schon deshalb nicht verwundern, weil in den beiden deutschen Staaten selbst der antifaschistische Bereich, der sich in der DDR noch immer an den Zwängen der Volksfront-Praxis orientierte, nicht deckungsgleich sein konnte. Unnötig zu sagen, daß die DDR damit immer weniger legitimiert schien, allein das Erbe des antifaschistischen Exils zu verwalten, für das sie, wie für das Exil überhaupt - aber das gilt gleicherweise, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, für die BRD - ohnehin nur ein selektives Wahrnehmungsvermögen hatte. Doch auch ohne daß sich grundsätzlich die beiden deutschen Staaten in den vergangenen zwei Jahrzehnten einander angenähert hätten, ist inzwischen die Isolation voneinander partiell doch soweit aufgebrochen, daß - dies meine These - davon ausgegangen werden kann, daß der Paradigmenwandel hier wie dort im Gange ist, in welchem Ausmaß auch immer. Ideengeschichtliche Wandlungen spielen sich nicht im luftleeren Raum ab. Das Jahr 1968 war nicht nur das Jahr eines Aufbruchs des an den wirtschaftlichen Segnungen der westlichen Welt und deren Krisen und Kriegen (vor allem dem Vietnamkrieg) irregewordenen Jugend, der Aufbruchstimmung einer neuen Linken, sondern auch das Jahr, in welchem die Wahrnehmung und Erkenntnis der schlechten Praxis des realen Sozialismus sich von neuem und diesmal unwiderruflich in das Bewußtsein der alten Linken, soweit sie nicht längst davon abgerückt war (oder ihm ohnehin fernstand), eingegraben hatte. 10

An seiner Stelle fand 1975 ein auf das österreichische Exil beschränktes und von österreichischen Forschern ausgerichtetes Symposium statt. Auch hatten US-amerikanische Universitäten inzwischen begonnen, in jährlichen Symposien sich des Themas zu bemächtigen. D i e Kongreßprotokolle sind unter verschiedenen Titeln und in unterschiedlichen Verlagen erschienen, u.a. im Bouvier Verlag Herbert Grundmann in Bonn.

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Die den 'Prager Frühling' überrollenden Tanks der Streitkräfte der Warschauer-Pakt-Staaten hatten die Sowjetmacht, ihre Satelliten sowie die Mehrzahl der kommunistischen Parteien und ihre Anhänger in einem Maße diskreditiert, daß wortwörtlich 'kein Staat1 mehr damit zu machen war. Mehr noch: Auch die 'Neue Linke', die das Erbe der marxistischen Linken (ob mit eher reformistischem oder eher radikalem Hintergrund) anzutreten versuchte, versackte ihrerseits mit der Ausdehnung der 'Bewegung' in einem ausweglosen Sektierertum, sofern es ihr nicht gelang, etwa auf dem 'langen Marsch durch die Institutionen', einige Nischen zu erobern und auch die politische Kultur der BRD in gewissem Maße mitzuformen. Das Bedürfnis der 'Nachgeborenen' nach einem 'nachgeholten Antifaschismus', von dem bereits die Rede war, war Teil dieser Entwicklung. Skepsis war freilich schon damals am Platze hinsichtlich der Frage, ob es sich bei all dem tatsächlich um den Vorgriff auf ein 'neues' Denken oder noch um einen Nachhall von zum Teil in Vergessenheit geratenen, zum Teil überholten linken Positionen handelte. Beides dürfte im Nebeneinander von Entwicklungssträngen wohl der Fall gewesen sein, wobei der von Habermas geprägte Begriff einer 'Neuen Unübersichtlichkeit1 bereits auf eine spätere von der 'konservativen Wende' und der 'Postmoderne' geprägte Situation hindeutet. Die wachsende Unglaubwürdigkeit teleologisch bestimmter Entwicklungsmodelle, die die Selbstverwirklichung des Menschen im historischen Prozeß für ausgemacht hielt, hatte bereits die Vordenker der 'Neuen Linken' - etwa die Vertreter der 'Frankfurter Schule' - in ihrem amerikanischen Exil veranlaßt, Grundpositionen der 'Alten Linken' zu hinterfragen. Neue Probleme verlangten jetzt nach neuen Antworten, freilich ohne daß die alten bereits gelöst gewesen wären. Zu ihnen zählten: der Dritte-Welt-Konflikt, die Überrüstung (insbesondere durch die Anhäufung von Atomwaffen), die voraussehbaren ökologischen Katastrophen, die Bevölkerungsexplosion. Dazu gesellte sich, insbesondere wohl im Zuge des inzwischen vollzogenen Generationenwechsels, sowohl in der Bundesrepublik als auch in anderen Teilen der Welt, die altneue, doch jetzt mit weitaus größerer Dringlichkeit als vordem gestellte Frage nach den Ursachen und den Bedingungen, die Auschwitz möglich gemacht hatten. Denn: Dementierte dieses nicht jeden Glauben an die Beständigkeit der westlichen Zivilisation, an den Triumph der Aufklärung, die Rationalität als einer den Menschen im historischen Prozeß zugewachsenen und irreversiblen Größe? All dies waren Fragen, die sich zu den tradierten Lösungsmodellen der antifaschistischen Linken stellten und damit auch quer zu Teilen der von ihnen favorisierten Literatur. Ohne daß ich Auschwitz mit den denkbaren Katastrophen der Zukunft auf einen Nenner bringen möchte, glaube ich doch, daß sich eine gewisse Sensibilisierung für das je andere Phänomen aus der Wahrnehmung einer Massengesellschaft und Massenkultur ergibt, in der die selbstbestimmte Verfügung

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über das eigene Tun der Individuen immer geringer, die Entfremdung von den Produkten ihrer Tätigkeit jedoch immer größer wird. Die Täter werden immer weniger benennbar, die Tatorte nicht mehr lokalisierbar, die Taten selber nicht datierbar. Die Vergewaltigung von Mensch und Natur findet überall statt. Um rentabel zu bleiben, die Arbeitsplätze zu sichern, das heißt, wettbewerbsfähig zu sein (oder auch nur, um das System aufrechtzuerhalten), muß die Maschinerie, gleich welche, in Gang gehalten werden. Die Vernetzung der wichtigsten Berufszweige, Industrien, Dienststellen, Befehlsgeber, Befehlsempfänger und Befehlsstränge läßt den Einzelnen im Unklaren, was und wofür er eingesetzt wird. Vor allem enthebt sie ihn der Verantwortung für das Endprodukt, für das, was dieses leistet und was es anrichtet. Weder wollen noch können die Einzelnen wissen, wie und wofür ihre Produkte genutzt werden, für wen oder wozu ihre Handlungen gut sein sollen, es sei denn, sie säßen an den Schaltstellen, den Zugstrecken, den Rampen, die zu den Vorhöfen und schließlich ins Innere der Hölle führen: ich meine jetzt Auschwitz, doch wer weiß denn schon, ob dieses das letzte seiner Art gewesen sei? Vielleicht erweist es sich eines Tages nur als der spezifisch deutsche Vorläufer einer im Grundsätzlichen jedenfalls auch anderswo vorstellbaren Ausmerzung 'unwerten Lebens', etwa im Zuge bevölkerungspolitischer 'Sanierungs'-Programme? Die Apokalypse ist mit Auschwitz nicht mehr nur denkbar, sie ist historische Wirklichkeit geworden. Alle unsere Bestrebungen müßten darauf gerichtet sein, ihre Wiederkehr, in welcher Form auch immer, zu verhindern. Mit der Bedeutung, die Auschwitz etwa seit Beginn der achtziger Jahre für das öffentliche Bewußtsein der Erben sowohl der Opfer- als auch der Täterseite gewonnen hat, hat das (insbesondere jüdische) Leidens- und Opfermotiv gegenüber dem Widerstandsmotiv eine vermehrte Beachtung auch in der Exilforschung gefunden und eine davon weitaus unabhängige Dignität erhalten. Auch wird die Judenverfolgung heute eher als selbständige Zielsetzung nationalsozialistischen Handelns und nicht mehr nur als eine abgeleitete faschistischer Herrschaft angesehen. Auschwitz als Thema auch von Literatur ist im wesentlichen allerdings ein Nachkriegsphänomen und nicht eines der herausragenden Themen der deutschen Exilliteratur, konnte es auch nicht sein, solange man diese allein auf die Zeit des erzwungenen Exils (evtl. noch auf die der unmittelbaren Nachkriegszeit) bezog. Hebt man diese Beschränkung aber auf, und dies ist inzwischen ja weitgehend der Fall, so müßte schon allein aus diesem Grunde der 'Antifaschismus' (oder was sich einmal als solcher bezeichnet hatte) zwangsläufig seine dominierende Rolle innerhalb der Exilliteraturforschung einbüßen, es sei denn, der Begriff würde nur die Tatsache beschreiben, daß die aus dem NS-Reich Geflüchteten sich ohnehin als Antinazis und zumeist auch als Antifaschisten verstanden hatten.

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Erlaubt sei mir hier eine provozierende Frage: Könnte die starke Fokussierung des 'antifaschistischen' Exils durch unser Erkenntnisinteresse unter weitgehender Ausklammerung der Massenvertreibung (und der Massenvernichtung) der deutschen und europäischen Judenheit nicht auch den Verdacht evozieren, daß eine Art geschichtlicher Deckerinnerungen dabei im Spiele waren? Etwa, um das gerade noch Ertragbare vor dem Blick auf das Schlimmste abzuschotten? Weil dieses unfaßbar war und in keine wie auch immer geartete rationale Vorstellung paßte? 11 Es ist dies übrigens eine Frage nicht nur an die 'Nachgeborenen', sondern auch an zahlreiche Antifaschisten meiner Generation. Ich weiß, wovon ich spreche, denn auch in meinem eigenen Buch 12 war das jüdische Leidensmotiv hinter das Widerstandsmotiv zurückgetreten. Verlängerte sich dieses nicht in eine Zukunft, auf die so viele Hoffnungen gerichtet waren? Eben dieser Vorgang setzte aber einen Bezugsrahmen voraus, in dem Auschwitz noch nicht oder kaum erst oder wie immer nur als ein ganz Ungefähres thematisiert werden konnte. Wenn ich mich nicht immer konsequent an diesen selbst gewählten Rahmen hielt, so deshalb, weil ich zum mindesten die Schnittstellen andeuten wollte, an denen meine Konzeption sich mit möglichen anderen berührte und von wo aus sie auch in fragegestellt werden konnte. Denn ihre Schwächen konnten mir schon damals nicht ganz verborgen geblieben sein. 1 3 Es ist freilich nicht meine Absicht, hier über mein Buch zu reflektieren. Zumal ich davon ausgehe, daß mein Referat dies ohnehin auf seine Weise tut. Um nicht mißverstanden zu werden: Man wird selbstverständlich der Tatsache eingedenk bleiben müssen, daß erst die Ausschaltung der demokratischen Opposition, die Zerschlagung des Widerstandes in den ersten beiden Jahren der NS-Herrschaft vollzogen sein mußten, bevor das finstere Werk der Judenvernichtung in Gang gesetzt werden konnte. Auch war das banale, aber lebensnotwendige Wissen, daß es auch in den schlimmsten Zeiten 'andere' Deutsche gab, die Voraussetzung dafür, daß nach dem Krieg auch Juden in Deutschland wieder den Versuch eines neuen Anfangs wagen konnten. Mit der Aufhebung sich anbietender, doch im Grunde fragwürdiger zeitlicher Begrenzungen erwies sich jedenfalls der Usus allzu strenger Separierung von politischem Exil und (vorwiegend) jüdischer Emigration, und damit auch von Exilliteratur und Emigrationsliteratur, am Ende als nicht sonderlich hilfreich. Allein die vielen Übergänge in den einzelnen Lebensläufen haben eine solche 11

12 13

Vgl. Dan Diner: Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz. In: Babylon. Beiträge zur jüdischen Gegenwart. Frankfurt a.M. 1986, Η. 1, S.9ff. Emst Loewy (Hrsg.): Exil. Stuttgart 1979. Es gab eine einzige mir bekannte Rezension - sie stammte von Harry Pross und erschien in der "Stuttgarter Zeitung" -, die auf sie hingewiesen hatte. Harry Pross: Erbärmlichkeit, Größe und anderes. Literarische und politische Texte aus dem Exil. In: Stuttgarter Zeitung 29.12.1978.

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Kategorisierung vielfach als inadäquat erscheinen lassen. Wie etwa wäre Autoren, die vierzig Jahre nach der Zerschlagung des NS-Staates in ihrem Aufnahmeland weiterhin Deutsch schreiben (oder gar Menschen der zweiten Generation), beizukommen, die jenes Land zwar als ihren Dauerwohnsitz gewählt haben, sich aber dennoch einer vollen, nämlich auch sprachlichen Integration widersetzen? Wenden wir den Blick von der Literaturgeschichte zur Sozialgeschichte des Exils, so scheint mir die letztere ohnehin nicht von der Sozialgeschichte der deutschsprachigen Emigration zu trennen zu sein. Eine wertende Scheidung gar in ein an Deutschland orientiertes 'Exil' auf der einen Seite, in eine 'jüdische Massenemigration' auf der anderen, verbietet sich von selbst. Leider war sie in der DDR-Historiographie lange Zeit die Regel. Sie dürfte hier wie dort der Vergangenheit angehören. Übrigens hat in den letzten Jahren der übergreifende Tatbestand von Vertreibung und Verlust ohnehin vermehrte Beachtung gefunden. Zahlreiche Veröffentlichungen und Veranstaltungen - vor allem der letzten Jahre - deuten darauf hin. Nicht erst seit gestern hat sich, insbesondere in den USA und Israel, die Migrationsforschung vermehrt den deutschsprachigen Einwanderern der NSZeit zugewandt. Der vorherrschende Schwerpunkt innerhalb der USA ist vor allem auf Fragen der Akkulturation der Einwanderer in das Gastland gerichtet sowie auf den intellektuellen Zugewinn, den das Gastland durch diese erfahren hat. Neuerdings wird in den USA freilich auch von den angeblichen Negativwirkungen durch die 'German connection' der dreißiger Jahre gesprochen. 1 4 Mit der Ablösung einer pionierhaften Forschergeneration, die sich aus guten Gründen zunächst einmal der 'Botschaft' des Exils verpflichtet fühlte, sowie mit dem Übergang von der Exilliteraturforschung zur weiteren Exil- und vor allem auch zur Emigrations- und Immigrationsforschung, geht ein vermehrtes Interesse aus den Einzelwissenschaften einher: im Endeffekt ist aber auch eine Aufnahme relevanter Forschungsergebnisse in die Einzelwissenschaften zu erwarten. Zweck der Exilforschung war und ist es, jedenfalls in der Bundesrepublik, ein vernachlässigtes Thema aufzugreifen, vorzustellen und in das historische Bewußtsein einzubringen. In dem Maße, wie dieses geschieht, wird sich das Sonderinteresse für das Exil eines Tages möglicherweise zurückbilden, wenn nicht die Einzelwissenschaften, hier also die Literaturwissenschaft, diesem Faktum mit neuen Fragestellungen begegnen. Man mag den damit verbundenen Verlust an Unmittelbarkeit bedauern, auch einen Trend zur Entpolitisierung konstatieren. Allerdings werden die Deutschen sich des Exils (wie des Widerstandes) als eines 'Stachels' im öffentlichen Bewußtsein zu erinnern haben: als Erscheinungsform eines 'anderen' Deutschland, im Sinne liberaler, demokratischer und sozialistischer, allemal also aufklärerischer Positionen. Diese sind im Traditionszusammenhang deut14

Vgl. Allan Bloom: The Closing of the American Mind. Chicago 1987.

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Ernst

Loewy

scher Geschichte, von kurzen Identifikationsversuchen abgesehen, schon immer zu kurz gekommen. In diesem Sinn, das heißt als der sich immer wieder neu zu stellenden Aufgabe, sich dieses Erbes zu versichern, allerdings auch im Sinn einer kritischen Auseinandersetzung mit diesem, sollte die Exilforschung solange ihre Sonderexistenz verteidigen, wie altes und neues Unrecht unseren Protest herausfordert. Man mag die Zäsur, die den jüngsten Paradigmenwandel deutlich macht, etwa bei 1980 ansetzen, dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes des Biographischen Handbuchs der deutschsprachigen Emigration nach 193315, jener großangelegten Bestandsaufnahme, die das deutschsprachige Exil und die deutschsprachige Emigration in sich vereint. Sie ist nicht zufällig ein Gemeinschaftswerk deutscher und US-amerikanischer Forschungsinstitute. Mit diesem Werk wird, wie schon der Titel sagt, die Bevorzugung des 'Exils' zugunsten einer umfassenden Berücksichtigung der gesamten Fluchtbewegung aus dem NS-Reich verlassen. Bei deutlicher Beibehaltung sowohl der alten Akzente als auch gewohnter Leerstellen hatte aber auch das um 1980 in der DDR erschienene 7-bändige Werk Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil16, von dem einige Bände in verbesserter Neuauflage vorliegen, seinen Rahmen etwas weiter gesteckt als vordem. Die Herausgeber versuchten mit diesem Gemeinschaftswerk offensichtlich den Anschluß an die westdeutsche und internationale Forschung wiederzugewinnen, von deren beachtlicher Entwicklung sie sich abgekoppelt empfunden haben mochten. Wie weit das Ganze dem programmatischen Leitgedanken einer möglichst vielseitigen politischen (und nicht nur politischen Fächerung) hat folgen können, die Werner Mittenzwei im Vorwort ausgesprochen hat und in dem von ihm persönlich verfaßten Teil auch weitgehend einlöst, ist eine andere Frage. Nicht nur dem Programm, sondern seiner ganzen Anlage nach geht das 1986 erschienene und von Silvia Schlenstedt herausgegebene Gemeinschaftswerk Wer schreibt, handelt17 weit über die 7-bändige Exilgeschichte (und ihren eigenen Beitrag dazu) hinaus. Das Buch plädiert für die Überwindung einengender Grenzziehungen, wobei die chronologische Öffnung hinter das Jahr 1933 zurück die Möglichkeit bietet, das ganze Spektrum von - sei es primär künstlerisch, sei es primär politisch motivierter - Schreibweisen in den Blick zu bekommen, durch die die Autoren jener Jahre auf die anstehenden Gefahren reagierten oder sich ihnen entgegenstemmten. Nicht zufällig 15

16

17

Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Hrsg. v. Institut für Zeitgeschichte München u. von der Research Foundation for Jewish Immigrants New York unter der Gesamtleitung v. Werner Röder u. Herbert A. Strauss. Bd. I, Bd. 11,1-2 u. Bd. III (Gesamtregister). München u.a. 1980-1983. Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945. Bd. 1-7. Berlin/DDR 19781981 (Lizensausg. Frankfurt a.M. 1979ff.). Wer schreibt, handelt. Strategien und Verfahren literarischer Arbeit vor und nach 1933. Hrsg. von Silvia Schlenstedt, Berlin u. Weimar 1986.

Zum Paradigmenwandel

in der

Exillireralurforschung

25

schließt das Buch mit 1935 ab. In diesem Jahr hatte in Moskau der VII. Weltkongreß der Komintern - als Konsequenz aus der Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung - die neue Strategie einer antifaschistischen Volksfront formuliert, eine Politik, die auch vom Vorbereitenden Ausschuß einer Deutschen Volksfront übernommen wurde. Vor allem aber führte sie zum wachsenden Einfluß des Sowjetmarxismus stalinscher Prägung über die im Bannkreis des Volksfrontgedankens agierende Publizistik und Literatur. Vielleicht ist hier noch ein kurzer historischer Exkurs erlaubt: Der 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller, der 1934 in Moskau stattfand und bei dem auch mehrere deutsche Exilschriftsteller (Johannes R. Becher, Willi Bredel, Albert Ehrenstein, Wieland Herzfelde, Theodor Plivier und Ernst Toller) teilgenommen hatten, war die letzte große Veranstaltung auf sowjetischem Boden, auf der unterschiedliche literarische Positionen kontrovers diskutiert werden konnten. Gleich danach hatte sich allerdings die Position des Sozialistischen Realismus durchgesetzt. Sie wurde fortan als Richtschnur für die Sowjetschriftsteller dekretiert. Avantgardistische Richtungen, sei es als literarische Praxis, sei es als literarisches Erbe, wurden als bürgerlich-dekadent gebrandmarkt, ihre Vertreter Repressalien ausgesetzt. Fast gleichzeitig wurde auch der Literatur des bürgerlichen Realismus die Weihe normativer Geltung verliehen und sie zum Ahnherrn des sozialistischen Realismus deklariert. Man kann nicht umhin, die sogenannte Expressionismus-Debatte in der Zeitschrift "Das Wort" auch im Schatten oder als Echo dieser Ereignisse in der UdSSR zu sehen. Sie koinzidierte zeitlich bereits mit dem Beginn der großen Säuberungswelle und der Serie von Schauprozessen in der UdSSR, durch die der ohnehin fragile Volksfrontgedanke, dem ich einen genuinen Kern auch heute nicht absprechen möchte, seine Glaubwürdigkeit verlor. Man wird neugierig sein auf die Fortschreibung des sich in dem Band Wer schreibt, handelt manifestierenden Prinzips auch über das Jahr 1935 hinaus. So wie die Exilforschung der DDR nicht umhin konnte, sich vermehrt dem jüdischen Exil und einer spezifischen jüdischen Thematik zu stellen, so sehr bleibt sie vor allem verpflichtet, die wegen sog. 'Abweichungen' aus dem literaturgeschichtlichen Kanon getilgten bzw. direkt unterdrückten antifaschistischen Autoren und ihre Werke zu rehabilitieren. Ansätze in dieser Richtung sind zu verzeichnen. In der Sowjetunion erscheint Koestlers Sonnenfinsternis, eines der profundesten Werke über die Stalinschen Prozesse, bereits als Fortsetzungsroman, ein zweifellos nachahmenswertes Beispiel. 1988 wirkte es freilich noch sensationell, als die in Berlin/DDR erscheinende Zeitschrift "Sinn und Form" in ihrer Mai-Juni-Ausgabe einige bereits 1956 von Johannes R. Becher verfaßte Aufzeichnungen abdruckte, deren Erscheinen seinerzeit unterdrückt worden war: In ihnen hatte der Autor - wie er selbst betonte - seine Verstrickung in den Stalinismus dargestellt, dabei die Methoden einer Selbstzensur deutlich machend, die zahlreiche Werke der 'antifaschistischen' Literatur so fragwür-

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Ernst Loewy

dig macht und zahlreiche Lebensläufe ihrer Autoren so gebrochen erscheinen läßt.18 Neben den den engagierten Antifaschisten ohnehin abgeforderten Opfern hatten diejenigen gestanden, die viele von ihnen an einer falschen F r o n t zu erbringen hatten. E s waren die tragischsten: die sich selbst auferlegte E i n äugigkeit, das vielfach gegen das bessere Wissen und Gewissen Gesagte und Getane. D a s ungleiche, aber in den Augen vieler auch unverzichtbare Bündnis aktiver Antifaschisten mit der Sowjetunion im gemeinsamen K a m p f gegen den N S - S t a a t hatte sie i m m e r wieder Zerreißproben ausgesetzt. D i e sich aus der Situation ergebenden

Handlungszwänge

ließen ihr Denken

und

Tun,

T h e o r i e und Praxis als i m m e r weniger vermittelbar erscheinen, und häufig konnte das nur noch

im Schatten

i m m e r wieder neu zu

produzierender

Rationalisierungsversuche gerechtfertigt werden. D i e s e Tatsachen sind hinlänglich bekannt. E s ist j e d o c h anzunehmen, daß mit der zu erwartenden Öffnung z . B . der sowjetischen Archive unsere Kenntnisse um weitere Einsichten bereichert werden könnten. Ich m ö c h t e an dieser Stelle den allgemeinen Überblick beschließen. Nur stichwortartig möchte ich noch einige T h e m e n und Fragestellungen

benen-

nen, die mit dem beschriebenen Paradigmenwandel erstmals oder stärker in das Bewußtsein getreten sind und noch treten könnten: erstens ImmigrationsLändern;

und Akkulturationsprobleme

in

diversen

zweitens Wirkungsgeschichte im Ausland und in anderen turen;

Kul-

drittens Nachwirkungen von Exil/Emigration in der zweiten und bereits dritten Generation; viertens das Wechselverhältnis Nachkriegsdeutschland;

zwischen

Exil/Emigration

und

fünftens die Remigration; sechstens der Rücktransfer von Kultur und Wissenschaft des E x i l s , gesondert nach den einzelnen Gebieten und Disziplinen; siebtens das E x i l / d i e Emigration der 'kleinen L e u t e ' in Ergänzung (und als F o l i e ) zur vorherrschenden Prominentenforschung und als Ergänzung zur Sozialgeschichte des E x i l s . Insbesondere für die Literaturwissenschaft wären folgende T h e m e n zu nennen: erstens die literarische Wechselwirkung von E x i l - und Auslandsliteratur, E x i l - und deutscher Nachkriegsliteratur; zweitens die Rezeption der Exilliteratur im öffentlichen Bewußtsein der beiden deutschen Nachkriegsstaaten (Verlagswesen, T h e a t e r , S c h u l e , Forschung e t c . ) ; drittens das Verhältnis A u t o r / L e s e r , damals und heute; 18

Johannes R. Becher: Selbstzensur. In: Sinn und Form. Jg. 4 0 (1988), H. 3, S.543-551.

Zum Paradigmenwandel

in der

Exilliteraturforschung

27

viertens die Frage der Ungleichzeitigkeit unter den besonderen Umständen einer künstlich 'gespaltenen' Literatur wie der deutschen im Zeichen der NS-Herrschaft; fünftens die Frage der künstlich 'gespaltenen' Exilforschung in Ost und West mit ihren Folgen für eine unabhängige Wahrheitsfindung. Sich anbietende 'Grenzüberschreitungen': erstens das Thema Exil und Widerstand; zweitens das Thema Exil und Holocaust; drittens die Berücksichtigung deutschsprachiger Autoren im besetzten Europa (wie Paul Celan oder Rose Ausländer), die gemeinhin nicht zur Exilliteratur gerechnet werden. Auch muß an dieser Stelle die 'verdeckte' Literatur im NS-Staat auf der einen, die jüdische 'Katakomben'-Literatur bis Ende 1938 (und noch darüber hinaus) auf der anderen Seite erwähnt werden. Komparatistische Untersuchungen sind auf all diesen Feldern denkbar. Ich komme zum Schluß. Kritische Aneignung von Geschichte ist immer, also auch hier, gefragt, sich ihr unkritisch zu überlassen, wäre ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen. Das vielfach beklagte Desinteresse durch den Generationenwechsel halte ich nicht für ein stichhaltiges Gegenargument, Jüngere mit unseren Themen zu konfrontieren. Der Generationenwechsel hat zwar einen teils diffuseren, teils aber auch distanzierteren und möglicherweise differenzierteren Zugang zur Folge. Glaubwürdigkeit bei den Älteren vorausgesetzt, würde ich ihn nicht als Barriere betrachten. Aufklärung als Mythos hat allerdings die Macht über die Menschen verloren. Da hat es die Gegenaufklärung des Fundamentalismus in seinen diversen Formen leichter. Sie braucht sich nicht vor sich selber zu legitimieren. Die Fragen von heute lassen sich durch die Antworten von gestern nicht lösen. Doch die Tatsache, daß alte Konflikte unter der Oberfläche weiterschwelen, ja Gefahr laufen, in überdimensionalen Formen ausgetragen zu werden, könnte zumindest den Fragen eine neue Dringlichkeit verleihen. 'Nach Auschwitz' wird man der Macht des Menschen, mit seinen eigenen Dingen fertig zu werden, skeptischer gegenüberstehen müssen. Die Erinnerung daran wird Hoffnung nicht mehr so leicht zur falschen Gewißheit herabsinken lassen. Viel wäre es schon, die Einsicht wiederzugewinnen, daß die Menschen Geschichte selber machen. Ob es ihre sein wird, wird davon abhängen, ob der technische Fortschritt auch von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen eingeholt wird, die seine selbstzerstörerischen Kräfte bannen. Das auf allen Gebieten des wirtschaftlichen und politischen Lebens vorherrschende Besitzstandsdenken, die wachsende Verfügung unkontrollierter Eliten über die Reichtümer dieser Erde, das affirmative Gebaren der Kulturindustrie und der Medien unterlaufen alle Bemühungen, diesen Grundwiderspruch der Moderne zu überwinden. Eine Bewältigung dieser Aufgabe,

28

Ernst Loewy

und sei es auch nur stückweise oder in Etappen, wird nur möglich sein durch überzeugendes Handeln sowie eine Bündelung derjenigen Kräfte der Gesellschaft, die sich für die kommende Generation noch verantwortlich fühlen, denen also der Blick über den Tellerrand noch nicht abhanden gekommen ist. Hans Mayer hatte in seiner beeindruckenden Poetikvorlesung in Frankfurt die Literatur der ersten Jahrhunderthälfte gekennzeichnet als eine, die gleichermaßen von Endzeit-Stimmungen wie von Wendezeit-Stimmungen getragen war. Es war die Verzweiflung an der Verfaßtheit der menschlichen Gesellschaft, die beiden auf diese oder jene Art zugrundelag. Auch wir sollten sie, bei aller von uns geforderten analytischen Schärfe, nicht ohne Not auseinanderdividieren. Die durch den NS-Staat Verfolgten und Vertriebenen brauchten den Verursacher nicht zu suchen, er war allgegenwärtig. Was blieb, war Überlebenstrategie. Und Interpretation. War Kampf. Den damit vor allem Angesprochenen, jedenfalls jenen der ersten Jahre, also den Deutschen unter Hitler, half es wenig. Sie hörten die Stimme nicht, selbst diejenigen, die sie gerne gehört hätten. Ausnahmen bestätigen, wie immer, so auch hier, die Regel. Wenn es heute, d.h. für die Nachgeborenen, doch so etwas wie eine 'Botschaft' (ich scheue das Wort) der Exil- und Emgirationsliteratur geben sollte, so ist es ihre Zeugenschaft für das Geschehene, die Trauer um und die Erinnerung an das Verlorene, aber auch das Engagement und die Kühnheit, womit sie für eine andere, eine bessere Zukunft eintrat. Wir sollten uns durch all dieses anhalten lassen, etwas von ihrem Ethos wachzuhalten, von der Vision einer gerechteren, freieren und friedlicheren Welt, für welche die Wissenden, ebenso wie die Unschuldigen, schon immer gelebt haben - und gestorben sind.

Ehrhard Bahr (Los Angeles)

Deutsch-jüdische Exilliteratur und Literaturgeschichtsschreibung

D a s Konferenzthema bezeichnet ein Forschungsdefizit s o w o h l in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik als auch in Österreich. Darüber dürfen auch jüngste Veröffentlichungen 1 und Einrichtungen,

w i e z . B . das Salomon L u d w i g Steinheim-Institut für deutsch-jü-

dische Geschichte in Duisburg 2 nicht hinwegtäuschen. D i e Erforschung der deutsch-jüdischen Exilliteratur wird hauptsächlich in Australien, Dänemark, England, Frankreich, Israel, S c h w e d e n und den Vereinigten Staaten betrieben. D a ß in den Sachregistern der führenden Fachbibliographien der Germanistik das L e m m a 'deutsch-jüdisch' nicht vertreten ist, mag reiner Zufall der bibliographischen T a x o n o m i e s e i n . 3 Aufschlußreich ist j e d o c h die f o l g e n d e Statistik. A u f d e m Kongreß der Internationalen Vereinigung für Germanische Sprach- und Literaturwissenschaft (IVG) 1985 in Göttingen war die Bundesrepublik zum T h e m a der jüdischen Komponenten in der deutschen Literatur mit lediglich drei v o n insgesamt neunzehn Beiträgen vertreten, die D D R und Österreich mit keinem einzigen. D i e Mehrzahl der Referate war von Fremdsprachengermanisten besetzt. 4 1

2

3

4

Siehe z.B. Gunter E. Grimm, Hans-Peter Bayerdörfer (Hrsg.): Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. 2. durchges. Aufl. Frankfurt/Main 1986; Stöphane Moses u. Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Frankfurt/Main 1986; Hans Otto Horch u. Horst Denkler (Hrsg.): Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Tübingen, Erster Teil 1988, Zweiter Teil 1989; Hans Otto Horch (Hrsg.): Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Tübingen 1988. Archiv Bibliographia Judaica in Frankfurt am Main; Germania Judaica Bibliothek zur Geschichte des Judentums in Köln; Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin; das Dokumentationsarchiv des Osterreichischen Widerstandes in Wien. Siehe die letzten zehn Bände der Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft von Bd. 17 (1977) bis Bd. 27 (1987). Nur 'deutsch-amerikanisch' und 'deutschkanadisch' kommen je einmal vor. Auf jüdische Themen bzw. Autoren wird unter den Stichwörtern 'Jude', 'Judentum', 'jüdisch' und 'Jüdischdeutsch' als Dialekt verwiesen. Derselbe Tatbestand trifft auf das internationale Referatenorgan Germanistik zwischen Jg. 20 (1979) und Jg. 29 (1988) ebenso zu wie auf die Internationale Bibliographie zur Geschichte der deutschen Literatur: Zehnjahresergänzungsband: Berichtzeitraum 1965 bis 1974, 2. Halbbd. Berlin: 1984. Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Bd. 5: Auseinandersetzungen um jiddische

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Ehrhard Bahr

Wenn man einmal von den psychologischen und ideologischen Gründen absieht, die zu dem obengenannten Forschungsdefizit geführt haben, so gibt es noch zwei weitere Hauptgründe in Rechnung zu stellen. Der erste liegt in der Geschichte der Exilliteratur selbst begründet. Meine erste These lautet: weil dem NS-Regime daran liegen mußte, dem Inland und der internationalen Welt vorzuspiegeln, daß es sich bei den emigrierten Schriftstellern ausschließlich um Juden handelte, gehörte es deshalb zur Selbstdarstellung der deutschen Schriftsteller im Exil, das genaue Gegenteil zu beweisen. Es war nicht nur eine Frage der Solidarität, daß man sich mit den deutsch-jüdischen Schriftstellern identifizierte, sondern eine Frage der 'Gegenpropaganda'. Das spektakulärste Beispiel war der sog. Korrodi-Fall im Jahre 1936, der ausführlicher Kommentierung bedarf, weil er paradigmatische Bedeutung hat. Man braucht also gar nicht die oft bemühte These der jüdischen Assimilation heranzuziehen, um das Forschungsdefizit aus der Geschichte der Exilliteratur heraus zu erklären. Die These der Selbstdarstellung der deutschen Exilliteratur in der Abwehr der NS-Propaganda scheint mir das größere Gewicht zu haben. Der zweite Grund ist durch die Historiographie der Exilliteratur bedingt. Weil man sich in den Anfangsjahren der Exilforschung von einer unpolitischen Literaturbetrachtung zu distanzieren suchte, unterwarf die marxistische Historiographie der DDR und die neo-marxistische der BRD die Geschichte der Exilliteratur politischen Erwartungen, denen das Gesamtspektrum der Exilliteratur nicht entsprechen konnte. In der BRD erhielt die Exilforschung starke Impulse von der Studentenbewegung von 1968 und deren Nachholbedarf an Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Hinzu kam die wachsende Entfremdung der Neuen Linken in der BRD von Israel. Es versteht sich von selbst, daß die deutsch-jüdische Exilliteratur im Rahmen dieser Historiographie einen schweren Stand haben mußte, denn es bestand kein Bedarf zu ihrer Erfassung, ganz zu schweigen von der Entwicklung von Kriterien, dieser Literatur als deutsch-jüdischer Exilliteratur gerecht zu werden. Meine zweite These läuft darauf hinaus, daß die deutsch-jüdische Exilliteratur in der Historiographie vernachlässigt, bzw. als solche nicht zur Kenntnis genommen wurde, weil ein ideologisches Bedürfnis zur Erfassung und Sicherung der Tradition der als 'antifaschistische deutsche Emigration' apostrophierten Literatur bestand. Dem Mangel an antifaschistischer Vergangenheit und Gegenwart sollte hier durch Traditionspflege der Exilliteratur abgeholfen werden. Diese Entwicklung läßt sich schon daran ablesen, daß in den Sachregistern der führenden Fachbibliographien das Lemma 'Antifaschismus' im Gegensatz zu 'deutsch-jüdisch' wohl vertreten ist. Im Rahmen der Kulturpolitik der DDR versteht sich die Traditionspflege der antifaschistischen Exilliteratur von selbst. In der BRD setzte diese TenSprache und Literatur - Jüdische Komponenten in der deutschen Literatur - die Assimilationskontroverse. Tübingen 1986, S. 107-265.

Deutsch-jüdische

Exilliteratur und

Literaturgeschichtsschreibung

31

denz erst Ende der sechziger Jahre ein. Es ist hier nicht der Ort, mit dieser Entwicklung in der BRD zu rechten, denn bis Ende der sechziger Jahre war tatsächlich dieser unter dem Terminus 'Antifaschistische deutsche Emigration' erfaßte Teil der Exilliteratur - es handelte sich um Autoren wie Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann, Anna Seghers, Arnold Zweig aus dem allgemeinen Bewußtsein der Bundesrepublik nahezu ausgeschlossen. Nach 1968 wurden z.B. Döblin, Feuchtwanger, Seghers und Zweig hauptsächlich als 'politische' und nicht als deutsch-jüdische Exilierte rezipiert. 5 Zur Einführung in die Problematik der Geschichte der deutsch-jüdischen Exilliteratur eignet sich besonders der Protestbrief, den Thomas Mann am 3. Februar 1936 in der "Neuen Zürcher Zeitung" veröffentlichte, da dieser Brief eine bewußt programmatische Funktion hatte. Seit seiner Emigration hatte Thomas Mann bis 1936 alle Erklärungen vermieden, die zu einem öffentlichen Bruch mit dem NS-Regime führen mußten. Bis zum Februar 1936 läßt sein Tagebuch zuweilen eine befremdliche Ambivalenz, wenn nicht sogar einen erschreckenden Mangel an historischer Sensitivität erkennen. 6 Doch mit seiner Replik vom Februar 1936 trat der Autor zum ersten Mal seit 1933 an die internationale Öffentlichkeit und bekannte sich endgültig zur deutschen Exilliteratur. Thomas Manns Offener Brief an Eduard Korrodi war eine Antwort auf einen Artikel des bekannten Feuilletonchefs der international angesehenen schweizerischen Zeitung. Im "Neuen Tage-Buch" hatte Leopold Schwarzschild im Januar 1936 die Feststellung getroffen, daß nahezu kein Autor von Bedeutung in Deutschland zurückgeblieben und damit die Exilliteratur mit der deutschen Literatur von Rang gleichzusetzen sei. 7 Dagegen erhob Korrodi in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 26. Januar 1936 Einspruch, indem er vermeinte, die deutsche Exilliteratur mit dem negativen Hinweis abtun zu können, daß es sich dabei lediglich um die Emigration der deutsch-jüdischen 'Romanindustrie' handle. Es ist leicht zu erkennen, daß sich dieser negative Hinweis mit den Interessen der Goebbelsschen Reichsschriftstumskammer deckte. In seinem Protestbrief an Korrodi vom 3. Februar 1936 sprach Thomas Mann von einer "unhaltbare[n] Gleichsetzung" und warf dem Feuilletonisten vor, "die Emigrantenliteratur mit der jüdischen" zu verwechseln. Indem er eine Reihe von Namen zum Gegenbeweis anführte, erklärte Mann, "daß von einem durchaus oder auch nur vorwiegend jüdischen Gepräge der literarischen Emigration nicht gesprochen werden kann." Diese Antwort war an die Adresse der Reichsschrifttumskammer und deren Propaganda gerichtet, nicht an die deutsch-jüdische Exilliteratur. Diese 5

6

7

Siehe Hans-Albert Walter: Bedrohung und Verfolgung bis 1933: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 1. Darmstadt u. Neuwied 1972, S.197. Thomas Mann: Tagebücher 1933-1934. Hrsg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt/Main 1977, S.32, 46, 54, 473-74. Siehe dazu Egon Schwarz: Die jüdischen Gestalten in Doktor Faustus. In: Thomas Mann Jahrbuch 2 (1989) S.79-101. Zur Dokumentation der einzelnen Artikel siehe Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Band I: Dokumente. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt/Main 1974, S.95-124.

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Ehrhard Bahr

Taktik verhinderte Mann jedoch nicht, im folgenden Absatz ausdrücklich Else Lasker-Schüler unter den emigrierten Lyrikern anzuführen. Korrodis Angriff auf den Roman mußte auch Thomas Mann treffen, insofern der schweizerische Feuilletonist zwischen der wahren 'Dichtung', die im Reich verblieben, und dem 'Roman', der ausgewandert sei, unterschieden hatte. Indem Thomas Mann den Roman "zum repräsentativen und vorherrschenden literarischen Kunstwerk" erklärte, zog er daraus die Schlußfolgerung, "daß in der Tat das Schwergewicht deutschen literarischen Lebens aus dem Lande weg ins Ausland verlagert" sei. Im Zusammenhang der Europäisierung des deutschen Romans würdigte Thomas Mann den Beitrag der jüdischen Komponente, indem er sich auf eine Wassermann-Kritik Korrodis berief. Anläßlich der Rezension einer Biographie von Jakob Wassermann hatte Korrodi Gedanken geäußert, die in Thomas Manns Konzept der Internationalisierung des deutschen Romans paßten. Es lohnt sich nicht, dieses Konzept hier im einzelnen darzulegen, weil es in mancher Hinsicht nur die Rückständigkeit der Ansichten Thomas Manns auf diesem Gebiet belegt. Der Schriftsteller war den Vorurteilen seiner Zeit verhaftet, wenn er von dem "Tropfen Latinität" in seinem eigenen Blut oder von der "mittelländisch-europäischen Komponente des Juden" sprach, die zur Internationalisierung des deutschen Romans beigetragen hätten. Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, daß es von der jüdischen Komponente heißt, daß "diese [...] zugleich deutsch [ist]; ohne sie wäre Deutschtum nicht Deutschtum, sondern eine weltunbrauchbare Bärenhäuterei." 8 Es gilt hier zu erkennen, daß es sich bei dieser Aussage nicht um eine historische oder literarische Analyse handelt, sondern um eine politische Stellungnahme. Als solche wurde sie auch vom NS-Regime verstanden. Thomas Manns Ausbürgerung im Dezember 1936 erfolgte unter Berufung auf seine Bewertung der Emigranten-Literatur "in einer bekannten Züricher Zeitung" und seine Solidaritätserklärung mit dem "staatsfeindlichen Emigrantentum." 9 Die politischen Folgen stellen jedoch nicht den Wahrheitsgehalt der Erklärung in Frage. Thomas Manns Erklärung von 1936 beleuchtet vielmehr das historische Dilemma der Definition oder Konstituierung einer deutsch-jüdischen Exilliteratur. Auf der einen Seite war die deutschsprachige Emigration nach Ideologie, Tradition und Asylland viel zu heterogen, als daß man sie als einheitliche Bewegung ansetzen könnte. In diesem Sinne ist es sinnvoll, von deutsch-jüdischer Exilliteratur zu sprechen. Die Kritik wendet sich lediglich gegen den späten Zeitpunkt dieser Diskussion. Auf der anderen Seite bedurfte es jedoch in der Zeit von 1933 bis 1945 der gemeinsamen Frontstellung gegen das NS-Regime, bei der man sich jeder Aufspaltung 8

9

Thomas Mann: Briefe 1889-1936. Hrsg. v. Erika Mann. Frankfurt Main 1961, S.409413. Siehe auch den Brief an Hermann Hesse vom 9. Februar 1936 (S.414). Hans Bürgin u. Hans-Otto Mayer: Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens. Frankfurt/Main 1974, S. 140.

Deutsch-jüdische Exilliteratur und

Literaturgeschichtsschreibung

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widersetzen mußte, besonders einer Aufspaltung, die den Interessen des NSRegimes hätte dienen können. In diesem Sinne hatte Alfred Kantorowicz 1935 einen Aufsatz mit dem Titel Die Einheitsfront in der Literatur in der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitschrift "Die Sammlung" veröffentlicht. 10 In seiner Antwort auf Thomas Mann vom 8. Februar 1936 suchte Korrodi die Exilliteratur in zwei Lager zu spalten, in das Lager derjenigen, die, wie er sagte, sofort zur "Davidschleuder" des Hasses gegen Deutschland gegriffen, und das Lager der "von ihrer Werkleistung besessene[n] Nichtjuden", die vornehm "zu aller erlittenen Unbill" geschwiegen hätten. Dieser Spaltungsversuch traf bei Thomas Mann auf schweigende Ablehnung. Er würdigte Korrodi keiner weiteren Antwort. Was die Exilliteratur verband, war, wie er in einem früheren Brief vom 29. November 1935 an Eduard Korrodi erklärt hatte, "daß alle ihr Zugehörigen Opfer dieses Regimes" waren. 11 Was die Historiographie der Exilliteratur betrifft, so hat die deutsch-jüdische Exilliteratur als solche weder in der BRD noch in der DDR die ihr gebührende Beachtung gefunden. Daß dabei ideologische Gründe eine Rolle gespielt haben, ist nur für den Anhänger einer von Rankes Historismus geprägten Geschichtsschreibung erstaunlich. Deshalb kann es hier auch nicht um eine Verdächtigung der Motivationen einzelner Historiker gehen, sondern nur um die kritische Analyse ihrer geschichtlichen Darstellungen. Der Historiographie der Exilliteratur der letzten zwanzig Jahre ist viel zu verdanken, doch schließt dieser Dank die historische Kritik nicht aus. Die Exilforschung ist inzwischen selbst historisch geworden. Es gilt auf Versäumnisse, Fehler und methodologische Fehlentscheidungen im Hinblick auf die deutschjüdische Exilliteratur hinzuweisen. Für lange Zeit waren Walter A. Berendsohns "Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur", die 1946 unter dem Titel Die humanistische Front in Zürich erschien, und Franz Carl Weiskopfs "Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933-1947", veröffentlicht unter dem Obertitel Unter fremden Himmeln im Jahre 1948 mit Lizenz der Sowjetischen Militär-Administration, die einzigen Monographien, die sich mit einer Bestandsaufnahme und Wertung der im Exil entstandenen deutschsprachigen Literatur befaßten. Es ist kennzeichend für die geistige Verfassung der westlichen Besatzungszonen, daß die Veröffentlichung des zweiten Teils der Humanistischen Front von dem Verleger Kurt Desch in München mit der Begründung abgelehnt wurde, daß es sich dabei um "eine Art Pamphlet der Emigration gegen die in Deutschland gebliebenen Schriftsteller" handle und damit "die Atmosphäre zwischen Deutschland und dem Ausland mit neuen Giftstoffen durchtränkt" würde. 12 10 11 12

Deutsche Literatur im Exil 1933-1945. Bd. I: Dokumente, S.71-81. Briefe 1889-1936, S.404. Siehe Brief v. Kurt Desch vom 11. Juni 1947 an Dr. Emil Oprecht in Zürich, abgedruckt in Walter A. Berendsohn: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigrantenliteratur. Zweiter Teil: Vom Kriegsausbruch 1939 bis Ende 1946. Deutsches Exil 1933-45, Bd. 6. Worms 1976, S.229-30.

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Die Veröffentlichung dieses Teils erfolgte in der Bundesrepublik erst im Jahre 1976. Das Veröffentlichungsjahr ist ein Indiz für die Veränderung der geistigen Situation. Im Zusammenhang unseres Themas ist es von größtem Interesse, daß beide Monographien, eine davon erschienen in der Schweiz und die andere in der Sowjetischen Besatzungszone, die deutsch-jüdische Exilliteratur erfassen, bei Franz Carl Weiskopf in einem Kapitel unter der Überschrift "Jüdisches Schicksal", bei Walter A. Berendsohn unter der Überschrift "Palästina". Das ausführliche Palästina-Kapitel ist jedoch im zweiten Teil enthalten, der bis 1976 nicht zugänglich war. Im ersten Teil von 1946, der die Zeit von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939 behandelt, wird die deutsch-jüdische Exilliteratur unter den Stichwörtern "Das jüdische Schicksal", "Schriften zur Juden- und Rassenfrage", "Das Erbe des Judentums" und "Palästina" in Form von Bücherlisten erfaßt. Bei Weiskopf werden über zwanzig Autoren zum Thema "Jüdisches Schicksal" angeführt, darunter Paul Zech, Arnold Hahn, Georg Mannheimer, Karl Wolfskehl, Günter Ballin, Henry William Katz, Egon Erwin Kisch, Leo Lania, Mark Siegelberg, Ernst Sommer, Friedrich Walter, Max Brod, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig, Erich Kahler, Josef Kastein und Julius Marx. 13 Walter A. Berendsohn führt fast siebzig Titel in den Bücherlisten des ersten Teils von 1946 an 14 und nennt weit über fünfzig Namen in dem Palästina-Kapitel des zweiten Teils von 1976. 15 Dagegen fehlt Palästina als Exilland in der ersten in der Bundesrepublik erschienenen Bio-Bibliographie Deutsche Exil-Literatur 1933-1945, herausgegeben von Wilhelm Sternfeld und Eva Tiedemann im Jahre 1962, unter den Angaben zu speziellen Nachschlagewerken, obwohl unter der Rubrik "WEG" in den einzelnen Bio-Bibliographien, falls zutreffend, Palästina angeführt wird. Auch in der zweiten Auflage von 1972 hat sich daran nichts geändert, doch wird man es den Herausgebern nicht unbedingt als Versäumnis anrechnen können, da zu diesem Zeitpunkt keine Titel von Nachschlagewerken zum deutschsprachigen Exil in Palästina bzw. Israel nachgewiesen werden können. 16 Der Vollständigkeit halber sei Hildegard Brenners Artikel Deutsche Literatur im Exil 1933-1947 im Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, 13

F.[ranz] C.farl] Weiskopf: Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933-1947. Mit einem Anhang v. Textproben aus Werken exilierter Schriftsteller. Neuaufl. mit einem Nachwort v. Irmfried Hiebel und einem kommentierten Autorenverzeichnis. Berlin/Weimar 1981, S.105f. (1. Aufl. Berlin 1948).

14

Walter A. Berendsohn: Die Humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur. Erster Teil: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939. Zürich 1946, S.8485, 94-97, 108, 112.

15

Die humanistische Front, 2. Teil, S. 156-171. Wilhelm Stemfeld u. Eva Tiedemann (Hrsg.): Deutsche Exil-Literatur 1933-1945. Eine Bio-Bibliographie. 2., verb. u. stark erw. Aufl. mit einem Vorwort v. Hanns W. Eppelsheimer. Heidelberg 1970, S.602-604. Vgl. dazu die Angaben zu Nachschlagewerken und Büchem über Israel bei Desider Stern (Hrsg.): Werke jüdischer Autoren deutscher Sprache. 3. Aufl. Wien 1970, S.389-400, 427f.

16

Deutsch-jüdische

Exilliteratur und

Literaturgeschichtsschreibung

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herausgegeben 1965 von Hermann Kunisch, angeführt, in dem Palästina mit vier Sätzen erwähnt wird. 17 In dem Sammelband Die deutsche Exilliteratur 1933-1945, herausgegeben von Manfred Durzak 1973, wird der Exilsituation in Palästina ebenfalls kein besonderes Kapitel gewidmet, wie z.B. den Ländern Österreich, Tschechoslowakei, Skandinavien, Spanien, England, USA, UdSSR und Mexiko, doch unter der Überschrift "Literarische Diaspora: Stationen des Exils" wird Palästina vom Herausgeber auf drei Seiten immerhin eine Sonderrolle eingeräumt. Doch die Bilanz, die sich hauptsächlich auf die Erfahrungen von Arnold Zweig stützt, ist negativ, und von der Herausbildung einer deutsch-jüdischen Exilliteratur ist nicht die Rede. Lediglich bei den Beiträgen zu Joseph Roth von Fritz Hackert und zu Karl Wolfskehl von Hans Wolffheim finden sich Ansätze zur Würdigung ihrer Werke als deutschjüdischer Exilliteratur. Dagegen ist der Beitrag zum Exilwerk von Nelly Sachs von Albrecht Holschuh allgemein als peinliche Entgleisung rezensiert worden, so daß in diesem Fall ein solcher Ansatz von vornherein entfällt. 18 Unter den historiographischen Fehlentscheidungen wäre an erster Stelle die von Hans-Albert Walter getroffene Unterscheidung zwischen politischen Exilierten und der jüdischen Massenemigration zu nennen. In seiner zunächst auf neun Bände konzipierten Darstellung Deutsche Exilliteratur 1933-1950 von 1972 nannte er diese Unterscheidung "eine notwendige" und scheute selbst von der Erwähnung der diffamierenden Bezeichnung "Wirtschaftsemigranten" nicht zurück. Walter war sich bewußt, daß er damit eine Kategorie des NS-Regimes übernahm, denn er schreibt: "Schon das faschistische Deutschland hat zwischen sogenannt 'rassischen' und politischen Flüchtlingen unterschieden." 19 Es ist hier nicht der Ort, auf Walters Argumente im einzelnen einzugehen, doch die womöglich auf die deutsch-jüdische Exilliteratur zutreffenden Abschnitte sollten zitiert werden: Die jüdische Massenemigration war ausschließlich rassistisch bedingt, wobei der faschistische Rassismus nur in seltenen Fällen auf eine von Anfang an bewußte politische Gegnerschaft seitens der deutschen Juden traf. [...] Sieht man von den zionistischen und marxistischen Minoritäten ab, so kann man davon ausgehen, daß die deutschen Juden kaum politisch bewußte, mit Sicherheit keine aktiven Gegner des Faschismus waren. 20 Diese Unterscheidung ist dann auch von Alexander Stephan in seiner Einführung Die deutsche Exilliteratur 1933-1945 von 1979 unter Berufung auf Hans-Albert Walter und Helmut Müssener übernommen worden, obwohl sie 17

18 19

20

Handbuch der deutschen Gegenwartsliteratur, hrsg. v. Hermann Kunisch. München 1965, S.677-94. Siehe dazu Ehrhard Bahr: Nelly Sachs. München 1980. (Autorenbücher 16). S.22, 24f. Hans-Albert Walter: Bedrohung und Verfolgung bis 1933. Deutsche Exilliteratur 19331950. Bd. 1. Darmstadt/Neuwied 1972, S. 197-201. Ebd., S. 199-200.

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bei dem letzteren in seinem Buch über Exil in Schweden: Politische und kulturelle Emigration nach 1933 von 1974 nicht so kraß ausgefallen ist und vor allem keine Einteilungskategorie darstellt. Stephan schreibt, es gelte zunächst einmal, die [...] jüdische Massenflucht vom eigentlichen Exil zu trennen. Für die verbleibende, relativ kleine Zahl der literarisch-künstlerischen Exilanten [zeichneten] sich sodann zwei Gruppen ab: jener, numerisch stärkere, Teil der Exilanten, der aus politischen Gründen unmittelbar nach der Machtübergabe an Hitler floh; und jene (Spät)-Exilanten, die bis 1939/40 aus moralischen, künstlerischen und religiösen Gründen aus Deutschland weggingen. 21 Die Kritik dieser Unterscheidung in Walters und Stephans Monographien fiel im New Yorker "Aufbau", der Wochenzeitung der deutsch-jüdischen Emigration, entsprechend negativ aus. 22 Beide Autoren sind allerdings ausdrücklich von dem Vorwurf des Antisemitismus auszunehmen. Sie arbeiten an einer Neuauflage, und es bleibt abzuwarten, ob unter dem Einfluß der Kritik neue Kriterien zur Unterscheidung der einzelnen Exilgruppen entwickelt werden. Es bedarf vor allem der Herausarbeitung der historischen Komplexität der Exilsituation von 1933-1939, die sich nicht auf die Gegenüberstellung von politischer und wirtschaftlicher Emigration reduzieren läßt. Marta Mierendorff hat in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer "zweigleisigen Exilforschung" hingewiesen. 23 Sicherlich wird man in Zukunft die einzelnen Gewalt- und Verfolgungsmaßnahmen der NS-Regierung und ihre kausale Verursachung der Emigrationswellen im einzelnen herausarbeiten müssen. Ebenso wäre auf die Geschichte des Kulturbundes Deutscher Juden, bzw. des Reichsverbandes der Jüdischen Kulturbünde, zwischen 1933 und 1938 hinzuweisen. 24 Mit seinen Veranstaltungen hat der Kulturbund bis 1938 eine Möglichkeit deutsch-jüdischer Selbstbehauptung vermittelt, zugleich aber auch ein Gefühl falscher Sicherheit. Von Hans-Albert Walter sind inzwischen bereits drei Bände der Neuauflage im Metzler-Verlag in

21

22

23

24

Alexander Stephan: Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Eine Einführung. München 1979, S.40 u. 258. Will Schaber u. Hans Steinitz: H.-A. Walter und der Aufbau - eine notwendige Ajitwort. In: Aufbau, 11. Mai 1979, S.3; F. Hellendahl: Verdrehte Exilforschung. In: Aufbau, 24. Okt. 1980. Marta Mierendorff: Über die Notwendigkeit zweigleisiger Exilforschung (1970). In: Marta Mierendorff u. Walter Wicclair, Im Rampenlicht der 'dunklen Jahre'. Aufsätze zum Theater im 'Dritten Reich', Exil und Nachkrieg. Hrsg. v. Helmut G. Asper. Berlin 1989, S.43-48; dies.: Über die Notwendigkeit zweigleisiger Exilforschung. Beitrag zur Methoden- und Zieldiskussion anläßlich des Kopenhagener Kongresses (1972). In: ebd., S.49-55. Siehe Volker Dahm: Kulturelles und geistiges Leben. In: Die Juden in Deutschland 19331945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. Hrsg. v. Wolfgang Benz. München 1988, S.75-267.

Deutsch-jüdische

Exilliteratur und

Literaturgeschichtsschreibung

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Stuttgart erschienen. Der erste Band, von dem eine Revision dieser beanstandeten Unterscheidung zu erwarten wäre, steht allerdings noch aus. Der 1986 veröffentlichte Epochenkommentar Deutsche Exilliteratur 19331945 von Konrad Feilchenfeldt vermeidet die Fehler von Walter und Stephan, indem er sich nicht auf die Unterscheidung von politischen Exilanten und jüdischer Massenemigration einläßt. Doch leistet der Kommentar damit keineswegs einen Beitrag zur deutsch-jüdischen Exilliteratur, insofern sie mit Ausnahme der politischen Gruppierungen der jüdischen Emigration unerwähnt bleibt. Bei der Auswahl von repräsentativen Einzelwerken, die im zweiten Teil im Detail interpretiert werden, macht sich dieser Mangel besonders bemerkbar. Die Wahl eines Gedichtes von Ingeborg Bachmann ist ein ausgesprochener Fehlgriff, wenn damit die Lyrik von Else Lasker-Schüler und Nelly Sachs unberücksichtigt bleibt. 25 Es lassen sich natürlich Ausnahmen verzeichnen, für die hier allerdings keine Vollständigkeit in der Aufzählung garantiert werden kann. Desider Stern hat 1967 mit seiner Bio-Bibliographie Werke jüdischer Autoren deutscher Sprache den Anfang gemacht. 26 Manfred Schlösser hat 1968 in der Zeitschrift "Emuna" mit der Frage Jüdische Dichtung - notwendig Exildichtung? zur deutsch-jüdischen Exilliteratur Stellung genommen. 27 Schließlich hat Frithjof Trapp in seinem Lehrbuch Deutsche Literatur zwischen den Weltkriegen II: Literatur im Exil von 1983 die Literatur des jüdischen Exils als Teilbereich der Exilliteratur aufgeführt. Er rechnet dazu allerdings nur die Texte, "die die 'normale' Diskriminierung, die die Juden in Deutschland schon vor dem Nazismus erlebten, die Assimilation und ihre Probleme sowie die spezifisch jüdischen Flüchtings- und Gefangenenschicksale zum Thema haben." Als Autoren werden Adrienne Hertha Thomas (d.i. Α. H. Deutsch), Martin Beradt, Hanna Schramm, Edgar Hilsenrath und Friedrich Torberg genannt. Im Gegensatz dazu werden Autoren wie Karl Wolfskehl, Else LaskerSchüler und Franz Werfel als "voll in der 'Mehrheit'" integrierte deutsche Schriftsteller bezeichnet. 28 Diese Unterscheidung erweist sich als unhaltbar, wenn einzelne Autoren je nach Textart von einer Kategorie in die andere überwechseln. 25

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28

Konrad Feilchenfeldt: Deutsche Exilliteratur 1933-1945. Kommentar zu einer Epoche. München 1986, S.71-73, 133-34. Bei der Darstellung der politischen Gruppierungen stützt sich Feilchenfeld u. a. auf Hans-Albert Walter: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa. Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 2. Darmstadt/Neuwied 1972, S.153157. Die Wahl des Gedichtes Emigration von Dagmar Nick (S. 134-36) ist eher zu rechtfertigen, weil die Autorin Verfolgte des Nazi-Regimes war und von 1960-67 nach Israel übersiedelte. Das Gedicht entstand zur Zeit des Israel-Aufenthaltes. Desider Stern (Hrsg.): Werke jüdischer Autoren deutscher Sprache. Eine Bio-Bibliographie. 3. Aufl. Wien 1970. Manfred Schlösser: Deutsch-jüdische Dichtung des Exils. Jüdische Dichtung - notwendig Exildichtung? In: Emuna 4 (1968) S.250-265. Frithjof Trapp: Deutsche Literatur zwischen den Weltkriegen II. Literatur im Exil. Bern, Frankfurt am Main 1983. (Germanistische Lehrbuchsammlung, Bd. 42), S. 190-200.

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Wenn wir einen Blick auf die Forschungssituation der DDR werfen, so ergibt sich folgendes Bild. Obwohl die Exilliteratur von Anfang an zu der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bestimmenden antifaschistischen Tradition gerechnet wurde, dauerte es fast zwanzig Jahre, bis die erste Monographie erschien. Klaus Jarmatz' Literatur im Exil von 1966 ist in der Abwehr von Georg Lukäcs' These vom humanistisch-bürgerlichen Erbe konzipiert und auf die Herausarbeitung der sozialistischen Literaturtradition abgestellt. Es versteht sich von selbst, daß der Verfasser dabei die deutsch-jüdische Exilliteratur als solche überhaupt nicht ins Blickfeld bekommt. Else Lasker-Schülers Werk wird z.B. zur "zweiten Blüte" des bürgerlichen Realismus im 20. Jahrhundert gerechnet. 29 Diese Situation änderte sich jedoch mit der Veröffentlichung der Serie Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945, herausgegeben in sieben Bänden von Werner Mittenzwei ab 1978. Der fünfte Band ist dem Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und Palästina gewidmet und stellt mit seinem Palästina-Kapitel von 63 Seiten die bisher umfangreichste Darstellung der deutschsprachigen Exilliteratur in diesem Asylland dar. Dasselbe Thema wird bei Hans-Albert Walter in Band 2 der Neuauflage bei Metzler auf knapp 15 Seiten abgehandelt, die sich hauptsächlich mit der Einwanderungsgesetzgebung und der Asylpraxis befassen. 30 Der wissenschaftliche Gehalt des Palästina-Kapitels bei Mittenzwei ist gemischt: einerseits ist das Kapitel stark von antizionistischen Vorurteilen bestimmt, andererseits nennt es Else LaskerSchüler eindeutig als "deutsch-jüdische [...] Lyrikerin." 31 Als Autor dieses Kapitels zeichnet Rudolf Hirsch, der unter Mitarbeit von Ursula Behse beachtlich umfangreiche und detaillierte Informationen über die künstlerischliterarische Arbeit in Palästina zusammengestellt hat. Dazu gehören ExtraAbschnitte über Else Lasker-Schüler, Arnold Zweig und Louis Fürnberg, die im Rahmen einer einführenden Länderdarstellung der Aufgabe durchaus gerecht werden. Der Fall Arnold Zweig stellt im Zusammenhang der Konferenzthematik ein Sonderproblem dar, das von Rudolf Hirsch aber nicht ideologisch ausgebeutet wird, wie man vielleicht hätte erwarten können. Ein Niederschlag der Problematik seiner Stellung zwischen Sozialismus und Zionismus läßt sich auch in den Arbeiten von Geoffrey V. Davis, Doris Maurer und Margarita Pazi nachweisen. 32 Eine entschiedene Wende in der Exil-For29 30

31

32

Klaus Jarmatz: Literatur im Exil. Berlin 1966, S.53-61. Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Bd. 2: Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis. Stuttgart 1984, S.263-77. Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und Palästina. Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933-1945 Bd.5. Hrsg. v. Werner Mittenzwei. Frankfurt am Main 1980, S.580. Geoffrey V. Davis: Arnold Zweig im palästinensischen Exil. Erwartung und Wirklichkeit. In: Judentum, Antisemitismus und europäische Kultur. Hrsg. v. Hans Otto Horch. Tübingen 1988, S.289-316; Doris Maurer: Das Exil in der Heimat. In: Die Zeit (USAAusgabe), 13. November 1987, S. 19; Margarita Pazi: Arnold Zweig: Der Weg zurück in die Homeyerstraße. In: Arbeitskreis Heinrich Mann Mitteilungsheft, Sonderheft 1981:

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Literaturgeschichtsschreibung

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schung der DDR zeichnet sich mit dem Gertrud Kolmar-Aufsatz von Silvia Schlenstedt in "Sinn und Form" vom Juli/August 1989 ab. Der Name der Dichterin gehört in die Geschichte der Exilliteratur, da ein Teil ihres Werkes in dem vom Kulturbund deutscher Juden geschaffenen Bereich entstand. Zum ersten Mal wird hier ihrer Lyrik im Rahmen der Kulturarbeit deutscher Juden im faschistischen Deutschland nachgegangen. Schlenstedt zeigt, wie damit "trotz der sich etablierenden und festigenden faschistischen Macht [...] nach 1933 in Deutschland" für "Menschen jüdischer Herkunft" eingegrenzte Wirkungsmöglichkeiten im kulturellen Bereich gegeben waren. Kunst in diesem Bereich war für Gertrud Kolmar "ein Halt in haltloser Zeit", wie Schlenstedts Analyse ergibt. 33 Aus Österreich sind keine Gesamtdarstellungen der Exilliteratur zu verzeichnen mit Ausnahme der kürzlich erschienenen Darstellung und Dokumentation des amerikanischen Germanisten Harry Zohn unter dem Titel "... ich bin ein Sohn der deutschen Sprache nur ...": Jüdisches Erbe in der österreichischen Literatur, die ein Großteil der deutsch-jüdischen Exilliteratur aus Österreich erfaßt. 34 Für die Germanistik in Österreich scheint die Exilliteratur zur Zeit kein vordringliches Arbeitsgebiet darzustellen. Alle einschlägigen Arbeiten stammen entweder von Exilanten, wie Mimi Grossberg und Hilde Spiel, oder Auslandsgermanisten, wie Joseph P. Strelka. Fassen wir zusammen. Der Historiographie der Exilliteratur sind mit diesem Konferenzthema neue Aufgaben gestellt. Dazu gehört an erster Stelle die Anerkennung und Aufarbeitung der deutsch-jüdischen Exilliteratur und die Revision unhaltbarer Unterscheidungskategorien der Exilantengruppierungen. Siegfried Sudhof (1927-1980) zu gedenken, S.225-37. Siehe auch David R. Midgley: Arnold Zweig. Zu Werk und Wandlung 1927-1948. Königstein/Ts. 1980; Manuel Wiznitzer: Arnold Zweig. Das Leben eines deutsch-jüdischen Schriftstellers. Königstein/Ts. 1980. Siehe zuletzt Arie Wolf: Ein Schriftsteller nimmt Urlaub. Amold Zweigs Abschiedsschreiben aus Israel. In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch 6 (1988), S.230-39; sowie die folgenden Aufsätze in Amold Zweig. Poetik, Judentum und Politik. Akten des Internationalen Arnold Zweig-Symposiums aus Anlaß des 100. Geburtstags, Cambridge 1987. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Kongressberichte, Bd. 25, hrsg. v. David Midgley. Bern 1989: Arie Wolf, Arnold Zweig und die hebräische Sprache: Ein wenig bekanntes Blatt aus der Lebensgeschichte des Dichters, S. 187-201; Jost Hermand, Jetzt wohin? Arnold Zweigs 'Bilanz der deutschen Judenheit' 1933, S.202-18; Manuel Wiznitzer, Amold Zweig und das 'Land der Verheißung' Heimat oder Exil?, S.219-26; Deborah Vietor-Engländer, Amold Zweigs Jahre in Palästina aus der Sicht der DDR und der BRD, S.227-41. Zu Zweigs Einstellung zum Zionismus und zu Israel siehe seine Briefe vom 22. März 1937 (Bd. 1, S.152) und 24. Januar 1953 (Bd. 2, S.198) in Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Briefwechsel, 1933-1958. Hrsg. v. Harold von Hofe. 2 Bde. Berlin 1984. 33

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Silvia Schlenstedt: Suche nach Halt in haltloser Lage: Die Kulturarbeit deutscher Juden nach 1933 in Deutschland und die Dichterin Gertrud Kolmar. In: Sinn und Form 41 (1989), S.727-742, bes. 729. Harry Zohn: "... ich bin ein Sohn der deutschen Sprache nur ...". Jüdisches Erbe in der österreichischen Literatur: Darstellung und Dokumentation. Wien-München 1986.

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Dabei spielt die Berücksichtigung der historischen Situation von 1933-1945 eine große Rolle, wie der Korrodi-Fall von 1936 beweist, der von paradigmatischer Bedeutung ist. Die politische Situation erforderte damals eine Unterbewertung der deutsch-jüdischen Exilliteratur. Im Rahmen der Historiographie der Exilliteratur stellt der Korrodi-Fall jedoch kein Argument gegen die Existenz oder Relevanz einer deutsch-jüdischen Exilliteratur dar. Im Gegenteil, Thomas Manns Antwort, so zeitgemäß taktisch sie auch war, verlangt nach ihrer historischen Einordnung und Bewertung. Es ließen sich andere Fälle heranziehen, die einer Klärung und historisch differenzierten Untersuchung in diesem Zusammenhang bedürfen, wie z.B. der Fall Arnold Zweig. Man wird seine individuellen Erfahrungen weder verallgemeinern noch in Abrede stellen dürfen. Doch stellen sie kein Gegenargument gegen eine deutsch-jüdische Exilliteratur dar. Auf keinen Fall sollte die Verwendung des Begriffs den Eindruck erwecken, daß es sich bei der deutsch-jüdischen Exilliteratur um eine Minoritätenliteratur handelt. Ohne ihren spezifisch jüdischen Beitrag zu verleugnen, handelt es sich bei den Autoren, die ab 1933 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vom Exil betroffen waren, um Repräsentanten der dominierenden Nationalliteratur. Der Rang der deutschsprachigen Literatur bzw. ihre Modernität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind durch sie begründet, wenn man an Autoren wie Hermann Broch, Alfred Döblin oder Franz Kafka denkt, um nur die wichtigsten Namen zu erwähnen. Zuletzt bleibt das Problem der Definition. Über Exilliteratur wird man sich einigen können. Die Bezeichnung hat sich inzwischen durchgesetzt und allgemeine Anerkennung gefunden. Dagegen wird es nicht leicht sein, alle jüdischen Schriftsteller, die zwischen 1933 und 1945 auf deutsch schrieben, auf einen Nenner zu bringen. 35 Man kann sich nicht vorstellen, daß Kafka sich als deutschen, jüdischen oder gar deutsch-jüdischen Schriftsteller bezeichnet hätte. Jedoch ist die Bezeichnung "deutsch-jüdisch" nicht unhistorisch. Es gibt hier keine Entschuldigung für die Taxonomie der germanistischen Bibliographien. Die bekannte Kunstwart-Debatte von 1912 war durch Moritz Goldsteins Aufsatz Deutsch-jüdischer Parnaß ausgelöst worden. 36 In einem Brief an Max Brod aus dem Juni 1921 hatte Kafka selbst von deutschjüdischer Literatur gesprochen. 37

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Siehe dazu auch Klara Pomeranz Carmely: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler. Königstein/Ts. 1981, S.3-7, bes. 6. Siehe Hanni Mittelmann: Die Assimilationskontroverse im Spiegel der jüdischen Literaturdebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Tübingen 1986. Bd. 5, S. 157. Briefe 1902-1924. Hrsg. v. Max Brod Frankfurt/Main 1966. (Gesammelte Werke). S.336.

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Exilliteratur und

Literaturgeschichtsschreibung

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Doch im Jahre 1934 bezeichnete sich Werfel, wahrscheinlich gerade weil er soeben aus der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen und sein Musa Dagh-Roman "zum Schutze des Deutschen Volkes" beschlagnahmt worden war, als deutschen Autor. 38 Im selben Jahr veröffentlichte Arnold Zweig sein Buch Bilanz der deutschen Judenheit 1933, während Franz Werfel 1938 in dem Aufsatz Das Geschenk Israels an die Menschheit im "Neuen Tage-Buch" unter den Schriftstellern und Dichtern in enger Auswahl Heinrich Heine, Ludwig Börne, Paul Heyse, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Jakob Wassermann und Franz Kafka anführte. 39 Werfel muß damals bekannt gewesen sein, daß sich Hofmannsthal bereits 1922 gegen eine solche Vereinnahmung durch Willy Haas in der von Gustav Krojanker herausgegebenen Essaysammlung Juden in der deutschen Literatur verwahrt hatte. 40 Andererseits scheint die Beschränkung auf eine ausschließlich deutschjüdische Thematik oder Soziosemiotik, wie sie z.B. Gershon Shaked an Joseph Roths Hiob-Roman durchgeführt hat 41 , eine Reihe von Schriftstellern auszuschließen. Die Selbstidentifikation der Autoren scheint mir die einzig angemessene Methode, um der von Jacob Katz herausgearbeiteten verhängnisvollen Entwicklung der "Beschnüffelung jüdischliterarischer Leistungen" ein Ende zu setzen. 42 Man wird also nicht Namen wie z.B. Anna Seghers oder Rudolf Borchardt zu bemühen brauchen, um der Vollständigkeit in Sachen Biographie zu genügen. Anna Seghers hat ihre Herkunft nie verschwiegen, aber nicht thematisiert. Borchardt, der aus einer seit zwei Generationen getauften Familie stammte, identifizierte sich auch nach 1933 mit der Tradition des europäischen Ästhetizismus. 43 Mit deutsch-jüdischer Exilliteratur wird eine Literatur bezeichnet, in der die Identifikation mit der jüdischen Herkunft und die Darstellung jüdischer Wirklichkeit und Problematik 38

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Unveröffentlichter Brief von Franz Werfel an Anna Moll in der Special Collection, University of California, Los Angeles. Teilveröffentlichung in Peter Stephan Jungk: Franz Werfel. Eine Lebensgeschichte. Frankfurt/Main 1987, S.216. Das Geschenk Israels an die Menschheit (Eine Liste mit Kommentar. In: Zwischen Oben und Unten. Prosa, Tagebücher, Aphorismen, Literarische Nachträge. Hrsg. v. Adolf D. Klarmann. München 1975. (Gesammelte Werke). S.322-329. Hugo von Hofmannsthal / Willy Haas: Ein Briefwechsel. Berlin 1968, S.46f. Willy Haas war Werfeis enger Freund seit seiner Jugendzeit. Siehe dazu Gershon Shaked: Wie jüdisch ist ein jüdisch-deutscher Roman? Über Joseph Roths Hiob. Roman eines einfachen Mannes. In: Juden in der deutschen Literatur. Hrsg. v. Stephane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt/Main 1986, S.281-91. Jacob Katz: Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum. In: Kontroversen, alte und neue. Bd. 5, S.138. Vgl. dagegen Theodor W. Adornos Aufsatz zur Einleitung der Ausgewählten Gedichte von Rudolf Borchardt. Frankfurt/Main 1968, S.7-35. Adorno vermeinte 'die jüdischmessianische Stimme' aus Borchardts Gedichten herauszuhören (S.3S) und erklärte: "Nicht erst hat der losgelassene Nationalismus den Juden Borchardt verfolgt: er war Jude genug, schon zu einer Zeit nicht hineinzupassen, da er noch das Wort Nation ungescheut über die Lippen brachte und in den Süddeutschen Monatsheften publizierte" (S.21).

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Ehrhard Bahr

nicht mehr mit Rücksicht auf Integration in Gesellschaft und Staat zu erfolgen brauchten. Im Gegenteil, sie erfolgten in Opposition zu Staat und Gesellschaft, die aufgrund ihrer rassistischen Ideologie eine große Anzahl von Autoren nicht nur exilierten, sondern sogar mit dem Leben bedrohten. Der negativen Fremdidentifikation wird die positive Selbstidentifikation entgegengesetzt. Selbstidentifikation wird somit zu einem Kriterium der deutschjüdischen Exilliteratur. Man wird Döblin wegen seiner Konversion nicht ausschließen wollen, aber sich auf die Zeit vor der Konversion konzentrieren. Daß die deutsch-jüdische Exilliteratur in ihrer Opposition zu NS-Staat und NS-Gesellschaft nicht allein stand, bweist nur ihren Rang, doch nicht, daß sie der Exilliteratur im allgemeinen unterzuordnen ist. Mit den brutalen Maßnahmen der NS-Kulturpolitik war nämlich für die deutsch-jüdische Literatur zugleich eine Entwicklung abgeschlossen, die sich auf die Dauer als unheilvoll erwiesen hatte, insofern ihre Rezeption stets mit der "Suche nach dem 'Jüdischen' hinter einer neutralen Fassade" verbunden gewesen war, wie Jacob Katz es formuliert hat. 44 Nach 1933 brauchte aktive Teilnahme an der deutschen Literatur nicht mehr mit Assimilation, d.h., mit der Preisgabe der Identität oder dem Verzicht auf Thematik, erkauft zu werden. Deutsch-jüdische Literatur wurde unter völlig neuen Bedingungen geschrieben, die sich von denjenigen der übrigen Exilliteratur wesentlich unterschieden. Dieser radikalen Veränderung Rechnung zu tragen, ist Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung.

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Rezeption jüdischer Autoren, S.138.

Wulf Koepke (Austin/Texas)

'Judesein' im Jahre 1933 Selbstbesinnung und die Diskussion um Judentum und Deutschtum

Die Rassen- und Völkermordpolitik des nationalsozialistischen Deutschland hat im nachhinein die Nazi-Ideologie mit einem Tabu belegt, das sie weitgehend der Diskussion entzieht. Grundbegriffe wie 'Rasse', 'Volkstum', 'nordisch', 'arisch' könnten nur mit Schwierigkeiten in einem sachlichen oder wissenschaftlichen Diskurs verwendet werden, jedenfalls erst nach sehr sorgfältiger Abgrenzung. Das macht es schwierig, hinter das Jahr 1933 zurückzugehen und die damaligen Diskussionen zu verstehen. Auch das Geschichtsbild des Jahres 1990 ist gefärbt durch die seitherigen einschneidenden Erfahrungen, und bei der Beurteilung der Weimarer Jahre werden die Alarmzeichen kräftig unterstrichen, nicht jedoch die Tendenzen der Liberalisierung und Aussöhnung, die zwar von den Nazis dann unterdrückt wurden, aber dennoch eine nicht geringe Dynamik entfaltet hatten. Es ist ja ein Gemeinplatz der Forschung, daß die Ideologie der Nationalsozialisten ein Amalgam aus verschiedenen schon bestehenden Tendenzen war; umso weniger sollte es überraschen, Konzepte, die von den Nazis benutzt wurden, bereits vorher in der Diskussion zu finden. Speziell waren 'Volkstum' und 'Rasse' gängige Begriffe und kontroverse Themen in einem Europa, das 1918/19 nach dem Nationalitätenprinzip neu gestaltet werden sollte, nun aber zu einer Vielzahl von Staaten mit um ihre Rechte kämpfenden sprachlich-ethnischen Minderheiten geworden war. Das Thema 'Auslandsdeutsche' bzw. 'Volksdeutsche' war auch für die Weimarer Republik höchst akut. Die jetzt verfassungsrechtlich verankerte Gleichstellung der Juden in Deutschland hatte nach 1919 die beiden gegenläufigen Tendenzen noch schärfer hervortreten lassen: die jüdische Selbstbesinnung im Zionismus und die Tendenz zur Assimilierung, deren Ziel das Aufgehen im Deutschtum war. Natürlich gab es etliche Zwischenpositionen. Die Öffnung der deutschen Gesellschaft machte das Land noch mehr als vorher zum Auswanderungsziel osteuropäischer Juden, die aus dem Ghetto und Stetl ausbrechen wollten. Sie riefen im Gegenzug antisemitische Reaktionen hervor, die endlich das vernichten sollten, was diese Einwanderer zu finden gehofft hatten. In Deutschland wie auch in den USA sahen eingesessene Juden jüdische Zuwanderung deshalb mit Besorgnis. Es ist nicht nötig, diese bekannten Fakten hier weiter auszubreiten. Es sollte nur daran erinnert werden, daß sie die Rahmenbedingungen darstellen

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Wulf Koepke

für die lebhafte Diskussion über Judentum und Deutschtum. Jenseits des Hasses und der politischen Schlagwörter hoffte man, in einer auf Vernunft gegründeten Diskussion Klärung zu erzielen. So erschienen zunehmend Sonderhefte von Martin Bubers Zeitschrift "Der Jude", mit Titeln wie Antisemitismus oder Deutschtum und Judentum,1 Auffallend ist an diesen Bänden, daß das gesamte geistig-politische Spektrum vertreten war und daß die Grundbegriffe 'jüdischer Geist', 'Volkstum', 'Nation' und 'Rasse' allen Teilnehmern der Diskussion gemeinsam waren. Insbesondere ist zu beobachten, daß nicht nur Antisemiten die wachsende Verschmelzung mit Bedenken sahen und daß keineswegs jüdischer Selbsthaß allein den wachsenden jüdischen Einfluß auf die deutsche Kultur bedauerte. Daß Juden Schaden am deutschen Volkstum anrichten konnten, war auch jüdische Ansicht, nicht nur die von Wilhelm Stapel. 2 So wünscht sich beispielsweise Arnold Zweig in seinem Beitrag zum Sonderheft Antisemitismus und jüdisches Volkstum der Zeitschrift "Der Jude" mit dem Titel Der Jude in der deutschen Gegenwart (1925) 3 eine "Re-Mediterranisierung" (3) der Juden und warnt, fast mit den Worten Friedrich Nietzsches, er halte "das deutsche Gebilde für zu jung noch, zu weich und zu bedroht, als daß ihm seine relativ große Zahl von Juden nicht auf unbestimmte Art geistig gefährlich werden sollte." (5) Die, wie er sie nennt, "weitaus beste Geschichte der deutschen Literatur, Josef Nadlers Literaturgeschichte" (5), die bekanntlich den Charakter des literarischen Werks aus der Stammeszugehörigkeit des Autors ableitet, schließe Juden aus, mit einigem Recht. Noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, war das ganze politische Spektrum im Sammelband Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling versammelt, der 1933 im Amboss-Verlag in Prag erschien, dessen Beiträge aber bereits 1931/32 verfaßt worden waren. Hier, wie in früheren Diskussions-Bänden, kamen Autoren zu Wort, die wir seitdem mit Nazi-Deutschland assoziieren: Franz Schauwecker, Ludwig Ferdinand Clauß und auch der kaum zu judenfreundliche Werner Sombart. Der erste, kürzere, Teil des Buches, "Für

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Antisemitismus und jüdisches Volkstum (1925), Judentum und Deutschtum (1926); typische Themenhefte waren sonst etwa Erziehung. Auch das Sonderheft zu Bubers fünfzigstem Geburtstag, herausgegeben von Franz Rosenzweig und Ludwig Strauß im Jahr 1928, brachte das jüdische Spektrum für und gegen den nationalen Zionismus. Eva G. Reichmann bescheinigt Wilhelm Stapel, daß er sich von der "groben Hetze" bewußt abgesondert habe. Vgl. Diskussionen über die Judenfrage 1930-1932. In: Entscheidungsjahr 1932. Zur Judenfrage in der Endphase der Weimarer Republik, hrsg. v. Werner E. Mosse. Tübingen 1966 2 . ( = Schriftenreihe wissensch. Abhandl. d. Leo Baeck Instituts Bd. 13). S.508. Aber Stapels Publikationen wie etwa die Broschüre Die literarische Vorherrschaft der Juden in Deutschland 1918 bis 1933 (Hamburg 1937) waren gerade deshalb überzeugender, weil er nicht primitiv argumentierte und auch Respekt vor jüdischen 'Kämpfern' zeigte - aber eben doch die jüdischen Literaten als Krebs im deutschen Volkskörper charakterisierte.· Der Jude in der deutschen Gegenwart. In: Antisemitismus und jüdisches Volkstum S. 1 -8, also der Einleitungsbeitrag.

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und Wider", bewegt sich ganz auf dem Boden der rationalen Diskussion, wie es noch die Vorrede vom Mai 1933 unterstreicht, wenn sie feststellt: Selbst Anschauungen, die keineswegs als philosemitisch anzusehen sind und Autoren, die nicht gesonnen sind, für das Judentum eine Lanze zu brechen, wohl aber gegen Oberflächlichkeit und Unsachlichkeit ins Feld ziehen, mußten hier Aufnahme finden (226). 4 Daß 1933 eine Wasserscheide sein könnte, deutet der Schlußabschnitt des Vorworts an, der den Übergang vom Diskurs der Diskussion zu dem des kämpferischen Antifaschismus bezeichnet: So dürfen wir denn überzeugt sein, daß dieses Buch allen willkommen sein wird, die in diesen Tagen der Verwirrung die Klarheit wollen und erwarten, daß nun auch die Stimmen jener ertönen, die - zum Teil selbst verfolgt - für die Verfolgten eintreten. (226) Die Beiträge selbst stellen zwar die Probleme klar heraus, sind aber weit entfernt von einem Geist der Verfolgung oder - von jüdischer Seite - der Abkapselung. Der Rasseforscher Clauß stellt in seinem Beitrag mit dem Titel Sind die Juden eine minderwertige Rasse? kategorisch fest: "Für die Wissenschaft gibt es keine minderwertigen Rassen." (245) Sein Ideal bleibt dabei die 'reine' Rasse, wobei er zugeben muß, daß es so etwas kaum oder gar nicht mehr gibt. Wenn 'Rasse' zur Grundlage der Diskussion gemacht wird, dann folgt logischerweise die Feststellung, daß Deutsche und Juden 'verschieden' seien. Die Anerkennung dieser Verschiedenheit durchzieht viele Beiträge dieses Bandes. So schreibt Friedrich von Lettow-Vorbeck: Die zwei - Rassen oder Völker oder Menschenarten oder, wie man's nun nennen will - sind miteinander aber so verwachsen und 4

Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling. Prag 1933. Es wird kein Herausgeber genannt, auch nicht im Vorwort. Auf dem Titelblatt werden zugkräftige Namen von Beiträgern genannt: Heinrich Mann, Arthur Holitscher, Lion Feuchtwanger, Max Brod und Graf Coudenhove-Kalergi. Einige der Beiträge sind Wiederabdrucke früherer Äußerungen. Der Band identifiziert sich im Vorwort als Auszug aus dem vorhergehenden umfangreicherem Band Der Jud isl schuld ...? (1932) und will den Teil "herauslösen, den der gegenwärtige Augenblick brennend verlangt" (225), hat deshalb nicht einmal eine neue Paginierung, sondern beginnt mit S.225. Vgl. Eva G. Reichmanns o.a. Artikel zu Der Jud ist schuld ...? und anderen Diskussionsbänden. Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling charakterisiert in dieser Übergangsstellung besonders deutlich die Positionen beim Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft. Sehr wichtig ist Eva G. Reichmanns Analyse der Frage: "Wer diskutiert?" (507f.) Es sind die Vertreter der jüdischen Richtungen und Organisationen, sehr wenige Wissenschaftler (wie Sombart, Josef Nadler, Siegfried Passarge. Theodor Lessing ist hier kaum als 'Wissenschaftler' anzusprechen), nur wenige Ideologen der rechtsgerichteten antisemitischen Parteien, so gut wie keine Nazis, vor allem aber "Schriftsteller und Literaten in großer Zahl" (507). Bis zu einem gewissen Grade gehörten solche Diskussionen also zum 'Kulturbetrieb'.

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verbunden, daß man suchen muß, das Beste daraus zu machen, wie wenn zwei Eheleute merken, daß sie, nachdem sie einige Jahre verheiratet waren, nicht recht zueinander passen. (248) Scheidung schließt er aus, und warum solle man einander schädigen? "Da schädigt jeder Teil doch zunächst unvermeidlich sich selber, von allem anderen abgesehen." (248) Werner Sombart preist die nationale Bewegung der Juden, die jüdische Renaissance, und prophezeit: Duckmäuserei, Leisetreterei, Kriecherei, Streberei, wie sie die Assimilationssucht notwendig erzeugen mußte, werden verschwinden; der aufrechte Jude: welch ein Gewinn für die Menschheit in einer Zeit, da alle jene mannhaften Tugenden so niedrig im Kurse stehen. (253) Er respektiert also die männlichen Eigenschaften, die der Zionismus forderte, den 'aufrechten', 'mannhaften' Juden, und er lehnt den sich assimilierenden Juden ab - aber ist jeder Jude, der Deutscher sein will, kriecherisch, und hat der mannhafte Jude noch Platz in der deutschen Gesellschaft Sombarts? Die Nazis waren bekanntlich anfänglich im Zwiespalt, wie sie jüdische Kämpfer und 'Helden' des Ersten Weltkriegs behandeln sollten, denen sie nicht ganz ihren Respekt versagen konnten. Einfacher war es für sie und die völkische Rechte im allgemeinen, sich mit kämpferischen Zionisten zu verständigen, die Palästina zurückgewinnen wollten. Die Gegenposition artikuliert Max Naumann, Sprachrohr der 'nationaldeutschen Juden'. Sein Schluß ist der folgende: Deutschtum ist nicht Blut und nicht Religion, es ist Wesen und Wille. Wesen ist Erbgut, aber jedes Erbgut ist der Wandlung, der Entwicklung zugänglich, es kann unterdrückt und verkrümmt werden durch Haß und Angst, es kann frei zum Himmel wachsen, wenn man ihm Raum, Luft und Licht zur Entfaltung gibt. (308) Nicht nur der Wortschatz Nietzsches und die organischen, vegetabilen Metaphern zeigen die geistige Herkunft, sondern auch die Zielrichtung: keine Assimilation, also Angleichung, Anpassung, sondern ein 'organisches' Hineinwachsen in das Volkstum, eine Modifikation des 'Erbguts'. "Man öffne ihnen den Weg zum Deutschtum" (308), verlangt Naumann, zu einer inneren Wandlung, die Rassemerkmale ignoriert. Die KPD, die in einer offiziellen Verlautbarung und nicht im Beitrag eines einzelnen Autors zu Wort kommt, bekräftigt demgegenüber die Thesen von Otto Heller in seinem vieldiskutierten Buch von 1931 Der Untergang des Judentums·. der Sieg des Sozialismus wird das Ende des Nationalismus und Nationalitätenproblems bedeuten und damit automatisch die Lösung der Judenfrage. In einem Gesellschaftssystem der Vernunft ist für Antisemitismus kein Platz mehr, aber auch nicht für anachronistische Bewegungen wie den Zionismus.

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Umgekehrt bekräftigt Robert Weltsch eine jüdische Selbstbehauptung, die nicht unbedingt eine zionistische sein muß. Er statuiert die Existenz eines 'jüdischen Volkes', und er analysiert, warum die Juden oft von anderen Völkern, unter denen sie leben, als Kritiker, als Störenfriede angesehen werden: Dazu kommt noch die gesellschaftskritische Funktion, die die Juden durch ihre Situation auszuüben geeignet waren. Als ein Element, das mit dem Leben und Werden des umgebenden Volkes geschichtsmäßig nicht organisch verknüpft war, da es nie den natürlichen und gewordenen Ordnungen dieses Volkes eingefügt war, hatten sie naturgemäß weniger Hemmungen, allgemeine kritische Maßstäbe an den jeweiligen Zustand der Gesellschaft anzulegen. 5 (369) Auffallend auch hier, sozusagen aus dem Zentrum deutsch-jüdischen Denkens, die unbefragte Übernahme der Vorstellung des 'organischen Staats', der 'organischen Geschichtsentwicklung', und die naheliegende Vorstellung des 'Fremdkörpers'. Es ist vielleicht nützlich festzustellen, daß diese Vorstellungen vom Organismus' sich nicht auf Herder berufen dürften, was sie jedoch immer wieder tun. 6 Robert Weltsch betont, daß 'Assimilation' außer für manche Individuen keine Lösung der Judenfrage bietet; Emanzipation ist also keine Assimilation, selbst wenn der Liberalismus es so ansah. Vielmehr ist gerade heute ein neues jüdisches Selbstbewußtsein vorhanden: Wir geben zu, daß die Haltung der früheren jüdischen Generation, die die Judenfrage möglichst verschleiern wollte und das Sprechen über jüdische Dinge als einen Verstoß gegen die guten Sitten empfand, dies sehr erschwert hat. In diesem Punkt ist aber eine gründliche und hilfreiche Wandlung eingetreten, seitdem die 5

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Robert Weltsch: Die Judenfrage für die Juden, S.366-373; Eva Reichmann betont die Unabhängigkeit von Robert Weltschs Denken; vgl. die späteren Reflexionen Weltschs in Entscheidungsjahr 1932 (Anm. 2), S.535-562, wo er auch das Problem angeht, wie weit die damaligen Einstellungen nach 1945 überhaupt noch beurteilt werden können. Herders Schrift Vom Geist der Ebräischen Poesie regte neuhebräische Literatur mit an; vgl. z.B. Chaim Shoham: J. G. Herder und die Anfänge der neuhebräischen Literatur. In: Akten des VI. Internationalen Germanisten-Kongresses Basel 1980. Jahrbuch für Internationale Germanistik Reihe A, Bd. 8,3, S. 130-137. Der wesentlich von Herder neu formulierte Bildungsbegriff und die Idee der Humanität blieben entscheidend für die Emanzipation; andererseits hat Herders Idee des Volkes und der Nation, zumal in der Umdeutung zu dem, was Friedrich Meinecke als 'Kulturnation' definierte und was später im politischen Bereich als 'organisch' angesehen wurde, die Vorstellung der 'Artfremdheit' begünstigt; sie hat damit einerseits dem jüdischen Nationalismus Auftrieb gegeben (vgl. Eugen Lemberg: Geschichte des Nationalismus in Europa. Stuttgart 1950, bes. S.190f.), andererseits den Verkündern des rassisch determinierten 'Volksgeistes' Ideen geliefert, wobei weder Herder noch etwa Wilhelm v. Humboldt den Begriff 'Rasse' akzeptierten. Vgl. Jacob Toury: Sprache und jüdische Einordnung im deutschen Kulturraum. In: Gegenseitige Einflüsse deutscher und jüdischer Kultur von der Epoche der Aufklärung bis zur Weimarer Republik. Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte der Universität Tel-Aviv Bd. 4 (1982), S.75-96, bes. 80f.

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Führung im Judentum eine Gruppe innehat, die mit scharfer Selbstkritik gegen die eigene Gemeinschaft ein Gefühl des Stolzes auf die alte Vergangenheit und einer tiefen Verantwortung vor der Zukunft verbindet. (373) Das muß nicht Zionismus sein. Es bleibt festzuhalten, daß auch der CentraiVerein schon vor 1933 auf verstärktes jüdisches Selbstbewußtsein drängte; statt in der deutschen Gesellschaft zu verschwinden, wollte man das Judentum zu einem respektierten und gleichberechtigten Teil von ihr machen. Die Tendenz allerdings, die nach dem Willen der Herausgeber am meisten Eindruck hinterlassen soll und die sich nach einigen idealistischen Beiträgen, wie dem von Heinrich Mann, im zweiten Teil immer mehr durchsetzt, ist die zionistische: die Juden brauchen eine eigene Nation in Palästina. Wenn das deutsche 'Volkstum', 'Wesen' und 'Erbgut' die entscheidenden geschichtlichen Kräfte sind, so müssen die Juden entweder hineinwachsen, oder, wenn das unmöglich oder unerwünscht ist, es bleibt, ihnen konsequenterweise nur die Auswanderung in ein eigenes Land, zumal wenn sie ihr eigenes Erbgut rein bewahren wollen. Dem gegenüber bleiben idealistische und pragmatische Ansichten eines toleranten Zusammenlebens aufgrund der gemeinsamen Vergangenheit deutlich in der Minderheit. 7 Vielleicht haben manche Deutsche die Wahrheit von Alfred Döblins Feststellung empfunden: "Assimilation erfolgt immer nach beiden Seiten." 8 Auffallend oft wird Nietzsches Beobachtung, die Deutschen seien vielleicht noch zu schwach und wenig selbstsicher für eine solche Infusion jüdischen Geistes, variiert und wiederholt. 9 Typischerweise gehen die Autoren des Bandes von dem Vorhandensein einer Gesellschaftskrise aus, die überwunden werden muß, und ihre Anschauungen und Vorschläge zur Lösung der Judenfrage implizieren zumeist durchgreifende Veränderungen der Gesellschaft. Bei dieser zukunftsgerichteten, zum Teil utopischen Blickrichtung werden die akuten Gegenwartsprobleme noch von höherer Warte behandelt. Die wirklich einschneidende Be7

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Graf Coudenhove Kalergi z.B. bringt das folgenträchtige Argument in die Diskussion, das in einem rationalen Diskurs hätte Wirkungen haben können: "Der Haß gegen das Judentum und gegen das Deutschtum sind verwandt. Beide Völker werden gehaßt, verfolgt und verleumdet, weniger um ihrer Fehler willen, als um ihrer Vorzüge." (300) Und weiter: "Wer darum den Antisemitismus bekämpft, hilft nicht nur dem Judentum, sondern auch dem Deutschtum." (302) Ahnlich in der Tendenz ist Heinrich Manns Beitrag über Gutgeartete Menschen (293-298). Der Jude. Sonderheft Judentum und Deutschtum (1926); darin Ein Brief, S. 102. Es ist z.B. das zentrale Argument von Heinrich York-Steiner: Wie entsteht der Antisemitismus der Deutschen? (393-398). "Der deutsche Antisemitismus ist nicht etwa eine Folge übergroßer völkischer Empfindung, sondern die Reaktion auf das Unterbewußtsein eines unsteten, schwächlichen Volksbewußtseins." (395) Vgl. auch zum Problem Steven E. Aschheim: 'The Jew Within': The Myth of 'Judaization' in Germany 1904-1938. In: The Jewish Response to German Culture From the Enlightenment to The Second World War. Ed. by Jehuda Reinharz und Walter Schatzberg. Hanover, London 1985, S.212-241.

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deutung des Nationalsozialismus und der Machtübergabe von 1933 wurde nicht sofort wahrgenommen. Sogar in der "Selbstwehr" in Prag, dem zionistischen Sprachrohr der Ansichten der Herausgeber des besprochenen Bandes, ist das zu spüren. Natürlich berichtet die Zeitung laufend über NaziDeutschland, doch 1933 ist noch nicht ersichtlich, daß die Nazi-Partei etwas qualitativ anderes ist als bisherigen antisemitischen Parteien und Bewegungen; und so räumt das Blatt nach wie vor den inneren Problemen und Auseinandersetzungen der zionistischen Bewegung selbst am meisten Platz ein. Offenbar war es schwer, sich wirklich vorzustellen, was in Deutschland vor sich ging - gerade in dem Deutschland, das als Modell der Toleranz gegolten hatte, zumal im Vergleich mit Polen oder der Sowjetunion, und das in dem weisen Nathan den Mythos des überlegenen Juden und der brüderlichen Gesellschaft geschaffen hatte. In einem größeren historischen Rahmen gesehen, ist es aufschlußreich, daß der alte religiöse Gegensatz zwischen 'Juden und Christen' nunmehr höchstens untergründig eine Rolle spielte, jedenfalls in solchen Debatten, daß aber stattdessen neue Gründe vorgebracht wurden, um eine grundlegende Fremdheit und Verschiedenheit zu belegen: Rasse, das 'Wesen', das 'Erbgut'. Die große Mehrzahl der deutschen Juden, wie sie sich vor allem im Central-Verein der deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) artikulierte, war auf das aus, was faktisch an vielen Orten bestand: Integration in die deutsche Gesellschaft unter Beibehaltung der eigenen Religion und Traditionen, die ja meist an die Religion geknüpft waren. 10 Daß die Wirkung des Schocks jedoch nicht ausblieb, bezeugt die Feststellung Eva G. Reichmanns - oft Wortführerin des CV - aus dem Jahre 1934: Soweit es bei einer zerstreuten, meist nur noch lose zusammenhängenden Menschengruppe, wie sie die Juden der Welt darstellen, erlaubt ist, von einem gemeinschaftlichen Erlebnis zu sprechen, darf gesagt werden, daß die nationale Revolution des Jahres 1933 einen geistigen Umbruch in der gesamten Judenheit zur Folge hatte. In der aufrüttelnden Wirkung der Tatsache, daß die Judenemanzipation in Deutschland, dem Lande ihrer höchsten schöpferischen Fruchtbarkeit, aufgehoben werden konnte, wurde die geistige Führerstellung, die der deutsch-jüdische Kulturkreis innerhalb der Weltjudenheit bisher innegehabt hatte, unzweideutig bestätigt. Zwar beharren die jüdischen Massen in den Ländern der Gleichberechtigung weiter in der Ruhe ihres unangetasteten Lebenskreises; aber ihre Führer sind hellhörig geworden, sie sind aufgestört aus der scheinbaren Selbstverständlichkeit ihres Daseins. (46) 11

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Zum Wechsel von 'Juden und Christen' zu 'Juden und Deutsche' vgl. Eva G. Reichmann, a.a.O. (Anm.4). Diaspora als Aufgabe. Wiederabgedruckt in Eva G. Reichmann: Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz. Zeugnisse einer tragischen Begegnung. Heidelberg 1974, S.46f.

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Diese Ansicht kommt aus einem nicht-zionistischen Milieu, für das bei aller vorherigen Krisenstimmung die 'nationale Revolution1 den Zusammenbruch einer Welt, nicht nur einen 'geistigen Umbruch' bedeutete. Die 'geistige Führerstellung' des deutschen Judentums machte diesen Umbruch so schwer, sie wurde, geschichtlich gesehen, durch das Jahr 1933 jedoch nicht 'bestätigt', sondern beendet, mit fragwürdigen Folgen. Auch das deutsche Judentum hatte sich lange vor 1933 auf seine Grundlagen besinnen müssen, gegenüber dem Kommunismus, der sich gerade in Otto Hellers Buch artikuliert hatte, 12 gegenüber dem Zionismus, aber auch gegenüber Max Naumann und seinen 'nationaldeutschen' Juden, die vielleicht nicht so unbedeutend waren, wie es Eva Reichmann später noch darstellte. 13 Eva Reichmann definierte das Jahr 1933 als Ende der Judenemanzipation in Deutschland. Sie ließ sich jedoch nicht überzeugen, daß damit das Ende des deutschen Judentums gekommen sei. Den Alternativen Zionismus resp. Kommunismus - Auswanderung setzte sie eine These der Selbstbehauptung entgegen. In ihrem Aufsatz Vom Sinn deutsch-jüdischen Seins (1934)14 versuchte sie, den Mitgliedern des Central-Vereins eine Neuorientierung zu geben. Erhalten bleibt eigentlich die Grundlage, eine "Pflegestätte jüdischen Selbstbewußtseins auf deutsch-vaterländischer Grundlage" (48f.), die historische Aufgabe, "das nichtzionistische deutsche Judentum deutsch und jüdisch erhalten" (49) zu wollen. Die Situation 1933/34 ist jedoch die folgende: Das Zeitalter der Emanzipation ist beendet. Unsere seelische Sicherheit ist geborsten. Sie hatte uns vielleicht wirklich stumpf gemacht, allzu selbstbewußt und satt. Zwar - an judenfeindlichen Anfechtungen fehlte es eigentlich nie, aber wir ließen sie kaum je in uns hineindringen. Wir sahen die Geschichtsentwicklung zu einseitig, als daß wir an wirkliche Erschütterungen geglaubt hätten. (50) Ein Weg "der inneren Einkehr und Sammlung", eine "Rückkehr zum Judentum" (50) ist also vorgezeichnet. Dabei stellt Reichmann die Frage nach den "praktischen Aussichten", ob "in aller Zukunft jüdischen Menschen deutscher Lebensraum zu erhalten sein wird" (52), und erwägt den "Untergang des deutschen Judentums" (52). Kein Gedanke dabei an Deportationen oder eine 'Endlösung'. Und doch plädiert Eva Reichmann für das Ausharren. Sie fühlt, 12

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Vgl. dazu Eva Reichmanns Rezension, ebd., S.30-45; vgl. dazu auch Hans-Hellmuth Knütter: Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1971. ( = Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte Bd. 4). S.193ff. Diskussionen über die Judenfrage 1930-1932 (Anm.2), S.507; dagegen Carl J. Rheine: German Jewish Patriotism 1918-1935. Diss. phil. State University of New York, Stony Brook, 1978, S.50-101; Klaus J. Herrmann: Das Dritte Reich und die deutsch-jüdischen Organisationen 1933-1934. Köln, Berlin, Bonn, München 1969. ( = Schriftenreihe der Hochschule für Politische Wissenschaften München N F Heft 4). Größe und Verhängnis deutsch-jüdischer Existenz (Anm. 11), S.40-62; Erstdruck: CVZeitung, Berlin, 31. Mai 1934.

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daß die Verbindung unzerreißbar ist und daß zumal für das Judentum der Verlust der deutschen Juden unersetzlich wäre. "Das Judentum braucht Deutschland, braucht diese schmerzlich geliebte Wahlheimat seiner geistigen Entfaltung." (59) Eva Reichmann, wohlgemerkt, spricht vom Erlöschen der deutsch-jüdischen Kultur durch Auswanderung nach Palästina und andere Länder, wie die USA. Die Vorstellung des Durchhaltens, bis den Deutschen die Gemeinsamkeiten mit ihren jüdischen Mitbürgern wieder aufgingen, ist ganz besonders in den rechtsgerichteten oder konservativen Kreisen verbreitet. So weit sie ein Teil der zionistischen Bewegung waren, fanden sie denn auch Möglichkeiten praktischer Zusammenarbeit mit Nazis. Schwerer war es für die Kreise, die daran festhielten, sich als Deutsche zu fühlen, und das als ihr Recht zu behaupten. Schon Robert Weltsch hatte festgestellt, daß einer Verständigung konservativer deutscher und jüdischer Kreise nur der deutsche Antisemitismus dieser Kreise entgegenstand, im Gegensatz etwa zu England. 15 Ein Manifest dieser Anschauungen stellt noch die Broschüre Wille und Weg des deutschen Judentums dar, die 1935 im Vortrupp Verlag Berlin erschien. Immerhin kommt darin neben dem "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten", dem "Bund" und natürlich dem "Deutschen Vortrupp" auch der Central-Verein zu Wort, und zwar mit dem längsten Beitrag. 16 Während der "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" die Ehre der Veteranen hochhalten will und sich ausdrücklich um die Wehrertüchtigung und soldatische Erziehung der Jugend bemüht, 17 geht Alfred Hirschbergs Plädoyer für den CV als Vertretung der "unlösbaren Schicksalsgemeinschaft der deutschen Juden" (25) durchaus von der Existenz des "totalen Rassestaates" (21) aus und statuiert, daß die Juden unter Emanzipation, sollte sie wieder gewährt werden, in der Zukunft etwas anderes verstehen würden als in der Vergangenheit. Er statuiert "das Ende der Epoche des Liberalismus" (22), stellt jedoch dabei den entscheidenden Punkt fest: "Die Utopie einer Totalumsiedlung scheidet aus." (22) Wichtig scheint auch hier die geistige Umorientierung: "Der in seinen Ursprüngen scheinbar so rationale Centraiverein hat schon immer einen irrationalen Zug enthalten. Niemals aber hat er stärker als jetzt die Notwendigkeit empfunden, über Logik und Verstand hinaus Kräfte zu entwickeln, die irrationalen Ursprungs sind." (29) Dazu gehört insbesondere: "Wir glauben an die Unzerstörbarkeit unseres Judentums" und "Wir glauben an die Zukunft des deutschen Geistes, der auch uns Heimat sein kann" (29). In den Ausführungen von Hans-Joachim Schoeps über den "Vortrupp" klingt das sogar so: 15 16

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Die Judenfrage für die Juden (Anm.5), S.372. Alfred Hirschberg: Der Centraiverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens; S. 1229. Wille und Weg des deutschen Judentums, S . l l ; vgl. Carl J. Rheine, a.a.O. (Anm.13), S. 18-57.

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Wir wissen aber auch, daß Deutschland als Staat und Nation mehr ist als bloße Bluts- und Stammesgemeinschaft, daß Deutschland nämlich auch Schicksals- und Geschichtsgemeinschaft ist. In diese sind wir eingetan auf Weltzeit als preußische, bayrische, hessische und fränkische Deutsche jüdischen Glaubens, weil wir durch Bekenntnis vor Schicksal und Geschichte, seins- und bewußtseinsmäßig Deutsche sind. Wer heute Deutschland nicht verläßt und ohne Groll und Ressentiment als Deutscher und Jude um Deutschland Leiden erträgt, stellt seine Deutschheit unter Beweis, wie er zwingender und gültiger nicht gedacht werden kann, auch dann, wenn ihm vorerst keine äußere Entsprechung erfolgt. (55) Das alles sind im Wortsinn konservative Äußerungen; sie wollen bewahren, was im Laufe der Geschichte 'gewachsen' ist, und sie beharren darauf, daß trotz Rasse und Volkstum ein Jude ein ebenso echter Deutscher ist wie ein 'Arier'. Der grausame Test für diese Überzeugungen sollte bald kommen. Es ist nötig anzumerken, wie sehr Ausdrucksweise und Gedankengänge Teil des Diskurses von 1933 sind, insgesamt die Aufwertung des Irrationalen gegenüber der Rationalität, und die Überzeugung vom Ende der liberalen Demokratie. In diesem Rahmen der akuten Bedrohung der deutsch-jüdischen Kultursymbiose waren nun deutsche Schriftsteller jüdischer Herkunft besonders exponiert und gefährdet. Ihre Flucht oder Abreise ergab sich meistens aus politischen Gründen, waren doch die meisten von ihnen Sozialisten/Kommunisten oder linksliberale Humanisten, die in den vorhergehenden Jahren öffentlich gegen den Nationalsozialismus aufgetreten waren. Und konservativere Autoren wurden nach Hermann Brochs Beobachtung durch ihre jüdische Herkunft und Identität davor bewahrt, sich zu nahe mit dem Nationalsozialismus einzulassen. 18 Ganz abgesehen von der politischen Einstellung und vom Verhältnis zum Zionismus lebten diese Schriftsteller in der deutschen Sprache und durch die deutsche Sprache. Sie mußten fürchten, daß ihre Kreativität mit und an der Sprache sterben könnte. Während das Jahr 1933 manche von ihnen zu einer klareren Besinnung auf ihre jüdische Identität brachte, so ist die Debatte von 1933 um Judentum und Deutschtum verhältnismäßig bescheiden, was den Anteil der Schriftsteller betrifft. Vielleicht war, so meinten sie, das Wesentliche bereits gesagt, und jetzt sei nicht mehr die Zeit für Debatten, obwohl die Frage der prominenten jüdischen Verlage in Deutschland wie S. Fischer und Ullstein, sowie das Problem, ob man Deutschland dezidiert bekämpfen oder sich so verhalten solle, daß man dort noch veröffentlichen könne, die öffentlichen und privaten Kontroversen des Jahres 1933 beherrschte.

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An Carl Seelig, 2. Dezember 1945. In: Hermann Broch, Briefe. Zürich 1957, S.234: "es ist nämlich als Jude infolge Verfolgtheit um so viel leichter, Charakter zu haben".

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Der einen Extremposition, Karl Kraus1 Diktum, daß ihm zu Hitler nichts einfalle, stand die andere gegenüber, daß mit Hitler das Ende einer deutschjüdischen Literatur gekommen sei. In der Prager "Selbstwehr" erschien in drei Folgen am 17. November, 24. November und 1. Dezember 1933 ein Artikel von Jan Kroker über Emigranten-Literatur. "Was aber, zum Teufel, haben eigentlich die Juden auf dieser Galeere zu schaffen?" fragt er (24.11., S.3) Die Emigranten, urteilt er, "haben ihren seelischen Boden verloren und neuen nicht gewonnen." (17.11., S.2) Der "frei schwebende Schriftsteller" (24.11., S.3) muß sich nach diesem "Zerreißen einer Verbindung" (ebd.) entscheiden. Im Namen eines "selbstbewußten Volkstums" (1.12., S.5) soll der Jude jetzt die Deutschen sich selbst überlassen. "Zu solcher Stunde gibt es für die Juden nur Schweigen." (ebd.) Sie haben nichts mehr mit den deutschen Angelegenheiten zu tun. "Sie sollen ihr Judenschicksal auf sich nehmen", sagt Jan Kroker den Schriftstellern (ebd.). Sie, nämlich die jüdischen Schriftsteller, sollen Hitlers Konsequenz ziehen und Deutschland rigoros den Rücken kehren. "Damit allein können sie dem Leid ihrer Emigration Adel und Sinn verleihen." (ebd.) Das ist konsequent, aber nicht nur leichter gesagt als getan; es geht an elementaren Voraussetzungen vorbei. Wie schwierig solch ein Ablösungsprozeß, wenn er überhaupt möglich sein sollte, sich gestalten könnte, exemplifiziert Max Brod in seinem Roman Die Frau, die nicht enttäuscht, der laut Nachwort zwischen Sommer 1932 und Sommer 1933 geschrieben wurde und 1934 im Exilverlag Allert de Lange in Amsterdam erschien. 19 Der jüdische Schriftsteller Justus Spira befindet sich mitten in inneren und äußeren Auseinandersetzungen um seine Stellung im deutschen Kulturleben und um seine Orientierung als jüdischer Deutscher, als seine Liebesbeziehung zu der sehr arischen Carola Weber, einer angehenden Sängerin, beginnt. Die Handlung wird durch immer wiederkehrende Episoden eines sich intensivierenden Antisemitismus in Deutschland grundiert. Spira erkennt, daß ein liberaler Assimilant, der sich einschmeicheln will, der Dr. Türk des Buchs, sich nur der Verachtung aussetzt, auch wo er Gutes tut, und niemals akzeptiert werden wird. Er selbst hält allerdings an der Versöhnlichkeit der jüdischen Grundeinstellung fest: Als 'jüdisch' möchte ich gerade dieses Grundgefühl ansprechen: daß es unter allen Umständen möglich ist, sich gütig zu verhalten und zu einer Verständigung zu gelangen. Es gibt immer noch einen Weg. Es gibt keine unauflösliche Tragik in menschlichen Angelegenheiten. (168) 19

Die Frau, die nicht enttäuscht. Amsterdam 1934. Im Nachwort betont der Autor noch, daß es ihm um 'Zusammenschau' gegangen sei und nicht um Parteilichkeit. "Erst die Summe der einander widersprechenden und ergänzenden Aspekte ergibt das, was dem Autor als Wahrheit vorschwebte." Dem widerspricht die Handlung jedoch in entscheidenden Punkten.

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Spira versucht nun, sein Deutschland-Bild intakt zu halten, indem er sich auf die deutsche Klassik und Romantik beruft (155-158). Aber er wird auf die Erkenntnis gestoßen: er ist kein Deutscher wie andere Deutsche. So hilft er sich zunächst mit einer Selbstdefinition als 'Distanzdeutscher' (150). Aber Stütze und Selbstvertrauen kommen ihm dann nur durch den Zionismus: "Den Zionismus, das ist: Sammlung und Gesundung des jüdischen Volkes." (160) Carola Weber, die lange Zeit Spiras innere Kämpfe und Zweifel über sein Volkstum einfach beiseiteschiebt, hält dieser Definition konsequenterweise entgegen: "Sie halten es also für krank?" (160) Damit hat sie eine Zentralmetapher angesprochen. Die Antisemiten glauben natürlich, die Juden machten den deutschen Volkskörper krank. Die Zionisten sehen die Krankheit des Judentums in seinem Versuch, sich zu assimilieren. Was bei diesen Diskussionen und Reflexionen, die sich durch das ganze Buch ziehen, frappiert, ist, bis zu welchem Grad die antisemitischen Argumente nicht nur ernst genommen, sondern 'verstanden', ja geradezu verinnerlicht werden. Man könnte sich einen antisemitischen Roman denken, intelligenter und literarisch talentierter als Hans Grimms Volk ohne Raum, der diesen Prozeß einer wachsenden Selbstbesinnung als Deutsche(r) beschriebe. Spira, der Vertreter des Ausgleichs und der versöhnenden Güte, der Nathan-Deutsche, erfährt in seiner Liebe die Unvereinbarkeit der Deutschen und Juden: "Nichtsdestoweniger drang auf geheimen Schleichwegen ihr Deutschtum, sein Judesein immer wieder in den innersten Bezirk ihrer gegenseitigen Empfindungen." (333) Der Roman kommt zu dem Schluß, den der zeitgleiche Beitrag zum Band Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling zu propagieren sucht: nachdem Carola Justus Spira verlassen hat, erfolgt, eher unmotiviert, eine Begegnung von Justus mit einem sozialistischen Zionisten aus Palästina. Justus könnte allenfalls etwas von der Tradition deutscher klassischer Humanität in diesen nationalen jüdischen Sozialismus in Palästina, dem die Zukunft gehört, retten. In seinem Essay stellt Brod in lapidarer Kürze fest: entweder erfolgt "Aufhebung aller Gegensätze in einer klassenlosen Gesellschaft" (364) und damit Aufhebung von Nationalitäten überhaupt, oder aber der Nationalstaat muß versucht werden: Zionismus bedeutet Genesung, indem er wenigstens einem Teil des Volkes (und durch indirekte Transfusion dann auch dem Rest) simple, gesunde Lebensbedingungen verschafft, wie sie jedes normale Volk hat. Daß er zunächst nur Teillösung ist, muß eingestanden werden. Aber er packt das Übel an der Wurzel. (364f.) Wenn die "Jüdische Rundschau" ihren Sammelband 1933 Ja-Sagen zum Judentum betitelte, so sprach das eine Selbstverständlichkeit aus. Alles andere als selbstverständlich war allerdings, ob das deutsche Judentum als deutsches Judentum noch eine Zukunft habe, und ob die Zukunft, wenn nicht in Deutschland, in Palästina liege oder ganz woanders. Umstritten war auch, welche geistig-politischen Konsequenzen aus dieser Katastrophe zu ziehen

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seien. Diese Diskussionen sind schnell durch die Ereignisse überholt worden, obwohl die Argumente eine eigentümliche Beharrungskraft zeigen. Einer der lautesten Rufe des Jahres 1933 war der nach Einigkeit und Einheit, ein kurioses Echo der Nazi-Propaganda und doch durchaus sinnvoll. So forderte Heinrich Mann unermüdlich die Einheit des deutschen Exils insgesamt, mußte aber schon 1934 in der Broschüre Der Sinn der Emigration20 feststellen, daß es zwar jüdische, aber keine deutsche Solidarität im Exil gebe. Dabei ist leicht ersichtlich, daß die Identität eines deutschen Exils sowohl von den Zionisten als auch von den Kommunisten mit ihrem Internationalismus in Frage gestellt wurde. So sahen sich die Schriftsteller in einem Zwiespalt zwischen jüdischer Selbstbehauptung, Verwurzelung in der deutschen Kultur - die mit dem Exil nur umso schmerzlicher bewußt wurde - und ihrer Hingabe, zur Veränderung der Gesellschaft, zu einer lebenswerteren Geschichtsepoche beizutragen. Diese Konflikte, Bedenken, Hoffnungen und Prognosen finden zum Beispiel Ausdruck in der Broschüre von Lion Feuchtwanger und Arnold Zweig Die Aufgabe des Judentums (1933). 21 Feuchtwanger glaubte lange an die historische Aufgabe der Juden als Vermittler zwischen dem Osten und dem Westen, 22 und er blieb überzeugt von der Größe des jüdischen Geistes; aber das Jahr 1933 bestärkte seine Skepsis hinsichtlich der Dummheit einzelner Menschen und brachte seine Zweifel an der Zukunft des Weltbürgertums auf eine neue Stufe. "Ich habe immer geglaubt, daß die Dummheit der Menschen weit und tief ist wie das Meer, aber ich habe nicht geglaubt, daß die deutschen Juden daran in solchem Maße teilnehmen." So schreibt er am 25. März 1913 an Arnold Zweig. 23 Das muß doch wohl bedeuten, daß er wenig von den hier geschilderten Haltungen und Erklärungen billigte. Andererseits stellt auch Feuchtwanger in seinem Beitrag zu der Broschüre Nationalismus und Judentum (7-42), fest: "Aber zu allertiefst verbunden fühle ich mich der deutschen Kultur und der deutschen Sprache, und ich wüßte nicht, wie ich ohne das Deutschland dieser Sprache und Kultur leben sollte." (25)

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Der Sinn dieser Emigration. Streitschriften des Europäischen Merkur (Paris 1934) von Heinrich Mann und "einem jungen Deutschen" [Paul Roubiczekj, dem Gründer und Leiter des Verlags. Nationalismus und Judentum. Zuerst in Europäischer Merkur, Paris 1933. Feuchtwangers Beitrag ist wiederabgedruckt in Centum opuscula (Rudolstadt 1956), neuerdings wieder aufgelegt als: Ein Buch nur für meine Freunde. Frankfurt a. M. 1984. ( = Fischer Tb.5823). S.467-487. Z.B. noch sein Beitrag: Der historische Prozeß der Juden. In: Gegen die Phrase vom jüdischen Schädling (Anm.4) [vorher Jüdisches Gemeindeblatt Berlin, Oktober 1930). Vgl. auch meinen Beitrag: Lion Feuchtwangers Josephus: Ost und West. In: Lion Feuchtwanger: Materialien zu Leben und Werk. Hrsg. v. Wilhelm von Sternburg. Frankfurt a. M. 1989, S. 134-150. Lion Feuchtwanger - Arnold Zweig: Briefwechsel 1933-1958. Hrsg. v. Harold v. Hofe. Berlin 1984. Bd. I, S.22.

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Was das Judentum betrifft, so sagt er kategorisch, die vier gängigen Begründungen für die Einheit einer Nation träfen auf die Juden nicht zu möglicherweise auch nicht auf andere Völker: "Es sind das die politisch-regionale Theorie, die Rassentheorie, die Ideologie vom gemeinsamen Erlebnis des Wir, die Theorie von der gemeinsamen Sprache." (26) Es sind also weder gemeinsame örtliche und klimatische Bedingungen, weder eine gemeinsame Rasse, weder eine gemeinsame Geschichte noch eine gemeinsame Sprache, die die Juden verbinden: Judentum ist eine gemeinsame Mentalität, eine gemeinsame geistige Haltung. Es ist das Einverständnis aller dieser Gruppe Angehörigen, der consensus omnium, in allen entscheidenden Problemen. (27) Feuchtwanger sieht diese Grundeinstellung in einem einzigen Satz zusammengefaßt: "Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg auch keinem andern zu." (28) Dieser Grundsatz und seine vielfachen Konsequenzen sind nicht nur Vorschrift und Theorie, sondern uralte, ererbte und inzwischen eingeborene Praxis. Feuchtwanger sieht den Unterschied zwischen den Juden und anderen 'Weißhäutigen' vor allem darin, daß sie ihre Moral nicht nur predigen, sondern praktizieren und nicht den tiefgreifenden Unterschied zwischen Erkenntnis und Handeln zeigen, der für die Europäer typisch ist was Feuchtwanger an Leben und Lehre von Spinoza im Vergleich mit Goethe exemplifiziert. Zur Aufrechterhaltung sowohl der Lebensführung als auch der nationalen Identität haben die Juden ein Hauptmittel: die Bibel, das Buch, Schrift, Literatur. Also nicht die Scholle oder die Geschichte, nicht einmal die Sprache entscheidet, sondern die gemeinsame geistig-literarische (religiöse!) Tradition. Feuchtwanger versucht also die Idee des Buches zu säkularisieren und zu erweitern. Er dehnt sie auch politisch aus, indem er den Zionismus umfunktionieren möchte: "Aber das Zentrum des Zionismus [...] ist nicht irgend ein Regierungsgebäude, es ist die Universität von Jerusalem." (39) Die Gründung der Hebräischen Universität hatte gerade damals eine nicht zu unterschätzende Signal Wirkung. Und Feuchtwanger zog daraus eine radikale Konsequenz: "Der wahre jüdische Nationalismus erlaubt zur Erreichung all seiner Ziele lediglich geistige Mittel; er will den Gegner nicht besiegen, er will überzeugen." (40) Feuchtwanger nimmt Heinrich Manns Entgegensetzung von Macht und Geist auf und warnt mit Nietzsche: "Macht verdummt." (40) "Das Dritte Israel hat nichts gemein mit dem Dritten Italien, nichts mit dem Dritten Reich der Deutschen." (41) Ein geistiger Nationalismus ist nicht aggressiv, "sein Sinn ist, sich selbst zu überwinden." (41) Wie die Griechen geistig die Welt eroberten, deren politischer Herrscher Rom war, so wird Israel geistig die zukünftige Welt durchdringen. Das wäre ein "sublimierter Zionismus", oder: "das Ziel des wahren jüdischen Nationalismus ist die

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Durchdringung der Materie mit Geist." (42) Dieser Geist löst sich auf in "einer geeinten Welt" wie Salz im Wasser (42), es ist unsichtbar, bleibt aber doch ewig allgegenwärtig. Das sind hohe Ziele und Ideale, die die Brutalität der Verfolgungen und Kämpfe überfliegen. Es ist der Versuch, das hegelianische Weltbild der dialektischen Bewegung zur Gesellschaft der Vernunft nicht nur mit dem real existierenden Kommunismus zu versöhnen, also mit Stalins Herrschaft, woran Feuchtwanger hartnäckig festhielt, 24 sondern auch mit dem Zionismus, einem Zionismus, der spinozistisch sich selbst überwindet und 'auflöst' und damit die Welt vergeistigt - was wiederum der Lösung der Judenfrage durch den Sozialismus entspricht. Während Feuchtwanger so das Ideal und eine vielleicht utopische Hoffnung definiert, indem er einen Weg durch den auch ihm suspekt vorkommenden jüdischen Nationalismus hindurch aufzeigt, aber an einer jüdischen Identität festhält, ergibt sich aus seinen gleichzeitigen Romanen ein wesentlich skeptischeres Bild. So wie Feuchtwanger ab 1930 Berlin als Stadt voll zukünftiger Emigranten sah, sich jedoch ein Haus baute, so klafft auch hier ein Spalt, wenn nicht ein Abgrund, zwischen der Wirklichkeitsschilderung und der Hoffnung. Die Geschwister Oppermann, ganz gleich, ob man Tucholskys Verdammungsurteil über den literarischen Wert teilt oder nicht, 25 sind in der Konsequenz der Handlung weitsichtiger und realistischer als alle Programme: das Ende der Emanzipation mit der NaziHerrschaft bedeutet das Ende des deutsch-jüdischen Bürgertums und der deutsch-jüdischen Kultur. Auswanderung nach Palästina oder nach Amerika erscheinen als die einzigen wirklichen Alternativen des Überlebens (die Sowjetunion wird hier ausgeklammert); die angehängte Hoffnung auf einen innerdeutschen Widerstand und seinen mehr als moralischen Erfolg überzeugt wenig, nicht nur im nachhinein, aus der besserwisserischen Sicht nach 1945, sondern aus der inneren Logik der Geschichte. Der Lessing-Biograph Gustav Oppermann kann nicht überleben. Auch der Josephus-Roman zeigt in seinen im Exil geschriebenen Teilen, dem zweiten und dritten Band, besonders in den gewaltsamen Modernisierungen, daß die Synthese von Ost und West scheitert und daß der Jude Josephus auf Palästina zurückgeworfen wird, auch wenn es mehr zum Sterben als zum Leben ist. Geistiger Nationalismus kommt einem Herrscher wie Domitian gegenüber in unlösbare Schwierigkeiten. Wenn auch Die Geschwister Oppermann 1933 zur Warnung des Auslands gedacht waren, ähnlich wie Die Rassen von Ferdinand Bruckner oder Professor Mamlock von Friedrich Wolf, so wird doch die effektive Trennung des 24

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Vgl. meinen Beitrag: Das dreifache Ja zur Sowjetunion. Lion Feuchtwangers Antwort an die Enttäuschten und Zweifelnden. In: Exilforschung 1 (1983), S.61-72; Karl Kröhnke: Der Ästhet in der Sowjetunion: Lion Feuchtwanger. Zu seinem Buch Moskau 1937. In: Lion Feuchtwanger. Materialien (Anm.22), S. 174-198. Dazu Sigrid Schneider: Das Ende Weimars im Exilroman. Literarische Strategien zur Vermittlung von Faschismustheorien. München 1980.

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Deutschtums vom Judentum nachdrücklich dramatisiert. Man sieht den Unterschied des Tons, wenn man Arnolds Zweigs Beitrag zu der Broschüre Jüdischer Ausdruckswille (45-63) vergleicht, der 1932 geschrieben ist. Bei allem Krisenbewußtsein vorher sprachen die brutalen Tatsachen von 1933 eben doch eine neue Sprache. 26 Arnold Zweig beschreibt die jüdische Kreativität, die er in der kleinbürgerlichen Schicht verwurzelt sieht und der er immer noch 'das Mittelmeerische' zuschreibt. Er definiert diese jüdische Kultur und Kreativität als einen notwendigen Bestandteil der christlichen; die Verflechtung ist unauflöslich. Politisch folgt er der vorherrschenden Linie der Linken, sich nicht durch Augenblickserfolge des Faschismus von der wirklichen Entwicklung ablenken zu lassen, nämlich der vom Kapitalismus zum Sozialismus. Er erinnert emphatisch an die jüdischen Revolutionäre des Sozialismus: Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Gustav Landauer und Leo Trotzki. An diese Propheten soll der Jude sich anschließen, "mit denen sein Dasein auf Gedeih und Verderb unlöslich verbunden ist: den zukunftstragenden Gestaltern einer sozialistische Gesellschaft." (60) Zweigs "Nachschrift 1933" ändert allerdings den Ton. "Ungeheure Kräfte sind entfesselt worden, nämlich der Zerstörung, des Hasses und der Erniedrigung." (61) Es ist dies wirklich "ein neues Blatt in der Untersuchung deutsch-jüdischer Beziehungen" (61), und angesichts solcher Kräfte sei es nutzlos, die Kulturleistung der deutschen Juden überhaupt ins Feld zu führen. "Antisemitismus erniedrigt. Er erniedrigt vielleicht auch den Juden; ganz bestimmt aber erniedrigt er [...] den Nichtjuden, der ihm verfällt." (62) In dieser Lage, wo die Macht den Geist zu vergewaltigen droht, bleibt es wichtig, darüber zu wachen, "daß er die jüdische Haltung zu sich selbst und zu den wichtigen Dingen des Lebens nicht verfälsche" (62). Zwar nimmt Zweig auch konzeptionell Macht und Gewalt viel ernster als Feuchtwanger; aber dennoch bekennt er sich am Ende zum gleichen Standpunkt: "Jenseits der Gewalt und ihrer blutigen Prophezeiungen steht das Wort, auch das der Juden, und sie werden es müssen stehen lassen." (63) Landauer und Spinoza sind nicht umsonst Schlüsselfiguren. Was sich hier ankündigt, ist unter den Juden der Gegensatz zwischen dem 'soldatischen' Geist, wie er etwa aus dem "Reichsbund jüdischer Frontsoldaten" spricht und aus manchen zionistischen Gruppen, zumal Jugendgruppen, und dem grundArnold Paucker (Der jüdische Abwehrkampf. In: Entscheidungsjahr 1932 [Anm.2], S.405-499) beschreibt die intensive Mitarbeit der jüdischen Organisationen am Versuch der Erhaltung der Republik und faflt so zusammen: "Die gesamte jüdische Abwehrarbeit war einem einzigen, alles überragenden Ziel gewidmet: der Verteidigung der jüdischen Gleichberechtigung und der sie garantierenden deutschen Republik." (448) Die Umschaltung von diesem Kampf im Rahmen und zur Erhaltung der bestehenden Gesetze auf die Widerstandsarbeit gegen eine - zumindest scheinbar - rechtmäßig gewählte Regierung fiel den deutschen Juden ebenso schwer wie den deutschen Linksparteien, ganz zu schweigen von Kirchen und Militär. Daß mit der Herrschaft der Nazis die Sphäre des Rechts verlassen wurde, maskiert durch scheinbare Befolgung von Gesetzen, war eine in Deutschland sehr schwer zu akzeptierende Tatsache.

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legenden Pazifismus der jüdischen Linken, dem Willen zur Aussöhnung und Überwindung der Gegensätze statt ihrer Verschärfung. Diese Argumente sind durch die Handlungen des Nazi-Regimes zuungunsten des Geistes gegen die Macht belastet worden, zumal in den Auseinandersetzungen seit 1945. Es ist leicht, mit dem Wort 'Auschwitz' Bekenntnisse wie die Zweigs und Feuchtwangers als illusionär abzutun; aber von 1933 aus gesehen, und vielleicht sogar vom heutigen Standpunkt aus, wäre es dennoch wert, diesen Standpunkt ernst zu nehmen. Abgesehen davon ist zumal Feuchtwangers Beitrag, aber auch Zweigs Schlußsatz, die logische Konsequenz aus der Exilsituation, die einzige Haltung, die einem deutsch-jüdischen Schriftsteller eine konsequente Grundlage geben kann, weiter deutsch zu schreiben. Feuchtwangers spätere Romane, zumal seine letzten Werke, ebenso wie die Zweigs, sind Zeugen ihrer lebenslangen Auseinandersetzung mit dieser entscheidenden Frage: wie kann deutsch-jüdische Literatur überleben, wenn das deutsche Judentum untergegangen ist? Alfred Döblins Stellung zum Judentum und sein Engagement in den Jahren nach 1933 ist sowohl von seiner späteren Konversion zum Katholizismus als auch vom Scheitern des Territorialismus überschattet worden. 27 Hier soll sein Beitrag vor allem als Nachweis der grundlegenden Aporie angeführt werden, in der sich nichtreligiöse und nichtzionistische jüdische Autoren befanden. Spätestens seit seiner Reise nach Polen hatte sich Alfred Döblin gezwungen gesehen, der prekären und zukunftslosen Lage des 'Westjudentums' ins Gesicht zu sehen. Sein Nachdenken über jüdische Dinge war stärker als seine Intentionen: man sieht, wie es scheinbar unmotiviert mitten zwischen den Problemen der Lebensphilosophie in Unser Dasein einfließt, einer Schrift, die im Frühjahr 1933 noch in Berlin erschien, als Döblin bereits geflohen war, und in diesem Loch zwischen Deutschland und Exil ihre Wirkung verlor. 1935 erschienen dann Äußerungen zur Judenfrage, gesammelt unter dem Titel Flucht und Sammlung des Judenvolks,28 Döblin geht zu dieser Zeit aus von der Verurteilung der Assimilation - worin er kaum originell ist - und der Forderung nach 'Eigenland'. Feuchtwanger hatte die Bedeutung der 'Scholle' in der modernen Welt und Zeit heruntergespielt; für Döblin bleibt sie entscheidend. Wo das Eigenland liegen soll, ist allerdings eine andere Frage. Döblin unterstützt jüdische Siedlungen in Palästina; aber er hält sie nicht für eine zureichende Lösung. In seiner gewohnten Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, fragt er in erster Linie, wo die Juden für das Land herkommen sollen - nicht wo das Land für die Juden zu finden sei. "Bloße Ansiedlung in Palästina ist noch kein Zionismus." (132) Zionismus hingegen "ist nichts anders als der Wille zur ganzen jüdischen Existenz." (128) Die ganze jüdische Existenz wird qualitativ formuliert; sie kann jedoch nur Existenz eines ganzen jüdischen Volkes sein. Daher: so lange nur ein kleiner Teil der 27 28

Vgl. den Beitrag von Klaus Müller-Salget in diesem Band. Flucht und Sammlung des Judenvolks. Amsterdam 1935; Nachdruck: Hildesheim 1977.

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Juden nach Palästina gehen will, die Rückkehr nach Palästina nur eine erzwungene ist, solange gibt es gewiß kein jüdisches Volk, kein Israel. Jüdische Orthodoxie ist für Döblin die angemessene Lebensform im Galuth; im Eigenland sollen und müssen die Juden anders leben. Die westliche liberale Lebensform ist jedoch nicht passend für das neue Israel. Eine Gemeinschaft des Volks in Gott schwebt ihm vor, eine Rückkehr zu einer Religion des Betens, nicht der Rituale, als Voraussetzung der neuen Gemeinschaft. Nicht die "Religion der Flucht" (10) braucht Israel, sondern etwas Altes: "Gott ist der aktive Gott seines Volkes. Nimmt man den Träger von Gott, wird Gott ein unverständliches Wort." (11) Döblin, sicherlich in mystischen Bahnen, sagt sogar: '"Höre, Israel1, ehemals der Weckruf an das Volk, ist jetzt - der Hilferuf Gottes." (11) Diese gegenseitige Beziehung, ja Abhängigkeit von Mensch und Gott, und zwar dem Menschen als Teil des Volkes, bedeutet für Döblin das Ende der "Flucht", also die "Sammlung des Judenvolks". Persönlich gesehen kündigt sich in dieser strengen Forderung die religiöse 'Krise' an, die mit dem Übertritt zur katholischen Kirche endete. Die Rückgewinnung der kollektiven wie der persönlichen Identität ist somit an die Wirklichkeit einer neuen Religion gebunden. Ob diese 'Volkwerdung' in Palästina oder anderswo stattfindet, hält Döblin für unwesentlich. Wichtig allein ist die Bildung der Gemeinschaft. Sicherlich kann diese Gemeinschaft wirtschaftlich gesehen nicht als kapitalistischer Staat bestehen, sondern braucht kooperative, sozialistische Formen. Döblin ist sich der utopischen Komponente seiner Forderungen bewußt. Er zitiert aus dem Talmud, was auch bei Feuchtwanger erscheint und eines der Leitmotive der Geschwister Oppermann ist: "Es ist dir aufgegeben, das Werk zu beginnen, aber es ist dir nicht gegeben, es zu vollenden." (114) Darin zeigt sich für Döblin die Tragik jeder "menschlichen Einzelexistenz, ja aller Einzelexistenz überhaupt" (114). Nachdrücklich bekräftigt er einen gemeinsamen Grundzug jüdischen Denkens und Fühlens um 1933: das Bewußtsein, daß eine neue Gemeinschaft der Juden gefordert ist, eine jüdische Nation in Palästina, ein Judenvolk irgendwo auf der Welt mit sozialistischem Gemeinschaftsgeist, eine geistige und kreative Gemeinschaft - oder all das zusammen. Der Schock des Jahres 1933 machte die Krise des entfremdeten und dadurch schutzlosen Judentums und seiner Individuen deutlich und verstärkte die Suche nach der schützenden und rettenden Gruppe, oft um jeden Preis, auch den der Selbstaufgabe. Döblin diskutiert nicht die Konsequenzen, die die Zugehörigkeit zu einer solchen zukünftigen jüdischen Gemeinschaft für einen deutsch-jüdischen Schriftsteller haben würde. Seine Position demonstriert vielmehr in aller Schärfe, in welch prekäre Lage ein jüdischer Autor geriet, der sein Judentum ernst nahm und der nicht anders konnte, als ein deutscher Autor zu bleiben. Waren vorher bereits genug Fragen gestellt worden, wie weit denn ein jüdischer Autor 'deutsch' sein könne, so wurde dies ab 1933 zur Existenzfrage,

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die sich nur mit der Berufung auf utopische Erwartungen beantworten ließ. Exilschriftsteller, zumal jüdische, wurden zu eben den exemplarischen 'freischwebenden Intellektuellen' im Sinne Karl Mannheims, wie sie Jan Kroker in der "Selbstwehr" so herablassend abgetan hatte. Ob in einer Welt ideologischer Brutalitäten und der Reduzierung von Politik zu Parteilichkeit, wenn nicht Fanatismus, der 'jüdische Geist' anders überleben konnte, wäre eine Debatte wert. Feuchtwanger, Zweig, Döblin und ihresgleichen zeigen immer wieder einen charakteristischen zyklischen Wechsel zwischen Engagement und Distanz und ebenso einen charakteristischen Prozeß der Anziehung und Abstoßung zwischen Sozialismus und der Identifizierung als nationale Juden - sowie als Angehörige der deutschen 'Kulturnation'. 29 Das Jahr 1933 stellt einen Endpunkt und einen Anfang dar. Es war der vorläufige Endpunkt der Diskussion um 'Judentum und Deutschtum' - von nun begann der rationale Diskurs zu verschwinden. Irrationalität regierte. Es ist aber auch der Anfang des Zustandes, der bis heute besteht: mit feststehenden Standpunkten, deren Annäherung nicht in Sicht ist und mit politischen Fakten, die zwar höchst problematisch, aber nichtsdestoweniger nur mit größten Schwierigkeiten zu ändern sind. Es ist in der deutschen Literatur der Beginn der letzten, der Exiletappe der emanzipierten deutsch-jüdischen Literatur, bei deren Beurteilung die Frage der jüdischen Identität weit mehr Beachtung finden müßte als bisher.

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'Kulturnation', ein Begriff, der von Friedrich Meinecke (Weltbürgertum und Nationalstaat, 1907) in die allgemeine Diskussion eingeführt worden ist, kann natürlich bedeuten: eine kultivierte Nation, oder: eine Nation, deren Basis die gemeinsame Kultur ist. Beide Bedeutungen verflechten sich sowohl im deutschen Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts als auch in den deutsch-jüdischen Bestrebungen, zur deutschen Kultur zu gehören, wo deutsche 'Bildung' Zugehörigkeit garantierte. Vgl. z.B. Jacob Katz: German Culture and the Jews. In: The Jewish Response to German Culture (Anm.9), S.85-99. Zu den komplexen Bezügen und Hintergründen im Begriffsfeld 'Nation' vgl. auch die Beiträge der Sektion "Kulturnation statt politischer Nation?" in: Kontroversen alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Tübingen 1986. Bd.9, S. 145-262.

Sigrid Thielking (Leverkusen)

"... dann sind wir als Letzte auf dem Posten gestanden." Kosmopolitische Bekenntnisse und Europaprophetien von Exilierten vor und nach der 'nationalen Revolution' Harold von Hofe zum 80. Geburtstag

I. Europäer und Weltbürger vor dem Exil

Viele kamen traurig und hoffnungslos; andere hatten Pläne, Vorschläge, ein politisches Programm. Einer erwartete sich alles Heil von Paneuropa; der nächste war anspruchsvoller und wollte den Weltstaat gründen [...] Er hatte die Insistenz des Fanatikers. 'Der Weltstaat!' rief er immer wieder, und seine Faust, die auf den Tisch schlug, zitterte. 'Nur er kann uns retten, und sonst nichts. Der ganze Begriff der Nation ist ein Schwindel - gar nichts dran, lauter Trick und Lüge. Solange die Menschen nicht dahintergekommen sind, ist für sie nichts zu hoffen...' 1 Mit dieser literarischen Beschreibung des Exilklimas in den Jahren 1936/37 lassen sich Fragen wie diese verbinden: Ebnete demnach das Exil leichter den Weg nach Europa? Tendierten die Opfer des aggressiven völkischen Nationalismus, wenn sie hinaus über alle Grenzen verstreut zu leben hatten, eher zur Weltbürgerlichkeit? Wurden sie, wie Klaus Mann im "Wendepunkt" später notieren wird, "Kosmopoliten aus Instinkt und Notwendigkeit, geistige Mittler, Vorläufer und Wegbereiter einer universalen Zivilisation"?2 Um es gleich vorwegzunehmen: das scheint nur bedingt der Fall gewesen zu sein. In der Emigration waren nicht wenige der Ansicht, man dürfe den Nationalismus, selbst das Deutschtum, nun erst recht nicht den Nazis überlas-

Der hier abgedruckte Text basiert auf einem Vortrag, der auf dem Kongreß der 'Gesellschaft für Exilforschung' in Verbindung mit dem Luxemburger Staatsarchiv zum Thema "Konzepte des Europagedankens im Exil 1933-1945" in Luxemburg im März 1992 gehalten wurde. Vgl. dazu: Galerie. Rivue Culturelle et Pidagogique. Heft 2/1992. Darüber hinaus wurde er im Rahmen einer Ringvorlesung anläßlich der Errichtung eines neuen Studiengangs, "Europäische Studien" an der Osnabrücker Universität am 12. Mai 1992 vorgetragen. 1

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Klaus 1985, Klaus 1987.

Mann: Der Vulkan. Roman unter Emigranten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.236f. Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S.435.

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sen, und die VSE - die Vereinigten Staaten von Europa - waren, so scheint es mir, weiter weggerückt denn je zuvor. Generell verschlechtert hatten sich überdies die Koordinationsmöglichkeiten, verschärft die Zersplitterung, die Einsamkeit, die Orientierungslosigkeit vor allem der parteilich und fraktionell nicht festeingebundenen, eher schon freischwebenden Schriftsteller im Exil. Das Ideal einer weltbürgerlichen Ordnung war offenbar nicht das allernaheliegendste, aber es geriet - wie ich an einigen Beispielen zeigen möchte - aus unterschiedlichsten Quellen gespeist und vielfach variiert, im Verlauf der Exilzeit dem einen oder anderen deutlich interessanter. Texte, die der weltbürgerlichen Option Vorrang gaben, blieben freilich des öfteren in der Schublade, erschienen im Nachexil am Rande und ohne große Wirkungsgeschichte oder wurden, weil sie auch in dessen politische Landschaft hüben wie drüben - nicht paßten, noch später erst veröffentlicht. Über das eigentliche enge Europathema hinaus möchte ich den Blick auch auf diese zuweilen unausgereiften weltbürgerlichen Ansätze während des Exils lenken, deren Vorgeschichte mitunter bis in die Zeit vor 1933 zurückreicht. Dem mehrfach, auch schon während des Ersten Weltkriegs, totgesagten Europa galt in der Weimarer Republik neue, gesteigerte Aufmerksamkeit; der Europagedanke - eigentlich gab es ihn nie in der Homogenität, die der Singular vermittelt - war kurzfristig heftig in Mode gekommen. Er erhielt politisch Auftrieb sowohl durch das Werk der guten Geister von Locarno 3 als auch durch das des eloquenten Paneuropäers Richard Coudenhove-Kalergi. 4 Ein spielerisches Nachdenken über Weltbürgerlichkeit - wenn auch nicht in wirklich globalem Maßstab - fand seit der Mitte der 20er Jahre in einschlägigen Rundschauen und Feuilletons der literarischen Welt statt. 5 An mokanter Kritik am Paneuropa-Kongreß, wo unter der Flagge mit rotem Kreuz und goldenen Strahlen auf blauem Grund "[z]wischen den Arbeitstagungen [...] empfangen, gegessen, gejaust wurde" 6 oder an Spötteleien über die

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Vgl. dazu die instruktive Studie von Michel Grunewald: "Deutsche Intellektuelle als Vorläufer des 'Geistes von Locarno'. Die Neue Rundschau und Frankreich zwischen 1919 und 1925". In: Recherches Germaniques, 1988, 18, S.67-88. Zum Beispiel: Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi: "Europa und Deutschland". In: Die Neue Rundschau, XXXV (1923) Bd. I, S.299-309. Vgl. z.B. Thomas Mann: "Kosmopolitismus" (Antwort auf eine Rundfrage: 'Was verdanken Sie der kosmopolitischen Idee?' In: Die Literarische Welt. 1 (1925), 1-3. Stefan Zweig: "Internationalismus oder Kosmopolitismus". In: Ebd., 2-(1926) 27. Walter Benjamin/Willy Haas: "Vom Weltbürger zum Grossbürger. Aus deutschen Schriften der Vergangenheit." In: Ebd., 8 (1932) 19/20. Sonderausgabe. Oder auch: Jos6 Ortega y Gasset: "Kosmopolitismus". In: Die Neue Rundschau, XXXVII (1926) Bd. II, S.l-7. Marie Zabler: "Paneuropa-Kongress". In: Der Querschnitt. VI (1926), 11, S.855-856, hier S.856.

Kosmopolitische

Bekenntnisse und Europaprophetien

von Exilierten

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"[b]unte[n] Vögel im Genfer Weltkäfig" 7 hatte es nie gefehlt. In Ödön von Horvaths Romansatire, untertitelt "zur Biologie des werdenden Spießers" (1930), wird der Protagonist Herr Kobler Paneuropäer, unter anderem indem er eine Stippvisite zur Weltausstellung nach Barcelona im Zeichen Paneuropas unterbricht, um sich 'kosmopolitisch' in den einschlägigen Etablissements von Marseille zu amüsieren. 8 Das endzeitliche Europa des Ennui, wie es Yvan Göll in seinen Romanen von der "Eurokokke" 9 oder dem "Mitropäer" 1 0 satirisch gestaltet hat, scheint vom Europa des Grauens der 30er und 40er Jahre noch meilenweit entfernt. Selbst unmittelbar vor Hitlers sogenannter 'nationaler Revolution' sind übernationale Appelle und kosmopolitische Bekenntnisse von Schriftstellern aber keine Seltenheit - man denke an Heinrich Manns "Bekenntnis zum Übernationalen" 11 , Stefan Zweigs oder Klaus Manns Europa-Vorträge 1 2 , an Karl Wolfskehls "Weltsymphonie" 13 , an Lion Feuchtwangers "Psalm des Weltbürgers" 1 4 . Ihre Entwürfe und Vorschläge haben einen gemeinsamen Nenner: die Ablehnung des engstirnigen, sich bodenständig gerierenden Nationalismus, der merkwürdig obsolet erscheint in einer Zeit technischer Innovation und infrastruktureller Weite. Karl Wolfskehl wunderte sich 1931: Während die Einheit der technischen Kultur unseren Erdball immer enger umschließt, die Begriffe Ferne und Nähe im Reich der Fakten keine Bedeutung mehr haben, scheinen die Menschen von einem fast dämonischen Drange zur Absonderung nach außen, von engstem Zusammenschluß innerhalb der einzelnen Gruppe beseelt zu sein. [...] Sieht man genau zu, belauscht man die Stimmen, wo sie ungehemmt zum Ausdruck kommen, so scheint es fast, als zöge eine Urzeit herauf, als käme jenes alte Grauen wieder über die Welt, in dem Fremder und Feind dasselbe war, die Zeit der Horden und der Stämme. Sonderbarer, fast unerklärlicher Gegensatz! 15

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Vgl. Marcel Ray: "Bunte Vögel im Genfer Weltkäfig". In: Der Querschnitt, VII (1927) 4, S.252-254. Ödön von Horvath: Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977 (4. Aufl.), S.70ff. Yvan Göll: Die Eurokokke. Berlin: Argon, 1988 (erschien 1927 zugleich in Paris und Berlin). Yvan Göll: Der Mitropäer. Berlin: Argon, 1987. (Erstausgabe 1928) Heinrich Mann: "Bekenntnis zum Ubernationalen". In: Ders.: Der Hass. Deutsche Zeitgeschichte. Berlin und Weimar: Aufbau, 1983, S.7-44. Stefan Zweig: "Die moralische Entgiftung Europas". In: Ders.: Zeit und Welt. Zusammengestellt von Knut Beck, Frankfurt am Main: Fischer, 1982, S. 103-116. Stefan Zweig: "Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung". Ebd., S.l 17-137. Klaus Mann: "Die Jugend und Paneuropa". In: Ders.: Auf der Suche nach einem Weg. Aufsätze. Berlin 1931, S.59-92. Karl Wolfskehl: "Weltsymphonie" (Eine Osterbetrachtung). In: Der Rotarier II (1931) 4, 5. 109f. Vgl. Lion Feuchtwanger: Der jüdische Krieg. Berlin: Propyläen, 1932. Vgl. Anm. 13.

Sigrid Thielking

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W ä h r e n d in der W e i m a r e r Republik die politische K o n t r o v e r s e um den einzuschlagenden W e g nach Europa zumeist die Streitfrage umkreiste, w e r denn überhaupt dazugehören solle, d ü r f e oder in j e d e m Fall müsse, sich

ein

in

seinem

Atavismus

kisch-ausgrenzender Chauvinismus,

unverständlicher

stabilisierte

Gegner,

ein

völ-

dessen Gewalttätigkeit die guten,

aber

uneinigen Europäer schließlich einheitlich bedrohte und vertrieb.

Gesamteuropäische oder auch im Ansatz kosmopolitische Bestrebungen

in

Deutschland fanden mit dem 30. Januar 1933 ein jähes Ende. Unter den Bedingungen des beginnenden Exils, dessen T e i l ö f f e n t l i c h k e i t eher gebannt und verstört auf Hitlerdeutschland starrte, schien das europäische P r o b l e m vorerst in den Hintergrund des Interesses zu treten, auch wenn aus dem E x i l heraus die H o f f n u n g formuliert wurde, von nun an "auf den emigrierten deutschen Geist, auf das schreibende und schöpferische Europäer- und Erdbürgertum der deutschen Literatur in der E m i g r a t i o n " 1 6 zu setzen. Vielfach jedoch

erschienen

intellektuelle

Diskussionen

um

Europäertum,

neues Nomadentum und eine kosmopolitische Weltgesellschaft nunmehr verzerrt, vorerst müßig und w e n i g relevant in einer Krisenzeit, in der es schon schwere

Aufgabe

genug

war,

das andere,

das

integere,

das

eigentliche

Deutschland zu f o r m i e r e n . I m weiteren aber sieht es, vorsichtig formuliert, so aus, als ob zumindest innerhalb der zweiten Phase des Exils, v o r allem um 1938 herum, w i e d e r kosmopolitische E n t w ü r f e zu verzeichnen sind.

Grundsätzlich

machte die Emigration

äußerst u n f r e i w i l l i g

mit den

Nach-

barländern bekannt. D i e Odyssee des Exils war nicht die Irrfahrt von A b e n teurern; sie f o l g t e dem aufgezwungenen Kurs der Vertreibung und der N o t restriktiver Gesetzgebung. Europäische Grenzen und die damit

verbundene

P a ß f r a g e wurden existentiell bedeutsam. Paradox genug: die Exilierten flohen in den Schutz solcher Staatsgrenzen. K e i n e F r a g e , zunächst einmal wirkte der Paßbetrieb des Exils extrem antikosmopolitisch. D i e unterschiedlichen W e g e und die Zerstreuung während des Exils, die dabei vorgefundenen länderspezifisch divergenten Gegebenheiten taten zudem ein Ü b r i g e s , einheitliche und damit praktikable Europa-Pläne zu vereiteln.

Kosmopolitische

Vorstellungen

im E x i l

gewannen

ihre Impulse aus

sehr

unterschiedlichen K r a f t f e l d e r n , so z . B . aus dem jüdischen oder auch dem christlichen Universalismus, aus den Residuen einer humanistischen

Völker-

bundsidee oder aus dem überhöhenden R e f l e x und der Positivwendung spezifischen Exildisposition des Unbehaustseins.

16

Arnold Zweig: Bilanz der deutschen Judenheit. Köln: Melzer, 1961, S.181.

der

Kosmopolitische

Bekenntnisse und Europaprophetien

von Exilierten

67

II. Wilson redivivus? Konkrete politische Rettungskonzepte, wie sie die rechtzeitige Formierung einer europäischen Front durch die demokratischen Mächte ringsum Hitlerdeutschland bedeutet hätte, wurden offenbar weniger von Schriftstellern entworfen, auch wenn es solche Hoffnungen, solange die Appeasement-Politik nicht eines Schlechteren belehrte, gegeben hat. "Europa ist nur ohne das Dritte Reich möglich" lautete 1934 eine apodiktisch formulierte - übrigens durch die historischen Ereignisse des Vorjahres bereits überholte - Erkenntnis Joseph Roths 17 , die sich gründete und verband mit einer generellen Ablehnung von Patriotismus, den er als eben jenen unseligen Schollengeist erkennt, der das europäische Universalgefühl unterminiere. Wie bei vielen Exilierten, so findet sich auch bei Roth der Topos von der Kluft zwischen dem europäisch empfindenen und dem patriotisch empfindenen Deutschen. Roths Plädoyer ging noch darüber hinaus: Man könnte sagen: der Patriotismus hat Europa gemordet. Patriotismus ist Partikularismus. Ein Mensch, der seine 'Nation' oder sein 'Vaterland' über alles liebt, kündigt die europäische Solidarität. 18 Genau auf diese europäische Solidarität setzte Roth Ende 1934, noch möchte man sagen. Zur Rettung Europas nannte er folgendes Rezept: Erstens, man verwerfe jeden Nationalstolz als Unsinn und statuiere dies, schreibe es fest. Zweitens, wer sich dieser Erklärung nicht anschließt, nicht unterschreibt, da "alle Menschen aller Rassen gleichwertig" 19 seien, verfalle damit automatisch der Völkerbundsacht. Drittens, daraus folgt die totale Isolation, der Ausschluß Deutschlands aus dem Völkerbund, als ein Signal, ein Gemeinschaftsakt europäischer Solidarität, denn "[m]it ihm ist Europa ein Unfug. Ohne Deutschland ist Europa eine Macht." 2 0 Eine ähnliche Einschätzung findet sich auch bei Hermann Broch, der wenige Jahre später über diese Phase des Exils vergleichbar urteilt: "Durch ein seltsames Zusammentreffen günstiger Umstände hätte in den Jahren 1934/35 der

17

18 19 20

Joseph Roth: "Europa ist nur ohne das Dritte Reich möglich". In: Joseph Roth Werke 3 (Das journalistische Werk 1929-1939) hg. und mit e. Nachw. vers, von Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1991, S.560-562, hier S.560. Ebd., (Hervorh. durch Roth) Ebd., S.561. Ebd., (Hervorh. durch Roth)

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agonisierende Völkerbund zu einem wirklichen Friedensmoment [...] im Sinne der Wilsonschen Gründungsidee gemacht werden können". 2 1 Die zunehmend anachronistisch anmutende Hoffnung auf einen operativ eingreifenden, 'erneuerten' Völkerbund, der die Bedrohung für Europa abwenden könnte, verblüfft. "Wilson geht um", so lautet bezeichnenderweise ein Artikel Ernst Blochs von 1937, der die Parallelität erkennt und hervorhebt, das "Ideal Wilsons [sei] - von der Psychologie des besonderen Falls abgesehen - genau dasselbe, unter dem sich heute, bei ebenfalls fortbestehendem Weltkapitalismus, die antifaschistische Opposition sammelt." 2 2 Bei aller Skepsis Blochs, die darum wußte, da zwischen Wilson und heute Versailles lag 2 3 , zitierte auch er aus den alten Reden unter dem Hinweis, "nur das Datum braucht weggelassen zu werden, um einen reinen Anti-Hitler zu haben." 2 4 Auch Stefan Zweigs historische Miniatur, "Wilson versagt", aus dem Zyklus "Sternstunden der Menschheit", die Frühjahr 1940 im englischen Exil entstand und in deutscher Sprache erst seit 1988 gedruckt vorliegt 25 , setzte das entscheidende Versagen des Frühjahrs 1919 mit dem aktuellen in Beziehung, wobei von einer moralischen Schuld die Rede ist; Wilson habe "die idealistische Disposition Europas erstarren lassen". 2 6 Die Binsenweisheit, da die akute Misere schon auf das Versagen der demokratischen Kräfte 1918/19 zurückführbar sei, findet sich in den Einschätzungen vieler Exilautoren.

III. Adieu Europa Von - im Wortsinn - einschneidender Bedeutung wurden die Ereignisse des Jahres 1938 empfunden. Der Anschluß Österreichs und nachfolgend die Preisgabe der Tschechoslowakei zeigten, da Europa auf den Tod verwundet war, Agonie begann sich abzuzeichnen. Annette Kolb notierte schon für den "Abschied von Salzburg" 1937 über den atmosphärischen Wandel und die Fragwürdigkeit harmonischer Europa-Metaphorik: "Doch wer hat noch den

21

22

23 24 25

26

Hermann Broch: Völkerbunds-Resolution. Das vollständige politische Pamphlet von 1937 mit Kommentar, Entwurf und Korrespondenz, hg. und eingel. von Paul Michael Lützeler, Salzburg: Müller, 1973, S.16. Emst Bloch: "Wilson geht um". In: Ders.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. ( = Werkausgabe Bd. 11) Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985, S.205-213, hier S.207. Vgl. ebd., S.206. Ebd, S.211. David Tumer: "Stefan Zweig: Wilson versagt. Die deutsche Originalfassung aus dem Nachlaß herausgegeben und kommentiert". In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 107. Bd. (1988), S.253ff. Ebd., S.268.

Kosmopolitische

Bekenntnisse und Europaprophetien

von Exilierten

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Mut, bei solchen Bildern zu verweilen? Gar bei Europa? Wurde ihm nicht mittlerweile das Herz ausgerissen? Ist es nicht tot?" 27 Als klaffende Wunde signalisierte der Anschluß Österreichs dem letzten Europäer Joseph Roth 28 die Stumpfheit und Ahnungslosigkeit ringsum, deutete bereits den Fall Europas voraus. Roths Anklage, seine "Totenmesse", gipfelte in der Prophetie, die blinde europäische Kulturwelt ringsum werde bald die Lektion zu lernen haben, "da man eine Heimat des europäischen Gedankens nicht aufgeben kann, ohne die zweite, dritte und vierte zu verlieren." 29 Unmittelbar unter dem Schockeindruck der Ereignisse in Österreich vom März 1938 formulierte Carl Zuckmayer sein Glaubensbekenntnis eines souveränen und guten Menschentums. 30 Es ging ihm dabei, "um den Versuch, den eignen Standort in Beziehung zu den Welt- und Zeitgeschehnissen, so weit sie uns zu Mitwissern, also Mitschuldigen, haben, zu bestimmen und aufzuklären...". 31 In dem 1938 bei Bermann-Fischer in Stockholm erschienenen Essay äußerte sich Zuckmayer explizit I. Pro domo II. Pro patria III. Pro vita IV. Pro arte V. Pro mundo. Diese Fünfgliedrigkeit fand ihre inhaltlich-stoffliche Entsprechung in der lebenschronologischen Bilanz, die I. Familiengenealogisches brachte, II. den Nationalismus von 1914 vom Hitlerschen abzugrenzen versuchte, III. von der Zeit des ersten Nachkriegs und IV. von der Flucht aus der Politik sprach. Im Schlußkapitel des aufsteigend konstruierten Essays hie es dann "aus dem 'pro domo' Begonnenen wird ein Bekenntnis und eine Aussage für die Welt". 32 Hier ist offenbar ein generationsspezifischer Unterton der Enttäuschung, der Resignation, auch der Erschöpfung unüberhörbar, dennoch oder gerade deshalb wandte sich Zuckmayer an die Kommenden. Eine heinesche Emigrantenfrage "Jetzt, wohin?" als geographisches Problem erschien ihm sekundär, wichtiger sei vor allem der "innere Weg": "...wir wollen leben: aber in einer freien und menschenwürdigen Welt. Wo diese Welt bereitet, wo ihrem Sinn und ihrer Luft entgegen geatmet wird: dort steht unser Haus, dort geht es um unsere Sache." 33

27 28 29

30

31 32 33

Annette Kolb: Zeitbilder 1907-1964, Frankfurt am Main: Fischer, 1984, S.89. Joseph Roth: "Huldigung an den Geist Österreichs". In: Werke. A.a.O.,. S.794f. Joseph Roth: "Totenmesse" (Zuerst in: Das Neue Tage-Buch, 19.3.1938). In: Werke. A.a.O., S.795-798, hier S.797. Vgl. Carl Zuckmayer: Pro Domo. Stockholm: Bermann-Fischer, 1938, (Schriftenreihe 'Ausblicke', Doppelband), S.90ff. Ebd., S.16. Ebd., S.85. Ebd., S.90.

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Der 'homo universalis' ohne soziologische oder ideologische Differenzierung 34 war das freilich konturlose Ideal dieses katholischen Universalisten, der das Deutschtum, dessen legitime, aber nicht angetretene Erbschaft in Wahrheit die weltbürgerliche Bewährung sei, nicht den Nazis überlassen wollte. Die Inanspruchnahme ein und desselben kosmopolitischen Auftrags als die eigentliche Sendungsmission von deutschen Juden und deutschen Christen verwies auf die Problematik von der Wahlverwandtschaft der 'feindlichen Brüder'. 35 Bei Zuckmayer kam Verdruß am Zustand der weltanschaulichen Gruppierungen hinzu: "Der Sozialismus, die große Entdeckung und Hoffnung des vorigen Jahrhunderts, [sei gelockert oder gefährlich kompromittiert] ebenso sehr durch Machtlosigkeit und Verflachung, wie durch die tödliche Starrheit seiner diktatorischen Entfaltung und seines nationalistischen Gegenspiels. Die Geldherrschaft andererseits, auch in demokratischem Gewände, kann ebensowenig unser Ideal bedeuten, wie ein formaler, vom Parteien- und Gruppen-Interesse abhängiger Parlamentarismus." 36 Die europäische Krise und der Zerfall einer bürgerlichen Kultur und Gesellschaft erschienen einer Reihe von Autoren nurmehr individuell aufhebbar durch den Anschluß an religiöse Gemeinschaft, denn, noch einmal dazu Joseph Roth, "dank dem universalen Katholizismus, dem frohsinnigen, österreichischen, sinnlich greifbaren Glauben erscheint der Mensch schlechthin niemals zuerst als ein Glied einer Nation, sondern weit eher als der Bekenner eines Glaubens." 37

IV. Lost in Europe? Da insbesondere jüdische Autoren - jedenfalls soweit sie nicht nach der 'Rettungsplanke Palästina' (A. Zweig) griffen - supranational dachten, wird nicht erstaunen. Durch Hitlers Rassenwahn einer neuen Galuth ausgesetzt, schenkten sie mit dem Scheitern ihrer europäischen Perspektiven auch einer aus dem jüdischen Messianismus abgeleiteten Weltbürgerlichkeit verstärkte Aufmerksamkeit. Die aktuelle Problemstellung, der Kampf zwischen Nationalismus und Internationalismus, reflektierten sie im Rahmen ihres Deutsch- wie auch Judentums.

34 35

36 37

Vgl. ebd., S.91. Vgl. dazu Thomas Koebner: "'Feindliche Brüder': Stereotypen der Abgrenzung jüdischen und deutschen Wesens." In: Norbert Altenhofer (Hg.): Probleme deutsch-jüdischer Identität. Frankfurt am Main, 1985 (Jahrbuch des Archivs Bibliographia Judaica, 1), S.29-55. Pro domo. A.a.O., S.88f. Joseph Roth: "'Dreimal Österreich.' Bemerkungen zum Buch des österreichischen Bundeskanzlers von Schuschnigg" (Zuerst in: Das Neue Tage-Buch, 22.1.1938). In: Werke. A.a.O., S.774-780, hier S.776 (Hervorh. durch Roth).

Kosmopolitische

Bekenntnisse und Europaprophelien

von Exilierten

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Lion Feuchtwangers Romane um den jüdischen Weltbürger-Archetypus Flavius Josephus, Alfred Döblins "Unser Dasein" 38 , Georg Hermanns Vermächtnisschrift "Weltabschied" 39 , um nur einige hier anzuführen, gehören in diese Gruppe. Erich von Kahlers Studie "Israel unter den Völkern" 40 zu diesem Thema konnte noch Anfang 1933 abgeschlossen werden, dessen Wirkungsgeschichte begann allerdings erst 1936 mit der Veröffentlichung im Schweizer Exil. Von Kahlers universalistische Botschaft läßt sich zusammenfassen: der Programmweg der Juden führte, Stammlichkeit transzendierend, hin zur Menschheit, und zwar über die europäischen Nationen, um dann allerdings nicht bei diesen stehenzubleiben. 41 Der Nichtzionist Kahler deutete den Nationalismus der Zionisten als bloßen Wiederholungsreflex auf das historisch aus Europa stammende Nationalstaatsprinzip, mithin als eine unzeitgemäße Adaptation an fragwürdig gewordene europäische Norm. Dadurch wurde, nach Kahlers Ansicht, ein anderes, besseres, deutsch-jüdisch-europäisches Erbteil, nämlich das weltbürgerliche Prinzip, preisgegeben: Das Universale ist verfemt im Deutschtum wird zurückgerufen und Weltmission in die schärfsten sphäre. Menschtum gibt es nicht, Europa keinen Gedanken wert." 42

Raum wie in der Zeit. Das aus seiner Weltverflochtenheit Grenzen selbstbesorgter Machtist eine weichliche Phrase, und

Folglich erschien Kahler auch der Umgang der Nazis mit den Juden nur als "der Zeiger für Tieferes, Schlimmeres, was anderem geschieht, dem Menschen und dem Deutschen selbst". 43 Das Schicksal des heillosen bedrohten Europas wird hier zum Paradigma für den Zustand der Menschengeschichte überhaupt. Antizipierend und beschwörend schloß sein Buch in der Erkenntnis, da die kosmopolitische Idee eines 'Israel unter den Völkern' ggf. auch dem argen, aber konsequenten Notweg des Exils Sinnhaftigkeit verleihen würde: Was auch immer geschieht - halten wir uns vor Augen: Nicht Israel, nicht die Diaspora ist heute vor allem gefährdet, sondern das Menschtum. Mit ihm stehn und fallen auch wir [...] Gelingt es dem alten ehrwürdigen Kontinent, das Erbe seiner Jahrtausende zu wahren [...] dann erfüllt sich auch unser Sinn und Lebens38

39

40 41 42 43

Alfred Döblin: Unser Dasein. Ölten und Freiburg im Breisgau: Walter, 1964, bes. S.355ff. Georg Hermann: "Weltabschied". In: Unvorhanden und stumm, doch zu Menschen noch reden. Briefe aus dem Exil 1933-1941 an seine Tochter Hilde. Weltabschied, ein Essay. Hg. von Laureen Nussbaum, Mannheim: Persona, 1991, S.221-261. Erich von Kahler: Israel unter den Völkern. Zürich: Humanitas, 1936. Vgl. ebd., S.73f. Ebd., S.108. Ebd., S. 110.

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recht. Gelingt es nicht, und stürzt Europa in die Katastrophe, in den gemeinsamen Untergang, den ein nächster Krieg unfehlbar besiegelt - dann sind wir als Letzte auf dem Posten gestanden. [...] Im dunkelsten Elend, im trübsten Exil, auf der einsamsten verschollensten Wanderschaft sind wir dann noch geborgen und bei uns selbst: in der Heimat, die uns die Idee vom gottgeglichenen Menschen bedeutet. 44 Einer, der auf dem verlorenen Posten in der Europaburg ausharrte, war der Lyriker und Dramatiker Alfred Wolfenstein; auch bei ihm fanden sich bereits in seiner Programmschrift "Jüdisches Wesen und neue Dichtung" 45 von 1922 kosmopolitische Züge. Unter dem Eindruck einer immer auswegloser erlebten europäischen Lage und der Exilsituation in Frankreich entstanden zwischen 1938 und 1941 mehrere Beiträge im Europa-Kontext. Unter dem Titel "In Europa!" erschien in der Pariser Tageszeitung vom 12. September 1938 ein Resümee dieser Situation: Es sprechen und denken und träumen die Heimatlosen in Europa: Wir sind nicht heimatlos - / Mag auch niemand nach uns fragen, der Gedanke Europa fragt nach uns. / Und verbannen uns die Länder, wir lieben das Abendland! / Wir lieben seinen bedrohten Gedanken und denken ihn, drängt man uns auch bis an den äußersten Rand des Erdteils. / Ruhelos längst irrten wir seit 1914 durch blutige Nebel, nur ein wenig umschauend auf der kleinen Anhöhe von 1918. / Dann ging es hinunter, 1933 entgegen, dann hinaus über alle Grenzen, noch atemlos klopft unsre Brust. 46 Aufs ganze gesehen fragte aber der Europagedanke eher weniger nach den Exilierten. Es war dies die Wunschvorstellung eines an Europa längst Verzweifelten und sich umso mehr Anklammernden. Alfred Wolfensteins lyrische Europa-Apotheose ist trotzig, vergeblich, tragisch gewesen. In ihr mischten sich verklärende Wehmut und Exilbefindlichkeit (Unbehaustsein) mit den Residuen eines einstigen Bildungserlebnisses. Hier stand ein brüchiger und freiheitsstolzer Bekennertrotz aller Verlustbilanz gegenüber. Europa erschien dennoch mehr und mehr als Verlorenzugebendes, das aber paradoxerweise nach wie vor bannte, von dem man nicht loskam. Alfred Wolfenstein meinte schließlich, im europäischen Schicksal das des umgetriebenen Ewigen Juden zu wiederzuerkennen: [...] Oder wird Amerika Europa? Sollen die Heimatlosen weitergehn?/ Viele fahren davon, als sei schon alles vorbei, als spuke nur noch das Gespenst der Vergangenheit durch die Europaburg / Als seien nur schöne Ruinen der Hoffnungen übrig, durch die 44 45 46

Ebd., S.173f. Alfred Wolfenstein: Jüdisches Wesen und neue Dichtung. Berlin: Erich Rei, 1922. Unter dem Titel "In Europa", hier zit. nach: Alfred Wolfenstein: Werke, hg. von Hermann Haarmann und Günter Holtz, Bd. 1, Mainz: v. Hase & Koehler, 1982, S.359-363, hier S.359.

Kosmopolitische

Bekenntnisse und Europaprophetien

von Exilierten

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wir selbst mit bleicher Beharrlichkeit geistern, romantische Phantome. / Die einen haben es satt, den guten Europäer zu spielen,-sie suchen den festen Boden, gleiche Gesetze für Alle. / Sie wollen nicht verhungern, sie wollen nicht verfolgt sein, sie denken auch, von drüben sei der Erdteil besser zu ändern. / Andere glauben, sie müßten bleiben - aber können sie bleiben? sie glauben, ein schlechtes Europa brauche erst recht gute Europäer. 4 7 Der hier abwog, war in Skepsis verstrickt: War es rechtens Europa zu fliehen, es aufgeben und im Stich lassen? Ist das Asyl in Übersee Gebot der Vernunft, verhängnisvolle Selbstaufgabe, Verrat oder voreilige Desertion? Und es führte zu Irritationen, weil Wolfenstein schon im April 1938 im "Neuen Tagebuch" drastisch zugespitzt formuliert hatte: "Amerika ist nun das höchste Angebot, / Vergebens sucht Europa eure Hand zu fassen, / Und die verführten, hin und her gestoßnen Massen / Gebt ihr verloren und ihr gebt den Geist hier tot." 4 8 Davon fühlten sich einige angegriffen, von Wolfensteins Vorwurf zeigte sich zum Beispiel Thomas Mann pikiert. 4 9 Klaus Manns "Vulkan"-Roman spielte dann ebenfalls die Motivationen, nach Amerika zu weichen, durch: dessen Prof. Abel emigriert in die Staaten, weil er eines Europas überdrüssig ist, in dem Zensur herrscht und ringsum nur "feige Rücksichtnahme auf die deutsche Tyrannis". 5 0 Marion von Kammer flieht vor Verlusten und Erinnerungen, macht diesen scharfen Schnitt aus Selbsterhaltungswillen: "Entweder auch ich sterbe, oder ich muß etwas Neues anfangen." 5 1 Ein Rekurs auf den abendländischen Europa-Gedanken konnte freilich kaum mehr wirklich identitätsstiftend sein. Die Anhänglichkeit an Europa resultierte aus vergeblicher Suche nach dem moralischen Halt. Für etliche - so auch für Wolfenstein - hatte dabei wohl Gültigkeit, was der Nationalismus-Forscher Hans Cohn 1960 so umschrieb: Europa ist kein geographischer, sondern ein geistiger Begriff. Und 1940 gehörte Deutschland nicht zu Europa. Genau so wenig

47 48 49

50 51

Werke. A.a.O., S.362. "Europaflucht II". In: Werke. A.a.O., S.350. Vgl. bei Günter Holtz, der Wolfensteins diesbezügliche Erklärung gegenüber Margarete Frankenschwerth vom 17.9.1941 anführt und auf einen "Offenen Brief" von Erika Mann an den Herausgeber des Neuen Tagebuchs, Leopold Schwarzschild (Nr. 23, 4.6.1938, S.547f.) und einen entschuldigenden Antwortbrief Erika Manns an Wolfenstein vom 8.6.1938 dazu verweist. Vgl. dazu: Werke. A.a.O., S.446f. Vulkan. Ebd., S.366. Vulkan. Ebd., S.378.

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wie das damalige Italien. Europa ist entweder ein geistiger Kontinent oder nichts. 52 Wolfenstein warnte davor, schließlich auch noch aus der Seele - der europäischen - emigrieren zu müssen, beschwor, das Werk an dem so viele gebaut, nicht aufzugeben. 53 Der idealisierte "Urerdteil der Kultur" 54 rangierte dabei im eigenen individualbiographischen Kontext als die unwiederbringliche Zeit mehr oder weniger glücklicher Jugend, wurde aufgehoben und verklärt und als solche, wie ein letztes Refugium, 'verteidigt'. Sinnfällig erläuterte Wolfenstein: Die Diktatur unseres Schicksals verschont nicht die innersten Wurzeln - dazu gehört diese Wurzel Europa. / Es war unsere Jugend. Es kann uns nie eine alte Welt sein. Wir sehen es im unvergänglichen Licht der Erinnerung. 55 In diesem Sinne war Europa nicht Fluchtpunkt, sondern Endpunkt. Das bessere Europa blieb zuweilen am Vorkriegseuropa vor 1914 orientiert, einer Zeit die nicht selten allzu harmonisch als kosmopolitisch stilisiert wurde. Es erschien als Inbegriff freiheitlich-liberaler und tolerant-humanistischer Werte, europäische Vergangenheit fiel dann zudem noch mit erinnerter Arriviertheit zusammen. All diese hermetisch abgeschlossenen 'Welten von Gestern' und Museen zu 'besichtigender Zeitalter' waren Schemen, existierten nurmehr in der Retrospektive, sie waren selbsttrügerischer, bestenfalls therapeutisch wirkender Halt des einzelnen. Die trügerische Zukunftsgewißheit, mit der Wolfensteins Europa-Verse ausklingen, konnte sich nur aufs Ausharren, Abwarten gründen. Beschworen wurde ein Zukunftsstreif oder schwacher Abglanz einer einst besser geglaubten Welt: Und mit all seinen gezackten Rändern und vielfarbigen Ländern wird das Bild Europa erscheinen, mit all seinen Gliedern eine einzige Gestalt. / Könnten auch wir dabei helfen! Europa war unsere Jugend, die wir im Licht der Erinnerung schauen, / So wünschen wir, es leuchte auch in Zukunft, und wir wünschen, man könnte ihm wieder vertrauen - / Dazu werde es die neue Gemeinschaft, den Krieg verwerfend, den Frieden erhebend zu einer neuen frommen herrlichen Sitte, / Brüderliche freie gleiche Gemeinschaft der Arbeit und der Freude, Vorbild der Erdteile, in der Menschheit Mitte! 56

52

53 54 55 56

In: Die Bewährung der Demokratie im 20. Jahrhundert. Das Seminar von Berlin. Kogrell für kulturelle Freiheit, (dt.) Zürich: E V Z , 1961, S.234. Vgl. "In Europa". In: Werke. A . a . O . , S.360. E b d . , S.363. E b d . , S.360. E b d . , S.363.

Kosmopolitische

Bekenntnisse und Europaprophetien

von Exilierten

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Das Europa 1941, in dem seine beinahe zärtlichen Verse "Kleiner Erdteil" entstanden, war Dystopie, und was noch vom Dichter als Alternative imaginiert wurde, war längst entschieden: "Vielleicht steuerst du mit neuesten Weltriesenflugzeugen nach einer Blutsintflut wieder auf ein Biedermeier zu / Vielleicht landest du still auf einer Wiese und spürst die schöne Menschlichkeit eines blumengestimmten Abends -" 5 7

V. Weltbürger - Bürgen der besseren Welt? Weitere Arten, europäisches Bewußtsein zu dokumentieren und als Gegengewicht zur Nazibarbarei aufzuzeigen, liegen in den kulturgeschichtlichen Anthologien und Bilanzen vor; hierbei wurde entweder die europäische Fehlentwicklung analysiert oder aber es wurde über die Kulturleistungen des geistigen Europa kontinuierlich Zeugnis abgelegt. Ich beschränke mich darauf, nur einige zu nennen: Arnold Zweigs unveröffentlicht gebliebener Essay "Die Alpen oder Europa", der neben anderem die Schweiz als föderativ-kosmopolitisches Kleinstmodell betrachtet; die in der Nachfolge Herders stehende Anthologie "Stimmen der Völker. Die schönsten Gedichte aller Zeiten und Länder", 1938 von Alfred Wolfenstein gesammelt und bei Querido in Amsterdam herausgegeben, oder auch die später von Klaus Mann und Hermann Kesten zusammengestellte Anthologie moderner europäischer Dichtung von 1920-1940 mit dem sprechenden Titel "Heart of Europe" 58 oder auch Will Schabers Jugendwerk "Weltbürger - Bürgen der Welt" 59 , das hier näher betrachtet werden soll. Will Schabers "kulturkritische Betrachtung" - wie er das Buch im Untertitel nennt - die 1938 im Wiener Saturn-Verlag erschien, verdankt sich, eigenen Aussagen zufolge, dem multikulturellen Klima seines Brünner Exils: Der Ort, an dem ich die ersten fünf Jahre der Emigration verbrachte, Brünn, war durch das Zusammentreffen verschiedener Kulturen gekennzeichnet. Es gab dort ein tschechisches und ein deutsches Theater, tschechische und deutsche Zeitungen, tschechische und deutsche Schulen. Zwischen der tschechischen Mehrheit und der deutschen Minderheit der Bevölkerung stand eine beträchtliche jüdische Gruppe. Die kulturelle Atmosphäre, die durch das Nebeneinander, Miteinander - und manchmal auch

57 58

59

Ebd., S.356. Heart of Europe. An Anthology of Creative Writing in Europe 1920-1940. Edited by Klaus Mann and Hermann Kesten. With an Introduction by Dorothy Canfield Fisher. New York: L.B. Fischer, 1943. Will Schaber: Weltbürger - Bürgen der Welt. Wien: Saturn 1938.

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Gegeneinander - der ethnischen Gruppen geschaffen wurde, war der eigentliche Antrieb meiner Jugendschrift. 60 Diese redet nicht einer Nivellierung das Wort, auch ist darin nicht die Rede vom generellen Verzicht auf alles Nationale; allerdings wird das Grenzüberschreitende als das eigentlich konstitutive Moment jeder Kultur hervorgehoben. Den Vorzug jeder Symbiose definiert Schaber: "wenn irgendwo auf einem Gebiet verschiedene Völker und Rassen zusammenleben und diese Gemeinsamkeit produktiv wird." 61 Ziel müsse es sein, ein Bewußtsein dieser Verbundenheit zu schaffen, um damit der Vereinzelung zu entgehen. Aus dem selbsterfahrenen gestörten oder gelungenen Zusammenspiel von Alterität und Identität, von Fremdem und Eigenem, entwickelt er einen universalgeschichtlich angelegten Abriß (gegliedert als Wanderung, Stätten, Ziel), der den Bogen weitausholend von Alexandria, über Cordova, über das Holland Spinozas, Goethes Weimar, Grillparzers Wien, und die Tschechoslowakei Masaryks schlägt, schließlich kurz auch die Neue Welt Amerika und alte Welt China kühn miteinbezieht. Hier werden kenntnisreich positive Kulturgüter akkumuliert: Ob am Beispiel florentinischer Gelehrtengemeinschaft, der Sinnhaftigkeit jüdischer Diaspora oder der Erkenntnis, die der Bibliothekar von Alexandria, Eratosthenes, formulierte, die aktuelle Botschaft scheint hindurch: Autarkie ist Verkümmerung, Fremdenhaß fällt früher oder später schwächend auf den Hasser zurück. Oberstes Ziel dieser diachronen Zusammenschau ist es, den bereits einmal erreichten Stand universaler, weltbürgerlicher Bestrebungen in Erinnerung zu rufen. Die Weigerung aber, über Grenzen hinauszublicken, sei die Ursache, die, nach Schaber, zum Verfall im Ethischen führe. Dessen zeitgeschichtliche Diagnose formuliert vor allem den Vorwurf der Xenophobie: Die Angehörigen unserer Zeit haben es weithin verlernt, Lernende zu sein. Sie wollen das Fremde nicht mehr erkennen und [damit an-erkennen], sie wollen es sich unterwerfen [und an-gleichen], Sie sehen nicht mehr, wie das Fremde durch seinen Bestand das Eigene auf allen Seiten zu stützen und zu stärken vermag, [...] Sie leben im Bann ihrer eigenen Enge, die sie mit einem schauerlich-gespenstischen Usurpationsfeldzug mit der Welt identifizieren. Es ist der Fluch der Autochthonie, unter dem sich unsere Epoche in Krampf und Schmerzen windet; einer Autochthonie, die alles Andersgeartete vernichten möchte, nicht ahnend, da sie damit sich selbst Vernichtung androht. 62 Das Beispiel der griechischen Antike dient ihm als Beleg um zu zeigen, da wahlverwandtschafliche Geistigkeit bindender sei als lokale Geographie, da, 60 61 62

Brief Will Schabers an die Verfasserin vom 10.9.1989. Weltbürger. Ebd., S.22. Ebd., S.12f.

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wer sich absperrt, zwangsläufig verödet, degeneriert. 'Athen gegen Sparta' wird hier zum Topos für luzide Kritik am autarken, daher unschöpferischen Nationalsozialismus: Sparta will den griechischen Menschen wieder dem Absolutismus der Enge ausliefern. [...] Die Staatsvergottung kennt keine Grenzen. Die Rassenpolitik der Spartaner geht so weit, nicht nur den Kindersegen zu prämiieren, sondern das Kinderzeugen den 'Trefflichsten' vorzubehalten. [...] Aber Liebe und Geist vermögen sie nicht hervorzubringen, nur die Waffen der Furcht und des Hasses. Der Geist ist an dieser Stelle erloschen. Nicht einen einzigen künstlerisch produktiven Spartaner nennt die Geschichte. 63 Schabers Weltbürgerbuch ist ein idealistisches und engagiertes Buch der ständigen kulturell-sittlichen Selbstvergewisserung, das, die Resultate nationalistisch-vergifteter Politik vor Augen, aber stets vom Guten zeugen will. Eingestreut sind Sätze, die kultur- und geschichtsphilosophische Gewißheit vermitteln und damit Rückhalt und Ermutigung geben sollen: "Aber das Leben trägt immer wieder über die nationalen, allzu-nationalen Theorien den Sieg davon." 64 Oder: "Die Weite dieser Gesinnung hat keine Stätte dort, wo zentralistischer Geiz und der Anspruch nationaler Auserwähltheit herrschen." 65 Im Grundtenor des Buches spiegelt sich Fortschrittsglaube, verzeichnet wird eine Art Gegengeschichte, die von der Machbarkeit einer kosmopolitischen (Geistes)Welt zeugt. Wohl nennt er historische Beispiele von Rückschlägen und restaurative Erscheinungen, wie Inquisition, Autodaf6s und Bartholomäusnächte, doch wer davon Gebrauch mache, vermittelt der Verfasser, dessen Herrschaft sei von vornherein befristet; nie aber sei die Sache der Menschheit ganz verloren. 66 Der Glaube an die Dauerhaftigkeit, ja die Präpotenz symbiotischer Möglichkeiten scheint ungebrochen; der Ausweg aus der Sackgasse des 20. Jahrhunderts wird folgerichtig in der von Schaber geforderten "Versöhnung der Meridiane des Geistes" gesehen. 67 Dies ist und bleibt Schabers Lebensmaxime, denn mit dem Goethe-Wort: "Kein Lebendiges ist ein Eins,/ Immer ist's ein Vieles", das der damals Dreiunddreißigjährige als Motto seinem Buch voranstellt, schließt er fast fünfzig Jahre später die Dankesrede anläßlich seiner Dortmunder Ehrenpromotion. 68 Der historische Rekurs auf vorbildliche Ären von Weltbürgerlichkeit, besonders der Bezugspunkt des Alexandrinertums, ist auch von anderen Exilierten herangezogen worden; weitere entsprechende Projektionsfolien boten der 63

Ebd., S.31f. Ebd., S.41. 65 Ebd., S.43. 66 Vgl. ebd., S.44. 67 Ebd., S. 151. 6 ® Will Schaber: "Festvortrag: Journalismus im Exil". In: Dortmunder Universitätsreden 2, Dortmund: Schriftenreihe der Universität Dortmund, 1985, S.40. 64

Sigrid Thielking

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Erasmische Humanismus, das Ideal der Gelehrtenrepublik, des aufgeklärten Geisteskosmopolitentums, auch das Brüderlichkeitsideal der Französischen Republik. Gleichgültig, welche Analogieebene, welche Deutungsmuster letzten Endes gewählt wurden, stets verbarg sich dahinter das Bemühen gegen die Begrenztheit und Ohnmacht der eigenen Exilsituation anzuschreiben, oder wie Bloch 1939 eingestand: "Wir haben nichts als die Kraft unserer Überzeugung gerettet, aber auch die Fähigkeit, sie auszusprechen, sie in deutscher Sprache zu gestalten. Wir sind voll Europa, dort kennen wir uns aus, wir sind Athen." 69

VI. Ausblick Die exilierten Schriftsteller - gleichgültig ob Föderalisten, Paneuropäer, Universalisten - übernahmen und dachten weitgehend in den Kategorien und Lösungsmodellen der Weimarer Zeit; kosmopolitische Anschauungen gewinnen im Exil erst ab Mitte der 30er Jahre wieder an Bedeutung. Will man keine naive Historiographie betreiben, so bleibt freilich festzuhalten, da, anders als vor 1933, Themen wie die europäische Einigung oder gar die Beförderung einer bevorstehenden Weltgesellschaft - jedenfalls was die hier vorgestellten Vertreter des literarischen Exils angeht - eher an den Rand gedrängt wurden. Was die Forschung darüber betrifft, scheint mir bezeichnend, da in Paul Michael Lützelers Sammlung von Europa-Plädoyers 70 er sein Kapitel "Die Europäer in der Emigration" mit Thomas Manns "Achtung Europa" (1938) und dem "City of Man"-Projekt (1940) einleitet und im weiteren sich vor allem auf Heinrich Mann bezieht, als "einer der wenigen, die auch in der neuen Situation ihre Europa-Vorstellungen weiterentwickeln" 71 konnten. Es gab aber, wie ich zu zeigen versucht habe, davor schon europäische, weltbürgerliche Aussagen. Lohnenswert wäre es überdies, Vorstellungen einer jüngeren Exilgeneration 72 weiter zu untersuchen. Die wohl richtige Vorstellung, da gerade und vorzugsweise diejenigen, die in den Vereinigten Staaten Asyl fanden, eher kosmopolitisch aufgeschlossen dachten, ist häufig - gern auch von Exilierten selbst - geäußert worden 73 ;

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Ernst Bloch: "Zerstörte Sprache - Zerstörte Kultur". In: Ders.: Politische Messungen, Pestzeit, Vormärz. A.a.O., S.293. Paul Michael Lützeler (Hg.): Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915-1949. Frankfurt am Main: Fischer, 1987, S.25ff. Ebd., S.27f. Zu berücksichtigen wären hier zum Beispiel Klaus Mann, Stephan Lackner, Peter Weiss und viele andere mehr. Vgl. dazu z.B. Gundolf S.Freyermuth: Reise in die Verlorengegangenheit. Hamburg: Rasch & Röhring, 1990, S.61 und S.238.

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Bekenntnisse und Europaprophetien

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eine verifizierende, systematische Arbeit, die den dabei wohl wirksamen interdependenten Bezug von Fremdheit und Initiative für Exilschriftsteller untersucht, liegt dazu m.W. bislang nicht vor. Die fortgesetzte Tragik nach dem Hitlerregime bestand darin, da die rasche Ideologisierung beider Hemisphären ein befriedigendes Gesamtkonzept europäischer Einigungsüberlegungen vermissen ließ oder es blockpolitisch zu funktionalisieren begann. Solche unter den Exilschriftstellern mit kosmopolitischen Haltungen und Ambitionen, die sich als Vermittler zwischen Ost und West geeignet hätten, erschienen wegen eben dieses Kosmopolitismus suspekt, wurden diskrediert. Den einen erschienen sie als "Nichtse", den anderen als Willfährige eines US-Imperialismus 74 , in allen Fällen ließ man wiederum eigentlich so gut wie keinen Experimentierraum frei. Was konkrete Europakonzeptionen angeht, bleibt allerdings auch fraglich, ob die Botschaft der hier genannten Exilschriftsteller Innovatives und Neues dazu hätte einbringen können. Ihr zeitweiliges Wandeln und Verharren auf den Pfaden der Goethezeit in bester Absicht, ihr hochgehaltenes Konstrukt vom 'geistigen Prinzip' Europas war bald, täuschend ähnlich, durch Fürsprecher aus ganz anderen Kreisen besetzt. 75 Freilich kann man abschließend auch generell einwenden: wäre den Exilierten in jedem Fall mit einer kosmopolitischen Ordnung, gar einem Weltstaat geholfen gewesen? Auch hierüber gingen die Meinungen auseinander: Der Jude und Exilierte Günther Anders hat 1958 darauf mit einem kleinen Nein geantwortet, weil dann zu befürchten sei, da es vielleicht "keine restierenden Zufluchtsstätten" 76 mehr gäbe. Man kann nur spekulieren, ob bereits ansatzweise funktionierende Vereinigte Staaten von Europa vor 1933 dem großgermanischen 'Wahneuropa' Hitlers gezielt hätten Paroli bieten können. Die skizzierten kosmopolitischen Überlegungen fanden jedenfalls keine praktischen Umsetzungsfelder, als

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Hier eine Auswahl: Vgl. (d.g.): "Die Nichtse". In: Christ und Welt. 2 (1949) 7, S.9f. Vgl. "Der Kampf gegen den Kosmopolitismus". In: Die Deutsche Wirklichkeit. Zeitschrift für undoktrinäre Politik. 1 Jg. (1949) 16/17. Vgl. auch: J. Pawlow: "Kosmopolitismus - eine ideologische Waffe der amerikanischen Reaktion". In: Neue Welt. 4 (1949), 7, S.29-34. Rudolf Leonhard: "Kosmopolitismus". In: Deutschlands Stimme. 3 (1950) 27, S.6. Ein Beispiel: "Auf eine Verinnerlichung unseres Daseins kommt heute alles an. Das Werk der Bismarckzeit ist uns durch eigenes Verschulden zerschlagen worden und über seine Ruinen hinüber müssen wir die Pfade zur Goethezeit zurücksuchen." Friedrich Meinecke: "Weltbürgertum und Nationalgeist. Aus dem Buche 'Die deutsche Katastrophe'". In: Neue Auslese aus dem Schrifttum der Gegenwart. 2 (1947) 3, S.l-3, hier S . l . Vgl auch: Werner Bergengruen: "Über abendländische Universalität" (1948). In: Lützeler. A.a.O., S.281-287. Auch: Frank Thiess: "Europa als politisches Problem". Ebd., S.265-280. In: Der Blick vom Turm. München: Beck, 1984, S.57.

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therapeutischer Fluchtpunkt in der Krise blieb die Utopie des geeinten, demokratischen Europa wie die der Weltgesellschaft für einzelne Exilierte dennoch nicht ohne Bedeutung.

Margarita Pazi (Tel Aviv)

Zur deutschsprachigen Literatur Israels

Die Anfange der in deutscher Sprache geschriebenen Literatur des Landes gehen bereits auf die Jahre vor der Einwanderungswelle der Juden aus deutschsprachigen Ländern zurück; zu einer emotionellen Belastung wurde diese Sprache aus offensichtlichen Gründen erst nach 1933. Dies wurde bereits oft und eingehend in Untersuchungen dieser Literatur beleuchtet; der manchmal sehr heftig zum Ausdruck gebrachte Widerstand gegen das deutsche Wort in dieser Epoche wurde hierbei allerdings nicht immer mit Rücksicht auf die besonderen Umstände dargestellt, unter denen die Autoren in Erez Israel ihrer Neigung oder Berufung folgten, deutsch zu schreiben. Die Emigration - richtiger wäre vielleicht der Ausdruck Vertreibung oder Flucht, denn darum handelte sich doch in 99 Prozent der Fälle bei dem Verlassen der von den Nazis beherrschten Gebiete die Existenzbedingungen in den verschiedenen Fluchtländern sowie ihre Auswirkung auf die schriftstellerischen Arbeitsmöglichkeiten werfen trotz einer seit fast zwei Jahrzehnten anhaltenden intensiven Forschungstätigkeit noch immer eine ganze Reihe unbeantworteter Fragen auf. Die Frage nach der Bemühung der Autoren, in der Sprache des Exillandes literarisch ausdrucksvoll zu schreiben, ist durch die Spärlichkeit der Fälle, in denen dies gelang, beantwortet. Eine komplexe Frage, die allerdings in einem viel breiteren Rahmen zu erforschen wäre, ist die, ob die 'Muttersprache' auch tatsächlich zur literarischen Sprache wurde und inwieweit sie mit dem nicht weniger problematischen Begriff 'Heimat' verbunden war. Das beredteste Beispiel hierfür ist vielleicht Joseph Roth, der mit dem Jugendfreund Jözef Wittlin in der deutschen Sprachumgebung von Wien, zum Ärger der Umgebung, in die polnische Mutterprache zurückkehrte und in ihr zeitweise Heimatersatz und Stärkung fand, gleichwohl jedoch sein gesamtes Werk in deutscher Sprache schrieb. 1 Im Rahmen dieser Ausführungen zu den deutschschreibenden Autoren in Israel muß den Begriffen 'Muttersprache' und 'Heimat' besondere Beachtung geschenkt werden. Nicht zu übersehen ist, daß die Sprache des Geburtslandes oder -orts bei den europäischen Juden mit der Muttersprache nicht immer gleichgesetzt werden kann. Dies gilt nicht nur für Osteuropa, sondern weit1

Vgl. Jözef Wittlin: Erinnerungen an Joseph Roth. In: Joseph Roth und die Tradition. Aufsatz- und Materialiensammlung. Hrsg. u. eingel. v. David Bronsen. Darmstadt 1975. S.17-26.

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gehend auch in den Ländern der ehemaligen Donaumonarchie; sogar die in den Grenzen des ehemaligen Deutschland Geborenen können nicht immer klar auf die Frage antworten, was denn ihre 'Muttersprache' gewesen sei. Die deutsche Sprache war jedenfalls die Kultursprache, ehe - ungefähr seit der Jahrhundertwende im Zuge der jüdischen Assimilationsbestrebungen an das Gastvolk - in einigen Ländern die Landessprache diese Aufgabe übernahm. In Deutschland war es die Sprache, die Akkulturation und Integration bedeutete und die jüdischen Autoren, wie nicht wenige irrtümlich annahmen, zu deutschen Autoren werden ließ. Zur Illustration sei an Jakob Wassermann erinnert, der diese Vorstellung in seinem Roman Der Fall Mauritius durch die Romanfigur Warschauer/Waremme in pathetischen Worten verdeutlichen läßt: "Ich liebte ihre Sprache ... ihre Sprache? Meine! So gut, wie meine Augen mein sind ... " 2 Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese Ansicht von einem überwiegenden Teil der jüdischen deutschsprachigen Intelligenz geteilt wurde. Die Ausschließlichkeit, mit der sich die Juden seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Deutschland dieser Epoche ihrer Akkulturierung zuwandten, wiederholte sich einige Jahrzehnte später auch in den anderen oben erwähnten Ländern, in denen der Grad der Assimilation oft an der Beherrschung der Landessprache gemessen wurde. Während aber in den Kronländern der Habsburgmonarchie durch die Vielfalt der Landessprachen und die engeren geographischen Grenzen, in Polen durch die Verehrung der französischen Sprache, Bilingualität und sogar Trilingualität gesellschaftlichen Status versprach, blieb in Deutschland der deutschen Sprache die absolute Vorrangstellung gesichert. Es wäre müßig, hier die Rechtfertigungsversuche und Erklärungen anzuführen für die weiterbestehende Bindung der aus Deutschland stammenden Juden an die deutsche Sprache auch nach 1933, nach der brutalen Zerstörung aller Integrationsillusionen. Auch die existentiellen und emotionellen Probleme, die die deutschsprachigen Einwanderer - hier vor allem die deutschschreibenden unter ihnen - in den dreißiger Jahren in Erez Israel zu bewältigen hatten, wurden bereits mehrere Male ausführlich dargestellt. Selten wird dabei in Erinnerung gebracht, daß schon lange vor dem Einbruch der Nazibarbarei bei der Gründung des Technion in Haifa 1910 - eine heftige Debatte darüber geführt worden war, ob die Unterrichtssprache dieses ersten Hochschulinstituts im Land Ivrit sein könne oder aus wissenschaftlichen Überlegungen deutsch sein müsse; Ivrit siegte, und nicht nur die Studenten, sondern auch die Lehrer mußten die neue Sprache erlernen und in ihr neue Ausdrücke und Fachbegriffe schaffen. Das Hebräische behielt auch gegenüber dem Jiddi-

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Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius. Roman. München, Wien 1981. S.310.

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sehen die Oberhand, ein Sieg, der schon im Hinblick auf die orientalischen Juden einer gesellschaftlichen Notwendigkeit entsprach. Das Jahr 1^33 und die folgenden Jahre, die Ereignisse in Deutschland, die Zerstörung der Vorstellungen, denen sich die assimilierten deutschen Juden seit Jahren hingegeben hatten und von der viele von ihnen nicht minder schwer betroffen waren als von dem wirtschaftlichen und sozialen Ruin, die brutale Vernichtung ihrer Menschenwürde - all dies kann heute, trotz der unzähligen Versuche, die Ursachen und Reaktionen in diesen Jahren der Austilgung aller menschlichen Werte zu erforschen, nicht in vollem Ausmaße nachempfunden werden. Auch die persönlichen Erinnerungen und ihre Tradierung versagen hier. Die erste Einwanderungswelle aus Deutschland in den frühen dreißiger Jahren - hier soll besonders betont werden, daß damals auch eine ganze Reihe von Persönlichkeiten kam, die in entscheidendem Maße zu der geistigen und sozialen Entwicklung des Landes beitrugen und später auch in den Institutionen des Staates wichtige Aufgaben erfüllten - bestand in ihrer Mehrheit aus Zionisten, Menschen, die emotionell und teilweise auch beruflich für das Leben in dem neuen Land vorbereitet waren; auch ideologisch waren sie durch ihr jüdisches Identitätsbewußtsein von seelischer Erschütterung abgeschirmt, plötzlich der bisher als berechtigt angesehenen Zugehörigkeit zum deutschen Volk nicht mehr würdig befunden zu werden. Aber die Sprache, in der sie sprachen, dachten, sich erinnerten, war die Sprache, in der ihre rassenbedingte Minderwertigkeit und viel schlimmere Anschuldigungen gegen sie verlautet worden waren. Und nur selten beherrschten sie eine 'Auswegssprache' oder waren aus biologischen, emotionellen und existentiellen Gründen imstande, sich die neue Sprache Ivrit anzueignen. Am schwersten davon betroffen waren selbstverständlich die Schriftsteller, auch diejenigen, die als solche zwar noch nicht öffentlich hervorgetreten waren, aber den Drang fühlten, ihre Gedanken und Emotionen schriftlich festzuhalten. Daß im Rahmen dieser Ausführungen nicht alle deutschschreibenden israelischen Autoren angeführt werden können, ist nicht nur auf die den Hörern zumutbare Dauer eines Vortrages zurückzuführen; bis 1974, bis zur Gründung des deutschsprachigen Schriftstellerverbandes im Rahmen des allgemeinen Schriftstellerverbandes in Israel, gab es keine zentrale Stelle, die die Interessen der deutschschreibenden Autoren zu wahren oder zu fördern versuchte oder sie auch nur statistisch erfaßte. Aber aus den bis heute erfaßten bio-bibliographischen Daten geht hervor, daß in den Jahren 1933 bis 1936 eine ganz erhebliche Anzahl von Autoren ins Land kam. Die bekanntesten unter ihnen sind Arnold Zweig und Josef Kastein, die beide 1933 als überzeugte Zionisten einwanderten. Die Stadien der Integrationsschwierigkeiten Arnold Zweigs wurden bereits einigemale ausführlich dargestellt, und häufig leitet dabei die Darstellungsintention die selektive Anführung der Umstände, die diesen militanten Verfechter der

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zionistischen Idee in Europa, der nicht gewillt war, der zionistischen Realität die situationsbedingten Zugeständnisse zu machen, zur Rückkehr in sein geliebtes Atelierhaus in Niederschönhausen bewegten. Hier sollen nur ganz kurze Zitate und Tatsachen in Erinnerung gebracht werden. Am 16. Januar 1936 hatte Zweig in seinem Brief an den toten Tucholsky seine Position klargelegt: Ich sitze in Palästina, weil ich die jüdischen Dinge in mir dadurch (auch dadurch) für geordnet halte und mich in der Lage sehe, von dieser Basis aus freier in die Welt hinein zu wirken. 3 Daß diese Wirkungsmöglichkeit immer geringer wurde, lag am Zeitgeschehen und nur in geringem Maß an der unmittelbaren Umgebung. Zweig schuf in dem Land eine ganze Reihe seiner Werke, auch den 1942 entstandenen Roman Das Beil von Wandsbek, der 1943 ins Hebräische übersetzt wurde. (In deutscher Sprache erschien das Buch erst 1947). Im Zusammenhang mit Arnold Zweig wird auch stets die Zeitschrift "Orient" erwähnt, in der politisch so profilierte Autoren wie Louis Fürnberg publizierten, aber auch Beiträge von militanten Zionisten wie Max Brod erschienen. Die Zeitschrift wurde 1942 gegründet und stellte 1943, kurz nachdem ihre Druckerei durch eine Brandbombe vernichtet worden war 4 , ihr Erscheinen ein. Nicht nur wird in den Darstellungen zu Zweig und der Zeitschrift die dem "Orient" zugemessene Bedeutung weit überschätzt, aus dem Briefwechsel Zweigs mit Walther Berendsohn 5 geht auch der eigentliche-Grund von Zweigs Mitarbeit an der Zeitschrift hervor - es war kein ideologischer. 6 Die Klagen Arnold Zweigs über fehlende Publikationsmöglichkeiten im Lande und das Schicksal der Zeitschrift "Orient" werden oft als Beispiel der Unduldsamkeit der Bevölkerung zitiert, mit der man der deutschen Sprache in diesen Jahren begegnete. Das überzeugendste Beispiel für die keineswegs nur die deutschschreibenden Autoren und ihre Publikationen treffende Ächtung der deutschen Sprache ist die Weigerung des Stadtrats von Tel-Aviv, im Jahr 1933 Schmaqahu Levin, diesen im ganzen Land geachteten Vorkämpfer für die hebräische Sprache und bekannten zionistischen Politiker, einen Vortrag in deutscher Sprache auf öffentlichen Anschlagetafeln anzeigen zu lassen. Und 3

Die neue Weltbühne, 6. Februar 1936, S.259f. Zitiert nach: Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945. Hrsg. v. Ernst Loewy. Stuttgart 1979. S.273-280. 4 Diese Wochenschrift erregte durch manche Artikel das besondere Mißfallen der Bevölkerung, der Hauptgrund für die Animosität war aber die deutsche Sprache - die Druckerei der deutschen Tageszeitung wurde ebenfalls angegriffen und es kursierten auch Gerüchte fiber Papierverkäufe dieser Druckerei am schwarzen Markt. ® Brief von A. Zweig an W. Berendsohn vom 3. September 1946. Deutsche Bibliothek Frankfurt am Main, Abt.X. 6 Vgl. dazu Margarita Pazi: Arnold Zweig. Der Weg zurück in die Homeyerstrasse. In: Arbeitskreis Heinrich Mann. Mitteilungsblatt. Sonderheft: Siegfried Sudhof 1927-1980 zu gedenken. Hrsg. v. Peter-Paul Schneider. Lübeck 1981. S.225-237.

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doch wurde im gleichen Jahr ein Wochenblatt in deutscher Sprache gegründet, das unter dem Titel "M.B." (Mitteilungsblatt) zumindest dem Informationsbedürfnis dieser Einwanderungsgruppe entgegenkam; 1935 folgte eine Tageszeitung in deutscher Sprache. 7 Als Josef Kastein 1935 in Haifa landete war er sich dieser sprachlichen Probleme voll bewußt, und es gelang ihm auch bereits im gleichen Jahr, einen kurzen hebräischen Vortrag zu halten. Wie Arnold Zweig wurde auch Kastein durch den Ausfall des europäischen Büchermarktes schwer getroffen. Aber seine existentielle Lage war, obwohl er Kurse veranstaltete, Sprachunterricht gab, sogar Mitarbeiter des "Haarez" war und auch für andere hebräische Zeitungen schrieb, unvergleichlich schwieriger als die seines Nachbarn Zweig am Carmel. Schwere private Probleme - seine Frau konnte 1939, nach einer Europareise, nicht mehr nach Palästina zurückkehren, und es gelang ihm nicht, zu ihr nach Amerika zu kommen - lasteten auf ihm, und auch die ideologischen Spannungen im Lande bedrückten Kastein, der mehr oder weniger Martin Bubers Einstellung folgte; geschwächt durch die emotionellen und existentiellen Belastungen, konnte er dem klimabedingten Wiederausbruch seines alten Tuberkulose-Leidens keinen Widerstand leisten und erlag am 13. Juni 1946 seiner Krankheit. 8 Vertraut mit der Sprache, als Autor und Dramaturg bereits hervorgetreten, kam 1934 Ludwig Strauß (geb. 1892), der Schwiegersohn Bubers, ins Land. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer und zuletzt als Dozent an der Hebräischen Universität Jerusalem wirkte Strauß als Übersetzer und schuf in den Jahren bis zu seinem Tod 1953 ein ansehnliches, breitgefachertes Werk in deutscher und hebräischer Sprache, das belletristische Prosa, Lyrik und Essayistik umfaßt. In den letzten Jahren wurden Josef Kastein und Ludwig Strauß Gegenstand von Darstellungen und Untersuchungen, in denen ihr Verständnis für das Judentum und ihr Beitrag zu seiner Literatur gewürdigt werden. In den dreißiger Jahren war Mascha Kaliko, geboren 1912 in Polen, mit Feuilletons und Gedichten bekannt geworden, die u.a. in der "Vossischen Zeitung" und im "Berliner Tageblatt" veröffentlicht wurden. Die Autorin emigrierte 1938 in die USA, kam 1960 nach Israel und publizierte bis zu ihrem Tod 1975 in Zürich eine ganze Anzahl populärer Gedichtsammlungen. Unter den sich im Lauf der Jahre als Schriftsteller profilierenden Einwanderern aus Deutschland kamen bis 1936 : Dov Amir (1933), Lotte und Ale7

Das "M.B.", die Wochenzeitung des Irgun Olej Merkaz Europa (Verein der Einwanderer aus Mitteleuropa), erschien regelmäßig bis 1985, seither in unregelmäßigen Zeitabständen. Die Tageszeitung in deutscher Sprache besteht, unter anderer Leitung und anderem Namen, bis heute. ® Vgl. dazu Alfred Dreyer: Josef Kastein, ein jüdischer Schriftsteller, 1890-1946. Die Bremer Jahre. In: Bremisches Jahrbuch 58 (1980) S.93-144.- Ders.: Josef Kastein. Schöpferische Jahre in der Schweiz. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts Jerusalem, 60/1981, S.21-50. - Ders.: Josef Kastein. Entscheidung für Erez Israel. In: ebd., 66/1983, S.23-51.

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xander Baerwald (1935), Schalom Ben-Chorin (1935), Elfriede Bergel-Gronemann (1935), Hanna Blitzer (1933), Walter Benjamin Goldstein (1934), Erich Gottgetreu (1933), Frieda Hebel (1933), Werner Kraft (1934), Erich Lehmann (1936), Margarete Moses (1936), Lies Möller (1935), Paul Mühsam (1934), Lilit Pavel (1934), Else Rabin (1935) und Heinz Weissenberg (1933). Aus anderen mitteleuropäischen Ländern kamen Netti Boleslav, CSR (1936), Theodor Glasscheib, Österreich (1933), Meir Marcel Faerber, CSR (1934), Berta Kraus-Rosen, CSR (1929), Rusia Lampl, Lemberg-Wien (1931), Miriam Scheuer-Goldes, CSR (1936) und Miriam Singer, CSR (1920). Die letztgenannte Autorin dürfte auch den Beginn der deutschreibenden jüdischen Autoren in Erez Israel markieren. Den dichterischen Antrieb erhielt Miriam, damals Irma Singer (1898-1990) während ihrer Arbeit mit galizischen Flüchtlingskindern, die 1914/15 in Prag Zuflucht gefunden hatten. Nicht nur sprachlich, auch inhaltlich waren westliche Märchen diesen armen Waisen unverständlich, und so erfand Irma Singer für sie Geschichten, die 1920 mit einem Vorwort von Max Brod unter dem Titel Das verschlossene Buch erschienen; zehn Jahre später veröffentlichte sie ihre Gedichte aus dem Lande Israel Licht im Lager, geschrieben im Kibbuz Degania, dem sie seit ihrer Einwanderung angehörte. Im Vorwort zu dieser Gedichtsammlung klingt das emotionelle Problem an, das diese Autoren auch in den folgenden Jahrzehnten belasten und beschweren sollte: ein neues reiches Leben, das von Erinnerungen und Sorge um die Zurückgebliebenen überschattet wird. Bedeutsam ist hier der Hinweis auf die sprachliche Schwierigkeit, "das Ringen um die Sprache der Väter", in dem bereits in der Formulierung die Aufgabe der Muttersprache impliziert ist. Miriam Singer kehrte in ihren späteren Büchern zu ihrer ersten schriftstellerischen Motivation zurück, es sind vor allem Kinderbücher, die, wie schon die Titel anzeigen (Kelle und Schwert, Benni fliegt ins gelobte Land), das Leben der Pioniere in Erez Israel schildern. Der schriftstellerische Widerhall bei den aus Deutschland kommenden oder aus anderen Ländern eingewanderten Autoren, in denen die Entscheidung für das neue Land unter weniger drückender Bedrohung getroffen worden war, zeigt kaum Unterschiede. Bemerkbar ist in manchen Fällen bei den Autoren der ersten Gruppe das Vorwiegen von Arbeiten biographischer oder religiöser Thematik, das bei Schalom Ben-Chorin und bei Walter Goldstein auf den direkten Einfluß Martin Bubers zurückzuführen sein mag. Auch erziehungsbedingte Nachwirkungen lassen sich in der vordringlich religiösen Thematik und der Tendenz zur Vereinfachung der Probleme durch subjektives Wunschdenken erkennen, bei Frieda Hebel; bei Ester Rabin ist diese Themenwahl auch von der persönlichen Lebensform bedingt. Ester Rabin (1889-1978) war eine der ersten promovierten Frauen in Breslau, und in ihren Veröffentlichungen in deutscher wie in hebräischer Sprache werden

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frauenemanzipatorische Motive mit Einbezug der Stellung der Frau in der jüdischen Tradition und die sich daraus ergebende ethische Verpflichtung betont. Werner Kraft (1896-1991) veröffentlichte bereits 1937 eine Gedichtsammlung, die den Titel Worte aus der Leere trug. Nicht ins Leere geschrieben sind aber seine Veröffentlichungen, die Gedichte, Prosa und biographische Darstellungen umfassen; mit vielen namhaften Preisen und Ehrungen ausgezeichnet, ist Werner Kraft einer der wenigen im Ausland bekannten Autoren. Kraft ist auch paradigmatisch für die nuancenreichen Bedeutungsvariationen der Bindung dieser Autoren an die deutsche Sprache. Während Arnold Zweig nach seinen Aussagen und Briefen seine deutsche schriftstellerische Sprache niemals mit dem Geschehen in Deutschland in unmittelbare Verbindung brachte, könnte bei Werner Kraft - und noch einigen anderen israelischen Autoren - ihr Beharren auf der deutschen Sprache als eine Form des Protests verstanden werden: Nicht als Beweis einer kulturellen Zugehörigkeit, vielleicht sogar im Gegenteil, als individueller Besitz, dessen Wahrung nicht selten mit dem Verzicht auf die kulturelle, sprachliche Integration in das Land der Söhne und Enkel bezahlt werden mußte, ein Verzicht, den Werner Kraft in seinen Gedichten und kurzen Texten manchmal beklagt. Hier soll auch eines Autors gedacht werden, eines Weggenossen von Werner Kraft, der sehr zu Unrecht beinahe in Vergessenheit geraten ist: Manfred Sturmann (1903-1988) hatte sich früh für den Zionismus entschlossen und war in den zwanziger Jahren leitend in der zionistischen Organisation München tätig. Die freundliche Aufnahme seines ersten Gedichtbands Die Erben, für den er den Lyrikpreis der Stadt München erhielt, löste die "Schizophrenie des jüdischen Dichters deutscher Zunge" aus, wie er in einer späten Selbstdarstellung darlegt: früher als viele jüdische Autoren habe ihn die Frage beschäftigt, ob er "nun ein deutscher oder ein jüdischer Dichter" sei. Sturmann war sich der schmalen Grenzlinie zwischen 'jüdischer Dichtung' und 'deutscher Dichtung mit jüdischen Motiven', die noch immer nicht klar zu ziehen ist, sehr bewußt und versuchte sie immer wieder zu fixieren. Sein Palästinensisches Tagebuch (1937) legt Zeugnis von seinem Verständnis für die Probleme des Landes ab, in in das er ein Jahr später einwanderte. 9 9

Die Selbstdarstellung ist veröffentlicht unter dem Titel: Manfred Sturmann. Der israelische Dichter deutscher Zunge. In: Meilensteine. Vom Wege des Kartells Jüdischer Verbindungen (K.J.V.) in der Zionistischen Bewegung. Eine Sanunelschrift. Im Auftrage des Präsidiums des K.J.V. hrsg. v. Eli Rothschild. Tel-Aviv 1972. S.336-339. Für die Angaben zu Manfred Sturmann habe ich Dr. Margarete Kupper, Universität Würzburg, zu danken. - Sturmann studierte an den Universitäten Königsberg, Breslau und München, nicht wie ursprünglich geplant, Medizin, da man ihn hierfür gesundheitlich zu schwach hielt, sondern Volkswirtschaft, Germanistik und Kunstgesschichte. Mit dem Erscheinen seines Gedichtbandes Die Erben begann seine schriftstellerische Karriere. Er veröffentlichte noch in Deutschland und dann in Israel zahlreiche Erzählungen und Gedichte. Sturmann lebte in Jerusalem, war Sekretär des Bezalel Museums, dann Fürsorgebeamter, und verwaltete seit 1951 den literarischen Nachlaß Else Lasker-Schülers, eine Aufgabe, der er sich sehr intensiv, höchst genau, gewissenhaft und aufopfernd gewidmet hat.

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Ebenfalls ein profilierter Autor ist Schalom Ben-Chorin, der lange Jahre im Rahmen des jüdisch-christlichen Gesprächs aktiv war und dessen umfangreiches Werk in der Bundesrepublik Deutschland mit zahlreichen bedeutenden Preisen bedacht wurde. Dov Amir danken die deutschreibenden Autoren eine 1980 erschienene Bio-Bibliographie; Heinz Weissenberg ist, wie der 1938 eingewanderte Benno Fruchtmann, Graphiker, und der Einfluß dieser Doppelbegabung zeigt sich bei beiden Autoren in der bereichernden Bildlichkeit ihrer Schilderungen. Heinz Weissenberg nahm in seinen letzten Romanen das in der Dichtung der vertriebenen Schriftsteller so häufig verwendete Angleichungsmedium des historischen Romans mit Erfolg auf. Seine Moses-Trilogie (1952, 1968, 1980) ist das Werk eines Autors, dem nicht nur die Bibel, die Auslegungen und Legenden und die Landschaft, durch die der Weg des Moses ging, vertraut sind; auch die Reaktion des Volkes, die Evolutionsetappen - Unterdrückung, Erhebung, Freiheitstaumel, Ernüchterung, Unzufriedenheit und Widerstand - werden mit Sachkenntnis und Einfühlung als Entwicklungskette dargestellt, die zu den Königen Israels und zu den Richtern führt. Naturgemäß sind die Darstellungen der dreißiger Jahre nicht in dem Ausmaß von der Tragik des jüdischen Schicksals in unserem Jahrhundert bestimmt wie die nach 1945 geschriebenen. Das Bedeutungsmuster und die Motivwahl der in diesem Zeitraum in Erez Israel und Israel entstandenen Aufzeichnungen sind von großer Spannweite: Emigrantenschicksal wird in den wenigen erhaltenen Gedichten von Miriam Scheuer-Goldes (1899-1983) heraufbeschworen, so in dem Gedicht Der Koffer, in dem ein Koffer zum Symbol einer zeitbedingten Zufälligkeit des Lebens wird. Ganz anders erfaßte Rusia Lampl (1901-1978) ihr Schicksal. Als eine der wenigen unter diesen Autoren schrieb und publizierte sie in deutscher, hebräischer und englischer Sprache, und ihre Hörspiele wurden seit 1961 in verschiedenen Ländern und Sprachen ausgestrahlt. Das Herz des Leserpublikum errang sie mit dem in mehrere Sprachen übersetzten und in mehreren Auflagen veröffentlichten Tagebuchroman einer sechzehnjährigen Israeli, Der Sommer mit Or, für das ihr 1965 der deutsche Jugendbuchpreis zugesprochen wurde. Rusia Lampl scheute auch nicht vor so brisanten Themen wie die Abwanderung aus Israel oder das komplizierte Neben- und Miteinander verschiedener Gemeinschaften in dem jungen Staat zurück, die sie u.a. in Eleanor (1965) und Schuhe fürAdina (1969) aufgriff. Das Erlebnis der Shoa, das die Dichtung all dieser Autoren bestimmt, das Bangen um die, denen die Flucht nicht mehr gelang, und der Schmerz über ihren grausamen Tod sind ein Merkmal dieser Literatur; die Lyrik und die Prosa vieler dieser Autoren, die hier nicht alle gesondert angeführt werden können, ist davon geprägt. Am tragischsten ist vielleicht die Dichtung Netti Boleslavs, dieser früh verstorbenen Dichterin, die von Marcel Reich-Ranicki in der Nachfolge von Nelly Sachs und Else Lasker-Schüler gesehen wurde.

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Ihre Gedichte wie die seltenen Prosatexte tragen den Stempel des Schuldsyndroms der Überlebenden, das drückender noch als bei Jenny Aloni ihr Weltverhältnis bestimmt. Ihre Schicksalserfassung verwehrte ihr den Trost, der sich in ihrer Liebe zu ihren Söhnen und zu ihrem 'blau-weißen' Land bot, und ließ sie ihren schweren Tod als Bestätigung dieser 'Schuld' erfassen. 1936 kam auch Lola Landau-Wegner (1892-1990) in das Land; sie brachte für ihr 'drittes Leben' die Begeisterung 10 auf, die ihr bei der Bewältigung der großen emotionellen und existentiellen Probleme Kraft verlieh. Ihre autobiographische Darstellung ist ein Zeitdokument; unwillkürlich bringt die bewundernswerte Lebensbejahung dieser 96jährigen die tragische Verlorenheit der letzten Jahre Else Lasker- Schülers in Jerusalem ins Gedächtnis. Und, wieder als Gegenpart, gedenkt man auch der vom Alter ungebrochenen Geisteskraft und Lebenslust eines Max Brod, der die Jahre nach der Flucht "als Geschenk Gottes" empfand und seit seiner Einwanderung 1939 bis zu seinem Tod 1968 im Sinne seiner Ethik - der Mensch hat die Pflicht, an der Schöpfung mitzuwirken - sich seiner dramaturgischen Tätigkeit und seinem literarischen Schaffen widmete. Zwei weitere Autoren sind hier zu erwähnen: Max Zweig (1892-1991), dessen umfangreiches dramatisches Werk von 22 Stücken, in denen er "trotzdem und dennoch" die humanistischen Werte seiner Jugend in historischen Gestalten hochhält, in den letzten Jahren in Israel und in der Bundesrepublik gewürdigt wurde, und David Neumann (geboren 1894), von dem noch Ende 1990 zwei weitere Gedichtbände erschienen. Nur ganz wenige unter den Autoren, die erst viele Jahre nach ihrer Einwanderung den Mut und die Möglichkeit zu Veröffentlichungen fanden, kamen wie Jenny Aloni mit hebräischen Sprachkenntnissen, und wie gerade ihr Werk beweist, minderte dieser Umstand nicht die Problematik des Emlebens, das von der emotionellen Last der Sorge und des Gedenkens an die Zurückgebliebenen überschattet wurde. Jenny Aloni publiziert weiter in deutscher Sprache. Auch Miriam Michaelis 11 , die bereits vor ihrer Einwanderung 1938 dem Schutzverband Deutscher Schriftsteller angehört hatte, meisterte das Sprachproblem; sie ist journalistisch tätig, arbeitet als Übersetzerin und veröffentlicht seit 1983 auch hebräische Gedichte. Als Autorin hatte sich auch Anna Maria Jokl bereits 1936 mit ihrem Roman über Physik "für Kinder von 10 bis 70 Jahren" einen Namen gemacht. 12 1965 baute sie sich zum

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Lola Landau: Meine drei Leben. Berlin 1988. Auch die im Hauptberuf journalistisch Tätigen, wie Erich Gottgetreu, Meir Marcel Faerber, Alice Schwarz-Gardos, die sich die Landessprache aneigenen mußten, schrieben und schreiben ihre belletristischen Texte weiterhin in deutscher Sprache. Der Roman Die wirklichen Wunder des Basilius Knox erschien 1936 in tschechischer Ubersetzung und erst nach dem Krieg im Original in Österreich, der Schweiz und Deutschland.

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sechstenmal ein Leben in einer neuen Umgebung und Sprache auf: in Jerusalem." Es muß nicht weiter betont werden, daß für alle diese Autoren die Shoa auch die völlige Zerstörung ihrer Vorstellungen einer deutschjüdischen Symbiose bedeutete. Hier soll nicht die Frage gestellt werden, ob diese Symbiose jemals bestanden hat; nachzugehen ist nur dem literarischen Widerhall der unwiderlegbaren Tatsache des Endes einer Kulturbeziehung, die Juden wie Deutsche bereichert hatte, wie einer gefühlsmäßigen Bindung, die für die Juden in Verfemung, Verfolgung und Vernichtung endete. Die Herkunftsländer der israelischen deutschschreibenden Autoren geben einen ethnographischen Überblick der deutschen Kultur- und Sprachinseln Ost-Mitteleuropas und bedingen erhebliche Unterschiede in ihren Heimatund Landschaftsvorstellungen und in ihrer Apperzeption der Umwelteindrücke. Dies schlägt sich naturgemäß auch in ihrer literarischen Sprache nieder. Ein Beispiel hierfür ist die oft überraschende Adjektivwahl, die nur zum Teil auf einer Entfremdung von der sich dauernd verändernden Sprache im deutschen Sprachraum basiert; die Bedeutung einiger dieser Adjektive war, etwa in den Balkanländern, au fond eine andere. Das gleiche gilt für Verben und Begriffsbezeichnungen, die bei den zwei- oder mehrsprachigen Autoren, bei denen häufig die Muttersprache und die Schulsprache verschieden waren, je nach Sprache unterschiedliche Vorstellungen hervorrufen. Daß auch altersbedingte Unterschiede bei der Handhabung der deutschen Sprache beachtet werden müssen, ist offensichtlich. Dem behutsamen Abwägen des Ausdrucks bei Fritz Naschitz oder bei Werner Bukofzer steht in den Gedichten von Jenny Aloni, Alice Schwarz-Gardos, Lilit Pavel, Hanna Blitzer, aber auch bei den Autorinnen der Lyris-Gruppe eine viel freiere, kühnere Wortwahl gegenüber. Selten sind Metaphern und Anspielungen, die sich in einer nur einsprachigen Umgebung aus dem Unterbewußtsein entwickeln. Auch läßt sich, unabhängig fast von der Beherrschung der Landesprache, der Einfluß des Hebräischen, der Sprache ihrer Kinder und Umgebung, in der oft aus dem Ivrit übernommenen Satzstellung und sogar im Einbezug von Ivritworten verfolgen. Die Einwirkung der grundsätzlich anderen Mentalität der hebräischen Sprache zeichnet sich also, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch in Stil und Syntax der israelischen deutschgeschriebenen Literatur ab, und diese ständige sprachlich-gedankliche Auseinandersetzung bedeutet für die Autoren auch eine erweiterte Identität. Die in diesem Land in deutscher Sprache geschriebene Literatur mag als ein Teil der deutschen Literatur gesehen werden; dies bedeutet aber keinesfalls, daß sie 'deutsch' ist. Entscheidend hierfür sind nicht die eben ange13

1991 erschien die hebräische Übersetzung ihres Romans Die Perlmutterfarbe, der, bereits 1937 in Prag geschrieben, damals wegen Hitlers Einmarsch nicht mehr erscheinen und erst 1947 veröffentlicht werden konnte. Bis 1950 erschienen 5 Auflagen des Romans, der im Herbst 1992 in einer Neuauflage im Suhrkamp Verlag herausgebracht wird.

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führten sprachlichen Gründe. Das Eigengesetzliche der in Israel von diesen Autoren in deutscher Sprache geschriebenen Prosa und Lyrik ist ihr literarischer Impuls, der über alle alters - und herkunftsbedingten Unterschiede der Autoren hinweg, stärker als die Differenz der Denkpositionen, von dem Wissen um die Vernichtung der sechs Millionen Menschen bestimmt ist. Dies wird nicht nur in der phänomenologischen Erfassung der zwölf Jahre des 'Tausendjährigen Reiches' deutlich, es bedingt auch die Themenwahl und Themengestaltung, die Motivfügung und Charakteristik der Hauptfiguren. Quelle der literarischen Impulse ist die Erinnerung in mehrfachem Sinne - die Erinnerung an das, was vor dem Grauen war, an die Kindheit, an die Schule, an die Freunde, an das Leben in einer festgefügten, scheinbar wohlgesinnten Umgebung, und die Erinnerung an das, was nachher hereinbrach, erlebt, erlitten und überlebt, oder, im günstigeren Fall, aus Erzählungen und Berichten bekannt wurde. Bei vielen dieser Autoren entspricht das stete Heraufbeschwören der Erinnerungen dem zwanghaften Wunsch, in sich und den Andern das Gedenken an die Millionen Ermordeter festzuhalten; auch die Tendenz, durch dieses präsente Erinnern alles andere, spätere Geschehen, auch das aktiv miterlebte, zu relativieren, ist manchmal spürbar. Bei einigen Autoren kommt die Einwirkung der Erinnerung im Syndromgefüge von Angstvorstellungen und Verwundbarkeit zum Ausdruck, wie z.B. bei Benno Fruchtmann, wieder bei anderen in der Betonung religiöser Momente, in der immanenten Bereitschaft zur Hoffnung. Die Mehrsträngigkeit dieser Bewußtseinsund Erinnerungsebenen nähert sich manchmal auch einem latenten protestähnlichen Zurückrufen von Begebenheiten und Situationen, so in Jenny Alonis Erzählungen, und erweckt den vordergründigen Eindruck von Heimweh, während im Gegenteil die dichterische Absicht in diesem Zurückrufen des 'Vorher' die Kontrastierung des nachfolgenden Schrecklichen anvisiert. Was die Themengestaltung anbetrifft, so spiegeln sich die komplexen Erinnerungseinwirkungen in dem stark ausgeprägten assoziativen Erzählduktus und in dem Bestreben, das Gefühlschaos durch die Hervorhebung tragender Erzählelemente auszugleichen. Das moralische Deutungsmuster entwickelt sich häufig aus der Perspektive einer Bewußtseinswandlung, die durch die Bereitschaft zu Kontaktaufnahme und Anpassung gefördert wird. Diese Absicht setzt sich in den nichtbelletristischen Darstellungen als Entwicklungs- und Kontrastschilderungen ab; der Impetus hierzu kommt aus der konfliktgeladenen Spannung zwischen dem tradierten anerzogenen Weltbild und den späteren Erkenntnissen und Einwirkungen grundsätzlich verschiedener Denk- und Reaktionsformen. Von Einfluß bleibt bei der Wiedergabe sozialer und fortschrittsbedingter Motive eine Orientierung an der Literatur der zwanziger Jahre. Vorstellungen aus der Weimarer Republik werden auch in den - seltenen - zeitkritischen Texten, sogar in der Lyrik, erkenntlich und erschweren in ihrer Nichtbeachtung sich dynamisch verändernder Gegebenheiten eine Feststellung der Autorenstandorte. Ein allgemeines Phänomen dieser

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Literatur sind die Lebensbejahung und der Verzicht auf jeden dichterischen Rückzug in ein ideales Nirgendwo. Obwohl in diese Literatur nur wenig von der sprichwörtlichen rigorosen Selbstkritik der Juden einging, ist sie vorhanden und sollte bei einer Interpretation nicht übersehen werden. Der israelisch-arabische Konflikt, die Kriege und - als eng damit verbundener Widerpart - der Aufbau des Landes sind Dominanten der Darstellung. Die Wahl des Erzählmotivs und seine Gestaltung sind der sozialgeschichtlichen Realität der gelebten Wirklichkeit verpflichtet, aber in der Charakterzeichnung der Handlungsträger und der Betonung psychologischer Momente spiegeln sich das persönliche Erlebnis und die Erfahrungs- und Erinnerungsnachwirkung der Autoren wider. In dem auf Aufhellung und Vermittlung angelegten Geschehen wird eine ans Naive grenzende Vereinfachung der Probleme nicht immer vermieden. Sie entspringt dem subjektiven Wunschdenken und der Hoffnung der Autoren, nicht ihrer UnVertrautheit mit der Sachlage, und man ginge fehl, wenn man hier eine Absetzung vom aktuellen Geschehen oder Mangel an Verbundenheit mit Israel vermuten würde. Der stark ausgeprägte assoziative Gehalt des Geschilderten läßt durchweg das Vertrauen in die junge israelische Generation erkennen, und es muß rühmend hervorgehoben werden, daß jede plakative Heroisierung oder Sieger- und Erobererbeiklang fehlt. Verbunden damit ist jedoch die unerschütterliche Entschlossenheit, nie mehr in die Lage schütz- und wehrlos preisgegebener Opfer zu gelangen. Daß die in Israel in deutscher Sprache geschriebene Literatur eine gewisse Ähnlichkeit mit den Werken der älteren Generation israelischer Autoren in hebräischer Sprache zeigt, kann zur Erläuterung ihres Standorts dienen. Bei den deutschreibenden Autoren ist das Bestreben, eine mehr oder weniger ausgewogene Balance zwischen der äußerlichen, objektiven Situation und der psychologischen Lage der Protagonisten zu finden, ausgeprägter, und die Tendenz, zeitpolitische und sozialbedingte Geschehnisse durch individuelle Entscheidungen zu lösen, stärker. Die (vor allem sprachbedingten) Unterschiede in der Lyrik sind weitaus erheblicher. Die hebräische Lyrik ist geprägt von den uniimitierten dichterischen Möglichkeiten, die sich in der ständigen Fluktuation - in Sprache 14 , Bildvorstellung und historischen Bezügen - zwischen Vergangenheit und Gegenwart bieten. Assoziationen und Bedeutungsgehalte, die der hebräische Dichter für seine bibelfesten Leser mit einem Wort evozieren kann, müssen in der deutschen Sprache ausgeführt und erläutert werden und hemmen dadurch Rhythmus und Sprachfluß. Und doch ist die von diesen Autoren geschaffene Lyrik von plastischer Darstellungskraft und Eindringlichkeit. Land14

Es ist durchaus statthaft, in einem literarischen Text zur Verstärkung der Darstellungsintention nicht nur in die Sprache der Propheten überzugehen; auch die Sprache des frühen und späteren Mittelalters wird eingeschaltet, neben ganz modernen, auch slangartigen Ausdrucksformen.

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schaftsschilderungen herrschen vor und vermitteln bei Jenny Aloni z.B. die glühenden Farben der Früchte und die gleißende Blässe des Sandes mit fast schmerzhafter Intensität.15 Immer wieder wird in ihren Gedichten - wie in denen einer ganzen Anzahl dieser Autoren - die Frage nach der Rechtfertigung ihres Lebens gestellt, nachdem ihre Familien, ihre Freunde, Millionen von Unschuldigen zu Tode gebracht wurden. Dieses bereits erwähnte Schuldsyndrom, das ein völliges Aufgehen im neuen Leben fast in die Nähe eines Verrats an den Ermordeten bringt, durchzieht die Lyrik in den verschiedensten Kontextvarianten; Erinnerungsfetzen, die die alltäglichsten Dinge zu Gedenksteinen werden lassen (bei Alice Schwarz), Reflexionen, die die Berechtigung des Gedenkens an das Einstige, an die Wälder und Wiesen, die deutschen Verse, in Frage stellen (bei Lilit Pavel), gemildert durch Vertrauen und Hoffnung in Bestehendes und Kommendes (bei Hanna Blitzer), Rückkehr in die Stadt der Jugend durch das Medium eines Films (bei Annemarie Königsberger). Und immer wieder das Lyrikmotiv Jerusalem! Nirgends ist die Eigengesetzlichkeit der israelischen Lyrik so ausgeprägt wie in der Verschiebung des Jerusalembildes als Symbol und Zentrum von Religionen hin zu Rückgrat und Herz des Landes, in dem diese Dichter ihre Heimat gefunden haben. Jerusalem ist ein Teil ihrer Identität, der Knotenpunkt der harten Realität und steten Existenzbedrohung; in ihren Gedichten wird Jerusalem zur Fortdauer der heiligen Stadt in der gelebten Wirklichkeit. All die in 'Jeruschalaim' geballten Gefühlselemente, assoziativen Sprünge und Realitätserfahrungen lassen sich bereits in einem der frühen Jerusalemgedichte, in den "Sprüchen in Versen" der Kleinen Nachtwachen (1937) von Ludwig Strauß ablesen: Ein Ort, ein Weltenwirbel, schlang Gebet, Geschwätz, Gezänk, Gesang Und Sphärenhall und Waffenklang. Wir nennen dich, trotz alledem, Du wirre Stadt: Jerusalem.16 Die israelische deutschgeschriebene Literatur strebt keine Vermittlerrolle zwischen dem Geburtsland der Autoren und Israel an. Jede Erinnerung an die Geburtsheimat ist unweigerlich mit der Erinnerung an das dort den Juden zugefügte Leid verbunden, und auch der Begriff Holocaust läßt sich nicht einfach fixieren. Landschaften, Farben, Gerüche, akkustische Eindrücke können Erinnerungen wachrufen, die Heimatvorstellungen evozieren, ohne sich zu dem emotionellen Heimatgefühl zu steigern, das nur mit der Sicherheit des 15

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Im Gegensatz zu den modernen israelischen Malern, deren Farben sich vornehmlich auf die Zwischentöne der Landschaft konzentrieren. Ludwig Strauß: Kleine Nachtwachen. Sprüche in Versen. Berlin 1937. ( = Bücherei des Schocken Verlags 83). S.25. Vgl. dazu Hans-Peter Bayerdörfer: Wandlungen einer Topographie. Zu den Gedichten von LAND ISRAEL. In: Ludwig Strauß. Dichter und Germanist. Eine Gedenkschrift. Aachen 1982. S.50-66, insbes. S.62f.

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'Dazugehörens' möglich ist. Auch von einer Sprachheimat kann nur mit Vorsicht gesprochen werden, selbst in den Fällen, in denen die deutsche Sprache sowohl Mutter-, Schul- und Bildungssprache war, denn gerade der Schriftsteller muß sich stets aufs neue in der Sprache seine Heimat errichten, die in ihr verborgenen und wechselnden Möglichkeiten ergründen. Auf eine weitere Erfassung von Heimat wies Arnold Zweig in seinem bereits zitierten Brief an den toten Kurt Tucholsky hin: er widerlegt eine der "lächerlichen Unwahrheiten, die die Juden über sich verbreiten lassen", nämlich sie seien ein Wandervolk, mit der apodiktischen Feststellung: "Wo die Gräber ihrer Vorfahren sind, da spüren sie ihre Wurzeln, da sind sie zu Haus." 17 Zweig konnte nicht ahnen, daß diese Heimatvorstellung nur einige wenige Jahre später in den Worten eines anderen Juden, Paul Celans, eines der größten Lyriker in deutscher Sprache, mit der schaurigen Verszeile vom "Grab in den Lüften" für seine jüdischen Zeitgenossen und ihre Nachkommen eine so tragische Bedeutung erhalten würde. Die israelischen Autoren deutscher Sprache können sich nicht der Illusion hingeben, durch ihre Darstellungen auf die Jugend des Landes einzuwirken. Schon aus sprachlichen Gründen ist dies ausgeschlossen; die Veröffentlichungen sind folglich in der überwiegenden Mehrzahl für ein nicht-israelischen Leserpublikum bestimmt, und hierin liegt vielleicht auch der Sinn und Zweck der hier in deutscher Sprache geschriebenen Texte. Sie erreichen nicht die Nachkommen der Opfer, aber - weit wichtiger - die Nachkommen derjenigen, die die Schuld und Verantwortung an der Shoa tragen. "Und jedes Licht ein Jahrzeitlicht" - mit dieser Zeile fängt Alfred Kittner in einem den Anflug auf das beleuchtete Tel-Aviv beschreibenden Gedicht das Lichtermeer der israelischen Großstadt ein. Letzten Endes ist vielleicht jeder von einem israelischen Autor in deutscher Sprache geschriebene Text ein Jahrzeitlicht...

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Die neue Weltbühne (Anm.3), S.259.

Mark Η. Gelber (Beersheva) Deutsch-zionistische Literaten im 'Heimat-Exil' Manfred Sturmann, Hans Rosenkranz und die zionistische Kritik der deutschsprachigen Literatur in Palästina/Israel

Um eine sinnvolle zionistische Stellungnahme zur Problematik der deutschsprachigen 'Exil-Literatur' in Palästina/Israel zu vertreten, muß man zunächst die besonderen ideologischen Prinzipien und die politisch-kulturellen Kategorien der individuellen Lesererfahrung bestimmen, denn die einfachsten Grundbegriffe dieses literaturhistorischen Gebietes, wie es sich in den letzten Jahren entwickelte, deuten auf komplizierte Perspektiven und Nuancen hin, die termini wie Exil, Asylland, Heimat, Heimkehr, Emigration, Auswanderung usw. inhärent sind. 1 Dieselbe Wortwahl ist zugleich Streitobjekt und Teil der inneijüdischen Debatte über Zionismus, was eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Thema wesentlich erschwert. Jürgen Nieraad zum Beispiel charakterisiert die Leistung und Karriere Werner Krafts als ein "glückliches [Gegenbeispiel", da "es hier gelungen ist, gegen die Einflüsse und Ansprüche einer kulturell, gesellschaftlich und sprachlich so ganz anderen Umwelt, die in dieser Situation weniger problematische literaturtheoretische, aber um so problematischere dichterische Existenz durchzuhalten und letztlich doch das Publikum zu finden" 2 . Ohne den Zionismus in Betracht zu ziehen, plädiert Nieraad konsequenterweise für Krafts Verankerung in der deutschen Literaturgeschichte. Demgegenüber sah Gershom Scholem im selben Beispiel Werner Krafts eine große Tragik, da dieser, wie sich herausstellte, letzten Endes nicht fähig war, sein lebenslanges Streben - "die Verwirklichung einer höchsten Form des deutschen Geistes innerhalb der deutschen Sprache" 3 - aufzugeben und stattdessen, Scholems zionistischem Wunsch gemäß, sein Lebensziel und damit seine Identität in Palästina/Israel anders zu definieren. Scholem hatte schon 1918 in einem

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Theo Stammen: Exil und Emigration - Versuch einer Theoretisierung. In: Exilforschung Bd.5 (1987), S. 11-22. Vgl. auch Wulf Koepke: Probleme und Problematik der Erforschung der Exilliteratur. In: Das Exilerlebnis. Hrsg. v. Donald G. Daviau und Ludwig M. Fischer. Columbia, S.C. 1982, S.338-352. Jürgen Nieraad: Deutschsprachige Literatur in Palästina und Israel. In: Exilforschung Bd.5 (1987), S.97. Vgl. auch Nieraad: Deutschsprachige Literatur in Israel. In: Deutschsprachige Literatur des Auslandes. Hrsg. v. Erwin Theodor Rosenthal. Bern 1988, S.85. Werner Kraft: Vorwort. In: Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft. Frankfurt a. M. 1986, S.8.

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Brief an Kraft behauptet, das Judentum beginne und ende im Hebräischen, es sei unvermeidlich, wenn er sich als Jude verstehen wolle4. Im Gegensatz zu Meir Faerber, dem langjährigen Vorsitzenden des Verbandes deutschsprachiger Schriftsteller in Israel, finde ich es sinnvoll, verschiedene Strömungen innerhalb der deutschen Einwanderung, der 5. Alijah (Hebr. Aufstieg [ins Land], Immigrationswelle) zu unterscheiden, da Werner Kraft und die Mehrzahl der deutschen Olim (Hebr. Aufsteigende [Einwanderer]) in den dreißiger Jahren keine Zionisten waren.5 Es war für Kraft schwierig, das Jüdische in seine deutsche Selbstidentität zu integrieren, geschweige denn eine jüdische Identität schlechthin zu erwerben, die er nie zuvor erstrebt hatte. Obwohl Zionist und Zionismus vieldeutige, historisch sich wandelnde und umstrittene Begriffe sind, können wir in diesem Fall von der Prämisse ausgehen, daß zionistisch eingestellte Schriftsteller, d.h. deutsch-jüdische Schriftsteller, die sich bereits vor dem Aufstieg des Nazismus zur zionistischen Idee bekannten, die zionistische Literatur produzierten und Mitglieder der zionistischen Organisationen waren, eine klar erkennbare Gruppe bildeten. Ihre spezifischen Erfahrungen und ihre Literaturproduktion müssen vor wie nach der Ankunft in Palästina als separate Kategorie bewertet werden. In einem gewissen Sinn gleicht die Lage der deutsch-zionistischen Dichter und Schriftsteller derjenigen ihrer französisch-zionistischen, englisch-zjonistischen und anderen zionistischen Kollegen, die in nichtjüdischen Sprachen schrieben und schließlich nach Palästina/Israel kamen. Dies gilt, obschon das spezifische Verhältnis der zionistischen Bewegung zur deutschen Sprache selbst etwas problematischer ist. Im Vergleich mit anderen Sprachen genoß Deutsch eine Sonderstellung: Einerseits war es die Sprache des modernen Zionismus: die Akten der zionistischen Kongresse wurden bis in die dreißiger Jahre ausschließlich auf Deutsch veröffentlicht, und die Zentren der Bewegung oder die Orte der Kongresse waren mit nur wenigen Ausnahmen deutsche Kulturstädte, wie zum Beispiel Basel, Köln Berlin, Zürich und Wien. Andererseits wurde Deutsch zur Sprache des Erzfeindes des jüdischen Volkes: die Sprache des Nazismus. Es muß zunächst betont werden, daß eine einheitliche zionistische Literaturkritik noch nicht existiert, die ästhetische und literaturhistorische Kategorien entwickelt hätte, um diesem Phänomen näherzukommen. Aber die Umrisse und tentative Richtungen einer möglichen zionistischen Kritik 4

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Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft, 31. Januar 1918, ebd., S.65. Das Zitat lautet: "Das Judentum beginnt und endet im Hebräischen. Es wird auf die Dauer auch Dir nicht erlaubt sein, ohne es zu besitzen, Dich zu entscheiden. Die Voraussetzungen des Hebräischen müssen in jedermann nicht erzeugt, wohl aber entdeckt werden können (früher oder später), der irgendwo ein jüdischer Mensch ist. Sonst könnten wir uns niemals verstehen." Meir Faerber: Geleitworte. In: Dov Amir, Leben und Werk der deutschsprachigen Schriftsteller in Israel. München 1980, S.5.

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sind schon erkennbar, wenn man auf die kulturzionistischen Grundbegriffe Achad Ha-ams zurückgreift. Wie bekannt, war der Begriff Shlilat Hagalut, die Verneinung der Diaspora, mehreren Fraktionen innerhalb des Zionismus gemeinsam. Aber es bestehen wesentliche Diskrepanzen zwischen Theorie und Praxis in bezug auf die Folgerungen aus diesem Grundbegriff, wie auch ernsthafte Streitigkeiten über die praktische Bedeutung der Idee selbst. Achad Ha-am, der sich als Hauptvertreter der hebräischen Renaissance und des Kulturzionismus (des geistigen Zionismus) gegen den politischen Zionismus im Sinne Herzls engagierte, war eine gewichtige Persönlichkeit in der frühen zionistischen Szene; sein Hauptargument war, daß der in der Diaspora versteinerte und dem Tode nahe jüdische Volksgeist nur im Land Israel und nur in der hebräischen Sprache zu neuem Leben erweckt werden könne. 6 Der lebendige Volksgeist funktionierte, seinem romantischen Modell nach, als Quelle der Kapazität eines Volkes, Neues und Originelles zu schaffen. Achad Ha-am und andere Kulturzionisten wollten das jüdische Nationalbewußtsein vertiefen, das Judentum verjüngen, nicht aber, wie Herzl und der politische Zionismus, in erster Linie die jüdischen Massen vor dem physischen Untergang bewahren. Für Achad Ha-am war die hebräische Sprache das einzige Medium zur Wiedererneuerung des jüdischen Nationalbewußtseins, ohne sie war jüdischer Nationalismus einfach undenkbar. Interessant ist aber, daß Achad Ha-am selbst weder für hebräische Dichtung, d.h. für belies lettres, noch für Hebräisch als gesprochene Sprache oder als lingua franca des von ihm vorgestellten jüdischen geistigen Gemeinwesens im Land Israel Interesse zeigte. Bekanntlich hat er nur ein einziges Gedicht des berühmten hebräischen Dichters Saul Tschernikowsky in seiner Zeitschrift "Ha-shiloah" veröffentlicht; von Tschernikowsky und anderen hebräischen Dichtern und ihren dichterischen Bemühungen hielt er im allgemeinen wenig. Für Achad Ha-am war Hebräisch als die Sprache des jüdischen Intellekts das einzig passende Medium, um über die Zukunft des Volkes zu debattieren. Während er hebräische Dichtung als eine Art Ablenkung oder sogar Unsinn ablehnte, da er keine Sympathie für die Sprache der Emotionen hatte, schlug er vor, daß diejenigen Juden, die die Dichtkunst unbedingt praktizieren wollten, dies besser in anderen Sprachen und Literaturen (Russisch, Deutsch, usw.) tun sollten. Theoretisch also wäre die Fortsetzung einer dichterischen Karriere in deutscher Sprache ein nach der kulturzionistischen Ansicht Achad Ha-ams mögliches Unternehmen, das zwar nichts Positives an sich hätte, aber auch nichts wirklich Böses bedeuten würde. 6

Eine Auswahl der Schriften Achad Ha-ams erschien schon 1904 in deutscher Übersetzung. Siehe Achad Ha-am: Am Scheideweg. Berlin: Jüdischer Verlag, 1913. Bd.I (übersetzt v. Israel Friedländer): Nicht dies ist der Weg, S.32-54. Bd.II (übersetzt v. Harry Torczyner, 1916): Die Renaissance des Geistes, S. 105-155; Ein Sprachstreit, S. 156-167; Golusverneinung, S.213-227. Vgl. femer: Die Schulen in Jaffa, Bd. II (1923), S.245-334. Vgl. Leon Simon (Hrsg.): Selected Essays of Ahad Ha-am. New York 1970.

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In bezug auf die Praxis und seine eigene Arbeit gab es für Achad Ha-am nur eine einzige Möglichkeit: das Schreiben seiner Essays auf Hebräisch. Als man ihn einmal darum gebeten hat, einen Beitrag für eine Zeitschrift in russischer Sprache, die er völlig beherrschte, niederzuschreiben, lehnte er es mit folgender Begründung ab: "Ich bin ein hebräischer Schriftsteller und meine Sprache ist Hebräisch; wenn Sie sich für meine Meinung interessieren, kann sie von anderen übersetzt werden." 7 Das Schreiben in irgendeiner anderen Sprache außer dem Hebräischen erachtete Achad Ha-am für verräterisch. Dennoch distanzierte er sich von der Bewegung Eliezer Ben Jehudas, Hebräisch als moderne gesprochene Sprache zu etablieren. 8 Achad Ha-am besuchte früh und öfters die Siedlungen und die neuen hebräischen Städte im Land und wußte ganz genau, was in Palästina vor sich ging, bevor er in den zwanziger Jahren nach Tel Aviv emigrierte. Nach seiner Besichtigung der von der Alliance Israelite Universelle gegründeten hebräischen Hibbat Zion Schule in Jaffa zu Beginn der neunziger Jahre äußerte er sich negativ gegenüber deren Bestrebungen, Hebräisch wieder zur modernen lingua franca des Jischuvs (Hebr. jüdisch-zionistisches Siedlungsunternehmen in Palästina) zu machen. Wie er es ablehnte, Russisch zu schreiben, so vermied er es auch, Hebräisch zu sprechen; später allerdings, etwa nach 1908, mit der Verbreitung und dem partiellen Erfolg der Hebräisten in Palästina, stimmte auch Achad Ha-am zu, öffentliche Reden auf Hebräisch zu halten. Der Kampf um Hebräisch und die hebräische Kultur im Zionismus, der sicherlich kein leichter oder einfacher war, wurde im Land Israel schon vor dem ersten Weltkrieg gewonnen; in der Diaspora dagegen wurde dieser Kampf trotz aller Bemühungen hoffnungslos verloren. Die zionistische Bewegung und die zionistische Weltorganisation setzten ihre Gegenwartsarbeit in allen von Juden gesprochenen Sprachen fort; die wichtigsten Sprachen waren Deutsch und, besonders nach 1917, Englisch. Die Konsequenzen dieser schizophrenen Sprachsituation im Weltzionismus sind bis heute weitreichend; im hier darzustellenden literarischen Zusammenhang sind sie von großer, sogar von entscheidender Bedeutung. Mit Hilfe des von Kurt Blumenfeld geprägten Begriffes 'Distanz' hätte der im Ausland ansässige Zionist in der Theorie diese Lage bewältigen können. Die zionistische Vereinigung für Deutschland wurde durch die Bemühungen Blumenfelds und anderer in diesem Sinne radikalisiert. Er war sehr früh davon überzeugt, daß Deutschtum und Judentum zwei entgegengesetzte Weltvorstellungen vertraten und daß keine Synthese zwischen den beiden

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Parfitt Tudor: Ahad Ha-am's Role in the Revival and Development of Hebrew. In: Jacques Romberg, At the Crossroads. Essays on Ahad Ha-am. Albany 1983, S.21. Siehe Shlomo Avineri: Ben Yehuda. Language and Nation. In: Avineri, The Making of Modern Zionism. London 1981, S.83-67.

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möglich war. 9 Blumenfeld, der erst 1923 Vorsitzender der zionistischen Vereinigung für Deutschland wurde, dessen starker Einfluß als Parteisekretär jedoch auf den deutschen Zionismus schon 1909 spürbar war, erkannte genau, wie schwierig der geistige Prozeß sein mußte, ein freies jüdisches Volk im Land Israel zu gestalten. Er verlangte 1910 eben deshalb von allen, die sich Zionisten nennen wollten, daß sie die Übersiedlung nach Palästina in ihr Lebensprogramm aufnehmen müßten. Auf dem Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung 1912 in Posen wurde diese Forderung von der deutschen Bewegung als ganzer offiziell adoptiert. 10 Da sich die individuelle Planung und eventuelle Übersiedlung jedoch zeitlich sehr unterschiedlich vollzogen, befanden sich Zionisten auf längere Dauer im deutschen Kulturraum. Infolgedessen propagierte Blumenfeld seine Idee der 'Distanz 1 : der nationalbewußte Jude mußte eine gewisse Distanz zwischen sich und der deutschen Kultur wahren. Dies half dem Juden, seine eigenen volksjüdischen Kulturwerte aufrechtzuerhalten. Blumenfeld warnte eindeutig davor, daß Juden wichtige Stellen in der deutschen Gesellschaft erstrebten oder akzeptierten. Der Zionist sollte seiner existentiellen Wurzellosigkeit in der deutschen Umwelt gewahrwerden, sich von deutscher Kultur distanzieren und die jüdische Nationalität bejahen, während er seine Kenntnisse über das Judentum und das Land Israel vertiefte, seine Sprachfähigkeit im Hebräischen erweiterte, sich auf seine Übersiedlung praktisch vorbereitete und diese dann schließlich auch verwirklichte. Von dieser Perspektive aus gesehen können wir die Typologie des Lebensweges deutsch-zionistischer Dichter analysieren und bewerten. Dabei ist es aufschlußreich, sich auf zwei literarische Persönlichkeiten zu konzentrieren, die weniger bekannt sind als das vieldiskutierte zionistische Triumvirat Max Brod, Ludwig Strauß und Arnold Zweig. Der 1989 in Jerusalem verstorbene Dichter Manfred Sturmann und der Schriftsteller und Verleger Hans Rosenkranz [Chai Ataron], dessen Name in der Literaturgeschichte verschollen ist, sind im Sinne des Mottos 'Wider das Vergessen' die richtigen Beispiele für diese Diskussion. 11 Sturmann und Rosenkranz vertreten eine ostpreußische zionistische Gruppe, und obwohl viele persönliche Details fehlen, besonders 9

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Kurt Blumenfeld: Erlebte Judenfrage. Stuttgart 1962, S.49-99; Jehuda Reinharz: Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jew 1893-1914. Ann Arbor 1975, S. 144-170; Stephen M. Poppet: Zionism in Germany. Philadelphia 1972, S.45-67. Siehe Blumenfeld, ebd., S.88-99. Poppel, ebd., S.50-67. Siehe Heinz Gerling: Abschied von Manfed Sturmann. In: M B (Mitteilungsblatt, Tel Aviv), Jg. 57, Nr. 45 (1989), S.6. Vgl. D o v Amir (Anm.5), S.82-83. Das Motto 'Wider das Vergessen' verweist auf eine Ausstellung, die von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) und der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt am Main veranstaltet wurde. Sie behandelt Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die in der Zeit des Nationalsozialismus unterdrückt und dann nach 1945 vergessen wurden. Die Ausstellung wurde im Mai 1989 von der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek (Jerusalem) übernommen.

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im Falle von Rosenkranz, sind einige Stationen und die jüdisch-zionistische Problematik ihrer Karriere doch zu skizzieren. Manfred Sturmann, den Nieraad in seinem Aufsatz über deutschsprachige Literatur in Palästina/Israel erwähnt und der als Nachlaßverwalter Else Lasker-Schülers bekannt ist, wurde 1903 in Königsberg geboren. Er trat sehr früh in den zionistischen Wanderbund "Blau-Weiß" ein 12 und studierte in Königsberg, Breslau und München. Im Sinne Blumenfelds distanzierte er sich nicht ausreichend von der deutschen Kulturwelt, sondern war in den zwanziger Jahren bestrebt, ein Bestandteil der deutschen Literaturszene zu werden. Einerseits schrieb er zionistische Erzählungen, war Mitglied der Organisation und schrieb Kritiken und Artikel für die zionistische "Jüdische Rundschau"; andererseits veröffentlichte er auch Buchbesprechungen, Gedichte und Erzählungen, die keine zionistischen Elemente enthalten, sowie Texte, die allenfalls unter spezifischen Lesebedingungen zionistisch ausgelegt werden könnten. 13 Er stellte sich durch diese Gedichte und Erzählungen als ostpreußischer Heimatdichter, als Natur- und Landschaftsdichter vor, und in diesem Sinn erschienen seine Werke in sehr angesehenen Anthologien, etwa in dem 1926 von Otto Heuscheie herausgegebenen Sammelband Jungdeutsche Lyrik, der innerhalb von zwei Jahren in siebter Auflage erschien, in der von Willi Fehse und Klaus Mann 1929 herausgegebenen Anthologie jüngster Lyrik oder in der von Erich Ebermayer, Klaus Mann und Hans Rosenkranz 1928 herausgegebenen Anthologie jüngster Prosa. Seine Erzählung Elegie an der Küste im Almanach der "Ostdeutschen Monatshefte" auf das Jahr 1926 ist auch in diesem Zusammenhang von Interesse. Im Jahre 1929 wurde Sturmann der erste Lyrik-Preis der Stadt München verliehen. 14 Nieraad betont im Zusammenhang mit dem Fall Sturmanns, daß Emigration in der Regel den Abbruch der literarischen Laufbahn bedeutete, auch wenn gelegentliche, meist wirkungslose Veröffentlichungen in deutschsprachigen Verlagen nach dem Krieg möglich waren. 15 Dies ist richtig, insofern das europäische Publikum wegfiel. Gleichwohl hat dieser Autor nie aufgehört, in deutscher Sprache zu dichten und zu veröffentlichen. Sturmann, der schon 1923 Nachdichtungen zur althebräischen Lyrik mit einer Einleitung von Arnold Zweig veröffentlichte 16 und so sein Interesse für Hebräisch 12

13

14

15 16

Nieraad, Deutschsprachige Literatur in Palästina und Israel (Anm.2), S.97. Nieraad lehnte es ab, Sturmanns Werke kritisch zu analysieren. Siehe z.B. Manfred Sturmann: Versuch über Arnold Zweig. In: Zweig, Die Aufrichtung der Menorah. Berlin 1930; Sturmann: Die Berufung. In: Das Zelt (1924/25), S. 157; Sturmann: Hiob. In: Hochland 24,11 (1926-27), S.383. Vgl. Sturmann: Erinnerung an Georg Trakl. In: Die neue Bücherschau (1926/27), S.256-257; Sturmanns Antwort auf ein Rundschreiben über Literatur und Politik. In: Die Kolonne 1 (1930), S. 10. Willi Fehse und Klaus Mann (Hrsg.): Anthologie jüngster Lyrik. Hamburg 1929; Erich Ebermayer, Klaus Mann, Hans Rosenkranz (Hrsg.): Anthologie jüngster Prosa. Berlin 1928. Vgl. Manfred Sturmann: Die Erben. Berlin-Grunewald 1929. Nieraad, Deutschsprachige Literatur in Palästina und Israel (Anm.2), S.97.

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belegte, veröffentlichte nach der Ankunft in Palästina auch hebräische Erzählungen. Aber er selbst hegte Zweifel an seiner Fähigkeit, sich dichterisch natürlich auf Hebräisch ausdrücken zu können, und beschränkte sich bald auf Werke in deutscher Sprache. 17 Sturmanns Versuch, sich während der zwanziger Jahre im deutschen Kulturraum zu etablieren, muß als Gegensatz zur Realisierung seiner zionistischen Identität verstanden werden. Man kann darüber spekulieren, warum diese Versuchung in seinem spezifischen Fall ihn von seinen zionistischen Zielen ableitete; die Aussichten auf gesellschaftlichen Erfolg stellten jedenfalls weltweit ein natürliches Hindernis für die zionistisch orientierte Jugend dar. Sturmanns Zögern, nach Palästina auszuwandern, ist ebenso auf dieses generelle Problem zurückzuführen wie das Versäumnis, seine Grundkenntnisse im Hebräischen weiterzuentwickeln. Zionistische Texte, die Sturmann zu dieser Zeit niederschrieb, weisen entsprechend problematische literarisch-polemische Formulierungen auf. Seine Novelle Abschied von Europa, die zuerst 1928 veröffentlicht wurde, bietet ein gutes literarisches Beispiel für die Substitution des Autors durch den fiktiven Helden: die angeblichen ideologischen Prinzipien des Autors werden dichterisch realisiert, damit der lebende Autor sie nicht in der Wirklichkeit zu realisieren braucht. Das erzählende Ich verläßt Europa, um als Feldarbeiter in Binjamina eine neue jüdische Lebensform - angeblich zum Wohl der Menschheit - zu gewinnen. Der gebildete junge Held erklärt: Ich bin Chaluz, gehöre zu den Juden, in denen Volksbewußtsein und Nationalstolz erwacht ist, welche die Judenfrage Europas auf die ehrlichste und, wie ich annehme, einzig mögliche Weise gewillt sind zu lösen. Ich bin im Begriff, Europa zu verlassen, um in Palästina mir und denen, welche kommen werden, ein Völkerheim errichten zu helfen. Ich liebe diese endlosen nördlichen Flächen [...] ich bin wie die Menschen dieser Ebene geworden [, ... aber] das Blut, das in mir fließt, ist nicht ihr Blut, und darum ist es strittig geworden mit dieser Landschaft. 18 Die fiktionale Entscheidung für Palästina und den Zionismus reflektiert eine gleichzeitige Ablehnung europäischer Existenz, die - im Sinne Oswald Spenglers - auf der Mentalität des Untergangs beruht. Während des Abschiednehmens entwickelt sich im letzten Moment eine sentimentale Liebesbeziehung zwischen dem jungen Helden und einer verheirateten nicht-jüdi17

Manfred Sturmann: Althebräische Lyrik. Nachdichtungen. München 1923. Manfred Sturmann: Abschied von Europa. In: Anthologie jüngster Prosa (Anm. 14), S.74. Der A. W. Mytze Verlag (Berlin) veröffentlichte 1983 diese Novelle neu unter dem Titel Heimkehr in die Wirklichkeit. Vgl. auch Fred Silberman: Manfred Sturmann: 'Heimkehr in die Wirklichkeit'. In: Neue deutsche Hefte 30 (1983), S.596-597. Silberman beschreibt die Novelle folgendermaßen: "ein feines kleines Stück deutschsprachiger jüdischer Literatur aus den Jahren der Vornazi-Zeit [...] ein Beispiel für eine positive Abwendung deutscher Juden von ihrem Geburtslande".

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sehen Frau, die er früher in Breslau gekannt hatte. Sie befürwortet seine Pläne wie folgt: Es ist gut, daß Sie fortgehen. Helfen Sie neue Menschen zeugen, Menschen, die wieder einen Zusammenhang fühlen mit dem Erdboden. [...] Retten Sie, was an Bewegung noch lebt, hinüber in Ihr neues Land! 19 Die beiden verbringen eine glückliche Liebesnacht, bevor der Held Europa verläßt; während die Arbeit als Chaluz im Land der Zukunft ihn angeblich 'veqüngt', stellt sich heraus, daß sie schwanger ist. Die Zeilen ihres Briefes an den Geliebten sind zugleich die Schlußzeilen des Textes. Sie fühle sich nicht wert, sein Kind zu gebären: Ich hätte dieses Kind mit meinem Blute genährt, um seinetwillen meine Kinder verlassen und es Dir gebracht, daß es einmünde in den neuen Kreis, den Du zu ziehen hilfst. 20 Die übertriebene Sentimentalität dieser Zeilen verweist auf einen Teilaspekt des zionistischen Mythos: das Abschiednehmen wird nicht allein als Antwort auf die Judenfrage in Europa verstanden, sondern der Zionismus wird zugleich funktionalisiert als Gegenmittel gegen die europäische Dekadenz, die auch von sympathischen Nichtjuden abgelehnt wird. Der Zionist steht jenseits der veralteten moralischen Werte Europas. Seine sexuellen Fähigkeiten, die seine Lebenskraft und Naturverbundenheit sowie seine geistige Befreiung verdeutlichen, stehen im Gegensatz zur Erschöpfung der ermüdeten Männer Europas. Die dargestellte Männlichkeit des Zionisten soll der aussterbenden und schwächlichen Weiblichkeit der europäischen Dekadenz gegenüber überzeugend positiv wirken. Wie mehrere deutsche Zionisten besuchte auch Sturmann vor seiner Emigration das Land Israel; der literarische Niederschlag des Besuchs findet sich in seinem 1937 erschienenen Palästinensischen Tagebuch. Dieser extrem positive, enthusiastische Bericht ist charakteristisch für diese Art zionistischer Propaganda - sei es in dichterisch-fiktiver Gestaltung wie etwa in Max Brods Roman Zauberreich der Liebe (1928) oder, wie hier, in einer Art von sehr persönlichem Journalismus. Sturmann vermittelt "das ungeheure Erlebnis, Erez Israel zum ersten Mal zu sehen", und obwohl er selbst hervorhebt, daß "man sich von jedem Anflug von Romantik befreien muß, wenn man das Land sehen will, wie es ist", sind seine Darstellungen meist phantasievolle Übertreibungen, die dem deutsch-jüdischen Leser die zionistischen Bestrebungen als durchaus positiv näherbringen sollen. Der Text basiert auf vier leicht erkennbaren, aber manchmal zum Teil quasi-paradoxalen literarischen Strategien. Es findet sich erstens der vorteil19 20

Ebd., S.87. Ebd., S.92.

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hafte Vergleich von jüdischen Institutionen in Palästina mit den modernen europäischen Gegenstücken, und auch die palästinensischen Landschaften werden mit den bekannten europäischen verglichen. Zum Beispiel erinnert eine Landschaft in Galiläa an das bayerische Voralpenland, der Kibbutz Merchawia ähnelt eher einem deutschen Gutshof als einer Siedlung in Erez Israel. Das Kupat Cholim-Krankenhaus in Afula - in Wirklichkeit ein schäbiges, vernachlässigtes Provinznest im südlichen Galiläa - wird so beschrieben: Diese Klinik ist eine kleine Stadt für sich. Sie pulsiert von Leben. Ambulante Kranke kommen und gehen. Ärzte und Schwestern eilen durch das Treppenhaus. Es blitzt von Ordnung und Sauberkeit, man hat durchaus den Eindruck, in der Klinik einer europäischen Großstadt zu sein [...] in den Mußestunden werden die schönsten Konzerte veranstaltet [...]. 2 1 Zweitens wird aufgrund abstrakter, unbeweisbarer Beobachtungen eine idealistische oder gar utopische Zukunft im Land prophezeit, die in absehbarer Zeit verwirklicht werden könne. Den "einheitlichen Rhythmus der neuen Lebensform" beschreibt der Autor beispielsweise so: [...] alle sind bereits unter einen Mantel genommen, und es wird nur noch einige Jahre dauern, bis die Generation der Olim zu der Einheit zusammengeschweißt ist, die wir erstreben. 22 Drittens werden gefährliche Verhaltensweisen und unhöfliches Benehmen der Sabras (Hebr.: einheimische, im Land geborene [zionistische] Juden) mit allzu großer Geduld hingenommen, etwa wenn ein Fahrer rücksichtlos die Landstraßen in Galiläa hinunterfährt: Seine großen Hände liegen mit spielerischer Leichtigkeit auf dem Steuerrad. Die Straße ist steil und kurvenreich. Manchmal glaubt man über den Straßenrand zu kippen. Einer Dame [...] geht das etwas auf die Nerven - doch ihre verschämten, aber oft wiederholten kleinen Schreckensrufe stören uns nicht. 23 Nach einem kurzen Gespräch mit dem Fahrer ist Sturmann von seiner "bärenhaften Freundlichkeit" angetan: Ich könnte mit diesem Mann, der auch während der Unruhen ununterbrochen seinen Dienst versah, bis ans Ende der Welt fahren. An seiner Seite würde nichts passieren. 24

21

22 23 24

Manfred Sturmann: Palästinensisches Tagebuch. Aufzeichnung einer Reise. Berlin: Jüdischer Buchverlag 1937, S. 12. Ebd., S.7. Ebd., S. 17. Ebd., S.18.

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Der neue jüdische Menschentypus, den der Zionismus schafft, steht in starkem Gegensatz zu der religiösen älteren Generation, die in ihrer Armut hilflos in Zefat herumlungert und vegetiert. Viertens schließlich gehört es zu Sturmanns Strategien, den arabischen Aufstand, der zur Zeit seiner Reise voll und blutig im Ging war, allenfalls zu erwähnen, aber nicht ernsthaft zu schildern. Zwar findet er Worte für "das bunte Gewühl des arabischen Teils" der Städte 25 , aber darüber hinaus wird nur sehr wenig berichtet, was diese idyllische Darstellung stören würde. Es mag sein, daß diese Art Propaganda bei Sturmann als verspätete Kompensation dafür zu verstehen ist, daß er seine zionistischen Prinzipien vor der Nazizeit nicht realisieren konnte. Aber Sturmann war keineswegs der einzige, der solche Literatur produzierte. Es besteht innerhalb des deutschen Zionismus eine starke Trennung zwischen den 'post-assimilatorischen' Zionisten (Blumenfeld), die vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Palästina auswanderten, und denjenigen, die erst nach 1933, 1935 oder sogar 1938, also "im letzten Moment" 26 , die endgültige Entscheidung zur Auswanderung treffen konnten, obwohl sie sich schon lange vorher mit dem Zionismus und seiner Siedlungspolitik identifizierten. Die Heftigkeit der Polemik Gershom Scholems gegen Martin Buber kann nur im Rahmen dieser Auseinandersetzung verstanden werden: als Enttäuschung darüber, daß er nicht zur richtigen Zeit, d.h. kurz nach dem Ersten Weltkrieg, nach Palästina kam, zusammen mit der jungen Generation der deutschen Zionisten, auf die Buber selbst so wesentlich im zionistischen Sinne Einfluß ausgeübt hatte. Scholem schreibt: [Buber] hatte diese Jugend aufgerufen, ins Land Israel zu gehen und aus schöpferischem Antrieb die Gestaltung des neuen Lebens, das dort wachsen sollte, zu unternehmen. Sie hat ihm nie verziehen, daß er nicht mit ihr gegangen ist, als die Stunde schlug. Sie verstand nicht, daß der Mann, der so lange Jahre hindurch mit solcher Beredtsamkeit die "Krankheit, Verzerrung und Tyrannei" eines entstellten Judentums im Exil diagnostiziert und bekämpft hatte, nicht in ihrer Mitte war, als es in dem großen Umbruch [...] galt, lebensmäßige Konsequenzen daraus zu ziehen. 27 Sturmann hatte vor wie nach seinem Besuch in Palästina Gedichte über zionistische Themen geschrieben, aber man bemerkt ein neues vorwiegend zionistisches Interesse seinerseits erst nach der Machtergreifung der Nazis. Gedichte wie Hachshara oder Das Bekenntnis, die 1935 in der Sammlung Her25 26

27

Ebd., S.9. Gershom Scholem: Martin Bubers Auffassung des Judentums. In: Scholem, Judaica II. Frankfurt a. M . 1970, S.136. Ebd., S.134-135. Scholem hegte sehr früh (aber nicht öffentlich) Zweifel an Bubers Deutung des Chassidismus. Vgl. Maurice Friedman: Interpreting Hasidism: The BuberScholem Controversy. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute (London), XXXIII (1988), S. 449-467.

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kunfi und Gesinnung. Jüdische Gedichte erschienen, belegen eine starke zionistische Orientierung, mithin eine deutliche Entwicklung gegenüber den kurz zuvor im Jahre 1934 veröffentlichten Gedichten der Sammlung Wunder der Erde, in denen Landschaften und Naturereignisse europäischer Orte gefeiert werden. Wenn das lyrische Ich in Sturmanns Gedicht Die Heimat (Wunder der Erde) auf "die Scholle, die uns nährte" verweist, deutet es liebevoll auf Ostpreußen, während in der zweiten Sammlung Herkunft und Gesinnung diese deutschheimatliche Stimmung, die die frühere Sammlung als Ganzes charakterisiert, fehlt. Eine neue Einstellung tritt hervor, die auf Grund der Kontinuität mit der jüdischen Vergangenheit eine vielversprechende zionistische Zukunft ermöglicht. Im Gedicht Das Bekenntnis z.B. heißt es: Die Wunder der Erde Verstummt sind sie jetzt [...] Nun sind wir Erbe, Kettenglied in der langen Reihe der Ahnen geworden.28 Wunder der Erde hat Sturmann "meinem Freunde Hans R." gewidmet. Dieser Hinweis auf Hans Rosenkranz bestätigt die enge Freundschaft zwischen den beiden, zu der sich Rosenkranz seinerseits bekennt. "Manfred Sturmann, als Dank für seine Freundschaft und für viele Treue." 29 So lautet z.B. die Widmung zu seiner 1932 in englischer Übersetzung veröffentlichten Studie über Cervantes und El Greco, Wetterleuchten in Toledo (El Greco and Cervantes in the Rhythm of Experience). Rosenkranz stammte aus Insterburg, nicht weit von Königsberg entfernt, und wie Sturmann kam auch er sehr früh zum Zionismus. Am 6. November 1922 schrieb Stefan Zweig an Rosenkranz: Freilich: Sie wollen nach Palästina! Ich fühle das Schöne, das Anfordernde dieses Entschlusses. Aber etwas hemmt mich, Ihnen das zuzusprechen, und das will ich Ihnen offen erzählen. Danach folgt die Geschichte eines Siebzehnjährigen, der als Zionist ins Land Israel kam und nach einem Jahr in Palästina an Malaria starb. Zweig rät dem jungen Rosenkranz, diesen Opferdienst' nicht zu wagen.30 Unterschiedliche Quellen verweisen auf Rosenkranz' hoffnungsvolle literarische Karriere und auf seinen Flirt und die Identifikation mit dem Zionismus vor 1933. Er scheint in vieler Hinsicht das typisch jüdische Wunderkind gewesen zu sein, ein juvenis mirabilis, der später weder in der deutschen noch in der jüdischen Literaturgeschichte zu finden ist. Als Gymnasiast 28

29

30

Manfred Sturmann: Wunder der Erde. Leipzig 1934, S.23. Vgl. auch Sturmann: Herkunft und Gesinnung. Berlin: Erich Reiss, 1935, S.8. Hans Rosenkranz: El Greco and Cervantes in the Rhythm of Experience. (Transl. by Marcel Aurousseau). London 1932. Stefan Zweigs Briefe an Rosenkranz befinden sich im Privatbesitz. Ich danke Hanna Jakobsen (Tel- Aviv) für die Einsicht in die Sammlung von 26 Briefen und 6 Karten.

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verfaßte Rosenkranz eine Broschüre über Thomas Mann (1925 veröffentlicht), in der dessen schriftstellerische Karriere mit Hinblick auf seine Entwicklung analysiert wird; die besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Frage, wie sich Mann von der europäischen Dekadenz befreite - ein Lieblingsthema der damaligen europäischen Zionisten. 31 1927 erschien eine kurze Monographie über Spinoza, in deren hebräischer Inschrift behauptet wird, daß "in [Spinoza] sich das ganze Galuthschicksal der Juden manifestiert" 32 ; auch dies ist sehr typisch für die zionistische Kritik an Spinoza, die ihn in der Regel als den "ersten großen Assimilanten" betrachtet. In den zwanziger Jahren war Rosenkranz wie Sturmann aktiver Mitarbeiter bei der zionistischen "Jüdischen Rundschau". 33 Zur gleichen Zeit ungefähr, 1928, ist Rosenkranz als talentvoller junger deutscher Verleger aktiv: er ist Inhaber des Berliner Verlags J. M. Spaeth. Unter der Leitung von Rosenkranz hatte der Verlag begrenzten Erfolg. Die 1928 bei Spaeth erschienene Anthologie jüngster Prosa, die Rosenkranz zusammen mit Erich Ebermayer und Klaus Mann herausgab, enthält neben Beiträgen von Joachim Maas, Georg von der Vring und Ciaire Göll auch Sturmanns bereits kommentierte Erzählung Abschied von Europa. Weitere Werke Sturmanns, Ebermayers und von der Vrings wurden bei Spaeth veröffentlicht, zum Beispiel Ebermayers Novelle Das Tier und seine dramatische Legende Kaspar Hauser (1928) sowie von der Vrings berühmter und erfolgreicher Kriegsroman Soldat Suhren (1927). Für Ebermayer war Rosenkranz zu dieser Zeit einem Brief an Stefan Zweig zufolge der einzige wirklich geniale Verleger in Berlin. 34 Geschäftlich unerfahren, geriet Rosenkranz bald in finanzielle Schwierigkeiten. Das Adressbuch des deutschen Buchhandels für 1930 teilt mit, daß der Spaeth-Verlag erloschen war - knapp zwei Jahre, nachdem Rosenkranz ihn übernommen hat. Einen gewissen literarischen Ruhm in der deutschen Kulturwelt erntete Rosenkranz 1931 mit seiner bei Ullstein erschienenen Biographie über Ferdinand Graf von Zeppelin. Die Einführung zu diesem Bestseller, "Der Mensch und die Technik", ist von besonderem Interesse: wie in der Studie über Cervantes und El Greco oder im Spinoza-Aufsatz kommt Rosenkranz' Begabung zur Geltung, einen gut lesbaren Text zu schreiben, in dem unter31 32 33

34

Hans Rosenkranz: Thomas Mann und das zwanzigste Jahrhundert. Berlin 192S. Hans Rosenkranz: Baruch Spinoza zum 21. Februar 1927. Berlin 1927. Vgl. z.B. Hans Rosenkranz: Martin Buber als Erzieher. In: Jüdische Rundschau Nr. 11 (7. Februar 1928), S.80; ders.: Baruch Spinoza zu seinem 250. Todestag. In: ebd., Nr. 14 (27. Februar 1927), S.95-96; ders.: 'Ulrike Woytich' von Jakob Wassermann. In: ebd., Nr.3 (11. November 1924), S. 16. Ebermayer schrieb am 4. Juli 1920 an Stefan Zweig: "Die Überzeugung, daß Rosenkranz heute der einzig geniale junge Verleger ist, wird allmählich allgemein." Weiterhin ist vom "fanatischen, brennenden Ehrgeiz" des Autors die Rede. Erich Ebermayers Briefe an Stefan Zweig befinden sich im Stefan-Zweig-Archiv der Reed Library, SUNY-Fredonia, New York. Ich danke John Saulitis, Yvonne Wilensky und Joanne Schwiek für ihre Hilfe während und nach meinem Forschungs-Besuch in Fredonia.

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schiedlichste Denker und Dichter nach klassischen wie modernen Quellen dargestellt werden. Besonders interessant im Hinblick auf die damaligen Zeitgeschehnisse nach dem großen Erfolg der NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1930 ist der Kommentar zu Zeppelins "fanatisch alldeutscher Weltauffassung": [...] als alter Offizier und als ein Mensch, der in feudalen Vorstellungen aufgewachsen war, hatte [er] tausendmal eher das Recht, im Nebel des chauvinistischen Dunstes sich zu verirren, als viele Politiker und manche sogenannte Intellektuelle, die heute, wo die Konjunktur sich geändert hat, wieder Europa im Munde führen. 3 5 1933 kam Rosenkranz nach Palästina, und von diesem Zeitpunkt an weiß man sehr wenig über seinen Lebensweg. Nach Manfred Sturmann war er ein brillanter Redner für den "Keren Hajessod", er reiste im Kampf um den Zionismus, wie man damals zu sagen pflegte, viel ins Ausland. 3 6 Beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges brachte er es in der jüdischen Brigade in Ägypten bis zum Hauptmann. Er sandte zu dieser Zeit Artikel und Buchbesprechungen in englischer Sprache an die Jerusalemer Zeitung "Palestine Post". 3 7 Unter seinem hebraisierten Namen Chai Ataron heiratete er 1950 Ruth Weiss, die bis in die frühen achtziger Jahre als Übersetzerin deutscher Texte ins Hebräische tätig war. Hans Rosenkranz-Chai Ataron endete durch Selbstmord. Die wenigen biographischen Details dieses Falls sind zu spärlich, um ein vollständiges Bild wiedergeben zu können; das Schicksal von Hans Rosenkranz jedenfalls war keine Ausnahme, wenn es auch nicht gerade als exemplarisch verstanden werden sollte. Inwiefern das besondere Exil-HeimkehrErlebnis eventuell zu seinem Selbstmord führte, bleibt heute eine offene Frage. Hinzuzufügen ist, daß eine journalistische Tätigkeit in englischer Sprache nicht untypisch für deutschsprachige Einwanderer war, die manchmal den Übergang zum Englischen viel leichter empfanden als den zum Hebräischen. Hier aber scheint der Journalismus ausschließlich Brotberuf gewesen zu sein. Trotz der Hebraisierung des Namens sind, was in dem zionistischen Kontext von Bedeutung ist, keine Werke von RosenkranzAtaron in hebräischer Sprache nachweisbar. Dieser Fall könnte wirklich ein Beispiel sein für den endgültigen Abbruch der literarischen Karriere eines 35

36 37

Hans Rosenkranz: Ferdinand Graf v. Zeppelin. Die Geschichte eines abenteuerlichen Lebens. Berlin 1931, S.190. In einem Brief Manfred Sturmanns vom 8. März 1982 an den Verf. Vgl. z.B. die folgenden Artikel u. Buchbesprechungen von Hans Rosenkranz in der "Palestine Post": How 'Monty' Took Over in Egypt (3. August 1945); Introduction to History (6. September 1946); Decay of Diplomacy (4. Dezember 1946); History Without Jews (21. März 1947); The Vatican and Politics (19. September 1947).

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deutsch-jüdischen, zionistisch eingestellten Literaten nach der Ankunft in Palästina; aus welchen Gründen dies geschah, bleibt unbekannt. Unter den etwa siebzigtausend deutschen Juden, die zwischen 1933 und 1939 nach Palästina kamen, befanden sich Schriftsteller und Dichter, die vorher dem Zionismus nicht nähergekommen sind. Sie betrachteten dieses Land als ein zeitlich begrenztes oder permanentes Asylland. Diese Schriftsteller hatten wie andere Nicht-Zionisten wenig mit den Zielen des Zionismus im Sinn, sie haben sich von seinen politischen und kulturellen Zielen distanziert, indem sie fortfuhren, deutsche Literatur zu produzieren, um nach dem Krieg - in Europa oder in der Welt - wieder ein deutsches Publikum zu finden. Max Zweigs Darstellung seiner Lage mag hierfür ein Beispiel sein: Ich landete in Jaffa am 3. Juli 1938. Alle meine Lebensumstände wurden radikal umgestürzt. Das Ziel und der Sinn meines Lebens blieben unverändert. 3 8 Gleichgesinnte Gruppen strebten an, nach der Ankunft in Palästina und auf Grund der Realität des praktischen Zionismus eine neue jüdische Identität zu erwerben. In diesem Sinn schrieb Werner Kraft: Ich wußte nun eindeutig und für immer [d.h. nach 1933], daß ich kein Deutscher war, daß ich Jude bin. 3 9 Die Fortsetzung der literarischen Arbeit in deutscher Sprache folgte bei Kraft praktischen Gründen, aber auch dem Umstand, daß "er halt gar nicht anders konnte." 4 0 Gerade die Tatsache, daß überhaupt eine Rechtfertigung erforderlich war, ist vom zionistischen Standpunkt aus gesehen von großer Bedeutung. Deutsch-zionistische Schriftsteller "konnten auch manchmal nicht anders", wie Sturmanns Karriere bestätigt. Infolgedessen waren die persönlichen Konsequenzen für die zionistischen Schriftsteller weitreichend, da ihre Unfähigkeit, die deutsche Kultur zu verlassen, die eigene Begrenztheit bewies und den in Anspruch genommenen ideologischen Prinzipien entgegengesetzt war. In diesem Zusammenhang ist zu bemerken, daß die nach 1948, nach dem Befreiungskrieg von Sturmann veröffentlichten Werke - verglichen mit den früheren enthusiastischen Schriften - nüchtern oder melancholisch zur Realität des Zionismus und zum täglichen Leben im Land Stellung beziehen. Vielleicht ist diese literarische Entwicklung zum Teil aus der Perspektive dieses Versagens zu verstehen. Die poetische Stimme des 1941 veröffentlichten Ge38 39

40

Max Zweig: Unter der N.S. Herrschaft. In: Neue deutsche Hefte 33 (1986), S.291. Kraft (Anm.3), S.9. Trotzdem konnte Kraft zugleich behaupten: "Die deutsche Sprache und der deutsche Geist blieben mir - trotz des ungeheueren Frevels, der von Deutschland ausging - mein Zentrum." Vgl. Nieraad (Anm.2), S.17. Jörg Drews: Nachwort. In: Gershom Scholem, Briefe an Werner Kraft (Anm.3), S. 152.

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dichts Heimweh drückt das Gefühl aus, daß die Ankunft im Land Israel keine automatische Heimkehr bedeutete: Herr, wir weinen nach einem Hort, Gönne uns Heimat und Rast. 41 In Sturmanns 1953 erschienener Erzählung Regen beschreibt der Erzähler die rasende Wut des Heimkehrers nach dem Befreiungskrieg, der zu müde für Zukunftsgedanken ist. Jerusalem zeigt ihm kein freundliches Gesicht, und die weiche Luft der Stadt liegt ihm beklemmend auf dem Herzen. 42 Diese Beschreibung steht im starken Gegensatz zu der immer erfrischenden Luft des Landes, die für seine früheren Werke charakteristisch ist. Die Bücher, die mit List aus Europa herübergerettet worden [waren ...] und einstmals ein Dach über [s]einem zerrissenen Leben [waren], sind tote Gegenstände geworden. Was sagen Sie [ihm] noch? 43 In der Erzählung Die Hunde scheint das Land "aufgedunsen wie ein Leichnam, der lange im Wasser gelegen [hat]", und die Redeweise im Kibbutz, der bei Max Brod als "Zauberreich der Liebe" fungierte, wird jetzt als "ängstlich", "ärgerlich oder gleichgültig" beschrieben". 44 Andere deutsch-zionistische Literaten, wie etwa Rosenkranz, gaben ihre schriftstellerischen Karrieren auf und widmeten sich anderen Projekten oder dem Zionismus selbst. Wieder andere - etwa Ludwig Strauß, Josef Kastein, Baruch Kurzweil, Esriel Carlebach, Emanuel Bin Gorion, Isaak Breuer oder Noemi Frenkel - haben mehr oder weniger doch den Übergang zu einer hebräischen schriftstellerischen Existenz gefunden. Unter den jüngeren Olim aus deutschsprachigen Gebieten, die für eine Erfassung des deutschen Kulturraums bei ihrer Auswanderung noch zu jung waren, finden sich neue wichtige Talente der hebräischen Literatur: zu denken ist etwa an Yehuda Amichai, geboren 1924 in Würzburg, der 1935 nach Palästina kam, und an Tuvia Ruebner, ebenfalls Jahrgang 1924, der von der Slowakei aus 1941 nach Palästina floh. Nach Curt Wormann und anderen haben sich die deutschen Olim der fünften Alijah im Vergleich zu allen anderen Wellen der Immigration in der Tat als die fleißigsten Schüler der hebräischen Sprache erwiesen. 45 Die positive Einwirkung der deutschen Olim auf verschiedenen gesellschaftlichen Gebieten des Landes Israel war erheblich, besonders im Schulwesen, in den politischen Parteien, in der Industrie, in der Kunst, im Theaterwesen, an den 41 42 43 44 45

Manfred Sturmann: Gedichte. Jerusalem: Peter Freund 1941, S.7, 14. Manfred Sturmann: Regen. In: Kreatur (St. Gallen: Tschudy Verlag) 1953, S.114. Ebd., S. 110-111. Manfred Sturmann: Die Hunde. In: ebd., S.132. Curt Wormann: German Jews in Israel. Their Cultural Situation since 1933. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute (London) XV (1970), S.73-103.

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Universitäten, Bibliotheken, Archiven, in der Justiz, im Verlagswesen, in der Journalistik. Dies ist auf die größtenteils erfolgreiche zionistische Akkulturation zurückzuführen, die von der Mehrzahl der nichtzionistischen deutschen Olim vollzogen wurde. Diejenigen deutschen Zionisten, die, wie Arnold Zweig, von den Lebensverhältnissen im Land und der Realität des Zionismus verbittert und enttäuscht waren, sowie nichtzionistische deutsche Juden, die sich im Land nie zu Hause fühlten und den Zionismus letztendlich ablehnten, verließen früher oder später das Land und suchten oder erwarben neue Identitäten überall in der Welt. Bis heute ist diese Tendenz im geschichtlichen Prozeß des Zionismus stark ausgeprägt.

Dafna Mach (Jerusalem)

Yon der deutschen zur jüdisch-hebräischen Kultur: Die Märchen für Kinder von Ludwig Strauß

Es liegt nahe, gerade in den Märchen für Kinder von Ludwig Strauß einen Niederschlag der Übersiedlung des Dichters von Deutschland nach Palästina/Israel zu suchen, denn die ersten acht sind noch in Deutschland entstanden 1 , ein neuntes im Frühjahr 1933, das zehnte im April 1934 und das elfte im Anschluß an Strauß' Erkundungsreise durch Palästina im Spätsommer 1934. Ihre Entstehung verdanken die Märchen wohl dem älteren Sohn von Ludwig und Eva Strauß (geb. Buber), der damals im ersten Märchenalter war. Er und seine etwas älteren Cousinen, die Töchter von Rafael Buber, die in Heppenheim bei den Großeltern aufwuchsen, waren die ersten Hörer der Märchen. Deren biographisch bezeugte mündliche Entstehung hat sich zum Besten der schriftlichen Fassung ausgewirkt: Wortwahl und Syntax sind anspruchsvoll und dabei kindgemäß; der pädagogische Impetus des Erzählers bezieht den sprachlichen Bereich bewußt mit ein. 2 In seine Ausgabe der Dichtungen und Schriften von Ludwig Strauß 3 hat Werner Kraft die Märchen nicht aufgenommen. Vielleicht liegt dem keine Wertung zugrunde, aber bei der Seltenheit der jeweiligen Erstveröffentlichungen Straußscher Werke ist dem heutigen Leser alles nicht in die Gesamtausgabe Aufgenommene faktisch doch verschlossen. Mit den Märchen fehlt ihm eine wesentliche Komponente im Gesamtbild des Dichters Ludwig Strauß: der Vater und Pädagoge. Schon die Bewahrung dieses wichtigen Aspekts rechtfertigt eine gesonderte Behandlung der Märchen für Kinder, zumal sie qualitativ seiner übrigen erzählerischen Produktion in nichts nachstehen. 1

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Im selben Brief an Martin und Paula Buber, in dem Ludwig Strauß die Geburt seines zweiten Sohnes meldet (3. September 1931) spricht er von "den Märchen" als von einem fertigen Buch, für das er einen Verleger suche. Seine Briefe sind zitiert nach: Briefwechsel Martin Buber - Ludwig Strauß. Hrsg. v. Tuvia Rübner u. Dafna Mach. Frankfurt a. M. 1990. Daß Ludwig Strauß sich dieser Dichtungen für Kinder nicht geschämt hat, geht u.a. daraus hervor, daß er zwei davon am 14. September 1931 im Westdeutschen Rundfunk gelesen hat (belegt in den Briefen Nr. 144 und 145). Im September 1934 plante Ludwig Strauß "ein Buch über Palästina für die Kinder der Galuth" (dazu Brief Nr. 203 vom 10. September 1934). Ludwig Strauß: Dichtungen und Schriften. Hrsg. v. Werner Kraft, mit einem Geleitwort v. Martin Buber. München 1963.

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Zunächst will ich den Bestand der Erstveröffentlichung referieren, jeweils mit kurzen Hinweisen auf vergleichbare Motive aus der europäischen oder jüdischen Erzähltradition sowie auf etwaige Bezüge zur Biographie von Ludwig Strauß. In ähnlicher Weise skizziere ich dann die drei nachträglich hinzugefügten Märchen sowie die mit ihrer Einfügung verbundene Umstrukturierung der ganzen Sammlung. Das vorgelegte Material kann uns, unter Einbeziehung des Straußschen Gesamtwerks, als Grundlage für Überlegungen dienen, wie weit Ludwig Strauß überhaupt die Merkmale aufweist, die wir bei der Untersuchung der bisher betrachteten deutsch-jüdischen Emigranten oder Exulanten beobachtet haben. Die ersten acht Märchen 4 präsentieren sich folgendermaßen: Die Eingangssituation der Titelgeschichte Die Zauberdrachenschnur scheint direkt aus dem Tapferen Schneiderlein entlehnt: Ein Junge namens Kasper schlägt, im Wipfel eines Baumes verborgen, einen Wolf in die Flucht und rettet dadurch einem Zauberer das Leben. Zum Dank wird er in dessen Zauberschloß mitten im Walde mitgenommen, wählt dort eines unter drei Geschenken - eben die Zauberdrachenschnur -, mit deren Hilfe entrinnt er den Nachstellungen des Wolfes, den er zähmt, hilft einen Mühlstein transportieren, rettet einen Bauernhof vor dem drohenden Bergrutsch, verpflanzt einen Kirschbaum und verschafft sich und seinen Kameraden viel Spaß. Ausgangspunkt ist eine moralisch gute Tat, die ihren Lohn erhält und ihrerseits weitere gute Taten ermöglicht, die jeweils einen hohen Grad an Gemeinnutz aufweisen. Sympathisch wirkt die Mischung von Scherz und Ernst; dem Vergnügen wird ausdrücklich der Vorrang vor dem Nützlichkeitsprinzip zuerkannt, und durch zwanglosen Einsatz von MärchenRequisiten rings um die Begegnung mit dem Zauberer wird die kindliche Phantasie mit Anschauungsmaterial versorgt. Der Ikarus-Mythos bildet den Hintergrund des Märchens von der Wolkentochter, die handelnden Personen sind sozusagen Elementargeister, eine Wolke und ihre Tochter, doch werden ihnen ganz menschliche Verhaltensweisen zugeschrieben. Außerdem ist das Muster eines Warnmärchens zugrundegelegt: Die Übertretung des Verbots zeitigt die angedrohten verderblichen Folgen. Die Tochter unternimmt den lebensgefährlichen Flug zur Sonne nicht aus Hybris, sondern aus dem Wunsch heraus, von den Feuerblumen auf den Sonnenwiesen zu pflücken - ein Motiv, bei dem sich der Leser je nach Vorbildung an Persephone oder an Rotkäppchen erinnern mag. Das Wolkenkind stürzt zwar "wie tot" ins Meer, aber nach Einsammlung sämtlicher gepflückter Feuerblumen (in der Märchenmagie sind es die Totengebeine, die vollzählig sein müssen, damit die Erweckung zustandekommt), gelingt es der 4

Privatdruck Dezember 1932: Die Zauberdrachenschnur, Märchen für Kinder von Ludwig Strauß. Hrsg. vom Familienschutz, gemeinnütziger Verein für Hinterbliebenenfiirsorge der Mitglieder jüdischer Gemeinden e.V.

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der Mutter beim dritten Versuch, die Tochter aus der Unterwelt wieder "heraufzusingen" - hier hat offenbar Orpheus Pate gestanden. Die Wiederbegegnung ist ganz familiär gestaltet. Bedenkenswert sind die Schlußworte der Wolkentochter: "Aber die Feuerblumen, die gelben und roten, die setzen wir zu den Silberblumen in unsern Garten. Vielleicht wachsen sie an." Hier geht es um die unter Einsatz des eigenen Lebens versuchte Aussöhnung von einander konträr entgegengesetzten Elementen. So gewinnt dieser Text, der zunächst wie zusammengestückelt aus Motiven der klassischen Antike auf der einen, des deutschen Märchens auf der anderen Seite anmuten möchte, seine gewichtige Aussage. Abweichend von der Tradition des deutschen (Volks- wie Kunst-) Märchens spielt das Märchen Warum die Rur so große Bögen macht in einem geographisch exakt bestimmten Raum: Der Fluß entspringt im Hohen Venn und mündet in die Maas. Die Erklärung eines Natur-Phänomens ist in eine Märchenhandlung eingebaut: Es geht darum, die "drei schönsten Blumen der Welt" im Dürener Schloßgarten vor dem Verdursten zu retten. Das Flüßchen hat auf seinem Weg aus dem Hohen Venn allerlei Hindernisse zu überwinden: Der Zwergenkönig stellt zwar 3000 Arbeiter zwecks Aushebung des Flußbetts zur Verfügung, doch ein erstes Mal stören die Pflanzengeister der jeweiligen Umgebung den geradlinigen Flußlauf, weil sie das befruchtende Naß zu sich herlocken, ein zweites Mal sind es die sieben Ratgeber des Zwergenkönigs, deren Meinungsverschiedenheiten das Rettungswerk fast vereiteln, statt es zu fördern (diese Satire auf die Unfähigkeit von Experten dürfte den Verständnishorizont eines Kinderpublikums etwas übersteigen). Der Zwergenkönig greift jeweils ein und ruft das Flüßchen zur Ordnung, woraufhin es sich auf seinen Auftrag besinnt und selbst den rechten Weg findet. Dadurch erhält die Landschafts-Ätiologie eine ethische Komponente. Die handelnden Personen stammen durchweg aus dem Bereich der sog. 'unbelebten' Natur und der Pflanzenwelt, weder Menschen noch Tiere kommen vor. Das Märchen Vom Baum, der laufen konnte geht ebenfalls von einer beobachtbaren Landschaftserscheinung aus. Diesmal sind 'Personen' aus drei Bereichen beteiligt: ein Mann, ein Baum und ein Zauberer. Das Motiv des Außenseiters, der schließlich zum König wird, erinnert an Andersens häßliches kleines Entlein. Durch unbedachtes Eingreifen eines Menschen wird ein Tannenbaum aus seiner natürlichen Umgebung herausgerissen, doch derselbe Mensch verhilft ihm mit Hilfe eines Zauberers zur glorreichen Rückkehr in den Kreis seiner 'Brüder'. In diesem Märchen scheint die Problematik von Strauß' Übersiedlung nach Palästina bis in Einzelzüge vorweggenommen: Das isolierte Stehen am falschen Ort, die allmähliche Erkenntnis der eigentlichen Zugehörigkeit, die mühsamen Versuche, den rechten Ort zu erreichen, die Ernüchterung nach der Ankunft, die Abweisung durch die etablierte Gesellschaft auf Grund (wohl materiell zu verstehender) Instabilität - dies alles

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wird unsentimental und humorvoll geschildert und wirkt wie ein Präludium zur 'Einwurzelung' von Ludwig Strauß im neuen Lande, die in Etappen verlief und mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden war. So erscheinen die Waldbäume, die den Neuankömmling abweisen - mit dem Hinweis "Ein Baum ohne Wurzeln, Der muß doch purzeln" - wie eine Karikatur der 'Rechawjaten' 5 , die sich durch den Wegzug der Familie Strauß in einen Kibbutz so erleichtert fühlten 6 . Doch geht die Gegnerschaft nicht tief; der durch nochmaliges Eingreifen des Zauberers etablierte Tannenkönig wird mit den Worten anerkannt: "Jetzt wird er nicht purzeln, Jetzt hat er ja Wurzeln". Erinnern wir uns daran, daß Ludwig Strauß ja auch in Deutschland schon schwer um eine Existenzgrundlage zu ringen hatte, und sein Schwiegervater war derjenige, der den Zauberer zu spielen versuchte, um ihm zu einem gesicherten Auskommen zu verhelfen. Mit dem Märchen Gernegut und sein Wecker wechselt der Erzähler von der Natur in den menschlichen Bereich. Die Traumstimme als auslösendes Moment und die Helferfigur des Uhrmacher Wunderlich verleihen der Handlung einen leichten übernatürlichen Einschlag, doch insgesamt verläuft sie ganz auf der Ebene der realen Wirklichkeit. Es geht um ein universales Problem: die Überwindung des bösen Triebs durch den guten. Wie sein Name sagt, wäre der Junge Gernegut "so gerne immer gut gewesen, und eigentlich war er ja auch gut. Aber das Schlimme war, daß er es oft vergaß." Deshalb erhält er einen unsichtbaren Armbandwecker als Stimme seines Gewissens. Das Happy-end besteht, nach einem mißglückten Ausbruchsversuch, in der völligen Anpassung des Titelhelden an die Normen der Erwachsenenwelt: Er "wurde so gut, wie ers gerne hatte sein wollen". Die Gefahr des Moralisierens wird dadurch gebannt, daß die ziemlich lange Kette von Konfliktsituationen konsequent im Bewußtsein des Kindes gespiegelt wird, ohne Zwischenschaltung eines Erzählers. Dank seiner sorgfältigen Detailbeobachtungen und verständnisvollen Darstellung wirkt der Text trotz seiner eindeutig didaktischen Ausrichtung sympathisch - Kinder identifizieren sich mit dem Titelhelden. Völlig aus dem Rahmen des Märchens fällt der kurze Text Dampfreiterchen, der keinerlei Handlung enthält, sondern nur ein beobachtbares technisches Phänomen sozusagen mythologisiert: im Rauch jeder Dampflokomotive fährt ein Kobold mit, eine Art Klabautermann, und treibt seinen Schabernack. So erscheint die Technik mit Geistern belebt, nicht weniger als die Natur. Der Text mag als Beantwortung einer kindlichen 'Warum'-Frage entstanden sein. In Ermangelung anderer einschlägiger Faktoren sollen wohl die häufigen Erzählereingriffe die Aufmerksamkeit des jugendlichen Publikums garantieren. 5

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Bewohner des renommierten, damals überwiegend deutschen, Jerusalemer Stadtteils Rechawja. Vgl. dazu Briefe Nr. 235 und 236 vom November bzw. Dezember 1936.

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Einen ausgesprochen erzieherischen Zweck verfolgt Die Brautfahrt nach Schweigenland. Die Handlung setzt ganz märchenhaft ein: Ein Prinz ist vom Bild einer Prinzessin so bezaubert, daß er sie unbedingt zur Frau gewinnen will. Die für ihn zunächst unerfüllbare Bedingung besteht darin, daß er seinen Redeschwall drastisch eindämmen soll (wer denkt da nicht an Mozarts Papageno). Da er an dieser Aufgabe kläglich scheitert, versucht er, sein Ziel mit militärischer Gewalt zu erreichen, doch die ersehnte Braut entzieht sich ihm, bis er schweigen gelernt hat und die Sphärenmusik vernehmen kann. Dann allerdings folgt ihm die Prinzessin in sein Reich, d.h. die höhere Welt bleibt zwar erhalten, doch der Mensch vermag nicht auf Dauer darin zu verharren. Der Held begeht auf seinem Weg schwere Fehler, die Zurechtweisung erfährt er durch die Prinzessin selbst, und nach erfolgreich abgeschlossenem Lernprozeß erhält er seinen verdienten Lohn. Die lehrhafte Aussage besteht darin, daß gerade nicht das Aufgebot physischer Kraft, sondern durch Liebe getragene Selbstdisziplin zum Erfolg führt. Der jugendliche Held, der auszieht, um die Prinzessin zu erwerben, muß an sich selbst arbeiten, um seiner zukünftigen Gemahlin würdig zu werden - damit ist ein bekanntes Märchenmotiv verinnerlicht und ethisiert. Formal fällt der Verzicht auf Verse auf, d.h. die Dimension des Übernatürlichen ist hier ausgespart 7 . Der wiederum sehr kurze abschließende Text des Märchenbändchens Tag und Nacht ist ein kosmischer Mythos, eingeführt wie ein Rollenspiel: "Die Sonne war die Mutter, der Mond war der Vater, die Sterne waren die Kinder." Der ungebührlich lange Aufenthalt von Vater und Kindern, durch den die bis heute unaufgehobene Trennung der übrigen Familienmitglieder von der Mutter zustandekommt, wird durch die Erlösung der Dunkelheit gerechtfertigt. Man mag hier an den kabbalistischen Mythos denken, wonach die Erlösung durch die allmähliche Erhebung der ins Dunkel abgestürzten göttlichen Funken zurück zu ihrem Ursprung geschieht. 8 Nun ziehen die Getrennten auf steter Suche nacheinander um den Erdball, wobei sich der Erzähler nicht zu gut dünkt, den astronomischen Sachverhalt auf kindgemäße Weise zu veranschaulichen. Der Text und mit ihm der ganze Band schließt mit dem eschatologischen Ausblick: "Wenn sie aber doch einmal sich wiederfinden, dann ist der schönste Tag. Dann scheinen Sonne, Mond und Sterne zu gleicher Zeit."

Aus dem deutschen Kunstmärchen hat Ludwig Strauß die Einstreuung von Versen übernommen: Meist gereimte Zwei-Zeiler, bisweilen auch strophische Gebilde, werden überwiegend Naturwesen wie Wellen und Zwergen, Tieren und Pflanzen, in den Mund gelegt, ferner kommen sie als Traumstimme vor, und als Beschwörungsformeln werden sie von natürlichen wie übernatürlichen Personen verwendet. Dem heutigen Leser sind die Grundzüge der lurianischen Kabbala leicht zugänglich in den Schriften von Gershom Scholem, etwa: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957, 7. Kapitel. Ludwig Strauß dürfte keinen eigenständigen Zugang zu kabbalistischen Quellen gehabt haben; seine Kenntnisse waren wohl hauptsächlich durch die chassidischen Schriften seines Schwiegervaters vermittelt.

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Im April 19339 berichtet Strauß von einem noch ungedruckten Märchen, das bei einer öffentlichen Ausgabe hinzukommen solle: offenbar das Märchen vom Wellenkind, das er an drittletzter Stelle, zwischen Dampfreiterchen und der Brautfahrt nach Schweigenland in die vorhandene Sammlung eingeschoben hat. Das lange Zeit kinderlose Ehepaar, dessen Kinderwunsch auf durch die Frau ausgelöste magische Weise (vgl. Schneewittchen) schließlich doch in Erfüllung geht, hat zahlreiche Vorläufer, nicht nur im deutschen Märchenschatz, sondern auch in biblischen Erzählungen 10 . Die exponierte Wohnlage am Meeresstrand erinnert von weitem an den Fischer un syne Fru, die Problematik des Wesens aus dem Wasser, das der Menschenwelt nicht völlig angehört, läßt an Undine denken, die Schwimmhäute zwischen Fingern und Zehen des Wellenkindes an den Fischschwanz der Kleinen Meerjungfrau. Parallel zu dem Kontrast der beiden Elemente Land und Meer steht die Auseinandersetzung des Menschen mit den Meergeistern. Die Faszination, die das nasse Element auf das Kind ausübt, während die Erwachsenen nur die Bedrohung sehen, wird mit der Herkunft des Knaben aus dem Meer begründet. Hier stehen die poetischen Einlagen an zentraler Stelle: Die Erkenntnis der bestehenden Zugehörigkeit des Kindes zum Bereich des Meeres vollzieht sich im Gesang der Meereskinder, den die Mutter belauscht; die neue erwünschte Zugehörigkeit zur Land- und Menschenwelt wird durch den Gesang der Mutter gesetzt 11 ; die Kommunikation des Menschenpaares mit den Beherrschern des Meeres geschieht selbstverständlich in Versen. Wenn der Mensch schweigt, vermag er die Meergeister wahrzunehmen, und es ist die Frau, die das erforderliche Wahrnehmungsvermögen besitzt. Nur durch Einsatz des Lebens der Eltern kann das Kind, das seinerseits am Erlösungsgeschehen unbeteiligt bleibt, ganz Mensch werden. In diesem Märchen versucht der Mensch nicht, gegen die Übermacht des Elements anzukämpfen, sondern ihm seine positiven Seiten abzugewinnen. Insofern ist die vorläufige Gewährung des Kindes für den Fischer und seine Frau eine Prüfung, die sie durch Unterordnung und Hingabe bestehen. Die als Zauber gedeutete Spannung zwischen Verlockung und Gefahrdung wird nicht ausgetragen, sondern in diesem einen Sonderfall aufgehoben; daraus resultiert eine liebevolle Beziehung des betroffenen Menschen zu dem überwundenen Element. Die Entfaltung der im Stoff angelegten Problematik wird (vielleicht im Hinblick auf das kindliche Publikum) durch Einbettung in anschauliche Alltagsszenen aufgehalten.

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Brief Nr. 168 vom 11. April 1933. Das bekannteste Beispiel ist wohl Abrahams Sohn Isaak, vgl. Gen 18,9-16 und 21, 1-7. Ihr Lied erinnert an eines (Nr. 49) aus den Jüdischen Volksliedern, der kleinen Sammlung für die Bücherei des Schocken-Verlags, die Strauß im Januar 1935, bereits auf dem Weg nach Palästina, noch rasch fertigstellte.

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Mitte April 1934 meldet Ludwig Strauß "ein zehntes Märchen im Werden" 12 . Es handelt sich um Der alte Krug13, das Märchen mit der Elia-Thematik 14 . Die Schlußworte des Erzählers scheinen zu jenem Zeitpunkt nicht nur Ludwig Strauß, sondern der ganzen deutschen Judenheit so recht aus dem Herzen gesprochen: "Möge er [der Prophet Eliahu] auch uns begegnen, wenn wir uns verirrt haben, und uns helfen, wenn wir in Not sind, wie Jerachmiel [dem bedrängten Familienvater im Märchen] und den Seinen!" Im Titel Der alte Krug könnte die Dialektik zwischen altem Krug und neuem Wein 15 angedeutet sein. Der Töpfer Jerachmiel, "ein jüdischer Handwerker", der "von weither nach Jerusalem" zog, "weil er in der Heimat seiner Väter leben und sterben wollte" 16 , scheitert zunächst an der Aufgabe, einen alten Krug exakt nachzubilden. Der Prophet Elia hilft ihm dabei, indem er eine magische Verbindung zwischen dem Schöpfer des Urbildes und dem des Nachbildes herstellt. Der Vorgang wird ausgelöst durch den kleinen Sohn des jüngeren Töpfers und in dessen Bewußtsein gespiegelt - das ist hier das einzige Zugeständnis an den Interessenhorizont eines Publikums von Kindern. Die auf Anregung des Jungen unternommene Labyrinth-Wanderung durch unterirdische Gänge, auf der Jerachmiel und sein Sohn wie erhofft dem Propheten Elia, dem traditionellen Retter von Juden aus individueller und kollektiver Not, begegnen, führt zum Ausgangspunkt, in die Töpferwerkstatt in der Jerusalemer Altstadt, zurück: Die Lösung besteht nicht in physischer Flucht, sondern im Hinabsteigen in die eigene Vergangenheit. Die lange Geschichte von dem ungleichen Paar, dem Riesen Ratapomm und dem Zwergenmädchen Biridini, die einander bestimmt sind, aber erst durch das Eingreifen eines Zauberers, den sie zu diesem Zweck in seine geraubte Machtstellung wieder einsetzen helfen, beide in Menschengröße ver12

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Brief Nr. 196 vom 15. April 1934 (geschrieben während eines Erholungsaufenthalts bei Albrecht Schaeffer und dessen Familie am Chiemsee). Die hebräische Übersetzung der Märchen von Dan Pagis (erstmals erschienen 1960, sprachlich revidierte Neufassung 1986) wählt dieses Märchen als Titel-Geschichte und setzt es an den Schluß der Sammlung; die Reihenfolge dort lautet: 1) Die Brautfahrt nach Schweigenland, 2) Die Zauberdrachenschnur, 3) Wolkentochter, 4) Das ungleiche Paar, 5) Vom Baum, der laufen konnte, 6) Dampfreiterchen, 7) Tag und Nacht, 8) Wellenkind, 9) Der alte Krug. Das Fehlen der ätiologischen Sage Warum die Rur so große Bögen macht leuchtet ohne weiteres ein; Gernegut und sein Wecker ist wohl von Wortwahl und Umwelt her so im deutschen Milieu verhaftet, daß seine Übertragung in einen anderen Kulturbereich zu schwierig schien. Die Figur des Propheten Elia hat Ludwig Strauß literarisch weiter beschäftigt: In den Jahren 1936 und 1937 arbeitete er an einem (offenbar unvollendeten) Epos Messianische Wanderschaft, aus dem Teile unter dem Titel Elijahu erzählt im Almanach des SchockenVerlags auf das Jahr 5697 [1936/37] abgedruckt sind. Im Frühjahr 1939, bereits im Jugenddorf Ben Schemen, schrieb er Baumeister Elijahu. Ein Legendenspiel in 5 Bildern, von dem eine deutsche und eine hebräische Fassung im Nachlaß erhalten sind. Sprüche der Väter IV 20. Man beachte die zionistische Spitze: "leben", nicht nur sterben, wie fromme Juden über Jahrhunderte hin.

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wandelt werden und einander daraufhin heiraten können, muß nach oder im Zuge der Palästina-Reise von Strauß im Spätsommer 1934 entstanden sein. Der Weg, den der junge Riese auf der Suche nach seinem Traummädchen aus dem judäischen Bergland bis in den Libanon zurücklegt, entspricht genau der Reise-Route von Ludwig Strauß in jenem Sommer. Die fiktiven Ortsnamen basieren auf hebräischer Grundlage, die dem deutschen Durchschnittsleser natürlich verborgen bleibt, auch die beiden Zauberer, der böse und der gute, tragen hebräische Namen 17 . Zwei Handlungsstränge sind ineinander verwoben: die Brautfahrt des jungen Riesen und das Schicksal eines guten Zauberers, dessen Position der böse usurpiert hat. Das Bindeglied zwischen beiden bildet der ältere Bruder des guten Zauberers, der dem Riesen zu Beginn seiner Wanderung den Kompaß schenkt, dessen Nadel "immer in die Richtung zeigt, in die man gerade gehen soll". Bei dieser Gelegenheit wird auch noch die Vorgeschichte eingeblendet, wie der wunderbare Kompaß in den Besitz des alten Mannes gelangt ist - für eine Kinder-Erzählung eine ungewöhnlich komplexe Handlungsstruktur. Im Haus des alten Mannes, der am Ende stirbt, findet das vereinte Paar sein neues Zuhause, dadurch wird die Härte des endgültigen Abschieds von der bisherigen Lebenssphäre gemildert. Eine Art Projektion auf die erwünschte Reaktion der Eltern Buber könnte man in der Darstellung der Zwergeneltern sehen, die wohl traurig darüber [waren], daß ihre Tochter nun von ihnen fortgehen wollte und ein Mensch werden und daß sie obendrein noch erst in den gefährlichen Zauberwald mußte, aber weil sie vernünftige Leute waren, dachten sie: wenn es ihr Glück ist, so wollen wir sie nicht daran hindern; und als sie den jungen Riesen kennenlernten, gefiel er "ihnen gut, so daß sie Vertrauen zu ihm faßten und etwas beruhigter waren." Tarnkappe und Flügelsandalen stammen aus der Requisitenkammer der europäischen Mythologie, spielen aber eine durchaus untergeordnete Rolle als technische Hilfsmittel. Wichtig ist die menschliche Dimension als der Treffpunkt der beiden Extreme. Das hilfreiche und das gegnerische Moment sind auseinander gelegt in zwei einander feindlich entgegengesetzte Zauberergestalten. Der Zugang zu den übernatürlichen Mächten, mit deren Hilfe allein der Konflikt gelöst werden kann, wird durch einen Menschen vermittelt, der zwar seinerseits Enkel eines großen Zauberers, letzten Endes aber ein gewöhnlicher Sterblicher ist. Die beiden letztgenannten Märchen, die ausdrücklich in Palästina spielen, hat Ludwig Strauß an die Spitze seiner im Dezember 1936, ebenfalls unter dem Titel Die Zauberdrachenschnur erschienenen 11 "Märchen für Kinder" 18 17 18

Lama Madua ("warum eigentlich") und Madualo ("warum nicht"). Band 69 der Bücherei des Schocken-Verlags, erschienen im Dezember 1936 (dazu Brief Nr. 234 vom 1. November 1936).

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gestellt. Innerhalb der Sammlung hat er daraufhin die Texte etwas umgestellt: Auf Das ungleiche Paar folgt Gernegut, dann erst Die Zauberdrachenschnur, zwischen die beiden Landschafts-Ätiologien 19 ist Die Wolkentochter eingeschoben. Thematische und erzählerische Entsprechungen erscheinen nicht mehr so sehr zwischen Nachbartexten als vielmehr von einem zum jeweils übernächsten Märchen gespannt. Hinzugekommen ist gegenüber der Erstausgabe der jüdisch-palästinische Bereich. Die beiden in Jerusalem bzw. in Palästina spielenden Märchen bilden zusammen mit dem kosmischen Mythos am Ende eine Art Rahmen, in den die von der europäischen, speziell von der deutschen Erzähltradition geprägten Texte unverändert eingestellt sind. Nunmehr spannt sich der Bogen von der Existenzbedrohtheit von Juden, aus der sie nur das wunderbare Eingreifen des göttlichen Boten zu retten vermag, bis in eine utopische Zukunft, in der die Dunkelheit durch die Wiedervereinigung der Lichtquellen endgültig überwunden sein wird. Dazwischen stehen Texte, in denen sich teils Menschen, teils menschlich gestaltete Geisterwesen um die Verbesserung der Welt, die Aufhebung von Widersprüchen oder die Korrektur von Fehlentwicklungen bemühen. Die Versöhnung von Gegensätzen ist ein zentrales Motiv unseres Erzählers, aber gerade der Gegensatz von Deutschtum und Judentum, von deutscher und jüdischer Kultur, wird nirgends problematisiert. Selbst im 'jüdischsten' der Märchen, Der alte Krug, ist die Existenzbedrohung (Schuldknechtschaft) keine spezifisch jüdische. Vielmehr erscheint das Jude-Sein des Betroffenen geradezu als Vorteil, denn dank dessen steht ihm der Prophet Elia als Helfer zur Verfügung. Eindeutig mitteleuropäisch-deutsch geprägte Texte stehen neben jüdisch-palästinischen; beide Komponenten in einem Text habe ich nicht gefunden. Das friedliche Nebeneinander der beiden Welten scheint mir charakteristisch nicht nur für das bescheidene Teil-Korpus aus dem Werk unseres Dichters, mit dem wir uns hier etwas eingehender beschäftigt haben. Solange Ludwig Strauß in Deutschland wohnte, lag der Schwerpunkt seines Schaffens im deutschen Bereich, doch die jüdische Komponente fehlte nicht. 20 Mit seiner Übersiedlung nach Palästina verschob sich der Schwerpunkt nach dort, doch die Beziehung zu deutscher Sprache und Kultur blieb bestehen. In beiden Schaffensphasen sind überwiegend Texte gemeinmenschlicher Thematik entstanden, die sowohl in der einen wie in der anderen Sphäre zu Hause sind. Ludwig Strauß ist ohne Bitterkeit aus Deutschland geschieden; sein Verhält19 20

Warum die Rur so große Bögen macht und Vom Baum, der laufen konnte. Als Student war Ludwig Strauß in der jüdisch-sozialistischen Bewegung haPoel hazai'r ('Der junge Arbeiter') tätig. Literarisch gestaltet er jüdische Themen in der Novelle Der Reiter (veröffentlicht 1929) und in den ersten beiden 'Geschichten' der Novellensammlung Die Botschaft (entstanden noch in den 20er Jahren, erschienen 1934 als Band 15 der Bücherei des Schocken-Verlags).

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nis zum Land Israel war ein sehr intensives, dabei unverkrampft, weil nicht durch gewaltsamen Verzicht erkauft. In der Reihe der Exil-Dichter, mit denen wir uns hier befassen, dürfte er damit einzig dastehen.

Birgit R. Erdle (München)

Verbotene Bilder Zur Interpretation des Exils bei Gertrud Kolmar

1. Void done, enfin, la definition de 1' image, de toutes les images: 1' image, c' est ce dont je suis exclu. 1 In seiner Studie über Maurice Blanchot entwickelt Emmanuel Ldvinas den Begriff einer "Authentizität des Exils" 2 , den er dem "ungestörten Besitzen" und dem "heidnischen Verwurzeltsein" 3 im Denken Martin Heideggers entgegen hält. Um zwei Weisen der Repräsentation von Sinn zu unterscheiden, stellt Levinas die Frage: "Ist denn das Nomadentum nicht Träger eines Sinns, welcher in einem Licht erscheint, das von keinem Marmor zurückgeworfen wird, nur vom Angesicht des Menschen?" 4 , wobei er das "Nomadendasein" als einen "Aufenthalt ohne Ort" 5 beschreibt. Ähnlich spricht Stephane Moses von der "Utopie einer Niederlassung, die keine Festkettung, eines Aufenthaltes, der keine Hörigkeit wäre. " 6 Für Levinas eröffnet das Exil eine Heimat (habitation) oder eine Implantation des Selbst, die im Sich-demAnderen-Zuwenden 7 - im Erinnern, im Sprechen, in der Anrede - entsteht. Das Denken Levinas' bringt daher das Exil in Zusammenhang mit einer ethischen Beziehung zwischen Ich/Selbst und Anderem. Dennoch trägt Levinas1 Diskussion des Exils eine auch für unsere Überlegungen kennzeichnende Problematik, auf die zuerst Edward Said aufmerksam gemacht hat 8 : Daß nämlich in der Rede vom 'Exil' die metaphorische oder figurale Verwendung des Begriffs (etwa im literaturtheoretischen Diskurs oder im Konzept des Existenzialismus) und die konkrete Erfahrung des

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Roland Barthes: Fragments d'un discours amoureux. Paris 1977. S.157. Emmanuel Levinas: "Maurice Blanchot - der Blick des Dichters". Eigennamen. München 1988. S.37. Livinas, ebd., S.39. Levinas, ebd., S.39. Livinas, ebd., S.37. Stiphane Moses: System und Offenbarung. Die Philosophie Franz Rosenzweigs. München 1985. S.139. Vgl. Emmanuel levinas: Noms propres. Paris 1976. S.54. Vgl. Edward Said: The Mind of Winter. Reflections on Life in Exile. In: Harper's Magazine, Sept. 1984, S.49-55.

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Birgit R. Erdle

Schmerzes einander ständig kreuzen, wobei es scheint, als würde die metaphorische Rede dazu neigen, das Konkrete (oder das Reale) auszuschließen. Wenn wir uns fragen, wie sich - soziologisch, psychologisch, historisch, politisch und diskurstheoretisch - der konkrete Ort: der exterritoriale Aufenthaltsraum beschreiben läßt, an dem Gertrud Kolmars Texte geschrieben wurden und der sich in sie einzeichnete, so stellen wir zunächst fest, daß dieser von den Kategorisierungen der Exilforschung nahezu ignoriert wird. Denn Kolmar ist eine Exulantin, die nicht emigrieren konnte - und dieses Faktum bezeichnet eine eigenartige, der Situation der Emigration gegenüber verzerrte Dislokation. Kolmar lebt in den dreißiger und vierziger Jahren bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz im Frühjahr 1943 in Berlin, wo sie 1894 als erste Tochter einer assimilierten Rechtsanwaltsfamilie geboren worden war. Nach dem erzwungenen Verkauf des elterlichen Hauses in Berlin-Finkenkrug am 23. November 1938 teilt sie mit ihrem später nach Theresienstadt deportierten Vater und einer wachsenden Zahl von Zwangsmietern eine ihnen zugewiesene Wohnung in Berlin, recht- und schutzlos, jeder Willkür ausgeliefert. 9 Mit der Flut neuer Verordnungen nach 1938 nimmt die äußerste Einengung des Lebens immer weiter zu: Verbote, sich zu organisieren, zu veröffentlichen, Bibliotheken und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, Parks und Wälder zu betreten... Die unheimliche Paradoxie dieses Exil-Ortes zeigt sich schon daran, daß Kolmar im Unterschied beispielsweise zu den in die USA geflüchteten Exulanten eine 'legale Identität' besitzt - ein Besitz, der aber eine Ausbürgerung - aus Recht, Gesellschaft und Welt überhaupt -bezeugt, weil er auf der Tilgung all dessen beruht, was vorher - d.h. seit der Aufklärung - kulturell mit den Begriffen von Legalität und Identität verbunden war. 10 Auch die Verbannung aus der "mother tongue", die Joseph Brodsky zum zentralen Ereignis der Exilierung erklärt, wenn er "the condition we call exile" als "first of all, a linguistic event" 11 bestimmt - ähnlich spricht Günther Anders in seinen Tagebüchern vom "Stammeldasein" des Exilierten 12 -, stellt sich an Kolmars Exil-Ort verzerrt (in gewisser Weise zugleich einfacher und komplizierter) dar: da sie Deutschland nicht verläßt, bleibt sie 9

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Vgl. eine Passage des Gedichts Die Tochter (Meinem Vater): "Und Gespräche wandeln, matt, alltäglich, / Fern dem blutdurchglänzten Schrei, / Der sich hebt und aussagt, was unsäglich". Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. München 1960. S.42. Vgl. Hannah Arendts Schilderung der absurden Situation der Exilierten (in "We Refugees"; Menorah Journal, Jan. 1943, S.69-77) und ihre bittere Feststellung, daß die Illegalität der Staatenlosen die "jetzt wörtlich gewordene Weltlosigkeit der Juden als Exilierte" mit sich bringt (Dagmar Bamouw: Der Jude als Paria. Hannah Arendt über die Unmündigkeit des Exils. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. Bd.4: Das jüdische Exil und andere Themen. München 1986. S.44). Joseph Brodsky: The Condition We Call Exile. In: The New York Review of Books, Jan. 7, 1988, S. 16-19. Günther Anders: Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941-1966. München 1967. S.89.

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einerseits im geographischen Raum ihrer "mother tongue", erleidet also nicht den Sprachverlust der Emigranten; andererseits aber setzt die - wie Kolmar konstatiert - zum Gebrüll formierte deutsche Sprache eine andere Variante sprachlicher Verbannung in Gang, die in einigen ihrer Texte als eine Art Stammel- oder Verstummtdasein thematisiert wird und auf die sie schließlich mit (verlorengegangenen) Texten in hebräischer Sprache antwortet. Zwei Datierungen markieren die geographische und historische Stelle, an der Kolmars Texte - abweichend von sehr vielen Texten der 'Exilliteratur' und selbstverständlich in einer uneinholbaren Differenz zum Ort unserer Lektüren - situiert sind: das INNEN (in Deutschland) als geographische Notierung und das DAVOR (vor der Shoah) als historische Notierung (die die Linie des Historischen brechen wird). Angesichts des Terrors, dem sie ausgesetzt ist, schrumpft für Kolmar die Zeit, nicht nur die eigene Lebenszeit, sondern auch die historische Zeit. Die den Glauben an ein 'anderes Deutschland' bekräftigende Vorstellung des Nazismus als 'Pest', als eine Krankheit, die eine 'an sich heile' Kultur befallen habe - wie sie von etlichen deutschen Emigranten, etwa von Heinrich Mann, bekannt ist -, kommt bei Kolmar nicht vor. Die Ruptur ihres privaten Lebens, die das irreversible Herausgerissensein aus vertrauten Bezügen, aus jedem zeitlichen und sozialen Kontinuum bedeutet, kehrt in Kolmars Texten wieder in Metaphern der Abtrennung, der Entwurzelung und der 'dechirure'. Jean Amery hat - ebenfalls aus der Perspektive der Assimilation -darauf hingewiesen, daß der Widerruf der Vergangenheit "als soziales Phänomen" 13 durch die nazistische deutsche Gesellschaft die subjektive Identifikation mit der Vergangenheit abgeschnitten hat: Ich war kein Ich mehr und lebte nicht in einem Wir. Ich hatte keinen Paß und keine Vergangenheit und kein Geld und keine Geschichte. Nur eine Ahnenreihe war da, aber die bestand aus traurigen Rittern Ohneland, getroffen vom Anathem. 14 In dem zitierten Satz Amerys ist das Ich ein Name, der einen mehrfachen, von der materiellen bis zur sozialen Existenz reichenden Verlust und eine Ahnenreihe referiert; ähnlich scheint auch für Kolmar das Exil einen Zwischenraum oder ein Vakuum zu markieren, das sich auftut zwischen dem gewaltsamen Benanntwerden in der herrschenden Sprache, entsprechend der nazistischen Norm, und in der jüdischen Tradition bewahrten, verlorenen "Namen [...], die mir wieder gemäß" [LW 37] 15 , die aber erst wiedergefunden und erneut entziffert oder erinnert werden müssen. 13

14 15

Jean Amiry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Amery, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Uberwältigten. Stuttgart 1977. S.99. Am6ry, ebd., S.78. Ich zitiere nach folgenden Textausgaben: Gertrud Kolmar: Das lyrische Werk. München 1960 [ = LW]; Eine jüdische Mutter. München 1978 [ = J M ] ; Frühe Gedichte (19171922). Wort der Stummen (1933). München 1980 [ = FG-WS].

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Anstatt also die Konzeption des Ich in Kolmars Texten zu untersuchen - eines Ich, das das Leben eines Paria führt: einerseits wandernd, flüchtend und verfolgt, andererseits isoliert und statisch, aus dem öffentlichen Raum ausgestoßen und in Ab-Orten eingeschlossen, in marginalen Räumen, die es bergen und verwahren (zu den Lebenden nicht mehr und zu den Toten noch nicht gehörig) -, möchte ich hier eine andere durch die Texte gezogene Linie aufzeichnen: nämlich die Konstruktion eines Zusammenhangs von Bild und Tötung. Welche Revision des Bild-Verbots - als Verbot einer bestimmten Form der Symbolisierung oder eines bestimmten Verfahrens der Repräsentation unternehmen Kolmars Texte, und in welchen Kontext piazieren sie es? Ich möchte zunächst - um zugleich auch das Thema der 'Ahnenreihe' aufzugreifen - eine stichwortartige Lektüre des in der ersten Person Singular verfaßten Gedichts Ewiger Jude anbieten, das zu dem 1933 geschriebenen Zyklus Das Wort der Stummen [FG-WS 213] zählt. Gegenüber den seit Mitte des 19. Jahrhunderts in deutschsprachigen Texten überwiegenden AhasverKonstruktionen, die sich nach Ansicht Adolf Leschnitzers durch Mythisierung und Symbolisierung auszeichnen, wobei die beiden Eigenschaften des Mythischen und des Symbolischen "an die Stelle der zahlreichen konkreten Züge" 1 6 getreten seien, verfolgt Kolmars Text eine Strategie der De-Mythisierung und der Re-Konkretisierung. (Umgekehrt könnte diese Strategie auch ein Verfahren genannt werden, das eine Streichung oder einen Ausschluß, nämlich den der historischen Konkretheit, rückgängig macht.) Dabei handelt es sich um eine zeitliche und eine körperliche Konkretisierung. Ahasver ist in Kolmars Text ein alter, halbtoter Mann, bekleidet mit einem zerrissenen Kaftan, abstoßend häßlich aufgrund seiner Verfolgung, unbeholfen-lächerlich aus Angst, Unsicherheit und Erschöpfung ("[...] ich tast mit blöden Händen um die Mauern meiner Wiederkehr" [FG- WS 213]). Seine Augen sind "nur Aschenhöhlen" [FG-WS 213] - erblindet von dem, was er gesehen hat, den Pogromen, mit deren Spuren sie angefüllt sind. Keine metaphysische Begründung, sondern eine ganz konkrete erklärt, warum der alte Mann sich nicht ausruhen kann: denn "an den Wänden vor den Häusern steht die Bank nicht mehr" [FG-WS 213]. Auch die Beschreibung seines Körpers vermeidet ein schnelles Entgleiten ins Metaphorische, indem sie den physischen Schmerz konkretisiert ("[...] meine Rippen hart und faßbar schon wie Totenbein" [FG-WS 213]). Obwohl einerseits eine Anonymisierung der Gewalt erkennbar ist - sie geht aus von "Lippen", vom "Schritt", vom "Blick" und von der' "Stimme" -, wird

16

Adolf Leschnitzer: Der Gestaltwandel Ahasvers. In: In zwei Welten. Siegfried Moses zum 75. Geburtag. Hrsg. v. Hans Tramer. Tel Aviv 1962. S.483.

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andererseits die Herkunft des ununterbrochenen Flüchtens demythisiert und konkretisiert, nämlich in dieser Gewalt. Der Haß wird in Verbindung gebracht mit einer Stelle am Körper des alten Mannes, auf seiner Stirn, die beschriftet ist mit Zeichen, die für ihn selbst nicht mehr lesbar sind, deren Existenz er nur vermutet. Genau dies ist auch die Stelle, an der Kolmars Text in der überlieferten Ahasver-Fiktion verankert ist. Doch während im späten Mittelalter Ahasvers endloses Leben aus einer Gotteslästerung erklärt und Ahasver einem "uralten christlichen Wunschtraum" 17 folgend als reuiger büßender Sünder imaginiert wird, bringt Kolmars Version zwei andere Textfiguren ins Spiel: einerseits das Motiv der nicht mehr entzifferbaren Schrift und andererseits den konkreten, physischen Effekt der Wunsch- und Haß-Fiktion des 'ewigen Juden' im aktuellen Moment, d.h.. in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Eigenschaft des 'Ewigen' wird hier der Verfolgung zugesprochen, deren historische Wiederholung eine ahistorische Geschichte erzeugt. Die gegenwärtige Verfolgung wird beschrieben als Effekt einer Fiktion, die eine antisemitische Lektüre der nicht mehr lesbaren Schrift hervorbringt und die diese Lektüre festlegt und befestigt durch den "Blick", der ein "gelbes Zeichen [...] auf meine Lumpen näht" [FG-WS 214], Die Schrift auf der Stirn, Zeichen der Erwählung, 18 wurde also umgedeutet in einen Makel, ein Schmutzzeichen, in eine Sündenschrift. 19 Der Körper ist die Fläche, in die sowohl die (für den Juden selbst) nicht mehr entzifferbare Schrift als auch die stigmatisierende Lektüre dieser Schrift (durch die Nichtjuden) eingezeichnet ist. 20 Damit verschiebt Kolmars Text einerseits die Befestigung des "gelben Zeichens" in den Blick, andererseits thematisiert er ein Verfahren der Symbolisierung: denn der Blick der namenlosen "sie", der am Körper des Juden ein Mal befestigt und ihn dadurch in ein Zeichen verwandelt, benutzt diesen Körper als Zeichenträger, das heißt den lebenden Menschen als Repräsentanten der herrschenden symbolischen Ordnung - oder umgekehrt, die Zeichen der herrschenden symbolischen Ordnung werden durch die gewaltsame Verkörperung stabilisiert, belebt und autorisiert (was natürlich im Sinne von L£vinas ein heidnischer Akt ist). Kolmars Text situiert diesen sprachlichen Gewaltakt - der der Realisierung (Verkörperung) einer Fiktion dient, indem der Körper als leere Fläche für die Bezeichnungen der Herrschenden benutzt 17 18 19

Leschnitzer, ebd., S.482. Zum Beispiel Deuteronomium 11,18. "Ist bemakelt / Meine Stirn mit wunderlicher Schrift? So verworren, so gekrakelt, / Daß sie nirgends mehr den Deuter trifft. / Meine Sünden / Müssen alle da geschrieben stehn / Mit den Namen, mit den Gründen: / Seht sie an; ich kann sie selbst nicht sehn." [FG-WS 214]. Vgl. eine Passage des Gedichts Die Leugnerin, in der "Gott" am eigenen Körper festgemacht wird: "Er war mir angewachsen als die Haut, / Von Glut geschwächt, in Frösten aufgerauht, / Ganz fahl und wund gebeizt von bittren Laugen. / Und fiel als Lid auf jedes meiner Augen." [LW 136],

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wird, wobei die Differenz zwischen Körper und Zeichen auf eine definitive, spurlose Weise getilgt wird - innerhalb der ausgeübten physischen Gewalt. Die Erstellung eines Bildes wird dadurch als ein Prozeß vorgeführt, der sprachliche und physische Gewalt unauflösbar aneinanderknüpft. Die beabsichtigte Fatalität dieser Verknüpfung liegt darin, daß sie unkündbar ist, unwiderrufbar - das Bild "a toujours le dernier mot" 21 . Kolmars Thematisierung der 'Ahnenreihe' läßt also, einerseits den Versuch erkennen, ihre eigene Situation in eine Tradition der Verfolgung einzufügen. Gleichzeitig aber dient die Thematisierung dieser Tradition schon einem Abtasten des Zusammenhangs von Bilderstellung und Mord. Zwar scheint es die antisemitische Gewalt zu sein, die Kolmars Ahasver die unleserliche Schrift auf seinem Körper in Erinnerung ruft - und damit auf die Problematik der Assimilation deutet -, doch wird auch unmißverständlich klar, daß die Unlesbarkeit der Schrift getilgt und an ihrer Stelle ein eindeutiger Sinn, repräsentiert in dem "gelben Zeichen", festgelegt wird - und zwar von einer Instanz (in Kolmars Text sind es die Blicke der Nichtjuden, in Jean-Francois Lyotards Aufstellung differenter Diskursarten die totalitäre nazistische 'Gesetzgebung' 22 ), die die Macht der Deutung und der Signifikation in sich versammelt. Und dieser Signifikation kann Kolmars Ahasver nicht entkommen. Über Kolmars Verhältnis zur jüdischen Tradition gibt ein Text Aufschluß, der nicht genau zu datieren, aber auf jeden Fall vor 1938 entstanden ist: Die Jüdin [LW 36], Als Metonymie der Tradition fungieren "Türme" [LW 36], die den Körper der Frau einhüllen und schützen sollen. Das Innere dieser Türme wird beschrieben als eine zerfallende, wüstenhafte und verlassene Ruine, die sich aus vielen Binnenräumen zusammensetzt, so daß sie einen polylogisch strukturierten, geschichteten und gezeitigten Raum bildet. Das erzählende weibliche Ich bewegt sich in diesem Raum und verkleidet sich mit den mythischen Gewändern der Vergangenheit, die "in Truhen, verschüttet vom Staube, liegen [...] tot" [LW 37], Das Einwurzeln in die Verkleidung/überlieferte Erzählung ("Ich kleide mich staunend. [...] um mich starren die schimmernden Breiten wie Schutz, und ich wachse ein" [LW 37]) bietet indessen nicht nur Schutz, sondern führt zu einer erneuten Entstellung des Selbst: "Nun seh ich mich seltsam und kann mich nicht kennen" [LW 37], Kolmar semantisiert die Ruine als einen diskursiven Raum, der die Struktur eines Textes besitzt - eines Textes, der nicht nur entziffert werden kann, sondern der auch seinerseits das in ihm umhergehende Ich entziffert, in dem das Ich zugleich liest und gelesen wird: "[...] ein Lied will mit Namen mich 21 22

Barthes (Anm. 1), S. 157. Vgl. Jean-Francois Lyotard: Der Widerstreit. München 1987. S. 173-182 (157. - 160.).

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heißen, die mir wieder gemäß. Himmel rufen aus farbigen Zeichen" [LW 37], Der Raum ist beschriftet mit Zeichen, die rufen, die das Ich anreden, wie in der alttestamentlichen Erzählung Gott Adam anruft. Die Anrede ist in der Schrift. Andererseits bildet die Ruine auch einen anamnetischen Raum: indem das Ich ihn betritt, beginnt es, die aus Zeichen, Stimmen, Farben, Stoffen und Tönen bestehende Schrift der Überlieferung rückwärts zu lesen, um einen Kommentar Walter Benjamins zu einer der Parabeln Franz Kafkas aufzugreifen. Diese rückwärtige oder archäologische Lektüre läßt sich als ein Erinnern verstehen, das der Rettung einer nicht repräsentierbaren Vergangenheit dient. Im Unterschied zu Benjamins Auffassung der Geschichte als einer Anhäufung von Trümmern, derzufolge der Erinnerungsprozeß Bruchstücke der Vergangenheit einsammelt, beschreibt Kolmar das Erinnern als ein Auswickeln archivierter Gegenstände - und bei diesen Resten handelt es sich nicht um Trümmer realer Vergangenheit, sondern um Fragmente erzählter Geschichte, also um Bruchstücke von Zeichen. Die Metonymie der Tradition, die Kolmars Text entwirft, stellt daher die Verräumlichung einer vergangenen Zeit dar, die als Erzählung aufgefaßt und aufbewahrt wird. Kolmar scheint die Rückkehr zur jüdischen Tradition als Lektüreprozeß zu interpretieren. Dieser dissimilatorische Akt wird nicht nur als Möglichkeit einer Bindung des isolierten Ich verstanden, sondern auch als WiderstandsForm, im Sinne einer Formulierung Kolmars zu Beginn der dreißiger Jahre: "Wir müssen nur wieder in uns hineingehn; dahin kann uns keiner verfolgen" [JM 231]. Die metonymische Figurierung läßt aber gleichzeitig eine Auffassung der Tradition als Allegorie im Sinne Benjamins zu - denn sie wird als textueller Raum vorgeführt, dessen referentielle Bezüge sich auf Zeichen richten (auf Signifikanten also, nicht auf Signifikate) und der als Schrift, die zugleich lesen und gelesen werden will, "fixiertes Bild und fixierendes Zeichen in einem" 23 ist. Die an die erneute Entzifferung der Tradition gebundene Suche nach "Namen [...], die mir wieder gemäß", setzt der kollektiven antisemitischen Namensgebung, der sich Kolmar unterworfen sah, Widerstand entgegen. Den Zusammenhang von Bezeichnung und Tilgung des Eigennamens thematisiert ein zwischen 1918 und 1922 entstandener früher Text Kolmars, Die Aztekin [FGWS 96], der eine später häufig variierte semantische Figur einführt - die Streichung des Gesichts. Wieder in der ersten Person Singular (weiblich) verfaßt, handelt der Text von der Liebe einer aztekischen Frau zu einem spanischen Mann ("Sonnensohn" [FG-WS 97]). Er empfindet Ekel vor ihrer "rötlichbraunen Haut" [FG-WS 96]; und seinen "Brüdern", die vor ihrem "häßlich-sonderbaren Antlitz [...] zögern" [FG-WS 97], befiehlt er, "den zarten, winzigen 23

Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt am Main 1978. S.161.

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Kopf mir ganz [zu] umwinden mit schwerem schwarzen Schleier, daß mich keins aus deinem Volke mehr erblick und fürchte." [FG-WS 97] Der Text, der einen Bezug zu dem historischen Vorgang der Kolonisierung Mexicos durch die Spanier herstellt, mir aber dennoch als Kommentar zur deutsch-jüdischen 'Symbiose' lesbar erscheint, verknüpft einerseits die geschlechtliche Differenz mit einer kulturellen, andererseits übersetzt er eine ethische Situation im Sinne von L£vinas in Begriffe einer 'kolonialen Situation', wie sie von Albert Memmi beschrieben wurde 24 . Die hier skizzierte Beziehung zwischen Frau und Mann ist nicht dialogisch, sondern kolonisatorisch - der Mann kolonisiert den Körper der Frau, wenn er die Verdeckung ihres Gesichts anordnet. Von der Position des Mannes aus gesehen ist diese Verdeckung ein Akt der Verschmelzung und der Identifikation, unter dem Dualität in Einheit übergeht und der, wie L6vinas schreibt, "les horizons de Γ existence sociale" 25 verschließt. Aus der Perspektive der Frau, der Augen und Mund verbunden werden, ist die Blendung und das Verstummen (eine noch nicht mörderische, sondern nur usurpatorische Gewalt) die Bedingung für eine Beziehung zu dem Mann. Der Grundriß des symbiotischen Modells, der hier skizziert wird, zeigt die Konstitution eines (männlichen) Selbst, dessen Definition auf einer Tilgung des (weiblichen) Anderen basiert. Die in der Aztekin thematisierte Verdeckung des Gesichts - als Bedingung einer Beziehung - ist mit Levinas lesbar als Tilgung des Eigennamens. Les noms de personnes dont le dire signifie un visage - les noms propres au milieu de tous ces noms et lieux communs - ne r6sistent-ils pas ä la dissolution du sens et ne nous aident-ils pas ä parier? 26 Im Denken Lövinas' nimmt das menschliche Gesicht die Stelle ein, an der die Spur des Anderen (autre) erscheint. Im Gesicht teilt sich der Andere (Γ autre) leibhaftig und unmetaphorisch als Anderer mit, das heißt als das, was sich nicht offenbart und nicht thematisieren läßt. In seinem Essay über Levinas nennt Derrida das menschliche Gesicht die tatsächliche "inaugurierende Einheit eines nackten Sehens und eines Rechts zur Sprache" 27 . Livinas beschreibt dann, vereinfacht ausgedrückt, eine Beziehung, die die Differenz (difförence) aufrechterhält, "derrifere laquelle rien de commun ne se lfcve en guise d'entitd. Et, ainsi, et rapport et rupture" 28 , sei eine ethische Beziehung. 24

25 26 27

28

Albert Memmi: Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Portraits. Frankfurt am Main 1980. Livinas, Noms propres (Anm.7), S.123. Levinas, ebd., S.9. Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas'. In: Derrida, Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1976. S.218. - Der Fremde zeigt sich nach Derrida dadurch, daß er "mich aus einem andern Ursprung der Welt ansieht, aus dem, was keine endliche Macht zu umfassen vermöchte". Auf diese Weise beschränkt der Fremde meine Macht absolut (ebd., S. 159). Levinas, Noms propres (Anm.7), S.10.

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Interessant ist, daß L£vinas das Bewahren des Horizonts des sozialen Daseins an die Aufrechterhaltung der Differenz knüpft, oder vielmehr, daß er die soziale Existenz genau in diesen Bruch piaziert. Durch seine Thematisierung der Streichung des Gesichts, die als Metonymie einer Tilgung der Andersheit (altiriti) fungiert, piaziert Kolmars Text umgekehrt eine Identität, die auf der Absorption des Anderen im Selbst errichtet ist, in die Verschließung des Horizonts des sozialen Daseins - deutet sie also als totalitäre Geste. Das hier zugrundegelegte Paradigma der Kommunikation, das Verschmelzung und die Erstellung von Einheit als Ziel des Kommunizierens bestimmt, birgt, wie Levinas feststellt, einen Überrest von Idealismus 29 . Doch Kolmars Text zeigt die Streichung des Gesichts nicht nur als einen Effekt des Idealismus, sondern auch als Akt einer Ästhetisierung. Denn dem Gesicht der Frau wird Schönheit abgesprochen ("[...] und auch Schönheit ist nicht mehr mein" [FG-WS 97]) - und die als Häßlichkeit bezeichnete Beunruhigung, die von ihm ausgeht, wird beseitigt durch die ästhetische Zensur, die gleichzeitig die Stabilisierung des (in diesem Falle weißen, männlichen und vermutlich christlichen) Selbst unterstützt. Die Tatsache, daß dieses Motiv der Häßlichkeit in Kolmars Texten häufig wiederkehrt, legt den Schluß nahe, daß der Zusammenhang von Bilderstellung und Tötung, wie er eingangs vorgeschlagen wurde, differenziert werden müßte in eine Beziehung zwischen der Konstruktion des Häßlichen und Schmutzigen, dem Akt der Ästhetisierung, einer Tilgung des Anderen und dem Aufbau von Identität 30 . Die gewaltsame Zerstörung des Gesichts wird auch in späteren Texten Kolmars thematisiert, so etwa in dem Gedicht Die Drude, wenn diese sagt: "Ich habe ein Otterngesicht, das die Knaben mit Steinen schmeißen, sehn sie's im Sonnenlicht" [LW 14], vor allem aber in der 1931 geschriebenen Erzählung Eine jüdische Mutter. Der Text, der die Geschichte einer alleinstehenden Frau erzählt, deren fünfjährige Tochter vergewaltigt wird, bringt das Motiv des zerstörten Gesichts mit sexueller Gewalt in Verbindung. Im Gegensatz zur "Kosung", die nach L6vinas den Berührten "unberührt" läßt und sich der Verschmelzung widersetzt, bedeutet die Vergewaltigung einen Akt der Identifikation, der die Andere dem Selbst unterwirft und einverleibt. Diese identifizierende Gewalttat hinterläßt das Kind als "Schreiding" und als Abfall, als schmutziges zerrissenes Etwas, das kaum unterscheidbar in einem Müllhaufen liegt [JM 58ff.]. Die Spur des Verbrechens wird sichtbar auf dem Gesicht des Kindes es ist wie ein Abdruck dieser Tat. Sein Verschwinden ereignet sich auf doppelte Weise: einmal dadurch, daß es zum bloßen Umriß oder zur toten Fläche 29 30

Vgl. Livinas, ebd., S.123. Vgl. die Verbindung von Ästhetik und nazistischer Gewalt, wie sie Cynthia Ozick sieht: "The German Final Solution was an aesthetic solution: it was a job of editing, it was the artist's finger removing a smudge, it simply annihilated what was considered not harmonious." (Cynthia Ozick: Toward a New Yiddish". In: Ozick, Art & Ardor. New York 1983. S.165.

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geleert wird (es wird bleicher, matter, stumm [JM 73]), und zum anderen dadurch, daß es zum Schrei wird ("[...] das Antlitz war Fratze, die Augen waren Entsetzen. Da schrie es. Es schrie. Unrettbar." [JM 83], Das Gesicht dient als Fläche, auf der sich die symbolische Ordnung (des Täters) gewaltsam und unwiderruflich einzeichnet - es repräsentiert diese Ordnung ohne Widerspruch, da seine Sprache nur noch ein einziges monologisches Schreien ist. Der gewaltsame Akt der Befestigung eines Zeichens am Körper, der zu einer körperlichen Repräsentation der eingeprägten Bedeutung führt, fällt hier mit dem Auswischen des Gesichts, das als Mord beschrieben wird, zusammen. Der Begriff der Streichung bedeutet ebenso wie der des Auswischens ein Verfahren der Tilgung (effacement) der Andersheit (alterite), doch impliziert der erste Begriff - im Gegensatz zum zweiten - die Lesbarkeit der Tilgung. Der Gesichts-Verband der Aztekin steht metonymisch für eine lesbare Streichung, die eine dissimulatorische Gewalt anzeigt: nach Jean Baudrillard bedeutet Dissimulation - im Unterschied zu Simulation - "fingieren, etwas das man hat, nicht zu haben" 3 1 . Genau diese Fiktion verlangt der kulturelle Kontext von der aztekischen Frau. Und da sie diese Fiktion - die Verkleidung oder Maskierung ihrer Andersheit - an ihrem eigenen Körper trägt, handelt es sich wiederum um eine körperliche Einschreibung der herrschenden (kolonisierenden) symbolischen Ordnung. Aus dem Faktum der bloßen Verkleidung schließt Baudrillard, die Dissimulation lasse das Realitätsprinzip (noch) unangetastet 32 , und ich vermute, daß dieses Noch-nicht-verletzen mit der Lesbarkeit der Tilgung zusammenhängt. In einem Text aus dem Jahr 1933 wird die Metonymie der Streichung des Gesichts variiert: Hier ist von einem jüdischen Kind die Rede, dessen "Haupt ins Fahnentuch" eingeschnürt [FG-WS 222] wurde. Die Zuspitzung der Gewalt in dieser Textpassage entsteht einerseits aus der rhetorischen Unsicherheit, ob der Kopf noch mit dem Körper verbunden ist, andererseits aus der Betonung des Symbolischen der auf den Körper geschriebenen herrschenden Ordnung ("Fahnentuch"). Das Gesicht des Kindes wird durch die symbolische Ordnung nicht nur verdeckt, sondern gefesselt und so gezwungen, nicht nur diese Ordnung, sondern auch seine eigene Tilgung physisch zu repräsentieren. In dem Prosatext Eine jüdische Mutter und auch in dem Gedicht Die Irre [LW 90] 3 3 geht es dagegen nicht mehr um eine Fiktion im Sinne einer Maskierung, sondern um die Überführung der Maskierung in einen Bereich des 31 32 33

Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1978. S.10. Baudrillard, ebd., S.10. Die Datierung dieses Gedichts ist unklar. Überschrieben ist es mit einer Orts- und Zeitangabe: "Beaune, Cöte d ' O r , den 14.10.1927"; es ist aber nicht auszuschließen, daß diese Datierung von Kolmar nachträglich eingesetzt wurde.

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Imaginären, in dem die Maskierung dadurch abgeschafft wird, daß sie in den Körper eingeht (die Differenz zwischen Körper und Fiktion also beseitigt ist, was eine Verletzung des Realitätsprinzips und im selben Zuge ein Unlesbarmachen der Tilgung bedeutet). Die wiederum in der ersten Person Singular gehaltene Rede der Irren handelt von der Zersplitterung und Dekomposition ihres Körpers: Ihr Kopf wurde "zerbrochen und abgeschlagen vom Fallbeil der Großen Revolution" [LW 90], ihre Augen liegen abgelöst von dem Kopf auf den Feldern, so daß die Frau "keine Blicke noch Tränen mehr" [LW 90] besitzt. An der Stelle ihres eigenen Kopfes hat ihr "der Böse [...] den Kopf einer Teufelin aufgesetzt" [LW 90], ein "rotes Krebshaupt" [LW 91], schmutzig und häßlich, "rot und gelb, halb Schwefel, halb Ton" [LW 90]. Der Schwefel könnte als metonymisches Zeichen des Teufels gedeutet werden, der Ton als Metonymie einer starren leeren Maske. Der abgeschlagene Kopf der Frau wird substituiert durch ein Teufelsbild - ein Akt, der sich als Substitution des Gesichts durch ein Götzenbild auffassen läßt, das heißt: als Idolisierung. Der supplementäre Status des künstlichen Kopfes wird gesellschaftlich bestritten, denn sie wird ihres häßlichen Hauptes wegen verfolgt von wütenden "Jägern und Schergen, Henkersknechten [...]: Gendarmen der ganzen Welt" [LW 90]. Der Haß, dem sie sich gegenüber sieht, läßt keine Unterscheidung mehr zu zwischen Jägern, Polizisten und Mördern; sie alle hüten die Ordnung, in der sie die Stelle der 'Teufelin' einnimmt. Sie verweist ihre Verfolger auf ihre Hände, die ihr als unangetastete Körper-Teile geblieben sind: "Mein häßliches Haupt tut doch nicht das Schlechte; schaut her! meine Hände sind gut." [LW 90] Eine ver-rückende Bewegung, die natürliche Bezüge und Konstellationen verkehrt, geht aber nicht nur von dem "Bösen" aus, der der Frau den mißgestalteten Kopf aufgesetzt hat (und der nur als Name vorkommt), sondern auch von der "Stadt", die "immer größer [wächst], je weiter ich gehe, sie reckt sich, verrückt sich, daß ich mein Ziel nie erreichen mag" [LW 91]. Sie flüchtet und bleibt dennoch immer an dieselbe Stelle gefesselt. Die irre Rede des Textes erlaubt es, die gewaltsame (am Körper der Frau vorgenommene) Fixierung innerhalb einer symbolischen und einer räumlichen Ordnung zu benennen. Die beschriebene Substitution des Kopfes durch das Teufelshaupt führt metonymisch einen idolisierenden Akt vor - nämlich die Erstellung einer Identität von Signifikant (Teufelskopf) und Signifikat (Rumpf), die Produktion einer unwiderruflichen, nicht mehr dissoziierbaren Einheit von Bild und Körper. Durch ihren Körper erweckt die Frau das tote Bild zum Leben, während das Bild das Leben der Frau - ihre Individualität und Geschichtlichkeit - tötet. Das Bild zerstört die Frau, treibt sie in die Verbannung - zugleich aber stabilisiert es die symbolische Ordnung, der es entstammt, und damit auch die Identität und das Interpretationsmonopol derer, die sich dieses Bild gemacht haben. Die Metaphorik des Textes fordert dazu auf, diesen Akt nicht nur figural, sondern auch wörtlich zu lesen, und unter-

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streicht damit den Zusammenhang zwischen dem Prozeß der Idolisierung und physischer Gewalt. In der Diskussion der Idolisierung führt Kolmars Text daher drei verschiedene Prozesse zusammen, die sowohl die Bildstruktur als auch den Bildinhalt betreffen: die spurlose Tilgung der Differenz zwischen Signifikant und Signifikat, die physische Repräsentation und Belebung eines toten Bildes und den metaphysischen oder ontologischen Status des Bildinhalts (Teufel). Wir befinden uns damit in jenem Bereich des Imaginären, in dem es nicht nur um eine Tilgung des Anderen geht, sondern auch um eine Negation des Realitätsprinzips, oder, anders formuliert, nicht mehr um Maskierungen, sondern um das, was Cynthia Ozick als ein "idolatrous killing" 34 bezeichnet. Ozick versteht das Idol als ein geschlossenes, selbstgenügsames "imageknown-before" 35 , das sich durch Indifferenz gegenüber der Welt, der Geschichte und der Humanität auszeichnet, menschliches Mitleid erstickt und zur Opferung einlädt; im Sinne Levinas' könnte man seine Resistenz gegenüber der Zeit und dem menschlichen Gesicht als ein 'dit sans dire' bezeichnen. Jean-Luc Marion hat auf die Bedeutung des Moments der totalen Sichtbarkeit für die symbolische Struktur des Idols hingewiesen: Der Blick macht das Idol, nicht das Idol den Blick - das heißt, daß das Idol mit seiner Sichtbarkeit die Intention des Blicks erfüllt, der nichts anderes will als ebendies - sehen. 36 Die Intention dieses Blicks unterbindet, daß sich das Erblickte entzieht. Diesen besitzergreifenden oder enthüllenden Blick, der schon erstarrt sein muß, damit das Idol ihn fixieren kann, nennt Marion idolatrisch. Das Sichtbare, erklärt Marion, blendet den Blick so sehr, daß dieser sein Blicken nicht mehr sieht (und es so auch nicht mehr als Blick thematisieren kann). Anhand der Figur der irren Frau werden wir daher mit einem Paradox der Idolisierung konfrontiert: daß wir es nämlich einerseits mit einem spurlosen Auswischen, einer nicht mehr lesbaren Tilgung zu tun haben, aber andererseits und im selben Zuge mit einer totalen Sichtbarkeit (die der Intention des Blicks entspricht). Möglicherweise ist es dieses Paradox, das auch der Präsentation jüdischer Figuren im nazistischen Diskurs zugrundeliegt. Die Tilgung des Anderen wird also verborgen in seiner idolisierenden Repräsentation, und umgekehrt setzt der Akt der Idolisierung diese Tilgung in Gang. Kolmars Diskussion der Idolisierung setzt sich auch in zwei weiteren Texten fort, die ich nur noch kurz darstellen will - in dem vor 1938 entstandenen 34

35

36

Cynthia Ozick: The Biological Premises of Our Sad Earth-Speck. In: Ozick, Art & Ardor (Anm.30), S.234. Cynthia Ozick: Literature as Idol: Harold Bloom. In: Ozick, Art & Ardor (Anm.30), S.190; vgl. auch S.189. Jean-Luc Marion: Idol und Bild. In: Phänomenologie des Idols. Hrsg. v. Bernhard Casper. Freiburg-München 1981. S.112.

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Gedicht Das Götzenbild [LW 92] und dem im Jahr 1933 geschriebenen Gedicht Wir Juden [FG-WS 224], Das Sprechen des Idols in Das Götzenbild dient der Selbst-Demystifikation: es schiebt einerseits eine Differenz zwischen sprechendes 'Ich' und Bild, andererseits zwischen Bild und Macht: Ich mußte steigen in die Macht, ich mußte in ihr thronen wie in einem Hause; ich bin sie nicht: als Bild ihr eingedacht, Füll ich ihr Schweigen aus mit Menschenflüstern und -gebrause. " [LW 93] Das Sprechen des Ich verursacht nicht nur die Destruktion der Identität von Ich-Bild-Macht, sondern deckt diese Identität auch als menschliche Fiktion auf: das Bild reflektiert nur, wie ein Spiegel, das Denken, die Vorstellungen und die Worte der Menschen, während das Ich als Objekt - fast sogar als Opfer - der Bildlust und der mystifikatorischen Bedürfnisse der Menschen erscheint. Die Rede des Ich verwirft damit nicht nur göttliche Macht und transzendentales Wissen, die dem Bild von den Menschen zugesprochen werden. Ebenso beschneidet oder widerruft sie sowohl die mystische als auch die repräsentationale Gewalt des Bildes. Das Idol wird als menschliches Konstrukt vorgeführt. In Wir Juden [FG-WS 224] dient die Diskussion der Idolisierung dazu, die eigene kulturelle, geschichtliche und religiöse Identität abzusetzen von den kulturellen Werten der nichtjüdischen Umgebung. Analog zu dem in Kolmars Text aufgestellten Gegensatz zwischen der von Leiden und Verfolgung geprägten, negativen Geschichte des jüdischen Volkes und der imperialen Geschichte der anderen Völker wird der Semantik der Macht und der Stärke eine Semantik der Ent-Kräftung und des Entzugs entgegengehalten. Die Weigerung, sich der politischen und symbolischen Macht des Idols zu unterwerfen Ich will den Arm nicht küssen, den ein strotzendes Zepter schwellt, Nicht das erzene Knie, den tönernen Fuß des Abgotts harter Zeit [FG-WS 225] ist verbunden mit einer Anerkennung der Verfolgung und des Exils: So wirf dich du dem Niederen hin, sei schwach, umarme das Leid, Bis einst dein müder Wanderschuh auf den Nacken der Starken tritt! [FG-WS 226]. In diesen Zusammenhang wäre noch ein weiteres Motiv einzufügen, nämlich das der Verrenkung, das die Verknüpfung von Ausgesetztheit und Erwählung impliziert und eine Differenz anzeigt zur "prunkvollen" Verkleidung des

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"Räubers" und zur "lieblichen" Kleidung des "Vogels" ("Uns ward das lebende Antlitz zum Abhub der Welt gemacht" [LW 122]). Während bisher der Akt der gewaltsamen Identifizierung und Tilgung des Anderen als ein dfcr Bilderstellung inhärentes Verfahren im Mittelpunkt meiner Überlegungen stand, möchte ich nun noch abschließend einen umgekehrten Prozeß darstellen - die Auflösung eines Bildes und die Bewahrung eines Bruchs innerhalb dessen semantischer Struktur. Das im Jahre 1937 verfaßte Gedicht Zueignung [LW 545] handelt von einer Malerin, die ein Bild zeichnet, dieses Bild vor Menschen ausstellt und als die Betrachter sich schnell von ihm abwenden, weil es ihnen nicht gefällt - in ihm verschwindet. Zwei Bilder werden einander gegenüber gestellt: das von der Malerin tatsächlich erstellte und das von den Betrachtern erwartete Bild. In der Gegenüberstellung dieser beiden Bilder entwirft der Text eine Opposition von zwei unterschiedlichen Verfahren einerseits der Repräsentation, andererseits der Hermeneutik. Das leere Schreib- oder Zeichenpapier bezeichnet für Kolmar den einzigen noch offenen Raum, der so etwas wie Wohnen und Reisen erlaubt: sie nennt dessen "weiße matt glänzende Fläche: ihr Land" [LW 545]. In diese weiße Fläche zeichnet die Malerin zunächst eine Reihe kahler Berge, "über Öde sinnend" [LW 545]. Dann aber zeichnet sie auf die Berge eine Wolke, so daß diese verschwinden ("[...] umhüllt, vergingen hinter dem bleichen Gespinst einer Wolke" [LW 545]). Während also das Bild Leere (oder Wüste) darstellt, referiert Kolmars Text den Mal-Akt als eine Ent-Gegenständlichung oder eine De-Figuration, wobei das Bild wie ein Inserat in einer schriftlosen Schwärze placiert wird ("so hing das Bild vor dem schwarzen Grunde" [LW 545] 37 ). Die Einzeichnung der "Wolke" fungiert als Metonymie einer Streichung, durch die ein Bild, das sich durch eine strikte und lineare Referentialität auszeichnet, transformiert wird in ein konkretes Zeichen fundamentaler Bedeutungsleere, dessen referentielle Bezüge offen und flüchtig sind - ein Vorgang, der dem entspricht, was Levinas als "le renvoi [Zurückwerfen, Verschiebung] ä l'absence" bezeichnet 38 . Roland Barthes würde von einer Umschreibung des "texte lisible", der Idealform eines vollkommen lesbaren Klartextes, in einen "texte scriptible", einen pluralen Text, sprechen 39 . Die Streichung öffnet einerseits einen intersubjektiven Raum, in den sich unterschiedliche subjektive Lektüren einschreiben können und der eine endlose Auslegung er-

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Die Plazierung des Bildes vor dem schwarzen Grund scheint die rhetorische Struktur des mise-en-abime zu imitieren, die in einer Tautologie besteht: das Bild verdoppelt sich nach innen. Der schwarze Grund wäre dann ebenfalls ein Bild, dessen Muster das inserierte 'leere' Bild wiederholt. Emmanuel Levinas: Humanisme de l'autre homme. Paris 1972. S. 19. Roland Barthes: S/Z. Paris 1970. S.10.

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möglicht, andererseits erzeugt sie ein Bild, dessen Sprache eine Analogie zur Sprache der Offenbarung zu bilden scheint. Das erwartete Bild wird sichtbar aus der Negation dieses 'leeren' Bildes durch die Betrachter. Sie verwerfen es, weil es "farbenlos, wesenlos" sei, "ohne Stimme", weil ihm "Duft", "Saft, gesättigter Schimmer" fehle, "das strotzende, kraftvoll springende Grün der Ebenen", weil "kein spähender Falke rüttelt, hier flötet kein Hirt. [...]" [LW 545], Die Betrachter erwarten ein gegenständliches Bild, das den ihnen geläufigen mimetischen und narrativen Mustern folgt - so etwa ein pastorales Idyll (mit dem konventionellen Inventar von Ziegenherde, Falke und Hirt). Das von ihnen gewünschte Bild zeichnet sich durch eine repräsentationale Kraft aus, die sich zum einen auf eine bruchlose Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem bezieht (und hier die 'Lebensechtheit' der Abbildung verbürgt), zum anderen auf die symbolische Bedeutung der Darstellung (die eine gesellschaftliche Ordnung vorführt und diese als natürlich ausgibt). Sie wünschen eine symbolische Sprache, die die Bruchlosigkeit ihrer Repräsentation aus der Autorität der Natur bezieht. Demgegenüber repräsentiert das 'leere' Bild nicht eine außertextuelle Realität, sondern es präsentiert eine Trennung oder eine Verschiebung, die die Linearität der semantischen Struktur ruiniert und so dazu tendiert, den Akt des Sich-ein-Bild-machens zu unterbinden. Das 'leere' Bild zeichnet sich aus durch Mangel, Abwesenheit, Diffusion, durch eine repräsentationale Schwäche. Der symbolischen Sprache des erwarteten Bildes zieht das 'leere' Bild eine metonymische oder allegorische Sprache vor und nimmt daher die Form eines Schriftzeichens oder einer graphischen Spur an. Doch die Betrachter sind nicht imstande, die Anrede des 'leeren' Bildes zu hören, und wenden sich deshalb von ihm ab ("es redet zu uns nicht. Kommt weiter." [LW 545]). Das Ereignis "ursprünglicher Sozialität" (Levinas) und Pluralität, das sich im bloßen Angesprochenwerden der Betrachter/Leser vollzieht, kommt nicht zustande. Da die Betrachter/Leser die poetologische Form des 'leeren' Bildes verwerfen, verschließen sie den von diesem eröffneten intersubjektiven Raum. Kolmars Text bezieht aber die verletzende Exklusion, die sich hier abspielt, nicht nur auf die poetologische Form des 'leeren' Bildes, sondern auch auf die Malerin selbst - sie steht allein da, weint schweigend. "Klein, unbeachtet stand sie im Haufen, hörte und schwieg." [LW 545] Die Verletzung zeigt sich sowohl an ihrer Isolation als auch an der Selbstgeschlossenheit der sich zum "Haufen", zu einem kollektiven Selbst formierenden Betrachter. Die Verweigerung der Lektüre unterbindet nicht nur die Gegenwart der Malerin (sie wird nicht wahrgenommen, d.h. sie wird aus den diskursiven Bezügen ausgeklammert) - sie hebt überhaupt den 'Raum' (den öffentlichen Ort oder die Möglichkeit in der Sprache) auf, der die Rede des Anderen zuläßt

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oder der als räumliches Zwischen im Sinne Hannah Arendts 40 die Menschen zugleich verbindet und trennt und damit die Wahrung einer Heterogenität erlaubt. Aus diesem schweigenden monologischen Zustand der Isolation wird die Malerin gerettet, indem sich die "Wolke" zu ihr herabsenkt und sie in den Bildraum hineinträgt. Analog zur Erzählung von der Offenbarung am Sinai, die die Wanderung in der Wüste unterbricht, markiert hier das Herabsenken der Wolke den Abbruch der historischen Zeit. Der Moment des Verschwindens der Malerin im Bild kennzeichnet metonymisch den Übergang des historischen Zeitpunkts in einen eschatologischen Bruchpunkt. Das 'leere' Bild hütet demnach eine Anschrift, die sich in einer doppelten Geste einerseits an die Zeitgenossen richtet (als soziales Ereignis), andererseits aus der historischen Zeit heraus deutet. Die paradoxe Struktur des Bildes liegt darin, daß diese Zugewandtheit (zum Leser und zum Absoluten) gebunden wird an die Streichung oder Verhüllung, die die Schwäche der Repräsentation hervorruft. Die Tatsache, daß die Rettung der Malerin sich auf der fiktionalen Sprachebene des Textes vollzieht (genauer: des Textes/Bildes im Text), deutet darauf hin, wie wichtig für Kolmar selbst das Schreiben als Fluchtpunkt ist, läßt sich aber auch als ein Beharren auf der metonymischen Rede und der durch sie erzeugten Trennung verstehen. Kolmars Texte formulieren - verdeckt und bruchstückhaft - die Kritik einer Identität, die sich absolut setzt, die einen Anspruch auf alleingültige Wahrheit erhebt und diese Gesamtgültigkeit realisiert durch die Tilgung des sie in Frage stellenden Anderen oder, wie Adorno formuliert, durch die "Vernichtung des Nichtidentischen" 41 . Diese Kritik Kolmars scheint mir die sehr viel spätere Bemerkung Adornos vorwegzunehmen, "das Philosophem von der reinen Identität als dem Tod" 42 sei durch Auschwitz bestätigt worden (und vielleicht liegt in dieser Vorwegnahme einer der Gründe dafür, daß Kolmar von Nelly Sachs in einem Brief vom 18. Juli 1943 "Die Hellsichtige" 43 genannt wird). Wie ich zu zeigen versuchte, bindet der Diskurs der Texte den Akt dieser Tilgung ein in den Prozeß des Sich-ein-Bild-machens, verknüpft also Bild und Mord. Diese Verknüpfung reflektiert einerseits die autobiographische Erfahrung Kolmars, andererseits rekurriert sie aber auch auf das Bild-Verbot, und zwar in einer ähnlichen Weise, wie sie Max Horkheimer in seinem 1939 veröffentlichten Aufsatz Die Juden in Europa zum Ausdruck bringt:

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Hannah Arendt: The Human Condition. Chicago 1958. S.52. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt am Main 1975. S.355. Adorno, ebd., S.355. Ruth Dinesen, Helmut Müssener (Hrsg.): Briefe der Nelly Sachs. Frankfurt am Main. 1984. S.31.

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Die Juden sind einmal stolz gewesen auf den abstrakten Monotheismus, die Ablehnung des Bilderglaubens, die Weigerung, ein Endliches zum Unendlichen zu machen. Ihre Not heute verweist sie darauf zurück. Die Respektlosigkeit vor einem Seienden, das sich zum Gott aufspreizt, ist die Religion derer, die im Europa der Eisernen Ferse nicht davon lassen, ihr Leben an die Vorbereitung des besseren zu wenden. 44 Die aus der Perspektive der Verbannung und Verfolgung formulierte Kritik einer sich durch die Absorption von Differenzen konstituierenden "reinen Identität" beruht auf einem 'ethischen' Exil-Verständnis: es verlangt die Erinnerung des Anderen, verbietet aber die Vereinigung mit ihm, das heißt sowohl seine Ausschließung als auch seine endgültige Enthüllung. Das 'Exil' bietet so über die konkrete schmerzende Erfahrung hinaus auch eine kritische oder utopische Perspektive. In dieser Doppeldeutigkeit und Widersprüchlichkeit liegt die unhintergehbare Ambiguität, mit der uns Kolmars Interpretation des Exils konfrontiert - sie ermöglicht ihr einen Bezug zur jüdischen Tradition, der nicht nur im Erinnern einer Geschichte permanenter Verfolgung und Tortur besteht, sondern auch im Protest gegen den totalitären Herrschaftsanspruch und das darwinistische und rassistische Menschenbild der deutschen Gesellschaft.

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Max Horkheimer: Die Juden und Europa. In: Studies in Philosophy and Social Science [formerly: Zeitschrift für Sozialforschung, ed. M. Horkheimer]. Vol. VIII (1939), New York 1939-1940, S.136 [Reprint München 1980],

Gert Mattenklott (Marburg und Amherst, Mass.)

Nelly Sachs, Arnold Zweig und Karl Wolfskehl Briefe aus dem Exil

In der Verständigung von Juden mit sich selbst und miteinander spielen Korrespondenzen eine erhebliche Rolle. Bereits ein quantitativer Vergleich publizierter Briefwechsel deutschsprachiger Autoren in diesem Jahrhundert zeigt die hohe Schreibproduktivität jüdisch-deutscher Menschen, zumal während des Faschismus im Ausland lebender. Darin spiegelt sich nicht bloß der Wunsch, miteinander in Verbindung zu bleiben; wird nicht bloß die Einsamheit wahrnehmbar, in der die briefliche Aufzeichnung - oft in der Ungewißheit, ob sie je den Adressaten erreichen wird - eine Form der Unterhaltung mit sich selbst sein kann; es ist auch das Votum für die Schreibart. Im Brief darf der Lebensrohstoff ungeniert an die Oberfläche. Er erlaubt den Temperamentsausbruch; Zorn, Klage, Trauer können leicht heraus. Vermutungen, Hoffnungen, Wünsche sind in diesem genus mixtum zwischen Literatur und Leben Formansprüchen weniger stark ausgesetzt als in anderen Schreibweisen, die den konventionellen Erwartungen an die benutzte Form verpflichtet bleiben. Als Briefschreiber haben sich Juden nicht erst im 20. Jahrhundert, sondern seit je besonders hervorgetan. Der wichtigste Grund dafür liegt in der Voraussetzung jüdischen Lebens seit der Zerstörung des Tempels von Jerusalem, der Diaspora. In alle Welt zerstreut, finden Juden sich zwar überall auf der Welt, aber stets als Minderheit in einer vorwiegend distanzierten, wenn nicht offen feindseligen Umwelt. Dergestalt ist die Kenntnis voneinander und das Knüpfen eines entsprechenden Netzes von Verkehrsmitteln für sie weit mehr als ein philosophisches Abrunden materieller Verhältnisse, es ist häufig eine Überlebensbedingung. Ob es darum geht, Geld zu verleihen und zu borgen oder vertriebene und reisende Angehörige aufzunehmen, eine Gefahr im Verzug oder eine Chance günstiger Erwerbs- und Lebensbedingungen zu melden, ja womöglich auch nur einen Gottesdienst zu verabreden, der wegen einer zu geringen Zahl von Gläubigen im eigenen Dorf nicht möglich ist: die briefliche Botschaft ist ein hochwillkommenes Mittel selbst auch der Sicherung des äußeren Lebens; wie viel mehr des inneren. Auf der Schwelle zwischen diesem und jenem findet das Leben der Familie statt: zugleich Lebens- und Religionsgemeinschaft mit streng verantwortlicher Haftung füreinander; mit fortschreitender Auflösung der alten Zwänge wie des Ghettos - und der traditionellen Ordnungen - wie der orthodoxen

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Frömmigkeit - auch die letztverbliebene, nun oft säkular intimisierte Gemeinschaft, die Wärme, Mitgefühl und Geborgenheit gewährt, selbst wenn das Verständnis füreinander zerbröckelt. So symbolisieren die familiären Briefwechsel in der vertikalen Beziehung von Großeltern, Eltern und Kindern die Kontinuität des geschichtlichen Erbes, das seine zuverlässigste Gestalt schon immer in den Schriften fand, weil das Reich der Juden seit dem Fall Jerusalems nicht von dieser Welt war, so daß es vor allen in der geschriebenen Überlieferung zitierbar werden mußte: kumulierte Erfahrung, transzendentes Obdach, auch wenn die Gottesgewißheit schwindet. Auf dem horizontalen Niveau des Austausches innerhalb derselben Generation, Vettern und Cousinen, symbolisieren die Korrespondenzen oft das einzige wahrhafte Vertrauensverhältnis, das keiner umständlichen Erprobung und Bewährung bedarf, weil es so ursprünglich ist wie das Du des Dialogs. Berthold Auerbachs Briefwechsel mitseinem Vetter und Freund Jakob Auerbach kann dafür als Beispiel stehen: ein Umgang miteinander über sechs Jahrzehnte, so rückhaltlos und offenbarend, daß er die Zuverlässigkeit und Belastbarkeit einer Institution gewinnt, der christlichen Beichte vergleichbar. Auf der Suche nach den inneren Bedingungen der ebenso umfangreichen wie intensiven Korrespondenzen von Juden verdient diese Analogie wohl überhaupt besondere Beachtung: der Briefpartner als Personifikation des moralischen Verhältnisses, das der Schreiber sich selber gegenüber herstellt, der andere als Beistand, Gewissen und Lehrer. Je prekärer es mit den weltlichen Ordnungen bestellt war, während die geistlichen ungewiß verdämmerten, desto höheren Wert mußten im Niemandsland der metaphysischen und weltlichen Anarchie die freiwillig eingegangenen Verbindlichkeiten erhalten: als Formen moralischer Selbstbegegnung. Wie im Fall der Vettern Auerbach fehlen auch sonst häufig die Gegenbriefe von Korrespondenzen. Wo sie erhalten sind, enttäuschen sie häufig, weil der Andere nicht so sehr mit seinen Ansichten und Urteilen benötigt wird denn als eine Gewähr der eigenen Gewissenhaftigkeit. Die Briefe von Moses Mendelssohn und seiner Enkel, Börnes und Heines, Rahel Varnhagens und Auerbachs, die Briefschaften von Buber, Theodor Lessing und Rathenau, Benjamin, Scholem, Wolfskehl und Kafka, Gertrud Kolmar und schließlich gar Nelly Sachs brauchen keine Antwort, weil sie Teil einer moralischen Kultur sind, deren Pathos in einem Eigensinn zum Ausdruck kommt, der jeder Bestätigung durch andere entbehren zu können scheint. Mindestens so wichtig wie in seiner Bedeutung als der leibhaftig andere, der in praktischen Dingen informiert oder konsultiert wird, ist das Du des Briefes im Sinne symbolischer Gemeinde und Gemeinschaft. In dieser hat der jüdische Brief eine lange Tradition, die er auch in seiner neuzeitlichen Entwicklung fester bewahrt als der Brief in der christlichen Kultur. Während hier der Hirtenbrief an die Gemeinde von seinen paulinischen Anfangen bis zu päpstlichen Sendschreiben der Gegenwart eine festumrissene Institution

Nelly Sachs, Arnold Zweig und Karl Wolfskehl - Briefe aus dem Exil

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von geringer Ausstrahlung auf die profane Briefkultur bleibt, gewinnt der Brief als ein Mittel der Gemeinde- und Gemeinschaftsbildung der Juden in der Diaspora eine Ausstrahlung weit über den religiösen Bereich hinaus, lange bevor der bürgerliche Privatbrief sich durchsetzt. Er ist eine genuine Form jüdischer Selbstfindung. In der Exilsituation überlagern sich für die deutschen Juden die charakteristischen Impulse und Motive der korrespondierenden Exilanten mit denen traditioneller jüdischer Epistolographie. Die hier entstehende Literaturform ist bisher unbeachtet geblieben, und zwar in der Exilforschung ebenso wie in der Geschichtsschreibung jüdischer Literatur in Deutschland und in der allgemeinen Epistologie. Die einzige bedeutende Anthologie jüdischer Privatbriefe, die von Franz Kobler (Juden und Judentum in deutschen Briefen aus drei Jahrhunderten) ist bereits 1935 in Wien erschienen, also noch ohne Berücksichtigung der vom Faschismus Vertriebenen. Die Geschichte des hier überblickten Zeitraums ist durch Gefährdung und Verlust wesentlicher Voraussetzungen bürgerlicher Kultur charakterisiert. Als Walter Benjamin 1936 diese Feststellung traf, band er sie nicht willkürlich an einen Rückblick auf die Epistolographie des 18. und 19. Jahrhunderts: Deutsche Menschen. Von Ehre ohne Ruhm * Von Größe ohne Glanz * Von Würde ohne Sold. Der Privatbrief war eine wesentliche bürgerliche Umgangsform, geprägt durch die Verinnerlichung der individuellen Bindungen. Die typischen modernen Formen von Liebe und Freundschaft, Glücksempfinden und Trauer, Erinnerung und Zukunftserwartung entstehen zu allererst im Brief, und dieser bildet diesen Prozeß nicht einfach ab, sondern er ist eine Gestalt seines Vollzugs. In der Sphäre der Privatleute gilt die Berufung auf objektive Interessen, Politiken und soziokulturelle Determinanten nicht. Gewiß, man weiß davon, aber die Herzensverhältnisse moderner Individualität verdanken sich dem Wunsch, einen Bereich persönlicher Verbindlichkeit auszugrenzen, der zumindest im Bewußtsein der einzelnen Menschen von ihnen selbst in Freiheit bestimmt wird. Hier erhalten die Begriffe Opfer und Täter, Schuld und Sühne, Pflicht und Verantwortung noch einen anderen als den juristisch kodifizierbaren, theologisch zu umschreibenden, soziologisch, psychologisch oder in einem beliebigen anderen Diskurs zu ermessenden Sinn. Hier werden Bindungen eingegangen, auf die kein Anspruch besteht und deren Fortdauer nicht eingeklagt werden kann; werden Ansprüche erhoben, befriedigt oder abgewiesen, die von keiner Norm gedeckt sind und deren Würde unter bürgerlichen Verhältnissen dennoch geschützt ist; gelten minima moralia des Verhaltens, deren kaum definierbare und nur vage und von Fall zu Fall zu umschreibende Qualitität der Begriff Anständigkeit einmal dienen konnte. Die tiefsten und schwersten Verletzungen, die Menschen einander zufügen, liegen in diesem Bereich, dessen intime Schmerzempfindlichkeit so hoch ist, daß noch ein Fremder sie mitempfindet, wenn er in Situationen zufalliger oder eingerichteter Indiskretion - wie während der Lektüre von Briefwechseln

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- darauf stößt. Gewiß, es gibt auch genügend andere Gründe, warum die Geschichte der Juden in Deutschland mit ihrer Ermordung zwar ein Ende und ihre Hetze durch die Welt mit der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der Konsolidierung eines jüdischen Staates zu einem Stillstand, ihre Reflexion aber zu keinem Abschluß kommen konnte. Unter diesen mag das Mißverhältnis von aufklärerischem Humanitätsanspruch und industriell entfesselter Mordlust der skandalöseste sein. Aber ohne seine intime Innenseite würde auch dieser Skandal schon längst und ausschließlich zu dem geworden sein, was er vom ersten Augenblick nach 1945 an auch schon stets gewesen ist: Gegenstand der Theorie und der unterhaltenden Informationskultur. Es gibt aber auch noch diese andere Dimension, und es scheint, daß ihre Wahrnehmung nicht bloß an die Täter und ihre überlebenden Opfer gebunden ist. Jeder einzelne Jude, der in Deutschland verfolgt, geschändet, umgebracht worden ist, ist auch von einem Nichtjuden verraten worden. Es gibt Geschichte und Theorie des Antisemitismus, es gibt keine des Judenverrats. Dieser wiegt aber in der Wahrnehmung der individuellen Empfindung von Menschen schwerer, die in ihrer überwiegenden Zahl persönlich nicht kriminalisiert sind und selbst am Antisemitismus meist nur unbewußt oder nicht dringender teilhaben als an gewissen anderen Idiosynkrasien. - Wovon hier die Rede ist, mag in die Korrespondenzen deutscher Juden kaum eingegangen sein. In den Briefen, die Exilanten nach 1945 untereinander oder mit Freunden in Deutschland wechselten, um sich selbst oder anderen Rechenschaft zu geben, warum ihnen eine Rückkehr in die alte Heimat nicht möglich ist, wird meist anderes verhandelt, aus Stolz, aus Scham oder auch aus der Scheu heraus, die Verletzung zu wiederholen und zu vertiefen, indem man sie ausspricht. Wenn Hermann Broch aus Princeton an Volkmar von Zühlsdorff schreibt, dann besteht er ausdrücklich auf den objektiven, quasi strategischpädagogischen Gründen, die es Juden verbieten sollten zurückzukehren, und er will von der Empfindlichkeit eines Verletzten nichts wissen: Nein, Sie haben mich mißverstanden: ich werde mich persönlich doch nicht als 'Opfer' bezeichnen; im Gegenteil, ich bin dem Hitler für meine Austreibung (ja sogar für die vorangegangene Einkerkerung) höchlich dankbar, denn es heißt etwas, in meinem Alter ein im wahrsten Sinn des Wortes 'neues' Leben beginnen zu dürfen. Ich möchte für mich nichts davon missen. 1 Überzeugender noch in der Selbstkontrolle ihrer Empfindungen, in analytischer Scharfsichtigkeit für den rassistischen Charakter der amerikanischen Gesellschaft und die dort dennoch politisch garantierten Menschenrechte für Juden nennt Hannah Arendt 1946 ihrem philosophischen Lehrer Karl Jaspers 1

Hermann Broch an Volkmar von Zühlsdorff, 9.8.1945. In: Hermann Broch, Briefe über Deutschland 1945-1949. Die Korrespondenz mit Volkmar von Zühlsdorff. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main 1986. S.25.

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nur die allgemeinen politischen Gründe für ihre Zurückhaltung den Nachkriegsverhältnissen gegenüber und für ihr Zögern, in deutschen Zeitschriften zu veröffentlichen: Ich bin auch verängstigter als ich sagen möchte über die drohende Möglichkeit anderer Katastrophen [...] Eines aber erscheint auch mir klar: wenn Juden in Europa bleiben sollen können, dann nicht als Deutsche oder Franzosen etc., als ob nichts geschehen sei. Mir scheint, keiner von uns kann zurückkommen (und Schreiben ist doch eine Form des Zurückkommens), nur weil man wieder bereit zu sein scheint, Juden als Deutsche oder sonst was anzuerkennen; sondern nur, wenn wir als Juden willkommen sind. 2 Für die inneren Verhältnisse pflegt freilich wichtiger, als was man tut oder läßt, das Verhalten von Menschen zu sein, auf deren Anerkennung, Achtung und Sorge das private Leben angewiesen ist. So mag denn auch an dieser Stelle - und nur hier einmal ausführlich - aus einem Brief Karl Wolfskehls zitiert werden, den er an den Freund der Münchener Zeit, den Graphiker, Bühnenbildner und Illustrator Emil Preetorius stehen, vermutlich stellvertretend für viele derartige Briefe, die im Innern entworfen und nicht geschrieben wurden. Preetorius war auch während des Nazireiches ein geachteter Mann. Nach dem Krieg wurde er Präsident der Bayerischen Akademie der Künste. Wolfskehl, der sich stets auf seine alteuropäische Herkunft - seine toskanischen und rheinländischen Vorfahren - berief, aus einer hessischen Patrizierfamilie gebürtig, starb 1948 in Bayswater-Auckland (Neuseeland), wohin er in ein Nirgendwo exiliert war, weil er für seine eigene Tradition, "jüdisch, römisch, deutsch zugleich", keinen Ort mehr fand. Seine weiträumige Bildungswelt ist den meisten heute ebenso unbekannt wie sein lyrisches und essayistisches Werk, seine Übersetzungen und die umfangreiche Korrespondenz dieses großen Briefeschreibers. Auf seine Bindung an den "Meister" Stefan George, aus dessen jüngerem Kreis sich einige den Nazis zugewandt hatten, geht der Briefanfang ein: Auckland, 17.3.1947 Du, wie soll ich Dich anreden? Ich weiß es noch nicht. Vielleicht kommt es mir später ins Wort. Vielleicht auch wäre es besser gewesen, Du hättest das Schweigen nicht aufgestört, in dem Du selbst durch mehr als zehn Jahre Dich Deinem liebsten Freund gegenüber verhieltest. Auch das weiß ich noch nicht. Etwas aber weiß ich: Du verstehst immer noch nicht, was ich Dir vorwerfe, immer noch nicht, weshalb ich Dich einen Verräter genannt habe an unsrer Freundschaft, an Dir somit wie an mir. Die "Weltferne" (Dein Wort!) zwischen uns besteht wirklich. Es ist 2

Hannah Arendt an Karl Jaspers, 29.1.1946. In: Hannah Arendt - Karl Jaspers, Briefwechsel 1926-1969. München 1985. S.68.

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eine wahrhaftige Ferne, eine schreckliche Ferne, keine von außen meßbare. Kann sie je wegschmelzen? - [ . . . ] Mit Karl Wolfskehl warst Du verbunden, so eng verbunden, daß das Ich hinschwand in dieser Einheit. Du warst mir Nächster, und ich nahm von Dir, was man kaum von sich selber nimmt. Und ich, ich gab Dir alles, dessen ich zu geben fähig bin. War das so, Du? Und dann. Du, traf Dich das Schicksal, das mich stärker traf als Dich, Schicksal der Entscheidung. Auch Du warst vor eine Wahl gestellt. Vor die Wahl zwischen dem Absoluten und dem Bedingten, dem Ja-oder-Nein und dem Immerhin, dem Wenn-Auch, dem Dennoch, dem Vielleicht. In dem, was dort "das wirkliche Leben" genannt wird, sah die Frage so aus: stehst Du zu Karl Wolfskehl bedingungslos oder verbleibst Du im Zwischenreich, diesmal dem der Lüge, des Widergeists, der Vernichtung? Du, was hat diese Entscheidung damit zu tun, daß Du trotz "großer, weithin sichtbarer äußerer Position" im Verdacht standst, dem Zwischenreich doch nicht ganz zuzustimmen? Was hat das damit zu tun, daß Du mit israelitischen Herren und Damen in verschiedenen Auslandsplätzen in Korrespondenz bliebst? Und daß es Dir gelang, israelitische Herren und Damen vor dem Sechs-MillionenMord zu bewahren dank Deiner Beziehung zu Königshäusern? Was hat das alles überhaupt mit mir zu tun, mit Dir und mit mir? Mit wem verwechselst Du mich eben? Bin ich ein Hilfskomitee? Eine Rechtfertigungsbehörde? Werfe ich Dir etwa vor, daß Du damals Dich von Zweien beschämen ließest, von Zweien, die meiner Person gar nicht nahe waren, die aber sofort aus dem Klub austraten, als Rotary München mich hinauswarf? Während es Dir in den Kram gepaßt hat, damals noch in den Kram gepaßt hat, drinzubleiben? Werfe ich Dir vor, daß alles, was durch die Post von Dir mir zukam, nur mit dem Initial des Vornamens "man kann nie wissen?" - gezeichnet war? Und ausnahmslos nur abgesandt wurde, wenn du Dich im vermeintlich gesicherten Ausland befandest? [...] das kann mich nicht sehr ins Mitschwingen versetzen, daß Du "nahezu" alles verloren hast, denn mir scheint, Du meinst hier irdischen, wenn auch köstlichen Besitz. Das läßt mich auch in Deinem Fall kühler, nicht etwa weil ich selbst, wie Dir ja bekannt ist, mit einem Handkoffer über die Grenze bin und, wie ich Dir jetzt sage, aber Du konntest Dir's wohl denken, auch heute noch nicht mehr Hab und Gut mein Eigen nenne - sondern, hör zu, Du, weil ich alles verloren habe. Ich habe nämlich die Heimat verloren. Weißt Du, was das heißt für einen Dichter? Kannst Du Dir das ins Bild rücken oder herausschnitzen aus mancherlei Analogien und historischen Reminiszenzen? Ich habe die Heimat verloren, darin ich, ich meine das Geschlecht, dem ich entstamme, seit Karl dem Großen im gleichen Rhein-Main-Eck ansaß. Ich habe den Rhein in mir so wie das Mittelmeer, dem ich entstamme, dem ich neu verbunden ward, rundend den Kreis. Aber ich habe noch mehr Heimat verloren. Ich habe die Stätte verloren, wo ich gewirkt habe ein langes Menschenalter durch, die Stätte der Arbeit, der Freundschaft, der Liebe, des Überschwangs. Ich habe mir selber Welt werden müssen,

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Geistraum, Wiege des Wortes. Weißt Du, was all dies bedeutet in Ja und Nein? Dort völlig vergessen, hier völlig vereinsamt. Das ist mein Dasein im neunten Jahr. Zwei, drei nahe Seelen, eine, die mein Schicksal teilt, die andern, durch ein Lächeln des sonst so strengen Fugs an mich Gerückte, wärmen nach Vermag das Eis der Entrückung. Doch über all das, selbst übers Du hinaus, ruf ich es aus: ich preise mein Schicksal, ich liebe was mir widerfuhr, ich lebe das Fatum. Und eines hält mich noch im Licht. Noch bin ich ein Schaffender, ein Kündender, ein Bildner. Das Werk geht weiter. Aber es ist wahr, ich habe Dich lieb. Ich kann's mir nicht absprechen, ich will es auch gar nicht. Und so gehen Wünsche zu Dir, und das Herz pocht. Ich verwehre auch nicht, daß Du wieder Dich herwendest. Wenn Du es kannst nach alledem, wenn, was Ihr so "Ehrgefühl" nennt, wenn das Besserwissen, der gekränkte Stolz und jenes übliche "wie mißversteht man mich" Dir's nicht verbieten. Das mache ab mit Dir selbst, am Ende mit Deinem echten Selbst. Unvergessen bist du, auch das Herz weiß um Dich. [K.W.] 3 Wolfskehls Briefe sind oft so lang wie der zitierte. Sie müssen dem Schreiber die Aussprache in der persönlichen Begegnung ersetzen. Um sich klarzumachen, welcher Wert ihnen für das innere Leben zukommt,ist es nicht ohne Belang, sich vor Augen zu führen, wieviel Raum derartig aufwendige Korrespondenzen in der Ökonomie des äußeren Lebens einnehmen. Für Wolfskehl gilt das umso mehr, als der zunehmend Erblindende seine Briefe aus dem Exil diktieren mußte. (Ihr mündlicher Stil dürfte auch damit zusammenhängen.) Einen halben Tag mag unter solchen Umständen ein Brief wie der zitierte gekostet haben. Erheblicher dürfte noch sein, daß ein Leben, das in seinen konzentrierten Phasen schriftlich geführt wird, leicht auch im übrigen eine Richtung auf diese Form hin bzw. - erschlaffend - von ihr weg erhält. Die Schreibzeit des Briefes tritt zur übrigen Lebenszeit nicht additiv hinzu, sondern sie setzt sich - einschließlich der vorbereitenden und der entspannenden Phase - an deren Stelle. Wer am Nachmittag diesem oder jenem zu schreiben gedenkt, sieht den Tag davor schon mit den Augen des Korrespondenten. Da es zu Korrespondenzen im Sinn eines symmetrischen Austausche während des Exils selten, mit einem Schreiber in Neuseeland schon gar nicht kommen konnte, muß einmal mehr die Erinnerung zu Hilfe kommen. So verstärken sich die Tendenz zum Monolog und die Gefahr einer nur noch in sich selbst kreisenden Welt. Darin müssen dann Erinnerungen, Vermutungen und Spekulationen ersetzen, was an lebendiger Erfahrung fehlt. Das kommt einerseits der geistigen Intensität, der kontemplativen 3

Karl Wolfskehl an Emil Preetorius, 17.3.1947. In: Karl Wolfskehl, Zehn Jahre Exil. Briefe aus Neuseeland 1938-1948. Hrsg. u. eingeleitet v. Margot Ruben, mit einem Nachw. v. Fritz Usinger. Heidelberg/Darmstadt 1959. S.320-323.

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Verdichtung, auch mitunter der Dynamik eines Gefühls zugute. Andererseits droht Wirklichkeitsverlust. Das sind freilich Überlegungen, die das obsessive Briefeschreiben überhaupt betreffen. Sie werden aber für die Exilbriefe besonders dringlich. Das exklusive Verhältnis, in das sich der Schreiber mit seinem Adressaten setzt, schließt die Welt aus, in der er versuchen könnte, heimisch zu werden. Die großen Korrespondenzen belegen nicht nur die innere Weigerung, sich dem Gastland zu öffnen, sie sind die Vollzugsform dieser Weigerung. Sehr früh schon, noch in der geistigen Geborgenheit des George-Kreises, in dem Wolfskehl der einzige Gesprächspartner des 'Meisters' von Gewicht und mit eigenem Profil war, ist das Exil für Wolfskehl eine metaphysische Realität der Judenheit gewesen. Vom Zionismus geprägt, aber distanziert gegenüber nationaljüdischen Siedlungsprojekten, hat er aber dieses Exil als transzendente Obdachlosigkeit aufgefaßt, nicht als Heimatlosigkeit. Im Gegenteil. Der germanisch-romanische Kulturkreis war ihm eine derart ursprüngliche Voraussetzung, daß er sich außerhalb seines Horizonts ein Leben weder vorstellen konnte noch wollte. Die Wahl des exotisch fernen Zielorts seines Exils - sie war nicht gänzlich unfreiwillig - symbolisiert diese Unmöglichkeit: ein Ort Nirgendwo außerhalb der einzigen, der rheinisch-toskanischen Ursprungswelt. Wolfskehls Korrespondenz vollzieht die Inversion seines kulturellen Lebensraums in Reflexion. Die Briefe baut er aus zu eigenen Provinzen dieser Kultur der Innerlichkeit. In ihnen pflegt er imaginär, was ihm das wirkliche Leben versagte: moralische Reflexion und Buchwissenschaft, philologische Gelehrsamkeit und selbst auch poetische Daseinsbewältigung. Denn zwar mehrt sich auch das poetische Werk selbst während des Exils. Aber die strenge Ästhetik des Georgeaners will, daß hier nur zur Sprache kommt, was vom Geist durchdrungen und in Symbole aufgelöst werden kann. Da bleibt viel übrig unter den Umständen eines derart beschwerten Lebens. So nimmt der Brief bei Wolfskehl auch auf, was bei einer weniger normativen Poetik sich in Erzählung oder Roman, vielleicht auch in einer Geschichte des eigenen Lebens niedergeschlagen hätte. So überlagern sich im Brief der Roman des äußeren Lebens, intellektuelle Selbstvergewisserung und ästhetische Deutung. Immer wieder nimmt der Schreibende Zuflucht bei der biblischen Mythologie - in Poesie und Briefen -, um seiner ausgerenkten Existenz einen Sinn zu unterstellen. Hiob und Ahasver, diese Archetypen des jüdischen Unbewußten bzw. der Mentalität, die man dem Juden unterstellt, sind seine Brüder. Im Grunde sind sie die Adressaten seiner Briefe, die insofern den Charakter poetischer Anrufungen teilen. Die Brüder im Geiste sind lebensund sprachnotwendige Fiktionen. Ohne die Engel würden Rilkes Duineser Elegien in Schweigen fallen; ohne Hiob und Ahasver wäre Wolfskehl ein Schwerbehinderter, verarmter alter Mann. Auf diesen Gedanken lassen seine Briefe nicht kommen.

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Anders die von Nelly Sachs, aus deren etwa 3000 gesammelten Briefen bisher eine Auswahl von knapp 250 veröffentlicht vorliegt; viel weniger als Wolfskehl gelingt es ihr, selbst nur brieflich-schriftlich einen Raum zu schaffen, in dem sie ihres Lebens sicher wäre. Wolfskehl schöpft im Briefeschreiben die Luft seines eigenen Lebens. Bei Nelly Sachs tritt in ihrer Korrespondenz der unüberbrückbare Zwiespalt ihres Lebens auch nach außen, ohne daß die Schreiberin seiner und ihrer selbst mächtig würde. Sie war zu allererst eine kluge, sensible und umsichtige Hausfrau, die ihre hilfsbedürftige und schließlich kranke und verwirrte alte Mutter und einen Haushalt zu versorgen hatte. Sie liebte die Natur und die einfachen Dinge, zumal wenn sie in Einklang mit ihren literarischen Vorlieben standen: Stifter, Mörike, Keller. Sie hatte gern Gäste im Haus, und sie war freundschaftsfähig und -bedürftig. Die Spekulation ist müßig, ob sie je Dichterin geworden wäre, hätte es nicht die Verletztheit der Jüdin gegeben. Gewiß, geschrieben hatte sie auch vor den drastischen Erfahrungen des Antisemitismus und der Verfolgung. Diese literarischen Anfänge lagen indes im Umkreis einer Gruppe von George-Verehrerinnen und ließen von der späteren Dichterin nichts ahnen: eher Exerzitien der ästhetischen Lebenskunst dieses Milieus, und eigentlich - so schreibt sie später - hätte sie lieber tanzen wollen, nicht schreiben. Aus der Zeit vor ihrer Flucht und Rettung ins schwedische Exil 1940 sind nur wenige Briefe veröffentlicht, doch diese, wie der demütig unfreie, der unbedarfte Ton der frühen schwedischen Briefe legen den Gedanken nahe, daß erst die Erschütterung durch die Demütigung und Verfolgung in Deutschland, die Angst um das Leben der Mutter und ihr eigenes, schließlich die Nachrichten über das Leiden und Martyrium von geliebten Menschen sie zur Dichterin gemacht haben. Etwa fünfzigjährig war sie, als sie bewußt und immer ausdrucksstärker wurde, als die sie nun verehrt wird, eine jüdische Dichterin; beides gleich stark betont. Sie hat sich in beidem als Opfer gefühlt; auch in ihrer literarischen Produktion nämlich als ein Medium, durch das nun das Schicksal ihres Volkes zur Sprache käme. An Max Tau schreibt sie in diesem Sinn am 6. Juli 1944: Sie wissen so gut wie ich, daß es sich da nicht um die Herausgabe von Gedichten handelt. Ob ich es bin oder ein Anderer, der diese letzten Seufzer aufzeichnete, wie gleich. - All die Sehnsucht, die wie in der Zeit der Chassidim die jüdischen Menschen wieder zu ihrem Gott aufbrechen ließ, ist neu lebendig geworden bei den wenigen, die vielleicht dies Entsetzen überleben dürfen. 4 Nelly Sachs war alles andere als eine jüdische Traditionalistin. Bis zu ihrer Verfolgung und Exilierung deutet nichts an ihrem empfindsam und gewissen4

Nelly Sachs an Max Tau, 6.7.1944. In: Briefe der Nelly Sachs. Hrsg. v. Ruth Dinesen u. Helmut Müssener. Frankfurt am Main 1984. S.37.

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haft geführten, durch eine konventionelle bürgerliche Bildung interpretierten Leben auf Außerordentliches. Erst die idee fixe der Exilierten, "daß irgendwo in der Welt Israels Licht wieder angezündet werden" 5 muß, läßt sie ihre eigene Sprache finden. Zurecht hat sie selbst auch gelegentlich die Legenden von der uqüdischen Dichterin abgewiesen und den Bruch, die Zäsur, den Absturz betont als die Erfahrung, mit der sie sich in die Generation von Celan und Canetti einreiht. In ihrem Verhältnis zu Gertrud Kolmar, deren Gedichte sie liebte, spiegelt sich dieses Selbstverständnis. "Gertrud Chodziesner gebrauche ich wirklich nicht mehr" 6 , schreibt sie der Freundin Gudrun Dähnert am 7. Dezember 1949, als diese ihr ein soeben in Deutschland erschienenes Bändchen schickt. So sehr es mich als persönliches Dokument interessiert, gehört es doch schon einer Vergangenheit an wie so vieles, was vor dem großen Martyrium des jüdischen Volkes geschrieben wurde. Zwischen gestern und morgen liegt die Wunde, die offen ist. 7 Oder mit ähnlichen Worten an Carl Seelig am 27. Oktober 1947: Wir nach dem Martyrium unseres Volkes sind geschieden von allen früheren Aussagen durch eine tiefe Schlucht, nichts mehr reicht zu, kein Wort, kein Stab, kein Ton - (schon darum sind alle Vergleiche überholt) was tun, schrecklich arm wie wir sind, wir müssen es herausbringen [...]. 8 Eines Dante, eines Shakespeare würde es bedürfen, stattdessen müsse es sich einer armen schwachen Frau bedienen, die tagsüber einkaufen und ihren Haushalt besorgen müsse, nachts aber ihre Manuskripte aus dem Küchenschrank holt, um aufzuschreiben, was bezeugt werden muß, die Leidensgeschichte. In die Gedichte geht diese Doppelexistenz nicht ein. In ihnen verstummt die Hausfrau mit ihrem Bedürfnis und Anspruch auf Normalität und Alltag. Mir scheint aber, daß der besondere Ort ihrer Verse erst Richtung und im Unterschied von anderer Lyrik der avancierten Moderne beschrieben werden kann, wenn ihre Verschränkung mit dem Leben der Verfasserin bewußt bleibt, wozu der Briefwechsel anhält. Was man hier erfährt, ist noch etwas anderes als die Psychologie einer literarischen Produktion. Es ist eher deren Metaphysik unter den Bedingungen der Moderne des 20. Jahrhunderts. Psychologie würde nur Verstörung konstatieren, aber hier geht es um Stigmatisierung, eine moralische Zeichnung. Die Lyrik hält nur die ekstatische Seite fest, der Briefwechsel ergänzt die andere: daß gleichwohl weitergelebt werden muß, als wäre nichts geschehen. Die Mutter muß versorgt, das Geld 5 6 7 8

Nelly Nelly Ebd., Nelly

Sachs an Moses Pergament, 19.4.1946. In: Briefe der Nelly Sachs (Anm.4), S.51. Sachs an Gudrun Dähnert, 7.12.1949. In: ebd., S. 109. S. 110. Sachs an Carl Seelig, 27.10.1947. In: ebd., S.83f.

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muß - mit Übersetzungen - verdient werden. Wo kann man im nächsten Jahr wohnen. - Was die Germanistik die dichterische Aussage nennt, das Ergebnis von Werkinterpretation, ist darum eine unzulängliche Abstraktion, als dieses Werk sich mit dem Leben seiner Autorin auf so kraß in sich widersprüchliche Weise zu einer poetischen Existenz zusammenschließt, die als solche erst die Summe des Bedeutsamen ausmacht. In den Gedichten ist nur das Exil, die Ekstase, die Jüdin, das Volk Israel. Aber das ist noch nicht das Ganze, worüber sich zu reden lohnt. So tritt der Briefwechsel dazu, in dem der Skandal erst in seinem vollen Ausmaß erkennbar wird: Das Leben ist durch Moral schwer zu beeindrucken. Ein zäher Stoff, bewegt es sich wenig abgelenkt weiter, selbst in ein und dem selben Menschen, der eigentlich nicht weiß, wie er noch weiterleben soll. Die Wiesen sind grün, Enzensberger kommt zu Besuch, die Fische, die Pilze und Beeren schmecken. Ein Thema von Nelly Sachs' Briefen ist die Schuld der Überlebenden: daß das Leben nicht aufgeht im jüdischen Schicksal und nicht eins wird mit dem Martyrium der geliebten Verwandten und Freunde; daß man davongekommen ist, anders als die anderen. Dieses Schuldbewußtsein muß so übermächtig stark gewesen sein, daß es schließlich den Verfolgungswahn hervorbrachte, der zum jahrelangen Aufenthalt in der Nervenklinik führte, der ihre letzten Lebensjahre verdunkelte. Man zögert, das nur als private Krankheitsgeschichte zu behandeln und also auch mit der gehörigen Diskretion zu beschweigen. Zumindest scheint zum intellegiblen Teil dieser Krankheit noch zu gehören, daß eine poetische Existenz, die sich ohne Vorbehalt als ein Medium von Todesopfern versteht, sich derart radikal von der Wirklichkeit der Lebenden abwendet, daß es darin auch kaum noch eine eigene Gegenwart, geschweige denn eine Zukunft haben kann. Das eigene Leben wird dann zur Nachgeschichte der Ermordeten und findet in dieser Nachfolge am Ende seinen einzigen Sinn. Nelly Sachs scheint diese prekäre Verstrickung zumindest halbbewußt gewesen zu sein; so gelegentlich des Verhältnisses zu ihrer Mutter, die sie mit einer geradezu verzweifelten Intensität am Leben zu halten bemüht war, weil diese in der Logik ihres Selbstverständnisses zur einzigen Bindung geworden war, durch die sie ans Leben geknüpft war. An den befreundeten Walther A. Berendsohn schreibt sie: Vielleicht hätten wir uns trotz dieser Liebe einmal leichter und leiser voneinander gelöst, wenn der Tod nicht so furchtbar mit den unseren umgegangen wäre, und sie so das Einzige ist, was mich überhaupt noch mit dieser Erde verknüpft. 9 Nachdem die Mutter dann doch gestorben war, die Anstaltszeit kam und schließlich die Rettung aus dem Verfolgungswahn durch Ärzte und Freunde, schreibt sie an Hilde Domin: 9

Nelly Sachs an Walther A. Berendsohn, 4.12.1948. In: ebd., S. 100.

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Es muß der Schritt gewagt werden, wo Henker und Opfer ausgewischt werden als Begriffe. Dort kann und darf die Menschheit nicht stehenbleiben, wenn nicht dieser Stern seelisch zu Grunde gehen soll. Diese Erfahrung habe ich nun bis zum letzten Blutstropfen gemacht. 10 In Gedichten war das nicht zu sagen. Deren poetische Bedingung, die Reinheit ihres Klanges, rührt daraus, daß sie den Opfern, ausschließlich diesen, gewidmet sind. Wer erfahren will, warum und wie danach dennoch gelebt werden könnte, muß den hermetischen Kreis dieser Welt sprengen. Die Leser von Nelly Sachs werden auch ihre Briefe lesen müssen. Ich möchte diese Perspektive beibehalten, wenn ich mich nun dem dritten und letzten meiner Beispiele zuwende, Arnold Zweig; auch hier also die Frage nach der inneren Logik des Briefwechsels im Zeichen des Exils und zugleich damit nach ihrem unverwechselbaren und nicht austauschbaren literarischen Charakter. Es ist eine Betrachtungsweise, die sich von derjenigen durchaus unterscheidet, wie sie Briefen gegenüber am nächsten liegen mag, der nach den bezeugten sachlichen und persönlichen Lebensumständen. Gewiß, Briefe sind stets auch eine willkommene Quelle, um Lücken in der vita zu ergänzen; mir geht es aber weniger um den äußeren als den inneren Zusammenhang: nicht nur des Lebens, sondern der geistigen Existenz überhaupt. Schließlich sind Korrespondenzen des Exils, so viel ist bisher schon deutlich geworden, nicht bloß ein Netz der Information und des währenden Zusammenhalts, sondern auch der Selbstverständigung und Selbstbestimmung. Unter den drei größeren veröffentlichten Briefwechseln Zweigs mit Sigmund Freud, Louis Fürnberg und Lion Feuchtwanger kommt diesem letzteren besondere Bedeutung für die Poetik des jüdischen Exilbriefs in unserem Jahrhundert zu. Zweig hat sie vom Beginn seines Exils in Palästina 1933 über seine Übersiedlung in die DDR hinaus bis zu Feuchtwangers Tod 1958 aufrechterhalten. Während dieses gesamten Zeitraums, immerhin ein Vierteljahrhundert, haben sich die Briefpartner kaum gesehen, davor allerdings, von 1922 an, als sie sich in München kennenlernten, bis 1933 sehr oft und so regelmäßig, daß es aus diesen Jahren kaum Briefe gibt. Aber erst während des Exils beider Autoren wird aus dem kollegialen ein freundschaftliches DuzVerhältnis. Die Gründe für diese Intimisierung liegen in den Briefen keineswegs offen zutage. Sie brauchen aber außerhalb dieser Korrespondenz gar nicht erst gesucht zu werden, weil es ein Außerhalb so gut wie gar nicht gab. Damit sind wir aber bereits im Zentrum des Problems. Es gibt keinen authentischen, zuverlässigen Zweig, bei dem wir uns bei Gelegenheit von Irritationen Auskunft holen könnten, es gibt ihn nicht jenseits von Auskünften verschiedenen Menschen gegenüber, weil sich sein intellektuelles Leben in 10

Nelly Sachs an Hilde Domin, 4.12.1960. In: ebd., S.260.

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der Exilzeit überhaupt erst in diesen Äußerungen - und dann in Varianten entsprechend dem Partner, dem Anlaß, den eigenen Umständen und Stimmungen - geformt hat. Zweigs Briefwechsel mit Feuchtwanger verdankt sich der festen Entschiedenheit zur persönlichen Zuwendung und zur Fortdauer seines literarischen Daseins. Was bleiben wird, ist Literatur und Freundschaft, so zitiert er mehrfach Heinrich Manns Professor Unrat. Die Projektion dieser Parole auf Feuchtwanger halte ich für relativ zufällig; in einer Hinsicht aber nicht: ein starker Partner wäre kaum infrage gekommen. Feuchtwanger ist als Briefschreiber dürftig. Wie andere ehrgeizige Schriftsteller von Profession sah er jede der Korrespondenz gewidmete Stunde dem Werk abgehen. So beschränkte er sich auf das Minimum von pragmatischen Mitteilungen. Seine Freundschaftsdienste waren ebenso praktischer Art, als die sie nicht in Konkurrenz zum Werk gerieten; Geld leihen, mit Verlagen verhandeln, ein Manuskript korrigieren. Das Mechanische kostete zwar viel Zeit, mindert aber nicht die Konzentration aller wichtigen Reflexion im oeuvre. Also ist der Briefpart Feuchtwangers der des Duldenden. Er hält still, ein zuverlässiger Bahnhof; während zweieinhalb Jahrzehnten Zweigs intellektuelles Zuhause, nicht gerade wohnlich, aber die wichtigste Entlastung von dem ungeliebten Palästina. Das Problem Zweigs ist das Problem des deutschen politischen Idealismus. Er war zu Israel entschlossen, als an diesen Staat noch nicht zu denken; so fest allerdings auch nur, so lange an ihn noch nicht im Ernst zu denken war. Einer der frühesten Publizisten in Zeitschriften der zionistisch-nationaljüdischen Jugendbewegung, fühlt er sich 1933 auf für ihn prekäre Weise im Wort. Er hatte kaum eine andere Möglichkeit, als 1933 nach Palästina zu gehen. Im Rückblick schreibt er in einem Brief vom 20. Februar 1943: Ich bin hierher gegangen, weil ich nicht heimlich Wein trinken wollte, nachdem ich öffentlich 25 Jahre Wasser gepredigt hatte. Gut und schön, aber ich hätte schneller lernen können, daß ich nicht zu den Leuten gleicher Abstammung passe, sondern zu denen gleichen Geistes. 11 Zwischen dieser Äußerung und seiner Ankunft in Palästina liegt ein Jahrzehnt der Desillusionierung. Es beginnt mit der ihm unbegreiflich lethargischen Mentalität von Handwerkern aus Galizien, die seine Bilder nicht richtig rahmen können und seinen Umzug verschlampen und doch immer nur "nu, was kann man da machen" sagen. Es setzt sich fort bei der Behinderung und Vereitelung von Veranstaltungen, mit denen der Moskau-orientierte Zweig die Sache der jüdischen Linken vertreten will und damit in Konflikt mit den Immigranten aus der Sowjetunion gerät, die ihre eigenen Ansichten über Ju11

Arnold Zweig an Lion Feuchtwanger, 20.2.1943. In: Lion Feuchtwanger - Arnold Zweig, Briefwechsel 1933-1958. Hrsg. v. Harold von Hofe. Berlin/Weimar 1984. Bd.l, S.277.

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denpolitik und realen Sozialismus haben; es kulminiert schließlich in der Distanzierung und Entfremdung gegenüber anderen deutschen Einwanderern und Flüchtlingen, die entweder links waren - wie in sozialistisch orientierten Kibbuzim dann aber kaum als intellektuelle Gesprächspartner infrage kamen; oder intellektuell anspruchsvoll auftraten, dann aber nicht auf der politischen Linie Zweigs argumentierten. Dieser bleibt im wesentlichen im deutschsprachigen Milieu, aber dieses muß er ähnlich selektiv zusammenstellen wie seine Korrespondenten, um nicht aus der Bahn geworfen zu werden. So findet der häufig und geradezu trotzig vorgebrachte Wunsch, innerlich jung und emeuerungsfähig zu bleiben, seine zweifelhafte Verwirklichung, indem der Schreiber sich in der Konstellation des Jahres 1933 verschanzt, als läge hier die Gewähr einer ewig spontanen Aktionsbereitschaft und vor allem einer zuverlässigen Orientierung. Nicht ohne Rechthaberei und zunehmend von Erstarrung bedroht, kommentiert er die militärischen Erfolge der Sowjetunion gegen das faschistische Deutschland als einen Triumph der Prinzipientreue. Wie Wolfskehl ist er lange vor seinem Tod schon fast erblindet. Das trägt zur Verengung seines Horizonts bei. Aber entscheidend scheint mir das Unvermögen zu sein, liberal mit sich selbst umzugehen: als würde das Abweichen von einmal angenommenen Überzeugungen die eigene Existenz vernichten. Daher die Wahl eines intellektuell unterlegenen Briefpartners wie Feuchtwanger, um sich selbst zu bestätigen; der Verzicht auf riskante Beziehungen außerhalb des vertrauten sozialen und sprachlichen Milieus in Palästina; am Ende die Übersiedlung in die DDR, scheinbar die zuverlässigste Voraussetzung, um wiederanknüpfen zu können, wo er 1933 stehengeblieben war. Natürlich hat es diese Möglichkeit nie gegeben. Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, das festzustellen. Andererseits hat Zweig offensichtlich in vielem Recht gehabt. Schlagend läßt aber gerade seine Korrespondenz erkennen, wie jemand oft, öfter als mancher andere, Recht haben kann, ohne damit gerecht zu sein. Rechthaben, das ist die schriftliche, nachprüfbare, zitierbare Form von Standpunkten und Überzeugungen. Gerechtsein, das ist das Verstehen und Abwägen, für welches das Richtige relativ ist. Gespräche nötigen viel eher zur Gerechtigkeit, weil die Menschen sich in ihnen gegenwärtig bleiben. Briefwechsel erstarren schnell zu Rollenspielen. Wolfskehl, Nelly Sachs, Arnold Zweig - es gibt keinen gemeinsamen Nenner für diesen epistolographischen Fächer. Wie denn auch. Vor dem literarisch Allgemeinen stehen gerade in der Briefliteratur die individuellen Menschen. So viel aber läßt sich wohl abschließend sagen. Es gibt kein richtiges Leben im falschen, auch literarisch nicht. Briefeschreiben gehört oft zum wenigen, was exilierten Juden bleibt. Aber wie dann auch immer diese Kunst ausgebaut und gepflegt wird: Sie bleibt gezeichnet durch Überforderung. Nicht aus Lebensüberfluß wird hier geschrieben, sondern aus Bedürftigkeit und Mangel, keine günstige Voraussetzung für literarische Kultur.

Klaus Müller-Salget (Bonn)

Alfred Döblin und das Judentum

Die Beziehung zwischen Alfred Döblin und dem Judentum scheint heillos. Daß er, der sich von 1933 bis 1937 für den Neoterritorialismus, die sogenannte Freiland-Bewegung, engagiert hatte, der die Fluchtmöglichkeit in die USA und seinen dortigen Lebensunterhalt weitgehend jüdischen Hilfsorganisationen verdankte, im November 1941 zum Katholizismus konvertiert ist, hat man weithin als Verrat empfunden. Schalom Ben-Chorin, z.B., reagierte 1949 mit dem Artikel Abschied von Alfred Döblin1. Obendrein geistert seit der verheerenden Döblin-Monographie von Klaus Schröter, die 1978 ausgerechnet zum 100. Geburtstag des Autors bei Rowohlt erschienen ist, die Fama durch die Forschung, Döblin sei zumindest zeitweise Rassist, ja Antisemit gewesen. Diese Legende, die Winfried Georg Sebald unbesehen in sein auch sonst wenig informiertes Buch Der Mythus der Zerstörung im Werk Döblins (Stuttgart 1980) übernommen hat, beruht auf Zitatverfälschungen und anderen Manipulationen, die ich bereits 1984 in einem Forschungsbericht aufgedeckt habe. 2 Schröter freilich läßt sich dadurch nicht hindern, seine falschen Behauptungen von Auflage zu Auflage der Monographie weiterzuverbreiten. Sein und auch Sebalds Affekt speist sich ebenfalls aus dem Vorwurf, Döblin sei ein Renegat; ihnen geht es allerdings nicht um das Judentum, sondern um den Sozialismus. Angesichts dieser weitgehend emotional und ideologisch bestimmten Debatte scheint es hilfreich, einen nüchternen Blick auf die Fakten zu werfen. Vorab möchte ich schon vorliegende Arbeiten zum Thema nennen. Da ist zunächst der von Informationen überquellende Aufsatz von Louis Huguet Alfred Doblin et le judai'sme, der 1976 leider an ganz entlegener Stelle veröffentlicht worden ist, nämlich in den "Annales de l'Universite d'Abidjan" (Elfenbeinküste). 3 Eher paraphrasierend als analysierend verfuhr 1981 Klara Pomeranz Carmely im Döblin-Kapitel ihres Buches Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler.4 Vor allem auf jüdische Erzähl-Motive und jüdische Erzählformen konzentrierte sich Hans-Peter Bayerdörfer 1985 in seinem Döblin-Beitrag zu 1 2 3 4

In: Hakidmah, Jerusalem, 1.7.1949. Neuere Tendenzen in der Döblin-Forschung. In: ZfdPh 108 (1984), S.263-277. Serie D, tome IX, p.47-115. Königstein/Ts. 1981, S. 101-114.

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dem Sammelband Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert.5 - Auf diese Arbeiten sei ausdrücklich verwiesen, denn ich beschränke mich im Rahmen meines Vortrags auf ein Nachzeichnen der Grundlinien und richte das Hauptaugenmerk auf Döblins Verhalten ab 1933. Die Eltern des Autors stammten aus der preußischen Provinz Posen, hatten sich in Stettin angesiedelt und waren der jüdischen Religion nur noch oberflächlich verbunden (sogenannte 'Dreitagejuden'). 1912 heiratete Döblin eine Frau aus noch stärker assimilierter Familie, ließ seinen ersten Sohn protestantisch taufen und trat selbst aus dem Judentum aus. 6 Wie sehr ihn der Antisemitismus, der ihm von Kindheit an entgegengetreten war 7 , allgemeiner: die Lage der in die Zerstreuung verbannten Judenheit weiter beschäftigten, zeigen auf je eigene Weise die Romane Die drei Sprünge des Wang-lun (1916) und Wallenstein (1920), insbesondere im Motiv der Verfolgung, Vertreibung ja Tötung Andersgläubiger. 8 - Direkt hat Döblin sich zum Antisemitismus erstmals 1920 geäußert, und zwar in einer der mit 'Linke Poot' unterzeichneten Glossen für Samuel Fischers "Neue Rundschau". 9 Dort hatte er nur Spott übrig für diese (wie er sagte) "kulturhistorische Dämonopathie", die er mit Gespensterfurcht und Hexenglauben auf eine Stufe stellte. Die oft beklagte jüdische Superiorität in Ökonomie und Intellekt wertete er als "Druck- und Verdrängungssymptom", das mit der Aufhebung des Drucks von selbst verschwinden werde. Rassentheorien erteilte er hier wie später eine Absage, denn natürliche und soziale Umweltbedingungen schienen ihm weitaus prägender als "das sogenannte Blut". - Auf den gleichen, bewußt leichtgewichtigen Ton ist der aphoristische Aufsatz Zion und Europa gestimmt, der 1921 im "Neuen Merkur" erschien. 10 Vom Standpunkt des Assimilanten aus wertete Döblin den westeuropäischen Zionismus als "eine Form jüdischer Verärgerung und Nervosität" ab; für die osteuropäische Judenheit schien ihm das Selbstbestimmungsrecht der Völker völlig ausreichend. Anzustreben sei nicht die Rückkehr nach Palästina, sondern staatliche Autonomie im Osten, z.B. in Galizien. Den Antisemitismus verhöhnte er als Schwachsinn der Ober- und Mittelschichten; "in der Praxis, unter den Realien" gebe es gar keinen Antisemitismus. Zwei Jahre später wurde er eines Schlechteren belehrt. Da kam es im Berliner Scheunenviertel, wo die eingewanderten Ostjuden sich konzentrierten, zu pogromartigen Ausschreitungen, und Döblin erwachte aus seiner for' 6 7 8 9

10

Königstein/Ts. 1985, S.161-177: "'Ghettokunst'. Meinetwegen, aber hundertprozentig echt." Alfred Döblins Begegnung mit dem Ostjudentum. Vgl. Alfred Döblin: Briefe. Ölten und Freiburg i.Br. 1970. S.259. Vgl. Alfred Döblin: Schriften zu Leben und Werk. Ölten und Freiburg i.Br. 1986. S.63f. Vgl. Huguet (Anm.3), S.56-62. Revue, in: Die Neue Rundschau 31 (1920), Bd.I, S.261-270; jetzt in: Alfred Döblin, Der deutsche Maskenball. Wissen und Verändern. Ölten und Freiburg i.Br. 1972. S.74-84. Jetzt in: Alfred Döblin, Kleine Schriften I. Ölten und Freiburg i.Br. 1985. S.313-319.

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eierten Indolenz. 11 Er folgte der Einladung zu zionistischen Veranstaltungen, nicht aber dem Angebot, Palästina zu besuchen, denn Palästina blieb ihm ein vor allem ideologisch besetztes Ziel, passend nur für rückwärtsgewandte, altreligiös gebundene Juden, im übrigen zu klein für die Rettung des gesamten Galut-Judentums. In einem auf März 1924 zu datierenden Vortrags-Konzept mit dem Titel Zionismus und westliche Kultur hielt er fest: "Das Ideal: eine jüdische Ostrepublik". 12 Dieses Beharren auf der Autonomisierung der Ostjuden dort, wo sie bereits ansässig waren, hat zu tun mit Döblins eigener Herkunft aus diesem Raum. 13 Dieser Herkunft nachzuspüren und sich endlich einmal kundig zu machen über Wesen und Existenzweise der Ostjuden, wurde ihm zum Bedürfnis. Finanziert vom S. Fischer-Verlag und von der "Vossischen Zeitung", die fortlaufend seine Reiseberichte abdruckte, hielt er sich von Ende September bis Ende November 1924 in Polen auf. Diese Reise ist für ihn in vieler Hinsicht folgenreich gewesen, auf philosophischem, religiösem, romantheoretischem wie romanpraktischem Gebiet, und eben auch bezüglich seiner Einschätzung des Judentums. Daß die Juden ein Volk seien, ist ihm erst hier voll bewußt geworden. Hans-Peter Bayerdörfer hat ausführlich dargetan, wie das aus den Einzelberichten erwachsene Buch Reise in Polen Döblins Erkenntnisweg vom Registrieren verwirrender Vielfalt in ein dialogisches Verstehen nachzeichnet, kulminierend im Gespräch mit dem Rabbi der Strickower Chassiden, das er als "vollkommenes Labsal" empfunden hat. 14 Aus der Erfahrung, daß das so vielfältig gedemütigte polnische Volk nun doch endlich wieder in einem eigenen Staat lebte, zog Döblin einen hoffnungsvollen Schluß für das jüdische Volk: Die Polen "sitzen in ihren eigenen Häusern. Den Juden kann es nicht entgehen." 15 Seine Ansicht, daß es vor allem aber um eine innere Erneuerung des Judentums gehe, um eine Erhebung aus der demütigenden Exilexistenz und dem, wie er meinte, schrecklichen und hoffnungslosen Messiasglauben, artikulierte sich dann im VII. Buch der Schrift Unser Dasein, die zwar erst im April 1933 erschien - und umgehend verbrannt wurde -, an der er aber schon seit 1927 gearbeitet hatte. Daß Juden, jüdische Überlieferung, jüdische Erzählweise auch in seinem berühmtesten Roman, Berlin Alexanderplatz 11

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Vgl. seinen Bericht: Während der Schlacht singen die Musen. In: Prager Tagblatt, 11.11.1923; jetzt in: Alfred Döblin, Griffe ins Leben. Berliner Theaterberichte 19211924. Hrsg. u. eingel. v. Manfred Beyer. Berlin 1974. S.220-223. Vgl. den Abdruck in: Alfred Döblin 1878/1978. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar. München 1978. ( = Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums, Katalog Nr. 30, hrsg. v. Jochen Meyer in Zusammenarbeit mit Ute Doster). S.360. Vielleicht ist Döblin auch von der autonomistischen Konzeption Simon Dubnows beeinflußt worden. Dessen Neueste Geschichte des jüdischen Volkes findet sich im Anhang zur Reise in Polen (Anm. 14, S.345), allerdings nur in der Rubrik "Ich blätterte in". Vgl. Alfred Döblin: Reise in Polen. Ölten und Freiburg i. Br. 1968. S.330; Bayerdörfer (Anm. 5), S. 165. Reise in Polen (Anm. 14), S.99.

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(1929), eine große Rolle spielen, kann hier nur am Rande erwähnt werden. 16 - Im VII. Buch von Unser Dasein mit dem Titel "Wie lange noch, jüdisches Volk - Nichtvolk?" plädiert Döblin für eine Hinwendung der Juden zum vollen Leben, und das heißt auch: zu eigenem Land und eigener Verantwortung. Die Bedrohung der Juden faßt er in prophetische Sätze - die angesichts des schon vor 1933 stark anwachsenden Antisemitismus in Deutschland freilich keiner besonderen Sehergabe bedurften: Aus der Geschichte müssen die Juden wissen, daß keine Leistung, keine Willfährigkeit und Ergebenheit schützt, sondern nur Kräfte, Macht und ihre kluge Anwendung. [...] Von Zeit zu Zeit treten Massenbewegungen auf, die auf ihre direkte Vertreibung oder Ausrottung ausgehen [...]; es ist in allen Ländern nur ein kleiner Schritt von der Papierstaatsbürgerschaft zum Pogrom oder neuen Ghetto. [...] Glaube sich keiner, keiner, der Jude ist, irgendwo seines Bürgerrechts oder auch seines Lebens sicher.17 Angesichts dieser starken (und berechtigten) Warnungen erscheint der konkrete Vorschlag, eine jüdische Weltzentrale zu bilden und nicht allzu früh nach einem Staat zu rufen 18 , als vergleichsweise matt. Man muß aber sehen, daß es Döblin vor allem um eine Bewußtseinsänderung zu tun war, konkret: um eine Erneuerung der jüdischen Religion im Rückgang auf den ursprünglichen starken Gottesglauben und um die Erkenntnis einer Verpflichtung der Menschen zu vollem, aktivem Dasein. Im Grunde handelt es sich um eine spezielle Ausformung von Döblins damaliger philosophischer Konzeption des Menschen als 'Stück und Gegenstück der Natur': als scheinbar belangloses Partikelchen im Weltganzen und gleichzeitig als erkennendes und eingreifendes Kraftzentrum.19 Dementsprechend heißt es denn auch am Schluß des VII. Buches von Unser Dasein·. "Die Religion, von der hier geredet wurde, ist keine Religion der 'Juden', sondern der Menschen."20 Deutlich wird hier (wie auch später), daß Döblin den Juden eine exemplarische historische Rolle zugedacht hatte: Sie sollten mit ihrer 'neuen Religion' und mit einer Volkwerdung ohne Nationalismus den abendländischen Völkern ein Beispiel geben. Döblins Enttäuschung über die tatsächliche Entwicklung nach 1933 ist hier schon abzusehen. Wie immer man die bislang vorgestellten Gedankengänge beurteilen mag: Es dürfte klar geworden sein, daß Döblin sich keineswegs, wie Sebald gehäs16 17 18 19

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Vgl. Bayerdörfer (Anm.5), S. 168-171. Alfred Döblin: Unser Dasein. Ölten und Freiburg i. Br. 1964. S.385, 389, 399, 400. Ebd., S.398ff. Vgl. hierzu Klaus Müller-Salget: Alfred Döblin. Werk und Entwicklung. 2.Aufl. Bonn 1988, S.241-247. Unser Dasein (Anm. 17), S.413.

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sig behauptet, erst im Exil "mit den Fragen einer jüdischen Politik [...] beschäftigt" und der Assimilation eine Absage erteilt hat. 21 Wohl aber erfuhren seine Vorstellungen im Exil eine wesentliche Konkretisierung. Noch in Berlin hatte er den Roman Babylonische Wandrung oder Hochmut kommt vor dem Fall zu schreiben begonnen, den er später als Vorahnung des Exils empfunden hat. Daß der Fluch des Propheten Jeremias den schuldbeladenen babylonischen Gott Marduk zu seiner mühseligen Erdenfahrt und schließlich zur Buße zwingt,, kann aber auch als eine vorweggenommene Rachephantasie des Juden Döblin gelesen werden. - Ebenfalls noch in Berlin hatte er Kontakt zu Vertretern des Neoterritorialismus gefunden. Dieser Versuch einer Wiederbelebung der 1926 aufgelösten territorialistischen Bewegung zielte auf die Schaffung von Siedlungsräumen für die bedrohten europäischen Juden. Vom Zionismus unterschied der Territorialismus sich einerseits in der Ausrichtung auf andere Gebiete als Palästina (Angola, Uganda, auch Peru waren im Gespräch), zum anderen in der Absicht, nicht das Neuhebräische zur allgemeinen Sprache zu machen, sondern das Jiddische, weshalb die Territorialisten auch Jiddischisten genannt wurden. Unter diesem Namen erwähnt Döblin sie schon in Unser Dasein mit Sympathie, denn ihm schien diese Bewegung liberaler, offener und universaler als der Zionismus. 22 In Zürich, seinem ersten Exil, hatte er außerdem Vertreter der O.R.T. kennengelernt, einer 1880 in St. Petersburg gegründeten "Gesellschaft zur Förderung des Handwerks, der Industrie und der Landwirtschaft unter den Juden" 23 , die ebenfalls außereuropäische Siedlungsräume zu erwerben suchte. (Der ursprünglich russische Name der Gesellschaft wurde später ins Englische übertragen als "Organization for Rehabilitation through Training"). Der O.R.T. ist später das berufliche Fortkommen bzw. das Überleben von Döblins Söhnen Peter und Klaus zu danken gewesen. Döblin selbst hat sich sowohl hier als auch bei den Territorialisten bis 1937 stark engagiert. Zunächst arbeitete er das VII. Buch von Unser Dasein um, fügte vor allem ein Kapitel "Jüdische Massensiedlungen und Volksminoritäten" hinzu, das im September 1933 in der ersten Nummer von Klaus Manns Zeitschrift "Die Sammlung" vorabgedruckt wurde. Das Ganze erschien dann einen Monat später unter dem Titel Jüdische Erneuerung bei Querido in Amsterdam. Angesichts der Machtübergabe an die Nazis in Deutschland konnte die Idee der Schaffung einer jüdischen Weltzentrale nicht mehr genügen; nun forderte Döblin die "Gewinnung des Minoritätenrechtes für die Juden" und die "Vorbereitung der großen außereuropäischen Massensiedlungen", die in der Lage sein sollten, "das Gros der gesamten Judenheit" aufzunehmen. 24 An seinen Vorbehalten gegen den Zionismus hielt er fest, nannte Angola, Peru, 21 22 23 24

Vgl. Sebald, S.38. Vgl. auch Huguet (Anm.3), S.83. Lexikon des Judentums. Gütersloh, Berlin, München und Wien 1971, Sp.606. Alfred Döblin: Jüdische Erneuerung. Amsterdam 1933. S.68, 71 und 72.

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Australien als mögliche Siedlungsräume und meinte: "Es wird, gerade um den Nationalismen zu entgehen, gut sein, sich mehreren Territorien zuzuwenden." 25 - Zwei Jahre später, in der Schrift Flucht und Sammlung des Judenvolks, war eine deutliche Annäherung an den Zionismus zu verzeichnen. Die Vorbehalte gegen einen jüdischen Nationalstaat nahm Döblin nun zurück, denn "ein Ding, welches für Staaten von heute 'reaktionär' ist", könne "für die flüchtigen jüdischen Massen 'progressiv' sein". 26 Auch die Zentrierung auf Palästina erkannte er jetzt als überlegen an, bezeichnete die frühere Diskussion über Uganda statt Palästina als "auf dem Hintergrund der jüdischen Geschichte kindlich" 27 , beklagte allerdings weiterhin die, wie er sagte, zugleich elitären wie provinziellen Verengungen der zionistischen Idee in der Praxis. 28 In der Zwischenzeit hatte er eine umfangreiche Vortrags- und Organisationstätigkeit entfaltet. Im November 1933 gehörte er zu den Gründern der Pariser "Liga für jüdische Kolonisation", die 1935 eine Sektion der internationalen Freiland-Liga wurde und in deren Vorstand Döblin bis 1936 aktiv war. Mehrere seiner Aufsätze erschienen in jüdischen Zeitschriften auf Jiddisch, und er selbst begann Jiddisch zu lernen 29 , kam dabei allerdings wohl auch nicht weiter als mit dem Französischen. Im Juni 1935 redigierte er das einzige deutschsprachige Heft der Zeitschrift "Freiland", in dem er den programmatischen Aufsatz Grundsätze und Methoden eines Neuterritorialismus veröffentlichte. 30 Im Monat darauf nahm er in London an der Konferenz der europäischen Freiland-Ligen teil, hielt den Eröffnungsvortrag Ziel und Charakter der Freilandbewegung31 , sprach auch das Schlußwort, war vom Verlauf des Ganzen aber tief enttäuscht. Statt der von ihm erhofften Grundsatzdebatten kümmerte man sich hauptsächlich um Organisatorisches und um Querelen zwischen den verschiedenen Gruppierungen. 1938, nach seiner Trennung von den Territorialisten, hat er seinem Unmut in einem Artikel für die Pariser Zeitschrift "Ordo" Luft gemacht; "erbärmliches Intrigantentum, Faulheit, Doppelzüngigkeit und den erschütterndsten Unernst" habe er damals erlebt, "Ränkeschmiede, Maulhelden, Politikaster, Stellenjäger" seien da am Ruder. 32 In dieser Schelte kulminierte, was sich über mehrere Jahre in Döblin aufgestaut hatte. Schon im Dezember 1934 hatte er an Isidor Lifschitz ge25 26

27 28 29 30

31

32

Ebd., S.73. Alfred Döblin: Flucht und Sammlung des Judenvolks. Aufsätze und Erzählungen. Amsterdam 1935. S.126. Ebd., S.130. Ebd., S.132. Vgl. Briefe (Anm. 6), S.207. Jetzt in Alfred Döblin: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Ölten und Freiburg i.Br. 1972. S.309-338. Auf Jiddisch veröffentlicht: Cil un charakter fun der Frajland-Bawegung. Warsze (Frajlandlige far teritoijalistiszer kolonizacje) 1935. Alfred Döblin: Von Führern und Schimmelpilzen. In: Ordo, l.Jg., Nr.3 (5.8.1938).

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schrieben: "Ich selbst habe nur eine halbe Freude an der Liga, weil sie zu einseitig sich auf 'Land' verlegt und nicht das nach meiner Meinung centrale Thema der Menschen, der jüdischen allgemeinen Erneuerung aufgreift." 33 Damals setzte er noch Hoffnungen auf die Londoner Konferenz, spielte andererseits mit dem Gedanken, sich vom Territorialismus zu trennen und einen "Bund Neues Juda" zu gründen. 34 Er wollte nicht ablassen von seinen im Grunde (und angesichts der historischen Situation erst recht) utopischen Vorstellungen, hoffte, weiter, einerseits eine konkrete Umsetzung seiner damaligen Konzeption vom Menschen herbeiführen helfen zu können, andererseits für sich selbst eine geistige Gemeinschaft und eine Heimat zu finden. Neben die inneren Irritationen traten solche von außen. Sein Engagement für den Territorialismus stieß bei vielen Mitemigranten auf Unverständnis, wenn nicht gar, wie in der kommunistischen Exilpresse, auf den Vorwurf, er habe sich vom Faschismus anstecken lassen. 35 Auch Ludwig Marcuse reagierte auf die "Freiland"-Nummer vom Juni 1935 mit einer heftigen Polemik. 36 Was Döblin trotz solcher Negativerlebnisse bis 1937 an der FreilandBewegung festhalten ließ, war wohl nicht zum wenigsten die Bekanntschaft mit Nathan Birnbaum, dem Verfechter eines religiös gefärbten Territorialismus, in dessen Zeitschriften "Der Ruf" (Rotterdam) und "Volksdienst" (London) er mehrere Artikel veröffentlichte und mit dem er eine (bislang nicht publizierte) intensive Korrespondenz geführt hat. 37 Über alle inhaltlichen Divergenzen hinweg verehrte Döblin die moralische und intellektuelle Integrität Birnbaums, dessen Tod am 2. April 1937 ihn einer wesentlichen Stütze beraubte. Damals arbeitete er schon seit längerem an seiner Südamerika-Trilogie Das Land ohne Tod, in der er die Geschichte des Abendlandes seit dem Zeitalter der Entdeckungen reflektierte und im Geist des von ihm so genannten 'Promethismus' (in der totalen Autonomisierung des Menschen und in der Herausbildung eines instrumenteilen Denkens) die Ursachen für den Absturz in den Faschismus zu entdecken glaubte. Der größte Teil der Trilogie ist der Geschichte der Jesuitenrepublik in Paraguay gewidmet, dem schließlich scheiternden Versuch, ein Gemeinwesen und eine Zufluchtsstätte abseits des hektischen Eroberns, Vertreibens, Ausrottens zu schaffen. Was hier in Wahrheit (oder doch wesentlich mit-) gemeint war, erhellt aus einem Passus in Flucht und Sammlung des Judenvolks bzw. in Grundsätze und Methoden eines Neuterritorialismus. Dort wird als Einwand der "Realisten, Historiker, Sozialisten" gegen den Territorialismus formuliert (und zurückgewiesen), 33 34 35

36 37

Briefe (Anm. 6), S.199. Ebd., S.200. Vgl. Otto Heller: Das dritte Reich Israel. In: Neue deutsche Blätter, 1 .Jg., Nr.5 (Januar 1934), S.304-313; Maria Lazar: Die Infektion des Doktor Döblin. Ebd., Nr.6 (15.2.1934), S.380-383. Döblin greift ein. In: Das Neue Tagebuch, 3.Jg., Nr.33 (17.8.1935), S.783-785. Vgl. Huguet (Anm.3), S.89-94.

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solche Bemühungen seien wirklichkeitsfremd und völlig idealistisch: "Wir haben an den Jesuiten in Paraguay ein Beispiel. Es gibt keine Inseln mehr auf der Erde." 38 - In der Südamerika-Trilogie, die er im gleichen Jahr zu schreiben begann, hat Döblin für sich selbst diesen Kritikern sozusagen recht gegeben. Ebenfalls 1935 hatte er in der Pariser Nationalbibliothek die Schriften Sören Kierkegaards und die des Mystikers Johannes Tauler entdeckt. Hier eröffnete sich für ihn persönlich ein neuer Weg auf seiner Suche nach einer Konkretisierung dessen, was er 1927 noch "das Ich über der Natur" oder auch den "ewigen Urgrund" genannt hatte. Auffällig war schon die häufige Nennung Gottes in den Schriften zur 'Judenfrage', insbesondere in Flucht und Sammlung des Judenvolks·, dort stand sogar ein Gebet am Ende. - Daß der ehemals kämpferische Atheist Döblin sich schließlich der Religion zuwandte, kann niemanden verwundern, der seine Werke aufmerksam gelesen hat: Die religiöse Unterströmung ist von früh auf unverkennbar, und seine Rebellion gegen die Vater-Autorität entsprang gerade der Sehnsucht nach einer solchen. Warum aber ausgerechnet der Katholizismus? Auch das ist so verwunderlich nicht. Die jüdische Religion in der ihm bekannten Form 39 und der jüdische Ritus 40 blieben ihm innerlich fremd. Die Gestalten der Gottesmutter und des Gekreuzigten dagegen haben ihn schon früh fasziniert (eine Faszination, die aus biographischen Voraussetzungen erklärt werden kann), und auch da hat die Reise nach Polen bestärkend gewirkt. Tief beeindruckt war er von der polnischen Madonnenverehrung, von der Krakauer Marienkirche und dem Kruzifix des Veit Stoß hoch über dem Mittelschiff, eine Szenerie, die er im dritten Band der Südamerika-Trilogie noch einmal beschworen hat und die ihm verwandelt wieder vor Augen trat, als er 1940 auf der Flucht durch Frankreich in einem Flüchtlingslager gestrandet war, der Verzweiflung anheimzufallen drohte und vor dem Kruzifix in der Kirche von Mende erkannte, daß seine bisherige Weltanschauung ihm nicht weiterhalf. In seiner Konzeption vom Menschen als 'Stück und Gegenstück der Natur' war nämlich ein zentrales Problem ungelöst geblieben: das des Leidens in und an der Zeitlichkeit. Nun, 1940, glaubte er zu erkennen: "Der Mangel an Gerechtigkeit in dieser Welt beweist, dies ist nicht die einzige Welt." und: "Es ist unmöglich, den 'Ewigen Urgrund' zu empfinden. Es muß, damit es ganz an uns herankommt, das Wort 'Jesus' hinzutreten." 41 In Los Angeles 38

39

40 41

Flucht und Sammlung des Judenvolks (Anm.26), S.119 bzw. Schriften zur Politik und Gesellschaft (Anm. 30), S.327. Vgl. Briefe (Anm.6), S.275 ("Eine Religion muß für alle Völker und alle Menschen gleich sein, und da giebt es kein 'ausgewähltes Volk'."), S.259 ("Die jüdische Religion ist eine Nationalreligion.") , S.406 ("Ich konnte mit dem Nationalen, das am alten Judentum in der Religion noch hängt, schon lange nichts anfangen."). Vgl. Schriften zu Leben und Werk (Anm. 7), S.62. Alfred Döblin: Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Frankfurt am Main 1949. S. 169 und 214.

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suchte er dann das Gespräch mit Patres der Societas Jesu, deren Bemühungen um eine behutsame Indiander-Mission er ja schon im 2. Band der Südamerika-Trilogie ein Denkmal gesetzt hatte. Ein Übertritt zum Protestantismus, dem seine Frau und sein ältester Sohn schon angehörten, kam für ihn nicht in Frage; diese Ausformung des Christentums war ihm zu abstrakt und ermangelte des Bilderreichtums, der ihn am Katholizismus gerade faszinierte. 42 Seine Hinwendung zum katholischen Glauben ist also eine sehr persönliche, von seiner Biographie und seiner weltanschaulichen Entwicklung her nicht unverständliche Entscheidung gewesen, über die man schwerlich rechten kann. Anders steht es vielleicht mit der Geheimhaltung dieser Entscheidung bis Kriegsende. Hier spielten zwei Motive ineinander, deren jeweiliges Gewicht sich schwer abschätzen läßt. Zum einen wollte Döblin seine Konversion nicht zum Politikum werden lassen, nicht den Eindruck erwecken, er lasse das verfolgte jüdische Volk im Stich. An das befreundete jüdische Ehepaar Elvira und Arthur Rosin schrieb er am 17. September 1941: Würde ich, was gar nicht der Fall ist, heute oder morgen katholisch oder protestantisch werden, warum sollte ich es nicht, - wofern es 'in meinem Busen' bleibt? Es wird jetzt bekannt, daß der Philosoph Bergson, bekanntlich ein Jude, schon jahrelang Katholik war; er behielt es aber als seine Privatsache bei sich und wußte, daß in dieser Zeit ein Hervortreten damit bedeuten würde, dem eigenen Volk in den Rücken zu fallen. 43 Und, auf sich selbst bezogen: Würde ich mit irgendwelcher christlicher Haltung und entsprechenden Worten an die Öffentlichkeit treten, und gar jetzt, so würde das ein 'Verrat' sein, nämlich an dem, was ich ja auch bin, am Jüdischen. 44 Andererseits war Döblin damals von den Zuwendungen jüdischer Hilfskomitees und jüdischer Privatpersonen wie des Ehepaars Rosin abhängig und vermied es auch darum ängstlich, von seiner Konversion etwas verlauten zu lassen. Den Sohn Peter bat er am 6. Dezember 1943 zum wiederholten Male dringlich um "absolute Diskretion": "ich hätte sonst massenhaft Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten dadurch; ich will es während des Krieges absolut zurückhalten." 45 Hierüber abschließend zu urteilen fällt nicht leicht. Elvira Rosin immerhin, die auf erste Gerüchte von Döblins Konversion mit dem Vorwurf des 42 43

44 45

Vgl. Huguet (Anm.3), S . I I I . Briefe (Anm.6), S.259. Bergson hat allerdings aus den genannten Gründen, ebenso wie später Franz Werfel, auf die Taufe verzichtet. Ebd., S.258. Ebd., S.298.

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Verrats reagiert hatte, ist nach der Lektüre des Religionsgesprächs Der unsterbliche Mensch (1946) offenbar anderen Sinnes geworden. Jedenfalls schrieb Döblin ihr am 30. September 1948: "Der gute alte Ton hat mich wirklich sehr gefreut, liebe Frau Elvira: Sie haben wieder so aufrichtig, aber diesmal versöhnt geschrieben." 46 Abgesehen von autobiographischen Mitteilungen finden Äußerungen Döblins zum Judentum und zum Staat Israel sich in den späten Schriften nur selten. Gelegentliche Bemerkungen in seinen Radio-Beiträgen Kritik der Zeit, die er von 1946 bis 1952 über den Südwestfunk gesprochen hat, sind - soweit ich sie bislang kenne - eher oberflächlich. 47 Interessanter sind zwei Briefe an Arnold Zweig, der 1948 aus Israel nach Ost-Berlin zurückgekehrt war. Am 16. Juni 1952 schrieb Döblin an ihn: Ich denke auch öfter, sehr oft an Palästina und an das Judentum. Sie waren ja drüben, aus welchem Grunde Sie zurückkehrten, weiß ich nicht, aber mir scheint auch, so positiv man zu vielen drüben steht, so sehr man die Heimstätte begrüßt, es dürfte drüben kaum der rechte Platz für unsereins sein, das Judentum ist längst geistig aus dem nationalen und lokalen Rahmen herausgetreten, und wie können dann gerade die Geistigen und Intellektuellen wieder in den alten Rahmen, den eine andere Geistigkeit geformt hatte, zurück treten: wir haben die Pflicht und den Willen, für eine größere und neue Gesellschaft den Rahmen zu formen [•••Ι48 Am 6. Oktober desselben Jahres aber, nachdem Zweig die Gründe für seine Rückkehr zu erklären versucht hatte, schrieb Döblin im Anschluß an eine Philippika gegen die restaurativen Tendenzen in der Bundesrepublik: Sie werden staunen über das, was ich Ihnen über Ihre Israelsätze sage: Sie hätten besser drüben bleiben sollen, dort genau die Sache, die Sie jetzt vertreten, dort vertreten sollen. Dort drüben wären Sie ein lebendiges und aktives Element, in Deutschland macht man Sie zu Schutt und Asche. 49 Allgemeiner, nicht nur aus der Perspektive der jeweiligen Wirkungsmöglichkeit, hatte er sich schon am 4. Mai 1950 in einem Brief an Martin Buber geäußert: Es ist etwas Schönes und Neues und wahrhaft Gutes, das Sie dort ins Leben gerufen haben, eine Zufluchtsstelle für große Massen schuldloser und gejagter Menschen. Und mehr: Die Sicherung dieser Menschen im Zusammenhang mit einem Boden, der ihnen 46 47

48 49

Ebd., S.393; vgl. auch ebd., S.406. Alexandra Birkert, die eine Edition von Döblins Rundfunkarbeiten vorbereitet, hat mir inzwischen mitgeteilt, daß Döblin der Entstehung des Staates Israel mehrere positive Stellungnahmen gewidmet hat. Briefe (Anm. 6), S.453. Ebd., S.456.

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dann wirklich Heimat wird. [...] Dies haben Sie begonnen, und dies führen Sie jetzt weiter, und ich freue mich darüber, wie ich mich über Ihren Staat freue, daß er da ist. Mich selbst hat meine Geburt, mein Wachstum, mein Schicksal, auf einen anderen Weg geführt, der auch nicht zufällig und neuartig ist. [...] Für mich steht die Frage [...] nicht nach Land und Staat und politischer Heimat, sondern nach Religion, nach Diesseits und Jenseits und nach dem ewigen Urgrund, den Sie und ich Gott nennen. Ich kann darum Ihre Haltung und alles, was Sie betreiben, segnen und kann doch für mich selber sagen, hier im Lande: Ich spreche nicht von Staat und nicht von der Heimat, aber so ist es geworden, und hier stehe ich und kann nicht anders. 50 Um diesen durchaus fragmentarischen Überblick abzuschließen, möchte ich festhalten: Das Judentum, die jüdische Herkunft, die jüdische Überlieferung und das, was man beschönigend 'das jüdische Schicksal im 20. Jahrhundert' nennt, sind für Döblins Leben und Werk von entscheidender Bedeutung gewesen. Er verdankt dem Judentum Grundmotive seines Fühlens, Denkens und Schreibens, und in den Jahren 1924 bis 1937 hat er es auch an persönlichem Einsatz nicht fehlen lassen (wie immer man über die Richtung dieses Einsatzes denken mag). Daß er dann den Schritt vom Judentum zum Christentum getan hat, einen Schritt, den er als auch objektiv historisch vorgezeichnet empfand 51 , bleibt eine persönliche Entscheidung, die man als solche wohl hinnehmen muß. Wie es umgekehrt steht: Wieweit aus jüdischer Sicht dieser schwierige Mensch und schwierige Autor denn doch auch als Gewinn, vielleicht sogar als doch auch ein 'Gerechter' angesehen werden kann, darüber steht ein Urteil mir nicht zu.

50 51

Ebd., S.411f. Vgl. ebd., S.406: "Ich spreche vom Christentum, und dieses ist natürlich erwachsen aus dem Jüdischen. Es läuft ja, wie tausendmal festgestellt, auch objektiv eine einzige Linie von einem Bekenntnis zum anderen."

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Nathan am Broadway Ferdinand Bruckners Lessing-Inszenierung - Gastgeschenk eines deutschen Juden an ein Immigrationsland

ι Als 'magna Charta' des deutschen Judentums hat George Mosse bekanntlich Lessings Nathan der Weise bezeichnet. Nimmt man die Metapher beim Wort, d.h. in ihrem juridisch-politischen Sinn, als 'magna Charta libertatum', so besagt sie, daß Nathan für die Juden die rechtdenkende, rechtschaffende und damit Rechtssicherheit verbürgende Qualität des deutschen Geistes ausdrückt. Illusion und Gefährdung, die damit verbunden sind, hat Ernst Simon scharf hervorgehoben und - Walter Jens' temperamentvolle Entgegnung hervorrufend 1 - die humane Substanz der Figur, des Dramas insgesamt als illusionär verworfen und dies wirkungsgeschichtlich bekräftigt, da Nathan nur "Scheinjuden nach seinem Ebenbilde", nicht aber wahres jüdisches Selbstbewußtsein hervorgerufen habe. 2 Simon formuliert damit bereits 1929, was die "Jüdische Rundschau" am 14. April 1933 - rund einen Monat vor der Bücherverbrennung, bei der auch Nathan in Flammen aufgeht - aus Anlaß des 150. Jahrestags der Berliner Uraufführung des Stückes feststellt: "So ist dieses Werk eines edlen Geistes den deutschen Juden zum Verhängnis geworden, weil es eine Illusion nährte." 3 Dennoch ist zu fragen, ob dieser Abgesang auf Nathan der Bedeutung des Stückes für das deutsche Judentum, gerade auch in der Verfolgungszeit, gerecht wird: der verbrannte Nathan jedenfalls hat auch im Jahrzwölft des deutschen Ungeistes Signalfunktion für Existenz und Anspruch eines anderen Geistes, und das nicht nur auf der Bühne des "Jüdischen Kulturbundes" in Berlin, sondern auch auf der Bühne des Exils. Geistesgeschichtlich gesehen dürfte sich das Lessingbild der deutschen Juden 4 von dem der Deutschen - und die Rede ist hier vom liberalen Teil des 1 2

3 4

Walter Jens: "Nathan der Weise". In: Kanzel und Katheder. München 1984. S.44ff. Ernst Simon: Lessing und die jüdische Geschichte [1929]. In: Simon, Brücken. Gesammelte Aufsätze. Heidelberg 1965. S.215-219, Zitat S.219. Jüdische Rundschau, 3.4.1933. Heinz Moshe Graupe hat nachgewiesen, daß Lessing und Kant in einem Prozeß selektiver Akzentuierung die einflußreichsten Instanzen des Denkens für die Juden in Deutschland geworden sind. Vgl. Graupe: Die Entstehung des modernen Judentums. Geistesgeschichte der deutschen Juden 1650-1942. Hamburg 1969, 2. rev. u. erw. Aufl. 1977. S.142ff. u.ö.

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Bildungsbürgertums, nicht vom nationalistischen oder gar klerikal-antisemitischen, der ja, mit der Stimme von Adolf Stoecker, den prekären Nathan zum Christen erklärte - deutlich unterscheiden. Während auf der Ebene der deutschen bildungsbürgerlichen Rezeption Nathan unter Vernachlässigung der 'jüdischen Frage' auf den Begriff allgemeiner abstrakter Toleranz gebracht und in dieser Hinsicht im Laufe des 19. Jahrhunderts vielfach verwässert wird, bleiben auf deutsch-jüdischer Seite merkbar andere Akzente bestehen. Es ist das im Deutsch-Israelitischen Gemeindebund vertretene liberale Judentum, das im Jahre 1879 das Jahrhundertjubiläum der Veröffentlichung von Nathan mit dem Doppeljubiläum des 150. Geburtstages Mendelssohns und Lessings verbindet. Die Einleitung zu dem Gedenkbuch beschwört die Symbolik der Konstellation angesichts des Berliner Antisemitismus-Streites und verweist darauf, daß kein anderes Volk ein solches (dramatisches) Werk sein geistiges Eigentum nenne wie das deutsche. Zugleich werden aber spezifische Verstehensprämissen für das wirkliche Verständnis dieses Eigentums genauer formuliert: Sie [sei. Mendelssohn und Lessing] sollen die flammenden Zeichen sein zur dauernden Erhaltung freundschaftlicher Gesinnung, herzinniger Vereinigung zwischen Denen, die dem Vaterglauben Lessings und Denen, die dem Vaterglauben Mendelssohns angehören. Sie allesammt sollen ihr Ideal erblicken im Nathan. 5 Welche offenkundigen Illusionen sich auch immer mit Nathan verbinden mögen - im Selbstbewußtsein des liberalen Judentums bezeichnet der Name gerade nicht Selbstpreisgabe und vorbehaltlose Assimilation, vielmehr die Überzeugung, daß in jenem "Krongut deutscher Geisteskultur", wie es in der CV-Zeitung von 1933 heißt 6 , als 'magna Charta' des Geistes und des Ethos der 'Symbiose' das Mendelssohnsche und das Lessingsche Erbe zu gleichen Teilen und gleichwertig niedergelegt seien. Es ist dieses Moment der Ebenbürtigkeit, was auch in der Stunde der radikalen Aufkündigung jeder Gemeinsamkeit seitens des nationalsozialistischen Staates die Berufung auf Nathan immer noch bedeutsam, immer noch möglich macht und ihr inhaltliches Gewicht verleiht - so auch bei Ferdinand Bruckner, dem die Exilsproduktion des Stückes zu verdanken ist. 2 Für Bruckner übernimmt Nathan das Patronat über eine entscheidende Schaltstelle in seinem Werdegang als Schriftsteller, und zwar auch in einem durchaus weltanschaulichem Sinne, obwohl der junge Theodor Tagger, sei5

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Lessing-Mendelssohn-Gedenkbuch zur 150jährigen Geburtsfeier von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn sowie zur Säcularfeier von Lessings 'Nathan'. Leipzig 1879. S.24. CV-Zeitung, 4.10.1933.

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nen eigenen Worten nach, aus dem Judentum ausgetreten ist. Die Religionsfrage als solche tritt zwar für ihn, wie für die gesamte expressionistische Generation, in den Hintergrund gegenüber der literarischen Frage, und das heißt der Frage des Engagements von Literat und Literatur. Dennoch lassen sich auch schon in seinen literarischen Arbeiten, die vor der Wendemarke des Jahres 1920 liegen, die Spuren der Beschäftigung mit dem Judentum und mit Nathan verfolgen. Aufschlußreich sind die bereits 1918 erschienenen PascalÜbertragungen, mit denen der Verfasser einer intensiveren Beschäftigung der Deutschen mit dem Werk des Franzosen den Weg zu bahnen hofft. Bruckners Übertragungen bieten zunächst unter dem Titel "Größe und Nichtigkeit des Menschen" die entsprechenden Kapitel der Pensees (XVIII-XXI); am Anfang der Auswahl steht damit eine gleichsam Lessingsche Formel in Pascal schem Gewände: Ich tadle ebenso die den Menschen loben, wie die den Menschen tadeln, wie die ihn abwenden wollen; und ich kann nur anerkennen, die suchen indem sie seufzen. 7 Lessings berühmte Formel, mit welcher der Besitz der Wahrheit gegenüber der Suche der Wahrheit als dem eigentlich dem Menschen angemessenen Verhalten abgewiesen wird, ist sozusagen Bruckners Lebensmotto, sie wird auch zur Maxime seiner Nathan-Bearbeitung werden. Bezeichnend für die Auswahl der Pensees ist die Anfügung zweier weiterer Abschnitte, zunächst "Le Mystfere de Jesus", in denen das Leiden Christi, nicht aber dessen christologische Bedeutung meditiert wird. Danach folgt die Sequenz "Immage [sic!] d'un homme qui s'est lasse de chercher Dieu par le seul raisonnement, et qui commence ä lire l'dcriture". Es ist jenes Kapitel, in dem unter '6criture' das Alte Testament verstanden und in dem das Volk des Alten Bundes als "das älteste in der Erkenntnis des Menschen" gepriesen, der Dekalog als "das erste aller Gesetze" gegenüber allen anderen hervorgehoben wird (S.99f.). Pascals Einsicht, daß das Buch in seiner ganzen Wahrheit so alt ist wie das Volk, findet sich somit als zentraler Bestandteil der Taggerschen PensiesAuswahl (S.103). Weitergehende Beschäftigung mit dem Alten Testament verrät die in Kurt Wolffs Sammlung "Der jüngste Tag" 1918 herausgegebene Anthologie von

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Blaise Pascal: Größe und Nichtigkeit des Menschen. Übertragung Von Theodor Tagger. München 1918. S.7 (Seitenangaben in Klammem beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe). - Im Nachwort zu seiner Ubersetzung bezieht sich Bruckner/Tagger (nach Wortlaut und Kapitelnummerierung auf die Edition Port Royal von 1670, die ihm offenbar in einem Nachdruck bei Garnier Frferes und weiteren Auflagen bis 1892) vorlag. Zur Entwicklung von Bruckners geistigem Profil sei insgesamt auf die Arbeit von Doris Engelhardt verwiesen: Ferdinand Bruckner als Kritiker seiner Zeit. Standortsuche eines Autors. Diss. phil. RWTH Aachen 1984.

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Taggers Gedichten 8 . Die Sammlung wird eröffnet mit Drei Stoßgebete, in denen bereits psalmodierende Tonlagen vorkommen: "Herr, du mein Mond, [...] hebe die Lider vor den Psalmen deiner Augen". Den Schlußteil der Anthologie bilden dann in der Tat Psalmen Davids, die Bruckner - rund ein Jahrzehnt vor Bubers Preisungen - im Stile der Syntax und Wortstellung des Hebräischen übertragen hat, so daß expressionistischer Sprachduktus und Befremdlichkeit des sprachlichen Originals einander überlagern. 9 Bruckners frühe Lyrik, wie auch seine Pascal-Auswahl, bekunden eine Restbindung an jüdische Traditionen, die sich durchaus mit liberalen Positionen vereinbaren läßt. Die starke jüdische Komponente kommt noch deutlicher in den 20er Jahren zum Vorschein. Bei der Festlegung eines neuen schriftstellerischen Selbstverständnisses ist das Vakuum aufzufüllen, das dadurch entstand, daß das ideelle Pathos und das avantgardistische Hochgefühl der expressionistischen Aufbruchsjahre im Strudel von Kriegsende, Revolution und ersten Republikjahren untergegangen ist. Ein 'Lyriker von gestern' so in der Erzählung Auf der Straße - versucht sich als Zeitungsausrufer, dank seiner Einsicht, "des Dichters Aufgabe, sei auf der Straße das Menschenrecht laut und schallend zu verkünden" 10 . Beim Nachdenken über die "klassische Berechtigung" des Gedichts kommt ihm wie von ungefähr Schillers Taucher und Lessings Nathan in den Sinn. Der zweite Teil der Erzählung fügt zum Programm die Allegorie: der unentschlossene und dem Selbstmord nahe Held wird durch den Schrei einer Lebensmüden aus seinen Ich-versunkenen Träumen geweckt, er springt ihr nach, rettet sie aus dem Wasser und inspiriert sie zu neuem Lebensbeginn. Die "verrutschte Existenz" hat sich "die Rettungsmedaille verdient" (S.38). Erneut fallen dem Nachdenkenden der Taucher und Nathan der Weise ein - seine Rettungsmedaille ist die des Templers, die ursprüngliche, fast bewußtlose Rettungstat, aus der sich das ganze Drama entwickelt und auf die sich die Weisheit des Titelhelden berufen kann, so sehr stellenweise auch der Augenschein, d.h. das Verhalten des Tempelritters, der Tat zu widersprechen scheint. Bruckners allegorische Erzählung schildert die Geburt des Zeitdramatikers aus dem Geist des lebensrettenden Ethos, mit Nathanscher Gewähr. Ihr springender Punkt, der akute, als überraschend-zufallig, aber zwingend erfahrene Auftrag zur Rettung, verbirgt ein theologisches Moment, die Kontingenz, die dem abstrakt-allgemeinen Selbsternennungspathos der expressionistischen Generation gegenübertritt. Sicher ist, daß ich in einer Tat ganz unerwartet die zweideutige Sendung vollendete. Während jene in Lyrik unausgesetzt verkün-

® Theodor Tagger: Der zerstörte Tasso. Ausgewählte Gedichte. Leipzig 1918. ( = Bücherei 'Der jüngste Tag', Bd. 62/63). 9 Ebd., S.65-86. 10 Theodor Tagger: Auf der Straße. Wien, Prag, Leipzig 1920. S.10 (Seitenangaben in Klammern beziehen sich im folgenden auf diese Ausgabe).

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den, tritt der Arbeiter des Lebens schlicht vor den Augenblick und gibt ihm erst Gestalt. (S.43) Dieser Augenblick läßt sich aber theologisch, als Kairös verstehen, wenngleich die monologische Vollmundigkeit, mit reichlichem Restpathos, nur akzeptabel ist, wenn man sich gleichzeitig - wie die skeptisch-ironische Schlußpassage der Erzählung beteuert - "viele Kübel Wasser über den ganzen Leib" gießt. Nur in Vermittlung mit dieser Ernüchterung ist die assertorische Emphase des Schlußsatzes zu rechtfertigen: Herrlich die Straße, die immer wieder in die Gemeinschaft dich wirft und von der Selbstverseuchung erlöst. Ein Einsamer wie du [...] wird vom Finger des Herrn auf die offenen Wege geschoben, und der alle Zusammenhänge mit den Lebenden verlor, bringt die Flüchtlinge wie sich selbst immer von neuem zurück. (S.43) Trotzdem hat das scheinbar so säkulare Zeitdrama des Dramatikers Bruckner, wie er es in den 20er Jahren konzipiert, einen krypto-theologischen Ursprung, für den Lessings Stück die doppelte Bürgschaft darstellt: die Humanität Nathans und die Tat des Templers, die zusammen auf den Anruf, den Auftrag der Zeit die gültige Antwort ermöglichen. 11 3 Ein starkes Jahrzehnt später hat das Zeitstück seine Bewährungsprobe zu bestehen, wie auch Nathan - beide freilich nicht mehr auf den Bühnen des Reiches. Mit Nathan wird bekanntlich die Bühne des "Jüdischen Kulturbundes" Berlin im Oktober 1933 eröffnet; das Regiekonzept Carl Löwenbergs, der in der Schlußszene das weltversöhnende Lessingsche Familientableau abwandelt und Nathan aus dem Verbrüderungsgeschehen ausschließt, ruft zwar die innerjüdische Auseinandersetzung zwischen der "Jüdischen Rundschau", welche die Negativität des Schlusses begrüßt, und der "CV-Zeitung" hervor, die die utopische Tröstung vermißt, demonstriert aber gerade darin, auf welche Weise Nathan nach wie vor als Anhaltspunkt des Selbstverständnisses des deutschen Judentums in seinem aktuellen Dilemma dienen kann. 12 Dieser Selbstbehauptung im Inneren folgt die nach außen. Ferdinand Bruckner setzt die Serie seiner Zeitstücke Jugend zwischen den Weltkriegen, die de11

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Es dürfte für die Geschichte des deutschen Judentums besonders aufschlulireich sein, dal( auch Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi sein Ethos in ganz ähnlicher Weise aus dem Zusammenspiel der humanitären Grundhaltung und des Anrufs des Augenblicks herleitet, ein Ethos, das sich der abstrakten Ideologisierung jeglicher Richtung widersetzt. Jüdische Rundschau, 4.10.1933; CV-Zeitung (Rezension von Hugo Lachmanski), 4.10.1933; zu verweisen ist außerdem auf die Darstellung von Herbert Freeden: Jüdisches Theater in Nazideutschland. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1985. S.27ff.

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ren Gefährdung und ideologische Anfälligkeit gezeigt hat, mit Die Rassen fort und begründet damit de facto das anti-nazistische deutsche Exil-Theater im präzisen Sinne. Abgesehen von der direkten Kritik des nationalsozialistischen Systems und der Darstellung der ideologischen Infiltration der deutschen Jugend, gibt das Stück in seinen jüdischen Gestalten wichtige Aufschlüsse. 13 Die Vater- und Kapitalistengestalt, Geheimrat Max, weigert sich, ein substanzielles jüdisches Selbstverständnis zu entwickeln, und fallt daher dem Nationalsozialismus als Parteigänger wie als Opfer anheim. Die übrigen Gestalten halten sich in dem durch Mendelssohn-Lessing bzw. Pascal abgesteckten Rahmen. Der gedemütigte und gefolterte Siegelmann gewinnt den existenziellen Status des Märtyrers - im Sinne des Pascalschen Bildes - und befreit sich von daher zu neuer sozialer Identität beim Aufbau in Palästina. Helene, die Jüdin, und Karlanner, der Deutsche, finden zu einem neuen Humanitätsverständnis, das in allem den Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie ausdrückt, und damit zu einem neuen individuellen Leben; während aber Karlanner nur noch zu der Einsicht in die verschenkte Chance der früheren Demokratie gelangt und mit seinem Mord an Rosloh sich selbst ebenfalls auslöscht, findet Helene zu einer weder religiös noch ethnisch, sondern humanistisch bestimmten jüdischen Identität, die sich durch die Tat der Emigration lebensmäßig begründet. Sie wahrt die von Pascal gepriesene Identität und Kontinuität des jüdischen Volkes, unabhängig von der Festlegung auf konkrete religiöse Inhaltlichkeit. 4 Es ist nicht verwunderlich, daß Die Rassen im Jahre 1934, wie der Regisseur der Züricher Uraufführung, Gustav Härtung, an Carl Ebert berichtet, "eine riesige, durch immer neue Aufsätze sich steigernde Weltpresse" haben. 14 Ein 13

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Die folgenden Gesichtspunkte sind der Studie von Wulf Koepke entnommen: Die Wirkung des Exils auf Ferdinand Bruckners aktuelle Dramen. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A, Bd. 3, 1976, S. 103-111. - Des weiteren sei verwiesen auf den Kommentar von Günther Rühle in: Zeit und Theater. Bd. V/Vl: Diktatur und Exil 19331945. Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1980. Bd. VI, S.819ff.; vgl. ferner Engelhardt (Anm.7), S.151-173. Der generellen Einschätzung Koepkes (Anm. 13), der von der Wirkungslosigkeit der Brucknerschen Exiidramen ausgeht, kann ich im Falle der Rassen ebensowenig beipflichten wie Engelhardt (Anm.7), S.166. Die politische Wirkung eines "Scheidewassers" bescheinigt bereits für die Uraufführung der Korrespondent (Albert Ehrismann) des "Volksrechts", der sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Schweizer Tageszeitung, und d.h. eine orientierungsweisende Bedeutung, die dem Verständnis des Zeitstücks der Weimarer Republik ebenso entspricht, wie sie insgesamt wohl das Maximum dessen darstellen könnte, was politischem Theater überhaupt möglich ist: Nicht endenwollender Beifall rief Autor, Regisseur, Darsteller auf die Bühne: das eingangs zitierte deutsche Bekenntnis ["In diesem Augenblick ist es nicht deutsch, die Wahrheit zu sagen"] erzwang mündliche und mit Händen und Füßen bewiesene Zustimmung. Die Aufführung ist eine tapfere Sache. Man muß

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zweites Mal ist dem Stück Fanalbedeutung zugedacht, als im Februar 1942, drei Monate nach Kriegseintritt der Vereinigten Staaten, die "Tribüne für freie deutsche Literatur und Kunst in Amerika" - "free culture in the land of the free" - eine Kundgebung gegen Rassenverfolgung und Intoleranz veranstaltet. Es handelt sich dabei um den Versuch - wie Berthold Viertel sagt 15 "die Einheitsfront gegen den Hitlerismus durchzusetzen, die von der deutschen Klassik bis in alle Zweige der Emigrationsdichtung und des Geisteslebens der Gegenwart reicht". Der politische Sinn ist ein doppelter. Zum einen geht es darum, die verschiedenen, bis dahin immer wieder unterschiedlich reagierenden Gruppen der Deutschen an der amerikanischen Ostküste zusammenzufassen: die bereits seit längerem ansässigen Deutsch-Amerikaner, die keineswegs frei von Sympathien mit der politischen Rechten gewesen sind und daher die jüngeren Ankömmlinge der Emigration seit 1933 nicht immer rein wohlwollend betrachten, und auf der anderen Seite die gerade in New York sich massierenden jüdischen Emigranten der Jahre 1935-1939. Zum zweiten geht es um die Demonstration der Widerstandsbereitschaft aller deutschen Gruppen, und das heißt in der konkreten Situation, um die aktive Unterstützung der amerikanischen Kriegsführung; damit soll zugleich gewissen amerikanischen Versuchen, die deutschen Emigranten als 'enemy aliens' mit Beschränkungsmaßnahmen zu belangen - wie die Japaner an der Westküste - vorab begegnet werden. Die Kundgebung vom 7. Februar 1942 enthält im Hauptteil dann die von Berthold Viertel eingerichtete dramatische Lesung der Rassen, deren dramatischer Schlagkraft man offensichtlich viel zutraut. Die genannten Ziele werden auch erkannt und begrüßt. Im "Aufbau", dem wichtigsten Organ der jüdischen Emigration, findet sich ein Kommentar zu der Veranstaltung der "Tribüne" unter dem höchst aufschlußreichen Motto: "Die freie deutsche Kultur ist nicht tot." Und daß diese - wie weiter ausgeführt wird die Vernichtung Hitlers und aller Nazi-Unkultur überleben möge, gehört mit zu den Zielen des Krieges. Der "Aufbau" als deutschsprachiges Organ in der Weltfront der freien Presse gegen Hitler freut sich, an diesem Abend die Stimme des Antinazigeistes aus dem benachbarten Kampfabschnitt so hell und klar gehört zu haben. 16 Die Formulierung läßt hellhörig werden. Implizit ist eine Stellungnahme enthalten über das Verhältnis von Nationalsozialismus und deutschem Volk. Im

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Tapferkeit heute registrieren: sie sei. Zuletzt: man kann jetzt beweisen, wem es um was zu tun ist. Für den freundlichen Hinweis auf diese Rezension danke ich Frau Ute Cofalka. Berthold Viertel: Brecht in der "Tribüne". In: Freies Deutschland, Mexiko D.F. Jg. I, Nr. 11 vom 15.9.1942. S.21. Zitiert nach Eike Middell: Exil in den USA. Mit einem Bericht "Shanghai - Eine Emigration am Rande". Frankfurt am Main 1980. S.364. Der Aufbau, 13. Februar 1942. - Vgl. dazu Engelhardt (Anm.7), S.170.

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Verhältnis zu den seit Jahren in Emigrantenkreisen diskutierten Vorstellungen, das deutsche Volk sei insgesamt mit dem Nazionalsozialismus zu identifizieren, vertritt der "Aufbau", hier wie generell, die Gegenthese. Es ist nicht verwunderlich, daß auch Bruckner, der seit 1939 vielfach im "Aufbau" zu Wort kommt, den deutschen Karlanners eine Chance läßt und sie nicht insgesamt mit der 'Hitlerei' identifiziert. Von einem "Kampf gegen Deutschland zur Befreiung Deutschlands" hat er, wie auf ähnliche Weise Oskar Maria Graf, schon 1939 gesprochen. Dieser Zusammenfassung der Kräfte und Stimmen dürfte auch das Nathan-Projekt dienen. Erwin Piscators Studio-Bühne an der "New School of Social Research", die schon im Vorjahr (Dez. 1941) Bruckners Verbrecher aufgeführt hat, ist der Schauplatz der Protestversammlung der "Tribüne" wie auch der geplanten Inszenierung. Erneut wird auf die Kraft des NathanStückes, die "herzinnige Vereinigung" der Lessing- und der MendelssohnGlaubensgenossen zu bewirken, gebaut. Nathan ist der zweite, größer angelegte Versuch, die 'Einheitsfront' zwischen deutscher und jüdischer Emigration zu bestärken. Auch das weitere politische Ziel der "Tribüne" wird in größerer Dimension anvisiert. Während die deutschsprachigen Veranstaltungen der Emigranten ohnehin abseits der Öffentlichkeit erfolgen und auch die Studioaufführungen Piscators, wenngleich englisch, so doch nur von vergleichsweise geringer Presseresonanz begleitet sind, wird mit Nathan der Brückenschlag zur amerikanischen Theaterszene des Broadway versucht. Nathan wird, ohne direkte Aktualisierung, aber genauso wie die Brucknersche Erzählung von 1920 verlangt, "auf die offenen Wege" der Zeit geschoben; seinen Inhalten und seiner Idee nach verkörpert das Stück zugleich jenes 'andere Deutschland', um dessen Existenz und um dessen Überleben es den Emigranten zu tun ist und das dem kriegführenden Amerika als nach wie vor existent vor Augen geführt werden soll. Im Zeichen Nathans sollen nicht nur die christlich aufgeklärten und die jüdisch aufgeklärten Geister zueinander finden, sondern auch beide mit dem amerikanischen Geist in Verbindung gebracht werden, der seinerseits europäisches Aufklärungserbe für seine eigene Geschichte und seine politische Kultur, mithin auch für die Gegenwart in Anspruch nimmt. 5 Untersucht man Bruckners Bearbeitung17, so lassen sich drei wichtige Verschiebungen in der Dramaturgie auf den ersten Blick bestimmen, aus denen weitere gehaltliche Akzente folgen. 17

Ferdinand Bruckner hat sich offensichtlich nicht auf die ältere Übersetzung von Patrick Maxwell (während des Ersten Weltkriegs entstanden: Nathan the Wise) gestützt, sondern die Übertragung selbst vorgenommen, wie die New Yorker "Staatszeitung" vom 12.3.1942 berichtet. Vgl. John Willett: Erwin Piscator. Die Eröffnung des politischen

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1) Mit der Streichung der Figuren Sitta und Al Hafi schwindet das markant islamische Element aus Handlung und Thema. Des weiteren werden die Motive von Geld, Finanzen und Geschäft an den Rand gedrängt.18 Nathan verliert dadurch alle Züge des Handelsjuden und wird nur noch als Vater und als Ideenträger dramaturgisch relevant. Der Sultan, auf analoge Weise, wandelt sich zur reinen, formellen Staatsperson, rechtlich und gütig; zur Debatte stehen nur noch "his noble spirit" und "his princely generosity" (S.70). 19 Damit verschiebt sich auch die Motivierung der Ringparabel. Den Aufhänger bildet nicht der Versuch einer finanziellen Erpressung Nathans, sondern die intellektuelle Ratlosigkeit eines Regenten, der sich zum rex iustus et pacificus berufen fühlt, der aber angesicht der weltanschaulichen Fronten in seinem Reich mit den anstehenden Problemen nicht zurechtkommt. Die gehaltliche Folge ist einschneidend: an die Stelle des Themas der Weltreligionen tritt deren Verhältnis zum modernen, säkularen Staat. 2) Die Liebesgeschichte zwischen Recha/Rahel und dem Templer wird auf eine neue Basis gestellt. Bruckner streicht die genealogische Verzahnung komplett, damit wirft er die Lessingsche Bindung an das bürgerliche Schauspiel um 1780, mithin auch die abschließende Symbolik des Familientableaus über Bord. Das Verhältnis zwischen Rahel und dem Templer wird zur genuinen love story mit themengerechter Lösung, nachdem der Konflikt der Liebenden, die ja verschiedene Religionen vertreten, sowie der Konflikt Raheis zwischen Vater- und Liebesbindung durchgestanden ist. Die personale Konsequenz ist eine entscheidende Aufwertung Raheis, deren geistige Position im weitern Verlauf des Geschehens einem speziellen Aspekt der Rezeptionssituation in Amerika besondere Rechnung trägt. Aus diesem Grunde geht es auch nicht an, die dramaturgische Veränderung, die den Liebenden ein happy end nach Komödienmuster einbringt, als einfache Konzession an die

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Zeitalters auf dem Theater. Frankfurt am Main 1982. S. 113; Thea Kirfel-Lenk: Erwin Piscator im Exil in den USA 1939-1951. Berlin 1984. S.125f. - Bruckner hatte auch seine Verbrecher für die Aufführung an Piscators Studio-Bühne selbst übersetzt. Darin ergibt sich eine direkte Parallele zu der die idealistischen Züge scharf hervorhebenden, im ganzen 19. Jahrhundert gespielten NaiAan-Bearbeitung Schillers von 1801. Bruckner kommt also auf Bearbeitungsprinzipien zurück, die auch jenen Aufführungen zugrunde gelegen haben dürften, die den Verfassern des Gedenkbuches von 1879 vor Augen waren, soweit sie sich nicht ausschließlich an dem Lessingschen Text selbst ausrichteten. Der Text der englischen Bearbeitung wird hier und im folgenden nach der Seitenzählung des im Erwin-Piscator-Center im Archiv der Akademie der Künste, Berlin, verwahrten Regiebuches zitiert. Für die Genehmigung zur Einsichtnahme danke ich der Akademie, insbesondere Frau Dr. Dagmar Wünsche, für die Erlaubnis zum Zitatabdruck der Erbengemeinschaft Piscator, vertreten durch Herrn Dr. Kai Finck, Berlin, sowie der GustavKiepenheuer-Vertriebs GmbH, vertreten durch Frau Dr. Maria Müller-Sommer. - Die Regie selbst, für die in allen Aufführungen James Light verantwortlich zeichnet, sowie die schauspielerische Leistung, die insbesondere bei Herbert Berghof in der Titelrolle von allen Rezensenten besonders hervorgehoben wird, stehen im folgenden nicht zur Debatte.

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theatralen Gepflogenheiten des Broadway zu beurteilen. 20 Abgesehen von der Entrümpelung des Stückes um eine dem 18. Jahrhundert verhaftete FamilienMenschheitsanalogie geht es um eine sehr grundsätzliche Umstellung des Dramas auf ein anderes Theatersystem, in welchem das Verhältnis zwischen entertainment und gedanklich-didaktischen Momenten, zwischen prodesse und delectare, sich anders eingespielt hat. Keineswegs geht damit eine Preisgabe der gedanklichen Dimension und der ideellen Ansprüche einher. 3) Entscheidend für die Motivationsverhältnisse der Hauptfiguren wird, daß Nathan, wie schon in der Eingangsszene im Verhältnis zu Daja deutlich wird, sich Vorwürfe macht, weil er Rahel nicht über ihre christliche Herkunft aufgeklärt und sie selbst vor die Wahl ihrer religiösen Bindung gestellt hat. Dajas Vorwürfe finden einen schuldbereiten Nathan, wie die folgende Gebetspassage zeigt: [...] How I would thank you On My knees, my god, if I had nothing to conceal Could walk among the people As free as I do in sight of you" (S.68). Die dramaturgische Folge des neuen Verhältnisses zwischen Nathan und seiner Tochter ist zum einen, daß die Lebensgeschichte des Vaters, einschließlich der Pogromerzählung, aus dem Verlauf so gut wie ausgeblendet wird, zum zweiten, daß Rahel im dramatischen dSnouement die Schlüsselrolle zufällt, weil sie den Vater entschuldigen und sein Verhalten zu dem Kind rechtfertigen muß. Der Sinn dieses gegenüber Lessing neu akzentuierten Schuldthemas - als Schuldgefühl Nathans - kann nur in der Berücksichtigung der speziellen Rezeptionsbedingungen in Amerika liegen; die strikte Einhaltung der Grenzen der Religions- und Konfessionszugehörigkeit, sofern nicht das betreffende Individuum sich selbst in einem Willensakt zu einem Wechsel entscheidet, gehört zu den Axiomen amerikanischen Sozialverhaltens und gewinnt in der Krisenzeit nach Kriegseintritt besondere Bedeutung als Stabilisierungsfaktor. Des weiteren ist eine Rücksichtnahme auf den christlich-amerikanischen Zuschauer zu erkennen, der die Lessingsche Verteilung von Licht und Schatten in der Personenkonstellation des Stückes übelnehmen könnte. Bruckner gleicht die in Lessings Entwurf in der Person Dajas formulierte Kritik am europäischen Christentum in der Weise aus, daß er auch der IdealGrundsätzlich muß unterschieden werden zwischen der Einstellung eines Autors auf das Publikum eines anderen kulturellen Traditionskreises und der Anpassung an spezifische, durchaus regional geprägte Konventionen. Die letzteren betreffend, hat Piscator für sein Studio den Anspruch erhoben, daß "keines unserer Stücke [...] jemals mit einem Seitenblick auf den Broadway ausgewählt oder produziert" wurde (Brief vom 17.3.1943 an den Herausgeber der "New York Times"). Zitiert nach Vatkovä/Boeser: Erwin Piscator. Eine Arbeitsbiographie. Bd. II. Berlin 1986. S.73. - Im Hinblick auf "Nathan am Broadway" gibt Piscator selbst rückblickend zu bedenken, daß der "Erfolg auf seine ethische Botschaft zurückzuführen ist", daß aber auch eine Erfolgsursache in der kleinen Besetzung und dem einfachen Dekor zu sehen ist.

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figur Nathan ein Schuldmoment zuweist - was im übrigen mit Bruckners eigenen Voraussetzungen, im Einklang mit Pascalschen Gedanken, übereinkommt, daß ethische Makellosigkeit ebensowenig denkbar ist wie ungetrübte Erkenntnis. Ausschlaggebend ist für die Bearbeitung an diesem Punkt, daß angesichts der geschichtlichen Stunde 1942 und der direkten politisch-ethischen Zielsetzung der Aufführung die jüdische und die christliche Seite im Verlaufe des dramatischen Geschehens auf keinen Fall in ein starkes Ungleichgewicht hinsichtlich der Sympathiezuweisung geraten dürfen, denn Gemeinsamkeit und Ebenbürtigkeit sind die Erfordernisse, die der Kairös vorgibt. Abgesehen von diesen Eingriffen in die Beziehungen der Figuren und die Handlungsführung sind die gehaltlichen Akzente, die der Bearbeiter setzt, nicht so gelagert, daß sie grundsätzlich Lessingsches Gebiet verlassen würden. Der religiöse Fanatismus des Patriarchen erhält eine rassistische Note, die es erlaubt, "the mighty and intolerant man" (S.95) auf das nazistische Deutschland hin zu durchschauen. Wie bei Lessing aber bleibt der Templer von religiösem wie rassischem Fanatismus heilbar und tritt damit den Karlanners von 1933 an die Seite. Wichtiger ist die situativ bedingte Profilierung des Rahmens für die Ringparabel. Da das ökonomische Erpressungsmotiv als Anlaß entfällt, muß Saladin begründen, warum er seine Religionsfrage ausdrücklich an einen Juden richtet. Er führt dafür die geistigen Folgen des Exils an und erwartet vom Juden eine vertiefte Rationalität, in der er bei einem landlosen Volk die eigentliche bergende Größe des Selbstverständnisses vermutet: [...] Like some fish their shells he [the Jew] carries His common sense with him, therein he lives. (S. 108) Nachdem Nathan ein allzu flaches Verständnis von common sense zurechtgerückt hat, findet sich Saladin zu einer Kennzeichnung jüdischen Intellekts bereit, die sich sehr wohl als Zuschreibung Lessingschen Geistes verstehen läßt: There is no question that a Jewish brain Will not discuss" (S. 110). Als sich der Sultan dann gegen die Erfindung dieses Hirns, die Zuordnung der drei Ringe zu den drei monotheistischen Religionen, wehrt und deren Verschiedenheit ins Feld führt, begegnet Nathan dem Vorwurf auf eine interessante Weise: nicht wie bei Lessing wird die gemeinsame Verwurzelung aller Religionen in Herkommen und Tradition angeführt, sondern deren Ursprung aus dem Gefühl. Die Religionen unterscheiden sich gerade nicht im Hinblick auf

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[the] ways of feeling, which are The same for all mankind" (S.114).21 Doch gibt es noch weitere Gemeinsamkeiten, die die Differenz der Religionen überbrücken. Kriterium für die Akzeptanz einer positiven Religion ist für Nathan ihre Verträglichkeit mit einem allgemeinmenschlichen Ethos sowie mit der sittlich wirkenden Vernunft. So formuliert der Brucknersche Nathan, indem er sein Verhalten gegenüber dem Kind Rahel rechtfertigt, sein eigenes weltanschauliches Credo, welches die erkenntnismäßige Seite des Religionsproblems ganz in die Immanenz verlagert: [...] She [Rahel] has been taught To know that god's involved in every act Which proves the greatness of man's reason, Regardless of the creed behind it (S. 138). Gemäß diesem Religionsverständnis wird dann der Sinn der Ringparabel zusammenfassend formuliert: der Einfall, die drei nicht unterscheidbaren Ringe herstellen zu lassen, wird als befreiender, inspirativer Akt gewertet. Jeder vermeintliche absolute Wahrheitsbesitz hat die repressive Unterwerfung des Andersdenkenden zur Folge und führt unweigerlich izum religiösen Krieg. 22 Daraus folgt weiterhin, daß Bruckner die Ringparabel noch einmal im Rückgriff auf Lessing selbst überbietet. Am Ende der Szene, als Nathan bereits Saladin beschworen hat, der gerechte Richter der Zunkunft zu sein, wenn der Templer Anklage gegen ihn erheben sollte, kommt der Sultan noch einmal auf die Parabel zurück: lachend beteuert er, er hätte ihn, Nathan, ohnehin eher in Haft nehmen lassen, [...] than let you go Without revealing your Jewish secret, The secret of the truth" (S.121). Gibt es jenseits der begrenzten religiösen Wahrheiten eine letztgültige? Nathan enthüllt in der Antwort das angebliche jüdische Geheimnis in Gestalt des berühmten Zitates aus dem zweiten Abschnitt von Lessings Duplik, deren 'Präludium' Bruckner ja schon bei Pascal aufgespürt hat: [...] Perhaps. But if God held The final truth enclosed in his right hand And in his left only our longing For it, and he should say to me: Come, choose! - 1 would bow humbly to his left and say: 21

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Zu erörtern bliebe, ob damit nicht der amerikanischen Frömmigkeitsgeschichte, die sich, in ihrem protestantischen Sektor, weitgehend aus puritanischen Wurzeln herleitet, Rechnung getragen werden sollte. "You tell me that religion / Is but another word for battle-line", wirft Rahel der bekehrungseifrigen Daja vor (S.126).

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This hand, my Father, for the final truth Belongs to Thee alone (S.121). Die dramaturgische Anlage und die inhaltlichen Akzente, wie sie hier nachgezeichnet wurden, ermöglichen in der abschließenden Tribunalszene die Lösung der Konflikte. Der unparteiische, von Nathan instruierte Richter Saladin verkörpert die reine Gerechtigkeit, Rahel, mit ihrem Bekenntis zum Vater, die reine sittliche Wahrheit, die auch die sittliche Wandlung des Templers hervorruft. Deutlich bezogen auf die in Amerika auch zum säkularen Metaphern-Schatz gehörende pietistische Terminologie der Wiedergeburt, konstatiert Saladin dann: We can't determine Where we shall be born and what Christian, Mussulman or Jew. We first Are crippled by those prejudices which For centuries have clad in different garb The souls of all who live and even those Who're dead. But if we listen to the inner Voice we cease to be the victims of This spell and are reborn (S.148). Saladins Urteilsverkündung im Verfahren gegen Nathan, der unrechtmäßig das Christenkind jüdisch erzogen hat, fällt dann ausgesprochen aktualisierend aus. Implizit wird amerikanisches Recht gegen Nazideutschland ins Spiel gebracht und damit der Freispruch für Nathan verfügt: [His] crime for which another country, We've been told, would have him burned alive We here, by common sense and some good will Have seen this crime reduced to one or two Omissions [...] (S.148). Der auf diese Weise entschuldigte und auf die politische Gegenwart gedeutete Nathan behält das letzte Wort, als Verkörperung der Weisheit. Im Einklang mit Bruckners Prämissen der Tat, die im Moment der persönlich-ethischen Herausforderung zu leisten ist, hebt Nathan - "enthusiastically" - den utopisch-zukünftigen Horizont der Lessingschen Ringparabel auf zugunsten einer 'präsentischen Eschatologie der Tat', eine Aufhebung, die wohl auch im Einklang mit jener Grundverfassung des deutschen Judentums steht, die jede religiöse Zukunftserwartung zugunsten des sittlichen 'Jetzt und Hier', der jetzigen Bewährung der Kräfte des Ringes zurückgestellt hat: [...] You are In truth that wiser judge, although The thousand years have not yet passed And never will for every day they start Anew. Here and anywhere, today, Tomorrow in our blackest hopelessness

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Will always rise a wiser judge And give us life again as long as we, We all, we millions do not frustrate The powers of the magic ring which is Our Heart (S.150).

6 Welches ist die Botschaft, die mit dem "Krongut des deutschen Geisteslebens" dem amerikanischen Zuschauer überbracht wird? In erster Linie geht es um den Nachweis der Existenz eines anderen Deutschlands, dessen Maximen und Werte, dessen Eintreten für religiöse und rassische Toleranz, wie Piscator auch ausdrücklich im Programmheft betont, den Werten der amerikanischen Verfassung näher sind als das, was sich als offizielles Deutschland des Nazismus im Feindbild präsentiert. Das wahre Deutschland der Immigranten und das wahre Amerika teilen jene Werte und Wahrheiten, nach denen der Brucknersche Saladin am Ende der Ringparabel gefragt hat und in deren Verwirklichung er Recht spricht. Aber der Richtspruch besagt noch weiteres: die 'magna Charta1 des deutschen Judentums stammt aus einem Land, wo sie zwar formelles Gesetz gewesen, aber nicht soziale und politische Realität geworden ist, und wird nun dargeboten in einem Land, wo entsprechende Gesetze seit 150 Jahren die politische Kultur bestimmt haben. Insofern bedeutet die Aufführung auch den Versuch, dieses Amerika bei seiner eigenen Tradition, d.h. bei der 'Declaration of Human Rights' zu behaften und zur Wachsamkeit gegen die durchaus vorhandenen, zwar nicht rassistisch begründeten, aber ökonomisch bedingten antisemitischen Erscheinungen der Gesellschaft, vor allem im Großraum New York, aufzurufen. Daß in diesem Zusammenhang die Richtergestalt des Stückes, Saladin, bereits als der weise Richter erscheint, den Lessing in der Zukunft beläßt, bildet eine weitere rezeptionsbezogene Pointe. Wie schon das deutsche liberale Judentum die Idee von Fortschritt und von Approximation an Recht und Freiheit diesseits der Utopie mit Lessings Nathan verbunden hat, so wird auch im amerikanischen Kontext mit dem Brucknerschen Nathan die sich realisierende, gegenwärtige Utopie beschworen. Die Gleichwertigkeit der Mendelssohnschen und der Lessingschen Menschlichkeit, die das deutsche Judentum in Nathan gestaltet sah, setzt, wo sie geschichtlich real wirken soll, eine politische und juristische Garantiemacht voraus, die ihrerseits Vernunft und Dialog als gesellschaftlich relationsbestimmende Werte verbürgt. In der deutschen Geschichte ist diese Garantie Postulat geblieben. In dem Land, wo die Garantiemacht als dramatis persona, Bruckners Saladin, nun die Bühne betritt, kann sie mit den existierenden politischen und rechtlichen Ordnungstraditionen der Vereinigten Staaten in Zusammenhang gebracht werden. Wenn diese mit den Begriffen 'common sense' und 'good will' umschrieben werden, so ist der

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politisch-historische Prozeß Amerikas zwischen 1776 und 1942, der den Hintergrund bildet, freilich in allzu kleinen Dimensionen verstanden. Für den heutigen Leser hat das deutsch-jüdische Legat, das mit Nathan der amerikanischen Szene vermacht wird, daher auch einen leicht herablassenden Zug, zumindest könnte es so verstanden werden: das allen ideellen Höhen adäquate 'Krongut' sieht sich auf die pragmatischen Verhaltensweisen verwiesen. Kaum aber ist es von Bruckner so gemeint, sein Ethos des Kairös und der Tat versucht wohl nur, die griffigsten Formeln zu finden, an denen sich das Vermächtnis des alten Landes für das neue artikulieren läßt. Jenes, das andere Deutschland von 1942, ist das präsentable, das deutsch-jüdische Deutschland. Es hat durchaus und nach wie vor mit Lessing und Nathan zu tun. Denn wahre Aufklärung in Deutschland gab es nur da, wo die Doppelberufung auf Lessing und Mendelssohn im Spiel blieb. Dann und nur dann, wenn diese Duplizität erhalten blieb, ist der deutsche Nationalgeist aufklärungs- und vernunftfähig gewesen. Bruckner ließ daher zurecht von Lessing nicht ab, als die Zeichen in Deutschland gegen ihn standen. Nathan am Broadway ist der letzte Versuch, den politischen Sinn der 'magna Charta' zu realisieren und das antinazistische Engagement Amerikas zu bestärken, versehen mit der ganzen Fülle des Lessingschen und Mendelssohnschen Humanitätsversprechens, aber auch mit der ganzen Schwäche von dessen realgeschichtlicher Naivität. Die amerikanische Rezeption des Jahres 1942 belegt beides. 7 Die durchweg positive Reaktion der Presse 23 - schon bei der Premiere im Studio Theater und dann noch einmal bei der Übernahme an den Broadway am Karfreitag, dem 3. April - ist bemerkenswert. Die in Piscators Programmheft enthaltene Formel vom 'Zeitstück' gegen "racial and religious intolerance" wird in fast allen Rezensionen aufgenommen und mit dem ebenfalls von Piscator angeführten Faktum der Verbrennung des Mtf/uzn-Buches bei den nazistischen Aktionen im Mai 1933 kontrastiert. Auch wird durchweg in Rechnung gestellt, daß die Adaption des Stückes keine 'Broadway-Sensation' intendiert 24 , sondern daß sie der Profilierung der ideellen Gehalte dient. Insofern wird auch mehrfach die im Stück wie im Programmheft zitierte Lessingsche Formel des 'jüdischen Geheimnisses' zitiert 25 , und der "Daily Worker" verweist in einer größeren Passage auf die historische Zugehörigkeit des Stückes und seiner Botschaft zur europäischen Aufklärung, indem er u.a. 23

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Für liebenswürdige Hilfe bei der Beschaffung der Rezensionen des Bereiches Groß-NewYork danke ich Herrn Kollegen Ron Engle, University of North Dacota. "Bruckner is polite to the lovestory, with the politeness of a man who touches his hat in passing" (New York Sun, 12.3.1942). New York Harold Tribune, 12.3.1942; New York Journal American, 12.3.1942; New York Daily Mirror, 13.3.1942.

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Diderot und Voltaire nennt.26 Keine Rezension unterläßt es aber, die besondere Aktualität des Themas hervorzukehren, wobei der "Daily Mirror" besonders nah an Brucknersche Formulierungen selbst herankommt: "They are words that because of circumstances take on the quality of action, mental as distinguished from physical action." 27 In einem Punkt wird freilich eine bezeichnende Einschränkung hinsichtlich des Wertes des Zeitbezuges gemacht, wenn die "New York News" am 13.3.1942 schon einwendet: [...] it cannot be listed as helpful propaganda for a nation at war fighting its own fight for freedoms of even greater import than those of race an religion. But it is good for the soul if not for the war spirit. Einen Monat später, als das Stück "before a large and reasonably enthusiastic audience" gespielt wird28, wird die Konfrontation schärfer: Die Botschaft der Toleranz stößt auf "screaming headlines", die den Tod von 7000 servicemen infolge Schiffsversenkungen durch deutsche U-Boote melden, wozu die "New York News" am 4. April bemerkt, das Stück weise wenig "stimulation for the war spirit" auf. Obwohl die Presse weiterhin grundsätzlich positiv ist hinsichtlich des ideellen Gehalts des Stückes und seiner aktuellen Bedeutung, kommt es nun zur Problematisierung des Toleranzthemas: "Shall we, for example, be tolerant of intolerance?" - und die Antwort fällt politisch aus: Our country, by accepting the present war, has thereby accepted a considerable degree of intolerance; has undertaken to substitute by force its creed for other creeds - just as the Crusaders did. 29 Das Gastgeschenk des liberalen deutschen Judentums an die amerikanische Nation hat Erfolg und wird gerne angenommen, aber es bleibt nicht verborgen, daß seine humanitäre Allgemeinheit, auch, wo sie auf amerikanische 26

27 28 29

Es kennzeichnet die Bereitschaft, aufklärerische Positionen zu übernehmen, daß die Charakterisierung von Christen oder Juden nach allgemeinen Etiketten weitgehend vermieden wird; nur drei Blätter vermerken das schlechte menschliche Abschneiden der Christen (New York Harold Tribune; Newark Evening News; New Yorker Staatszeitung - jeweils vom 12.3.1942), nur einmal wird die Gleichsetzung des Jüdischen mit 'common sense' oder 'realism and tolerance' (New York Journal American, 12.3.42) angeführt. New York Daily Mirror, 13.3.1942. New York Post, 4.4.1942. The Commonweal, 17.4.1942; analog argumentiert The Catholic World, CLV, Nr. 926, May 1942. Das Argument von Bruckners Nathan, daß "creeds" nur dann Anspruch auf Toleranz haben, wenn sie ihrerseits vernünftig wechselseitige Respektierung der Weltanschauungen einräumen, wird dabei freilich unterschlagen. - Probleme mit dem Toleranzgedanken wie auch mit dem verfassungsmäßig verbürgten Anspruch auf Toleranz ergeben sich auch in anderer Hinsicht. Daß für Bruckner später, erkennbar in seinem Drama Die Βφ-eiten, die amerikanische Form von Demokratie und politischer Kultur nicht ausreichend oder nicht direkt applikabel erscheint, wo es um die europäischen, vom Faschismus befreiten Länder und eine ihnen angemessene neue Politik geht, hat W. Koepke (Anm. 13) nachgewiesen (S. 108).

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geistige und politische Geschichte bezogen wird, der Gegenwart und ihren Problemen Antworten schuldig bleibt. 30 8

Zwei Jahre nach dem rund einen Monat währenden Auftreten Nathans am Broadway 1942 kommt es zu einer Reprise der Inszenierung am Dramatic Workshop im Februar 1944. Anlaß sind zunehmende antisemitische Agitationen in der amerikanischen Öffentlichkeit, so daß sich Piscator im Benehmen mit einem am Workshop sich konstituierenden Komitee zu einer Veranstaltungsserie entschließt, die sich um die Mw/ia/t-Aufführungen kristallisiert (21. Februar bis 11. März 1944). Der "German-American" vom März 1944 beschreibt die Serie: Anschließend an die Aufführung finden allabendlich im Studio Theater Diskussionen statt, an denen die Veranstalter, hervorragende Gäste und die Audienz selbst lebhaften Anteil nehmen. Piscator, der immer das Theater im Sinne der Klassiker als eine 'erzieherische Anstalt' auffaßte, bekräftigt mit diesen Aussprachen die Auswirkung der Lessingschen Toleranzbotschaft und verschafft ihr Gehör im aktuellen Kampf gegen das Gift des Antisemitismus und der Rassendiskriminierung.3' Es lohnt, einen genaueren Blick auf die Trägerschaft der Veranstaltung zu werfen. 32 Die Mitglieder des Workshops - neben Piscator sind Stella Adler, John Gassner, Leo Lania zu nennen - werden unterstützt durch den Rektor der "New School of Social Research", Alvin Johnson. Weitere Intellektuelle aus dem akademischen Bereich des Einzugsgebietes von Groß-New York und der Ostküste kommen hinzu: außer dem Präsidenten der Yale University, Charles Seymor, und des Hunter-College, N. Shuster, ist besonders die theologische Solidarität des Union Theological Seminary, der bedeutendsten interkonfessionellen theologischen Hochschule der Ostküste, hervorzuheben. 30

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In diesem Sinne rezensierte schon der prominenteste Theaterkritiker der Zeit, Brooke Atkinson, in der "New York Times" Anfang April 1942 die Übernahme an den Broadway. Zwar sprach er von "the first work of real intelligence to appear in our neighborhood in a long time", aber er resümierte einschränkend: "In all conscience, the pace of the work might be brisker, and the attack more pithy and compact". The German American, March 1944, S.6. - Der "Aufbau" vom 25. Februar 1944 (S.10) zitiert aus einer Rede Piscators: "Denn wie jede Kunst, ist das Theater eines der besten Kampfmittel. Wir alle, die an Freiheit, Menschlichkeit und Toleranz glauben, müssen unsere Kräfte organisieren, im Kampf gegen Intoleranz und Antisemitismus. Etwas muß sofort geschehen." Und der Berichterstatter (Chiffre: T.L.) kommentiert: "Und nichts könnte wirkungsvoller sein als diese Aufführung." Besonderen Dank für Nachforschungen über Einzelheiten, die in der Library of Congress, Washington D.C., auffindbar waren, schulde ich Dr. Rowland Cross, Washington. - Die Veranstaltungen wurden in der Öffentlichkeit offensichtlich als "symposia on tolerance" bezeichnet, wie aus einer Namensliste, die dem in der LoC verwahrten Exemplar des "New York World Telegram" vom 29. Februar 1944 beigeheftet ist, hervorgeht.

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Hans-Peter Bayerdörfer

Mit Paul Tillich tritt den Emigranten der "New School of Social Research" die deutsche theologische Emigration an die Seite, mit Reinhold Niebuhr der politisch und sozial aktivste Flügel der amerikanischen Theologie. Beide sind ihrerseits in öffentlichen Vereinigungen einschlägiger Ausrichtung tätig: Tillich als Präsident der "Immigrants' Conference", Niebuhr als Präsident der "American Friends of German Freedom". Ihnen tritt mit vergleichbarer Prominenz der amerikanisch-jüdische Philosoph Sidney Hook von der New York University an die Seite. Die wichtigsten allgemeinen Civil-Rights-Organisationen des Jahrzehnts sind ebenfalls mit vertreten: vom linken politischen Flügel Roger Baldwin und die "American Civil Liberties Union", die im großen Maßstab juristisch und politisch für alle Minderheitenrechte eintritt, oder vom politischen Mittelspektrum her gesehen, Jerome Nathanson, der in der Leitung der "New York Society for Ethical Culture" tätig ist, abgesehen von seiner vielseitigen und weitreichenden journalistischen Tätigkeit; als weitere Mitglieder der Society tritt neben Algernon Black vor allem Horace Kallen auf, der zugleich am Philosophie-Department der Columbia University lehrt. Überhaupt ist die größte Reichweite des Komitees wohl bei den Vertretern der Presse und des Radios gegeben, die von der Ostküste aus weite Bereiche der amerikanischen Medienlandschaft beeinflussen. Zu nennen ist etwa der Kunst- und Musikkritiker mit stark populärer Wirkung, Gilbert Seldes, der eineinhalb Jahre zuvor ein Buch mit dem Titel Proclaim Liberty publiziert hat, oder der dreißig Jahre lang als Radiokommentator sehr prominente Hans von Kaltenborn, der für seine Direktübersetzungen und dann Kommentierungen von Hitler- und Mussolini-Reden während der entsprechenden Jahrzehnte besonders bekannt und als Europaspezialist angesehen war. Dasselbe gilt von der mit größter Ausstrahlung und politischem Einfluß, bis hin zum Weißen Haus, wirkenden Dorothy Thompson; nach verläßlichen Schätzungen erreichte sie in den 40er Jahren über die Presse und den Rundfunk regelmäßig mehr als acht Millionen Leser und Hörer. Auch ihr Renommee beruhte zu einem Teil auf ihrer Vorgeschichte als Europakorrespondentin, die auf Grund ihrer wohlinformierten und höchst kritischen Berichte über Hitler und seine Partei während der Weimarer Zeit unmittelbar nach der Machtergreifung 1933 aus dem Reich ausgewiesen worden war. Im Hinblick auf Dorothy Thompson befindet sich Nathan damit in unmittelbarer Nähe jener öffentlich publizistischen Stimme Amerikas, die während des ganzen Jahrzwölfts der nationalsozialistischen Herrschaft am stärksten, am unerbittlichsten und mit viel Scharfsinn die nationalsozialistische, die faschistische Gefahr in ihrer ganzen historischen Bedrohlichkeit geschildert hat. Die Konstellation, in der sich hier Nathan auf der Exilsbühne zeigt, ist erneut höchst aufschlußreich. Keineswegs wird das Stück allein, das Theater als solches, mit der Aufgabe der politisch-öffentlichen Breitenwirkung betraut: die Aufführung ist von vornherein eingebettet in eine intellektuell-politische Koalition, die durch alle Lager des intellektuellen Amerika reicht und selbst-

Nathan am Broadway

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verständlich jede wünschenswerte politische Solidarisierung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Stimmen einschließt. Erst auf der Basis einer politischen Breitenaktion, die gemäß den Regeln der amerikanischen politischen Kultur nicht von Parteien getragen und natürlich auch nicht staatlich subventioniert ist, die vielmehr den 'freien Zusammenschluß' der verantwortlichen Intellektuellen und ihrer Organisationen repräsentiert - erst auf einer solchen Basis wird Nathan im Kontext des amerikanischen Exils zu einem Identifikation stiftenden und fordernden Bühnenereignis. Erst in solchem Kontext strahlt das Stück nicht nur eine allgemeine unverbindliche, sondern auch eine konkrete politische Bedeutung aus - gerade dank der Tatsache, daß es nicht allein aus seiner eigenen künstlerischen Subsistenz heraus auch die politische Bewegung bewerkstelligen muß. Es hätte auch im Deutschland der Republik und der demokratischen Experimente vergleichbarer Koalitionsmöglichkeiten, und das heißt bereits bestehender Traditionen politscher Kultur bedurft, damit aus Nathan die wirkliche 'magna Charta libertatum' für das deutsche Judentum hätte werden können.

Alfred Bodenheimer (Basel) Ernst Toller und sein Judentum

Der 1. Dezember 1993 ist Ernst Tollers hundertster Geburtstag. Berühmt wurde er durch seine Dramen: Expressionistischer Erlösungswille in der 1919 uraufgeführten Wandlung, ein Zerbrechen an der Gewaltfrage revolutionären Handelns in Masse Mensch von 1919/20, beißende Kritik an der Weimarer Republik in ihren verschiedenen Phasen in Hinkemann (1923), Hoppla, wir leben! (1927) und Feuer aus den Kesseln (1930). Vor allem aber verdankt die deutsche Literatur ihm eine der packendsten Autobiographien, Eine Jugend in Deutschland. Toller hatte das Werk teilweise schon in den zwanziger Jahren vorbereitet; in der Emigration wurde es vollendet und erschien 1933 als eine der ersten Publikationen des Exilverlags Querido in Amsterdam. Confessio und Kampfschrift in einem, legt die Autobiographie mit den ersten dreißig Jahren des Autors auch die in Deutschland herrschende Mentalität im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts frei. Dabei entsteht eine Topographie des Bodens, auf dem der Nationalsozialismus gewachsen ist. Das war auch Tollers Absicht; die gescheiterte deutsche Revolution von 1918/19, die mit dem gewaltsamen Ende der Münchner Räterepublik ihr Ende fand, galt für ihn als die Schwellenzeit auf dem Weg zum NS-Staat. So schreibt er in seiner Vorrede Blick 1933: Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muß die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen, von denen ich hier erzähle. (GW IV, 7)1 Gleichzeitig bringt Toller hier auch sein Judentum erstmals ausführlicher zur Sprache. Erst im Rückblick von 1933 scheinen sich ihm Judentum und Antisemitismus gleichsam als Ausgangs- und Endpunkte seines Seins und Handelns zu offenbaren. Dabei fallt auf, daß Toller die deutsch-jüdische Synthese nicht in der Retrospektive auf die Zeit vor Hitler sucht, sondern sich just in dem Moment dazu bekennt, als das Judesein allein Anlaß bietet, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Eine Jugend in Deutschland beginnt mit einer Schilderung der komplexen Situation in Toilers Geburtsstadt Samotschin bei Posen, in welcher die Juden Angabe nach: Ernst Toller: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Wolfgang Frühwald und John M. Spalek. München 1978. Die Abkürzung GW steht für diese Ausgabe, die römische Zahl gibt den Band, die arabische die Seitenzahl an.

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zwischen Deutschen und Polen, zwischen Protestanten und Katholiken lebten, abgelehnt von beiden Seiten, sich selbst aber deutsch und kaisertreu haltend. Die erste (aufgezeichnete) Erinnerung seines Lebens ist eine der Diskriminierung: Ein nichtjüdisches deutsches Mädchen darf nicht mit ihm spielen, weil er Jude ist (GW IV, 13f.). Die Polen hassen die Deutschen, weil sie, wie der polnische Freund Stanislaus dem jüdischen Jungen erklärt, polnische Erde gestohlen haben (GW IV, 14), aber später offenbart sich ein noch viel tiefer verwurzelter, letztlich nicht überwindbarer Haß gegen die Juden, als Stanislaus in einem Streit bemerkt: Wenn du's wissen willst, Großmutter sagt, die Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen. (GW IV, 21). Die Kluften sind unüberbrückbar. Die formale Emanzipation der Juden mit den Deutschen stellt ebensowenig eine Basis zur Gemeinschaft dar, wie die Stellung der Juden und der Polen als beiderseits von den Deutschen Ausgegrenzte ein Solidaritätsgefühl wecken würde. Die traditionelle gegenseitige Aus- und Abgrenzung bleibt auch stärker als die Freundschaften der Kinder. Deren Trennungsbewußtsein wird durch den Besuch konfessionell verschiedener Schulen gefördert: Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die 'evangelische', Stanislaus in die 'katholische', ich in die 'jüdische'. Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere. (GW IV, 19) Das Übel einer separatistischen Schulordnung hatte schon Alfred Döblin in seiner 1926 erschienenen Reise in Polen kritisiert, allerdings gerade deshalb, weil in den verschiedenen polnischen Schulen (wie wahrscheinlich auch in denjenigen Samotschins) nicht nur gleichermaßen 'Lesen und Schreiben' gelehrt wurde. Wie ich die Schule gesehen und alles gehört habe, bin ich niedergedrückt. Die Jungen und Mädchen lernen ukrainische Geschichte. Ich habe gesehen, wie sie in den jüdischen Schulen jüdische lernen, in den polnischen polnische, in den deutschen deutsche. Es ist aber etwas Schauerliches um das Nationale von heute. Ich verliere jede Lust, mich für die Freiheit von Völkern einzusetzen. Ich verliere jede Lust, mit den 'Grenzen' zu trösten und zu drohen, die 'Tyrannenmacht' hat, wo ich die Tyrannei des Nationalen sehe. 2

2

Döblin, Alfred: Reise in Polen. Hrsg. v. Heinz Graber. Ölten und Freiburg i.Br. 1968, S.198.

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Die Folgen der kanalisierten Fremdheit bleiben nicht aus: Der Knabe Toller muß sich Ritualmordgeschichten und die antijüdischen 'Hep, hep!'-Rufe anhören. Doch auch die inneijüdische Welt ist nicht heil, der Glaube erschöpft sich im Anerkennen einer unnachsichtigen Autorität. Gott ist ein bürgerlicher Klassengott, der laut Tollers Mutter 'es so will', daß Stanislaus' Familie weniger zu essen hat, Gott straft mit einem Hausbrand, bei welchem eine Frau stirbt. Durch unbedachte Äußerungen Erwachsener entsteht im Knaben außerdem ein Schuldgefühl für Gottes harte Strafen. Er reißt deshalb das Röhrchen mit den handgeschriebenen Texten aus der Bibel, die Mesusa, die gemäß jüdischem Gesetz am Türpfosten befestigt ist, herunter und zerstört es, in der Absicht, damit Gott zu töten (GW IV, 17f.). Das Judentum erweist sich aber als ebenso unentfliehbar wie der damit verbundene Gott. Toller 'möchte kein Jude mehr sein', er 'möchte ein wahrer Christ werden', d.h., aus dem Außenseitertum ausbrechen. Doch vom Aufsagen des Weihnachtsgedichts bei der Sekte der Wahren Christen wird der kleine Jude im letzten Moment wieder suspendiert (GW IV, 21). Auch Gott, 'der wieder lebt', taucht gerade in dem Moment auf, als der Knabe in seiner Vorstellung, gemäß einer Drohung des Vaters wegen eines getöteten Hundes, vom Polizisten durch die Stadt abgeführt wird (GW IV, 23). Die Schuldgefühle, die später in Rebellentum und Revolution münden sind anhand dieser Schilderung der Kindheitserlebnisse klar erkennbar. Sie haben ihren Ursprung vor allem im religiösen Bereich, kombiniert mit einer Erziehung, die in einer fundamentalen Verständnislosigkeit gegenüber der kindlichen Psyche wurzelt. Das dauernde Zuweisen von Schuld hat diese Gesellschaft so weitgehend internalisiert, daß der krebskranke Vater im Todeskampf mit seinen letzten Worten dem Sohn die Schuld für seinen Tod gibt (GW IV, 35). In der ersten Szene des schon 1917 entstandenen Dramas Die Wandlung, im Dialog zwischen der Hauptfigur Friedrich und seiner Mutter, hat Toller den ganzen inneren Konflikt seines jüdischen Daseins gezeigt, ohne jedoch das Judentum ausdrücklich zu nennen. Friedrich, in gewissem Sinne Tollers alter ego, kritisiert den von Menschen gebauten 'verknöcherten, engherzigen' Paragraphengott (GW II, 19), er leidet an Zerrissenheit, welche 'die drüben' nicht kennen, weil sie 'ihr Land, in dem sie wurzeln' (GW II, 18), haben. Er beklagt sich aber nicht über den Haß der anderen gegen ihn, sondern wirft im Gegenteil der Mutter vor, sie habe ihn 'Haß gegen die Fremden gelehrt'. Die Mutter rechtfertigt sich: 'Sie dulden uns nur. Sie verachten uns.' Die Mutter bleibt im Unrecht. Denn wenn auch für Friedrich die Wandlung seines ganzen Wesens durch die späteren Erlebnisse erfolgt, so bleibt die Idee einer Vereinigung mit den 'andern', die zunächst durch den Krieg erreicht werden sollte, im Grunde auch Impetus des erfolgreichen friedlichen Revolutionärs am Ende des Stücks.

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Daß in Tollers Elternhaus, wie in dem seiner Figur Friedrich, die jüdischen Religionsgesetze zumindest teilweise befolgt wurden, beweist nicht nur die erwähnte Mesusa am Türpfosten, sondern auch die Reaktion der Mutter auf die - falsche - Meldung vom Tod ihres Sohnes, der nach der Niederschlagung der Räterepublik untergetaucht ist: Auch sie hat die Nachricht gelesen, drei Tage kauerte sie auf einem Schemel, sie verhängte die Spiegel, sie trauerte um den Sohn, am vierten Tag erfuhr sie, daß ich noch lebe. Das Trauern der Mutter - das Sitzen auf einem niederen Schemel und das Verhängen der Spiegel - ist ein religiöser Akt. Anders als Friedrich ging Toller nicht von zuhause in den Krieg. Er kam aus dem über Nacht zum Feindesland gewordenen Frankreich, wo er sein Studium begonnen hatte. Den Bruch mit dem Judentum, um fürderhin "Deutscher (...), nichts als Deutscher"(GW IV, 227) zu sein, vollzog er als Kriegsfreiwilliger nicht im elterlichen Salon, sondern vom Militär aus: Aus dem Feld hatte ich dem Gericht geschrieben, es möge mich aus den Listen der jüdischen Gemeinschaft streichen. (GW IV, 227) Im Gegensatz zu vielen anderen Juden war für Toller der Kriegspatriotismus keine Demonstration der Loyalität, die er als Jude dem Kaiser zu liefern hatte, sondern ein Lossagen vom Judentum überhaupt. Nach der Ernüchterung von 1916/17, als Toller den Krieg zu verabscheuen begann, spielte die Suche nach dem inneren Halt, wie ihn die zuhause praktizierte Religion nicht geben konnte, eine wichtige Rolle. Nicht umsonst heißt der Untertitel der Wandlung 'Das Ringen eines Menschen 1 , und in diesem Ringen spielen jüdische Motive eine entscheidende Rolle. Der Weg zur Revolution ist mit dem Glauben an Erlösung eng verbunden. Wie sein ebenfalls jüdischer Mentor Gustav Landauer - dessen Aufruf zum Sozialismus er zur Entstehungszeit des Dramas las - sieht der Verfasser der Wandlung die Notwendigkeit nicht wie die traditionelle marxistische Lehre in der Änderung der Verhältnisse, sondern in der 'Wandlung' der Menschen selbst. Gemeinsam bleibt beiden Lehren die jüdisch inspirierte Grundidee, daß eine optimale Gesellschaftsordnung durch menschliche Kraft erreicht werden kann. Klara Pomeranz Carmely meint: "Krass ausgedrückt wird Toller auch darum Sozialist, weil er nicht Jude sein will und nicht Deutscher sein kann" 3 . In Eine Jugend in Deutschland schildert Toller seine Hinwendung zum Sozialismus jedoch ohne jeden direkten Zusammenhang zu Integrations- oder 3

Carmely, Klara Pomeranz: Das Identitätsproblem jüdischer Autoren im deutschen Sprachraum. Von der Jahrhundertwende bis zu Hitler. Königstein/Ts. 1981, S.85.

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Zugehörigkeitsfragen. Vielmehr bringt ihn der Abscheu vor den Greueln des Ersten Weltkriegs und die Entdeckung des dahintersteckenden Betrugs am Volk zu dieser Haltung. Daß der Versuch einer Humanisierung der Gesellschaft nicht nur in Form der Münchner Räterepublik von 1919 versagt hat und kurz darauf brutal niedergeschlagen worden ist, sondern daß der von Toller vertretene Sozialismus auch im Antisemitismus weiterhin einen standhaften Gegner hat, erfährt er, als er wegen seiner führenden Rolle in München nicht nur als Revolutionär, sondern auch als Jude verurteilt wird. Als er dem Staatsanwalt angibt, er sei konfessionslos, läßt dieser die Angabe in 'Jude, jetzt konfessionslos...' umwandeln (GW IV, 173). In der Festung Niederschönenfeld bei Landsberg am Lech, wo er dann seine fünfjährige Haftstrafe wegen Hochverrats verbüßt, malen Wächter oder Sicherheitsbeamte Hakenkreuze an die Wände des Zellenbaus sowie das völkische Warnzeichen vor Juden 4 . Eine weitere erschreckende Begebenheit zur Zeit seiner Haft spielt sich außerhalb des Gefängnisses, bei der Aufführung seines Dramas Hinkemann in Dresden, ab. Völkische Studenten, die im Zuschauerraum sitzen, schlagen während des Stücks Radau, und ein Zuschauer erleidet einen Herzschlag. Einer neigt sich über ihn, betrachtet sachkundig sein Gesicht, sieht die gebogene Nase und wendet sich zu seinen Kumpanen: 'Es ist nur ein Jud', sagt er. Die anderen toben weiter. (GW IV, 226) An dieser Stelle der Autobiographie fügt Toller seine ausführlichste Reflexion über das Judesein ein, die sichtlich Frucht des Exils ist. Der Liebe zu Deutschland, das ihn nicht akzeptiert, gesellt sich eine Identifikation mit dem Volk zu, "das seit Jahrtausenden verfolgt, gejagt, gemartert, gemordet wird, dessen Propheten den Ruf nach Gerechtigkeit in die Welt schrieen, den die Elenden und Bedrückten aufnahmen und weitertrugen für alle Zeiten, dessen Tapferste sich nicht beugten und eher starben, als sich untreu zu werden" (GW IV, 227). Dieses Bekenntnis der Zugehörigkeit zum jüdischen als einem unterdrückten, aber moralisch aufrechten Volk ist nach Tollers Sozialismusverständnis ein sozialistisches Bekenntnis. Es steht im selben Kontext wie etwa seine Teilnahme am Kongreß der Liga gegen koloniale Unterdrückung in Brüssel 1928 (wo er unter anderem Nehru kennenlernte), doch tritt hier an die Stelle der Solidarität eigenes Betroffensein. Zum Nationalstolz berechtigt Judentum nach Tollers Verständnis aber ebensowenig wie Deutschtum, denn "Stolz und Liebe sind nicht eines" (GW IV, 228), und Toller gibt in seinem eigenen Wesen keinem davon Vorrang: Fragte mich einer, sage mir, wo sind Deine deutschen Wurzeln, und wo Deine jüdischen, ich bliebe stumm. (GW IV, 227). 4

Vgl. Ernst Toller: Justiz. Erlebnisse, Berlin 1927, S. 111.

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Hinzu kommt bei Tollers Auseinandersetzung mit dem Judentum auch jetzt wieder, wie bei der Figur Friedrichs in der Wandlung, das Verhältnis zur Mutter. Der einstige Wunsch, der deutschen Nation ganz anzugehören führt 1933 nicht nur zur Selbstanklage, sondern auch zur Anklage der Nation und der Nationalisten selbst. Ich wollte meine Mutter verleugnen, ich schäme mich. Daß ein Kind auf den Weg der Lüge getrieben wurde, welch furchtbare Anklage gegen alle, die daran teilhatten. (GW IV, 227) Da nach jüdischem Gesetz die Zugehörigkeit zum Volk durch die Mutter bestimmt ist, wirkt sich das Verleugnen der Mutter auf der personalen wie der nationalen Ebene aus, aber auch die Rückkehr zu ihr ist doppelwertig. Das Dilemma zwischen Nationalbewußtsein und Nationalkult, die sich im Faschismus vermengt haben, versucht Toller durch eine weltbürgerliche Synthese zu lösen: [...] wenn mich einer fragte, wohin ich gehöre, ich würde antworten: eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland. (GW IV, 228) Unter dem Aspekt des Exils, in dem Toller sich seit Februar 1933 befand, als er von einer Reise in die Schweiz nicht mehr zurückkehrte, erhält dieser Satz einen vielleicht ungewollt tragischen Aspekt: Denn daß die Erde Heimat, die Welt Vaterland ist, klingt auch nach bitterer Ironie des Emigranten, der überall gleich heimatlos ist. Daß man Ernst Toller als Person und Autor besonders im angelsächsischen Raum schon längere Zeit kannte und schätzte und er in England und in den USA nicht nur problemlos aufgenommen wurde, sondern auch in prominenten Kreisen verkehrte, änderte am Faktum der Vertreibung nichts. Allerdings hatte Toller schon Jahre vorher sein Weltbürgertum als Grund genannt, weshalb er sich nicht einer zielgerichtet nationalen Bewegung wie der des Zionismus anschließen konnte. Im Frühjahr 1925, ein knappes Jahr nach seiner Haftentlassung, hatte er eine Palästinareise unternommen und hatte unter anderem der Gründung der Hebräischen Universität in Jerusalem beigewohnt. Das war die erste eigenständige jüdische Hochschule in Palästina, wo notabene, wie der Name sagt, auf Hebräisch unterrichtet wurde. Die Gründung dieser Institution war also ein betont nationaler Akt. In diesem Sinn äußerte sich Toller denn auch - dort oder bei anderer Gelegenheit auf seiner Reise - zum Zionismus, der nationaljüdischen Bewegung: I am not a Zionist. I believe that one can only be a Zionist from necessity. Only that individual can be of value to the movement who brings to it the greatest measure of devotion. Sheer necessity made me a socialist and left no room to a cause like Zionism. But for the Palestine pioneers, for the Chalutzim, I have not only the

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greatest respect; I love them ever since I came in personal contact with them. I count them as most worthy contemporaries and I am in thorough sympathy with them. 5 Hier erweist sich das Weltbürgertum teilweise als Belastung. Gerade die Pioniere, die Toller so liebt, praktizierten in den Kibbuzim ja den Sozialismus in einer Perfektion, wie sie sonst nie erreicht wurde. Das Eingeständnis Tollers, von seinem Sozialismus 'besetzt' und deshalb für den Zionismus selbst nicht mehr zu gewinnen zu sein, sowie Bemerkungen über die Gefahren des englischen Imperialismus, die im selben Artikel zitiert sind, legen den Gedanken nahe, daß die dauernd aufs Ganze gerichtete Sicht Toller den Weg zu einer Identität mit verbaute. Ihn quälte nicht der klassische Identitätskonflikt des deutschen Juden, der, wie etwa Jakob Wassermann, darum kämpfte, auch als Deutscher voll akzeptiert zu werden 6 , oder der sich, wie Alfred Döblin, unvermutet von der jüdischen Identität eingeholt fand 7 . Der deutsche Jude Toller, mit einer vom Weltkrieg sensibilisierten Abneigung gegen alles Nationale und geformt von Landauers Universalismus, konnte das eine nur sein, wenn er das andere auch war, und beides zusammen nur, da die Verbindung der beiden Begriffe seinem Empfinden nach nicht einengend, aber auch nicht verdoppelnd wirkte, sondern die starren Grenzen jedes monistischen Nationalismus sprengte und bis ins Unendliche öffnete. So ist vielleicht auch klarer ersichtlich, weshalb Toller seine deutsch-jüdische Identität erst dann zur Sprache brachte, als die Vereinbarung dieser beiden Identitätsbegriffe in einer Person vom nationalem Standpunkt aus praktisch unmöglich geworden war. Tollers Weltbürger-Bewußtsein äußerte sich auch in den Hilfsaktionen, die er - seine Popularität und relativ komfortable finanzielle Situation im Exil ausnützend - durchführte. So half er zunächst insbesondere deutschen Flüchtlingen - ob Juden oder nicht -, in den USA ein Unterkommen zu finden 8 und lancierte eine spektakuläre Kampagne zur Hilfe für die Bevölkerung beider Teile des vom Bürgerkrieg zerrissenen Spanien, die jedoch wegen Francos Sieg am Ende nur sehr beschränkte Resultate zeitigte 9 . 5

6 7

8

9

Emst Toller discusses Palestine. Playwright and Social Rebel Is Ardent Spirit in German Intellectual Arena. In: The American Hebrew, Vol. 121, No. 4, 3.6.1927, S.178. Vgl. Wassermann, Jakob: Mein Weg als Deutscher und Jude. Berlin 1921. Anläßlich von Ausschreitungen gegen Ostjuden in Berlin 1923 nahm Döblin an einer Besprechung jüdischer Intellektueller teil und schildert, wie er dort zwei Reden hielt: Zunächst ein Bekenntnis zur deutschen Heimat, trotz der greulichen Vorfälle, später, sich zum Erstaunen der Anwesenden korrigierend, ein Bekenntnis zur primären Solidarität mit den Ostjuden. Anders als später bei Toller bilden die beiden Begriffe keine Grundlage zu einer Synthese, sondern behalten ihren dialektisch nicht auflösbaren antithetischen Charakter. Rothe, Wolfgang: Ernst Toller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 118. Rothe, Wolfgang: a.a.O., S.118f.; vgl. Spalek, John M. und Willard, Penelope: Ernst Toller. S. 1723-1765 in Spalek, John M. und Strelka, Joseph (Hrsg.): Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933. Bd. II: New York. Bern 1989.

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Nicht unberechtigterweise war Toller der Überzeugung, daß während der deutschen Revolution und in den Jahren der Weimarer Republik auch viele Juden auf der reaktionären Seite gestanden und somit den Zielen ihrer Todfeinde Vorschub geleistet hatten. Dies wird in der Autobiographie schon bei der Beschreibung der assimilationshungrigen Juden Samotschins angetönt und äußert sich dann vor allem in der Darstellung seiner Erkrankung im Militärgefängnis, in welchem er infolge seiner Agitation beim Januarstreik 1918 inhaftiert war: Mittags kommt der Arzt, ein Jude. Er untersucht mich, man müsse alle Pazifisten an die Wand stellen, sagt er, dann verschreibt er Aspirin und verweigert dem Fiebernden eine zweite Decke. (GW IV, 98) Nur eine halbe Seite später berichtet Toller von seiner Ankunft im Militärlazarett, in das er eines anderen, humaneren Arztes wegen eingewiesen worden ist: Im Aufnahmezimmer sitzt ein jüdischer Unteroffizier, ich solle meinem Schöpfer danken, grollt er, daß die Ärzte sich meiner annähmen, Deutschland habe ein Recht nicht nur auf Belgien, sondern auch auf Calais, wenn Deutschland die Stadt nicht behalte, würden die Engländer sie einstecken. (GW IV, 99) Toller wollte anscheinend das Bild vermeiden, das Juden nur in der Opferrolle zeigte. Jedoch auch dann stellt sich die Frage, weshalb er ausschließlich solch negativ gezeichnete Personen und nicht auch Gustav Landauer und Kurt Eisner oder Rosa Luxemburg als Juden vorstellte. Offensichtlich hat er überhaupt in seiner Absicht, mit gewissen jüdischen Kreisen in Deutschland abzurechnen, die Wirkungskraft seiner eigenen plastischen Darstellungsweise unterschätzt. Diese war weit mehr dazu angetan, antijüdische Ressentiments auch im Ausland zu schüren, als eine allgemeine Bemerkung über das Fehlverhalten weiter jüdischer Kreise das getan hätte. Zumindest ungeschickt wirkt auch die Beschreibung seines politischen Hauptkontrahenten in der Münchner Räterepublik, des Kommunisten Eugen Levine, den schon sein Name eindeutig als Jude ausweist, als hageren Mann, "aus dessen eingefallenem Gesicht die gebogene fleischige Nase groß vorspringt" (GW IV, 119). Es ist begreiflich, wenn Levinds Witwe später zu dieser Beschreibung erzürnt meinte: Dies im Jahre 1933! Die Nazis hätten keine bessere Karikatur produzieren können. 10

10

Meyer-Levini, Rosa: Levine. Leben und Tod eines Revolutionärs. Erinnerungen. Mit einem dokumentarischen Anhang. München 1972, S. 175.7

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Sieht man einmal von dieser letzten, unbegreiflichen Entgleisung ab, die Toller zumindest bei der leicht abgeänderten zweiten Auflage, die noch Ende 1933 erschien, hätte streichen können, so bringt seine Erwähnung abstoßender Juden ein problematisches Bewußtsein zum Ausdruck: Der Jude wird dort, wo er dem Anspruch ethischer Integrität nicht gerecht wird, nicht nur als Mensch, sondern eben auch als Jude stigmatisiert. Bedenkt man, wie oft heute dem Staat Israel vorgeworfen wird, die Juden hätten aus den eigenen Leiden nichts gelernt (womit implizit die israelische Besatzungspolitik moralisch in die Nähe des Holocaust gerückt wird), so werden die Gefahren solcher Maßtabsetzungen deutlich. Toller hat, wie viele deutsche Juden schon in der Zeit vor Hitler, sein Judentum vor allem aus den Anfeindungen von außen erfahren. Die Lücke des inneren Gehalts wurde bei ihm mit der Leidensfähigkeit gefüllt, wogegen er eine innere Stärkung des jüdischen Volkes aus dem nationalen Gedanken von vorneherein ablehnte, ohne nach den Grenzen zu suchen, in welchen nationale Selbstfindung für die Juden konstruktiv sein konnte. Aufrechten Ganges ging er in der Weimarer Republik den Weg eines parteilosen Sozialimsus und im Exil den des Weltbürgertums, bis zu seinem Freitod am 22. Mai 1939 in New York. Es wurden viele Mutmaßungen darüber angestellt, weshalb sich Toller damals im Hotel Mayflower erhängt hat. Um mit Toller selbst zu sprechen, lag der letzte Grund womöglich darin, daß die Erde als Heimat auf die Dauer nicht mehr trug, da Deutschland ihn ausschloß und das Judentum ihn nicht auffangen konnte.

Laureen Nussbaum (Portland) Assimilationsproblematik in Georg Hermanns letztem Exilroman Der etruskische Spiegel

Georg Hermann, eigentlich Georg Borchardt, der im ersten Viertel unseres Jahrhunderts sehr berühmte und beliebte Autor von Jettchen Gebert, wurde im Gründeijahr 1871 in eine liberale jüdische Berliner Familie geboren. Bereits im März 1933 floh er in die Niederlande, von wo aus er bis 1936 fünf Romane veröffentlichte. 1 Von diesen Werken befassen sich nur die beiden letzten mit Emigrantenschicksalen, und zwar Β. M. Der unbekannte Fußgänger (1935) und Der etruskische Spiegel (1936). Beide erschienen bei Menno Hertzberger in Amsterdam. Die Auflage war klein, die Anzahl der Druckfehler leider groß, die maßgebliche holländische Kritik einhellig lobend, während Alfred Döblin am 1. März 1936 im "Pariser Tageblatt" beide Romane "eigentümliche und interessante Produkte" nennt, in denen sich "Schilderungen und Berichte, die einen reportageartigen Charakter haben, mit traumhaften, phantastischen Erfindungen" mischen. Die zwei Werke seien von Schwermut und von einem dichterischen Grundgefühl getragen, meint Döblin, moniert jedoch, daß Hermann sich für das epische Genre nicht genug von seinem subjektiven Stoff, seiner Klage und seinem Gram abgelöst habe. Beide Romane handeln jeweils von einem assimilierten jüdischen Intellektuellen in den ersten Tagen oder Wochen nach seiner Auswanderung. Die zentrale Figur ist alleinstehend, einsam, liebebedürftig und in ihrem tiefsten Wesen verwirrt. Hatte der nach Frankreich ausweichende siebenundvierzigjährige Journalist Benno Meyer, der unbekannte Fußgänger aus dem B.M. -Roman, überhaupt erst am Tage des Boykotts, also am 1. April 1933, "zu seinem Staunen" festgestellt, "daß er wirklich Jude war" (S.10), so nahm auch die Hauptfigur im Etruskischen Spiegel, der einundsechzigjährige, nach Italien ausgewanderte Architekt Harry Frank, seine jüdische Herkunft bislang kaum wichtig (S.273 und passim). Franks Bezugspunkt ist der deutsche Norden. Das "Wir" in seinen Gedanken meint durchwegs Georg Hermann wurde November 1943 aus den Niederlanden nach Auschwitz verfrachtet. Man vermutet, daß er dort nicht mehr lebend angekommen ist. Für genauere biographische und bibliographische Angaben vgl. Laureen Nussbaum: 'Und es kam, wie es kommen mußte': Das Schicksal Georg Hermanns und seiner Spätwerke im niederländischen Exil. In: Neophilologus 71 (1987) S.252-265 u. 402-412. Im ersten Teil sind die Seiten in der Reihenfolge 253-256-254-255-257 zu lesen.

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"wir Deutsche" und erst gegen Ende des Buches gelegentlich einmal "wir Juden" (z.B. S.202 und 273). Anfangs im Zug nach Rom, nachdem sein deutscher Paß mit den teilweise hinfalligen Angaben ihn zu allerlei Grübeleien inspiriert hatte, reflektiert Harry Frank noch sein spontanes "Bei mir zu Hause". Er fragt sich: "Was heißt hier zu Hause? habe ich denn ein zu Hause?" Er möchte sich gern zu jenen dreißig Millionen Deutschen rechnen, die im Laufe der letzten 100 Jahre aus Deutschland hinausgegangen sind, ist sich jedoch klar darüber, daß heute in der sogenannten Heimat ein jüdischer Auswanderer als "vaterlandsloser Bursche" gilt, egal ob schon dessen Ur-Ur-Urgroßvater nicht viel anders gesprochen hat als Berlinerisch (S. 21 f.). Kurz darauf ertappt Frank sich nochmals dabei, daß er Vergleiche zwischen deutschen und italienischen Verhältnissen in der Form von "bei uns" anstellt, und er fragt sich wiederum: "warum bei uns?" (S.23). Sehr bald jedoch verliert sich diese Art der Selbstkorrektur. Wie sehr Harry Frank auch die Farben, die Architektur, die Kunst, die Menschen des Südens genießt, so ist dies doch immer wieder verbunden mit spontaner Bezugnahme auf "bei uns oben", "bei uns im Norden", "bei uns in Berlin" oder einfach nur "bei uns" (z.B. S. 118, 119, 180, 274, 279), während er sich selbst naturgemäß als "Mann von da oben" und "Mensch des Nordens " (u.a. S.146f.), ja sogar als Deutscher (S.197) empfindet. Und wie sollte es auch bei einem über Sechzigjährigen anders sein? Wer könnte so einfach über Nacht alle Wurzeln mit ihren unzähligen Verästelungen ausreißen und dennoch weiterleben? Harry Franks innerer Monolog, der große Teile des Romans beherrscht, ist in beschränktem Maße die Stimme des Autors. Natürlich schimmert da hinter der Romanfigur Hermanns eigenes Emigrantenerlebnis der Desorientierung, sein einsames Altern und die im niederländischen Exil zutiefst empfundene Sehnsucht nach Wärme, Schönheit und Liebe durch. Obendrein begabt der Dichter seine Figur mit dem eigenen Netz literarischer Bezüge (besonders zu Giacomo Leopardi, dem "dichtenden Schopenhauer des Pessimismus", S.69, 111, 152, 212, 275), gibt ihm den eigenen ausgeprägten Kunstgeschmack, die Selbstironie, die fein nuancierte Beobachtungsgabe, überhaupt den beschaulichen Zuschauerhabitus. Harry Frank zeigt auch die Hermannsche Skepsis in bezug auf alles Kriegerische und auf den allgemein bejubelten Fortschritt, trotz Mussolinis offensichtlicher Erfolge (z.B. S.6, 121, 274, 290), und er teilt seines Autors Abscheu vor selbstherrlicher Geschäftstüchtigkeit (z.B. S.168ff.). Immerhin sollte der Leser sich davor hüten, den Autor mit der Hauptfigur seines Dichtwerkes gleichzusetzen. Kurz nachdem er den Etruskischen Spiegel schrieb, im Mai 1935, betont Georg Hermann in der für seine Kinder bestimmten Betrachtung Weltabschied, daß er zeitig gesehen habe, wie es in Deutschland für ihn und seine Glaubens- und Gesinnungsgenossen kommen mußte, und weist dabei auf sein kritisches essayistisches Werk der letzten

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zwanzig Jahre zurück. 2 In der Einleitung zu Meine Liebesgeschichten von 1939 geht er noch weiter. Er stellt sich da seinem hypothetischen Urenkel vor und faßt noch einmal zusammen, wie der Ausbruch des Ersten Weltkrieges ihn derart aus seiner Harmlosigkeit aufgeschreckt habe, daß er den Schock im letzten Drittel seines Lebens nie mehr überwand. Die selbstgewählte Verbannung im Jahre 1933 habe ihn dann keineswegs so getroffen wie der Krieg von 1914, den er nachweislich von der ersten Stunde an verabscheut hatte. 3 Er sei dann eben besser vorbereitet gewesen, denn der Nationalsozialismus war ja nur die folgerichtige Konsequenz alles Vorangegangenen. Die Austreibung habe ihm wenig bedeutet, da er weder im Deutschtum mehr verwurzelt war noch im Judentum, "oder doch nur so weit sich das mit Menschentum deckte" (LBI II, 38). Die arglose, durchwegs rezeptive Figur des Harry Frank, die sich durch Zufälle treiben läßt, ist also nur zum Teil Selbstdarstellung des Autors, und Franks Gedanken und Stimme sind nicht unbedingt die vox auctoris. Wir kennen solche passive, teilweise auktoriale Figuren aus Hermanns früherem Romanwerk, z.B. die semi-autobiographische Figur des Schriftstellers Fritz Eisner in den Romanen der Kette. Hanne und Hans-Peter Bayerdörfer haben überzeugend auf die komplementäre Rolle der Arztfiguren zur Wahrnehmungs-, Bewußtseins- und Gefühlswelt Eisners in der Ä'er/e-Pentalogie hingewiesen. 4 Im Etruskischen Spiegel fehlt nun ein solches Korrektiv. Weder die "Bellissima", die schöne, noch junge Witwe eines florentinischen Archäologen, in die sich Harry Frank gleich im Zug nach Rom hoffnungslos verliebt, noch deren vornehm gebildete "Mamina" oder sonst wer aus ihrem Gefolge könnten als Gegenstimmen in einem klärenden Gespräch fungieren. Die beiden Damen leben wahrlich in einer anderen Welt als der, welcher Frank gerade entronnen ist, und für sie ist und bleibt der Ausländer, was er auch ist: ein charmanter, kultivierter, nicht ganz unbemittelter, älterer "Tedesco" und guter Gesellschafter, einer, der Italien kennt und liebt und der es nebenbei, 2

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Mit Recht erwähnt er dabei besonders seine polemische Schrift Der doppelte Spiegel, worin er sich mit dem zunehmenden Antisemitismus auch in den gebildeten deutschen Kreisen auseinandersetzt (Berlin: Al weiß, 1926). Das Manuskript der Abhandlung Weltabschied befindet sich mit vielen anderen bislang unveröffentlichten Schriften aus Georg Hermanns Exilzeit im Archiv des Leo Baeck Instituts in New York unter der Chiffre AR 7074. Verweise auf Materialien in diesem Archiv werden im Text mit LBI und Dossiernummer angegeben. Weltabschied findet man unter LBI II, 60 (siehe auch Anm. 11). Vgl. z.B. den Titelaufsatz und Weltliteratur oder Literatur für den Hausgebrauch in Georg Hermann: Vom gesicherten und ungesicherten Leben (Berlin: Fleischel 1915) und speziell Georg Hermann: Randbemerkungen, geschrieben 1914-17 (Berlin: Fleischel, 1919). Gestörte Wahrnehmung und hellsichtige Diagnose: Zur Poetik des Erzählens in Georg Hermanns November-Roman. In: Zeitgenossenschaft. Zur deutschsprachigen Literatur im 20. Jahrhundert. Festschrift für Egon Schwarz zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler u.a. (Frankfurt a.M. 1987), S.77-90.

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verständlicherweise, im Hitler-Deutschland nicht länger ausgehalten hat. Da die schöne Frau ihn mag, veranlaßt sie, daß er in einer Pension innerhalb ihres Palazzo angenehme Unterkunft findet. 5 Mit dem philosophischen römischen Bettler gibt Georg Hermann seinem ausgewanderten Architekten einen weiteren Gesprächspartner bei. Harry Frank kannte ihn schon von früheren Besuchen. Als er ihm nun gleich an seinem ersten Abend in Rom wieder begegnet, meint Frank, der alte Bettler, Fernando, würde vielleicht einmal, wie der Freund Botticellis, "als amico des Harry durch die Weltgeschichte gehen" (S.74). Er projiziert allerlei auf den bedürfnislosen Lebenskünstler. Bei ihren ersten zwei Begegnungen wechseln Fernando und Harry jedoch kaum einen Gruß (S.74ff. und 124ff.), und erst beim dritten Zusammentreffen kommen sie ins Gespräch. Der alte Straßenphilosoph ist ein guter Menschenkenner. Er kann den Gemütszustand eines Vorbeigängers aus der Größe von dessen Almosen ablesen, bemerkt auch, ohne daß der fast gleichaltrige Harry Frank darüber spricht, daß dieser noch tief im Menschlichen verstrickt ist, und warnt ihn davor (S.209-212). Die Beobachtungen des Bettlers betreffen jedoch Harrys späte Verliebtheit und das Allgemeinmenschliche überhaupt. Sie beziehen sich keineswegs auf die problematische historische Lage eines recht unpolitischen, aus dem Dritten Reich ausgewanderten, assimilierten Juden. Für eine Auseinandersetzung über dieses ebenso heikle wie brennende Thema hat Hermann seinem Architekten kein Gegenüber geschaffen. Stattdessen besorgt er ihm zur Reflektion einen magischen etruskischen Spiegel, den Harry Frank in seiner Verliebtheit und seiner Verwirrung aus einem Museum entwendet, indem er ihn mit einer billigen Nachbildung vertauscht. Die Möglichkeit dazu ergibt sich, als er mit der schönen Archäologenwitwe eine erlesene etruskische Kunstsammlung besucht, die ihr Mann vormals betreut hatte (S.156ff.). Hatte Harry Frank sich schon am Vorabend nach einigen Gläsern Wein schwärmerisch erbötig gemacht, der "Bellissima" wie ein Haussklave aus der Etruskerzeit zu dienen (S.84ff.), so sieht er sie und sich nun zu seinem freudigen Schrecken im magischen Spiegel des Museums als Herrin und Sklaven in jene Zeit vor 2500 Jahren zurückversetzt (S. 161 ff.). Der "herrlichen Signora" sieht man auch im Jahre 1934 noch ihre etruskische Herkunft an, und nun besinnt Harry Frank sich angesichts seines magischen Spiegelbildes darauf, daß er ja schließlich auch "Sohn eines alten Volkes" sei, wenn er sich 5

Hier gibt es eine deutliche Parallele zu Georg Hermanns im Jahre 1927 erschienenem Roman Tränen um Modesta Zamboni. In beiden Fällen bedient sich Georg Hermann seiner gründlichen Kenntnisse der italienischen Landschaft und Kunst, um das Ambiente zu schaffen. So ähnlich jedoch in den beiden Büchern das Milieu und die Beziehung zwischen den Hauptpersonen sind, so verschieden ist die historische und politische Konstellation, in der sich die Handlung entfaltet. Der allein reisende "Tedesco" im älteren Roman ist ein junger, nichtjüdischer, vollkommen unpolitischer Kunsthistoriker, die schöne italienische Witwe und Gastgeberin eine antifaschistische Aktivistin.

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"auch etwas mehr durchzivilisiert habe, so in den letzten zweihundert Jahren", also in der Zeit der Emanzipation und Akkulturation der Juden in Deutschland (S.165). Nach einem langen und körperlich wie seelisch erschöpfenden Ausflug in die Campagna im Gefolge der "Bellissima" findet Harry Frank abends in seinem Zimmer in der Rocktasche den etruskischen Spiegel wieder und hält ihn noch in der Hand, als er übermüdet einschläft (S.216ff.)· Da sieht er wiederum die schöne Witwe, samt ihrem kühnen fünfzehnjährigen Sohn, sowie die "Mamina" und Leute aus dem Gefolge der Damen, aber um 2500 Jahre zurückversetzt in die etruskische Zeit. Sogar der Straßenphilosoph erscheint in etruskischem Gewand, mit passendem Namen und politisch gewitzigt im Spiegeltraum. Sich selber aber erlebt Harry Frank im Spiegel als Simon, einen alten, gräzisierten Hebräer und Haussklaven, den phönizische Händler trügerisch vom Fuße des Hebron, von seinem heimatlichen Ölberg und seinen Schafen weg an Bord gelockt hatten, um ihn dann in Athen auf dem Markte zu verkaufen (S.237ff.). 6 Was Harry Frank nun in diese Simon-Figur hineinprojeziert, ist einmal sein Liebesverlangen nach der schönen Frau, hier der unerreichbaren Herrin, sowie Treue zu deren Familie und zu den Etruskern überhaupt, wodurch die Handlung auf ingeniöse Weise teils rückblickend retardiert, teils vorwärtsblickend prophezeiend weitergetrieben wird. Andererseits aber dient das alter ego im magischen Spiegel der Reflektion über Judentum und Akkulturation. Schon seit "sechs Olympiaden" weilt Simon unter den Fremden, ist heimatlos geworden und hat "fast seine Religion, die niemand hier übt, und seine Muttersprache, die heilige, die niemand hier versteht, schon vergessen" (S.237f.). Ein Gedicht wallt in Simon auf, welches er in ein Wachstäfelchen ritzt. Es ist in griechischer Sprache. Hebräisch, die Sprache seiner Jugend, wäre ihm "zu hart, zu primitiv, zu stark und zu einfach" (S.239). Allerdings erinnert er sich noch an ein paar Verse des Hohenliedes Salomonis. Aber bereits seine Frau Rahel, die ihm als Geliebte vor vielen Jahren in der Heimat mit diesem Lied das Herz erwärmte, wußte damals nur noch, daß es von einem alten König der Juden gedichtet worden war, lange vor der Zerstörung des Tempels. Wie der König hieß, das wußte sie nicht mehr (S.224). Bereits damals hatte sich also die Tradition gelockert, war man nicht tief mehr verwurzelt. Dennoch zeigt Simon einen gewissen Kulturstolz, wenn er seiner Herrin, für die bisher jeder Sklave als Analphabet galt, versichert: 6

Harry Frank sagt sich etliche Male im Traum, das Ganze sei doch wie ein Farbtonfilm, wobei es ihn besonders erfreut, daß er als erster die etruskische Sprache versteht. Er möchte "einen Bericht für die Berliner Akademie, nein für die Londoner, niederschreiben" (S.234). Zuvor und später allerdings zeigt er sein unerschüttertes Vertrauen in den hohen Stand der deutschen Wissenschaft, indem er meint, ein deutscher Archäologe sei der Angewiesene, den nachgebildeten Spiegel im Museum als Fälschung zu erkennen (S.215 u. 307).

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Ich bin Hebräer, Herrin. Alle meine Vorfahren, die Männer, wie die Frauen, haben seit über tausend Jahren und länger lesen und schreiben gekonnt. Wir lernen das alle, um die Gemara und die heiligen Bücher lesen und die Gebete sprechen zu können. Das hat uns klüger gemacht, als die andern. Aber auch älter, älter als ihr selbst ... viel, viel älter, Herrin. (S.240) Noch im Verlaufe desselben Gespräches jedoch erfolgt Simons Zurücknahme: Nein, ich bin kein Hebräer mehr, ich habe mit vielen Völkern zusammen am Tisch gesessen und mit den Göttern vieler Völker gelebt und gesehen, daß sie alle gut sein könnten, wenn die Menschen es wären. (S.243) Wie eklektisch Simon verfährt, erhellt kurz darauf sein Dankgebet für das beglückende Wohlwollen seiner Herrin. "Wir senken die Augen zu Boden beim Benschen ...", sagt er, und die Römer und die andern Italiker verhüllen ihr Haupt. Nur die Griechen heben beide Arme gen Himmel, wenn sie den Dankspruch den Göttern bringen, sehen frei in das Auge der Athene. Ich weiß, du bist der Herr, mein Gott ... boroch ato adonoj elauheinu ... Aber gerade darum wirst du mir verzeihen, wenn ich jetzt die Arme zum Himmel werfe und den Blick auch ... Im Alter soll man milde werden: boroch ato adonoj elauheinu. (S.245f.)7 So ist das Judentum des alten Simon also ein Teil des Kulturgepäcks, das dieser sich aus den verschiedenen Stationen seines Lebens zusammengetragen hat. Von einer möglichen Flucht nach Erez Israel vor dem Ansturm der barbarischen Römer will er nichts wissen. Er hat sich so weit assimiliert, daß er meint: "Judentum ist keine Religion, sondern eine Weltanschauung" (S.248ff.), wobei er zu verstehen gibt, daß sich damit in der Fremde leben lasse, wenn diese auch voller antisemitischer Vorurteile stecke (z.B. S.225, 247 und 266). Da Simon als Harry Franks alter ego das Produkt von dessen Einbildungskraft ist, nimmt es nicht Wunder, daß Harry, wenn er am nächsten Morgen seine Traumbilder und Gedanken aussortiert, gerade dem Ausspruch Simons über das Judentum nachsinnt (S.273). Einerseits bedauert Harry, daß er über die jüdische Geschichte so wenig Bescheid weiß, und benutzt bei seinen Gedankengängen das solidarisierende Pronomen "uns", indem er sich fragt: "Hat es bei uns nicht mal so etwas wie eine Babylonische Gefangenschaft gegeben? Wann war die eigentlich?" Andrerseits jedoch bejaht er die Tatsache, daß er als aufgeklärter, assimilierter Jude "noch die Religion wie die Weste 7

Benschen = benedeien, segnen. Die hebräischen Worte bilden den Anfang jedes Dankgebetes. Sie bedeuten: "Gepriesen seiest Du, Ewiger unser Gott".

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getragen [habe]. Unter dem Rock." Leider sei es heute "wieder modern geworden, sie über dem Rock zu tragen" (ibid.). Hier nun spricht Harry Frank wirklich für Georg Hermann, denn man findet diesen Wortlaut beinah verbatim im bereits erwähnten Weltabschied, von dem wir wissen, daß Hermann ihn fast unmittelbar nach dem Etruskischen Spiegel geschrieben hat. Da heißt es: Judentum ist also eine sehr moderne Angelegenheit geworden und ich habe seit 1918 ziemlich viel und oft zu der Frage wenigstens, wie ich sie sehe, das Wort genommen. Bis dahin hatte ich - wie die meisten aus der Schicht, aus der ich kam - mich Gottseidank ziemlich wenig darum gekümmert. Ich hatte es in einer latenten Form besessen, es war sogar die Dominante meiner schriftstellerischen Arbeit gewesen ... aber ich hatte es nie nach außen gekehrt, ich hatte es immer als eine Weste getragen, die man unter dem zugeknöpften Rock hat, die warm gibt, und die selbstverständlich ist - hervorgekehrt hatte ich es nie, und es wäre mir nie eingefallen, wie das heute internationale jüdische Mode ist, die Weste über den Rock zu ziehn. Trotzdem also habe ich mein Judentum weder vergessen noch verleugnet. Zwei Seiten später nimmt Hermann noch einmal dieselbe Metapher auf: Das Judentum ist mir also die Weste unter dem Rock des anständigen Europäers gewesen. Trotzdem war es mir bis heute auch nicht ein Hundertstel des europäischen Kulturguts wert. Was mich am Juden von heute reizte, waren die geistigen und moralischen Fähigkeiten und die Entwicklungsmöglichkeiten, die er in sich hat ... Dieser Entwicklungsmöglichkeiten wegen auf der Leiter zum Zukunftsmenschen liebe ich den Juden, ohne auch nur eine Sekunde zu vergessen, daß auch neunzehntel der Juden ein widerliches Gesindel ist - mit sehr üblen menschlichen und ethischen Qualitäten - vielleicht nicht ganz so übel wie ihre Umgebung aber wahrlich übel genug ... Und an diese kultur- und menschlichkeitstragenden Juden glaube ich. Gerade auf Grund ihrer uralten Tradition, meint Georg Hermann, haben die Juden eine besondere Aufgabe. Er schließt sein Bekenntnis zum Judentum mit den Worten: "[...] glauben tue ich an den zukünftigen Europäer im Juden" (LBI II, 60). 8 Eben diese Hermannschen Anschauungen findet man teils doppelt gespiegelt in den Figuren Simon und Harry Frank des "etruskischen" Romans. Da ist einmal die Assimilationsfreudigkeit und zum andern der Anspruch, als gebildeter Jude auf Grund von Tradition und Schicksal besonders zur Reif8

Zur Entwicklung der Hermannschen Gedanken in bezug auf Judentum, Europäertum und Zionismus im weiteren Verlauf der dreißiger Jahre vgl. Laureen Nussbaum: 'Das Kleidungsstück der europäischen Geistigkeit ist einem besudelt worden . . . ' . Georg Hermann Jettchen Geberts Vater - im Exil. In: Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 5 (1987) S.224-240.

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werdung der Menschheit beitragen zu können. Verwandte Gedanken zum Judentum durchziehen die Beiträge von Intellektuellen deutsch-jüdischer Herkunft, welche die Hitlerzeit überlebten. 9 Auch mehr als 30 Jahre nach der 1 Endlösung' leiden die wenigen Überlebenden noch immer unter der Spannung zwischen ererbtem Deutschtum und einem Rest von ererbtem Judentum. Da nimmt es kaum Wunder, daß Harry Franks Geschichte, die ja in den frühen dreißiger Jahren geschrieben wurde, damit endet, daß er sich eingereiht sehen möchte in die Reihe jener geistig hochstehenden Gestalten wie "August von Goethe, die Humboldtkinder, Hans von Maries, Malwida von Meysenbug und viele andere, die an diesem Deutschland zerbrachen". Auf seiner rasenden letzten Taxifahrt durch Rom kommt er an deren Grabstätten vorbei und wünscht im Vorgefühl seines eigenen baldigen Todes, daß man ihn dort auch bestatten solle. "Wenn man da hinkommt, ist man wenigstens in anständiger Gesellschaft noch", meint er (S.299). Harry Frank ist die Inkongruenz seines Wunsches, in die Reihe fortschrittlicher deutscher Geister aufgenommen zu werden, nicht zum Bewußtsein gekommen. Noch fühlte er sich zu ihnen gehörig, noch konnte er das ganze Ausmaß der Judenverfolgung, welche bis zur vollkommenen Ausmerzung der Juden aus der deutschen Gemeinschaft führen sollte, nicht ermessen. In gewisser Hinsicht läßt Georg Hermann ihn an dieser mangelnden Einsicht zugrunde gehen. Denn der wundersame Spiegel, den Harry Frank sich unrechtmäßig angeeignet hatte, ist nicht nur ein Kunstgriff, um der Handlung Relief zu verschaffen. Er symbolisiert auch das Beste in der aufgeklärten deutschen Kultur. Viele jüdische Emigranten trugen diese Kultur als ihren kostbarsten Besitz in ihrem intellektuellen Reisegepäck mit sich, und manche glaubten gar, deren wahre Vertreter zu sein. Für sie gilt das bittere Wort von Moritz Goldstein: "Wir Juden verwalten das Kulturgut einer Nation, die uns nicht dazu aufgefordert hat." 10 Kein Wunder, daß viele jüngere Flüchtlinge versuchten, es abzustreifen oder aber als Fälschung abzutun. Für die älteren jedoch war das unmöglich. Harry Franks Anstrengungen, den Spiegel beim Baden im Meer loszuwerden, sind vergeblich. Er ist hoffnungslos in ihn verheddert, und beide sinken zusammen auf den Meeresgrund: das schmerzliche Ende einer nicht gelungenen Symbiose zwischen jüdischer Assimilationsbereitschaft und deutscher Kultur. Es ist schwer im nachherein festzustellen, inwieweit diese Interpretation gerechtfertigt ist. Für Georg Hermann war Der etruskische Spiegel "außerordentlich zart, ein feines, altes Liebesgedicht, das heißt eines alten Mannes [...]", so schreibt er seiner Tochter Hilde im Herbst 1935. Und da 9

Vgl. Hans Jürgen Schultz (Hrsg.): Mein Judentum. Stuttgart 1986. Parallelen zeigen sich am klarsten, wenn die hier versammelten Radio-Referate von der Generation handeln, die wie Hermann vor der Jahrhundertwende geboren wurde, etwa die Beiträge von Günther Anders (S.50-66) und Robert Jungk (S.230-38). Zitiert nach Wolfgang Hildesheimer; Mein Judentum, ebd., S.221.

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sein älterer Bruder, der Architekt Heinrich Borchardt, am 16. September 1935 als Junggeselle in Rom gestorben war, fügt er hinzu: "[...] ich habe es dem Andenken Heinrichs gewidmet." 1 1 Als er das Werk im Sommer und Herbst 1934 schrieb, hatte er geglaubt, "daß die Engländer drauf fliegen müßten", schon allein des Ambiente wegen. 1 2 Womöglich hat er deswegen das Emigrantenschicksal und die Assimilationsproblematik eher unterbetont. Im Herbst 1939, in seinem letzten Romanversuch, will er sich ganz diesen Themen widmen. Die daheim blieben sollte ein vierteiliges Werk werden, welches das Schicksal einer weitverzweigten deutsch-jüdischen Familie beschreibt. Der Aufriß zu diesem Werk liegt vor, das Archiv im Leo Baeck Institut New York enthält jedoch nur ein Fragment und eine große Anzahl aufschlußreicher Notizen (LBI 11,9 resp. III, 15). 13 So müssen wir uns denn mit dem, was wir haben, begnügen. Der etruskische Spiegel wird belebt von der Sehnsucht nach Wärme, Schönheit und Liebe eines einsam im kalten Exil alternden Mannes. Der Roman enthält herrliche Landschafts- und Kunstbetrachtungen, viel Humor und Selbstironie, aber eben auch ungelöste Assimilationsproblematik, die uns ja auch heute noch plagt.

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Frau Hilde Villum Hansen stellte der Autorin die Briefe ihres Vaters, die ein wahrer Rechenschaftsbericht seiner Exiljahre sind, freundlicherweise zur Verfügung. Eine Auswahl dieser Briefe ist inzwischen erschienen unter dem Titel: Unvorhanden und stumm, doch zu Menschen noch reden. Hrsg. v. Laureen Nussbaum. Mannheim 1991. Der Titel stammt aus der mehrmals erwähnten Betrachtung Weltabschied, die in leicht gekürzter Form in den Band aufgenommen wurde. Brief an die Tochter vom 10. Mai 1935. Nähere Angaben in Laureen Nussbaum, 'Das Kleidungsstück der europäischen Geistigkeit ist einem besudelt worden ...' ( = Anm.8).

Hans Otto Horch (Aachen) "Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben ..." Zum Verhältnis von 'Katholizismus' und Judentum bei Joseph Roth

ι Meine Ausführungen zum Verhältnis von 'Katholizismus' und Judentum bei Joseph Roth möchte ich mit der Wiedergabe einer Trivialthese beginnen, wie sie durchaus auch heute noch in der Roth-Kritik gelegentlich vorzufinden ist. Ich zitiere aus einer Arbeit, die sicherlich zu den borniertesten Arbeiten über Roth gehört, nämlich aus der Dissertation von Wolf R. Marchand aus dem Jahr 1974 über Roths angeblich 'völkisch-nationalistische Wertbegriffe'. 1 Hier heißt es zur Frage des Zusammenhangs von Emigration und religiös-reaktionärer Wende Roths: Später nennt Roth sich selbst in provokant und ernst gemeinter und zugleich treffender Selbsteinschätzung 'Reaktionär', gläubiger Katholik, Legitimist, Monarchist. Offen zutage tritt diese Selbstcharakteristik in aller Deutlichkeit nach der Emigration. (S.170) Roth wäre dieser These zufolge also Reaktionär, gläubiger Katholik, Legitimist und Monarchist, und diese Entwicklung hätte sich insbesondere durch die Emigration noch verdeutlicht, nachdem bereits Mitte der zwanziger Jahre eine allmähliche Abkehr vom 'sozialistischen' Engagement der Frühzeit erfolgte und insbesondere durch die Krankheit seiner Frau Friedl sich eine

Dieser Beitrag ist eine stark erweiterte Fassung meines im Rahmen des Symposions "Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert" gehaltenen Vortrags. Eine gekürzte Fassung wurde bereits veröffentlicht in: Literatur in der Gesellschaft. Festschrift für Theo Buck zum 60. Geburtstag. Hrsg. v. Frank-Rutger Hausmann, Ludwig Jäger u. Bernd Witte. Tübingen: Gunter Narr 1990, S.211-224. Das Titelzitat "Im Grunde ist er sehr jüdisch geblieben" stammt aus einem Brief von Paula Grübel an Blanche Gidon; hier zitiert nach David Bronsen (Anm.7) S.492. 1

Wolf R. Marchand: Joseph Roth und völkisch-nationalistische Wertbegriffe. Untersuchungen zur politisch-weltanschaulichen Entwicklung Roths und ihrer Auswirkung auf sein Werk mit einem Anhang: bisher nicht wieder veröffentlichte Beiträge Roths aus "Das Neue Tage-Buch". Bonn 1974. ( = Bonner Arbeiten z. dt. Literatur Bd. 23). [Diss. phil. Bonn 1974 (bei B.v.Wiese)].

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Hinwendung zu religiösen Fragen generell und zum Katholizismus abzeichnete. 2 Ich will im folgenden versuchen, die Frage von Roths 'katholischer' Wendung etwas genauer zu untersuchen, als es bisher geschehen ist, und gehe dabei zunächst von der Reaktion der Freunde und Zeitgenossen Roths aus. Unter ihnen gibt es nur wenige, die ein klares Bild seines 'Katholizismus' gehabt hätten; sie beurteilen Roth nach ihren eigenen weltanschaulichen Prioritäten, wobei in der Regel eher Skepsis in bezug auf die Echtheit dieser Wendung zum Ausdruck gebracht wird . So ist es für Hermann Kesten ausgemacht, daß Roth sich lediglich katholisch maskiert habe und er in Wahrheit ein aufgeklärter Skeptiker geblieben sei. Von 14 Romanen seien nur 3 katholisierend (gemeint sind Tarabas, Die hundert Tage und Beichte eines Mörders), und die seien auch qualitativ die schlechtesten.3 Viel wichtiger sei der Zielpunkt seines Lebens - der Westen mit Paris - als der Ursprung, also der Osten mit Brody und dem Ostjudentum.4 Im Gegensatz zu Kesten konzediert Stefan Zweig dem Freund die Ehrlichkeit seines Schritts zum Katholizismus - Tribut an den österreichischen Teil seines Wesens, das auch von russischen und jüdischen Zügen geprägt sei. 5 Franz Blei kolportiert einerseits die mittlerweile längst widerlegte, vom Autor selbst teilweise (etwa gegenüber Nico Rost oder Erika Mann) unterstützte Legende von Roths Taufe, stellt aber fest, sein Glaube sei eher menschlich als christlich fun2

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4 5

Marchand traut offenbar seiner eigenen Einschätzung selbst nicht, wenn er am Ende seiner Arbeit die These halb widerruft: "Roth hat immer wieder glauben wollen. Erst an den Sozialismus, dann an Deutschland [...] und schließlich an Osterreich. Er war Jude und ist vermutlich nie getauft worden. Doch bekannte er sich in seinen letzten Jahren zum Katholizismus. Aber das mehr aufgrund seines Glaubens an die katholisch-lateinische Universalität Österreichs und seiner Sehnsucht nach einer festen, Halt versprechenden Ordnung als aus wirklicher religiöser Uberzeugung." (S.317) Und noch weiter einschränkend: "[...] man kann mit Sicherheit immer noch nicht sagen, zu welcher Religion sich Roth bekannte. Aber daß sein Wertsystem vom christlichen ordo-Gedanken beeinflußt wäre, wird man allenfalls vermittelt durch den Österreich-Mythos unterstellen dürfen und muß dabei einen jüdischen Anteil in seinen Ordnungsvorstellungen berücksichtigen." (S.318) Joseph Roth: Die Legende vom heiligen Trinker [Rezension]. In: Maß und Wert 3 (1939/40) S. 131-139. Vgl. auch das Vorwort Kestens zu der von ihm hrsg. dreibändigen Ausgabe der Werke Roths von 1956. Wiederabgedruckt in der vierbändigen Neuausgabe, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1975/76, Bd. I, S.9-28. Aus dieser Ausgabe wird im folgenden unter der Sigle W mit Band- und Seitenzahl zitiert. Kesten schreibt: "Die Ideen und Grundsätze sind also dieselben beim jungen Skeptiker wie die beim alternden frommen Katholiken. Er hat sie sich als Katholik oder Legitimist unverändert, im wahrsten Sinne des Worts 'wörtlich' bewahrt. Nur für das Gewand, nur für den Einband benutzte er die Sprache und Bilder der Frommen." Und weiter: "Katholisch und fromm gebärdete sich Roth einige Jahre lang, weil er angesichts halbanalphabetischer, materialistischer Horden nach einer humanen Tradition sich sehnte." (S.26) Vorwort zur Neuausgabe 1975/76; W I , 34. Joseph Roth [Nachruf von 1939], In: Zweig, Die Monotonisierung der Welt. Aufsätze u. Vortrage. Ausgew. u. mit einem Nachw. v. Volker Michels. Frankfurt a. M. 1982. S.226-239, hier S.227ff.

Zum Verhältnis von 'Katholizismus'

und Judentum bei Joseph Roth

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diert. 6 Irmgard Keun fiel eine merkwürdige Sehnsucht "nach dem anheimelnd Jüdischen" auf zu einer Zeit, als sich Roth besonders fromm katholisch gebärdete; in Wahrheit habe er nichts vom Katholizismus gewußt, sei zur Zeit ihrer Freundschaft nie zur Messe oder zur Kommunion gegangen. 7 Andrea Manga Bell berichtet gar, Roth habe den Katholizismus nie ernst genommen und mit Soma Morgenstern darüber gescherzt: er verlasse den Gottesdienst erst, wenn der Meßwein zu Ende sei (BJR 489f). Rend Schickele fiel eine bestürzende "Unkenntnis der katholischen Lehre und des katholischen Gottesdienstes" auf, die niemals eine Taufe zugelassen hätte (BJR 489), während für Pierre Bertaux ausgemacht war, daß Roths Interesse für den Katholizismus rein politische Gründe gehabt habe (BJR 489). Für Friedrich Torberg schließlich zählte Roths Katholizismus zu seiner "Exaltiertheit und seinen Provokationen" (BJR 490). Interessanterweise erkannten zwei niederländische Kritiker früh, wie wichtig die jüdische Tradition gerade auch in Werken Roths war, die gemeinhin als katholisierend angesehen wurden: so hob Menno ter Braak das genuin jüdische Thema der Gerechtigkeit im Antichrist als dominant hervor (BJR 439f), während Christian de Graaf auf dem Eindruck insistierte, Roth sei trotz seiner Bemühung, katholisch zu erscheinen, "der am wenigsten assimilierte unter den deutschjüdischen Schriftstellern, blutsverwandt mit den gläubigen Juden aus Rußland, Polen und Galizien" (BJR 454). Auch für den orthodoxen Rabbiner und Talmudisten Joseph Gottfarstein, mit dem Roth in Paris seit 1934 engen Kontakt hatte (vgl. BJR 543ff), war ausgemacht, daß der Katholizismus des Autors lediglich zur "bewußten Mystifikation seines Lebens" gehörte, während sein Judentum echt gewesen sei (BJR 600f)· Die merkwürdigen Umstände von Roths Begräbnis auf der 'division catholique' des Pariser Friedhofs Thiais passen zu dem Verwirrspiel: es nehmen Katholiken und Ostjuden, Atheisten, Monarchisten und Kommunisten teil - das Grab selbst bleibt ohne Kreuz oder Davidstern (BJR 60 Iff). Letzten Endes reproduziert auch die Forschung seit den fünfziger Jahren dieses von den Zeitgenossen entworfene verwirrende Bild. Während etwa Roland H. Wiegenstein 1957 - ganz auf der Linie Kestens - in Roths Werk einen Ideologieverdacht gegenüber Kirche wie Synagoge konstatiert und insofern von einem "Spiel mit dem christlichen Gestus" ausgeht, demgegenüber die jüdische Figurenwelt für das Positive jenseits der Institutionen steht 8 , meint Klaus Westermann noch 1987, das Bekenntnis zum Katholizismus habe es mit sich gebracht, 6 7

8

Joseph Roth. In: Blei, Zeitgenössische Bildnisse. Amsterdam: Allert de Lange 1940. S.237-248, hier S.239 u. 248. Zitiert nach David Bronsen: Joseph Roth. Eine Biographie. München 1981. ( = dtv 1630). S.65, 490. Im folgenden wird aus dieser Biographie zitiert unter der Sigle BJR mit Seitenzahl. Roland H. Wiegenstein: Die gerettete Welt des Joseph Roth. In: Frankfurter Hefte 12 (1957) S.581-586, hier S.584f.

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daß Roth von seinem jüdischen Glauben abzurücken begann, gar eine feindliche Haltung gegenüber einzelnen jüdischen Persönlichkeiten und dem Zionismus einnahm. [...] Verzweiflung, neue Heilserwartung, das Gefühl der Verlorenheit und Ausweglosigkeit oder einfach Flucht, schließlich der Sieg irrationaler oder konservativer Gedanken - von allem schwang in Roths Positionen ein wenig mit. Immerhin schränkt Westermann seine These ein, wenn er feststellt, immer habe neben dem katholischen noch der jüdische Glaube Bestand gehabt 9 . Wenn Westermann freilich unterstellt, das "jüdische Gesetzesdenken" habe nicht nur stark zur Ausprägung von Roths geistig-religiösem Konservatismus beigetragen, sondern auch zu seiner Ablehnung des Zionismus (ebd., S.206), dann zeigt sich hier wieder eine fatale Unkenntnis jüdischer Religiosität - und dies in einer Arbeit, die immerhin auf einige kenntnisreiche Studien zu dieser Frage hätte rekurrieren können. Darstellungen aus dezidiert christlich-katholischer Sicht wie diejenigen von Friedrich Abendroth und Anton Böhm kommen dem Problem erheblich näher, weil sie die Bedeutung theologischer Modelle im Werk Roths zu erkennen vermögen. So sieht Friedrich Abendroth eine enge Beziehung von Roths 'Reichsfrömmigkeit' (im Sinne des 'sacrum imperium') und biblischjüdischer Tradition; der Schluß freilich reduziert das Problem zu sehr auf die konservative Frage nach dem Ende der Religion. Der Jude Roth deckt sich mit dem Altösterreicher Roth in einer Weise, die demjenigen unverständlich bleiben muß, der beide Probleme nur nationalistisch oder vom Standpunkt etatistischer Loyalität her zu sehen vermag. Die Probleme und Versuchungen des Ostjudentums sind zu denen der Donauvölker in eine Entsprechung gesetzt, weil sie dem selben religiösen Grund entspringen. Die zeitbedrohenden Mächte, welche die Reichsfrömmigkeit zu zerstören trachten, wirken auch auf die ostjüdische Gemeinde. 10 Anton Böhm zeigt in Roths Schicksalsbegriff sowie in seinem Ordnungsdenken die Kontinuität des alttestamentlichen Gottesbilds auf: Schickungsglaube ist antirevolutionär; er könnte auch destruktiv und anarchistisch sein, wäre er bei Roth nicht eben in der seelischen Tiefenschicht mit der jüdischen Gesetzesreligion und dem Gottesbild des Moses, der Patriarchen und Propheten verbunden. 11

9

10

11

Klaus Westennann: Joseph Roth, Journalist. Eine Karriere 1915-1939. Bonn 1987. ( = Abh. z. Kunst-, Musik- u. Literaturwiss. Bd. 368). S.205. [Diss. phil. Tübingen 1985 (bei Walter Jens)]. Friedrich Abendroth: Reichs- und Bundesvolk. Das zweifache Zeugnis des Joseph Roth. In: Hochland 50 (1957/58) S.423-429, hier S.428. Anton Böhm: Das große schwarze Gesetz. Notizen zu Joseph Roths Gesamtwerk. In: Wort und Wahrheit 14 (1959) S.345-358, hier S.349.

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Von daher stellt Böhm die Frage, ob Roth überhaupt als christlich Glaubender anzusehen sei, wo er doch aus seiner 'katholischen' Zeit kein Dokument hinterlassen habe, das bezeugte, daß Jesus Christus der Messias und die religiöse Frage des Judentums durch ihn endgültig beantwortet sei (ebd., S.348). Eher peinlich mutet dagegen Carl Steiners Versuch von 1973 an, Roth als echten Konvertiten darzustellen. Als geistig-weltanschauliche Grundpfeiler werden genannt: (1) problematische Stellung zum Judentum, (2) leidgetragene Kritik an Österreich-Ungarn, (3) wachsende Frankreichliebe und (4) späte Neigung zum Katholizismus [...] 1 2 Im Antichrist distanziere sich Roth "bewußt von seinen Glaubensgenossen" (ebd., S.13), während Tarabas das Präludium des Durchbruchs zum Katholizismus bilde, Die Hundert Tage das Zentrum, die Legende vom heiligen Trinkerden religiösen Abgesang (ebd., S.13f). Es gibt - sieht man einmal von David Bronsens biographischer Sammlermühe ab, die ihr Ziel weniger in der minutiösen Interpretation der Werke als in der Bereitstellung durchaus widersprüchlicher Materialien zur Personalund Werkbiographie hat - nur drei Arbeiten, die sich substantiell mit der Frage von Roths Judentum bzw. seiner 'katholischen' Wende befassen: Hansotto Ausserhofers verdienstvolle Zusammenstellung der erreichbaren Zeugnisse über Roths Verhältnis zum Judentum (1970), die tieflotende umfangreiche Arbeit von Claudio Magris über Roths Beziehung zum Ostjudentum (1971, dt. 1974) und schließlich Esther Steinmanns Arbeit über Sinnerfahrung bei Roth (1984), die von einem deutlich christlichen Erkenntnisinteresse her die Frage nach dem Verhältnis von Judentum und Christentum bei Roth untersucht. Hansotto Ausserhofer meint, Roths Hinwendung zum Katholizismus seit Ende der zwanziger Jahre erkennen zu können, lehnt aber die These ab, darin manifestiere sich zugleich eine Abkehr vom Judentum: diese Abkehr beziehe sich lediglich auf assimilierte Juden, die ihrerseits der Tradition authentischen Judentums im Osten untreu geworden seien. 13 In der Vertikalität von Roths Katholizismusbegriff sieht Ausserhofer eher ein geistiges als ein religiöses Motiv, das sich im übrigen durchaus mit der ostjüdischen Tradition verträgt (S.92). Ob eine Kenntnis der Briefe an den Jesuiten und Herausgeber des "Gral" Friedrich Muckermann tatsächlich die Frage der katholischen Wende endgültig klären könnte (S.95f), ist eher zu bezweifeln angesichts des ausgeprägten Adressatenbezugs der Rothschen Briefe. Als Charakteristika der Rothschen Religiosität werden genannt: (1) Das Bild des strengen 12

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Carl Steiner: Frankreichbild und Katholizismus bei Joseph Roth. In: German Quarterly 46 (1973) S. 12-21, hier S. 12. Hansotto Ausserhofer: Joseph Roth und das Judentum. Ein Beitrag zum Verständnis der deutsch-jüdischen Symbiose im zwanzigsten Jahrhundert. Diss. phil. Bonn 1970. S.89ff.

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alttestamentlichen Gottes Israels ist dominant. (2) Auch die assimilierten Juden können sich nicht vom Bund Jahwes mit Israel lösen. (3) Das 'christliche' Gebot der Nächstenliebe entspricht eigentlich dem Sendungsauftrag der Juden. (4) Über die irdische Vernunft hinaus bedarf es der Gnade. (S.97) Zu bezweifeln ist Ausserhofers generelle Maxime, Roths Aufsätze und Briefe gäben für das Problem seiner Religiosität mehr her als das Erzählwerk (vgl. S.96). Methodisch gesehen scheint mir - trotz der zweifellos vorhandenen rezeptionsorientierten Offenheit von Roths Erzählwerk, wie sie Sarah Fraiman betont hat 14 - eine Untersuchung der hinter den Erzählungen und Romanen stehenden Traditionsmodelle erheblich fruchtbarer als die Suche nach wörtlichen Aussagen über Glaubensfragen, die jeweils einem bestimmten Argumentationsinteresse entstammen. Die eigentlichen Invarianten in Roths Werk sind zweifellos die Bezüge zur ostjüdischen Religiosität und zur jiddischen Erzähltradition: zu ihnen kehrt Roth nicht nur immer wieder zurück, je unsicherer die Zeiten werden (vgl. S.292), sondern sie lassen sich mehr oder weniger deutlich im Gesamtwerk nachweisen. Diesen Nachweis erbringt Claudio Magris in seinem ebenso material- wie geistreichen Buch 'Lontano da dove' (1971), das durch eine schlechte Übersetzung ins Deutsche (1974) in seiner Wirkung leider beeinträchtigt wurde. Auf die Frage des Katholizismus geht Magris nur am Rand ein, weil für ihn die überwältigende Dominanz ostjüdischer Traditionen - insbesondere der jiddischen Erzählkunst und chassidischer Überlieferung religiöser 'Geschichten' - in Roths Werk außer Frage steht: Roth sucht eine Antwort auf die sinnlose Unordnung des Lebens in Ähnlichkeiten, Allegorien, Anhaltspunkten und Motiven der jüdischen Tradition, die ihm allein noch auf Ordnung und Sinn hinzuweisen scheinen. [...] die Allegorie des Judentums liefert die Sprache, in der die Verlorenheit ausgedrückt werden kann, und gleichzeitig auch einen unverrückbaren Damm gegen diese Verlorenheit. 15 Die Metapher des Jüdischen stellt nicht nur einen Code zur Entschlüsselung des Chaos auf, sondern bedeutet auch ein Gegengewicht zum Chaos, einen Fingerzeig auf mögliche Rettung; sie setzt Bedeutungen, verleiht dem Mechanismus des täglichen Lebens Transzendenz. (S.256f) Im einzelnen belegt Magris seine These auch an Erzählungen und Romanen, die gemeinhin als katholisierend angesehen werden, so an Tarabas, Die Hundert Tage und Die Legende vom heiligen Trinker. Generell läßt sich bezweifeln, ob tatsächlich in Roths Spätwerk eine gleichsam 'nihilistische' Wendung konstatiert werden kann in Gestalt einer "Stilisierung des Nichts", 14

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Sarah Fraiman: Joseph Roth: Dichter des Offenen. In: Bulletin d. Leo Baeck Inst. (Jerusalem) 76 (1987) S.35-50. Claudio Magris: Weit von wo. Verlorene Welt des Ostjudentums. Wien 1974. S.256. [Original: Lontano da dove. Torino 1971].

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und Judentum bei Joseph Roth

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einer "ironische[n] Flucht ins Buch" (S.330); vielmehr muß man wohl in der Betonung des Worts, des Buchs, der Figur als dem einzigen Ort der Wahrheit (vgl. S.266f) ein geradezu emphatisches Bekenntnis zur uijüdischen Identifikation von Schrift und Offenbarung sehen, nicht eine Abkehr von der ostjüdischen Tradition und von der Literatur überhaupt. Von daher ist Esther Steinmann zuzustimmen, wenn sie gegen Magris immer wieder auf die positiv religiösen Aspekte der Sinnerfahrung in Roths Werk hinweist.16 Sie tut dies freilich allzu offensichtlich von einem dezidiert christlichen Standort aus, in dem alles Jüdische - das durchaus gesehen und anerkannt wird - als Präfiguration des Christlichen erscheint oder allenfalls als Bestandteil einer nicht universal, sondern christlich interpretierten 'jüdisch-christlichen Tradition'. Von daher kommt es - bei allen richtigen Einsichten - immer wieder zu verräterischen Formulierungen, die etwas als genuin 'christlich' usurpieren, was durchaus auch im Judentum oder auch in humanistischen Weltentwürfen ganz allgemein wichtig ist. So heißt es über das Verhältnis von universaler Solidarität (gemeint ist offenbar die jüdische religiös-nationale Gesellschaft als Kollektiv) und Hinwendung zum leidenden Subjekt: Mit dem anamnetischen Bewußtsein universaler geschichtlicher Solidarität ist Roth der jüdischen Tradition verpflichtet. In der Hinwendung zum einzelnen, das als solches auf verlorenem Posten steht und dessen Tragik es ist, der Gesellschaft entfremdet zu sein, kommt er christlichem Denken besonders nahe, vollzieht er in seinem Werk die genuin christliche Deszendenzbewegung; er begleitet die Figuren auf ihrem Abstieg. (S.15) [!] Ein Problem der Darstellung Esther Steinmanns besteht darin, daß sie ihre Kenntnis vom Judentum fast ausschließlich aus Arbeiten christlicher Theologen schöpft; was über die chassidische Tradition gesagt wird, stammt aus der für Christen besonders akzeptablen Deutung Martin Bubers, während Gershom Scholem nicht einmal im Literaturverzeichnis genannt wird. Der Mangel an spezifischen Kenntnissen zeigt sich etwa in der Identifizierung von Chassidismus und Orthodoxie (S.23) - obwohl gerade auch Roth in Juden auf Wanderschaft wie im /ftoö-Roman diese beiden Spielarten ostjüdischer Religiosität als konkurrierend dargestellt hat. Roths Hinwendung zum Katholizismus soll seit Mitte der zwanziger Jahre erfolgen, ohne daß die entsprechenden Zeugnisse kritisch überprüft und die gleichsam metaphorische Qualität des Begriffs ins rechte Licht gerückt würden (S.24ff). Judentum ist etwas, was "um christliche Dimensionen erweitert" wird: deutlicher läßt sich kaum sagen, daß das Christentum die Religion mit dem universaleren Horizont ist, in der das Judentum aufzugehen hat: Vgl. Esther Steinmann: Von der Würde des Unscheinbaren. Sinnerfahrung bei Joseph Roth. Tübingen 1984. ( = Untersuchungen z. deutschen Literaturgeschichte Bd. 35). S.99, 108.

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Die menschliche Tragik im Leben Joseph Roths mag schließlich einer weltanschaulich bedingten Empfänglichkeit für den Katholizismus den Charakter existentieller Notwendigkeit verliehen haben. [...] So dürfte den skrupulösen Selbstzweifler das Christentum auch von seinem Selbstverständnis als Sühne- und Versöhnungsangebot her angesprochen haben. Gleichwohl hat Roth sein Judentum nie hinter sich gelassen; er hat es vielmehr um christliche Dimensionen erweitert. (S.25f) Die Auswahl der ausführlich interpretierten Romane und Erzählungen richtet sich ganz nach dem Prinzip, die 'Erweiterung um christliche Dimensionen1 seit der 'chassidischen Parabel' des ίή'06-Romans als konsequente Linie von Roths Entwicklung zu erweisen. Während im Radetzkymarsch die religiöse Dimension nur ex negativo erschließbar sei - auch hier läuft sie nicht nur bei Trotta, sondern offenbar auch bei dem Juden Max Demant letztlich auf eine Anerkenntnis des Evangeliums hinaus -, wird der Napoleon-Roman Die Hundert Tage als Exempel für das christologische Modell von Erhöhung und Erniedrigung gewertet. In der Beichte eines Mörders erscheint die christliche Thematik bereits im Erzählmodell, die exemplarischen Judenfiguren Channa Lea Rifkin und Salomon Komrower repräsentieren wie Napoleon das Christusgeschehen, und am Ende werde die Frage nach dem Bösen überführt "in die religiöse Erlösungswirklichkeit, in die christliche Vorstellung von der Entwicklung des Bösen in der Geschichte" (S.99). In der Legende vom heiligen Trinker schließlich verbinde Roth die Tradition der christlichen Legende, insbesondere der Narrengeschichte der Ostkirche, mit chassidischem Geist. Weder Tarabas noch Das falsche Gewicht noch Die Kapuzinergruft werden näher untersucht; möglicherweise widersprechen gerade diese Texte einem Ansatz, der allzu deutlich die auf das Christentum hinweisenden Züge im Werk Roths herauszuarbeiten versucht und darüber die zugrundeliegenden und viel mächtigeren jüdischen Einflüsse gar nicht mehr zu erkennen in der Lage ist. 2 Versucht man angesichts der verwirrenden Positionen der Roth-Kritik ad fontes zu gehen und sich über Roths Katholizismus anhand seiner brieflichen und autobiographischen Äußerungen zu informieren, so lassen sich - bei aller Ambivalenz der Aussagen - gewisse Grundlinien einer Entwicklung erkennen. In einer autobiographischen Notiz aus dem Jahr 1919 unterstreicht der sich 'westlich' orientierende Roth die Faszination des schwarz-gelben Militärs und der katholischen Welt Österreichs - eine Faszination, die möglicherweise auch zur Taufe hätte führen können, wenn die auserwählte katholische Angebetete nicht von sich aus auf eine nähere Verbindung mit dem angehenden

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Schriftsteller verzichtet hätte. 17 Als Roth im Frühjahr 1925 als Korrespondent der "Frankfurter Zeitung" nach Paris als "Hauptstadt der Welt" kommt, ist er berauscht von der weltoffenen 'katholischen' Atmosphäre dieser Stadt und Frankreichs; seine Briefe an Benno Reifenberg lassen aber keineswegs den Schluß zu, daß er sich bereits näher für die katholische Religion im engeren spirituellen Sinn interessiert hätte, ja er sieht sogar eine essentielle Verbindung dieses Katholizismus mit dem Judentum: Paris ist katholisch im weltlichsten Sinn dieser Religion, zugleich europäischer Ausdruck des allseitigen Judentums. 18 Die weltliche Seite des Katholizismus wird noch stärker betont in einem Brief aus Lyon: Ich gehe durch diese Straßen der Stadt und die Landstraßen überall fließt das Römische in den Katholizismus und man sieht, was man nicht schreiben darf, die Kontinuität des Heidentums, das im Katholizismus eine Form gefunden hat, [aber] nicht aufgegangen ist. (25.7.1925; Β 53) Als Roth im Frühjahr 1926 gegen seinen Willen den Platz in Paris für Friedrich Sieburg räumen muß, kündigt er Reifenberg an, er werde sich künftig "aus Dafke" Mojsche nennen (9.4.1926; Β 87), nachdem er zwei Monate zuvor noch mit "Mojsche-Christus = Joseph Roth" unterschrieben hatte (16.2.1926; Β 81): ein Indiz dafür, daß er sich aus der weltlichen Synthese von Katholizismus und Judentum gleichsam auf das Judentum als Außenseiterexistenz zurückgeworfen fühlte. Die Reise in die Sowjetunion bestärkt Roth in seiner westlich-universalistischen Identität; an Bernard von Brentano schreibt er aus Odessa: Niemals habe ich so stark gefühlt, daß ich ein Europäer bin, ein Mittelmeer-Mensch, wenn Sie wollen, ein Römer und ein Katholik, ein Humanist und ein Renaissance-Mensch. (16.9.1926; Β 94f.) Andererseits erkennt er auch die östliche Seite seiner Existenz an, wenn es in einem Brief an Reifenberg aus derselben russischen Stadt heißt: Ich sehne mich nach Paris, ich habe es nicht aufgegeben, niemals, ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär. (1.10.1926; Β 98)

17 18

Vgl. BJR 136ff. An Benno Reifenberg, 16.5.1925. In: Joseph Roth: Briefe 1911-1939. Hrsg. u. eingel. v. Hermann Kesten. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1970. S.46. Aus dieser Ausgabe wird im folgenden unter der Sigle Β mit Angabe der Seitenzahl zitiert.

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Roths 'Humanismus' erweist sich also gerade darin, daß er scheinbare Gegensätze in sich zu vereinigen vermag - eine Position, die in der Tat etwas 'Revolutionäres' an sich hat. Weder Katholizismus noch Judentum sind von daher als kontradiktorische Positionen anzusehen; vielleicht besteht die Leistung des 'jüdischen Gehirns' - gemeint ist damit wohl die gesamte 'ostjüdisch-deutsche' Bildungsgeschichte mit ihren komplexen Bestandteilen eben, im Wortsinn des 'Katholizismus', in der Fähigkeit der Synthese, ja Transzendierung nationaler, religiöser, philosophischer und politischer Prägungen zugunsten eines universalen Denkens. Demgemäß kann Roth in seinem großen Essay Juden auf Wanderschaft ohne Schwierigkeit eine Verwandtschaft zwischen der Frömmigkeit eines wirklichen Christen und eines ostjüdischen Chassiden oder Orthodoxen feststellen und diese Frömmigkeit allen Assimilationsformen des westlichen Judentums bis hin zum national orientierten Zionismus positiv entgegenhalten (W III, 309). In einem Brief aus Antibes an Stefan Zweig vom 24. März 1931 schildert Roth - der seit 1929 sich angesichts der Krankheit seiner Frau zunehmend als Hiob gefühlt und in den Briefen an Zweig beschrieben hatte - eine neue Beziehung zu einem jungen Mädchen aus gut katholischem flämischem Hause. Die bornierte Atmosphäre dieses gesellschaftlich sanktionierten spießbürgerlich-heuchlerischen Katholizismus wird mit satirischem Ingrimm beschworen: Der Tuteur ist gekommen, mit langem Bart und großem Bauch, ein ahnungsloser Mann, den der Katholizismus vernagelt hat. [...] Die Mutter ist Bürgermeister des Orts, betet halbe Tage, weint die andere Hälfte und hat ein Verhältnis mit einem Geistlichen, der gegen das Mädel hetzt, aus Geschlechtsneid. [...] Die Kirche steckt ganz drin, im ganzen Haus, macht alles blind und taub und hart. Die Kleine ist ganz weich in der Nacht, wenn die Sonne aufgeht - wieder verändert und ihr Geschlecht: beliebig. Sie weint viel, erfinderisch in Körperlichkeiten, außerordentlich begabt für Perversitäten, äußerst empfindlich gegen Schmerz im Normalen, aus dem Psychischen her. Drei katholische Jungfernhäutchen vor dem der Natur, macht Lärm, und ich übe mich in der Virtuosität, zu deflorieren, ohne Lust zu empfinden. [...] Eine Großtante ist heilig gesprochen worden. Sie trug Tag und Nacht einen Panzer. (B 195f.) Auch wenn dieser anarchische Ausbruch die Wirklichkeit wohl stilisiert und fiktionalisiert: von einer 'katholischen' Einstellung ist jedenfalls nichts zu spüren. Roth ist eben damit beschäftigt, den Max Demant seines Radetzkymarsch zu konzipieren - zusammen mit der Figur Trottas durchaus auch eine Art Selbstporträt; dabei scheinen jedenfalls 'katholisierende' Elemente keine Rolle zu spielen. Zwei Jahre später, am Beginn des Pariser Exils, sucht sich Roth in drei Briefen an Zweig Rechenschaft über das Verhältnis von jüdischem Erbe und christlicher Tradition abzulegen. Die Juden als Volk werden dank der Eman-

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zipation verschwinden; sie haben bereits - seit 200 Jahren fern ihrer geistigen Heimat - nicht mehr die Kraft, die Leiden ihrer Ahnen zu ertragen: Haben Sie Talmud gelernt? Beten Sie jeden Tag zu Jehovah? Legen Sie Tefilim? Nein, es ist vorbei - und man trägt eben mitten im Deutschtum als ein Deutscher das Erbe, das von allen andern Völkern der gesitteten Erde, wenn nicht immer freudig angenommen, so doch zumindest nicht mit dem Gummiknüppel bestraft wird. (22.3.1933; Β 257) Angesichts der aktuellen Not gibt es nicht mehr die Pflicht zu Schweigen und Leiden wie für die Vorfahren: Man konnte das 6000jährige jüdische Erbe nicht verleugnen; aber ebensowenig kann man das 2000jährige nicht jüdische verleugnen. Wir kommen eher aus der 'Emanzipation', aus der Humanität, aus dem 'Humanen' überhaupt, als aus Ägypten. Unsere Ahnen sind Goethe Lessing Herder nicht minder als Abraham Isaac und Jacob. (B 257) Roth erkennt im Haß der Nazis dessen pervertierte Universalität: es ist der Haß von Gottlosen und Heiden, er richtet sich nicht nur gegen Juden, sondern gegen die europäische Zivilisation insgesamt, gegen die Humanität und gegen Gott. An dieser These hält Roth bis zuletzt fest, sie wird gleichsam zu dem Kitt, der ihn mit den anständigen Europäern verbindet. Es gibt keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden im Kampf gegen die Barbarei (26.3.1933; Β 260); insofern darf es "auf dem Schlachtfeld der Humanität" auch keine "Etappen-Juden" geben. Versteht man Judesein als bloße Partikularität, dann ist das verwerflich: man hat eine Verpflichtung gegenüber Voltaire, Herder, Goethe und Nietzsche ebenso wie gegenüber Moses und den jüdischen Vätern (ebd.). Resignation und Fatalismus sind deshalb schlimme Verfehlungen gegen die universale Menschheitsethik, und jeder Versuch, mit den Nazis sich zu arrangieren, verwerflich. Wie adressatenbezogen Roth im übrigen argumentiert, zeigt der Brief an Max von Hohenlohe-Langenburg vom 24. August 1933 (B 275). Durch die Arbeit an Tarabas kommt der Autor mit 'sehr katholischen' Problemen in Berührung 19 , und so nennt er sich dem adligen Gönner gegenüber einen "gläubigen Katholiken". Zugleich aber vergleicht er - wie bereits in Juden auf Wanderschaft - diese Gläubigkeit mit der eines Chassiden und stellt sie damit in einen vertrauten jüdischen Zusammenhang: Mir persönlich, der ich ein gläubiger Katholik bin, ist mein Judentum etwa Das, was einem chassidischen Wunderrabbi: eine metaphysische Angelegenheit, weit, hoch über allem, was mit 19

So die Formulierung gegenüber Stefan Zweig am 22. Mai 1933: "St. Julien l'hospitalier auf modern, statt der Tiere: Juden, und zum Schluß die Entführung. Sehr katholisch." (B 265)

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'Juden' auf dieser Erde passiert. [...] Ich weiß natürlich, wie Sie, daß die Juden überall gehaßt werden. Gott will es, also kann es nicht anders sein. Nicht die Juden werden Hitler besiegen, Gott selbst wird es. Unser individuelles Schicksal hat nichts damit zu tun. (B 275) Trotz aller Vorbehalte gegenüber assimilationssüchtigen Westjuden weist Roth die Versuche von christlichen Autoren empört zurück, ihrerseits über die Bestrafung der Juden für ihren 'Abfall' von Gott zu befinden: In einer so barbarischen Zeit, in der die Pest des Antisemitismus auch die sauberen Menschen anzustecken beginnt, bin ich verpflichtet, selbst noch jene Juden zu schützen, die meiner Meinung nach durch ihre zivilisatorische Gottlosigkeit den Rassenhaß gezüchtet haben. [...] Nur dies: es gibt gewiß Juden. Aber in einer Zeit, in der Schweinehunde Bücher verbrennen, sind die 'Christen' Heiden und die Juden sind Christen. [...] Es ist Gottes Sache, der die Juden züchtigt. Er allein hat das Recht dazu. Ein Christ muß die von Gott Gezüchtigten ehren, (an Carl Seelig, 1.10.1933; Β 281) Empört reagiert Roth auch auf den Beschluß des Papstes, mit den nazistischen Barbaren ein Konkordat zu schließen; in einer solchen Situation sind die Nachkommen der alten Juden die einzigen legitimen Repräsentanten der europäischen Kultur, die auf den drei Säulen der Antike, des Judentums und des Christentums ruht: Gott selbst - und wir sind stolz darauf - läßt uns Europa, die Christenheit und das Judentum nicht verraten. Gott ist mit den Besiegten, nicht mit den Siegern! In einer Zeit, da Seine Heiligkeit, der unfehlbare Papst der Christenheit, einen Friedensvertrag, 'Konkordat' genannt, mit den Feinden Christi schließt, da die Protestanten eine 'Deutsche Kirche' gründen und die Bibel zensieren, bleiben wir Nachkommen der alten Juden, der Ahnen der europäischen Kultur, die einzigen legitimen deutschen Repräsentanten dieser Kultur. 20

20

Vgl. Das Autodaf6 des Geistes [Sept./Nov. 1933]. In: Joseph Roth, Berliner Saisonbericht. Unbekannte Reportagen und journalistische Arbeiten 1920-1939. Hrsg. u. mit einem Vorwort v. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1984. S.382. Aus diesem Band wird im folgenden unter der Sigle RBS mit Seitenzahl zitiert. - Ahnlich wird in einem Brief an Stefan Zweig vom 12.11.1935 formuliert: "Alle geistigen Kräfte versagen, wie zum Beispiel auch der Vatikan. Er hätte eine entscheidende Wirkung in Europa und im Völkerbund gehabt, wenn er offen, mit Mut, wie es sich eigentlich für einen heiligen Vater geziemt, gesagt hätte, er verbiete, oder zum mindesten, er verbäte sich eine Unterstützung für einen italienischen Eroberungskrieg. Aber der Papst von heute ist das unter den Christen, was der Thomas Mann unter den Nobelpreisträgern ist, der Bermann Fischer unter den Verlegern, der Gottfried Benn unter den Ärzten, der Rothschild unter den reichen Juden." (B 437)

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Der Sündenfall der 'Westjuden' bestand für Roth darin, die uralte jüdische Tradition, wie sie im Ostjudentum noch zu finden war, durch Assimilation an das Christentum zu verfälschen, ohne den Schritt zur Taufe zu wagen: Sie hatten gerade noch so viel Willenskraft, um sich nicht von der Jahrtausende alten Tradition ihrer Väter zu trennen, aber sie waren zu kraftlos, diese Tradition nicht zu verfälschen. Weil sie nicht den Mut besaßen, selbst zu konvertieren, zogen sie es vor, die gesamte jüdische Religion zu taufen. (384) Damit ist klar, daß die "alte Tradition" der Väter ein positiver Wert an sich ist, gleichsam die Heimat aller Gläubigen, nicht nur der Juden; dies wird besonders deutlich, wenn Roth die modernen Verirrungen der katholischen Kirche als würdelosen Kompromiß der uralten Institution verurteilt. 21 Es gibt also keinen Grund, nachsichtig gegenüber Christen zu sein, die ihre Bestimmung verraten, indem sie zur gegenwärtigen Barbarei mit 'christlicher Nachsicht' schweigen oder gar Bundesgenossen des Antichrist werden (Brief an Ren6 Schickele, Ende 1933/Anfang 1934; Β 302). Das Schicksal der Juden steht für das Schicksal aller Verfolgten und Außenseiter, aller wirklichen Schriftsteller; von daher kann Roth an Klaus Mann aus Anlaß einer Novelle von Isaac Grünberg schreiben: [...] die Novelle ist gut. Und der Mann heißt Isaac. In der Emigration scheint mir das noch richtiger. Schon im 2ten Reich hätten wir uns Alle Isaac nennen müssen. (28.12.1933; Β 301) Diese Repräsentativität der Juden wird noch betont in Roths Artikel Die vertriebene deutsche Literatur, der am 7. März 1937 in der polnischen Zeitschrift "Nasza Opinja" (Lwow) erschien: Die vertriebenen deutschen Schriftsteller sind fremd, wie Israel in Ägypten fremd war. Überall, soweit das Auge reicht, sind neue Pharaonen zu sehen. Und nur der Glaube an ein Wunder befähigt die Schriftsteller, ihre Existenz physisch und literarisch fortzuführen. Es ist aber ein berechtigter Glaube an ein Wunder. Denn am Anfang war das Wort - nicht die Phrase. (RBS 404) 1934 und 1935 sind die Jahre, in denen sich Roth, insbesondere in Briefen an Stefan Zweig, scheinbar eindeutig zum katholischen Christentum bekennt. 21

Vgl. bereits den Aufsatz Der Boxer in der Soutane [Neue Rds. 1930,2]; W IV, 156-158. Breit ausgeführt wird das Thema in Der Antichrist 1934 (W III, insbes. S.375f, 394ff, 451, 470f). Im Brief an Emst Krenek vom 31.10.1934 (B 390f) hält Roth den österreichischen Kanzler Schuschnigg für einen 'katholischen' Kulturingenieur: "Produkt einer dem Neuzeitlichen angepaßten katholischen Erziehung. Ich sehe in Frankreich oft Pfarrer auf Motorrädern. Zum Kotzen. Der Vatikan glaubt, naiv, damit könne er den Teufel besiegen. Siehe Konkordate. Goldene Telephone. Kino! Im Vatikan! 'Neue Zeit'! Dummköpfe, Esel! Der Antichrist!!!" (B 391)

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Eigentümlicherweise nimmt Roth jedoch in dem immer wieder zitierten Brief vom 24. Juli 1935 die Rolle des "Jossei Roth aus Radziwillow" ein, als ob er zugleich mit dem Bekenntnis zum Katholizismus und zu Deutschland das Bekenntnis zu seiner ostjüdischen Herkunft verbinden wolle: Daß ich, Jossei Roth aus Radziwillow, gemeinsam mit der ganzen großen deutschen Vergangenheit Deutschland verteidige, ist mir vollkommen klar. Mein Judentum ist mir nie anders, als eine akzidentelle Eigenschaft erschienen, etwa wie mein blonder Schnurrbart [...]. Ich habe nie darunter gelitten, ich war nie darauf stolz. Ich leide auch jetzt nicht darunter, daß ich deutsch denke und schreibe, sondern darunter, daß 40 Millionen mitten in Europa Barbaren sind. Dieses Leid teile ich mit Vielen, etwa 20 Millionen deutscher Menschen - soweit sich dergleichen in Zahlen ausdrücken läßt. Ich glaube an ein katholisches Reich, deutscher und römischer Prägung, und ich bin nahe daran, ein orthodoxer, sogar vielleicht auch militanter Katholik zu werden. Ich glaube nicht an 'die Menschheit' - daran habe ich nie geglaubt, sondern an Gott und daran, daß die Menschheit, an der Er keine Gnade übt, ein Stück Scheiße ist. Aber ich hoffe auf Seine Gnade. (418) Wenn Roth am 14. August 1935 an Zweig schreibt, er sei "mit Wonne ein Abtrünniger, von Deutschen und Juden" und "infolgedessen kein Abtrünniger von Christen und Menschen" (B 421), so darf diese paradoxe Formulierung nicht zum pauschalierenden Nennwert genommen werden. Verstanden sind unter 'Deutschen' die gegenwärtig an der Macht befindlichen Heiden, und unter 'Juden' diejenigen, die immer noch an Assimilation, an Taktieren denken, wogegen 'Christen' im Grunde 'Menschen' sind, die sich zu ihrer universal gedachten Humanität bekennen. So verspricht sich Roth im Pakt Konservativer jeder Konfession einen Ausweg aus dem Unheil; konservativ heißt dabei, daß die Gesetzlichkeit und Ordnung alter Traditionen gewahrt bleiben und keine Kompromisse mit dem Zeitgeist eingegangen werden. Wenn Roth in diesem Zusammenhang von sich als einem 'Abtrünnigen' spricht, ist dies dialektisch gemeint: der 'Meschummad' - ob freiwillig, ob gezwungen vom Judentum abgefallen - bleibt religionsgesetzlich ein Jude, und im Sinne des Inhalts der Aussage handelt Roth ja gerade ethisch dadurch, daß er sich als 'Christ' und 'Mensch' versteht und sich gegen das Böse in Gestalt der 'Deutschen' und 'Juden' wendet - wie etwa der Katholizismus, der klüger als die Kommunisten das Dritte Reich bekämpft. 22 Im christlichen Glauben werden die jüdischen traditionellen Werte eingelöst, die von den Juden selbst nicht mehr gewahrt werden: Ich sehe in der Tat keinen anderen Weg, als den Kalvarienberg, der zu Christus führt und keinen größeren Juden. Ja, ich werde 22

Zum Begriff des 'Meschummad' vgl. den Artikel von Samuel Rappaport im Jüdischen Lexikon Bd. IV/1, Sp.130; außerdem den Artikel 'Ketzer' von Paul Rieger, ebd., Bd. III, Sp.679-681.

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vielleicht noch weiter gehn, wenn ich die Kraft habe, und in einen Orden eintreten. Nennen Sie Das eine Art Selbstmord. Ich sehe nichts anderes, als den christlichen Glauben, (keine Literatur) und ich glaube nicht an diese Welt, und ich glaube nicht, daß man auf sie wirken kann. Wenn Gott will, schießt ein Besen, und wenn Er nicht will, schießt auch keine Kanone, (an Zweig, 19.8.1935; Β 423) Nur der große Abglanz Jehovahs läßt die kleinen und kleinlichen Juden zeitweilig als großzügig und großmütig erscheinen - dann nämlich, wenn ihnen ihre übernationale Funktion bewußt wird. Modell der Übernationalität und Universalität aber ist das monarchische Österreich: "universal, katholisch, übernational, gottgläubig und gottwohlgefällig" 23 . Hier wird ganz deutlich, welche semantische Dominante im Begriff des Katholischen steckt: die Universalität und Übernationalität, die als von Gott gewollt betrachtet werden. Der Vision betitelte legendenhafte Bericht über die Ermordung von Dollfuß verliert etwas von seiner des öfteren gerügten Peinlichkeit, wenn man berücksichtigt, daß auch hier das christlich-katholische Sterben auf das biblischjüdische Modell von Kain und Abel bezogen wird. 24 Das Modell altjüdischer Religiosität - so ist festzuhalten - bleibt für Roth über alle katholisierenden Momente hinweg grundlegend. Wenn Roth in einem Brief an Stefan Zweig davon sprach, er sei "mit Wonne ein Abtrünniger", so hebt er kein Jahr später gegenüber demselben Adressaten "mit Stolz" sein Ostjudentum hervor: Was ein armer kleiner Jude ist, brauchen Sie nicht ausgerechnet mir zu erzählen. Seit 1894 bin ich es und mit Stolz. Ein gläubiger Ostjude, aus Radziwillow. Lassen Sie Das! Arm und klein war ich 30 Jahre. Ich bin arm. (2.4.1936; Β 465) Ebenfalls Zweig gegenüber betont er sein Interesse für den Talmud, der zu Unrecht arg gescholten worden sei (13.7.1938; Β 522) - nachdem er fünf Jahre zuvor, zu Beginn des Exils, das Verblassen altjüdischer Tradition u.a. damit begründet hatte, daß man als emanzipierter Jude nicht mehr Talmud lerne, zu Jehovah bete und die Religionsgesetze halte (vgl. 22.3.1933; Β 257). In einer Zeit der heidnischen Barbarei rücken gläubige Katholiken und Juden zusammen; sie sehen in der Existenz des jüdischen Volkes einen "Finger Gottes", während Christus von den Antisemiten wie von den Zionisten aus rassischen Gründen abgelehnt werde. 25 Wenn die Juden - aus welchen Gründen auch immer - national werden und in "falsche Vaterländer" 23 24 25

An den 'Christlichen Ständestaat' (23.6.1935; W IV, 722). Vision [Der Christliche Ständestaat 18.8.1935]; W IV, 722-726. Juden, Judenstaat und die - 'Katholiken' [Der Christliche Ständestaat 26.9.1937]; RBS 412-418, hier S.415ff. Anlaß dieses Artikels ist die mißverständliche Bemühung des Neozionisten Wolfgang von Weisl, das katholische Osterreich unter Hinweis auf den katholischen Antisemitismus für die Idee eines Judenstaats in Palästina zu gewinnen.

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heimkehren, verraten sie nach Roth den Segen, der in ihrer ewigen Wanderschaft, ihrem seit Jahrtausenden manifesten Kosmopolitismus liegt und der sie zu einem wirklichen Repräsentanten der Menschheit werden ließ; indem die katholische Kirche Konkordate abschließt, verrät sie in gleicher Weise ihren universalen Anspruch. 26 Dieser Anspruch zeigt sich exemplarisch in der Physiognomie des alten Österreichers, die katholisch gefärbt sei, auch wenn er Jude, Atheist oder Protestant ist. Der katholische Mensch erscheint nie zuerst als ein Glied der Nation, sondern als der Bekenner eines bestimmten Glaubens, dessen Sinnlichkeit ihn nach außen manifestiert. 27 Nach dem 'Anschluß' Österreichs an das Dritte Reich schwinden Roths Hoffnungen auf die katholische Kirche als Institution. In Wien wird Kardinal Innitzer zum "Kardinal-Gauleiter" - ein Verrat, der dem Juden Roth das babylonische Exil in Erinnerung ruft: "An den Ufern der Seine sitzen wir und weinen." 28 In Rom erweist sich der Vatikan als ohnmächtig "wie ein Synedrion", er liefert sich immer mehr dem Getto aus, und so bleiben Österreich in seinem Untergang Totenmesse und Kaddisch versagt. 29 Wenn der "Christliche Ständestaat" nun ebenfalls mit dem Wiener Kardinal paktiert und meint, damit dem habsburgischen Legitimismus zu dienen, so verrät er damit den Geist der katholischen Idee: er ist "von der Enzyklika des Papstes fast ebensoweit entfernt wie das Goldene Kalb von den Zehn Geboten." 30 Reaktionär ist nicht die universale Idee des katholischen Legitmismus, sondern der heuchlerische Umgang mit ihr. Die 'Universalität' des Katholischen ist gleichsam nicht nur eine horizontal zu verstehende, sondern - und vielleicht eher noch vertikal. Nicht nur ihre Ausdehnung kennzeichnet sie, sondern auch ihre Tendenz, in die Tiefe zu dringen. Der Katholizismus muß, seinem Wesen nach, sogar zuerst Wurzeln schlagen, bevor er sich ausbreitet. [...] In diesem höheren, umfassenden Sinne ist die Kirche sogar eminent politisch. 31 Daß ein solcher Begriff der Universalität durchaus auch 'jüdisch' sein kann, liegt auf der Hand. Es geht letztlich um Modelldenken, Verbildlichung einer aus alten Quellen gespeisten Vorstellung des utopischen Friedensreichs, die in der Tat vertikal, nicht horizontal ausgerichtet ist; daß Roth das Modell 'katholisch' nennt, liegt an seiner kulturellen und politischen Sozialisation im alten Österreich, es hat nur wenig mit dem aktuellen Zustand der Institution 26 27 28

29 30 31

Der Segen des ewigen Juden [Die Wahrheit (Prag), 1937]; RBS 418-425, insbes. 423ff. Das alte Österreich [1937/38]; RBS 425-432, hier 428f. Huldigung an den Geist Österreichs [Vortrag März 1938]; W IV, 733-735, hier S.735. Vgl. Psalm 137,1: "An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten." Totenmesse [Das Neue Tage-Buch, 19.3.1938]; W IV, 729. Zu einigen allzu absurden Verdikten [Das Neue Tage-Buch, 9.7.1938]; W IV, 738f. Schwarz-gelbes Tagebuch, 14. März [Österreichische Post (Paris), 1.4.1939]; W IV, 755.

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der Kirche in den zwanziger und dreißiger Jahren zu tun. Auf Modelle utopischen Denkens sind auch die Romane und Erzählungen Roths zu beziehen. Bevor wir uns ihnen zuwenden, sei exemplarisch ein kaum bekannter kurzer Text näher interpretiert, der in nuce das Kernproblem dessen umfaßt, was unter dem Stichwort einer 'christlich-katholischen Wende1 diskutiert wurde. 3 In ihrer Weihnachtsnummer 1932 veröffentlichte die "Literarische Welt" Antworten deutscher Schriftsteller auf eine politisch durchaus aktuelle Umfrage: Friede auf Erden. Versuche einer zeitgemäßen Bibel-Interpretation. Neben Gottfried Benn, Alfred Döblin und Heinrich Mann gehörte. Joseph Roth zu den namhaftesten Einsendern. Sein Text hat folgenden Wortlaut: Die Verkündigung: 'Friede auf Erden' ist für mich keinesfalls eine irgendwelcher theologischen Interpretation bedürftige und lediglich auf das am Ende der Zeiten stehende christliche Reich hinweisende Wendung. Obwohl ich als ein gläubiger Mensch selbstverständlich weiß, daß ohne die Gnade Gottes kein Frieden auf Erden möglich wäre - ebenso, wie: daß ein Krieg ein Fluch ist, für den die Beteiligten nichts oder nur wenig können - möchte ich doch die Verkündigung vom Frieden auf Erden nicht anders verstanden haben, als etwa das Gebot der Nächstenliebe. Es ist zweifellos ein göttliches Gebot, dem Frieden entgegenzustreben, der ersten Voraussetzung für die Nächstenliebe. Wer den Krieg wünscht oder für unvermeidlich hält, ist gewiß kein Christ. Wer den Kampf, mit Heraklit, für den 'Vater aller Dinge' hält, ist ein Heide, wie Heraklit - insofern er unter Kampf den physischen Kampf auf Leben und Tod versteht. Für jeden gläubigen Christen bedeutet die Verkündigung: Friede auf Erden! nicht nur eine Prophezeiung, sondern das strikte Gebot, den Frieden zu wünschen, den konkreten Frieden auf Erden zu wünschen. 32 Roths Antwort auf die weihnachtliche Umfrage scheint auf den ersten Blick insbesondere für denjenigen, der wenig Ahnung von jüdischer Religiosität hat, also für die große Mehrheit nichtjüdischer Leser - ein Beleg für die These zu sein, daß der Autor bereits seit Mitte der zwanziger Jahre Abschied genommen habe von seinem 'sozialistischen' Engagement, sich - vor allem nach der sich abzeichnenden Krankheit seiner Frau Friedl - zunehmend religiösen Fragen zugewandt und dabei immer mehr zu einem Katholiken gewandelt habe, eine Wandlung, die durch die Emigration verstärkt und gleichsam besiegelt wurde. Die wenigen Forscher, die speziell auf diesen Text eingehen, sehen tatsächlich in ihm ein Zeugnis von Roths christlicher Wendung: eher vorsichtig Hansotto Ausserhofer, für den vor allem der Begriff der Gnade hier über das Judentum hinausweist, ohne allerdings ganz im "donum

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Literarische Welt 8 (1932) Nr 53, S.6.

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dei supernaturale" der Christen aufzugehen 33 , eher undifferenziert und referierend Klaus Westermann, der allerdings auf die Konkretion des Friedensbegriffs aufmerksam macht. 34 Liest man Roths Text freilich genauer, so läßt sich eine solche Deutung nicht halten. Roth bezieht sich zwar expressis verbis auf den christlichen Glauben, sagt von sich selbst aber nur, er sei ein "gläubiger Mensch"; er weist ausdrücklich theologische Interpretationen zurück, die - im Sinne geläufiger christlicher Transzendenzvorstellungen - das christliche Reich des Friedens am Ende der Zeiten prophezeien und von der Pflicht ablenken, sich hier und jetzt um den "konkreten Frieden auf Erden" zu bemühen. Friede und Nächstenliebe sind für Roth göttliches Gebot; entgegen jahrhundertelanger christlicher Unterstellung sind sie das allerdings bereits im Judentum. Der Friede gilt als höchste Sehnsucht und eigentlicher Gottessegen; er kennzeichnet (gemäß Jes.2,4 und Micha 4,3) das messianische Gottesreich, aber auch das innerweltliche politische Glück (Lev.26,6; Num.6,26; Jes.9,5f.); für Hillel, der das rabbinische Judentum maßgeblich geprägt hat, ist er das würdigste Ziel menschlichen Strebens. 35 Die sich auf die Bergpredigt (Matth.5,43) berufende christliche Unterstellung, das Judentum habe Feindeshaß gepredigt, während erst Jesus die Feindesliebe gelehrt habe, läßt sich durch viele Stellen der Tora, aber auch des Talmud widerlegen 36 ; der zentrale christliche Text über das Gebot der Nächstenliebe gar, das Jesus am Beispiel des barmherzigen Samariters erläutert (Lk 10, 30-37), rekurriert mit der Frage "Was steht im Gesetz? Was liest du dort?" (Lk 10, 26) ausdrücklich auf Lev. 19,18 [wo der "Nächste" allerdings der Stammesgenosse ist]. Das Grundgebot der Nächstenliebe wird im rabbinischen Judentum, vor allem bei Hillel, zum Inbegriff der jüdischen Lehre. 37 Man kann also sagen, daß Roth in seinem Text sich positiv auf Zentralkategorien der jüdischen Religion stützt, die im Christentum aufgenommen wurden. 38 Wenn ein so kluger katholischer Theologe wie Norbert Lohfink - noch dazu in einem Buch mit dem Titel Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension - versucht, das spezifisch Christliche an der katholischen Friedensbewegung PAX 33

34 35

36 37 38

Hansotto Ausserhofer (Anm. 13) S. 112. Vgl. zum Begriff der Gnade aus jüdischer Sicht die Artikel von Max Joseph und Max Wiener im Jüdischen Lexikon Bd. II, Sp.11701172. Klaus Westennann, Joseph Roth (Anm.9), S.204f. Vgl. Max Wieners Artikel 'Friede' im Jüdischen Lexikon Bd. II, Sp.812f. Zu Hillel 1. mit dem Beinamen "der Alte" (Hasaken) vgl. den Artikel von Chanoch Albeck, ebd., Sp. 1598-1600. Vgl. Hugo Hahns Artikel 'Feindesliebe' im Jüdischen Lexikon Bd. II, Sp.614f. Vgl. Julius Lewkowitz' Artikel 'Nächstenliebe' im Jüdischen Lexikon Bd. IV/1, Sp.374f. Vgl. zur christlich-katholischen Sicht den Artikel 'Friede' von Eugen Biser. In: Handbuch theologischer Grundbegriffe. Hrsg. v. Heinrich Fries. München 1962. S.419-424. Biser bemüht sich durchaus darum, das jüdische Erbe begriffsgeschichtlich herauszuarbeiten; dennoch läuft seine Argumentation auf eine Entweltlichung und Spiritualisierung des Begriffs hinaus.

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CHRISTI herauszuarbeiten, muß er daher zu höchst vagen Hypothesen wie der einer "Freiheit von Angst" greifen; substantiell läßt sich - sofern das Christentum sein jüdisches Erbe wirklich akzeptiert, wozu Lohfink selbst aufruft - kein Unterschied im jüdischen und christlichen, nicht durch Theologie zurechtgestutzten Friedensbegriff ausmachen. 39 Der Friedensbegriff, wie er in diesem Text von Ende 1932 entwickelt wurde, bleibt in seinen Grundlagen im ganzen Werk Roths gleich. Den idealisierten politischTkulturellen Hintergrund bildet immer wieder die Doppelmonarchie Österreich-Ungarns, so bereits in einem Feuilleton der "Frankfurter Zeitung" vom 18.6.1929 über Die k.u.k. Veteranen,40 Roth imaginiert im Vorkriegsösterreich ein Friedensreich, das - gerade angesichts paradierender k.u.k. Veteranen - ausgesprochen utopische Züge gewinnt: [...] indessen war Frieden. So satt und so tief, wie nur der Friede aus dem Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sein konnte, der friedlichste aller Frieden der menschlichen Geschichte. (Denn die anderen haben wir nicht gekannt.) Die Sommer waren wie die Reservoire des Friedens, grün, heiß und unerschöpflich. Und der Krieg, weit entfernt von jener feldgrauen Realität, die wir später kennenlernten, trug noch den phantastischen, grünen Reiherbusch des Veteranenobersten. Ja, dessen kriegerische Truppe erscheint mir heute als eine Waffengattung begründet zu dem Zweck, den Frieden zu erhalten, damit in ihm der Krieg repräsentiert werden könne. Ihre kriegerische Lust war eine Ausgeburt des Friedens und mündete in willkürliche, ohne besondere Veranlassung veranstaltete Feste, Sonntagsfeste, denen oft ein bedauerlicher Regen ein Ende machte. (W IV 712) Das kriegerische Spektakel entpuppt sich als wahre 'Friedensfeier', und auch die Natur paßt sich in diese universelle Atmosphäre des Friedens ein. Es dürfte wohl nicht überpointiert sein, wenn man in Roths Österreichbild - vor allem im Radetzkymarsch und in der Kapuzinergruft - die Konstruktion einer rückwärts gewandten, 'restaurativen' Utopie erkennt, die durchaus Züge der messianischen Idee trägt, wie sie bereits im rabbinischen Judentum entwickelt wurde. Gershom Scholem hat Restauration und Utopie als tief ineinander verschlungene und zugleich gegensätzliche Tendenzen der messianischen Idee beschrieben, wobei jeweils nur die Akzente unterschiedlich stark auf das restaurative oder auf das in die Zukunft weisende Element gesetzt werden. In der Zukunft wird gleichsam das Uralte wiederhergestellt, ohne daß dabei die zukünftigen Elemente ganz ausgeschaltet würden:

40

Nobert Lohfink: Der Gott der Bibel und der Friede auf Erden. Oder: Von wann ab ist eine Friedensbewegung christlich? In: Lohfink, Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension. Freiburg, Basel, Wien 1987. S.200-216. Bedenkenswert ist der Aufsatz im selben Band: Das Jüdische am Christentum. Wider die Entscheidung der Christen zur Weltlosigkeit (S.48-70). Abgedruckt in W IV, S.709-714.

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Das ganz Neue hat Elemente des ganz Alten, aber auch dieses Alte selber ist gar nicht das realiter Vergangene, sondern ein vom Traum Verklärtes und Verwandeltes, auf das der Strahl der Utopie gefallen ist. 41 Auch Roths Neigung zu apokalyptischem Pessimismus paßt zu dieser Art des Messianismus, wie er von Scholem beschrieben wurde. Nicht von ungefähr hat Roth in seinem apokalyptischen Traktat den 'Antichrist' einerseits als gewalttätigen König, andererseits als falschen Propheten gekennzeichnet - ganz in der Tradition des Antimessias, wie sie auch von der christlichen Eschatologie übernommen wurde. 42 Besonders die Perversion des Friedensbegriffs in der europäischen Diplomatie - ohne Substanz, allenfalls als Abwesenheit des Krieges gedacht - erweist die Notwendigkeit, in jedem Menschen gleich welcher Hautfarbe und Religion Gott selbst, der Adam seinen göttlichen Hauch verliehen hat, zu ehren (S.460). Im Bonmot, die Diktatoren hätten den Weltfrieden vom Zaun gebrochen43, erscheint zugespitzt, was Signum des 'teuflischen' Zeitalters ist: die völlige Perversion der Friedensidee. Und sogar in einem Text, der scheinbar ganz Roths Katholizismus zuzuordnen ist nämlich der Übersetzung des Gedichts Ballade van de Katholiek von Anton van Duinkerken unter dem Titel Jawohl, mein Herr, ich bin ein Katholik,'44 wird das Original im Sinn der spezifischen Friedensidee Roths geändert. Heißt es dort Heer Jesus zoet, Prins van de ware Kerk, Die έέη is, heilig en apostoliek, Maakt ons in dienst van zijnen vrede sterk. Daarom, mijnheer, noem ik mij katholiek!, so übersetzt Roth: Du, Herr der Kirche und der Menschen Glück, Herr Jesus, mach' den Frieden wahr! Du, Prinz der Kirche wunderbar!45. Roth eliminiert also - wie Egbert Krispyn herausgearbeitet hat46 - alle Anspielungen auf die wahre, ungeteilte, heilige und apostolische Natur der katholischen Kirche und ersetzt diese durch ein Konzept des menschlichen 41

42 43 44

45 46

Gershom Scholem: Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum. In: Scholem, Uber einige Grundbegriffe des Judentums. Frankfurt a. M. 1970. ( = edition suhrkamp 414). S. 121-167, hier S. 125. Der Antichrist; W III, 371-474, hier S.384 sowie 400ff. Schwarz-gelbes Tagebuch [Österreichische Post (Paris), 1.4.1939]; W IV, 749. In: Der deutsche Weg: Ein Blatt für deutschsprechende Katholiken. 16. Oktober 1938. Vgl. dazu Egbert Krispyn: Joseph Roth and the Art of Adaptation. In: Protest Form Tradition. Essays on German Exile Literature. Hrsg. ν. Joseph P. Strelka, Robert F. Bell, Eugene Dobson. University of Alabama Press 1979. S.97-109. Ebd., S. 107 bzw. 102. Ebd., S.101.

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Glücks; die Bitte um Stärke im Friedensdienst der Kirche wird durch einen Appell für politischen Frieden ersetzt, der den Sinn des Originaltextes beinahe umkehrt. Der kurze Text Friede auf Erden war Anlaß, grundsätzlich über Zentralbegriffe des Werks nachzudenken. Dabei zeigte sich, daß die christlichen Wertbegriffe Friede, Liebe, Gnade uijüdische Begriffe sind; insofern bedarf es nicht des Rekurses auf das Christentum, um die Dominanz dieser Werte in Roths Werk zu erklären. 4 Der Radetzkymarsch und Die Kapuzinergruft sind zweifellos die Romane, in denen das 'Modell Österreich1 am reinsten zur Entfaltung kommt - eben als Modell, keineswegs als Verklärung eines historischen Staates. Esther Steinmann sieht im Radetzkymarsch Religiöses als 'Enklave' in einer säkularen Textwelt; es werde in verschiedenen Formen angesprochen: [...] als Gewissensruf und Stimme traditionell jüdischer Ethik bei Max Demant, als geistiges Fundament der k. und k. Monarchie bei Chojnicki, als einmaliges visionäres Erlebnis bei Carl Joseph, als selbstverständliches Lebenszubehör bei den Dienern Jacques und Onufrij. (S.56f) Im Bild des Kaisers erscheint die säkularisierte Gestalt des Vatergotts - zweifellos ein 'Surrogat', das als solches aber auf das zugrundeliegende patriarchate Modell zurückverweist. Bezogen auf die immer wieder zitierte Stelle, wo der Kaiser die galizischen Juden besucht und dem Spott des Rittmeister Kaunitz über die unverständliche Sprache des Rabbiners entgegenhält, der Jude habe auch nur zu ihm - dem Kaiser - gesprochen (W II, 219f), meint Steinmann, mit der Sprache der Juden sei auch das theokratische Denken unverständlich geworden (S.63). Die 'Sprache der Juden' aber reproduziert sich im säkularen Modell - insofern kann sie der Kaiser durchaus verstehen. Es ist daher höchst zweifelhaft, in der Christus- und Kreuzvision Trottas am Ende des Romans, wie die Verfasserin zu belegen versucht (S.71f), den Zielpunkt des religiösen Wegs zu sehen, ein Ziel, das durch den Juden Max Demant vorweggenommen erscheint, insofern dessen "Einsicht in die personale Verantwortlichkeit" hervorgehoben wird, "die an kein Gesetz zu delegieren ist" (S.66). Hier wird wieder das Klischee vom 'Gesetz' reproduziert, das durch das 'Evangelium' überwunden sein soll; die Gegenwart erhalte ihr Recht und befreie im Zeichen des Kreuzes von den Zwängen der Vergangenheit. Es wird völlig vergessen, daß mit der Kreuzvision zugleich der Untergang Trottas und mit ihm der Monarchie besiegelt ist; das 'Modell Österreich' aber existiert nur in der Fiktion einer sinnhaltigen Vergangenheit, die auf Zukunft hin zu deuten ist, und zwar auf Zukünftigkeit eines immanent

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gedachten messianischen Friedensreichs, nicht auf Zukunft im Sinn einer transzendent ausgerichteten Kreuzestheologie. Genau dies wird in der Kapuzinergruft gezeigt, wo dem Grafen Chojnicki - der bereits im Radetzkymarsch für das 'Modell Österreich' eingetreten war die entscheidenden Worte in den Mund gelegt werden. Ihm als dem "ältesten" der Vorkriegsrunde, in die Trotta integriert ist (W II, 872), kommt eine gleichsam natürliche Autorität zu; seine Auffassung des 'Modells Österreich' ist in weiten Zügen die des Autors. Dieses Modell wird bestimmt durch die 'Peripherie' der Kronländer, nicht durch das 'Zentrum' der auf Deutschland fixierten Deutschösterreicher (873). Chojnicki stammt aus Galizien - wie der jüdische Kutscher Manes Reisiger, dessen musikalischem Sohn Ephraim Chojnicki im Dschungel der Wiener Bürokraten behilflich ist; er kann dies, weil er deren "Knödelhirne" als eigentliche Ursache für den drohenden Untergang Österreichs ansieht und sie distanziert seine Macht spüren läßt (880). Chojnicki hat einen "sechsten Sinn" für die Qualitäten "seiner" galizischen Juden: Meine galizischen Juden können alles. Vor zehn Jahren noch habe ich sie nicht gemocht. Jetzt sind sie mir lieb, weil diese Knödelhirne angefangen haben, Antisemiten zu sein. (881) Die galizischen Juden - wie auch die Slowenen - werden zur Gegenwelt der entfremdeten westlichen Zivilisation, eines abstrakten Vaterlands; sie verkörpern als 'Landsleute' individuelle 'Heimatlichkeit' und werden zum "Inbegriff des Vertrauten" (881), ja sie erscheinen sogar als wirkliche Aristokraten: Es sind stolze Menschen, die galizischen Juden, meine galizischen Juden! Sie leben in der Vorstellung, daß ihnen alle Vorzugsstellungen einfach gebühren. Mit dem großartigen Gleichmut, mit dem sie auf Steinwürfe und Beschimpfungen reagieren, nehmen sie die Vergünstigungen und Bevorzugungen entgegen. Alle anderen empören sich, wenn man sie beschimpft, und ducken sich, wenn man ihnen Gutes tut. Meine polnischen Juden allein berührt weder ein Schimpf noch eine Gunst. In ihrer Art sind sie Aristokraten. Denn das Kennzeichen des Aristokraten ist vor allem anderen der Gleichmut; und nirgends habe ich einen größeren Gleichmut gesehen als bei meinen polnischen Juden. (882) Während Trotta und seine jüngeren Freunde aus "Hochmut" gegen die katholische Kirche und die Formen ihrer Tradition rebellieren, erkennt Chojnicki als einziger den Zusammenhang von Form und Wesen - nicht aus 'Gläubigkeit', wie Trotta meint, sondern aus 'Noblesse': Die römische Kirche [...] ist in dieser morschen Welt noch die einzige Formgeberin, Formerhalterin. Ja, man kann sagen, Formspenderin. Indem sie das Traditionelle des sogenannten 'Althergebrachten' in der Dogmatik einsperrt wie in einem eisi-

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gen Palast, gewinnt und verleiht sie ihren Kindern die Freiheit, ringsum, außerhalb dieses Eispalastes, der einen weiten, geräumigen Vorhof hat, das Lässige zu treiben noch das Verbotene zu verzeihen, beziehungsweise zu führen. Indem sie Sünden statuiert, vergibt sie bereits diese Sünden. Sie gestattet geradezu keine fehlerlosen Menschen: dies ist das eminent Menschliche an ihr. Ihre tadellosen Kinder erhebt sie zu Heiligen. Dadurch allein gestattet sie implicite die Fehlerhaftigkeit der Menschen. Ja, sie gestattet die Sündhaftigkeit in dem Maße, daß sie jene Wesen nicht mehr für menschlich hält, die nicht sündhaft sind: die werden selig oder heilig. Dadurch bezeugt die römische Kirche ihre vornehmste Tendenz, zu verzeihen, zu vergeben. Es gibt keine noblere Tendenz als die Verzeihung. Bedenken Sie, daß es keine vulgärere gibt als die der Rache. Es gibt keine Noblesse ohne Großzügigkeit, wie es keine Rachsucht gibt ohne Vulgarität. (885) Der Begriff von Katholizismus, der hier entwickelt wird, hat weder etwas mit bloßer aufs Jenseits bezogener Religiosität noch mit 'eisiger Dogmatik' zu tun, sondern erweist sich als immanent-handlungsbezogen, als Gegenentwurf zur sich abzeichnenden Auflösung einer "morschen Welt". Als "Formspenderin" erzeugt die Kirche Menschlichkeit - damit wird ganz offensichtlich auf den ursprünglichen Schöpfungsakt Gottes verwiesen, des Gottes, der seine Geschöpfe nie verläßt. Von daher läßt der jüdische Monotheismus keinen Dualismus von Form und Materie zu wie etwa die griechische Philosophie, einen Dualismus, der sich in der Spaltung von Gut und Böse manifestieren würde. 47 Es gehört zu den uijüdischen Vorstellungen, daß Gott den Bund mit dem Menschen nie zerreißt, auch nicht, wenn dieser gesündigt hat. 48 Auch der "eifervolle, ahndende Gott hört nie auf, der liebende Gott zu sein", Gott denkt gemäß dem Propheten "im Zorn an das Erbarmen", seine Erhabenheit zeigt sich gerade im Vergeben, in der "Unendlichkeit des Verzeihens" (ebd., S. 181). Dieses Verzeihen aber setzt den Willen des Menschen zur Umkehr voraus, zur ethischen Tat. Der Glaube des galizischen Katholiken Chojnicki hat größte Ähnlichkeit mit dem Glauben des galizischen Juden Reisiger, wie Chojnicki selbst ja auch in den Menschen fernster Länder 'Landsleute' zu erkennen vermag, weil ihm solche Erkenntnis "als Zeichen der Gnade vom Himmel in den Schoß" fällt (W II, 881). Auch wenn Trotta das nicht erkennen kann und Chojnicki die 'Gläubigkeit' abspricht: "natürlich", "würdig seiner Jahre", "echt und gottgesegnet" scheint er ihm dennoch, er gleicht damit trotz ganz anderer sozialer und religiöser Herkunft Mendel Singer im W/oft-Roman. Konstituenten dieser Art des Glaubens sind das Bild eines universalen Schöpfergottes sowie die Überzeugung, daß humane wie inhumane Kräfte aus 47

48

Vgl. Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kabbala. Frankfurt a. M. 1977. ( = suhrkamp tb. wiss. 209). Insbes. Kap.II: Sitra achra; Gut und Böse in der Kabbala. S.49-82, hier S.51f. Vgl. Leo Baeck: Das Wesen des Judentums. 6. Aufl. Wiesbaden o.J. S.180ff.

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diesem Gottesbild gleichsam emanieren. Die Eigenart der Kirche, im Sünder den eigentlichen Menschen zu erkennen, verweist unmittelbar auf dieses Gottesbild. Wenn der Mensch als gut und böse vorgestellt wird - niemals nur als das eine oder das andere -, so geht diese Eigenschaft direkt auf Gottes eigenen Willen zurück: "Der das Licht bildet und die Finsternis erschafft, der Frieden macht und das Böse schafft - Ich, Gott, tue all dieses." (Jes. 45,7) 49 . In der Kabbala wird nach Gershom Scholem Gut und Böse direkt auf Gottes Eigenschaften bezogen: Im Menschen sind der gute und der böse Trieb als Möglichkeiten der Wirkung nicht anders angelegt als die Qualitäten der Liebe und der Strenge in Gott selber, (ebd., S.63) Die Natur des Bösen erweist sich danach als "Trennung und Isolierung dessen, was geeint sein sollte" (ebd., S.64). Wenn der Mensch also - auch nur in Gestalt einer utopischen Vorstellung - das Reich der Totalität, der universalen Harmonie wieder erstrebt, kann auch das Böse (im moralischen Sinn, nicht im Sinn einer satanischen Kraft jenseits menschlichen Tuns) wieder als Funktion der Einheit gedacht und dadurch reintegriert werden. Mir scheint, daß Roths utopische Entwürfe eines 'Modells Österreich' jenseits seiner tatsächlichen historischen Realität, die Roth immer höchst kritisch beschrieben hat - solchen Modellen jüdischer Religionsphilosophie nahekommt. Die völlige Abwesenheit manichäischer Denkmuster bei Roth hat ihm häufig den Vorwurf einer falschen 'Unparteilichkeit' eingetragen - zu Unrecht, wie man aus seinen Stellungnahmen zum Dritten Reich erkennen kann. Aber die Vorstellung, daß letztlich das Gute und das Böse unauflöslich miteinander verschränkt, ja aufeinander angewiesen sind, bestimmt das Denken Roths; es ähnelt in seiner Substanz chassidischem Denken, das seinerseits auf eine lange Reihe kabbalistischer Kommentare der Tradition zurückgeht. 50 Auch Satan kann so letztlich in die göttliche Sphäre wieder eingebracht werden. Was im Buch Hiob als Grundproblem jüdischer Gottesvorstellung formuliert (und beantwortet) wurde, bleibt Stimulus von Roths Werk - unmittelbar im Hiob-Roman, mittelbar und verkleidet in seinen anderen Romanen vom Radetzkymarsch bis zur Legende vom heiligen Trinker. Liest man von daher den Traktat Der Antichrist, so ist man zum Verständnis nicht auf christliche Deutungsmuster angewiesen. Zwar hat Roth gegenüber Blanche Gidon den 'christianisme' des Buchs ausdrücklich hervorgehoben (24.4.1934; Β 326), aber er tat dies auch deshalb, um Einwände Gabriel Marcels bzw. des Verlegers Plön auszuräumen. Es ist äußerst fraglich, ob man Roths Traktat mit Hermann Kesten tatsächlich als "Summe seiner Theologie, sozusagen das Bekenntnis vom 'Wunder' seiner Bekehrung" zum 49 50

Vgl. Scholem, Von der mystischen Gestalt der Gottheit (Anm.47), S.49. Vgl. ebd., S.70f.

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christlichen Glauben verstehen soll. 51 So deutlich manche Stellen auf eine Identifikation Jesu mit dem Messias hinzuweisen scheinen - der Kern seiner Aussagen entspricht voll und ganz jüdischer Religiosität. Roth entwirft - ganz im Sinn altjüdischer Modelle, im Duktus des "Es steht geschrieben" - ein Bild der Katastrophalst einer Endzeit, die den messianischen Gedanken gleichsam in ihrem Schoß verbirgt (W III, 373). Schlimmer noch als zur Zeit des Turmbaus zu Babel zeigt sich die Katastrophe im Auseinanderfallen von Namen und Sinn (374); dennoch bleibt der Glaube an die Vernunft als ein Geschenk Gottes nach der Vertreibung aus dem Paradies: Gott "segnet auch dort noch, wo Er straft" (377). Diese Vernunft darf sich jedoch nicht absolutsetzen: der Mensch muß sich seiner Abhängigkeit von der Gnade und der Gerechtigkeit Gottes immer bewußt bleiben. Insofern das Thema der Gerechtigkeit als das zentrale Thema behandelt wird, erweist sich Roths 'christlichstes' Werk als jüdisch in einem emphatischen Sinn. Im Kapitel "Die rote Erde" - einer Auseinandersetzung mit der Ideologie des Leninismus - beschreibt Roth seinen Besuch bei einem Gerechten; das Gespräch mit ihm steht im Mittelpunkt dieses Abschnitts. In der Nähe der Stadt wohnte ein gerechter Mann, und man riet mir, ich solle ihn aufsuchen. Es war gewiß einer von den sechsunddreißig Gerechten, von denen geschrieben steht, daß der Bestand der Welt von ihnen allein abhängig ist und daß sie, unerkannt von den Menschen in ihrer Bedeutung und Gewichtigkeit und nur im Himmel angesehn, verstreut auf Erden leben und daß sie die Sprache der Tiere, den Gesang der Vögel und sogar die Stummheit der Fische zu deuten verstehen. (414f) Der Gerechte mußte Unrecht leiden, wie geschrieben steht; aber das macht ihn nicht ungerecht. Im Kerker umgibt ihn "der starke Panzer aus Einsamkeit", der sich in der wiedergewonnenen Freiheit in "königliche Pracht der Einsamkeit" wandelt (415). Der Gerechte gehört zu den "lamed waw zaddikim" der jüdischen Legende, ohne die die Welt keinen Bestand hat. 52 Er erläutert die schlaue Taktik des Antichrist, die auf Installierung von Tyrannei angelegt ist, um Rebellionen zu provozieren. Der Antichrist ist immer mit den Tyrannen, nie mit den Leidenden; denn "wer leidet, der ist immer stärker gerüstet gegen das Böse, als wer herrscht und befiehlt und genießt." (416) Es steht geschrieben, daß der Gerechte leiden muß. Und die Leidenden sind zwar nicht von vornherein gerecht; aber hätte ich die Aufgabe, eines Tages nach Gerechten zu suchen: in den endlosen Reihen der Leidenden würde ich nach ihnen suchen. Ihnen zuerst ist es gegeben, die Gerechtigkeit dieser Welt wiederherzustellen. (416) 51 52

Hermann Kesten: Meine Freunde die Poeten. Hier zitiert nach BJR 437. Vgl. den Artikel von Bruno Kirschner im Jüdischen Lexikon Bd. III, Sp.959.

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Auch die Kirche ist durch und durch beherrscht von Lüge und Heuchelei. Der Gerechte ist über eine solche Verfälschung Gottes viel mehr betrübt als über den Atheismus; nicht in der Leugnung, sondern in der Verfälschung ist also die eigentliche Sünde zu sehen. "Auf Gerechtigkeit beruht die Welt." (416) In diesem Satz wird das Modell sichtbar, das hinter Roths 'christlichem' Traktat steht. Es ist die kabbalistische und chassidische Vorstellung vom Zaddik, der alles in der Welt an die ihm zukommende Stelle stellt - eine Vorstellung, die messianisch-utopischen Charakter hat, da eine solcherart geordnete Welt die erlöste, die zum Frieden gebrachte Welt schlechthin wäre. 53 Der Gerechte wirkt Scholem zufolge in echter Harmonie mit allem Seienden: Das Wesen des Gerechten besteht im Sinne dieser Symbolik des Lebendigen und Leben Erhaltenden also in der Herstellung der Harmonie oder des Friedens, Begriffen, die in dem hebräischen Wort Schalom ja ineinanderfließen. Bedeutet doch Schalom, genau verstanden, stets einen Zustand der Vollständigkeit oder Integrität, in dem sich etwas befindet, und erst von da aus Friede, (ebd., S.105) Wenn sich Roth in seinem Traktat mit dem jüdischen Schicksal des Exils auseinandersetzt, so tut er dies vordergründig aus christlicher Sicht: Sie [die Juden] gebaren nicht nur den Erlöser: sie leugneten ihn auch. Sie waren wirklich das auserwählte Volk Gottes. Sie sind doppelt auserwählt: und zwar nicht nur deshalb, weil sie ihre Herzen verstockten und nicht zugaben, der Sohn Gottes sei der Erlöser der Welt. Sie sind also, die Juden, doppelt auserwählt: erstens, weil sie Jesus Christus hervorgebracht haben; zweitens, weil sie ihn verleugnet haben. Sie waren, die Juden, ausersehen, den Erlöser hervorzubringen und ihn durch ihre Leugnung zum Erlöser zu machen. Durch ihre Tugend wie durch ihre Sünde haben sie die Erlösung der Welt vorbereitet. Freiwillig haben sie auf sich die Last der Sünde genommen, wie manchmal ein Vater, der nicht teilhaben will am Ruhm seines Sohnes. Deshalb ist, wer an Jesus Christus glaubt und die Juden, seinen irdischen Schoß, haßt, verachtet oder auch nur geringschätzt, der Bruder des Antichrist. (449) Liest man diesen Passus genau, so fällt auf, daß die christliche Optik unversehens ironisch verkehrt wird, indem die Aktivität den Juden zugesprochen wird: sie, die Juden also, machen Jesus erst durch ihre Leugnung zum Erlöser, zu Christus; hätten sie ihn - so kann man interpolieren - ruhig als jüdischen Reformrabbiner predigen und sich von ihm überzeugen lassen, so 53

Vgl. Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit (Anm.47), 3. Kap. "Zaddik; der Gerechte". S.83-134, hier S.99f.

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wäre ihnen viel erspart geblieben. Wenn also ein Anhänger Christi die Juden wegen dieser Leugnung haßt, dann haßt er damit auch Christus. Die wirkliche Leistung des Judentums sieht Roth darin, daß "in ihrem Schoß zuerst der Gedanke geboren ward, daß die Völker der Erde, der ganzen Erde, gleiche Kinder Gottes seien." (448) Dieser Gedanke hängt zutiefst mit dem Gedanken der Gerechtigkeit zusammen, der freilich nicht besagt, daß man auch gegen den Ungerechten gerecht sein müsse (462). Immer waren es große Einzelne, die das Recht gegeben haben - Lykurg, Moses, Mohammed, Christus; deswegen können Millionen Ungerechte nie gegen einen einzigen Gerechten Recht bekommen (465). Stets sieht sich der Mensch auf Gott zurückgewiesen, dessen Zorn wie seine Liebe anzunehmen sind. "Wo Gutes getan wird, dort ist meine Heimat." (470) Auch dieser Satz weist zurück auf die Zedaka, die Wohltätigkeit, die aus der Gerechtigkeit fließt; damit wird Gott die eigentliche Heimat, weil aus ihm alle anderen Tugenden fließen. Es ist eine eigene Pointe, wenn am Schluß eines Textes, den man immer wieder als Roths 'christlichsten' angesehen hat, die Enttäuschung über eine katholische Kirche zum Ausdruck kommt, die sich vom Antichrist korrumpieren läßt. Gemessen am überdauernden Ethos der jüdischen Tradition, wie es im Ostjudentum noch bewahrt wurde, ist das institutionalisierte Christentum - wie auch das assimilierte Reformjudentum - vom Glauben abgefallen. Daß Roth dennoch bis zuletzt immer wieder seine politische Hoffnung auf das Bündnis von Thron und Altar, von habsburgischem Legitimismus und Katholizismus setzen mußte, gehört zu den bitteren Paradoxien eines durch die Emigration vollends exilierten Schriftstellers. Dies ist freilich kein Grund zu hämisch-mitleidigen Kommentaren - weder über Roths 'reaktionäre' Haltung noch über seinen 'Katholizismus'. Was über Radetzkymarsch und Kapuzinergruft bezüglich ihres jüdischen Gehalts gesagt wurde, läßt sich durchaus auch bezüglich anderer 'katholisierender' Erzählungen wiederholen. Daß Roth in bezug auf Tarabas von einem "sehr katholischen" Sujet gesprochen hat (an Stefan Zweig, 22. Mai 1933; Β 265), betrifft viel mehr die Form als den Gehalt - ebenso wie man im Bezugstext, Gustave Flauberts später Erzählung St. Julien l'hospitalier, wohl kaum in einem anderen als formal-gattungsbezogenen Sinn von einer katholischen Dimension sprechen könnte. 54 Statt der Tiere bei Flaubert werden Juden als Opfer des 'Heiligen' eingesetzt - eine Umformung der Vorlage, die alles über die Qualität der 'Moderne' aussagt; und so ist es nur konsequent, daß der jüdische Gastwirt Nathan Kristianpoller als "kluger 54

Vgl. Flauberts Brief an Madame des Genettes vom 3. Oktober 1875, in dem er seine Beschäftigung mit der Legende einzig und allein mit artistischen Fragen begründet und ausdrücklich feststellt, er sei "weder Christ noch Stoiker". Gustave Flaubert: Briefe. Hrsg. u. übers, v. Helmut Scheffel. Zürich 1977. ( = Diogenes Tb 143). S.644. Zu Recht spricht Claudio Magris davon, daß zwar das Schema der mittelalterlichen Legende zu erkennen sei, die jüdischen Motive aber "eine eigentliche allegorische Sprache" entwickelten (Magris [Anm. 15], S.257).

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Mann" (W II, 472) das letzte Wort erhält, nachdem Tarabas, versöhnt mit seinem Opfer, gestorben ist - nicht nur ein merkwürdiger Gast in Kristianpollers Wirtshaus, sondern auch "auf dieser Erde" (W II, 470). Der eigentliche Held der Geschichte ist letztlich nicht der büßende Täter, sondern das Opfer, Schemaijah, der sich auch von dem furchtbaren Tarabas nicht von seiner jüdischen Pflicht abhalten läßt, die geschändeten Torarollen zu beerdigen. Während die katholische Heiligenverehrung zu einem Pogrom führt, erweisen sich die gepeinigten Juden als weise Bewahrer des Lebens; sie sind in ihrer Schwäche immer schon da, wo Tarabas erst nach langen Irrtümern anlangt. Was Napoleons Weg in Die Hundert Tage angeht, so ist er wohl kaum (mit Esther Steinmann) ausschließlich als "christliche[r] Weg der Deszendenz", der Roman somit als christliche Heilsgeschichte zu verstehen. 55 Wenn Angelinas Ende als Kreuzesnachfolge stilisiert wird, so zeigt sich daran Napoleons falsche Vergöttlichung. Er selbst erkennt dieses Problem, ohne sogleich die Konsequenzen zu ziehen: War er ein Gott, zu strafen und zu zürnen? Er war nur ein Mensch. Sie aber hielten ihn für einen Gott. Und wie von einem Gott verlangten sie von ihm Zorn und Strafe, und wie von einem Gott erwarteten sie von ihm Verzeihung. (W 11,484) Ohne Zweifel entwirft Napoleon hier das Bild Jehovahs; mit Christus hat er nirgendwo zu tun, er büßt letztlich für seine Untaten. Napoleons Hybris besteht darin, daß er sich selbst zum Schöpfergott stilisieren ließ, während er den Papst entmachtet. Daß dieser am Ende doch über den Korsen triumphiert, besagt nicht, daß die Rückkehr in den Schoß der Kirche das Heil verbürge; geradezu grotesk gar ist die Vermutung Steinmanns, Roth könne geglaubt haben, auch Hitler lasse sich religiös bekehren (S.92). Wenn Roth die Bauern Napoleon in seiner Schwäche mit Hiob gleichsetzen läßt (W 11,591), dann zeigt dies, daß hier der Mensch im Zustand des Leidens gemeint ist gleichgültig, ob er wie Hiob ohne Schuld war oder sich in vielfacher Weise schuldig gemacht hat. Napoleon selbst glaubt, im gedemütigten Papst Hiob begegnet zu sein; aber es wird ihm klar, daß wir "alle eines Tages Hiob" sind (W II, 592). Die Figur des Schusters Jan Wokurka, der als Legionär ein Bein für den Kaiser hergab, ist in doppelter Weise auf die Sphäre der Heimat bezogen: er nimmt Angelina in ihrer Verlassenheit bei sich auf (W II, 566), und er stammt aus Polen, aus der Grafschaft Chojnickis, der seinerseits für Napoleon starb: [...] sobald Wokurka von seiner Heimat erzählte, begann auch sie zu glauben, daß jenes sonderbare Land den Frieden beherberge. Ferne war es allen Übeln und Verwirrungen. (W II, 571) 55

Steinmann (Anm.16) S.87.

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Chojnicki aber kann als Chiffre gelesen werden: sein Nachfahre ist eine der Figuren, die für das utopische Modell einer befriedeten Gesellschaft stehen. In der Beichte eines Mörders sieht Esther Steinmann eine Sündenfallgeschichte. Sie erkennt richtig, daß der Öffentlichkeitscharakter der Schuldbeichte sowie die "Unabgeschlossenheit der Vergangenheit" aus genuin jüdischer Religiosität stammen (S.93). Dennoch meint sie, am Ende werde die Frage nach dem Bösen als Entfernung von sich selbst "überführt in die religiöse Erlösungswirklichkeit, in die christliche Vorstellung von der Entwicklung des Bösen in der Geschichte" (S.99). Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß die religiöse Integration des Bösen der jüdischen Vorstellung Gottes inhärent ist und daher ein Rekurs auf das Christentum unnötig ist. Noch peinlicher ist die Feststellung Steinmanns, in der "lauteren Gestalt Lea Rifkins [sei] der für den Freispruch der Schuldigen unschuldig leidende Christus gegenwärtig" (105), Channas Handeln repräsentiere also das Christusgeschehen. Wenn dann auch noch Salomon Komrower - ein weiteres Opfer des 'Judas' Golubtschik - als ein "Jude mit einer Christusgeschichte" dargestellt wird (107), macht auch der Verweis auf chassidische Zusammenhänge - die ihrerseits christlich umgedeutet werden - die Überinterpretation in der Richtung eines christlichen Sinnhorizonts nicht mehr wett. Eine Verbindung von chassidischem und christlichem Geist sieht Esther Steinmann schließlich auch in der Legende vom heiligen Trinker (115). Dominant aber sei das Modell des heiligen Narren der frühen byzantinischen und russischen Kirche seit dem 6. Jahrhundert: Das Narrentum ist eine wesentliche Dimension des Christentums, das, vornehmlich in seiner Kreuzestheologie, das in der Antike geltende Menschenbild durchkreuzte, indem es die Klugheit entthronte und in der weltlichen Torheit die Vollzugsgestalt der göttlichen Wahrheit als einer transzendenten erkannte. (S.118) Wäre die Verfasserin nicht so fixiert auf christliche Deutungen, hätte ihr auffallen müssen, daß zum einen die Geschichte Andreas Kartaks als Trinkerund Obdachlosengeschichte nicht unbedingt auf die Tradition des 'heiligen Narren' verweist - viele Einzelheiten passen jedenfalls nicht in diesen Kontext -; zum andern gibt es auch im Chassidismus etwa die Figur des 'Gottesnarren' Rabbi Meschullam Sussja, auf den bei Martin Buber die berühmte "Frage der Fragen" nach der eigenen Identität bezogen wird: In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: 'Warum bist du nicht Mose gewesen?' Man wird mich fragen: 'Warum bist du nicht Sussja gewesen?' 56

56

Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949. ( = Manesse Bibliothek der Weltliteratur). S.394.

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Man könnte auch auf den latenten Antinomismus des frommen Juden in der sabbatianischen Bewegung verweisen, wie ihn Gershom Scholem beschrieben hat. 57 All dies greift aber eher zu weit. Andreas Kartak läßt sich durchaus verstehen als Mensch, dessen Identität eben im komplexen Mit- und Ineinander von Gut und Böse besteht - im Sinne der ganzheitlichen Vorstellung, wie sie am Beispiel des Katholizismusbegriffs Chojnickis in der Kapuzinergruft entwickelt wurde: der leichte und schöne Tod des Trinkers Andreas ist der Lohn für ein Leben, das dem Ziel gewidmet ist, eben Andreas zu sein - so wie die 'kleine' Heilige Therese von Lisieux auf ihre einfache, konsequente Art sie selbst gewesen ist. Es geht letztlich auch hier um das "Weltbild einer immanenten Transzendenz", das Albrecht Weber als aufschließende Kategorie für die Biographie des Anselm Eibenschütz in Roths Erzählung Das falsche Gewicht ins Kalkül gebracht hat. 58 Im Sterben erscheint Eibenschütz der aus dem mährischen Judentum stammt und dessen Namensvetter im 18. Jahrhundert als Talmudist und sabbatianisch beeinflußter Kabbaiist sich einen in der Judenheit umstrittenen Namen gemacht hat - der Große Eichmeister, der auch die falschen Gewichte des Lebens noch im höheren Sinne als richtige anerkennt. Der gute und schöne Tod des Andreas ist die Belohnung für ein Leben, das trotz seiner Verfehlungen anderen und sich selbst gegenüber authentisch war: Werk einer gerechten Weltordnung, die trotz ihrer Undurchschaubarkeit als wirkend anerkannt wird. Die Legende vom Heiligen Trinker wurde zum Epitaph ihres Autors. Werner Vordtriedes Äußerung, jeder Exiläußerung hafte - jenseits ihres Wahrheitscharakters - "absolute Authentizität" an 59 , trifft in besonderer Weise auf Roths Exilwerk zu. Die Verwandtschaft zwischen Heinrich Heine und Joseph Roth, auf die des öfteren hingewiesen wurde 60 , besteht nicht zuletzt darin, daß beide Autoren - mit Max Wieners vor allem auf Heine bezogenen Worten - "abseits von der überlieferungstreuen Gläubigkeit der Orthodoxie wie von der reformierenden Theologie des Liberalismus eine jüdische Lebendigkeit" bewährt haben, die sich einem romantischen "Gemeinschaftsgedächtnis" verdankt 61 . Trotz vordergründiger Annäherungen an den Katholizismus zeigt insbesondere Roths Werk in seiner Tiefendimension eine erstaunliche Konstanz genuin jüdischer Traditionen. Die "sprachbildende Kraft", die Albrecht Schöne auch in der säkularisierten Form 57

58

59

60

61

Gershom Scholem: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Frankfurt a. M. 1980. ( = suhrkamp tb. wiss. 330). S.315ff, hier S.321f. Albrecht Weber: Joseph Roth. Das falsche Gewicht. Interpretation. München 1968. ( = Interpretationen zum Deutschunterricht). S.78ff. Werner Vordtriede: Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Akzente 15 (1968) S.556-576, hier S.558. Vgl. etwa Hermann Kesten: Heinrich Heine and Joseph Roth. In: Yearbook 20 (1975) Leo Baeck Inst. (London) S.259-273. Max Wiener: Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation. Berlin: Philo Verlag 1933. S.258f.

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protestantischer Tradition als Impuls des dichterischen Schaffens deutscher Pfarrersöhne dargestellt hat 62 , erscheint bei Roth als Reminiszenz traditioneller jüdischer Modelle. Es gehört freilich zu Roths Tragik - und nicht nur zu seiner daß die jüdische Tradition nur noch in säkularisierter Gestalt präsent ist und so dem Dichter im Exil kaum positiven religiösen Halt geben kann. Die Gottesvorstellung, die Füllung der Begriffe Frieden, Gerechtigkeit, Gnade, Gut und Böse, die Immanenz der auf Transzendenz hindeutenden Kategorien in Roths Werk - all dies sollte man nicht als (ausschließlich) 'katholisch' oder 'christlich' usurpieren. Wenn christliche Theologen heute, freilich immer noch allzu zögerlich, bereit sind, die jüdische Substanz ihrer Religion anzuerkennen - um so besser. Joseph Roths Erzählwerk, insbesondere aus der Zeit seines Exils, bietet hierfür eindrucksvolle dichterische Exempel.

Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne. Göttingen 1958, 2. Aufl. 1968.

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Albert Ehrenstein: "Nicht da nicht dort" Exil, eine jüdische Erfahrung?

Nicht da nicht dort heißt ein 1916 erschienener Erzählband des Dichters und Schriftstellers Albert Ehrenstein. "Nicht da nicht dort" ist auch der letzte Abschnitt von Ehrensteins Lyrikband Mein Lied überschrieben, der seine gesammelten Gedichte aus den Jahren 1900 bis 1931 enthält. 1931 erschienen, sollte dieser Band die letzte Buch Veröffentlichung des 1951 im New Yorker Exil verstorbenen Dichters bleiben. "Nicht da nicht dort" - dieser zweimal verwendete Titel, der den Höhepunkt wie den Endpunkt von Albert Ehrensteins dichterischem Schaffen markiert, weist auf die existentielle Befindlichkeit des Exils bin, deren Wurzeln und Ausdruck ich an Ehrensteins Leben und Werk im folgenden untersuchen möchte. Das Gefühl des Umhergetriebenseins, der Heimatlosigkeit und Fremdheit, das sich in diesem Titel ausspricht, scheint zunächst seine Wurzeln in Ehrensteins Sozialisierung in der antisemitisch geprägten Atmosphäre des heimatlichen Wien zu haben. Es war ein Gefühl, das dem größten Teil der jungen Juden Österreichs gemeinsam war, die wie Ehrenstein in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurden. Ungleich den beiden vorausgegangenen Generationen, die den erfolgreichen Kampf um Gleichberechtigung miterlebt hatten, wuchsen sie in einer Zeit auf, in der die sogenannte 'liberale' Ära Österreichs sich ihrem Ende zuneigte und der nun wieder verstärkt auftretende religiöse, rassische und politische Antisemitismus den Juden die Unsicherheit ihrer Position fühlen ließ. Die antisemitischen Pöbeleien, denen Ehrenstein auf den Straßen Wiens ausgesetzt war, flößten ihm von Kindheit an das Gefühl ein, dieser "Kleinwelt" seiner "naiven Beleidiger" nicht anzugehören.1 Verstärkt wurde dieses Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit und kulturellen Ausgegrenztheit noch in der Schule, wo chauvinistische Deutschlehrer die Verehrung der deutschen Klassiker durch den "größenwahnsinnigen kleinen Judenbuben" als eine "Ehrenbeleidigung" auffaßten und dem 14jährigen, der überzeugt war von seiner "Fähigkeit und einzigen Begabung: deutsch zu schreiben", das Heimatrecht in der deutschen Sprache aberkannten.2 1 2

Albert Ehrenstein: Menschlichkeit! In: Den ermordeten Brüdern. Zürich 1919. S . l l . Albert Ehrenstein: Schulaufsätze. Erstdruck in: Ehrenstein, Werke Bd.2. Hrsg. v. Hanni Mittelmann. München: Klaus Boer 1991. S.318-325, hier S.321 bzw. S.323.

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In seinem Werk entwirft Ehrenstein Chiffren dieser jüdischen Exilexistenz. In der Figur des Tubutsch aus der gleichnamigen Erzählung, die Ehrensteins literarischen Ruhm begründet hat, verdichten sich dabei wohl am deutlichsten ahasverisches Umhergetriebensein und die Erfahrung jüdischer Ghettoexistenz. Tubutsch lebt, obwohl mitten in Wien, in totaler sozialer Isolation: Allein irre ich in der großen Stadt umher. Niemand schenkt mir Beachtung. Höchstens hie und da ein auf dem Dache eines vorbei fahrenden Geschäftswagens ängstlich herumlaufender Pintscher, der bellt mich an. Ich hätte oft Lust zurückzubellen. Leider verbietet das der Anstand. Man muß das Dekorum wahren. Und so kann ich auch zu diesem Pintscher nicht in nähere Beziehungen treten. 3 Das Tubutschschicksal der Ausgegrenztheit ist ohne Ausnahme allen Figuren in Ehrensteins Erzählungen gemeinsam. Sie alle sind im eigentlichsten Sinne des Wortes 'Exterritoriale' wie der Riese Ruapehu in der Erzählung Ansichten eines Exterritorialen.4 Sie leben in monströser Einsamkeit, "wo nichts zu [ihnen] dringt, kein Brief, kein Telegramm, kein Gruß, kein Wunsch." 5 So erweisen sie sich in der Tat, wie ein Rezensent bemerkt, als "Menschen, die in der Luft stehen müssen, weil sie keine Erde unter sich haben, weil sie nirgendwo wurzeln, weil sie nichts als die Flucht ohne Ende kennen." 6 Wien wird zum Ort der Verbannung, die Heimat ein leerer, unwirklicher Ort, der keine Orientierungspunkte mehr bietet. Für Tubutsch gleiten [die Tage] dahin, die Wochen, die Monate. Nein, nein! nur die Tage. Ich glaube nicht, daß es Wochen, Monate, Jahre gibt, es sind immer wieder nur Tage, Tage, die ineinanderstürzen, die ich nicht durch irgendein Erlebnis zu halten vermag. 7 Ehrenstein schreibt eine Prosa ohne Entwicklung. Die Handlung seiner Erzählungen weist keine wesentlichen Veränderungen auf, sie kehrt am Ende wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Die Zeit scheint stillzustehen. Die Ort- und Zeitlosigkeit, in der alle Erzählungen verharren, macht dabei nicht nur die individuelle jüdische Befindlichkeit sichtbar, sondern auch die existenzielle Situation des jüdischen Volkes, das 2000 Jahre ohne Heimatland und Geschichte in Raum und Zeit suspendiert leben mußte.

3 4

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Albert Ehrenstein: Tubutsch [1911], In: Werke Bd.2 (Anm.2), S.40f. Albert Ehrenstein: Ansichten eines Exterritorialen [1912], In: Werke Bd.2 (Anm.2), S.87-93. Albert Ehrenstein: Der Dichter und die Tänzerin [1917], In: Werke Bd.2 (Anm.2), S.205. Oskar Maurus Fontana: Stimme über Barbaropa. In: Das Tage-Buch Jg. 14, H.4 (1933), S. 151. Albert Ehrenstein, Tubutsch (Anm.3), S.14.

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Auf das Exilschicksal des jüdischen Volkes steins Erzählungen immer wiederkehrenden Besitzlosigkeit. Dabei steht der Besitzlosigkeit fung auf ihren Namen als ihren einzigen Besitz

verweisen auch die in EhrenMotive der Familien- und der Figuren die betonte Berugegenüber:

Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze. So beginnt die Erzählung, und sie endet mit den Worten: "Ich besitze nichts als wie gesagt - mein Name ist Tubutsch." (S.64) Wenn man weiß, daß Name hebräisch "Ha Schern" heißt und "Ha Schern" eine der vielen Bezeichnungen für G-tt ist, so wird der Bezug auf die Exilexistenz des jüdischen Volkes deutlich, das allein in seinem G-tt seine Heimat und Identität besitzt. Im Motiv der Familienlosigkeit läßt sich ebenfalls ein Bezug zum Schicksal des jüdischen Volkes erkennen, das von der Familie der Völker ausgeschlossen ist. Zugleich aber wird dieses Motiv auch zur Chiffre für Ehrensteins eigene Position gegenüber dem Judentum. Denn innerhalb der sozial ausgegrenzten jüdischen Minorität bezog Ehrenstein wiederum eine Außenseiterposition. Obwohl er in seiner Kindheit zum Judentum, wie er es im Hause seiner orthodoxen Großeltern erlebte, ein positives, ja tief emotionales Verhältnis hatte 8 , distanzierte er sich schon früh, wie übrigens viele Juden seiner Generation, vom Dogmatismus des rabbinischen Judentums, das in seinen Augen die jüdische Religion ihres ethischen und geschichtlichen Sinngehaltes zu berauben schien. Er identifizierte sich dagegen mit dem säkularen humanistischen Aspekt des Judentums, mit dessen Idealen der sozialen Gerechtigkeit und des messianischen Erlösungsdiensts an der Menschheit. Bei der Formulierung seiner Einstellung zum Judentum in Essays wie Menschlichkeit, Zion, Vom deutschen Adel jüdischer Nation u.a. war dabei der Einfluß Martin Bubers und dessen Definition des Uijüdischen als des Urmenschlichen von entscheidender Bedeutung. Ehrensteins kritische Distanz zum Judentum vergrößerte sich noch während des Ersten Weltkrieges, als er enttäuscht von der "teuflischen Durchschnittsethik unserer Judenchristen"9 seine Hoffnungen auf die Lehren Buddhas richtete. Dennoch bekannte er sich zeit seines Lebens zur "Zugehörigkeit zu einem verfolgten Menschenstamm" 10 und lehnte vehement alle Assimilationsversuche seiner jüdischen Zeitgenossen als unwürdig und illusionär ab. Die Erfahrungen der Ungeborgenheit, der Isolation und des Ausgestoßenseins, die in Ehrensteins Werk gestaltet werden, weisen auf die Bedingungen jüdischer Existenz hin. Zugleich aber macht Ehrenstein sie auch als die exi8 9 10

Albert Ehrenstein, Menschlichkeit (Anm. 1). Albert Ehrenstein, Zion. In: Menschen und Affen. Berlin 1926. S.43. Albert Ehrenstein: Vom deutschen Adel jüdischer Nation. In: Menschen und Affen, ebd., S.55.

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stentiellen Erfahrungen des modernen Menschen sichtbar, der in eine Welt der Kälte, Einsamkeit und des Aneinandervorbeigehens geworfen ist. Die soziale Isolation des Juden wird zur metaphysischen Isolation des Menschen an sich. Das "Kabinett mit separiertem Ausgang", in dem Tubutsch lebt, ist nicht nur als Symbol jüdischer Ghettoexistenz zu verstehen, sondern wird zum Symbol für eine Welt, in der die Menschen Gefangene ihrer Isolation voneinander sind, in der Kommunikation und Interaktion unmöglich sind. 11 Die zyklische Struktur und die monologische Erzählsituation, die alle Erzählungen Ehrensteins aufweisen, verstärken noch diesen Eindruck hoffnungsloser Isolation und Selbstbezogenheit, die sich eben nicht nur als existentielle Situation des Juden, sondern als conditio humana zu erkennen geben. Als Jude sozial ausgegrenzt aus der österreichischen Gesellschaft, die Welt als eine der Öde, Kälte und Entfremdung erfahrend, fand Ehrenstein in der Kunst "Zuflucht und Mittel gegen [sein] Leiden "12. Die Literatur wurde ihm der Ort geistigen Exils. Dort konnte er sich utopische Gegenwelten entwerfen, wie er sie vor allem in der Antike und später in China fand, die sich aber zugleich als "Korrektiv, als geistige Grundlage zur Veränderung einer unbefriedigenden Realität verstehen." 13 Für Ehrenstein, dem Judentum gleichbedeutend mit Geistigkeit war, schien dabei die Kunst als der Bereich des Geistes gerade für den modernen säkularen Juden die einzige Zufluchtsstätte vor den Verfemungen und Verfolgungen durch die Umwelt zu sein: Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht erklärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrhunderte das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in einer politischen Depression lebend, auf die Bibel und deren mystische und sophistische Kommentare als die einzige Geistesquelle zurückgeworfen, vor jedem Studierenden Achtung hegend wie nur noch die Chinesen - ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abgedrängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsanstellungen, mußte in der Kunst die fast einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu schaffen. 14 Doch gerade die Literatur, in der Ehrenstein Zuflucht vor den "Quälgeistern der Umwelt" 15 zu finden hoffte, sollte ihm wieder die Situation der Fremde auferlegen. Als radikaler, avantgardistischer Künstler, der sich allen Ansprüchen und Erwartungen eines konservativen Leserpublikums entzog, wurde er 11

12 13 14 15

Armin A. Wallas: Zwei 'Seelenaufschlitzer' oder: Albert Ehrensteins und Oskar Kokoschkas Reisen durch imaginäre und reale Wüsten. In: Österreichisches Literaturforum, 2. Jg., Nr.2, S.18. Albert Ehrenstein: Lebensbericht. In: Mein Lied. Gedichte 1919-1931. Berlin 1931. Wallas, Zwei 'Seelenaufschlitzer' (Anm. 11). Vom deutschen Adel jüdischer Nation (Anm. 10), S.57. Lebensbericht (Anm. 12).

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in eine Außenseiterposition gedrängt. Da die Wiener Verlage, Zeitschriften und Zeitungen nur "duftige Wiener Ware" 16 annehmen wollten, blieben denn auch Ehrensteins Dichtungen zehn Jahre lang ungedruckt; erst Karl Kraus entdeckte das ungewöhnliche Talent dieses "Neutöners" und veröffentlichte ihn in der "Fackel". In der Sprache hatte sich Ehrenstein schon früh ein Freiraum erschlossen, der sich jedem autoritären Zugriff durch seine Umwelt entzog. Das zehnjährige Kind gab in seiner "selbsterfundenen Sprache" seinen "Träumen, Gefühlen, Gedanken" Ausdruck: Die Wortfügungen waren entstanden aus Nachformungen und Vermischungen mir nicht immer sinnhaft, jedenfalls aber lautlich bekannter Sprachen: deutsch, slovakisch, hebräisch, latein - verbunden durch Neubildungen und Mischformen fremder, nämlich eigener Struktur. Das war mein Eigentum, heute gesungen, morgen vergessen, niemand konnte davon wissen, noch es bekritteln. Ich sang diese Silbengebilde auf- und abklingender Erregung still oder laut meist morgens - kein heimtückischer Lehrer konnte es korrigieren oder mit seines Unverstandes Noten versehen. 17 "Wortkunst" (ebd.) als Ausdruck und Möglichkeit der Unabhängigkeit und Freiheit sollte von Ehrenstein auch später als Mittel der Rebellion gegen jede Autorität eingesetzt werden, die durch "konservative Gehirnlosigkeit den Weg in die allen gemeinsame Freiheit" zu "verzögern und verschleppen" drohte. 18 Die "Durchschnittssprache", zu der sich Ehrenstein immer wieder in journalistischen Arbeiten, mit denen er sich finanziell über Wasser hielt, "verdammt" sah, setzte er in seinem erzählerischen und dichterischen Werk meist nur parodistisch ein oder sprengte sie durch schockierende Wort- und Bildgestaltung, die die bürgerlichen Gefühls- und Moralkonventionen in ihrer Unaufrichtigkeit sichtbar werden ließen. Der Bruch mit Konventionen und Traditionen erweist sich als das ästhetische Prinzip von Ehrensteins Werk. "Niemals habe ich mich von irgendwelchen klassischen Smokingtraditionen einschläfern lassen", heißt es in Ehrensteins Erinnerungen. 19 Ehrensteins Opposition gegen die ausgehöhlten Traditionen des orthodoxen Judentums scheint sich hier in die Skepsis gegen alle historisch gewordenen Formen der Literatur umgesetzt zu haben. Der moderne, säkulare Jude in seiner Wurzellosigkeit scheint dabei Ehrenstein geradezu prädestiniert für die Entdeckung des "befremdend Neuen" zu sein, das zur Heimat der Heimatlosen wird:

16

17 18

19

Albert Ehrenstein an Arthur Schnitzler, 12. Juli 1910. In: Ehrenstein, Werke Bd. 1. Hrsg. v. Hanni Mittelmann. München: Klaus Boer 1989. S.4S. Schulaufsätze (Anm.2), S.322. Albert Ehrenstein: Erinnerung. Jewish National & University Library, Jerusalem, Ms. Var. 306. Ebd.

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Was vor den europäischen Revolutionen sich im Ghetto als Wunderrabbiner Talmudjünger und Irrlehrer aneinander aufgerieben hätte, offenbart sich nun seit einem Jahrhundert immer wieder als radikale Kunst. 20 Im Motiv des Aus- und Aufbruchs gestaltet Ehrenstein seine Ablehnung des Althergebrachten. Schon der Fünfzehnjährige verwendet es in seiner Erzählung Ritter Johann des Todes21. Der Titelheld bricht aus dem Kerker der Gewohnheit und Behaglichkeit aus, um sich auf die Suche nach dem "ganz Neuen" zu begeben. In diesem Sinne sind alle Ehrensteinschen Gestalten Ritter des Todes. Sie alle suchen bewußt das Exil, da ihnen die Heimat nur die Todesstarre der Gewohnheit zu bieten hat. Ritter des Todes sind Ehrensteins Anti-Helden auch, da sie alle am Ende ihrer Suche nach dem Neuen, "da die Erde rund ist", unverrichteter Dinge an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, wo sie dieselbe in sich kreisende Gesellschaft erwartet und nur noch der Tod bzw. der Selbstmord die Hoffnung auf das erlösende Neue birgt. Wenn auch Ehrenstein selbst radikales, avantgardistisches Künstlertum mit seinen existentiellen Konsequenzen im engen Zusammenhang mit der jüdischen Außenseiterexistenz sieht, so ist doch seine Flucht in "künstlerische Gegenwelten", in selbstgewähltes Exil nicht nur als Antwort des jüdischen Außenseiters auf repressive gesellschaftliche Zustände zu verstehen. Ehrenstein reiht sich vielmehr zugleich in die junge expressionistische Künstlergeneration ein, die sich aus Protest gegen das herrschende konventionelle Literatur- und Kunstverständnis und die überalterten Wertvorstellungen einer bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft gleichfalls ins geistige Exil geflüchtet hatte. 22 Bezog Ehrenstein als Jude und radikaler Künstler eine Außenseiterposition in der Gesellschaft, so auch als Angehöriger des Kleinbürgertums. Die persönlichen Benachteiligungen, Zurücksetzungen und Kränkungen, die Ehrenstein nicht nur als Jude, sondern auch als Sohn armer Eltern erfuhr, hatten ihm früh den Blick geschärft für die gesellschaftlichen Strukturen, die zu sozialem Unrecht führten und die Welt in Tyrannen und Unterdrückte, Arm und Reich einteilten. Die Erfahrung eigener Unterdrückung führte zur Solidarität mit dem Schicksal aller Armen, Rechtlosen und Zukurzgekommenen. In Erzählungen wie Mitgefühl, Ein krasser Fall von Soldatenmißhandlung, Der Selbstmord eines Katers und Zigeuner exponiert Ehren stein die bürgerliche Gesellschaft in ihrem zynischen Macht-, Erfolgs- und Leistungsethos. Er zeigt die Kehrseite des glanzvollen Wien der Jahrhundertwende, "die Welt der Vorstädte und Hinterhöfe [...] eine Welt der Gewalt, in der die

20 21 22

Vom deutschen Adel jüdischer Nation (Anm.10), S.54. Albert Ehrenstein: Ritter Johann des Todes [1910]. In: Werke Bd.2 (Anm.2), S. 13f. Vgl. Α. A. Wallas: Texte des Expressionismus. Der Beitrag jüdischer Autoren zur österreichischen Avantgarde. Linz, Wien 1988.

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Liebe fehlt" 23 . In diesen Erzählungen sind denn auch nicht nur die Juden die wehrlos Ausgestoßenen, Gejagten und Heimatlosen, sondern auch andere Randgruppen der Gesellschaft wie Proletarier, Zigeuner, Kinder und auch Tiere. Lange vor dem Ersten Weltkrieg hatte Ehrenstein in Erzählungen wie Seltene Gäste24 und Saccumum25 apokalyptische Untergangsvisionen gestaltet, die den Zusammenbruch der k.u.k. Monarchie und der dahinter stehenden korrumpierten bürgerlichen Kulturwelt ahnungsvoll vorwegnahmen. Der Weltkrieg jedoch, in dem das destruktive Potential der von Ehrenstein porträtierten Gesellschaft zum Ausbruch gelangte, erschütterte den Dichter bis in die Wurzeln seines Seins. "Der bis zur Verzweiflung witzige Spötter ist nur noch ein Mensch, der schreit", schreibt Ehrensteins Freund Berthold Viertel über ihn. 26 Ehrensteins Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit setzt sich im Ersten Weltkrieg fort als Protest gegen die Sinnlosigkeit staatlich befohlenen Tötens. Er gehörte zu den ersten Dichtern, die gleich zu Anfang des Krieges "gegen den Blutstrom" schwammen und Stellung bezogen gegen den kriegstreibenden Patriotismus des Bürgertums, gegen das "vaterländische Geheul der Wehrpflicht-Wilden auf ihrem Kriegspfad" 27 . In seinen Gedichtbänden Der Mensch schreit (1916) und Die rote Zeit (1917) kommt es, wie Alfred Döblin in einer Besprechung schreibt, "zu Ausbrüchen gegen den Krieg, die für unsere Zeit unerhört sind." 28 Verraten von den "christlichen Vaterländern" 29 und vom "Mutterland", das nur noch "Schlachtfelder" gebiert, werden Heimat- und Orientierungslosigkeit nun zum Schicksal aller Menschen in dem zum "Banditenasyl" pervertierten "Barbaropa": Wir taumeln einher im Blutmeer, säumen im Sumpfwasser des Schlafs und wissen nicht: Ufer. 3 0 Hatte sich in Ehrensteins während des Krieges entstandenen Essays und Dichtungen aber noch die Hoffnung auf den ethisch verantwortungsvollen Menschen artikuliert, so überwiegen am Ende des Krieges Verzweiflung und Resignation. Der Friede hat die "Menschwerdung des Menschen" 31 nicht 23 24

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Α. A. Wallas: Inszenierung und Verunsicherung. In: Aufrisse Nr. 4 (1987) S.40. Albert Ehrenstein: Seltene Gäste. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.24-35 bzw. S.367-399. Albert Ehrenstein: Saccumum [1911]. In: Werke Bd.2 (Anm.2), S. 129-135. Berthold Viertel: Eine Freundeskritik. In: Die Schaubühne 12 (1916), 8. Juni 1916. Albert Ehrenstein: Auf! In: Den ermordeten Brüdern. Zürich 1919. S.29. Alfred Döblin: Ehrenstein. In: Zeit-Echo. Ein Kriegs-Tagebuch der Künstler. Hrsg. v. Ludwig Rubiner. 3. Jg. (1917), H.l/2, S.25-26. Albert Ehrenstein: Ode. In: Den ermordeten Brüdern (Anm.27), S.22. Albert Ehrenstein: Stimme über Barbaropa. In: Ebd., S.32. Albert Ehrenstein: Der Mensch schreit. Gedichte. Leipzig 1916. S.43.

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herbeigeführt. Die Machtpolitik der Herrschenden wird weiter geführt, die ersehnte Revolution ist nicht eingetreten: Und ewig bleibt ein Söldner der Soldat, Und ewig klebt an Räten der Verrat, Matronen sind die Revolutionsmatrosen, Krokodilstränen weint die Regierung [...] so heißt das Fazit, das Ehrenstein in seinem Gedicht UrteiP2 zieht. Ehrenstein mußte nicht erst bis 1933 warten, um den Zerstörungszug wider den Geist und die Menschlichkeit, der sich im Faschismus zu formieren begann, zu erkennen. Der vorletzte Abschnitt seines Lyrikbandes Mein Lied trägt die Überschrift "Die Nacht wird". In der Metapher der werdenden Nacht verdichten sich Ehrensteins Vorahnungen vom endgültigen Untergang abendländischer Humanität. Die zentralen Themen dieser in den zwanziger Jahren entstandenen Gedichte sind Resignation und Todessehnsucht. Sie stellen eine deutliche Reaktion auf die Anspannung der Verhältnisse in Deutschland dar, wo der chauvinistische Nationalismus viele nonkonformistische Intellektuelle und Künstler ins geistige Exil trieb. Als der Schweizer Mäzen Bernhard Mayer Ehrenstein 1932 eine Unterkunft in Brissago anbot, ging Ehrenstein im selben Jahr ins freiwillige Exil. Er wählte dabei das Exil nicht in erster Linie als Jude, sondern weil es ihm unmöglich geworden war, in der immer repressiver werdenden Atmosphäre des Antiintellektualismus und Antiindividualismus zu leben, zu arbeiten und zu veröffentlichen. Im Antisemitismus sah Ehrenstein wie viele dem Sozialismus Nahestehende nur eine Ablenkung von den eigentlich wichtigen Problemen - nämlich den sozialen und politischen Interessenkonflikten. So schreibt er am 3. April 1933 aus der Schweiz an seine inzwischen nach London ausgewanderte Schwester Frida: Der deutsche Antisemitismus richtet nur die armen Juden zugrunde und die Mittelklasse, die reichen werden weiter wuchern. Der Faschismus war für Ehrenstein eine Potenzierung des Antihumanismus, der nicht nur die Juden und die Kommunisten zu Feinden stempelte, sondern alle Intellektuelle. Das physische Exil, in das sich Ehrenstein 1932 begab, verstand er denn auch als eine ins Extrem gewendete Fortsetzung des geistigen Exils, in dem er als Jude, humanistischer Schriftsteller und Angehöriger einer unterdrückten Klasse schon immer gelebt hatte. In den im Schweizer Exil entstandenen Erzählungen wie Gespensterclub, lrandot von Serendip, Unicum, Die Jungfrau von New Orleans begegnen wir wieder den aus Ehrensteins früheren Erzählungen bekannten Außenseiterfiguren, den "verbeugungsfeindlichen" Künstlern und humanistischen Individualisten. Deutlicher als je zuvor sind jedoch diese Figuren als Juden ausgewie32

Albert Ehrenstein: Die Gedichte (1900-1919). Leipzig, Prag, Wien 1920. S.201.

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sen, ihr Außenseiterschicksal wird zunächst auf ihr Judentum zurückgeführt. So wird in der Erzählung Unicum33 der Icherzähler Dom Jehudo Christobal Abarbanel, der partiell jüdischer Abstammung ist, wegen seiner olivgrünen Hautfarbe als 'Unicum' zum Opfer kleinstädtischer, provinzieller Verfolgungen, die ihn dazu zwingen, seine Heimatstadt zu verlassen. In der Erzählung GespensterklubM ist der Ich-Erzähler der jüdische Wüstensohn Caramuel Fesch von Nefesch, bezeichnenderweise nur ein "Adoptivsohn des bayrischkaiserlichen Generalkonsuls in Timbuktu". Ihm wird denn auch klar gemacht, daß er, "obzwar er derzeit nur deutsch spricht", "mit deutschen Belangen eigentlich nichts zu tun" habe. Erleiden diese Figuren ihr Exilschicksal wegen ihrer jüdischen Herkunft, so bringt Ehrenstein mit weitausholenden essayistischen Einschüben dieses Schicksal in Zusammenhang mit dem aller Menschen und Völker, die Opfer der imperialistischen Politik der Mächtigen dieser Welt sind, womit jüdisches Schicksal aus seiner Vereinzelung heraustritt. Die Hauptfiguren dieser Erzählungen sind aber nicht nur als Opfer, sondern auch als Retterfiguren konzipiert. Sie "mischen sich unter die Mächtigen, um den Ohnmächtigen zu helfen" {Unicum). In den Lösungsmöglichkeiten, die sie anstreben, wird Ehrensteins Überzeugung deutlich, daß dem Faschismus nur mit dem Aufbau eines auf demokratischen und humanistischen Grundlagen basierenden Sozialismus zu begegnen sei. Indem aber die Rettungspläne phantastisch-groteske Züge annehmen und die Erzählungen selbst letztlich nur fragmentarisch sind bzw. im Entwurf steckenbleiben, wie im Falle des auf fünf Bände angelegten "utopisch-antifaschistischen satirischen Romans" Die Jungfrau von New Orleans35, belegen sie die Skepsis des Autors, daß das Individuum in den Gang der Geschichte eingreifen könne. Das märchenhaft-orientalische Nirgendwoland, in dem sich Ehrensteins Exilerzählungen abspielen, ist ein Reservat der Utopie, zugleich aber auch der einzige Fluchtraum, der dem Dichter und mittellosen jüdischen Emigranten, dem kein Land dieser Erde Asyl gewähren will, noch offensteht. In den gegen Ende der dreißiger Jahre entstandenen Erzählungen wie Der Emir36 und Krimi und PolentlP7 tritt Ehrensteins kulturkritische Analyse der Vorgeschichte des Exils zurück hinter 'galgenhumoristischen' Schilderungen der ganz persönlichen Misere des Emigrantendaseins in der Schweiz. Ausweisungsandrohungen, Berufsverbot und andere Schikanen der Fremdenpolizei werden aber als Erfahrungen gestaltet, die verbindlich für alle Emigranten und nicht nur für die Juden waren. So erklärt Ehrenstein in einem Brief an Hermann Hesse 1939 seine erneute Ausweisung aus der Schweiz damit, "daß 33 34 35

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Albert Ehrenstein: Albert Ehrenstein: Albert Ehrenstein: S.307-311. Albert Ehrenstein: Albert Ehrenstein:

Unicum. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.400-422. Gespensterklub. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.252-262. Die Jungfrau von New Orleans. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), Der Emir. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.302-306. Krimi und Polentli. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.298-301.

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einem bitteren Sonderling aus [der] Nachkommenschaft von Raimund, Nestroy, Stifter, Mozart [...] keine konservative reaktionär gesinnte Gesellschaft Asyl geben möchte. " 3 8 Auch Ehrensteins engagierter persönlicher Einsatz für die aus Deutschland geflüchteten Intellektuellen zeigt, daß er Flucht und Exil nicht als spezifisch jüdisches Schicksal ansah. 1933 gründete er das Aktionskomitee "Internationale rote Hilfe", das aus Deutschland geflüchteten Schriftstellern "gleich welcher Rasse, Glaubens, politischer Überzeugung" in der Schweiz Asylmöglichkeiten zu erschließen versuchte. In einem 1933 verfaßten Rundschreiben forderte Ehrenstein zum "Zusammenschluß aller außerhalb Deutschlands lebenden oder wohnhaften, Faschismus und Monarchie ablehnenden deutschen Schriftsteller" auf. 39 Die utopischen Entwürfe einer auf Moralität und echtem sozialen Humanismus gegründeten Gesellschaft, wie sie in Die Jungfrau von New Orleans, Unicum und Irandot von Serendip40 zu finden sind, beziehen sich insofern keineswegs auf bloß jüdische Belange, sondern auf die aller Menschen, die mit den Juden das Schicksal von Verfolgung, Flucht und Exil teilen. In seinem Exilwerk setzte Ehrenstein nur seinen seit jeher geführten Kampf gegen alle Widersacher der von ihm erhofften Gemeinschaft im Zeichen von Frieden und sozialer Gerechtigkeit fort. So heißt es in einer Notiz zu dem Roman Die Jungfrau von New Orleans (der ursprünglich den Titel Schindenbosch tragen sollte): Meine Pflicht war es, zwischen allen erreichbaren Stühlen zu sitzen, zu Gericht zu sitzen über den Philister und ihn zu schinden aus Leibeskräften. Den nationalen Philister: Auswanderungsmanager [...], den sozialen Philister, den Wald- u. Wiesenbolschewisten, Pseudokommunisten und Edelsozialdemokraten, und überhaupt den Phrasenagenten und den an seinem Phrasenspieß gebratenen Hammel. Die jüdische Dimension der Exilerfahrung tritt vollends zurück in den wenigen Erzählungen und Gedichten, die in New York entstanden sind, wohin Ehrenstein 1941 auf zermürbenden Fluchtwegen mit einem von Thomas Mann verschafften "Emergency Rescue Visa" gelangt war. Mit dem Abschied von Europa begann für Ehrenstein der zweite Abschnitt seiner Emigration. Fremd in der neuen Kultur und in der neuen Sprache, die sich der Fünfundfünfzigjährige nur noch ungenügend aneignen konnte, sah er sich nun vollends seiner sozialen Funktion als Schriftsteller beraubt. Mit der Sprache verlor Ehrenstein die letzte Heimat. In Amerika begann für ihn das eigentliche Exil. In Erzählungen wie Malice in Underland, Captain, Die armen

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Werke Bd. 1 (Anm.16), S.304. Werke Bd. 1 (Anm.16), S.265. Albert Ehrenstein: Irandot von Serendip. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.282-294

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Bären, die wilden Spechte41 gestaltete er die Erfahrung des Exils als das Schicksal der Sprachlosigkeit. Zentrale Figuren dieser Erzählungen sind Tiere, deren Sprache nur von Kindern und einsamen Sonderlingen verstanden wird. Ehrenstein mußte erkennen, daß seine gesellschaftskritischen Satiren sich in diesem Lande ebenso wirkungslos ausnahmen wie das Fauchen des Katers Malice, des "einst gefürchteten Sängers" oder das Bellen des Hundes Captain, das letztlich nur Ausdruck von Einsamkeit und Angst ist, und der am Schluß das Opfer einer rücksichtslos einherbrausenden Welt wird. 1948 gelingt es Ehrenstein, "aus der Sackgasse Amerika" (Brief an Carl 27.10.1947) 42 herauszukommen. Bernhard Mayer ermöglicht ihm eine Reise in die Schweiz. Doch die Rückkehr nach Europa sollte keine Heimkehr werden. Wie viele Emigranten erlebte auch Ehrenstein, wie unerwünscht die Heimkehrer waren und wie unbelehrt und ungerührt die Zuhausegebliebenen. Nach Österreich gelangte Ehrenstein nicht. Niemand in Österreich fand sich bereit, dem mittellosen Rückkehrer das nötige Reisegeld vorzustrecken. Damit erübrigte sich für Ehrenstein auch schon diese Reise. Die Gleichgültigkeit gegenüber den Emigranten ließ deutliche Schlüsse zu über die alte "Hoamat". In dieser Zeit entstand Ehrensteins Satire Die Schwarz-Roten43. Der IchErzähler kehrt im Traum in seine Heimatstadt Wien zurück, wo ihm der bereits aus Tubutsch bekannte wienernde Hausmeister begegnet, der ihm in seiner perfiden Biederkeit und treuherzigen Gleichgültigkeit klarmacht, daß sich auch nach diesem Krieg nichts geändert hat und der homo humanus wohl in alle Ewigkeit das ahasverische Schicksal des dauernden Exils erleiden muß. "Die Lebensform, die Kunstform des echten Juden ist Ahasverismus" - so schreibt Ehrenstein 1926 in seinem Essay Zion. Am Fall seines Lebens und Werks offenbart sich, wie tief für den Dichter das Schicksal des Exils mit der jüdischen Existenz verwoben ist. Zugleich aber gewinnt in Ehrensteins Werk jüdisches Exilschicksal paradigmatische Funktion: Es ist auch das Schicksal des Menschen in der modernen Welt, des Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich das Schicksal aller Menschen, die unter dem Mißbrauch der Macht (so der Titel der von Ehrenstein geplanten Autobiographie) zu leiden haben und die wie Ehrensteins "Ritter des Todes" ausziehen, gegen dieses Schicksal zu kämpfen.

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Albert Ehrenstein: Malice in Underland. Captain. Die armen Bären, die wilden Spechte. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.346-353, S.342-345, S.358. Werke Bd. 1 (Anm.16), S.429. Albert Ehrenstein: Die Schwarzroten. Erstdruck in: Werke Bd.2 (Anm.2), S.354-357.

Anna Maria Jokl (Jerusalem)

Das Ende des Weges Leben und Tod von Kafkas Schwester Otla

JERUSALEM, im Juni Wäre Franz Kafka in seiner Demut je auf den ihm unvorstellbaren Gedanken gekommen, sein Werk würde später in der ganzen Welt berühmt werden und sein Leben Gegenstand minuziöser Forschung, er hätte gesagt: "Dann wird man auch sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat." Und damit wäre nicht Milena gemeint und keine der Bräute, sondern damit wäre gemeint Otla, seine um neun Jahre jüngere, seine vertraute Schwester, die in ihrer wortkargen, simplen Existenz darstellte, was die "erlösenden einfachen Frauen" in Kafkas Büchern durchleuchtet. In den dreißiger Jahren lebte sie, eine etwas ungeschlachte Frau mit leuchtenden Augen, als Ehefrau eines tschechischen Juristen und ging auf in ihren Pflichten des Kochens, Einkaufens, Hundeausführens und der ständig bereiten Liebe für ihre beiden Töchter, weitäugig und scheu. Und sie ging aus diesem Leben schweigend in den gewählten Tod, als wäre ihr Leben nur gewährleistet gewesen durch würdeloses Stillhalten in ihrem Schiksalskompromiß: Sie ging den Weg, aber als gelebte Lösung aus der Verstrickung, mit der Franz Kafka sein Leben lang rang. - Seltsamerweise wurde ihre Geschichte von der Franz-Kafka-Forschung, die nun mehr als zwei Jahrzehnte lang die literarische Welt beschäftigt, nicht wirklich zur Kenntnis genommen. Meine Bekanntschaft mit Otla begann, als ich 1933 als junge Emigrantin nach Prag kam. Früh schon hatte ich den - damals noch weithin wenig bekannten - Kafka gelesen und fasziniert immer wieder gelesen. Der erste Kontakt zu Otla und ihrer Familie war also aus literarischem Antrieb entstanden - die daraus entspringende Freundschaft von 1933 bis 1939 galt Otla persönlich. Denn sofort beeindruckte die staunende demütigende Reinheit wie aus einer anderen Dimension, die sich in dieser Hausfrau mit großen Füßen, die mit stark tschechischem Akzent Deutsch sprach, verbarg. Und da Otla sich mit mir vertraut fühlte, gab es keine Woche ohne Besuch in der Familie. Von Franz sprachen wir kaum miteinander; sie hätte nichts über ihn zu erzählen, sagte sie verlegen, wenn, damals schon, Studenten sie interviewen wollten, die ihre Doktorarbeit über Kafka planten, und sie bat, ihr solche Gespräche abzunehmen.

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Sie hatte auch wirklich nichts über ihn zu sagen, sie, zu der er floh, wenn es ihn zu erwürgen drohte, der in enger "telepathischer" Verbindung mit ihr war. ("Liebe Otla, heute nacht ... wachte ich etwa um 5 Uhr auf und hörte Dich vor der Zimmertür 'Franz' rufen, zart, aber ich hörte es deutlich. Ich antwortete gleich, aber es rührte sich nichts mehr. Was wolltest Du? Dein Franz.") Sie hatte nichts über ihn zu sagen, da sie - wie eine Kafka-Figur völlig unreflektierend war, nur war, aber eben nicht Figur, sondern ein Urbild seiner Welt, gebannt in einfache Hausfrauenkleider, in eine ungemütliche Kleinbürgerwohnung. Ihre bizarre Lebenssituation unterstrich noch die Kafka-Atmosphäre: Otla war verheiratet mit einem kleinbürgerlich-fröhlichen Tschechen, der gern aß, zur Laute sang, sich durch Zeitungslektüre politisch engagierte. Wenn es je eine rätselhafte Mesalliance gegeben hat, so hier. Otla war sogar um einen Kopf größer als ihr Mann, mit dem sie nichts, aber auch nichts zu verbinden schien; nie habe ich sie miteinander über anderes als sein Menu ein Wort wechseln hören, und ihr "Du" zu ihm kam immer zögernd. Auch von seiner Seite her war die Kombination völlig unverständlich. Welche phantastischen, unglaublichen Umstände hatten mitgespielt, daß der kleine, mittelmäßige Mann, dem pralle, übermütige Mädchen gefallen mußten, sich vor fünfzehn Jahren an dieses nicht mehr ganz junge jüdische Mädchen heranmachte; anstatt in seiner Atmosphäre zu bleiben, in der er vermutlich glücklich geworden wäre und nicht, letzthin überfordert, sogar zu einem banalen Judas. Der Irrtum einer Stunde der Verführung im Grünen (vielleicht wollte Otla in ihrer scheuen "Ehrfurcht vor jedem Menschen", die sie von Franz erwähnte, ihn nicht kränken, als er sich ihr näherte), hatte zu dem bizarren Haushalt in der Bilkowa 4, nahe dem Altstädter Ring, geführt. Außer der Schwester Elli und ihren Kindern sowie einem russischen Emigrantenmädchen, deren Otla sich annahm, habe ich in all den Jahren keine anderen Besucher in ihrem Hause angetroffen. Auf dem Kohlenherd schmorten immer volle Töpfe, alle Arten von Speisen, und die Kinder und der Mann aßen, wann und was sie wollten. Otla selber aß kein Fleisch. Aber das merkte man erst mit der Zeit, da sie nicht darüber sprach und ihr nie der Gedanke gekommen wäre, jemanden anderen zu beeinflussen. So erfuhr man auch nur zufällig, daß der Persianerkragen auf ihrem Mantel Imitation war. Ihr Stacheldrahtterrier war ein Lebewesen, ebenso wichtig wie die ständig umsorgten Töchter, Vera und Helenka, damals 14 und 12 Jahre alt: Vera sehr ähnlich der Kafka-Linie (Franz, Otla, deren Mutter) mit den weiten dunklen Augen, Helenka blond, äußerlich mehr nach dem Vater. Sie hingen überstark und kindisch an der Mutter, die nur für sie da war. Otla war die letzte meiner Freunde, von der ich vor der Flucht aus Prag heimlichen Abschied nahm, nachdem die Deutschen einmarschiert waren.

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Beim ersten Besuch in Prag nach Kriegsende rief ich sofort im Hause D. an - furchtsam, wie bei allen tschechischen Freunden, die zurückgeblieben waren. Otla sei nicht mehr, sagte Dr. D. feierlich am Telefon und bat mich, sobald als möglich zu kommen. Er würde die Töchter verständigen; sie seien verheiratet und lebten nicht zu Hause. Er saß und spielte auf der Laute die jiddischen Lieder, die er vor Jahren durch mich kennengelernt hatte. Die Situation war voll peinlicher Sentimentalität, und ich wußte nicht, warum: Sie kam einem Witwer doch zu. Dann kamen die Töchter, saßen schweigend, baten mich, sie am nächsten Tag an anderem Ort zu treffen. So erfuhr ich die Geschichte. Nicht gleich. Zuerst drängten die jungen Frauen: "Erzähl uns von der Mutter. Wir haben alles vergessen. Wir haben sogar vergessen, wie sie ausgesehen hat. Erzähl uns, vielleicht werden wir uns dann erinnern." Was war geschehen? Es lagen seit 1942 nur 5 Jahre dazwischen, und die beiden waren schon relativ große Mädchen gewesen, als sie die Mutter zuletzt sahen. Wieso hatten sie sie vergessen können? Das war geschehen. Als auch im "Protektorat Böhmen-Mähren" die Nürnberger Gesetze in Kraft traten und die beiden Schwestern samt deren verbliebenen Kindern deportiert waren, blieb Otla geschützt durch ihre Heirat mit dem "arischen" Mann. Ihm entstanden dadurch gewisse materielle Beschränkungen. Ihm war nicht der Charakter gegeben, das wortlos auf sich zu nehmen; auch fürchtete er sich. In dieser Umwelt äußerster Unwahrhaftigkeit, Mißtrauens, Herabsetzung wurde, so ist aus ihrem Schritt ersichtlich, die unschuldige, unreale Otla aus ihrem Hinnehmen geweckt (war Franz Kafka je die Namenswahl seiner "Olga" im Schloß bewußt geworden?) und sie begann, planmäßig und mit nie-gekannter Schlauheit, sich ihren konsequenten Weg zu bahnen. Sie legte dem Mann die Scheidung nahe, die er zuerst, mit einem Rest von Anstand, zurückwies. Die weltfremde Otla wußte auf einmal ein Argument seiner Denkart zu benützen: Den Kindern, so sagte sie ihm, Halbjuden und getauft, würde nach seiner Scheidung von ihrer jüdischen Mutter das Erbe der Kafkaschen Familienhäuser erhalten bleiben. Das gab dem Juristen einen "vernünftigen" Vorwand, und es kam zur Scheidung aus "rassischen Gründen". Nun war Otla frei, vogelfrei. Sie registrierte sich als Jüdin; bald bekam sie die Einberufung nach Theresienstadt. Nun erst dämmerte den jungen Mädchen etwas von der Reichweite der Scheidung auf. Der Verlobte der Älteren, ein christlicher Tscheche, wollte Otla pro forma heiraten, um ihr Schutz zu geben - unwissend, daß dies gesetzlich nicht mehr möglich war; Otla lehnte ab. Ruhig führte sie ihren Plan durch. Sie brachte das Haus in Ordnung, packte einen Rucksack. Es gab da eine Szene am Vorabend ihres Weggehens:

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Der praktische Ehemann fettete Otlas feste Schuhe ein, wie er es beim Militär gelernt hatte, um sie wetterfest zu machen; er tat es gründlich und eifrig und sagte befriedigt: "Da wird dir kein Wasser durchkommen." Das sahen, das hörten die schreckstarren Mädchen. Erst als die Mutter am nächsten Morgen gegangen war, löste sich die Starre. Nun bestürmten sie die Behörden, sie standen am Tor von Theresienstadt und bettelten um Einlaß, um Internierung. Dies wurde abgelehnt: Das Gesetz traf nicht auf sie zu. Sie schickten Pakete mit Lebensmitteln, die sie teuer auf dem schwarzen Markt kaufen mußten - zuerst mit der Einwilligung des Vaters, später heimlich, da ihm dies zu teuer und gefahrlich schien. Es kam eine Karte von der Mutter, ein vorgedrucktes Formular: "Es geht mir gut", mit ihrer Unterschrift. Es war die einzige. Es blieb die einzige. Später erfuhr man, daß Otla sich freiwillig gemeldet hatte, einen Kindertransport nach Auschwitz zu begleiten. Weiter hat man nichts mehr von ihr gehört. Ich denke oft an Otla. Und ich denke, daß sie auf dem Weg, den sie ging, so zufrieden und mit sich selbst im reinen war wie jeder, dem das seltene Glück der Einung in sich selbst zuteil wird. Otla hat einen Weg gefunden, ihrem Schicksal nicht verzweifelt ausgeliefert zu sein: nicht, wie Josef K. im Prozeß in nutzloser Bemühung um Aufklärung der geheimen Anschuldigung schließlich doch von den "beiden Herrn in Gehröcken und unverrückbaren Zylinderhüten" exekutiert zu werden; nicht, wie K. im Schloß durch vergebliche Kontaktsuche mit den Beamten schon zu apathisch dazu zu sein, als sich unverhofft eines Nachts die Gelegenheit ergibt. Otla muß inmitten der bizarren Höllenverwirrung ringsum plötzlich gewußt haben, wie sich durch einen Entschluß aus dem scheinbar unentrinnbaren Netz zu befreien, durch eine Tat die Entfremdung aufzuheben. Die Kinder waren groß; ihnen konnte sie nicht mehr helfen, nur noch sie gefährden. So war sie frei, alles zwiespältig Gewohnte abzustreifen, ihr Päckchen zu schultern und, zum erstenmal frei vom Netz und eins mit sich, davonzugehen dorthin, wo ihr wortloses grenzenloses Erbarmen mit allem Lebenden bis zuletzt erlaubt war, ohne Entfremdung zu erfordern.

Heinrich Detering (Göttingen) "Die Stimme im Dornbusch" Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins.

1. Sekundäre Identifizierung: Exil als Jude und Kommunist Auf die Frage, was das Judentum für sein Werk bedeute, hat Stephan Hermlin 1983 in einem Interview geantwortet: "jüdische Kultur ist mir so gut wie unbekannt, sie hat in meinem Leben gar keine Rolle gespielt". Damit könnte diese Untersuchung schon zu Ende sein - wenn Hermlin sein Diktum nicht sogleich dreifach wieder eingeschränkt hätte: Erstens meint er hier mit der ihm unbekannten offenbar nur die ostjüdische Kultur: "eine andere jüdische Kultur gibt es heute nicht als die ostjüdische Kultur". Zweitens fügt er den Worten "gar keine Rolle gespielt" eine entscheidende Ausnahme hinzu: "außer der Bibel". Und drittens zitiert er am Ende dieser Ausführungen einen Satz seines Freundes Ilja Ehrenburg: "Ich bin ein russischer Schriftsteller, aber ich werde mich bis zu meinem Tode, solange es noch einen Antisemiten gibt, als Jude bekennen." 1 Damit ist ein Umstand angedeutet, der Hermlins Verhältnis zum Judentum wesentlich bestimmt: Erst unter dem Eindruck der faschistischen Rassenhetze wurde der aus einer assimilierten großbürgerlichen Familie stammende junge Dichter sich seiner jüdischen Herkunft bewußt, begann er, "der ich aus einer sogenannten 'gemischten Familie' stamme - die Nazis haben es fertiggebracht, solche Begriffe hervorzubringen", 2 sich selbst als Jude zu begreifen, gewann er eine gewissermaßen 'sekundäre' jüdische Identität aus der Reaktion auf die antisemitische Stigmatisierung. In verschiedenen Texten der vergangenen vierzig Jahre hat er das autobiographisch konkretisiert. Auf diese Äußerungen wenigstens in einer kurzen Übersicht hinzuweisen, scheint nicht zuletzt deshalb notwendig, weil das in ihnen formulierte Bekenntnis zur eigenen jüdischen Herkunft nur selten gehört worden ist. In der Vielzahl der kri1

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Gespräch mit Stephan Hermlin. In: Silvia Schlenstedt: Stephan Hermlin - Leben und Werk. Berlin/DDR 1985, S.7-39. Hier: S.20 und 23. Ganz ähnlich vier Jahre später in einem Gespräch mit Herlinde Koelbl: "Ich habe kein Verhältnis zum Jüdischsein [...] abgesehen von einem bestimmten historischen Gedächtnis, das ich nicht ableugne, sondern dessen ich mir bewußt bin." Und auf die Frage, wie er "die Zukunft des jüdischen Volkes in der Welt" sehe: "Ein jüdisches Volk kenne ich nicht. Es gibt nur Juden. Es gibt ein israelisches Volk, aber kein jüdisches." (In: Herlinde Koelbl, Jüdische Portraits. Photographien und Interviews. Frankfurt a.M. 1989, S. 112-115, hier: S.112 und 115.) Schlenstedt, wie Anm. 1, S.20.

Heinrich

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Deleting

tischen und literaturwissenschaftlichen Studien, die mittlerweile zu Hermlins Werk vorliegen, existiert (soweit ich sehe) kein Beitrag, der diesem Thema gewidmet wäre: es finden sich lediglich mehr oder weniger beiläufige Bemerkungen in anderen Zusammenhängen. In dem Bericht Rückkehr (1985) erinnert Hermlin sich: damals hatte ich an jeder Berliner Straßenecke die Zeitungskästen mit dem ausgehängten 'Stürmer' gesehen, der jede Woche die furchtbare jahrhundertealte Ritualmordlüge wiederholte und die Eltern aufrief, ihre Kinder vor den Juden zu hüten.3 In Abendlicht erzählt er die Leidensgeschichte seines Vaters, der wegen seiner jüdischen Herkunft 1938 ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt und dort später ermordet wurde.4 Während der Zeit seines Exils5 blieb ihm das Bewußtsein lebendig, als Kommunist und als Jude vertrieben zu sein: Ich war ein Emigrant, ich war unter anderem ein rassisch Verfolgter, ich war unter den Nazis ein "undeutsches Element" gewesen - das ist ein Ehrentitel -, ich hätte in Hitlerdeutschland nicht veröffentlichen können.6 Daß man mich nicht mehr wollte, daß Leute meines Schlages minderwertig sein sollten, war für mich kein Grund zum Rückzug, sondern weckte nur Zorn und Verachtung und ein Gefühl für den eigenen Wert. Was andere in Zweifel stürzte, berührte mich nicht: der faschistische Haß auf Marxisten und Juden war der Haß des Pöbels auf das Volk [...] 7 . Über die Zeit in der französischen Armee notiert er später: der Kompaniechef redete uns mit "Boches" und "Rouges" an, wir waren Kommunisten und Sozialdemokraten und viele von uns das eine oder andere und Juden dazu, [...] wir erfuhren durch den

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Stephan Hermlin: Rückkehr. In: ders.: Bestimmungsorte. Fünf Erzählungen. Berlin 1985, S.37-64. Hier: S.63. Stephan Hermlin: Abendlicht. Leipzig 1979 u.ö., S.126ff. Zu Hermlins Exil (über dessen Einzelheiten nur wenig bekannt geworden ist) Schönstedt, S.58-67, und Bernd Witte, Art. Hermlin in: Kritisches Lexikon der Gegenwartsliteratur; zum Hintergrund jetzt: Hans-Albert Walter, Deutsche Exilliteratur 1933-1950. Band 3: Intemierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg (dort zu Hermlin S.112, 282, 504), und neuerdings Hans Mayer: Zum 75.Geburtstag von Stephan Hermlin. In: Sinn und Form 42 (1990), S.298ff. Das Exil führte Hermlin u.a. nach Palästina (wo er eine Zeitlang im deutschsprachigen Buchvertrieb des emigrierten deutschen Journalisten Walter Zadek arbeitete; vgl. Schlenstedt, S.57, und Walter, S.504, zum Hintergrund auch Emst Loewy: Jude, Israeli, Deutscher - mit dem Widerspruch leben. In: Exilforschung 4, 1986, S. 13-42) sowie nach Ägypten, England, Frankreich und in die Schweiz, wo er bis zum Kriegsende interniert war und wo 1944 und Anfang 1945 seine ersten Gedichtbände erschienen. Schlenstedt, wie Anm. 1, S.39. Stephan Hermlin: Das hier ist es. In: Sinn und Form 39, 1987, S.274-284. Hier: S.275.

Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins

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Kompaniechef, Juden und Kommunisten hätten Frankreich ins Verderben gestürzt [...] 8 In der Erzählung Ein berühmter Schriftsteller schildert Hermlin eine Begegnung mit Louis-Ferdinand Ciline, der ihm versichert habe: "Der Tag wird kommen, da wir [die Franzosen] Juden und Bolschewisten an die Wand stellen und Frankreich von ihnen säubern werden" - und die eigene Antwort, er gehöre "gerade zu denen, die er an die Wand zu stellen beabsichtige." 9 In dieser Situation sei er, so erinnert er sich, "ein Schriftsteller geworden, ohne eigentlich die Absicht gehabt zu haben": Ich schrieb viel und veröffentlichte kaum etwas, um mich gewissermaßen zu behaupten in einer Umwelt, die mir und meinesgleichen das Lebensrecht versagte. 10 Und auch die Rückkehr aus dem Exil schließlich sah er rückblickend im Aufbegehren gegen das Stigma begründet, in der Identifizierung mit der eigenen Herkunft und den "Vorfahren": Ich war zurückgegangen aus einem gewissen Trotz, weil ich alte Rechte zu wahren hatte, nicht nur das Recht meiner Geburt, sondern auch das meiner Vorfahren, die vor fast zweitausend Jahren hierher kamen, vor den meisten Deutschen, gemeinsam mit den Römern. 11 Der fast Hermlins samkeit,12 Gestalten 8 9

10 11 12

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überdeutlich mit dem Autor identifizierte Rahmenerzähler in nach der Rückkehr geschriebener Erzählung Die Zeit der Gemeindie durchzogen ist von Erinnerungen an Leiden und Kampf von der jüdischen Geschichte, 13 sucht im einstigen Warschauer Ghetto

Hermlin:Rückkehr, wie Anm. 3, S.53. Stephan Hermlin: Ein berühmter Schriftsteller. In: Hermlin: Bestimmungsorte, wie Anm. 3, S.7-15. Hier: S.13. Stephan Hermlin: Die Sache des Friedens. Berlin/DDR 1953, S.39f. Hermlin: Rückkehr, wie Anm.3, S.64. Zitiert nach Stephan Hermlin: Arkadien. Gesammelte Erzählungen. Leipzig 1983 (Reclam, Bd. 1000). Im letzten Satz der Einleitung bemerkt der Rahmenerzähler, er hätte glauben können, daß er den 'Brief - die Binnenerzählung vom Warschauer Getto-Aufstand - "von seinem Verfasser selbst erhalten hätte, weil er ihn für mich bestimmt hatte und weil mir seine Züge so nahe, so ähnlich sein mußten wie das Gesicht, das ich jeden Morgen im Spiegel erblicke." (S. 116) Vgl. die Bemerkung des Rahmenerzählers im 'Epilog' (S.165): "Unverändert gleichgültig war ich der Frage gegenüber, ob das, was ich mittlerweile erfahren hatte, gerade in dem Brief enthalten war." Beispiele: Vor dem Warschauer Denkmal fühlt der Rahmenerzähler sich an die Pyramiden erinnert, "die die Urväter der Gefallenen für fremde Pharaonen auftürmen mußten" ( S . l l l ) . Der Binnenerzähler glaubt sich "manchmal zurückgezerrt in Urzeiten: ich bin so alt wie Babylon. Bei Lebenden und Toten zeigt sich plötzlich in Antlitz, Haltung und Stimme der Gang der Geschichte: nur muß, dessen bin ich sicher, unter den ganz erstarrten Zügen Hiobs sich das Gesicht des Bar Kochba verbergen." (S.122); das "Fauchen der Flammenwerfer [...] in unserer Nähe" veranlaßt ihn zu der Erkenntnis: "Wir waren die Männer im Feuerofen" (S.139); auf dem Weg durchs Getto geraten die Kämpfenden

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Heinrich Detering

nach Spuren des Aufstandes. Inmitten der Trümmer fühlt er sich "heimatlos und geborgen zugleich" - und begreift: "Hier könnte die geographische Mitte meines Lebens sein" (S. 112). Am Beispiel des Protagonisten, Mlotek, wird in diesem Text das Problem des doppelten Verfolgtseins und der schwierigen Identitätsfindung eines jüdischen Kommunisten so explizit formuliert wie nirgends sonst in Hermlins Werk. 1 4 Angedeutet wird die Möglichkeit einer Emigration nach Palästina. Nachdem Mlotek gehört hat, wie der alte Jude bei der Pessachfeier "die üblichen Worte" gesprochen hat ("dieses Jahr noch Knechte, nächstes Jahr Kinder der Freiheit. Dieses Jahr noch hier, nächstes Jahr in Jeruscholajim", S.149), erinnert er sich an seinen früheren illegalen Palästina-Aufenthalt. Aber er fügt hinzu: "bei mir selbst [nannte ich] das Land Palästina, nicht etwa Erez Israel." (S. 150) Im ausdrücklichen Gegensatz zu zionistischen Hoffnungen versucht er eine Selbstbefreiung zu organisieren, die den Weg zur Beendigung jahrtausendealten jüdischen Leides weisen soll. Zwei einander bedingende Einsichten soll dieser jüdische Kommunist lehren und verkörpern: (1) Jüdische Hoffnung sei so ganz und gar im Sozialismus aufgehoben, daß die leidenden Juden ihre Sache als die der Sozialisten und die Sache der Sozialisten als die ihre erkennen müßten. 15 (2) Der Sozialismus müsse immer auch der Sache der leidenden Juden verpflichtet bleiben. Diese Lösung des im Exil aufgebrochenen Konflikts ist eine der Nachkriegszeit, entworfen kurz vor und veröffentlicht kurz nach Hermlins noch hoffnungsvoller Übersiedlung in die künftige DDR. Was hier dem Anschein nach glatt aufgeht, erwies sich tatsächlich schon bald als problematisch. Das offizielle (Miß-) Verhältnis der DDR zum Staat Israel, zur antisemitischen Vergangenheit und Gegenwart veranlaßten Hermlin immer wieder, unter für ihn selbst oft schwierigen Bedingungen, das allgemeine Schweigen

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15

in ein Haus, wo eben das Pessach-Fest orthodox begangen wird, "mit dem sie des Auszuges aus Ägypten gedenken wollten und der Errettung aus höchster Gefahr" (S.148). Neben "die bitteren Speisen aus der Zeit der großen Wanderung" legen die Kämpfer ihre Waffen nieder, "als hätten sie etwas zu tun mit den Gegenständen und Speisen auf dem Tisch, mit dem, was der Alte vorlas, mit den Peitschen der Treiber an den Pyramiden, mit den Plagen, mit dem Zug durch die Wüste und das Rote Meer, mit dem Geschrei der Hungernden um Manna." (S.149) Wiederholt zitiert der Erzähler jiddische Verse (S.137 zweimal, S. 156 und 158). "Jetzt [sc. nach dem Eintritt in die kommunistische Partei] hatte ich auf einmal die Wahl, in Polen von den Pilsudskileuten als Jude oder in Palästina von englischen und jüdischen Polizisten als Kommunist verprügelt zu werden." (S.152) Beispiele: Auf die Behauptung eines Juden: "Alle haben sie die Juden vergessen" (127) antwortet Mlotek: "'Die Juden hat man nicht vergessen. Niemand ist vergessen. Die Rote Armee bei Stalingrad hat sich für uns geschlagen.' 'Die Russen kämpfen für sich', warf der Gereizte ein. Mlotek sagte durch die Zähne: 'Selbst wenn sie für sich kämpfen, kämpfen sie noch für uns alle. [...]"' (128) Und später: "Man könnte sagen, [...] daß ich mir vorher aus den Kommunisten überhaupt nichts gemacht hatte. Seit ich Kommunist war, gingen mich die Juden mehr an als zuvor, und wahrhaftig nicht nur die Juden allein." (152f.)

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Hermlins

über antisemitische Strömungen in der DDR zu brechen, 16 abweichend von der staatlichen Linie mit Repräsentanten der israelischen Kultur zusammenzuarbeiten, 17 in Rundfunk, Zeitung und Buch an die große Tradition jiddischer Dichtung zu erinnern18 und in literarischen Texten an die besondere Verantwortung zu erinnern, die dem sozialistischen Staat aus der antisemitischen Vergangenheit des deutschen Faschismus erwachse. 19 Manches, was er zu diesem Thema sagte, konnte zunächst nicht gedruckt werden - so das Gespräch, das er 1983 mit Ulrich Dietzel führte und das erst 1990, anläßlich seines 75. Geburtstags, in "Sinn und Form" erschien. Über das Verhältnis von Parteidisziplin und 'Kadavergehorsam' sprechend, sagte Hermlin da über die von ihm mitinitiierte Protestresolution von Künstlern und Schriftstellern der DDR gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976: 20 Offenbar ging es damals um einen groben Gedächtnisfehler. hat nicht daran gedacht, daß ausgerechnet der sozialistische sche Staat etwas tat, was kein zivilisierter Staat tun dürfte, lich jemandem die Zugehörigkeit zu einem Volk, zu einem 16

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Man deutnämStaat

Vgl. etwa das Gespräch mit Heinrich Kaulen und Rudolf Selbach im "Literaturjournal" der Zeitschrift "Frontal", Bonn, Juli 1988 (unter dem Titel "Bald werden wir die ganze Wahrheit verkraften können") und die Äußerungen im Gespräch mit Herlinde Koelbl (wie Anm.l): "Lenin hat geschrieben, daß die Juden für die herrschende Klasse den Blitzableiter darstellten. Allerdings konnte er nicht voraussehen, daß auch die später folgende herrschende Klasse dieses Blitzableiterdenken nicht völlig aufgeben würde. Wir haben als Kommunisten den Antisemitismus zuerst ganz naiv gesehen. Für uns stand fest, daß er nur eine von den vielen Eierschalen ist, die wir noch aus der früheren Gesellschaft mitschleppen und die sozusagen automatisch abfallen werden. So optimistisch kann man heute nicht mehr sein." (S. 115) Vgl. Hermlins Mitarbeit an Gershom Scholems Ausgabe seines Briefwechsels mit Walter Benjamin und die Briefe Scholems an Hermlin, die in der Sammlung Briefe an Hermlin, Leipzig 1985, - vermutlich demonstrativ - veröffentlicht wurden (S.109ff.l S.115f., S.120; vgl. die Bemerkung in Scholems Vorbemerkungen zur Suhrkamp-Ausgabe des Briefwechsels Scholem/Benjamin). "Gesang der Klage und Zuversicht. Zu einer Sammlung jiddischer Dichtung", als Rundfunkmanuskript verfaßt, zuerst erschienen am 9.10.1966 in "Neue Zeit" als Rezension zu Hubert Witt (Hg.): "Der Fiedler vom Getto", in exponierter Stellung wieder in Hubert Witt (Hg.): Stephan Hermlin - Texte, Materialien, Bilder. Leipzig 1985, S.34-39 Beispiele für das Fortwirken der Auseinandersetzung mit Leiden und Widerstand der Juden in Hermlins nach der Rückkehr entstandenen Texten: der Gedichtzyklus Die Erinnerung, darin als Schlußgedicht Die Asche von Birkenau (entstanden und z.T. bereits erschienen 1949, in: Der Flug der Taube. Berlin 1952); die Aufsätze Das Getto und Auschwitz ist unvergessen (in: Die Sache des Friedens. Berlin 1953); Ein Buch über Treblinka (in: Lektüre. Berlin/ Weimar 1973); die Ansprache In diesem Bewußtsein ebd.; die Erzählung Die Zeit der Gemeinsamkeit (erschienen 1949; vgl. hier Abschnitt 5), das Kapitel "Die Gruppe Baum" über jüdischen antifaschistischen Widerstand (in: Die erste Reihe. Berlin 1951); einige Passagen in den späten Prosaarbeiten Abendlicht (Leipzig 1979), Kassberg (zuerst in: Sinn und Form, Heft 5, 1965) und Corneliusbräcke (zuerst in: Sinn und Form, Heft 3, 1968); die fünf Texte seines Prosabandes Bestimmungsorte (erschienen 1985, wie Anm.3). Vgl. dazu: Peter Roos (Hg.), Exil. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR. Eine Dokumentation. Köln 1977, hier bes. S.118f.

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abzusprechen. Und da ich selbst ein Ausgebürgerter gewesen bin, war ich nicht bereit, jemand ausbürgern zu lassen, der dazu noch - das dürfte auch nicht in Vergessenheit geraten - der Sohn eines Auschwitzopfers war. Ich stehe auch heute weiter auf diesem Standpunkt. Wenn man mir sagt: Das ist eine Frage der Disziplin, dann sage ich: Das ist eine Verwechslung von Disziplin und Kadavergehorsam. 21 In Hermlins Gedichten aus dem Exil, die bis heute zu den klassischen Texten sozialistischer Literatur in deutscher Sprache gehören und zu den wenigen Versuchen, Schreibweisen der französischen Surrealisten in die deutsche Literatur zu überführen, 22 wird immer wieder die Spannung spürbar zwischen der entschlossen säkularen sozialistischen Hoffnung und einer jüdisch-alttestamentlichen Tradition, die damit nicht ohne weiteres zur Deckung kommen konnte. Die erste Sammlung dieser Gedichte erschien in einem in deutscher und in jiddischer Sprache geschriebenen Buch. Wir verstummen nicht. Gedichte in der Fremde war der Titel dieser 1945 in Zürich erschienenen Gemeinschaftspublikation mit (der gleichfalls in deutscher Sprache schreibenden) Jo Mihaly und dem jiddischen Dichter Lajser Ajchenrand. "Ein Schicksal ist ihnen gemeinsam", erläutert das ungezeichnete Vorwort: "das des Exils. Alle drei hat unsere Zeit gegen ihren Willen, mit ihrem Willen in Fährnis und fremde Länder getrieben. Sie sind sehr verlassen, aber auch hier eint sie der Glaube an eine große Brüderlichkeit jenseits der Verlassenheit." Nachdrücklich wird dann darauf hingewiesen, daß hier deutsche und jiddische Verse vereint sind: Denn wenn Tiere, die eine Art Menschenantlitz tragen, Tiere, die sich seltsamerweise in deutscher Sprache miteinander verständigen, das Wort eines merkwürdigen und großartigen Volkes mit Feuer und Kugel zum Schweigen zu bringen bemüht waren, so ist die Bruderschaft der Sprachen doch so unzerstörbar und wach21

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Ulrich Dietzel: Gespräch mit Stephan Hermlin 1983. In: Sinn und Form 42 (1990), S.304-316, hier: S.316. Die Nähe zu den französischen Surrealisten gilt nicht für alle Gedichte gleichermaßen, sie scheint aber in Texten wie der Ballade von den Unsichtbar-Sichtbaren in den Großen Städten (vgl. hier Abschnitt 2) ganz unübersehbar. - Vgl. die - wie mir scheint - treffendsten Würdigungen des lyrischen Werkes bei Witte, wie Anm. 5, S.2, und Fritz J. Raddatz: Jede Zeit besteht aus vielen Zeiten. Ein Porträt des Dichters Stephan Hermlin. In: Die Zeit, Nr. 50, 4.12.1987, S.48-49; auch Wolfgang Ertl: Stephan Hermlin und die Tradition, Bern u.a. 1977 (Europäische Hochschulschriften I, 206), S.9-21. - Die häufig unterschätzte Bedeutung der faschistischen Judenverfolgung für Hermlins Gedichte wird mit ausgewählten Texten dokumentiert in der 1968 im DDR-"Verlag der Nation" erschienenen Anthologie Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht, hrsg. von Heinz Seydel. (Darin von Hermlin: Ballade vom Land der ungesprochenen Worte, 1941, S.93f.; Ballade von der Königin Bitterkeit, 1942, S. 150f.; Forderung des Tages, 1945, S.428f.; Die Asche von Birkenau, S.498; jeweils in den überarbeiteten Spätfassungen.)

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sam, daß sie den Mord im Augenblick des Sichvollziehens selbst widerlegt und den Arm des Mörders mit Furcht schlägt. 23 Diese Bruderschaft der Sprachen ist auch in Hermlins Exilgedichten vernehmbar. Einige dieser Texte sollen in den folgenden Abschnitten analysiert werden. Immer wieder bezieht Hermlin sich in ihnen auf das eine Buch, auf das allein er im Gespräch mit Silvia Schlenstedt die Bedeutung des Judentums für sein Leben gründete: die Bibel. Ganz überwiegend handelt es sich bei den da zitierten oder alludierten Bibeltexten um solche des Alten Testaments. 24 Setzt man voraus, daß der Autor damit nicht einfach ein religiöses Bekenntnis ablegen wollte, so ist zu fragen (1) nach der poetischen Funktion (und gegebenenfalls Umdeutung) der zitierten oder alludierten Texte im Gedicht und (2) nach ihrer Vermittlung mit der programmatisch dominierenden sozialistischen Perspektive. Das in Hermlins Lyrik oft geübte Verfahren, Zitate als 'Schlüsselwörter' für nicht ausdrücklich mitbenannte Zusammenhänge einzusetzen, 25 macht es dabei durchgängig notwendig, die ursprünglichen Kontexte mit in den Blick zu nehmen. 2. "die Stimme im Dornbusch":

Berufiingsvision

Im Jahr 1931 unterschrieb der Gymnasiast Rudolf Leder, der sich als Dichter Stephan Hermlin nannte, einen "unansehnlichen Zettel", welcher "bekundete, der Unterzeichner sei von jetzt an Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes Deutschlands". Diese Unterschrift hat Hermlin später immer wieder als ein Grunddatum seiner Biographie angegeben - so in der Rede Begegnung mit der Partei (1952): "Ich wußte nicht, wie vollständig, unwiderruflich mein Leben sich an diesem Nachmittag vor einem Berliner Zeitungsladen verändert hatte." Ausdrücklich "vom Standpunkt eines Schriftstellers aus" 23

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25

Jo Mihaly / Lajser Ajchenrand / Stephan Hermlin: Wir verstummen nicht. Gedichte in der Fremde. Zürich: Carl Posen Verlag < 1 9 4 5 > , unpaginierte S.5. Zu Hermlins Auseinandersetzung mit jiddischer Dichtung vgl. auch seine Rezension Gesang der Klage und Zuversicht, wie Anm. 11. Daneben finden sich auch Anspielungen auf neutestamentliche Texte - etwa ein Hinweis auf Christi Leiden in Gethsemane (Ballade von einem Städtebewohner in tiefer Not), allerdings in einer Bearbeitung des 130. Psalms (wenn er nicht überhaupt im Kontext der Hermlinschen Rezeption der deutschen Renaissance- und Barockdichtung zu verstehen ist; zitiert wird Luthers Psalmlied Aus tiefer Not schrei ich zu dir). Ein Paulus-Zitat zum Martyrium der ersten Apostel (im Motto der ursprünglichen Fassung der Ballade von den Unsichtbar-Sichtbaren in den großen Städten) wird im Gedicht selbst verknüpft mit der Berufungsgeschichte des Mose, vgl. hier den 2. Abschnitt); es ist in späteren Ausgaben fortgelassen worden. Vgl. dazu grundsätzlich Manfred Durzak: Versuch über Stephan Hermlin. In: Akzente 23, 1976, Heft 3, S.256-267; Witte, wie Anm. 5; Schlenstedt wie Anm. 1, S.68-92; Ertl, wie Anm. 18, Kap. II und III; sowie die kritischen Beiträge von Marcel ReichRanicki (Stephan Hermlin, der Poet. In: ders.: Zur Literatur der DDR. München 1963, S.386-410) und Gregor Laschen (Die Gewürzworte der Sprache. In: ders.: Lyrik in der DDR, Frankfurt a.Μ. 1971, S.59-73)

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fügte er hinzu: "Es ist nicht einfach, ein Schriftsteller in der Partei zu sein" doch "die Stimme der Partei spricht in ihm selbst. Sie ist die Stimme des Lebens, das vorwärtsgehen will." 26 Eines der bekanntesten Gedichte aus Hermlins Exil handelt von dieser Stimme - und bestimmt sie auf signifikant andere Weise. Ich zitiere die 4. Strophe aus der Ballade von den UnsichtbarSichtbaren in den großen Städten:21 Sie die niemals ja ihrer selbst nur gedachten Gab es denn nichts gar nichts was uns von ihnen schied? Als wir die Stimme im brennenden Dornbusch verlachten Weilte ihr Wort ihre Warnung in unserm Gebiet Die historische Identifizierung des Gemeinten wird durch eine Reihe von Andeutungen nahegelegt. Die Helden, von denen die Ballade berichtet, sind Bedrohte, Verfolgte ("unsichtbar"), die "in den großen Städten" gleichwohl aktiv handelnd hervortreten ("sichtbar"). Das geschieht, indem sie "ihre weltverändernde Frage" stellen (6. Strophe), die sie untermauern mit "Zahl die beweist und Formel Zeichen Tabelle" (13. Strophe) - und zwar auch an jene stellen, die sie "verlachten". Nur als "Stimme" werden sie, die "Unsichtbar-Sichtbaren", wahrnehmbar; ihre Gestalt bleibt unerkannt in Dornbusch und Feuer. Sind in den "Unsichtbar-Sichtbaren" unschwer die in der Illegalität agierenden Kommunisten zu erkennen, die die (nach der Überzeugung des Schreibers einzig) "weltverändernde" Frage des Sozialismus stellen, sind also die auf ihre konkrete Identifizierung zielenden Bilder vergleichsweise eindeutig zu entschlüsseln, so bleibt ihre in der zitierten Strophe vorgenommene quasi-religiöse Ausdeutung zunächst rätselhaft. Die Evokation des "brennenden Dornbusches", der der alttestamentlichen Erzählung zufolge brennt und doch nicht verbrennt (Ex 3.2f.), könnte die Vorstellung einer brennenden Leidenschaft wachrufen und die von unbeirrt ertragenem Leid; die Strophe würde, begnügte man sich mit solchen Assoziationen, etwa Standhaftigkeit in Verfolgung umschreiben. Das in der hier untersuchten Erstfassung noch dem Gedicht vorangestellte, in späteren Ausgaben wieder gestrichene Zitat aus dem 2. Korintherbrief (2 Kor 4,8-9a. 6,4-10) scheint diese Deutung zu stützen: Paulus schildert da Martyrium und Glaubenstreue

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Zit. nach Stephan Hermlin: Äußerungen 1944-1982. Berlin und Weimar 1983, S.134138. Hier: S.135 und 137f. - Vgl. auch den Aufsatz Die Unterschrift in: "Stunde der Völker: ein Buch für den Frieden", zusammengestellt von Franz Schüler, Berlin/DDR 1951, S.135-142. Noch in Abendlicht hat Hermlin gegen alle Enttäuschung über "Bedrückungen" und "Untaten" im Namen der Partei die Uberzeugung gesetzt, "daß ich das Beste in mir aufgeben mußte, wenn ich je meine Unterschrift, die ich um die Mittagszeit eines beliebigen Tages in einer beliebigen Berliner Straße geleistet hatte, als nicht mehr gültig betrachten würde." (Abendlicht, wie Anm.4, 8.Abschnitt, S.36f.) 1944. Zuerst in Stephan Hermlin: Zwölf Balladen von den großen Städten. Zürich 1945, S.23-25 (danach zitiert).

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der Apostel. 28 Aber das Dornbusch-Bild geht, nimmt man es beim Wort, in dieser Deutung nicht auf. Die "Stimme", von der hier die Rede ist, ist ja nicht die des "Dornbusches" selbst - sie redet nur durch ihn hindurch, bedient sich seiner als eines Mediums, das sie zugleich offenbart und verbirgt; ihr vermögen Dornen und Feuer nichts anzuhaben. Nicht das Martyrium der "Unsichtbar-Sichtbaren" steht im Mittelpunkt der Strophe - es ist eine Folge der Ausschließlichkeit, mit der sie Medium eines anderen sind -, sondern diese "Stimme" selbst. Es ist ihr "Wort", ihre "Warnung", was durch die "weltverändernde Frage" der Unsichtbar-Sichtbaren hindurch vernommen wird; sie gehört zu haben, ist offenbar das, "was uns von ihnen schied". Diese Stimme aber ist - anders als ihre Verkünder - offenbar nicht zuhause "in den großen Städten"; allein "ihr Wort" ist hier zu hören, das "auf unserm Gebiet" nur "weilt". Die nächstliegende Identifikation - die Stimme der Partei werde hier als Stimme Gottes auratisiert - wird damit erschwert. So unbezweifelbar das Gedicht auf die quasi-religiös verstandene Verkündigung der kommunistischen Partei zielt und auf die Wahrheit des Sozialismus - es bleibt ein religiös-eschatologischer 'Rest', der in dieser Gleichsetzung nicht aufgeht. Wie in der zitierten biblischen Erzählung handelt es sich auch bei dem hier umschriebenen Vorgang um eine Theophanie: Die Gestalt des Redenden bleibt verborgen, sie entzieht sich der positiven Bestimmung durch ihre Verborgenheit und durch das Paradox (des nicht verzehrenden Feuers). Solange die "Stimme" nur "im brennenden Dornbusch" spricht, wird sie ausschließlich in dem positiv bestimmbar, was sie sagt, und in der unbedingten Verbindlichkeit ihres "Wortes" (dem offenbar auch diejenigen sich nicht entziehen können, die sie zuvor "verlacht" haben). Das Subjekt dieser Stimme aber bleibt verborgen. Anders als in der biblischen Geschichte beschränkt sich das Bild hier auf die negative Umschreibung des Redenden. Die Stelle, an der dort die Selbstkundgabe Gottes steht, wird hier ausgespart. Gewahrt bleibt hingegen die Rollenbestimmung des Hörenden. Wer die "Stimme im Dornbusch" hört, der befindet sich damit bereits in der Position des Mose. Der aber hört nicht allein von der Gegenwart Gottes, sondern empfängt darüber hinaus einen genau bestimmten Auftrag:

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Ertl, wie Anm. 28, versteht das Gedicht darum ganz allgemein als "ein Denkmal für alle Verfolgten und Widerstandskämpfer, angefangen bei den ersten Christen" (S.36; ähnlich Hermann Hakel, der in seiner Anthologie Die Bibel in deutschen Gedichten, München 1968, den Text nicht in den ersten, auf das Alte Testament bezogenen, sondern offenbar ebenfalls um des Paulus-Zitats willen in den zweiten Teil aufnimmt - ins Kapitel "Apostel"). - Hermlins Text verknüpft metonymisch in der 11. Strophe den durch das Paulus-Zitat markierten Anspielungskomplex - dem auch das zentrale, die paulinische Paradoxienreihe aufnehmende und fortsetzende Paradoxon der "Unsichtbar-Sichtbaren" zugehört - mit den Verweisungen auf die Bedrückung der Juden in Ägypten: "Ihre Stummheit ihr Reden fallen wie Steine / In den Schacht unseres Seins seit Memphis und Rom". Damit sind offenbar auch die im Titel des Gedichts umschriebenen "Großen Städte" identifiziert.

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Und der Engel des HERRN erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Dornbusch. Und er sah, daß der Dornbusch im Feuer brannte und doch nicht verzehrt wurde. [...] Als aber der HERR sah, daß er hinging, um zu sehen, rief Gott ihn aus dem Busch und sprach: Mose, Mose.' Er antwortete: Hier bin ich. Gott sprach: [...] Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs. [...] Weil denn nun das Geschrei der Kinder Israel vor mich gekommen ist und ich dazu die Not gesehen habe, wie die Ägypter sie bedrängen, so geh nun hin, ich will dich zum Pharao senden, damit du mein Volk, die Kinder Israel, aus Ägypten führst. (Ex 3,2.4.6.9f.) "Als wir die Stimme im brennenden Dornbusch verlachten / Weilte ihr Wort ihre Warnung auf unserm Gebiet": Über die explizite Umschreibung der Theophanie hinaus bestimmt hier implizit das lyrische Subjekt (als Teil eines Kollektivs) die eigene Aufgabe nach dem Bild des Mose, des von Gott berufenen Befreiers aus der Knechtschaft. Eine darüber hinausgehende Folgerung wird von diesen Versen zwar nicht mehr gefordert, aber doch wohl zugelassen: Wenn das lyrische Subjekt sich in die Rolle des Mose begibt, so erscheinen die in die Freiheit zu Führenden in der Rolle der "Kinder Israel". 3. "in Babel und Niniveprophetische

Rede

Das Gedicht aber bleibt ungehört, die Poesie trifft nur auf Verachtung. In der Ballade von der Königin Bitterkeit hat Hermlin diese Erfahrung formuliert in Worten, die wiederum auf alttestamentarische Vorbilder verweisen. 29 Ich zitiere die 5. Strophe: Die Kinder entlaufen der schwachen Hand Und die Schwalben verachten den Schnee Und die toten Dichter sind nicht zu Gast In Babel und Ninive Denn alle suchen die lodernde Glut Von Schmerz und lebendiger Lust Doch dir sind die Wege des Sommers verharscht Ist im Brand nur die Asche bewußt Die "toten Dichter" sind schon zwei Strophen zuvor bestimmt worden als die Repräsentanten der poetischen Tradition, in der das lyrische Subjekt sich selbst begreift: "Ihr toten Dichter die ihr für mich spracht". In der 6. Strophe werden sie mit dem lyrischen Subjekt zusammengesehen als "der Poeten Brüderschaft": "Sieh um dich: auch jetzt bist du nicht allein: / Der Poeten Brüderschaft / Liegt in stinkenden Gossen hingefegt / Von toten Augen begafft". In der späteren Überarbeitung seiner Gedichte (ab 1956) hat Hermlin schon die 5. Strophe so abgeändert, daß sie nun lyrisches Subjekt und "tote Dich-

29

1942. Zuerst in "Zwölf Balladen...", S.20-22 (danach zitiert).

Jüdische Motive und Traditionen in den Exilgedichten Stephan Hermlins

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ter" einschließt; es heißt dort jetzt: "Und das Gedicht ist nicht zu Gast / In Babel und Ninive". 30 Die Schilderung der Verachtung, die "der Poeten Brüderschaft" in "Babel und Ninive" widerfahrt, bezieht sich offenbar auf die Erfahrung des Exils in den von Faschismus und Dekadenz verwüsteten "großen Städten". Sie werden bezeichnet mit den Namen zweier exemplarisch gottloser Städte des Alten Testaments: Babylons und Ninives. Daß gerade diese Städte genannt werden, kann signifikant sein. Es wären ja auch andere Namen denkbar gewesen; so hätte etwa unter dem Aspekt der Dekadenz ein Verweis auf "Sodom und Gomorrha" wohl näher gelegen. Der Name "Babel" aber könnte eine spezifischere Bedeutung besitzen: Er bezeichnet ja auch die Stadt, die in den Reden der alttestamentarischen Propheten die Verkörperung von Gottlosigkeit und Bedrohung zugleich ist (und darüber hinaus auch den Ort des jüdischen Exils). Wie in den Versen von der Offenbarung Gottes an Mose, so scheint auch hier über den expliziten Objektbezug hinaus ein impliziter Subjektbezug auf das lyrische Ich mitgesetzt zu sein: Der Dichter, der keine Aufnahme in "den großen Städten" findet und der allein "die Asche" der kommenden Verwüstung voraussieht, begreift sich selbst nach dem Bild der alttestamentarischen Propheten und bestimmt seine Poesie nach dem Modell prophetischer Heils- und Gerichtsrede. Ganz sicher gilt das für den zweiten hier genannten Städtenamen: "Ninive" ist nur als Adressat prophetischer Gerichts- und Bußrede biblisch bezeugt Es geschah das Wort des HERRN zu Jona, dem Sohn Amittais: Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen. (Jona 1,1-2) Und es geschah das Wort des HERRN zum zweitenmal zu Jona: Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage! Da machte sich Jona auf und ging nach Ninive, wie der HERR gesagt hatte. [... Da] predigte er und sprach: Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen. (Jona 3,1-3) Wer sein eigenes Wort explizit an "Ninive" richtet, gibt sich damit selbst implizit zu erkennen als ein neuer Prophet Jona. Und dieser prophetische Duktus prägt die Sprache der Hermlinschen Exilgedichte weithin. Auch dort, wo nicht ausdrücklich auf das biblische Modell hingewiesen wird, ist es im Pathos der Verkündigung und in der dialektischen Struktur von Gerichtsandrohung und Bußmahnung deutlich zu erkennen. So etwa in der Ballade von unserer Zeit mit einem Aufruf an die Städte der Welt (Strophe 1 und 5): 31 30

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Zitiert nach Stephan Hermlin: Gedichte. Leipzig 1963 u.ö. (Reclam, Bd. 124), S.16 (meine Hervorhebung). In einer gekürzten Fassung hat Hermlin das Gedicht mit der 5. Strophe enden lassen: in der Zeitschrift "Die Fähre" 2/1947, Heft 6, S.325f. 1942. Zuerst in "Zwölf Balladen...", S.38f. (danach zitiert). - Das prophetisch verkündigte Gericht kann über einzelne Städte und Völker hinaus der gesamten Welt gelten und so dezidiert apokalyptische Züge gewinnen - so in der Ballade von den Städteverteidigern (1942, zuerst in "Zwölf Balladen..."! S.29f., danach zitiert): "Immer eingedenk -

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Hört: unter uns hat sich eine seltsame Stimme erhoben Aus den verzweifelten Wäldern des Zwielichts der Einsamkeit Aus den verpesteten Wüsten die freudlose Stürme durchtoben Sagt eine ruhige Stimme beständig: Es ist an der Zeit! Hört: unter uns hat sich feine seltsame Stimme erhoben! [...] Hört den beleidigten Schwachen ihr irdischen Richter Städte! Wäre euere Stimme gleich einer Säule erwacht Als es Zeit war in unserer Mitte jählings - sie hätte Uns jenen zähnefletschenden Tieren verweigert Der Nacht Hört den beleidigten Schwachen ihr irdischen Richter Städte! Die Nähe dieser Verse zu denen vom brennenden Dornbusch ist evident. Geht es dort um jene Stimme, deren forderndes Wort "auf unserm Gebiet" "weilt", so wird in diesen (zwei Jahre früher entstandenen) Strophen von einer "seltsamen Stimme" gesprochen, die "sich unter uns erhoben" habe und "aus den verpesteten Wüsten" heraus spreche. Ist dort eindeutig auf den Bericht von der Theophanie am Berg Horeb angespielt, so läßt sich hier an die "Stimme eines Rufers in der Wüste" denken (Jesaja 40,3: "Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg ..."). Dennoch besteht zwischen beiden Texten ein entscheidender Unterschied. Hier nämlich bleibt es eigentümlich in der Schwebe, ob der Sprecher von einer anderen Stimme redet oder von seiner eigenen, ob er die Mahnung "Es ist an der Zeit" im Namen eines anderen oder aus eigenem Entschluß ausspricht. Ja es läßt sich nicht einmal eindeutig bestimmen, ob die "seltsame Stimme", auf die sich das "Hört" der 1. Strophe bezieht, identisch ist mit der des "beleidigten Schwachen", der das "Hört" der 5. Strophe gilt. Sicher scheint trotz dieser Ambivalenz der religiösen Bildlichkeit immerhin soviel: Die hier beschworene "Stimme" redet stellvertretend für die hier Angeredeten, die schuldhaft geschwiegen haben ("unter uns ... Sagt eine ruhige Stimme beständig: Es ist an der Zeit!" - "Wäre euere Stimme ... erwacht / Als es Zeit war in unserer Mitte"). Sie hat, auf welche Weise auch immer, mit der Stimme des hier Redenden zu tun: Er gibt wieder, was "die Stimme" sagt (oder umschreibt damit in der dritten Person die eigene Verkündigung); er ist es, der in prophetischer Geste verkündigt, anklagt, Gehör verlangt. Und er spricht, mindestens unter anderem, im Namen der Bedrohten und Verfolgten, der "beleidigten Schwachen": "Uns". Gegenüber dem auf die Berufung des Mose anspielenden Gedicht eröffnen diese Verse die Möglichkeit einer anderen, paradoxen Rollenbestimung des lyrischen Subjekts: Es könnte hier erscheinen als ein Prophet, der in keiner göttlichen Vollmacht mehr spräche und dennoch mit dem Unbedingtheitsanspruch eines hört es! - der Bündel giftiger Sonnen / Die Sebastopol leuchteten als das Gebirge begann / Seine apokalyptische Wanderung auf die Kolonnen" (8. Strophe).

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Propheten - zugespitzt: als ein Prophet nach dem 'Tode Gottes'. Eine solche Deutung bleibt vorläufig in hohem Grade spekulativ, wird von den eben zitierten Strophen zugelassen, aber keineswegs gefordert. Durch ein etwas später entstandenes Gedicht wird sie aber auf bemerkenswerte Weise gestützt: Die 1946 veröffentlichte Sammlung Die Straßen der Furcht wird eröffnet mit Versen, in denen die beiden hier untersuchten alttestamentlichen Bildbereiche unmittelbar verknüpft sind. Zunächst wird die prophetische Rollenbestimmung des lyrischen Subjekts in der Anrede an die eigene "Stimme" ausdrücklich imperativ formuliert: "Als Prophet sprich". Der zweite Teil dieses Satzes nimmt dann das Bild vom Dornbusch mit einer entscheidenden Änderung wieder auf: "Als Prophet sprich im verbrannten Strauche".72 Der sich hier in der Selbstanrede seiner eigenen Rolle vergewissert, setzt sich an den Platz, den zuvor (innerhalb des Hermlinschen Werkes heißt das: im Exilgedicht von den "Unsichtbar-Sichtbaren") der nur umschriebene, der ungenannte Gott eingenommen hat. Das ist kein Akt poetischer Selbstvergötterung. Am Ort der einstigen Theophanie sitzt der hier Redende nur insofern, als er im Namen des Ungenannten redet - auch "im verbrannten Strauche" noch immer (oder erst recht) "als Prophet". 4. "ringe unendlich mit der gewußten Gestalt": Jakobskampf An zwei Gruppen von Hörern wendet sich der Sprecher dieser Gedichte: an die Unterdrückten, die in der biblisch-poetischen Allusion als das Volk Israel erscheinen, und an ihre Unterdrücker in "den großen Städten". Daß "in Babel und Ninive" das Gedicht "nicht zu Gast" sei, beklagt die Ballade von unserer Zeit. Die Enttäuschung des exilierten Dichters jedoch, selbst von den eigenen Leidensgenossen nicht gehört zu werden, ins Leere zu reden, ist Thema schon des frühen Exilgedichts Wenn nun niemand hörte,33 Die biblischen Anspielungen erreichen hier eine größere Dichte als in den späteren Texten, und zugleich tritt ihr Zusammenhang mit der Exilsituation besonders deutlich in den Blick. Ich zitiere den vollständigen Text:

32 Stephan Hermlin: Die Straßen der Furcht. Singen [1946], S.9 (ohne Titel; Anfangszeile: "Andre mögen ihren Schmerz bezähmen"), Hervorhebung von mir. Vgl. Ertl, wie Anm.22, der diesen Vers zutreffend als Postulat der (auch hier am prophetischen Gestus vieler Gedichte veranschaulichten) "prophetischefn] Aufgabe des Dichters" versteht, ihn allerdings ohne Not auf Hermlins Verhältnis zu Hölderlin zurückführt (S.71ff.). 33 In den gedruckten Ausgaben nicht datiert, vermutlich entstanden um 1940 (Schlenstedt, wie Anm. 1, S.86: "eines der frühen poetischen Stücke"), ursprünglicher Titel: Variationen über zwei Themen des Paul Verlaine. Hier zitiert nach der Erstveröffentlichung in "Die Straßen der Furcht", wie Anm. 27, S.14. Der ursprüngliche Titel gilt diesem und einem zweiten Gedicht ("Dort wo wir Verbannte ...", S.15); er bezieht sich hier auf Verlaines Verse: "Ce qu'il nous faut ä nous, c'est l'ötude sans trfcve / C'est l'effort inoui, le combat non pareil, / C'est la nuit, l'äpre nuit du travail, d'oü se leve / Lentement, lentement l'Oeuvre, ainsi qu 'un soleil!"

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Wenn nun niemand hörte? Auch das neue Geschlecht nicht Mit dem entschlossen Du die erschütternde Straße ziehst? Sei still in Dir und befrage Dich: Mußt Du erst recht nicht Sagen vom Unsagbaren das Du im Sagbaren siehst? Keine Zweifel vermögen das Ja zu gefährden Und die Gefahr daß Deine Stimme im Rufen vergeht Überwältigt empfängst Du sie Denn Du weißt: einmal werden Fernere sein in der Größe vor denen Dein Sagen besteht Jedem ward seine Stimme Die Deine in Nacht zu verkünden Von diesem Nach-der-Nacht eilt Deinem Wege voraus Den Du ständig tätig bejahst Doch deine Worte finden Auf diesem Wege noch kein bereitetes Haus Darum ist Deine Nacht fatal! Doch im fahlen Gemäuer Ringe unendlich mit der gewußten Gestalt Singe sie maßlos auf steinigen Weg Und teuer Wird es auf einmal Vielen was Wenigen galt Das "Unsagbare" läßt sich trotz der pathetischen Überhöhung dieser Verse identifizieren: Gemeint ist offenbar die Epoche, die nach Krieg und Faschismus anbrechen wird und die sich in diesem sie dialektisch hervorbringenden gegenwärtig-konkreten ("sagbaren") Gegensatz schon ankündigt, also das aus der gegenwärtigen "Nacht" hervorbrechende "Nach-der-Nacht": der Sozialismus. Die Bestimmung der zukünftigen Epoche als einer nur aus der Negation der gegenwärtigen antizipierbaren gewinnt auch in diesem Gedicht deutliche Züge prophetischer Rede. "Sagen vom Unsagbaren das Du im Sagbaren siehst": diese Forderung beschreibt das Amt des Propheten, ebenso Wendungen wie "die Gefahr, daß Deine Stimme im Rufen vergeht", die der Dichter wie der Prophet "überwältig empfangt" und die ihn zwingt, "zu verkünden" (und zwar dem "neuen Geschlecht", vgl. etwa Psalm 25,13 oder 112,2, auch 37,28). Vor allem aber das zentrale Gegensatzpaar des Gedichts scheint von religiösem Denken bestimmt: die Paradoxie des zu sagenden Unsagbaren selbst. So wie hier Hermlin den kommenden Sozialismus umschreibt, so redet das Alte Testament vom Namen Gottes. 34 Mit diesem "Unsagbaren" kämpft das lyrische Subjekt, wenn es mit seiner Aufgabe ringt in seiner "fatalen" Nacht. Das "Ringen" nun wird in der letzten Strophe bemerkenswert wörtlich genommen: "Doch im fahlen Gemäuer / Ringe unendlich mit der gewußten Gestalt". An einen Ringkampf ist da offenbar gedacht, in der Nacht oder - wie das Adjektiv "fahl" andeuten könnte - in der Dämmerung; das zu sagende Unsagbare ist dabei vorgestellt im Bild einer übermächtigen 34

So in der Geschichte von Gottes Offenbarung an Mose aus dem brennenden Dombusch: "Mose sprach zu Gott: Siehe, wenn ich zu den Kindern Israel komme und spreche zu ihnen: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mir sagen werden: Wie ist sein Name?, was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich werde sein, der ich sein werde." (Ex 3,13-14a)

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menschlichen Gestalt, die es zu überwinden gilt. "Unendlich" wird dieser Kampf genannt und zugleich doch sein gewisser guter Ausgang proklamiert. Unbekannt ist der andere, insofern er das "Unsagbare" bedeutet - und gleichwohl ist er "die gewußte Gestalt". Das Modell, auf das diese Verse verweisen, ist der nächtliche Ringkampf Jakobs an der Furt des Jabbok: und [Jakob] blieb allein [an der Furt des Jabbok] zurück. Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. Und als er sah, daß er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk der Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragest du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. Und Jakob nannte die Stätte Pniel; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. (Gen 32, 25-31) "Darum ist deine Nacht fatal. Doch im fahlen Gemäuer / Ringe unendlich mit der gewußten Gestalt": Zunächst scheinen diese Verse das Ringen um die poetische Formulierung des - 'gewußten', aber unsagbaren - kommenden Sozialismus nach dem Bild des Kampfes Jakobs mit dem 'gewußten', aber unsagbaren Gott zu beschreiben. Implizit aber bestimmen sie wiederum die Rolle des lyrischen Subjekts nach dem Bild der alttestamentarischen Gestalt: Jakobs, der im Ringen mit Gott einen neuen eigenen Namen erwirbt - den des Gotteskämpfers 'Israel'. Auch dieses Gedicht wird damit durchsichtig auf ein alttestamentliches Modell hin, das in der säkularisierenden Übertragung nicht restlos aufgeht. 3 5 Formuliert in genuin jüdisch-religiösen Bildern und Begriffen, gewinnt die Auseinandersetzung mit der politischen Vision in solchem Ausmaß religiöse Züge, daß sie ihrerseits als Chiffre einer religiösen Auseinandersetzung erscheinen kann. Ich versuche, eine kurze Bilanz zu ziehen. (1) Die Untersuchung der Textbeispiele hat gezeigt, daß in einer Reihe von Exilgedichten Stephan Hermlins jüdisch-alttestamentarische Motive, Traditionen und Denkfiguren eine wesentliche Rolle spielen. (2) Deren poetische Funktion erschöpft sich aber nicht in einer säkularisierenden Übertragung auf durchaus profane Sachverhalte mit dem Ziel, diese mit einer quasi-religiösen Aura zu umgeben. Hinter den politischen Zustandsbestimmungen, Bekenntnissen und Appellen wird ein Vgl. dazu grundsätzlich das Schlußkapitel in Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Göttingen 1958; zu einem mit dem hier erörterten vergleichbaren Beispiel ders.: "Diese nach jüdischem Vorbild erbaute Arche": Walter Benjamins "Deutsche Menschen". In: Stephane Moses / Albrecht Schöne (Hrsg.): Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion. Frankfurt a.M. 1986, S.350-365, bes. S.356f.

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religiöser Horizont sichtbar, vor dem diese erst ihre Kontur gewinnen. (3) Bei allen hier erörterten Unterschieden scheint dieser Horizont doch grundsätzlich bestimmt zu sein durch die Auseinandersetzung mit dem, was man als 'negative Theologie' beschreiben könnte - und bleibt damit so ambivalent wie dieser Begriff. Mir scheint, man sollte den Texten, die selbst diese letzten Fragen sehr behutsam umschreiben, keine striktere 'religiöse' Festlegung abverlangen. Immerhin scheint die Eigenständigkeit der zunächst oft so epigonal anmutenden Gedichte auch mit dieser eigentümlich paradoxen religösen Fundierung zusammenzuhängen - und insofern auch mit Dichtungen anderer jüdischer Lyriker in der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts. 36 (4) Unmittelbar verknüpft mit den 'theologischen' Fragen ist in allen untersuchten Gedichten die Suche nach einer Rollenbestimmung des lyrischen Subjekts selbst, zumeist im engeren Sinne einer poetologischen Selbstvergewisserung. Als meta-poetische sind solche Verweise von grundsätzlich anderer Qualität als die Fülle der sonstigen literarischen Anspielungen und Zitate. Was hier in einigen Gedichten aus dem Exil sichtbar geworden ist, bleibt noch in jenem expliziten Harmonisierungsversuch virulent, den der exilierte Dichter nach der Rückkehr unternahm. Während in der Erzählung Zeit der Gemeinsamkeit der jüdische Kommunist Mlotek vor einigen der im Warschauer Ghetto kämpfenden Juden "über Lenins 'Briefe aus der Ferne'" spricht, erwachten in der Tiefe des nächtlichen Gettos die Legenden der Vergangenheit: irgendwo baute Rabbi Low einen neuen Golem. Todmüde, von Hunger und Alter zusammengesunkene Männer mit Patriarchenbärten verkündeten das Nahen des Messias. (126) Solche Vorstellungen bleiben in dieser Erzählung nicht beschränkt auf die Figurenperspektive einiger Frommer. Wenn wenig später der doch schon zum Scheitern verurteilte bewaffnete Aufstand beginnt, ist es, so der Binnenerzähler, im Lärmen der Maschinengewehre "um uns [die Kämpfenden] so still wie am Ende der Zeit". Und inmitten der Niederlage, angesichts des nahen Todes, ist es diesem Briefschreiber, "als ob es hinter der Waberlohe, die mich umgab, ein neues Land geben würde" (165). Die letzten Worte des Rahmenerzählers nehmen dieses Motiv wieder auf: Mit dem Heimischwerden in der Welt, sagte ich mir, ist es nicht so leicht. Zugleich war mir, als müsse ich aufbrechen, ohne Ver36

D e r nächstliegende, vermutlich bekannteste und sicher meistuntersuchte Vergleichsfall w ä r e die Lyrik Paul Celans (über deren ästhetische Unvergleichlichkeit hier kein Wort gesagt werden muß) - vgl. etwa das Kapitel "Das Nichts in der Mandel" in Peter Horst N e u m a n n : Zur Lyrik Paul Celans. Göttingen 1968, S.28-43; das Kapitel "Blume - ein Blindenwort" in Albrecht Schöne: Literatur im audiovisuellen M e d i u m , München 1974, S. 138-158; kritisch Horst Turk: Politische Theologie? Zur "Intention auf die Sprache" bei Benjamin und Celan, in: Moses/Schöne, wie A n m . 35, S.330-349.

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zug, irgendwohin, um die suchen zu gehen, die feurige Türen hinter sich zugemacht hatten. (165) Ein Sieg jenseits der Niederlage, ein Leben jenseits des Todes, eine Hoffnung jenseits der Zeit: Die dem Anschein nach dominierende sozialistische Perspektive scheint in solchen Vorstellungen ihrerseits überboten durch eine eschatologische, messianisch-religiöse. Hermlin 1989, zurückblickend: [...] in mir hatte eine Umwälzung stattgefunden, die dazu führte, daß ich mit sechzehn Jahren Kommunist wurde, also eintrat in den kommunistischen Jugend verband. Damit stempelte ich mich selbst formal zum Atheisten. Ich bin im Grunde genommen ein religiöser Atheist. Religiöse Gedanken und religiöse Vorstellungen spielen in meinem Sozialismus- und Kommunismusverständnis eine sehr große Rolle. 37 Etwas von dieser in keiner politischen Utopie ganz aufgehenden Hoffnung läßt sich, scheint mir, auch in den Gedichten aus dem Exil entdecken: in ihrem prophetischen Gestus, ihren apokalyptischen Visionen und ihrem Ringen mit dem, was sie das "Unsagbare" nennen.

37

Hermlins Gespräch mit Herlinde Koelbl, wie Anm. 1, S. 112.

Jürgen Nieraad (Jerusalem) Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert Nach-Gedanken zu einer Konferenz1

Die neuere abendländische Literatur wird mit einem im Exil geschriebenen Werk eröffnet: der Commedia des aus Florenz verbannten Dante Alighieri. Zwischen 1830 und 1848 haben 220 000 Menschen aus ihrer deutschsprachigen Heimat fliehen müssen, darunter Heine, Börne, Büchner. Von unserem Jahrhundert ist mit Recht gesagt worden, daß der Exulant seine Schlüsselfigur sei. Nach dem Amnesty-Bericht von 1985 werden in 122 Ländern Menschen aus ihrer Heimat verjagt. Die Hälfte der iberoamerikanischen Literatur der Gegenwart ist im Exil entstanden, in München gibt es 3000 deutschsprachige, aber auch 500 fremdsprachige Autoren 2 , ein Fünftel der Mitglieder des bundesdeutschen PEN sind ehemalige DDR-Bürger 3 . Der 1934 gegründete 'Deutsche Exil-PEN' wird als 'PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland' bis heute weitergeführt, es dokumentiert 4 das fortgesetzte und das neue Exil deutscher Schriftstellernach 1945. Exil und Exilliteratur hat es zu allen Zeiten gegeben, aber es ist wohl noch nie eine ganze nationale Literatur in so radikaler und rabiater Weise ausgebürgert worden, wie das unter dem deutschen Nationalsozialismus geschehen ist. Diese Literatur ist zu großen Teilen auch nach 1945 nicht wieder eingebürgert worden, und erst mit Jahrzehnten Verzögerung hat sich, dann allerdings mit Vehemenz, die bundesdeutsche Germanistik auf sie besonnen: seit Mitte der sechziger Jahre kann die Exilliteraturforschung als etablierte Disziplin gelten, mit eigenen Organisationen, Publikationsorganen, Kongressen etc. 5 . Wie jeder sich neu herausbildenden Disziplin, so ging und geht es auch der Exilliteraturforschung, sofern sie sich nicht schlicht damit zufriedengibt, 1

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Die Titel-Differenzierung von Exil und Emigration bezieht sich hier auf die jüdischdeutschsprachigen Autoren außerhalb des deutschen Sprachraums überhaupt und in Palästina/Israel im besonderen. Vgl. Horst Bienek: Das allmähliche Ersticken von Schreien. Sprache und Exil heute. München 1987. Vgl. Günter Kunert (Hrsg.): Aus fremder Heimat. Zur Exilsituation heutiger Literatur. München 1988. Vgl. Karin Reinfrank-Clark (Hrsg.): Ach, Sie schreiben deutsch? Biographien deutschsprachiger Schriftsteller des Auslands-PEN. Gerlingen 1986. Vgl. dazu die Darstellung Emst Loewys in: Exil 1933-1945. Frankfurt 1981. Bd. I, Einleitung.

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Exilliteratur mit aller im Exil geschriebenen Literatur zu identifizieren, um die Vergewisserung der Grenzen und der spezifischen Eigenschaften ihres Gegenstandsbereichs: Welche Kriterien berechtigen dazu, einen Text als der Exilliteratur zugehörig zu bezeichnen? Die Jerusalemer Konferenz gab mit ihrem Thema eine weitere, erstaunlicherweise in der Forschung noch nicht systematisch behandelte Frage auf: die nach dem jüdischen Anteil und Status deutschsprachiger Exilliteratur. Der Konferenzverlauf selbst brachte dann eine dritte und, wie mir scheint, sehr bedenkenswerte Problematik zutage, die auf die Sprache, den Diskursmodus der Exilliteraturforschung selbst zielt. 1 Der seinerzeit von Wien nach Berlin übersiedelte oder, wie er selbst es sehen wollte, 'emigrierte' österreichische Schriftsteller Oswald Wiener hat dort in den sechziger Jahren eine Kneipe geführt, die den Namen 'Das Exil' trug. Dichterexistenz in der bürgerlichen Gesellschaft, das sollte wohl damit gesagt sein, ist immer Exilexistenz. Der staatlich vollzogene Exilierungsakt bringt insofern keine grundsätzliche Veränderung der Situation, wenn auch deren Verschärfung, bedeutet keinen Bruch im bisherigen Schaffen, sondern dessen Fortsetzung unter ungünstigeren Bedingungen. Daß in diesem Sinne ein Exil schon vor der Vertreibung bestanden habe und an der Kontinuität des Werkes über die biografische Zäsur hinweg sich dokumentieren lasse, ist für Döblin 6 und Toller 7 etwa gezeigt worden. Kritisch hat solche Kontinuität Menno ter Braak 1934 in einer im "Neuen Tagebuch" erschienenen Polemik angesprochen: "Die Emigrationsliteratur soll mehr sein als eine Fortsetzung." Was von ihm und dann auch von Hans Sahl gefordert wird, ist eine Revision der bislang geübten literarischen Praxis angesichts von Entwicklungen, denen gegenüber sich diese als ohnmächtig erwiesen hatte 8 . Besteht man - und wohl zu Recht - gegenüber seiner metaphorischen Universalisierung im Sinne geistiger Isolation oder gar anthropologischen 'Unbehaust-seins' auf 'Exil' im Wortsinn der politischgesellschaftlichen Gegebenheit seit 1933 und sucht daraus 'die' Exilliteratur herzuleiten, dann aber nur mit der Einschränkung, daß eine Gesamtaussage über sie nicht möglich ist, da die Exilsituation zwischen der Machtübergabe und dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft keine Einheit darstellt, also die Rekonstruktion eines einheitlichen Bezugskontextes für die in diesem Zeitraum entstandene 6

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Vgl. Manfred Auerbach: Das Exil vor der Vertreibung. Motivkontinuität und Quellenproblematik im späten Werk Alfred Döblins. Bonn 1977. Vgl. Wolfgang Frühwald: Kunst als Tat und Leben. In: Sonderband des Literaturwissenschaftlichen Jahrbuchs. Berlin 1971, S.361-389. Vgl. dazu Jan Berg, Hartmut Böhme u.a.: Sozialgeschichte der deutschen Literatur von 1918 bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 1981. S.425f.

Deutsch-jüdische Exil- und Emigrationsliteratur im 20. Jahrhundert

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Literatur nicht zuläßt. 9 Nach der allgemein akzeptierten Periodisierung standen nämlich die ersten Jahre des Exils mit Verlags- und ZeitschriftenNeugründungen im Zeichen der Verlagerung des deutschen Literaturbetriebs ins Ausland und des Aufbaus einer Exil-Literaturorganisation, wobei eine signifikante Politisierung der Literatur zu beobachten ist, der dann mit dem Bemühen um die Bildung einer Volksfront in den Jahren bis Kriegsbeginn eine starke Polarisierung folgte. Die Kriegsjahre schließlich mit dem später absehbaren Ende der Nazi-Diktatur standen unter den Bedingungen erneuter Vertreibung, der Bildung neuer Zentren außerhalb Mitteleuropas und der sich abzeichnenden Möglichkeit einer Rückkehr in die Heimat. Unter diesen Prämissen sind Vorschläge 10 gemacht worden, kategorial verschiedene, zum Teil interdependente Gesichtspunkte anzunehmen, die gebündelt und in je verschiedener Dominanz entsprechend den oben skizzierten Phasen des Exils den Gegenstand 'Exilliteratur' wenn nicht schlüssig definieren, so doch einkreisen. Diese Gesichtspunke sind geographischer, ideologischer, literatursoziologischer, pragmatischer und literarästhetischer Natur: - geographisch nach Zentren des Exils; - ideologisch im Sinn der Dominanz antifaschistischer oder kämpferisch humanistischer Einstellungen und eines rationalen Weltbildes; - literatursoziologisch nach spezifischen Formen der Distribution und Rezeption; - pragmatisch nach spezifischer Orientierung an Wirkung und Verständlichkeit; - literarästhetisch nach spezifischen Themen, Motiven, Gattungs- und Genrepräferenzen, stilistischen Tendenzen. Diese hier angesprochenen Definitionsprobleme und die in diesem Zusammenhang unvermeidliche Kontroverse zwischen 'minimalistischen' und 'maximalistischen' Optionen blieben allerdings im Vorfeld der Jerusalemer Konferenz, die die weitergehende Frage nach den signifikanten Merkmalen einer jüdisch-deutschen Exilliteratur und damit auch diejenige nach dem spezifischen Charakter der 'Jüdischkeit1 jüdisch-deutscher Literatur überhaupt zur Diskussion stellte.

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Vgl. das Kap. Literatur im Exil in ebd., S.419-468. Vgl. z.B. Guy Stem: Prolegomena zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Stephan Wagner (Hrsg.): Schreiben im Exil. Bonn 1985, S. 1-17; ders.: Themen und Aspekte der Exilliteratur. München 1989; Werner Vordtriede: Vorläufige Gedanken zu einer Typologie der Exilliteratur. In: Akzente 15 (1968) S.556-575; Manfred Durzak (Hrsg.): Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Stuttgart 1973, Einleitung; Emst Loewy (Hrsg.): Exil. Literarische und politische Texte aus dem deutschen Exil 1933-1945. Frankfurt 1981. Bd 1, Einleitung.

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2 "Sie sind ein Jude? Man hört es nicht, man sieht es nicht, man fühlt es nicht, und man bezahlt es nicht! Es ist ja unglaublich ..." - dieses von der jüdischen Hauptfigur in Fritz Mauthners Der neue Ahasver ausgesprochene 'Lob' ist zu verstehen vor dem Hintergrund der Emanzipationsgeschichte des deutschen Judentums, einer Emanzipation um den Preis der Assimilation, sei's also der Aufgabe oder doch der erzwungenen Maskierung jüdischer kultureller Identität 11 : Hätte die offene Darstellung jüdischer Wirklichkeit und Problematik von Anfang an als der natürliche Auftrag deutschsprachiger Autoren jüdischer Herkunft gegolten, wäre vielleicht die Beschnüffelung jüdisch-literarischer Leistungen, die Suche nach dem anrüchig 'Jüdischen' hinter einer neutralen Fassade, ausgeblieben. 12 Die Problematik ist erstmals in der Anfang unseres Jahrhunderts auf literarischem Felde ausgetragenen Kontroverse zwischen Nationaljudentum und Assimilationsjudentum 13 offen angesprochen worden. Von jüdischer Seite wurde damals eine offensive Bestimmung des 'Jüdischen' in der Literatur versucht. So hat Moritz Goldstein in seinem Expose Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur den 'jüdischen Geist' als Charakteristikum dieser Literatur bezeichnet: Geist des jüdischen Volkes - das ist der Blick von unten, ist die Welt, gesehen von den Entrechteten [...] das durch unendliche Leiden gesteigerte Mitgefühl mit den Kleinen, den Schwachen, den Unglücklichen [...] das ist Desillusionierung; das ist der Blick, der durch die Hüllen dringt und die Wahrheit nackt sieht [-]14 Was hier und immer wieder auch später15 als 'jüdische Wesensart' ausgegeben wird, ist also eine spezifische Solidarität von Unterdrückten mit Unter11

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"Dem unendlichen Rausch der jüdischen Begeisterung hat nie ein Ton entsprochen, der in irgendeiner Beziehung zu einer produktiven Antwort an die Juden als Juden gestanden hätte, das heißt der sie auf das angesprochen hätte, was sie als Juden zu geben, und nicht auf das, was sie als Juden aufzugeben hätten." (Gershom Scholem: Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen Gespräch. In: Scholem, Judaica 2. Frankfurt am Main 1970, S.711, hier S.9) Jacob Katz: Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum. In: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Bd. 5. Tübingen 1986, S. 129-138, hier S. 138. Vgl. dazu Hanni Mittelmann: Die Assimilationskontroverse im Spiegel der jüdischen Literaturdebatte am Anfang des 20. Jahrhunderts. In: ebd., S. 150-161. Zitiert nach Mittelmann, ebd., S. 160. Vgl. z.B. S. Bendkower (Neue Zürcher Zeitung 1./2.4.1989), der inbezug auf die Werke Arthur Millers und Jerome D. Salingers von ihrem "spezifisch jüdischen Resonanzboden dank ihrer sozialen und moralischen Sensibilität" spricht.

Deutsch-jüdische

Exil- und Emigrationsliteratur

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drückten. Aus neuerer psychoanalytischer Sicht wird das Moment der Andersheit betont, das aus der Übernahme und Verinnerlichung des von der herrschenden Referenzgruppe geprägten Bildes resultiert und sich als Schuldbewußtsein und Selbsthaß äußert. 16 Solche Zuschreibungen gründen offensichtlich in der kulturell oder volksgeschichtlich unspezifischen Zugehörigkeit der Juden zu einer Minorität, aus der als einer sozialen Gegebenheit dann das 'Jüdische' abgeleitet wird. Es wäre mithin lediglich Paradigma der Situation und des Verhaltens von Minoritäten überhaupt 17 und methodisch dann auch in diesem Kontext zu diskutieren. Andererseits: Minoritäten, denen die bürgerliche Gleichstellung nur um den Preis der Aufgabe ihrer kulturellen Identität gestattet wird, nehmen, beim Scheitern des Emanzipationsprojekts, den Preis zurück. Es erfolgt eine bewußte Wendung zur eigenen Kultur hin, die Vergewisserung und Behauptung der eigenen traditionellen Werte und Optionen. Das Judentum des späten 19. und des 20.Jahrhunderts ist, jedenfalls zu Teilen, diesen Weg gegangen. Solche Rückbesinnung gilt aber in diesem Fall einer sehr signifikanten 4000jährigen kulturell-religiösen Tradition, die der in diesem jüdischen Geist geschriebenen deutschsprachigen Literatur einen doch sehr eigenen Charakter verleihen dürfte. Jüdisch-deutsche Literatur allzu ausschließlich als Paradigma einer Minoritätenliteratur sehen hieße dann also doch wohl eine zu unspezifische, zu wenig trennscharfe Perspektive einnehmen. Man wird eine zwischen der weiten Position des Paradigmatikers dort, der engen Position des nach 'jüdischen', d.h. in der Regel alttestamentarischen Motiven, Bildern, Themen Fahndenden hier vermittelnde Blickrichtung suchen müssen. Auf die weitergehende Frage nach den besonderen Zügen einer jüdischdeutschen Exilliteratur bietet sich zunächst eine Alternative an: - entweder die Minoritäten-Situation wird für den jüdischen exilierten Autor aufgehoben in der Minoritäten-Situation der exilierten Autoren überhaupt, die literarische Verarbeitung seiner jüdischen Identität tritt zurück hinter den spezifischen, nunmehr den literarischen Ausdruck prägenden Anforderungen, Erfahrungen, Themen des Exils, mit denen alle Exilierten konfrontiert sind; - oder die Minoritäten-Situation verschärft sich im Exil, insofern der jüdische Autor als Exulant und als Jude in einem doppelten Exil lebt, eine Erfahrung des Fremdseins, die ihn auf seine Wurzeln, seine jüdische Identität und deren literarische Vergewisserung, zurückverweist. Alternativen markieren Extreme, aber· sie schließen auch aus, man sollte ihnen nicht zu voreilig trauen. Lion Feuchtwanger hat 1933 auf die Frage, ob er sich als deutscher oder als 16

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Vgl. Sander L. Gilman: Jewish Self-Hatred. Anti-Semitism and the Hidden Language of the Jews. Baltimore 1986; Margareta Pazi: Franz Kafka, Max Brod und der .Prager Kreis 1 . In: Karl Erich Grözinger, St6phane Moses, Hans Dieter Zimmermann (Hrsg.), Kafka und das Judentum. Frankfurt am Main 1987. S.71-92, hier insbes. S.82. So etwa Beda Allemann: Fragen an die judaistische Kafka-Deutung. In: ebd., S.35-70, hier insbes. S.66, Fußnote 3.

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jüdischer Autor betrachte, geantwortet, er fühle sich als internationaler Schriftsteller. Wahrscheinlich seien seine Inhalte mehr jüdisch bestimmt, seine Form mehr deutsch. Diese Selbsteinschätzung ist insofern interessant, als sie - neben der simplen Annahme, daß der jüdische Autor im Exil seine jüdisehe Identität zurücknehme oder stärker hervorkehre - eine dritte Möglichkeit eröffnet: daß nämlich der exilierte jüdische Autor 'internationaler' denkt, handelt, schreibt als sein nicht-jüdischer Mitexulant. Für einen derartigen spezifisch jüdischen 'Internationalismus' spricht jedenfalls die Tatsache, daß für den jüdischen Autor die Vertreibung aus Deutschland in ungleich einschneidenderem Sinne als für den nichtjüdischen Exulanten eine "journey of no return" (Zuckmayer) war. Jenem ist der Gedanke an Rückkehr, der Blick in Richtung 'Heimat' weitaus endgültiger als diesem verwehrt, steht unter weitaus strengerer Zensur. Diesen hat ein Regime ausgestoßen, nach dessen Zusammenbruch die Heimat wieder offen steht, jenem wird das Deutschland der Juden-Verfolgung und -Ermordung nie mehr wieder zur Heimat werden können 18 . Die Exilierung bedeutet, mit anderen Worten, dem jüdischen Autor der unwiderrufliche Verlust der Heimat und zwingt ihm damit eine internationale Orientierung auf. Dies mag zum Ausdruck kommen in einer positiveren Haltung zu den Forderungen von Anpassung, Akkulturation, Spracherwerb, aber auch in der Wirkungsintention, der Übersetzungsgeschichte, dem Bild des Zielpublikums, für das der jüdische Autor schreibt oder schreiben möchte 19 . Eine solche Orientierung aber verträgt, ja fordert geradezu die Akzentuierung seiner, der jüdischen als einer national-literarisch und -kulturell nicht gebundenen und in diesem Sinne eben auch 'internationalen' Tradition. Hier also wäre dann der Ort, in freilich anderer theoretischer Akzentuierung doch auch nach Themen, Motiven, Schreibweisen jüdischer Provenienz zu fragen. Diese ganzen Überlegungen sind sehr spekulativ, sie spiegeln damit aber nur den Stand der Exilliteraturforschung in diesem Punkt: nach den Spezifika des jüdischen Exils und seiner Literatur wäre allererst noch zu fragen, und auch die Jerusalemer Konferenz hat daran nicht viel geändert, immerhin aber doch auf die Fragestellung überhaupt einmal hingewiesen.

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Vgl. die Untersuchung von Joachim Meynert: Zur Ambivalenz einer Annäherung. Jüdische Emigration und Nachkriegs-Deutschland. In: Tribüne 1989 H.110, S. 113-121. Vgl. die in diesem Zusammenhang vielleicht nicht zufällige Feststellung Ehrhard Bahrs: "The German exile writers never became an integral part of California's culture because, while living in Los Angeles, they kept their eyes fixed principally on Germany. Only a few of them selected American localities as settings for their works. One of these exceptions was Lion Feuchtwanger [...]" (Literary Weimar in Exile: German Literature in Los Angeles, 1940-1958. In: Literary Exiles and Refugees in Los Angeles. William Andrews Clark Memorial Library, Univ. of California, Los Angeles. 1988, S.21).

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3 Forschung zur jüdischen Exil- und Emigrationsliteratur unseres Jahrhunderts muß, zumal wenn sie sich an einen Ort wie Jerusalem begibt, noch immer damit rechnen, hinter den Schanzwerken ihrer Fragestellungen und ihres Materials, der Dokumente, Deutungen, Bio- und Bibliografien plötzlich auf den lebendigen Menschen zu stoßen, den Betroffenen, Fremden, Zeitzeugen konfrontiert zu werden also mit der Wirklichkeit, worüber man als seinem 'Gegenstand' in der Sprache der Generalisierung und Subsumierung verfügen zu können glaubt. Solche Konfrontation unterbricht den glatten Fluß der theoretischen Rede - eine Untiefe, die über den Einzelfall hinaus einen Diskurs auflaufen läßt, von dem man plötzlich vermuten muß, daß er, indem er über das Exil so spricht, wie er darüber spricht, vielleicht denen, die Gewalt erlitten haben, ein zweites Mal Gewalt antut. Was damit gemeint ist, kam wohl am deutlichsten in der eher beiläufigen Pausenbemerkung einer Teilnehmerin zum Ausdruck, die, selber Exulantin, sagte, es tue ihr weh zu hören, wie - und sie meinte: mit welchem Abstand - hier über das Exil, das ja individuelle Schmerz- und Leiderfahrung bedeute, gehandelt werde. Es ist die Frage nach der Sprache der Exilliteraturforschung, die damit zur Diskussion steht. Theorie bezahlt ihre definierenden und strukturierenden Zugriffe immer mit einem Verlust an Erfahrungs- und Erlebniswirklichkeit, und es ist dann nur die Frage, wie hoch jeweils der Preis ist. Die Gewinn- und Verlustrechnungen, die da aufgemacht werden, berufen sich auf wissenschaftstheoretische Vor- und Grundentscheidungen, sei's im analytisch-konstruktivistischen, sei's im kritisch-hermeneutischen Sinn. Angesichts der Erfahrungen unseres Jahrhunderts und deren theoretischer 'Verarbeitung' stellt sich die Frage in verschärfter Form. Ein französischer Historiker schreibt, er habe Tausende von Dokumenten überprüft und - vergeblich - einen einzigen ehemaligen Deportierten gesucht, der ihm hätte beweisen können, "tatsächlich und mit eigenen Augen" eine Gaskammer gesehen zu haben20. Den geforderten ,Beweis' könnte in der Tat nur das Opfer der Gaskammer selbst erbringen, das, als totes Opfer, keine Zeugenschaft ablegen kann und als Überlebender seine Behauptung von der tödlichen Funktion der Gaskammer widerlegt. Unter den Bedingungen der Logik und des darauf abgestellten strafrechtlichen Diskurses kann also kein Beweis der Existenz der Gaskammern 'mit letzter Sicherheit' erbracht werden, zugespitzt: beweist jeder 'Beweis' ihrer Existenz gerade ihre Nicht-Existenz, während die Unmöglichkeit solches Existenzbeweises den Beweis ihrer Existenz enthält. Diese konstruierte logische Paradoxie ist Ausdruck einer aufstörenden Erfahrung, die uns die NS-Prozesse vermittelt haben: daß näm20

E. Faurisson in: P. Vidal-Naquet (Hrsg.): Les juifs, la mimoire et le präsent. Paris 1981, S.227.

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lieh hier verschiedene Diskurswelten - die juristisch-strafrechtliche der lückenlosen Täterüberführung; die der unmittelbaren Betroffenheit der Opfer, denen auch das Schweigen eine Sprache ist; die pragmatische des Wissens um die allgemeinen Zusammenhänge und die fraglose Schuld der Angeklagten zusammenstoßen und ein Dilemma produzieren. In seinem 1983 erschienenen Buch Le Different·1 geht Jean-Francois Lyotard von dieser Nach-AuschwitzSituation aus und entwickelt an ihr sein Konzept des 'Widerstreits', der sich dann entspinnt, wenn die 'Beilegung' eines Konflikts zwischen zwei Parteien im Idiom der einen sich vollzieht, während das Unrecht, das die andere erlitten hat, in diesem Idiom nicht figuriert. Für die Literaturwissenschaft wirft diese Situation zwei Fragen auf, eine kritisch an die Literatur gerichtete und eine selbstkritische. Wie, zum einen, setzt sich Literatur mit realer Gewalt auseinander? Die erzählerische Vergegenwärtigung eigener oder fremder Gewalterfahrung wird wohl dann problematisch, wenn die sinnstiftenden Ideologien nicht mehr genügend Interpretations- und Absorptionskraft besitzen oder aber wenn die Gewalterfahrung derart 'überwältigend' ist, daß sie die Auffangkraft der zur Verfügung stehenden Ideologien übersteigt. Erste Signale der Problematik dürfte man also gegen Ende des 18. Jahrhunderts erwarten, mit dem sich abzeichnenden Zusammenbruch des 'Projekts der Moderne' und dem Aufkommen eines europäischen Nihilismus 22 . Autoren wie Kleist, Jean Paul, 'Bonaventura' haben da Zeichen gesetzt. Spätestens aber war es dann die Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs, die das 'primitive Epische' unter Verdacht gestellt hat, jene Art des beruhigend-sinnstiftenden Erzählens, von dem Musil sagt: Wohl dem, der sagen kann 'als 1 , 'ehe' und 'nachdem'! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen [...] Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler [...] sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen 'Lauf habe, irgendwie im Chaos geborgen. 23 Literatur, und erzählende Literatur zumal, stiftet Sinn, und die erzählerische Darstellung noch des Schrecklichsten gerät zu dessen beruhigender Aufhebung in einem umfassenden Sinnzusammenhang. 24 In dem auf den Faden der 21 22

23

24

Jean-Francois Lyotard: Le Differend. Paris 1983. Dt.: Der Widerstreit. München 1987. Vgl. dazu Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1981. Bes. Kap. VII. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. [I, Kap. 122]. Gesammelte Werke 2. Reinbek b. Hamburg 1978. S.650. Vgl. Christian Enzensberger: Literatur und Interesse. Frankfurt 1981.

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Erzählung gebrachten Chaos fühlt sich der Leser in Sicherheit. Dies bedenkend hat sich Peter Weiss notiert: "Kann man überhaupt von einem 'Stil' reden, wenn es darum geht, Not, Elend, Schmerz, Ausplünderung zu schildern?" 25 In der anhaltend diskutierten Frage, in welchem 'Stil' also Literatur mit Gewalt, und mit der in unserem Jahrhundert praktizierten Gewalt insbesondere, sich auseinandersetzen könne, steckt nun die andere, Exilliteraturforschung direkt betreffende Frage: Wie nämlich verfährt die Literaturwissenschaft mit einer Literatur, der in auszeichnendem Sinne Gewaltverhältnisse als Thema und biografische Erfahrung zugrunde liegen? Handelt es sich dabei nach der Szenerie, die Lyotard in seinem Buch zunächst entwickelt und Peter Weiss in Die Ermittlung zeigt, um verschiedene miteinander in Konflikt liegende Diskursebenen, wobei der Sieg der einen das Verstummen der anderen bedeutet, die das Exil und seine Literatur konstituierenden Gewalt- und Schmerzverhältnisse im wissenschaftlichen Sprechen darüber, im Diskurs der Exilliteraturforschung also, spurlos verschwinden? Die Frage, so gestellt, legt eine Alternative nahe, die sicher nicht zu akzeptieren ist: die nämlich von theoretischer Außenperspektive versus empathetischer Innenperspektive, von Verzicht entweder auf Erfahrungswirklichkeit oder Anspruch auf Intersubjektivität. Nun hat aber, daran ist jetzt zu erinnern, Lyotard selbst das antagonistisch-agonale Aufeinandertreffen verschiedener Diskurse durchaus positiv bewertet: Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet. Dieser Zustand enthält das Schweigen als einen negativen Satz, aber er appelliert auch an prinzipiell mögliche Sätze [...] Für eine Literatur, eine Philosophie und vielleicht sogar eine Politik geht es darum, den Widerstreit auszudrücken, indem man ihm entsprechende Idiome verschafft. 26 Das Idiom, um das es hier geht, kann natürlich keine abschließend-versöhnende Metasprache sein, es muß das vielmehr ein Idiom sein, das die Spannung zwischen individueller, literarisch zur Sprache kommender Leidenserfahrung und typisierender Abstraktion produktiv austrägt. Das setzt beim Wissenschaftler voraus, daß er bereit sein muß, "mit dem Monopol, das dem kognitiven Regelsystem von Sätzen über die Geschichte eingeräumt wird, [zu] brechen und das Wagnis auf sich [zu] nehmen, auch dem Gehör zu schenken, was im Rahmen der Regeln der Erkenntnis nicht darstellbar ist" 27 . Der Diskurs der Exilliteraturforschung sollte und kann in dieser Hinsicht offener sein. Die Jerusalemer Konferenz hat ansatzweise gezeigt, was das kon25 26 27

Peter Weiss: Notizbücher. 1971-1980. Frankfurt am Main 1981. S.242. Lyotard, Der Widerstreit, a.a.O., S.33. Ebd., S.107.

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kret bedeuten könnte: bei der Programmgestaltung eine Kombination von wissenschaftlichen Vorträgen, Textlesungen und oral history-Elementen vom Gegenstandsbereich her etwa das betonte Interesse an epistolografischem Schrifttum, Textsorten also, die in besonderem Maße der Verarbeitung und Mitteilung persönlicher Erfahrungen dienen; methodisch Ansätze, die es erlauben, Textverlauf und Körpergefühl in der Lektüre aufeinander zu beziehen und ineinander zu spiegeln. Exilliteraturforschung sollte - neben allem weiteren Bemühen um Abgrenzungen und interne Strukturierungen ihres Gegenstandsbereichs - auch über ihre Sprache weiter nachdenken.

Shulamit Arnon (Bet-Schemesch) Ein Brief, der nie geschrieben wurde Zum Andenken an meinen Vater Dr. David Schlossberg

Tel-Aviv, den 15.7.39 Lieber Alex, Du kennst mich und weißt, daß Briefeschreiben nicht meine starke Seite ist. Eher kann ich einen Artikel formulieren oder eine Rede halten, doch das Briefeschreiben setzt eine Art von Gefühlsduselei voraus, die mir fremd ist, immer fremd war und es auch aller Wahrscheinlichkeit nach bleiben wird Warum schreibe ich also doch? Das Meer, das ich von Sulas Fenster aus sehen kann, trennt uns voneinander, der kommende und unvermeidliche Krieg wird es endgültig tun. Daß er kommen wird, ist mir klar, wer von uns ihn überleben wird, wissen wir nicht. Wer wie ich mit Hitlers Trabanten zu tun gehabt hat, gibt sich keinen Illusionen hin, ich traue ihm alles zu, und unter gewissen Umständen wäre auch Palästina nicht weit genug entfernt, um uns zu retten ... Ja, Palästina. Wollte ich dir nicht davon erzählen? Wir sind nun schon über fünf Monate hier, und doch kann ich immer noch nicht sagen, wie ich gefühlsmäßig dazu stehe. Es ist mein Bruder F., der mich und meine Familie im letzten Moment gerettet hat, ich bin mir dessen bewußt und werde es nie vergessen, und doch ist es eines, einem ein Zertifikat zu schicken, und ein anderes, einem die ersten Monate in einem fremden Land zu erleichtern. Vielleicht hat die Familie zu viel von ihm verlangt: immer war er der Geldgeber, der Helfer in jeder Not, immer hat er gegeben, aber eher aus Pflichtbewußtsein als aus Liebe, und eben diese Liebe fehlt mir. Ich glaube, daß wir mit unserem Kommen die ganze Familie erschreckt haben: drei weitere Münder, die gefüttert werden müssen, zwei weitere Akademiker in einem armen, kleinen Land, das von deutschen Akademikern überschwemmt wird. Das erste, was er zu uns sagte, war: "Ich würde mich an eurer Stelle am ersten Laternenpfahl aufhängen!" Er hat es sicher nicht so gemeint, wäre auch bestimmt als Kaufmann und Hotelier nie in unsere Lage gekommen, aber es war vielleicht der Ausdruck seiner Geringschätzung den Akademikern der Familie gegenüber, die trotz ihrer Bildung immer von ihm abhängig blieben. Vielleicht waren es unterschwellig auch seine Minderwertigkeitskomplexe, die er uns gegenüber nie ganz überwunden hat: wir hatten studiert, während er die Eltern unterstützen mußte ...

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Da war noch einiges mehr: Meine Schwester Esther, die uns unsere Geschenke vor die Füße warf, da es deutsche Ware war, die Überheblichkeit der jungen Generation, für die wir arme Immigranten waren, merkwürdig gekleidet, bleich, noch nicht von der hiesigen Sonne gebräunt, fremd eben ... Aber genug von der Familie, die schon immer problematisch und wenig erfreulich war. Man könnte Bücher über sie schreiben. Thomas Mann konnte es, er hätte es auch in meinem Fall getan, aber ich bin kein Schriftsteller, und bei Martha reicht es gerade für Gelegenheitsgedichte und kleine Aphorismen, die oft ganz nett sind, doch ihr fehlt die Fähigkeit, klare Grenzen zwischen Echtem und Kitschigem zu ziehen, so wird sie nie etwas wirklich Bedeutendes schreiben, auch wenn sie Hebräisch könnte, was sie nie können wird ... und das, obwohl sie sich ernstlich Mühe gibt, stundenlang Grammatik paukt, Konjugationen auswendig lernt und Hefte mit ihrem hebräischen Gekritzel füllt. Es bringt sie nicht weiter, denn sie, die Philologin, hat keinen Sinn für diese Sprache, die eigentlich nicht schwerer ist als jede andere, nur uns fremder. Seit einigen Monaten haben wir nun unsere eigene Wohnung, die in einer ziemlich schlechten Wohngegend liegt, da uns keiner darüber aufgeklärt hat, wo man in Tel-Aviv am besten wohnt. Sie liegt am Hafen, der aber fast nicht mehr benutzt wird, und neben einem Ausstellungsgebäude, das seit Jahren leer steht. Uns gegenüber ist eine Baustelle, die ein alter frommer Mann mit langem Bart und Kaftan fleißig bewässert, merkwürdiger Anblick, über den wir immer lachen müssen. Ja, auch lachen tun wir manchmal, doch selten. Tel-Aviv ist eine weiße orientalische Stadt, die auf Dünen gebaut ist und von einer unbarmherzigen Sonne beschienen wird. Da sie neu ist, vermittelt sie kein Gefühl für Geschichte und Vergangenheit. Manchmal habe ich den Eindruck, sie würde beim ersten Wüstenwind verweht und von Sand bedeckt. Sie hat weder Gärten noch einen richtigen Park, es gibt kein eigentliches Stadtzentrum, und die Menschen fliehen gegen Abend ans Meer, ein Vergnügen, das mir auch verwehrt ist, denn ich fürchte die Menschenmassen und habe kein Geld, mich in ein Cafέ zu setzen. Ich habe keinerlei Verhältnis zu dieser Stadt, die mir unbarmherzig vorkommt, besonders nachts, wenn rings um unser Haus die Schakale heulen und das Meer rauscht. Wahrscheinlich hätte ich mich für Jerusalem entscheiden sollen, aber passiv wie ich bin und immer war, habe ich auf F. gehört, der wie immer falsch prophezeite, ich hätte hier mehr Aussichten, eine Stelle zu bekommen. Eine Stelle? Jemand der hörte, daß ich Rechtanwalt sei, sagte ironisch: " Ach, wie schade, wir haben schon einen Rechtsanwalt in Tel-Aviv." Doch davon später. Erst zurück zu unserer Wohnung. Sie ist eigentlich keine richtige Wohnung, eher ein Asyl: zwei kleine Zimmer, die von einem Balkon umgeben sind, auf dem ich mich in Gesellschaft einer Schildkröte und vielen Küchenschaben verkrieche, wenn ungebetene Gäste kommen, denn ich bin sehr menschenscheu geworden und schäme

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mich der schäbigen Wohnung, die nie ordentlich oder sauber ist. Wie Du weißt, war Martha nie eine besonders gute Hausfrau, doch in Deutschland hatte sie trotz schweren Zeiten immer eine Hilfe. Hier steht sie dem Haushalt völlig hilflos gegenüber. Da sind die Steinfliesen, die hier täglich gewischt werden, mit denen sie nicht fertig wird. Hiesige Frauen überschwemmen die Fliesen mit Wasser und wischen es mit einem Lappen auf, bis der Boden trocken ist und glänzt. Martha, die sich nicht bücken kann (schließlich ist sie über fünfzig), überschwemmt die Wohnung und wartet darauf, daß sie von selbst trocknet; da sie es nicht tut (trotz der Hitze), balancieren wir zwischen Pfützen und tragen den Schmutz durch die ganze Wohnung. Dieselbe Technik wendet sie auch bei der Wäsche an. Sie legt sie mit Seife in die Badewanne, dann kann man sich tagelang nicht richtig waschen, und sagt: "Die Wäsche wird sich schon von alleine waschen." Nun, sie tut es nicht und wird nach Tagen so wieder herausgezogen, wie sie hineingelegt wurde. Soll ich ihr nun Vorwürfe machen? Es wäre sinnlos, sie ist ein Gelehrtentyp und kann es eben nicht besser. Außerdem ernährt sie uns. Davon später. Ein Zimmer ist Wohnzimmer und Schlafzimmer zugleich. Da stehen zwei Holzgestelle, die mit einer alten zerfaserten rotseidenen Decke bedeckt sind, die wir von Tante Sonja geschenkt bekommen haben, und mein gelber Schreibtisch, den mir F. geborgt hat. Auch meine Bücherregale stehen dort mit den wenigen Büchern, die ich in den drei Meter langen 'Lift' (die Deutschen erlaubten damals den Emigranten einen drei Meter langen Container mitzunehmen) pferchen konnte. Stühle für Gäste haben wir nicht, auch Gäste kommen selten, nicht immer sind sie erwünscht. Ja, meine Bücher, die doch eigentlich das Einzige sind was mich noch mit der europäischen Kultur verbindet, auch sie schwinden dahin (wenn ich mich so literarisch ausdrücken darf), und mit ihnen eine Freundschaft, auf die ich fest gebaut hatte. Mein bester Freund seit Jahren hat in seiner Wohnung ein Antiquariat eröffnet (eine Idee, die so schlecht nicht ist, und die ich auch hätte haben können, wenn ich eben unternehmungslustiger wäre). Er kauft von den deutschen Immigranten Bücher auf und verkauft sie, wahrscheinlich an hiesige Institutionen und Bibliotheken. So weit ist alles in Ordnung. Das Problem ist nur, daß ihn seine Kaufwut Menschliches vergessen läßt und er seine besten Freunde dazu bringt, die ihnen so wertvollen Bücher für ein Butterbrot an ihn zu verkaufen und das mit Mitteln, die nicht immer ganz koscher sind. So verschwanden meine Nachschlagewerke (15 Bände, Prachtausgabe, in Leder gebunden) und einiges mehr, das ich, wenn man ihm Glauben schenkt, in Palästina nicht mehr benötige. ("Wer liest heute noch Kleist oder Hölderlin?") Es ist bis jetzt meine größte Enttäuschung: nicht die leeren Bücherregale, sondern ein Freund, der mich in der schwersten Zeit meines Lebens im Stich gelassen hat. ER hat dafür eine andere Erklärung: er konnte Martha nicht ertragen. Jetzt? Nach so vielen Jahren? Warum?

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Ich schweife immer wieder vom Hauptthema ab: der Wohnung. Sula wohnt im zweiten Zimmer. Ja, sie hat ihr eigenes Zimmer, aber ist es eines? Es ist leider eher eine Rumpelkammer, denn dort stehen alle unsere großen Schränke, dort liegen die ewig ungebügelte Wäsche, die nicht gestopfen Strümpfe, alte Hüte, abgetragene Schuhe, Tropenhelme, die man angeblich hier brauchte, die aber keiner außer uns "Jeckes" trägt, und etliches mehr. Nie lädt sie Freunde zu sich ein. Hat sie noch keine gefunden, oder geniert sie sich vor ihnen? Ich bin sehr stolz auf meine einzige Tochter. Mit zehn Jahren liest sie Tolstoi und Dostojewsky, Stendhal und Thomas Mann, ob sie unter unseren Bedingungen leidet, ob ihr die Umstellung Schwierigkeiten macht, ich weiß es nicht, sie spricht nicht darüber. Nur einmal die Woche kriegt sie es mit der Wut, krempelt die Wohnung um, wäscht die Steinfliesen und versucht vergeblich, etwas Ordnung in das Tohuwabohu zu bringen. Dann wäscht sie sich ihre einzige Bluse, bügelt sie, bis sie trocken ist, und verschwindet in ihrem Jugendbund, der ihr scheinbar das ersetzt, was wir ihr nicht bieten können. Ja, ich habe den Kühlschrank vergessen, der vielleicht der wichtigste Gegenstand im Haus ist. Es gibt hier noch keine elektrischen Kühlschränke, und fast alle holen ihren Eisblock täglich vom "Eismann", der die Blöcke mit einem riesigen Beil in Stücke teilt und sie einem in die Arme schmeißt. Nun gilt es, das Eis so schnell wie möglich nach Hause zu schleppen (denn es schmilzt und tröpfelt) und in den Kasten zu legen, der eine Röhre hat, durch die das Wasser in ein Becken läuft, das einmal am Tag ausgeleert werden muß. Wenn man es nicht zur Zeit tut, schwappt das Becken über, und die halbe Wohnung steht unter Wasser. Da Martha es natürlich immer vergißt, schreit einer von uns: "Der Kühlschrank läuft über!" Und alle machen sich an das Trocknen der Wohnung. Wenn der "Eismann" aus irgendwelchen Gründen nicht kommt, oder man ihn wieder einmal verpaßt hat, zerrinnt die Margarine zu Öl, der Käse wird sauer und alles andere Essen verdirbt in der Hitze. Ja, das Essen. Wir hungern nicht, aber es ist nicht leicht, sich auch diesbezüglich umzustellen. Martha versucht tapfer, die hier üblichen Gemüse zu etwas Eßbarem zu verarbeiten, fragt dann stolz, ob die Zucchini nicht wie Spargel schmecken oder die Auberginen nicht wie gehackte Leber ... ich bin leider immer noch für das Original, leide aber besonders am Abendbrot, das hier aus einem Berg von Tomaten und Gurkensalat besteht, der mit Öl begossen wird und den mein armer schwacher Magen nur mit Mühe verdauen kann. Für mich wird extra Schnittkäse gekauft (es gibt nur eine Sorte), der wie Seife aussieht, wie Gummi schmeckt und "Eden" heißt, was etwas mit Paradies zu tun h a t . . . Hört sich das ganze nicht wie ein Feuilleton an? Warte, ich bin noch lange nicht fertig! Die Küche. Sie ist klein und eng, und Martha waltet in ihr nach

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ihren bekannten Methoden. Das heißt, daß sie immer nur das Geschirr spült, wenn es dringend gebraucht wird, sonst stellt sie die schmutzigen Töpfe übereinander, sie bilden mit der Zeit einen Turm von Pisa, der immer zu fallen droht. Wenn sie einen Topf benötigt, so nimmt sie den obersten, was mit den unteren geschieht ist mir schleierhaft, Tatsache ist, daß sich das Ungeziefer bei uns tummelt. Wenn ich Naturforscher wäre, würde mich die Vielfalt dieser Kreaturen faszinieren, da ich es nicht bin, versuche ich vergeblich, mit vorsintflutlichen Mitteln dagegen anzukämpfen: einer Fliegenklappe, einer Flitspritze, einem klebrigen Band, das an der Decke hängt und wenigstens die Fliegen anziehen sollte. Die klugen Fliegen aber vermeiden das Band ängstlich, und wir bleiben daran kleben. Da wir keinen Gasofen besitzen (keiner hat einen außer meinem Bruder F.), kocht Martha auf einem zweidochtigen Kocher, der aus irgend einem mir unbekannten Grund "Haller" heißt, die ganze Küche schwärzt und einen halben Tag benötigt, um drei Kartoffeln gar zu kochen. Der Fußboden soll angeblich weiß gewesen sein, ist aber schon lange schwarz (siehe Marthas Methode des Fliesenwischens!). Kurz, die Küche ist ein Grauen, unsere Achillesferse, und wenn es an der Tür klingelt, brülle ich, so laut ich kann: "Küchentür zumachen!", was ziemlich lächerlich ist, denn auch ins Badezimmer und in die Rumpelkammer darf keiner außer uns rein ... Das alles hat zur Folge, daß Gäste sich einen Monat im voraus anmelden müssen und dann natürlich lieber wegbleiben. Zwischen den Kaufläden können wir wählen. Man kann zu Frieder gehen oder zu Moische Pschepjurka. Beide haben die selbe grobe Kernseife, Quark, Einheitsbrot und einen geräucherten Fisch, der Lakerda heißt und hier sehr beliebt ist. Frieder teilt Bonbons an die Kinder aus, aber Martha zieht Pschepjurka vor, bei dem seine dicke Tochter Pnina (Perle, auf Deutsch) auf einer Apfelsinenkiste kauert und an ihrer roten Haarschleife zieht, wenn sie nicht gerade an einem Butterbrot kaut. Die Auswahl ist bei beiden dürftig, die Auslage unordentlich und unästhetisch, manchmal leckt Pschepjurka das Messer ab, mit dem er den Käse schneidet. Da haben die Leute hier noch eine Menge hinzuzulernen ... Die Delikatesse der Woche bringt uns ein kleiner dürrer Mann, der in Heidelberg Literaturprofessor war und regelmäßig einmal die Woche zu uns kommt. Er geht mit seinem schwarzen Koffer von Tür zu Tür und verkauft kleine, geräucherte Fleischstücke, die wir ihm aus Mitleid abkaufen. Ob es Kamelfleisch ist? So etwas soll es geben, aber es ist eine angenehme Abwechslung bei der Eintönigkeit unserer Speisekarte. Unser Haus ist grau, und am Eingang wächst ein riesiger Kaktus, der weder schön ist noch Schatten spendet, dann ist dort nur Sand, und hier und dort wachsen dürftige Geranien. Herr Ruben, der verwachsene, kleine Hausbesitzer scheint keinen Sinn für Schönheit zu haben, vielleicht auch reicht unsere niedrige Miete nicht für kostspielige Extravaganzen wie Gärt-

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ner. Wenn er einmal im Monat pünktlich bei uns erscheint, um zu kassieren, und seine dürren Arme nach dem Geld ausstreckt, erinnert er mich an Shylock (Gott verzeihe es mir!), wenn es aber um Schäden geht, die im Hause beseitigt werden müßten, ist er wie vom Erdboden verschwunden und wochenlang nicht aufzufinden. Wie kam er zu diesem komischen Haus? Wie kam das Haus zu ihm? Fragen, die ich ihm nicht gestellt habe. Vor dem Haus steht breitbeinig, und nur mit Unterhemd und Kakihosen bekleidet, Herr Münzer. Er raucht seine Pfeife und paßt auf uns auf. ER ist der eigentliche Hausbesitzer, fühlt sich auf jeden Fall, als ob er es wäre, und spricht jeden an, der ein und aus geht. Er hat eine christliche Frau, die ihm blind ergeben ist, und eine häßliche frühentwickelte Tochter, die die Jugend der Nachbarschaft über die Tatsachen des Lebens aufklärt. Wenn er nicht Wache steht, tut es das Paar Robinson, das aus Rußland stammt. Er, viel jünger als sie, ist bebrillt und griesgrämig, sie hält Sommer und Winter einen schäbigen Sonnenschirm, beide halten den einzigen Baum fest, der vor unserem Haus steht. Nie reden sie miteinander, und das Gerücht sagt, daß sie ihm einst das Leben gerettet hat. Also Ehe aus Dankbarkeit, So sieht das aus ... Es ist ein Haus der Emigranten aus aller Welt. Wir haben einen Einbrecher, der Martha jeden zweiten Tag dabei behilflich ist, unser Schloß aufzubrechen, wenn sie wieder einmal ihre Schlüssel verlegt hat, wir haben zwei Prostituierte verschiedenen Ranges, da bei der einen Männer auf dem Korridor Schlange stehen, die andere dagegen eine Edelnutte ist, die es nur mit Kapitalisten in Luxushotels treibt. Ja, wir haben auch ganz gewöhnliche, anständige Familien, die ihre ersten Schritte im Land machen und ähnliche Probleme haben wie wir. Viel Kontakt miteinander haben wir nicht, da jeder zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Wenn ich definieren sollte, welcher Gesellschaftsschicht die Leute angehören die in unserem Haus wohnen, würde es mir schwerfallen. Man sieht den Menschen nicht an, was sie in Europa waren, die Emigration verwischt Klassenunterschiede, und wenn hier jemand Würstchen verkauft, sagt das nicht, daß er früher nicht Justizrat w a r . . . Da ist das Haus uns gegenüber schon einheitlicher. Dort wohnen nur Musikanten. Ob es Zufall ist oder beabsichtigt war, das kann ich nicht beurteilen. Wenn ich aber morgens aufwache, höre ich eine Beethovensonate, begleitet von Tonleitern eines Geigers, den Trompetenstößen eines Herrn Naparstek, dem leisen Flöten eines Herrn Levi und dem fernen Flehen eines Cello. Obwohl ich, wie es allgemein bekannt ist, total unmusikalisch bin und auch die Hatikva völlig falsch singe, glaube ich, daß die Gesamtmusik, die aus dem Nachbarhaus an mein Ohr dringt, mit Musik nichts mehr zu tun hat. Wie halten die Leute das nur aus? Das alles nur als Vorwort. Jetzt komme ich zum Hauptthema: Ich bin arbeitslos und werde es wahrscheinlich noch lange bleiben. Ja, was hatte ich mir denn vorgestellt? Hatte ich mir überhaupt etwas Bestimmtes vorgestellt?

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Sicherlich nicht, daß man mir einen roten Teppich vor die Füße legen oder mir ein Ehrenamt verleihen würde, weil ich mein ganzes Leben lang für die zionistische Organisation tätig war. Du weißt, ich war immer bescheiden und habe mich mit wenigem begnügt, wenn ich an etwas dachte, so war es irgendein kleiner Posten, der mich über Wasser halten konnte, aber es sind so viele, die sich eben um solch kleine Posten bewerben. Ich muß als Rechtsanwalt nun viele meiner Prüfungen noch einmal machen, und das auf Hebräisch und Englisch, und mich zusätzlich mit dem türkischen Recht herumschlagen, was nicht leicht ist. Ich werde diese Prüfungen bestimmt bestehen, aber auch dann sind meine Aussichten minimal. Wenn ich ein anderer Mensch wäre, tüchtiger, einfallsreicher, stärker, könnte ich mich umstellen, wie es die meisten hier machen. Ich beneide all meine Freunde, die siedeln und Landwirtschaft treiben, und habe das Gefühl, daß sie hier viel schneller Wurzeln fassen werden, aber ich kann es nicht, denn ich bin "immer noch Dodi". Kennst du diese alte Geschichte nicht? Das war noch in Königsberg. Meine Mutter lag zu Bett und hatte eine schwere Migräne. Sie rief um Hilfe, ich kam, und sie sagte: "Dodi? DU kannst mir nicht helfen." Da sie nochmals rief, kam ich wieder, sie seufzte tief auf und sagte: "Immer noch Dodi!" Ein Satz, der in der Familie bis heute sprichwörtlich ist. Ja, immer noch Dodi, mit einer gewissen Begabung für Geistiges, fürs Schreiben, für Jurisprudenz, fürs Reden vor großen Menschenmassen (die ich sonst, wie schon gesagt, meide), aber völlig unfähig für körperliche Arbeit, mit feinen, weißen Händen und gepflegten Nägeln, mit meinen ewigen, quälenden Kopfschmerzen, mit einem schwachen Magen und einem kranken Herz. Ja, wie lebt man mit all dem? Wie überlebt man? Man schlägt sich durch. Einmal die Woche verschwindet Martha stillschweigend mit einem Hausgerät, das ihr sicher lieb und teuer ist, verpfändet es irgendwo und kommt strahlend mit ein paar Geldscheinen zurück, für die sie sofort Essen kauft. Viel zu verpfänden haben wir nicht mehr, und einiges soll sie auch behalten. Dann arbeitet sie stundenweise in einer Schokoladenfabrik, verpackt Marzipan, bringt auch Sula Bruchschokolade mit und gibt in ihrer Freizeit Englisch- und Französischunterricht. Ihre Schüler wohnen am anderen Ende der Stadt, und oft geht sie den langen Weg zu Fuß, um das Busgeld zu sparen. All das genügt nicht, es verschiebt nur den Zeitpunkt, an dem sie zu F. gehen muß, ein Weg, den ich ihr nicht abnehme, obwohl ich mich dessen immer wieder schäme. Ich kann es nicht tun, und sie tut es für mich. Nie habe ich sie gefragt, wie er sich dabei benimmt, nie, ob es beschämend ist, nie hat sie zu mir davon gesprochen, aber immer kommt sie mit Geld zurück. Es muß schlimm für sie gewesen sein (und ist es noch und wird es für unabsehbare Zeit immer wieder sein), denn F. kann sie nicht leiden, hat unsere Heirat nie akzeptiert, schiebt ihr die Schuld für alles zu, und doch tut sie es. Einmal sagte er mir: "Wenn die Martha nur etwas attraktiver wäre, hätte sie dir längst eine Arbeit besorgt." Was meinte er damit? Meine grauhaarige

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Martha mit ihren abgetragenen Hauskleidern? Und wenn sie eine Schönheit gewesen wäre, sollte sie sich denn prostituieren, um mir eine Stelle zu besorgen? Martha tut, was in ihren Kräften steht, ich tue es auch, aber es ist leider zu wenig ... Ja, fast hätte ich es vergessen. In letzter Zeit kocht sie Quittengelee. Sie gießt den dickflüssigen Brei in die großen Rosenthaler Schüsseln, die wir noch gerettet haben, bis er geliert. Das Gelee schneidet sie in kleine Würfel, die sie mit Zucker bestreut, auf einer Briefwage abwiegt (wir besitzen keine andere Waage) und an die wenigen Leute verkauft, die unser Schild am Eingang bemerken: "Hier werden Süßigkeiten verkauft." Die Schüsseln mit dem Quittengelee stehen in der ganzen Wohnung auf dem Fußboden herum, man muß sich vorsichtig durch die Schüsseln schlängeln, wenn man Glück hat, tritt man auf keine fetten Küchenschaben, wenn man noch mehr Glück hat, rutscht man nicht in einer Pfütze aus. Jedenfalls werde ich mein Leben lang keine Quitten mehr essen. Jetzt wirst du mit Recht fragen: ist es denn bei allen Leuten so? Die Antwort ist: nein. Die meisten Frauen schaffen es, den komplizierten Haushalt zu bewältigen und dabei noch Geld zu verdienen. Bei den meisten ist es ärmlich, aber sauber. Martha ist diesbezüglich einmalig. Wer hätte damals, als ich sie heiratete, für möglich gehalten, daß sie als doppelter Doktor Quittengelee kochen müßte, Marzipan packen würde, wer hätte sie nach den hiesigen Umständen erwählt oder verworfen? In jedem Fall hält sie zu mir, und das ist mehr, als man von den meisten anderen sagen kann. Jetzt kommt noch unser Hausarzt, Dr. Lichtenstein. Da Sula oft krank ist (leider hat sie meine schwache Konstitution geerbt), brauchen wir ihn öfter, als uns lieb ist. Er ist ein ellenlanger dünner Mann mit Veilchenaugen und einem Kindergesicht. Wenn er auf der Straße geht, schlägt er sich zwanghaft und regelmäßig auf den Popo und schlenkert mit seinen zu langen Armen. Sein Lieblingsausdruck ist: "Eyn Rachmanut Baolam", was so viel heißt wie: es gibt keine Barmherzigkeit in der Welt. Mir ganz unverständlich, da er uns völlig umsonst behandelt, auch alle anderen deutschen Bundesbrüder (Mitglieder einer zionistischen Studentenverbindung), und da er fast nur solche Patienten hat, weiß ich nicht, wie er sich und seine Familie durchbringt, doch weiß ich, daß es auch ihnen schlecht geht. Er ist mit seiner kindlichen Naivität, seinen Schlenkerarmen und seinen unschuldigen Kinderaugen einer der Helden unserer Zeit, und ich weiß, daß er von nur wenigen anerkannt wird, da er nicht gerade eine Leuchte ist. Doch was hätten wir ohne ihn getan? Was bei Sulas schweren Asthmaanfällen, was bei ihrer Dysentherie, was bei ihrer Blutvergiftung? Immer war er zur Stelle, immer gleich höflich und geduldig, und dann sein ewiger Satz: Eyn Rachmanut Baolam ... den er mit seiner bloßen Existenz Lügen strafte.

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wurde

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Ich bin einsam. Eine Einsamkeit die ich nicht kannte in all den langen Jahren, in denen ich führender Propagandist der zionistischen Bewegung in Deutschland war. Immer war ich im Zentrum der Ereignisse, da waren die Kongresse, die Besprechungen, die Sitzungen, die vielen Leute, die sich an mich wandten, um Rat und Hilfe baten, die mir schrieben, nachdem sie von meinen Reden beeindruckt waren. Ich hatte das Gefühl, daß die Kameradschaft, die uns damals verband, unerschütterlich war. Sie war es nicht. Ich habe heute fast keinen Kontakt mehr zu meinen ehemaligen Freunden, fast meiden sie mich, oder es scheint mir nur so, wahrscheinlich kämpfen sie genau so wie ich, mit der Hitze, mit der Sprache, mit der Existenz. Doch mir fehlen Menschen, mit denen ich Gedanken austauschen kann, mir fehlt Geselligkeit, Kultur, mir fehlt die europäische Lebensweise in einem orientalischem Lande, an das ich, trotz allem, als einzige Heimstätte der Juden glaube. Ein merkwürdiger Brief ist das geworden, nicht das, was ich schreiben wollte, nichts über das Positive, das es hier gibt, das ich auch zu sehen vermag, wenn ich nicht zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt bin. Ein egozentrischer Brief ist es, meiner nicht würdig, der letzte wahrscheinlich vor dem drohendem Krieg. Leb wohl, Alex, Gott, an den ich nicht glaube, beschütze dich! Wenn es einmal einen jüdischen Staat geben wird, hoffe ich auf einen kleinen Posten als Beamter im Justizministerium. Was bis dahin wird, ist mir unklar, doch vergesse ich keine Minute, daß wir vor dem Untergang der Juden in Deutschland gerettet wurden. Dein Dodi ***

Dieser Brief wurde nie geschrieben, hätte nie geschrieben werden können, denn mein Vater, der angebliche Schreiber dieses Briefes, war ein so überzeugter Zionist, daß er die hier ausgesprochenen Gefühle und Gedanken nie auch nur vor sich selbst hätte zugeben können. Er wanderte im Februar 1939 nach Palästina aus, fand seinen so heiß ersehnten Posten erst 1948 nach der Gründung des Staates Israel. Auch dann kam er nicht ins Justizministerium, da man ihn vergessen hatte. Er starb als Archivar und Bibliothekar in Jerusalem 1958. Seine zentrale Stellung in der zionistischen Bewegung und im Palästinaamt in Berlin ist in fast keinem der Bücher über die zionistische Bewegung erwähnt.

Verzeichnis der Autoren

Shulamit Arnon, Bet-Schemesch, Hanurit St. 65, Givat-Sharet 5565 Prof. Dr. Ehrhard Bahr, Dept. of Germanic Languages, University of California, Los Angeles, Calif. 90024 Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer, Institut für Theaterwissenschaft, Universität München Alfred Bodenheimer, Stöberstr. 7, CH - 4055 Basel Dr. Heinrich Detering, Seminar für Deutsche Philologie der Georg-AugustUniversität Göttingen Birgit R. Erdle, Westermühlstr.26, 8000 München 5 Prof. Dr. Mark H. Gelber, Abrahams-Curiel Department of Foreign Literatures and Linguistics, Ben-Gurion University, Beersheva 84105 Prof. Dr. Hans Otto Horch, Germanistisches Institut der RWTH Aachen Anna Maria Jokl, 5 Balfour Str., Jerusalem 92102 Prof. Dr. Wulf Koepke, Department of Modern and Classical Languages, Texas Α & Μ University, College Station, Texas 77843-4238 Dr. h. c. Ernst Loewy, Bernadottestr.32, 6000 Frankfurt a.M. 50 Dr. Dafna Mach, Hebrew University, Faculty of Humanities, German Department, Mount Scopus, 91905 Jerusalem Prof. Dr. Gert Mattenklott, Institut für Neuere deutsche Literatur. PhilippsUniversität Marburg.

292

Dr. Hanni Mittelmann, Hebrew University, Faculty of Humanities, German Department, Mount Scopus, 91905 Jerusalem Prof. Dr. Klaus Miiller-Salget, Paulstr.3, 5300 Bonn 1 Dr. Jürgen Nieraad, Hebrew University, Faculty of Humanities, German Department, Mount Scopus, 91905 Jerusalem Prof. Dr. Laureen Nussbaum, 2393 SW Park Place, Portland OR 97205 Prof. Dr. Margarita Pazi, 21 Sharett Street, 62092 Tel Aviv Dr. Itta Shedletzky, The Franz Rosenzweig Research Center for GermanJewish Literature and Cultural History, Advanced Studies Building, Givat-Ram, Jerusalem 91904 Dr. Sigrid Thielking, Gebhardstr.il, 5090 Leverkusen 3

Personenregister

Abendroth, Friedrich 208 Abraham 8, 9, 116, 215, 262 Adam 127 Adler, Stella 181 Adorno, Theodor W. 18, 41, 136 Agnon, Samuel Josef 17 Ahasver 124f., 146 Ajchenrand, Lajser 258, 259 Albeck, Chanoch 222 Allemann, Beda 275 Aloni, Jenny 89, 90, 91, 93 Altenhofer, Norbert 70 Am6ry, Jean 123 Amichai, Yehuda 109 Amir, Dov 85, 88, 96 Arnos 13 Anders, Günther 79, 122, 202 Andersen, Hans Christian 113 Arendt, Hannah 4, 122, 136, 142, 143 Arnheim, H. 8 Arnold, Heinz Ludwig 31 Arnon, Shulamith 1, 281-289 Aschheim, Steven E. 48 Asper, Helmut G. 36 Ataron, Chai s.Rosenkranz, Hans Atkinson, Brooke 181 Auerbach, Berthold 140 Auerbach, Jakob 140 Auerbach, Manfred 272 Aurousseau, Marcel 105 Ausländer, Rose 27 Ausserhofer, Hansotto 209, 221, 222

Avineri, Shlomo 98

Bachmann, Ingeborg 37 Baeck, Leo 227 Baerwald, Alexander 86 Baerwald, Lotte 86 Bahr, Ehrhard 29-42, 276 Baldwin, Roger 182 Ballin, Günter 34 Bamberger, Selig 8 Bar Kochba, Simon 255 Barnouw, Dagmar 122 Barthes, Roland 121, 126, 134, 135 Baudrillard, Jean 130 Bayerdörfer, Hanne 197 Bayerdörfer, Hans-Peter 5, 29, 93, 153, 155, 156, 165-183, 197 Becher, Johannes R. 26 Behse, Ursula 38 Bell, Robert F. 224 Ben Akasja, Hanina 12 Ben Gamliel, Hananja 12 Ben Hanina, Jose 13 Ben Jehuda, Eliezer 98 Ben-Chorin, Schalom 86, 88, 153 Bendkower, Sigmund 274 Benjamin, Walter 5, 18 , 64, 127, 140, 257, 267, 268 Benn, Gottfried 216, 221 Benz, Volker 36 Beradt, Martin 37

294 Berendsohn, Walter Α. 16, 18, 33, 84, 149 Berg, Jan 272 Bergel-Gronemann, Elfriede 86f. Bergengruen, Werner 79 Berghof, Herbert 173 Bergson, Henri 161 Bermann-Fischer, Gottfried 216 Bertaux, Pierre 207 Berthold, Werner 18 Beyer, Manfred 154 Bienek, Horst 271 Biermann, Wolf 257 Bin Gorion, Emanuel 109 Birkert, Alexandra 162 Birnbaum, Nathan 159 Biser, Eugen 222 Black, Algeron 182 Blanchot, Maurice 119 Blei, Franz 206, 207 Blitzer, Hanna 86, 90, 93 Bloch, Ernst 18, 68, 78 Bloom, Allan 23 Bloom, Harold 132 Blumenfeld, Kurt 98, 99, 100, 104 Bodenheimer, Alfred 1, 185-193 Boeser, Knut 174 Böhm, Anton 208 Böhme, Hartmut 272 Boleslav, Netti 86, 88 Bonaventura 278 Borchardt, Heinrich 203 Borchardt, Rudolf 41 Börne, Ludwig 41, 140, 271 Braak, Menno ter 207, 272 Brecht, Bertolt 171 Bredel, Willi 25 Brenner, Hildegard 34 Brentano, Bernard von 213 Breuer, Isaak 107 Broch, Hermann 18, 40, 52, 68, 142

Personenregister

Brod, Max 34, 40, 45, 53, 54, 84, 86, 89, 99, 109, 275 Brodsky, Joseph 122 Bronsen, David 81, 205, 207, 209 Bruckner, Ferdinand 57, 165-183 Buber, Martin 4, 17, 44, 85, 86, 104, 106, 111, 140, 162, 168, 211, 233, 239 Buber, Paula 111 Buber, Rafael 111 Büchner, Georg 11, 271 Buck, Theo 205 Bukofzer, Werner 90 Bürgin, Hans 32

Canetti, Elias 148 Carlebach, Esriel 109 Carmely, Klara Pomeranz 40, 153, 188 Casper, Bernhard 132 Celan, Paul 9, 27, 94, 148, 268 Celine, Louis-Ferdinand 255 Cervantes, Miguel de 105 Chodziesner, Gertrud s. Kolmar, Gertrud Christus 231 Clauß, Ludwig Ferdinand 44, 45 Cofalka, Ute 171 Cohn, Hans 73 Coudenhove-Kalergi, Richard Graf 45, 48, 64 Cross, Rowland 181

Dähnert, Gertrud 148 Dahm, Volker 36 Dante Alighieri 271 Danton 11 Daviau, Donald G. 95 David 13 David, Helenka 250 David, Vera 250

Personenregister

Davis, Geoffrey V. 38 Denkler, Horst 29 Derrida, Jacqües 128 Desch, Kurt 22, 33 Detering, Heinrich 253-269 Deutsch, Α. H. s. Thomas, Adrienne Hertha Diderot, Denis 180 Dietzel, Ulrich 258 Diner, Dan 22 Dinesen, Ruth 136, 147 Döblin, Alfred 5, 8, 9, 31, 34, 40, 42, 48, 59, 60, 61, 71, 153163, 186, 191, 195, 221, 243, 272 Döblin, Klaus 157 Döblin, Peter 157,161 Dobson, Eugene 224 Dollfuß, Engelbert 219 Domin, Hilde 149 Domitian 57 Doster, Ute 155 Drews, Jörg 108 Drews, Richard 16 Dreyer, Alfred 85 Dubnow, Simon 155 Duinkerken, Anton van 224 Durzak, Manfred 35, 259, 273

Ebermayer, Erich 100, 106 Ebert, Carl 170 Ehrenburg, Ilja 253 Ehrenstein, Albert 17, 25, 237-247 Ehrenstein, Frida 244 Ehrismann, Albert 171 Einstein, Carl 17 Eisner, Kurt 58, 192 Elia 117 Engelhardt, Doris 167, 170, 171 Engle, Ron 179 Enzensberger, Christian 278

295

Eppelsheimer, Hanns Wilhelm 18, 34 Eratosthenes 76 Erdle, Birgit R. 121-137 Ertl, Wolfgang 258, 259, 261, 265

Faerber, Meir Marcel 86, 89, 96 Faurisson, E. 277 Fehse, Willi 100 Feilchenfeldt, Konrad 37 Feuchtwanger, Lion 5, 31, 34, 38, 45, 55, 56, 57, 58, 59, 61, 65, 70, 150, 151, 275 Finck, Kai 173 Fischer, Ludwig M. 95 Fischer, Samuel 154 Fisher, Dorothy Canfield 75 Flaubert, Gustave 231 Fontana, Oskar Maurus 239 Fraiman, Sarah 210 Franck, Wolf 16 Franco, Francisco 191 Frankenschwerth, Margarete 73 Freeden, Herbert 169 Frenkel, Noemi 109 Freud, Sigmund 150 Freyermuth, Gundolf S. 79 Friedländer, Israel 97 Friedman, Maurice 104 Fries, Heinrich 222 Fruchtmann, Benno 88, 91 Frühwald, Wolfgang 185, 272 Fürnberg, Louis 38, 84, 150 Fürst, Julius 8

Gassner, John 181 Gelber, Mark H. 95-110 Genettes, de 231 George, Stefan 143, 147 Gerling, Heinz 99 Gidon, Blanche 205, 228

296

Gilman, Sander L. 275 Glasscheib, Theodor 86 Goethe, August von 202 Goethe, Johann Wolfgang von 56, 76, 77, 215 Goldschmidt, Lazarus 12 Goldstein, Moritz 5, 40f, 202, 274 Goldstein, Walter Benjamin 86 Göll, Ciaire 106 Göll, Yvan 65 Gottfarstein, Joseph 207 Gottgetreu, Erich 86, 89 Graaf, Christian de 207 Graber, Heinz 186 Graf, Oskar Maria 172 Graupe, Heinz Moshe 165 Greco, El 105 Grillparzer, Franz 76 Grimm, Gunter E. 5, 29 Grimm, Hans 54 Grossberg, Mimi 39 Grosser, Alfred 18 Grözinger, Karl Erich 275 Grübel, Paula 205 Grünberg, Isaac 217 Grunewald, Michel 64

Ha-am, Achad 97, 98 Haar mann, Hermann 72 Haas, Willy 41, 64 Habakuk 13 Habermas, Jürgen 20 Hackert, Fritz 35 Härtling, Peter 1 Hahn, Arnold 34 Hahn, Hugo 222 Hakel, Hermann 261 Halfmann, Horst 17f Härtung, Gustav 170 Hausmann, Frank-Rutger 205 Hebel, Frieda 86 Heidegger, Martin 121

Personenregister

Heine, Heinrich 4, 15, 41, 140, 234, 271 Hellendahl, F. 36 Heller, Otto 46, 50, 159 Heraklit 221 Herder, Johann Gottfried 47, 75, 215 Hermand, Jost 38 Hermann, Georg 70, 71, 195-203 Hermlin, Stephan 253-269 Herrmann, Klaus J. 50 Herrmann-Neisse, Max 17 Herzfelde, Wieland 25 Herzl, Theodor 97 Hesse, Hermann 32, 245 Heuscheie, Otto 100 Heyse, Paul 41 Hiebel, Irmfried 34 Hildesheimer, Wolfgang 3, 202 Hillel 222 Hilsenrath, Edgar 37 Hiob 146 Hirsch, Rudolf 38 Hirschberg, Alfred 51 Hitler, Adolf 28, 40, 53, 65, 70, 80, 90, 142, 153, 171, 182, 188, 216, 232 Hölderlin, Friedrich 265 Hofe, Harold von 38, 55, 63, 151 Hofmannsthal, Hugo von 41 Hohenlohe-Langenburg, Max von 215 Holitscher, Arthur 45 Holschuh, Albrecht 35 Holtz, Günter 72, 73 Hook, Sidney 182 Horch, Hans Otto 2, 4, 29, 38, 205-235 Horkheimer, Max 137 Horvath, Ödön von 65 Hüchel, Peter 18 Huder, Walter 18

297

Personenregister

Huguet, Louis 153, 154, 157, 159, 161 Humboldt, Wilhelm von 47

Innitzer, Theodor 220 Isaak 7f., 116, 215, 262

Jacob 215, 262, 267 Jacobowski, Ludwig 4, 5, 7 Jaffi, Robert 4 Jäger, Ludwig 205 Jakobsen, Hanna 105 Jarmatz, Klaus 38 Jaspers, Karl 142, 143 Jean Paul 278 Jehosua 12 Jens, Walter 165, 208 Jeremia 157 Jesaja 13, 264 Jesenskä, Milena 249 Johnson, Alvin 181 Jokl, Anna Maria 1, 89, 249-252 Jona 263 Joseph, Max 222 Jungk, Peter Stephan 41 Jungk, Robert 202

Kafka, Elli 250 Kafka, Franz 1, 5, 9, 13, 14, 40, 41, 127, 140, 249, 250, 275 Kafka, Otla 1, 249-252 Kahler, Erich von 34, 71 Kal6ko, Mascha 85 Kallen, Horace 182 Kaltenborn, Hans von 182 Kantorowicz, Alfred 16, 33 Karl der Große 144 Kastein, Josef 34, 83, 85, 109 Katz, Henry William 34 Katz, Jacob 41, 42, 61, 274

Kaulen, Heinrich 257 Keller, Gottfried 147 Kesten, Hermann 75, 206, 213, 228, 229, 234 Keun, Irmgard 207 Kierkegaard, Sören 160 Kirfel-Lenk, Thea 172 Kirschner, Bruno 228 Kisch, Egon Erwin 34 Kittner, Alfred 94 Klarmann, Adolf D. 41 Kleist, Heinrich von 278 Knütter, Hans-Hellmuth 50 Kobler, Franz 141 Koebner, Thomas 70 Koelbl, Herlinde 253, 257, 269 Königsberger, Annemarie 93 Koepke, Wulf 43-61, 95, 170, 181 Koestler, Arthur 18, 25 Kokoschka, Oskar 240 Kolb, Annette 69 Kolmar, Gertrud 9, 39, 121-137, 140, 148 Kondylis, Panajotis 278 Kornberg, Jacques 98 Korrodi, Eduard 30-33, 40 Kraft, Werner 86, 87, 95, 96, 108, 111 Kraus, Karl 53, 241 Kraus-Rosen, Berta 86 Krenek, Ernst 217 Krispyn, Egbert 224 Kröhnke, Karl 57 Krojanker, Gustav 14, 41 Kroker, Jan 53, 61 Kunert, Günter 271 Kunisch, Hermann 35 Kupper, Margarete 11, 87 Kurzweil, Baruch 109

Lachmanski, Hugo 169 Lackner, Stephan 78

298

Lampl, Rusia 86, 88 Landau-Wegner, Lola 89 Landauer, Gustav 58, 188, 191, 192 Lania, Leo 34, 181 Laschen, Gregor 259 Lasker-Schüler, Else 1, 5, 7, 8, 10, 14, 17, 32, 37, 38, 87, 88, 100 Lazar, Maria 159 Leder, Rudolf s. Hermlin, Stephan Lehmann, Erich 86 Lemberg, Eugen 47 Lenin, Wladimir I. 257, 268 Leonhard, Rudolf 79 Leopardi, Giacomo 196 Leschnitzer, Adolf 124, 125 Lessing, Gotthold Ephraim 165, 166, 167, 168, 169, 174, 176, 179, 215 Lessing, Theodor 45, 138 Lettow-Vorbeck, Friedrich von 45 Levin, Schmaijahu 84 L6vinas, Emmanuel 121, 128, 129, 134, 135 Levind, Eugen 192 Lewkowitz, Julius 222 Lifschitz, Isidor 158 Light, James 173 Löwenberg, Carl 169 Low, Rabbi 268 Loewenberg, Jakob 7 Loewy, Ernst 2, 15-28, 22, 84, 254, 271, 273 Lohfink, Norbert 222, 223 Lublinski, Samuel 4 Lukäcs, Georg 38 Luther, Martin 259 Lützeler, Paul Michael 68, 78, 79, 142, 197 Luxemburg, Rosa 58, 192 Lykurg 231

Personenregister

Lyotard, Jean-Francois 126, 278, 279

Maas, Joachim 106 Mach, Dafna 111-120 Magris, Claudio 209, 210, 231 Manga Bell, Andrea 207 Mann, Erika 32, 73, 206 Mann, Heinrich 31, 45, 48, 55, 56, 65, 78, 123, 151, 221 Mann, Klaus 33, 63, 65, 73, 75, 78, 100, 106, 157, 217 Mann, Thomas 17, 31, 32, 33, 40, 64, 73, 78, 106, 216, 246 Mannheim, Karl 61 Mannheimer, Georg 34 Marcel, Gabriel 228 Marchand, Wolf R. 205 Marcuse, Ludwig 159 Maries, Hans von 202 Marion, Jean-Luc 132 Marx, Julius 34 Masaryk, Tomäs 76 Mattenklott, Gert 139-152 Maurer, Doris 38 Mauthner, Fritz 274 Maxwell, Patrick 172 Mayer, Bernhard 244, 247 Mayer, Hans 27, 254 Mayer, Hans-Otto 32 Meinecke, Friedrich 47, 61, 79 Meir von Rothenburg, Rabbi 15 Memmi, Albert 128 Mendelssohn, Moses 140, 166, 179 Mendelssohn, Peter de 31 Meyer, Jochen 155 Meyer-Levin6, Rosa 192 Meynert, Joachim 276 Meysenbug, Malwida von 202 Micha 13 Michaelis, Miriam 89

299

Personenregister

Michels, Volker 206 Middell, Eike 171 Midgley, David, R. 38 Mierendorff, Marta 36 Mihaly, Jo 258, 259 Miller, Arthur 274 Mittelmann, Hanni 40, 237-247, 274 Mittenzwei, Werner 24, 38 Möller, Lies 86 Mörike, Eduard 147 Mohammed 231 Moll, Anna 41 Mombert, Alfred 5 Morgenstern, Sorna 207 Moses 9, 12, 13, 215, 231, 261ff. Mosfes, Stdphane 7, 29, 121, 267, 268, 275 Moses, Margarete 86 Moses, Siegfried 124 Mosse, George 165 Mosse, Werner E. 44 Mozart, Wolfgang Amad6 115, 246 Muckermann, Friedrich 209 Mühsam, Paul 86 Müller-Salget, Klaus 59, 153-163 Müller-Sommer, Maria 173 Musil, Robert 278 Müssener, Helmut 35, 136, 147 Mussolini, Benito 196

Niebuhr, Reinhold 182 Nieraad, Jürgen 1, 95, 100, 108, 271-280 Nietzsche, Friedrich 46, 48, 56, 215 Nussbaum, Laureen 1, 71, 195203

Nachman ben Jitzhak 13 Nadler, Josef 44, 45 Naschitz, Fritz 90 Nathanson, Jerome 182 Naumann, Max 46, 50 Nehru, Jawaharlal 189 Nestroy, Johann N. 246 Neumann, David 89 Neumann, Peter Horst 268 Nick, Dagmar 37

Rabin, Else 86 Rabin, Ester 86 Raddatz, Fritz J. 258 Raimund, Ferdinand 246 Ranke, Leopold von 33 Rappaport, Samuel 218 Raschi 8 Rathenau, Walther 140 Ray, Marcel 65 Regler, Gustav 18

Oprecht, Emil 33 Origenes 9 Ortega y Gasset, Jose 64 Ovadja aus Bertinoro 12 Ozick, Cynthia 129, 132

Pagis, Dan 117 Pascal, Blaise 167, 176 Passarge, Siegfried 45 Paucker, Arnold 58 Pavel, Lilit 86, 90, 93 Pawlow, J. 79 Pazi, Margarita 38, 82-94, 275 Pergament, Moses 148 Piscator, Erwin 172, 173, 174, 178, 179, 181 Plivier, Theodor 25 Plön (Verlag) 228 Poppel, Stephen M. 99 Preetorius, Emil 143, 145 Pross, Harry 22

300

Reich-Ranicki, Marcel 88, 259 Reichmann, Eva G. 44, 45, 47, 49, 50 Reifenberg, Benno 213 Reinfrank-Clark, Karin 271 Reinharz, Jehuda 48, 99 Rheine, Carl J. 50, 51 Rieger, Paul 218 Rilke, Rainer Maria 146 Robespierre 11 Röder, Werner 24 Roos, Peter 258 Rosenkranz, Hans 95ff. Rosenthal, Erwin Theodor 95 Rosenthal, Ludwig 2, 15 Rosenzweig, Franz 44, 121 Rosin, Arthur 161 Rosin, Elvira 161, 162 Rost, Nico 206 Roth, Friedl 205, 221 Roth, Joseph 5, 35, 41, 67, 69, 70, 81, 205-235 Rothe, Wolfgang 191 Rothschild, Eli 87 Rothschild, Meyer Amschel 216 Roubiczek, Paul 55 Ruben, Margot 145 Rubiner, Ludwig 243 Ruebner, Tuvia 109, 111 Rühle, Günther 170

Sachs, Michael 8, 10 Sachs, Nelly 9, 17, 35, 37, 88, 136, 139ff. Sahl, Hans 272 Said, Edward 121 Salinger, Jerome D. 274 Salomo 5 Saulitis, John 106 Schaber, Will 36, 76, 77 Schaeffer, Albrecht 117 Schatzberg, Walter 48

Personenregister

Schauwecker, Franz 44 Scheffel, Helmut 231 Scheuer-Goldes, Miriam 86, 88 Schickele, Rene 207, 217 Schiller, Friedrich 168, 173 Schlenstedt, Silvia 24, 39, 253, 254, 259, 265 Schlösser, Manfred 37 Schlossberg, David 28Iff. Schneider, Peter-Paul 84 Schneider, Sigrid 57 Schnitzler, Arthur 4, 41, 171, 241 Schoeps, Hans-Joachim 51 Scholem, Gershom 3, 9, 10, 95, 96, 104, 108, 115, 140, 211, 223, 224, 227, 228, 230, 234, 257, 274 Schöne, Albrecht 7, 29, 30, 40, 234, 235, 267, 268 Schopenhauer, Arthur 196 Schramm, Hanna 37 Schröter, Klaus 153 Schüler, Franz 260 Schultz, Hans Jürgen 202 Schuschnigg, Kurt von 70 Schwarz, Alice 93 Schwarz, Egon 31, 197 Schwarz-Gardos, Alice 89, 90 Schwarzschild, Leopold 31, 73 Schwiek, Joanne 106 Sebald, Winfried G. 153, 156 Seelig, Carl 52, 148, 216 Seghers, Anna 31, 41 Selbach, Rudolf 257 Seldes, Gilbert 182 Seydel, Heinz 258 Seymor, Charles 181 Shaked, Gershon 41 Shedletzky, Itta l f , 3-14 Shoham, Chaim 47 Shuster, N. 181 Sieburg, Friedrich 213 Siegelberg, Mark 34

Personenregister

Silberman, Fred 101 Simlaj, Rabbi 12 Simon, Ernst'165 Simon, Leon 97 Singer, Irma s. Singer, Miriam Singer, Miriam 86 Sombart, Werner 44, 46 Sommer, Ernst 34 Spalek, John M. 185, 191 Sperber, Manüs 18 Spiel, Hilde 39 Spinoza, Baruch 56, 58, 76, 106 Stalin, Josef 57 Stammen, Theo 95 Stapel, Wilhelm 44 Steiner, Carl 209 Steiner, Rudolf 5 Steinitz, Hans 36 Steinmann, Esther 209, 211, 225, 232, 233 Stephan, Alexander 35, 37 Stern, Desider 35, 37 Stern, Guy 273 Sternburg, Wilhelm von 55 Sternfeld, Wilhelm 18, 34 Stifter, Adalbert 147, 246 Stoecker, Adolf 166 Stoß, Veit 160 Strauss, Herbert A. 24 Strauß, Eva 111 Strauß, Ludwig 44, 85, 93, 99, 109, 111-120 Strelka, Joseph P. 39, 191, 224 Sturmann, Manfred 87, 95ff. Sudhof, Siegfried 38, 84 Sussja, Rabbi Meschullam 233 Szondi, Peter 11

Tagger, Theodor s. Bruckner, Ferdinand Tau, Max 17, 147 Tauler, Johannes 160

301

Thielking, Sigrid 1, 63-80 Thiess, Frank 79 Thomas, Adrienne Hertha 37 Thompson, Dorothy 182 Tiedemann, Eva 34 Tillich, Paul 17, 182 Toller, Ernst 25, 185-193, 272 Torberg, Friedrich 37, 207 Torczyner, Harry 97 Toury, Jacob 47 Trakl, Georg 100 Tramer, Hans 124 Trapp, Frithjof 37 Trotzki, Leo 58 Tschernikowsky, Saul 97 Tucholsky, Kurt 57, 84, 94 Tudor, Parfitt 98 Turk, Horst 268 Turner, David 68 Tutas, Herbert E. 16

Usinger, Fritz 145

Varnhagen, Rahel 140 Vatkovä, Renata 174 Verlaine, Paul 265 Vidal-Naquet, P. 277 Viertel, Berthold 171, 243 Vietor-Engländer, Deborah 38 Villum Hansen, Hilde 202, 203 Voltaire 180, 215 Vordtriede, Werner 234, 273 Vring, Georg von der 106

Wagner, Stephan 273 Wallas, Armin A. 240, 242, 243 Walter, Friedrich 34 Walter, Hans Albert 18, 31, 35, 36, 37, 38, 254

302

Wassermann, Jakob 4, 32, 41, 82, 106, 191 Weber, Albrecht 234 Weiskopf, Franz Carl 17, 33, 34 Weisl, Wolfgang von 219 Weiss, Ernst 14 Weiss, Peter 78, 279 Weiss, Ruth 107 Weissenberg, Heinz 86, 88 Weltsch, Robert 47, 51 Werfel, Franz 37, 41, 161 Westermann, Klaus 67, 207, 208, 216, 222 Wicclair, Walter 36 Wiegenstein, Roland H. 207 Wiener, Max 11, 222, 234 Wiener, Oswald 272 Wiese, Benno von 205 Wilensky, Yvonne 106 Willard, Penelope 191 Willett, John 172 Wilson, Thomas W. 67, 68 Witt, Hubert 257 Witte, Bernd 205, 254, 258 Wittlin, Jözef 81 Wiznitzer, Manuel 38 Wolf, Arie 38 Wolf, Friedrich 57 Wolfenstein, Alfred 14, 17, 72, 73, 74, 75 Wolff, Kurt 167 Wolffheim, Hans 35 Wolfskehl, Karl 9, 34, 35, 37, 65, 139ff. Wormann, Curt 109 Wünsche, Dagmar 173

York-Steiner, Heinrich 48

Zabler, Marie 64 Zadek, Walter 254

Personenregister

Zech, Paul 34 Zeppelin, Ferdinand von 106, 107 Zimmermann, Hans Dieter 275 Zohn, Harry 39 Zuckmayer, Carl 69 , 70, 276 Zühlsdorff, Volkmar von 142 Zunz, Leopold 8 Zweig, Arnold 17, 31, 34, 35, 38, 39, 40, 41, 44, 55, 58, 59, 61, 66, 70, 83, 84, 85, 87, 94, 99, 100, 139ff., 162 Zweig, Max 89, 108 Zweig, Stefan 64, 65, 68, 105, 106, 206, 214, 215, 216, 217, 218, 219