Deserteure der Wehrmacht im alpinen Raum: Neue Forschungen [1 ed.] 9783737014137, 9783847114130

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Deserteure der Wehrmacht im alpinen Raum: Neue Forschungen [1 ed.]
 9783737014137, 9783847114130

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ZEITGESCHICHTE 49. Jahrgang, Heft 4 (2022) Herausgeber: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb (Geschäftsführung), Verein zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeitgeschichte, c/o Institut für Zeitgesdtichte der Universität Wien, Spitalgasse 2-4/ Hof(, A-1090 Wien, Tel.: 0043 1 4277 41205, E-Mail Redaktion: [email protected], [email protected]; E-Mail Rezensionen: [email protected] Diese Zeitschrift ist peer-reviewed. Artides appearing in this journal are abstracted and indexed in HISTORICAL ABSTRACTS, AMERICA: HISTORY AND LIFE, CURRENT CONTENTS-ARTS & HUMANITIES, and ARTS & HUMANITIES CITATION INDEX. Bezugsbedingungen Erscheinungsweise: viermal jährlich Erhältlich in jeder Buch.handlung oder bei der HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH. Es gilt die gesetzliche Kündigungsfrist für Zeitschriften-Abonnements. Die Kündigung ist schriftlich zu richten an: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice mbH, Leserservice, Teichäcker 2, D-72127 Kusterdin­ gen, E-Mail: [email protected], Tel.: 0049 7071 / 9353-16, Fax: -93. Unsere allgemeinen Geschäftsbe­ dingungen, Preise sowie weitere Informationen finden Sie unter www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com. Offene Beiträge sind jederzeit willkommen. Bitte richten Sie diese und andere redaktionelle Anfragen an die Redaktionsadresse. Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernehmen Redaktion und Verlag keine Haftung. Die in den einzelnen Beiträgen ausgedrückten Meinungen sind ausschließlich die Meinungen der Autorlnnen. Sie decken sich nicht immer mit den Meinungen von Herausgeberinnen und Redaktion. Gefördert dmch die Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien, das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, die Joham1es Kepler Universität Linz, das Institut für Historische Sozialforschung sowie die Stadt Wien Kultur (MA 7).

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Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. © 2022 ßrill l V&R unipress, ein Imprint der ßrill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke BriU NV umfasst die lmprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R uni press w1d Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligw1g des Verlages. Verlag: 13rill Deutschland GmbH, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, Tel.: 0049 551 50$4-415, Fax: -454, [email protected] Printed in the EU. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 Leck ISSN: 0256-5250 ISBN: 978-3-7370-1413-7

ZEITGESCHICHTE Ehrenpräsidentin: em. Univ.-Prof. Dr. Erika Weinzierl († 2014) Herausgeber: Univ.-Prof. DDr. Oliver Rathkolb Redaktion: em. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Ardelt (Linz), ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Ingrid Bauer (Salzburg/ Wien), SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler (Innsbruck), Dr.in Lucile Dreidemy (Wien), Dr.in Linda Erker (Wien), Prof. Dr. Michael Gehler (Hildesheim), ao. Univ.-Prof. i. R. Dr. Robert Hoffmann (Salzburg), ao. Univ.-Prof. Dr. Michael John / Koordination (Linz), Assoz. Prof.in Dr.in Birgit Kirchmayr (Linz), Dr. Oliver Kühschelm (Wien), Univ.-Prof. Dr. Ernst Langthaler (Linz), Dr.in Ina Markova (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Wolfgang Mueller (Wien), Univ.-Prof. Dr. Bertrand Perz (Wien), Univ.-Prof. Dr. Dieter Pohl (Klagenfurt), Univ.-Prof.in Dr.in Margit Reiter (Salzburg), Dr.in Lisa Rettl (Wien), Univ.-Prof. Mag. Dr. Dirk Rupnow (Innsbruck), Mag.a Adina Seeger (Wien), Ass.-Prof. Mag. Dr. Valentin Sima (Klagenfurt), Prof.in Dr.in Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main), Dr. Christian H. Stifter / Rezensionsteil (Wien), Priv.-Doz.in Mag.a Dr.in Heidemarie Uhl (Wien), Gastprof. (FH) Priv.-Doz. Mag. Dr. Wolfgang Weber, MA, MAS (Vorarlberg), Mag. Dr. Florian Wenninger (Wien), Assoz.-Prof.in Mag.a Dr.in Heidrun Zettelbauer (Graz). Peer-Review Committee (2021–2023): Ass.-Prof.in Mag.a Dr.in Tina Bahovec (Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt), Prof. Dr. Arnd Bauerkämper (Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Freie Universität Berlin), Günter Bischof, Ph.D. (Center Austria, University of New Orleans), Dr.in Regina Fritz (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien/Historisches Institut, Universität Bern), ao. Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Johanna Gehmacher (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien), Univ.-Prof. i. R. Dr. Hanns Haas (Universität Salzburg), Univ.-Prof. i. R. Dr. Ernst Hanisch (Salzburg), Univ.Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch (Institut für Geschichte, Universität Wien), Univ.-Doz. Dr. Hans Heiss (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Robert G. Knight, Ph.D. (Department of Politics, History and International Relations, Loughborough University), Dr.in Jill Lewis (University of Wales, Swansea), Prof. Dr. Oto Luthar (Slowenische Akademie der Wissenschaften, Ljubljana), Hon.-Prof. Dr. Wolfgang Neugebauer (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien), Mag. Dr. Peter Pirker (Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck), Prof. Dr. Markus Reisenleitner (Department of Humanities, York University, Toronto), Assoz. Prof.in Dr.in Elisabeth Röhrlich (Institut für Geschichte, Universität Wien), ao. Univ.-Prof.in Dr.in Karin M. Schmidlechner-Lienhart (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. i. R. Mag. Dr. Friedrich Stadler (Wien), Prof. Dr. Gerald J. Steinacher (University of Nebraska-Lincoln), Assoz.-Prof. DDr. Werner Suppanz (Institut für Geschichte/Zeitgeschichte, Universität Graz), Univ.-Prof. Dr. Philipp Ther, MA (Institut für Osteuropäische Geschichte, Universität Wien), Prof. Dr. Stefan Troebst (Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Universität Leipzig), Prof. Dr. Michael Wildt (Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin), Dr.in Maria Wirth (Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien).

zeitgeschichte 49. Jg., Heft 4 (2022)

Deserteure der Wehrmacht im alpinen Raum Neue Forschungen Herausgegeben von Ingrid Böhler und Peter Pirker

V&R unipress Vienna University Press

Inhalt

Ingrid Böhler / Peter Pirker Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451

Artikel Peter Pirker Deserteure in den Alpen. Vermessungen von Fluchten aus der Wehrmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Johannes Kramer Sonderfall Südtirol. Die erfolgreiche und die gescheiterte Aktivierung des „volksdeutschen Wehrwillens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 Isabella Greber / Peter Pirker Unabkömmlichkeit, Selbstbeschädigung, Desertion, Widerstand: Wehrdienstentziehungen im Vorarlberger Dorf Krumbach . . . . . . . . 513 Nikolaus Hagen „Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“. Der Fall der Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller . . . . . . . . . 543

zeitgeschichte extra Andreas Kranebitter / Maria Pohn-Lauggas „Meine mundlmäßige Familie“. Zur Präsenz des Subproletarischen in Erinnerungen und Familienstrukturen von NS-Opfern . . . . . . . . . . . 573 Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599

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Inhalt

Rezensionen Elisa Frei Gerhard Botz/Alexander Prenninger/Regina Fritz/Heinrich Berger (Hg.), Mauthausen und die Nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik (Europa in Mauthausen 1) Alexander Prenninger/Regina Fritz/Gerhard Botz/Melanie Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen (Europa in Mauthausen 2) . . . . . . . . . . 605 Gabriella Hauch Helmut Konrad, Das Private ist politisch. Marianne und Oscar Pollak

. . 609

Andreas Praher Matthias Marschik, Bewegte Körper. Historische Populärkulturen des Sports in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 Oliver Rathkolb Niklas Perzi/Hildegard Schmoller/Ota Konrád/Václav Sˇmidrkal (Hg.), Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch Österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch, Unterrichtsmaterialien, https://www.geschichtsbuch-didaktik.at/unterrichtsmaterialien [Projektleitung: Ondrˇej Mateˇjka/Thomas Hellmuth; Autorinnen und Autoren: Judith Breitfuß/Ondrˇej Mateˇjka/Alexander Preisinger/Bernard Trautwein/Isabella Schild] Niklas Perzi, Broschüre zum Buch „Nachbarn“. Eine Publikation der Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe (SKÖTH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 614 Kamila Staudigl-Ciechowicz Andreas Huber/Linda Erker/Klaus Taschwer, Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Autor/innen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621

Ingrid Böhler / Peter Pirker

Editorial

Auf einer Waldlichtung in Amras, im Süden von Innsbruck, befindet sich die „Landessöhnegedächtnisstätte Tummelplatz“, die den Gefallenen der Kriege 1797 bis 1809, 1848 bis 1878, 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945 gleichermaßen gewidmet ist. Mit Grabsymbolen aus den Napoleonischen Kriegen bis hin zu einem Gedenkstein, der den Krieg der Wehrmacht als „Kampf um Freiheit“ erinnert, offenbart sie Schichten und Varianten des sakrifiziellen und viktimologischen Erinnerns an soldatisches Sterben. Wenige hundert Meter entfernt liegt ein militärischer Schauplatz, der nach 1945 der Natur überlassen wurde, ein aufgelassener Steinbruch, den die Wehrmachtsjustiz von Dezember 1939 bis April 1945 zur Hinrichtung von Soldaten nutzte, die von Divisionsgerichten in Innsbruck wegen Fahnenflucht und anderer Delikte zum Tode verurteilt worden waren. Die Erschießungen waren während der NS-Zeit zwar stadtbekannt, wurden nach 1945 aber nicht thematisiert. Die Zahl der Hingerichteten blieb über Jahrzehnte im Dunkeln. Vage Hinweise auf den Exekutionsort boten Mitte der 1980er-Jahre Eduard Rabofsky und Gerhard Oberkofler,1 wenig später zog der Leiter des Stadtarchivs Innsbruck Franz-Heinz Hye nach.2 Weitere Nachfragen von Angehörigen Hingerichteter und Recherchen des Journalisten Günter Peis führten zu Überlegungen von Hye, eine Gedenktafel am Ort der Hinrichtungen zu errichten. Dieses Vorhaben verlief Mitte der 1990erJahre jedoch im Sand. Skeptisch gegenüber dem Vorhaben war beispielsweise der Obmann des Bundes der Opfer des politischen Freiheitskampfes in Tirol, Heinz Mayer. Er wollte die Ehrung „nicht politische[r] Opfer“ ausschließen. Den Innsbrucker Bürgermeister Herwig Van Staa erreichten „von anderer Seite“ Ersuchen, von der Errichtung eines Gedenksteines „Abstand zu nehmen“.3 Der 1 Eduard Rabofsky/Gerhard Oberkofler, Verborgene Wurzeln der NS-Justiz, Wien 1985, 59. 2 Franz-Heinz Hye, Die Gauhauptstadt Innsbruck in der Zeit von 1938 bis 1945, in: Meinrad Pizzinini (Hg.), Tirol 1938. Voraussetzungen und Folgen. Ausstellung des Landes Tirol, Innsbruck 1988, 56–73, 72. 3 Heinz Mayer an Herwig van Staa, 30. 12. 1996; Herwig van Staa an Franz-Heinz Hye, 20. 11. 1996. Bund der sozialdemokratischen Freiheitskämpfer Tirol (BSFT), Paschberg-Archiv, Ordner 0.

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Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck, Rolf Steininger, der sich auf Anfrage ebenfalls skeptisch zu einem Erinnerungszeichen äußerte, schlug Van Staa allerdings ein Forschungsprojekt zum Gesamtthema „Wehrmacht in Innsbruck 1943–1945“ vor, das ebenso wenig zustande kam.4 Der Austausch zwischen Archivar, Politiker, Opfervertreter und Historiker blieb ergebnislos. In Südtirol hatten die Historiker Leopold Steurer und Walter Pichler sowie die Historikerin Martha Verdorfer außerhalb universitärer Strukturen bereits eine grundlegende Oral History zu Deserteuren und Kriegsdienstverweigerern veröffentlicht, die an bundesdeutsche Studien anknüpfte und das Thema gesellschaftlich enttabuisierte.5 Die nicht-öffentlichen Sondierungen in Nordtirol hatten vor der Debatte um die Rehabilitierung der Opfer der NSMilitärjustiz auf Bundesebene stattgefunden, die erst mit einer Entschließung des Nationalrats auf Initiative der Grünen 1999 begann und die geschichtspolitisch als eine Facette der in Österreich verspätet einsetzenden Hinwendung zu bislang „vergessenen Opfern“ des Nationalsozialismus betrachtet werden kann. Noch bevor diese Debatte Fahrt aufnahm, fand Martin Achrainer bei Recherchen für seine Diplomarbeit zur Innsbrucker NS-Justiz im Tiroler Landesarchiv in den Handakten von Landeshauptmann Alfons Weißgatterer (ÖVP) den Bericht eines anonymen Beschwerdeführers aus dem Jahr 1948, der die Zahl der am Paschberg hingerichteten Soldaten mit 450 angab und Häftlingstransporte sowie den Hinrichtungsort schilderte. Da die Soldaten „wegen ihrer Freiheitsliebe und gegen den Zwang in der deutschen Wehrmacht“ erschossen worden seien, verlangte er die Hingerichteten als Opfer des Nationalsozialismus zu betrachten.6 Das Amt für Wiedergutmachung für Verfolgte des NS-Regimes der Tiroler Landesregierung, geleitet vom ehemaligen Wehrmachtsrichter, Historiker und Juristen Oswald von Gschließer, hatte im Sommer 1945 bereits anders entschieden: Fahnenflucht sollte nicht zu den Verfolgungsursachen gehören, die Wiedergutmachung begründen konnten.7 Die anonyme Eingabe blieb wirkungslos. Aufgrund fehlender Forschungen zur Wehrmachtsjustiz in den Alpen- und Donaugauen konnte Achrainer die Angaben dieser durchaus authentisch wir-

4 Rolf Steininger an Herwig Van Staa, 27. 11. 1996. Ebd. 5 Leopold Steurer/Martha Verdorfer/Walter Pichler, Verfolgt, verfemt, vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–1945, Bozen 1993; Norbert Haase, Deutsche Deserteure, Berlin 1987; Fietje Ausländer (Hg.), Verräter oder Vorbilder? Deserteure und ungehorsame Soldaten im Nationalsozialismus, Bremen 1990. 6 Die Kriegsopfer des zweiten Weltkrieges sind Opfer des Nazismus, o. A., o. D., Abschrift. Tiroler Landesarchiv (TLA), Kanzlei Landeshauptmann, LH Weißgatterer, LH 60/48 Presse. 7 Antrag o. D. [1945]. TLA, LH Gruber/Weißgatterer, Pos. 4, V. Beschlussprotokolle, Regierungsanträge.

Editorial

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kenden Darstellung nicht verifizieren oder einordnen.8 Die wenig später im Auftrag des Wissenschaftsministeriums unter der Leitung von Walter Manoschek begonnene Untersuchung zu den österreichischen Opfern der NS-Militärjustiz analysierte vor allem Strafverfahren des Gerichts der Division 177 in Wien und konnte zur Aufklärung der Ereignisse am Paschberg wenig beitragen.9 Manoscheks Projekt führte 2005 aber zur gesetzlichen Einbeziehung von Verfolgten der Wehrmachtsjustiz in die Opferfürsorge und ebnete mit anderen Faktoren den Weg zum Rehabilitierungsgesetz von 2009, mit dem der Nationalrat die Desertion aus der Wehrmacht positiv bewertete. Der veränderte Diskurs förderte auch das wieder versunkene Wissen um die Hinrichtungen am Paschberg in Form von Gerüchten zu Tage, die um das Jahr 2010 den Bund Sozialdemokratischer Freiheitskämpfer_innen Tirol (BSFT) erreichten. Einen Antrag des BSFT, ein Mahnmal für die hingerichteten Soldaten zu errichten, stellte die Stadt Innsbruck angesichts weiterhin fehlender Belege für die Zahl der Hingerichteten und die Umstände der Exekutionen zurück. Im Rahmen eines Forschungsprojekts des BSFT zur Thematik verfasste die Studentin Christina Müller zunächst eine Bachelorarbeit am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck, dann eine Masterarbeit am Historischen Institut der Universität Potsdam.10 Ihr gelang der Nachweis, dass in Innsbruck tagende Divisionsgerichte tatsächlich Exekutionen im Steinbruch am Fuße des Berg Isel durchgeführt hatten. Auf dieser Basis beschlossen der Beirat Erinnerungskultur des Landes Tirol sowie die Stadt Innsbruck 2019 ein größeres Forschungsprojekt zu Wehrmachtsdeserteuren in Tirol zu vergeben, das am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck in Angriff genommen wurde.11 Dieser Entscheidung schlossen sich das Land Vorarlberg und das Südtiroler Landesarchiv an. Der historische Untersuchungsraum der drei Teilprojekte umfasste somit den Reichsgau Tirol-Vorarlberg, das 1938 an den Reichsgau Kärnten angeschlossene Osttirol und die italienische Provinz Bolzano/Bozen im größeren Kontext des Wehrkreises XVIII und der hier aufgestellten Truppenverbände. Die Perspektive der Forschungen sollte nun aber nicht mehr nur auf das Opferwerden von Soldaten durch die Militärjustiz ge8 Martin Achrainer, Die Aufgabe der Justiz. Nationalsozialismus und Justiz in Österreich 1938 bis 1945 anhand der Akten des Oberlandesgerichts Innsbruck, Diplomarbeit, Universität Innsbruck 2001, 219. 9 Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003. 10 Christina Müller, Zum Vergessen verurteilt? Die NS-Militärjustiz in Innsbruck mit besonderem Hinblick auf die Vollstreckung der Todesurteile am „Paschberg“, Masterarbeit, Universität Potsdam 2016. 11 Benedikt Erhard/Dirk Rupnow/Ingo Schneider, Förderschwerpunkt Erinnerungskultur: Genese – Ziele – Ausblick, in: Beirat des Förderschwerpunkts Erinnerungskultur (Hg.), Vom Wert des Erinnerns. Wissenschaftliche Projekte der Förderperiode 2014 bis 2018 (Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 22), Innsbruck 2020, 9–20, 17–18.

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richtet sein, sondern die Verweigerungs- und Entziehungspraxis von Soldaten und das solidarische Zutun von ZivilistInnen, also das Desertionsgeschehen, umfänglicher in den Blick nehmen. In diesem Heft sind vier Beiträge mit Ergebnissen aus den Forschungsprojekten versammelt. Der erste Beitrag von Peter Pirker arbeitet die Eckpunkte des Desertionsgeschehens heraus. Auf Basis einer Stichprobe von rund 2.000 Fällen von Desertion und Verweigerung, begangen von Soldaten aus bzw. in der Untersuchungsregion (den heutigen österreichischen Bundesländern Tirol und Vorarlberg sowie der italienischen Autonomen Provinz Bozen – Südtirol) bietet er einen Überblick zu Ausmaß bzw. wesentlichen Kennzeichen des Phänomens und analysiert unter anderen die Ursachen für die Unterschiede, die im interregionalen Vergleich zutage treten. Die Frage nach regionalen Spezifika wird von Johannes Kramer, Autor des zweiten Beitrags zu Südtirol, besonders betont. Dies deswegen, weil die Mobilisierung der deutsch- (und auch ladinisch-)sprachigen Südtiroler in die Wehrmacht unter außergewöhnlichen Umständen erfolgte – der vorgeschalteten Entscheidung für oder gegen eine Umsiedlung in das Deutsche Reich im Rahmen der so genannten Option 1939 sowie der Eingliederung Südtirols in die deutsche Verwaltung durch die Errichtung der Operationszone „Alpenvorland“ 1943, die auch „Dableiber“, die nicht für Deutschland optiert hatten, in die Wehrpflicht zwang. Anhand von exemplarischen Beispielen veranschaulicht Kramer jedoch – neben den Zusammenhängen zwischen Optionsverhalten und Verweigerung – eine Reihe weiterer Einflussfaktoren auf das Desertionsverhalten von Südtiroler Soldaten. Isabella Greber und Peter Pirker nehmen im dritten Beitrag ein Vorarlberger Dorf in den Blick. Die katholisch-bäuerlich geprägte Gemeinde Krumbach verzeichnete eine bemerkenswert hohe Zahl von Wehrdienstverweigerungen und anderen Versuchen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen; darüber hinaus organisierten untergetauchte Soldaten Anfang Mai 1945 auch Widerstandsaktionen gegen die SS. Die Mikrostudie zeigt, dass das nonkonforme Handeln der Wehrpflichtigen einerseits von der Solidarität ihres sozialen Umfelds abhängig war, andererseits aber auch vom ambivalenten Verhalten einzelner Funktionsträger des NS-Staates auf regionaler und lokaler Ebene begünstigt wurde. Der „Fall“ Krumbach ist auch deshalb interessant, weil die Deserteure aus angesehenen Familien stammten. Der Erklärungsansatz, wonach Randständigkeit als Sozialisationserfahrung normabweichendes Verhalten wahrscheinlicher mache, greift dagegen im letzten Beitrag aus der Feder von Nikolaus Hagen. Im Mittelpunkt steht die Flucht dreier Brüder, die ebenfalls im Bregenzerwald in Vorarlberg aufgewachsen waren, über die Berge in die neutrale Schweiz. Hagen räumt der Wurzel- und Besitzlosigkeit der jungen Männer für ihren Entschluss zur Desertion ein entscheidendes Gewicht ein, führt aber genauso situative Dynamiken, innerfamiliären Zusammenhalt und nicht zuletzt einschlägige le-

Editorial

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bensgefährliche Erfahrungen an der Ostfront ins Treffen. In der Zusammenschau erweisen sich Desertionen und Entziehungen als vielfältige und vielschichtige Phänomene. Die Bandbreite an unterschiedlichen Merkmalen, welche die einzelnen Fälle charakterisieren, ist beträchtlich. Den typischen ungehorsamen Soldaten bzw. das typische Unterstützermilieu scheint es nicht gegeben zu haben; einige aussagekräftige Muster hinsichtlich des Sozialprofils von Deserteuren, der Motive und Ermöglichungsbedingungen, des Zeitpunkts, bis zu dem der Entschluss reift, oder der Erfolgsaussichten lassen sich dennoch feststellen. Bezogen auf den Untersuchungsraum drückten außerdem die Nähe der neutralen, Sicherheit verheißenden Schweiz und die Abgeschiedenheit der alpinen Regionen, die für Verstecke besonders geeignet waren, dem Geschehen ihren Stempel auf. In der Rubrik „zeitgeschichte extra“ erscheint in diesem Heft ein Beitrag von Andreas Kranebitter und Maria Pohn-Lauggas. Sie führten Interviews mit Nachkommen von Angehörigen der sozialen Unterschicht, die vom NS-Regime als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslager verschleppt worden waren. In der Analyse machen sie die Auswirkungen der Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen während der NS-Zeit auf das biografische Handeln der Nachkommen sichtbar. Wir widmen dieses Heft Walter Manoschek zum 65. Geburtstag.

Artikel

Peter Pirker

Deserteure in den Alpen. Vermessungen von Fluchten aus der Wehrmacht1

I.

Einleitung

Regional- und lokalhistorische Zugänge standen in den 1980er-Jahren am Beginn der Erforschung von Wehrpflichtentziehung und Desertion aus den deutschen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg. Sie regten eine generelle historische Aufarbeitung der deutschen Militärjustiz an, die bislang weitgehend apologetisch zum Teil von ehemaligen Akteuren als unpolitische Ordnungsinstanz der Armee dargestellt worden war.2 Beide Bewegungen wurden zu Triebfedern bundespolitischer Debatten um die Rehabilitierung verurteilter, in Zuchthäusern und Strafgefangenenlagern verwahrter, gequälter und zu Tausenden hingerichteter deutscher und österreichischer Soldaten, die gegen die Führungsvorschriften gehandelt hatten.3 Ihre Rehabilitierung und Anerkennung als Opfer nationalsozialistisch geprägten Unrechts erfolgte schrittweise zwischen Ende der 1990erund Ende der 2000er-Jahre. Wie insgesamt für die zweite Phase der Vergangenheitspolitik um die „vergessenen Opfer“ des Nationalsozialismus festzustellen, 1 Dieser Artikel beruht auf Forschungen im Rahmen der Projekte „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Tirol“ (gefördert vom Land Tirol und der Stadt Innsbruck) und „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ (gefördert vom Land Vorarlberg) sowie einem komplementären Projekt zu Südtirol (gefördert vom Südtiroler Landesarchiv). 2 Vgl. etwa Marco Dräger, Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt/Main 2017; Hannes Metzler, Nicht länger ehrlos. Die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure in Österreich, in: Peter Pirker/Florian Wenninger, Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2011, 255–273; Peter Pirker/Johannes Kramer, From Traitors to Role Models? Rehabilitation and Memorialization of Wehrmacht Deserters in Austria, in: Eleonora Narvselius/Gelinada Grinchenko (Hg.), Traitors, Collaborators and Deserters in Contemporary European Politics of Memory, Basingstoke 2018, 59–85. 3 Vgl. Manfred Messerschmidt/Fritz Wüllner, Die Wehrmachtsjustiz im Dienste des Nationalsozialismus. Zerstörung einer Legende, Baden-Baden 1987; Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003.

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war die Opferwahrnehmung auch hier von der Erforschung der Täter, in diesem Fall der Wehrmachtsjuristen, begleitet.4 Verfolgte Soldaten und sie verurteilende Richter bildeten auch medienwirksame Pole der Aufbereitung für die Öffentlichkeit. Neben zahlreichen Dokumentationen in Zeitungen und Rundfunk gab die Wanderausstellung „‚Was damals Recht war…‘. Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht“, gestaltet von der Berliner Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, ab Mitte der 2000er-Jahre Anstöße für weitere regionale und lokale Forschungen zur Praxis der Kriegsgerichte. Mancherorts reaktivierte oder verstärkte dies schon früher begonnene Initiativen zur Etablierung von Erinnerungszeichen für die „ungehorsamen“ Soldaten einer Armee, die einen Angriffs- und Vernichtungskrieg geführt hatte.5 Die Forschungsprojekte zu den Wehrmachtsdeserteuren in Tirol, Vorarlberg und Südtirol – Teilergebnisse werden in diesem Artikel präsentiert – sind aus dem internationalen geschichtspolitischen Kontext heraus entstanden, haben zudem aber eine spezifische regionale und lokale Vorgeschichte.6 Die Tiroler Widerstandsbewegung unter ihrem Anführer, ersten Landeshauptmann und Außenminister der Republik Österreich Karl Gruber nahm 1945 für sich in Anspruch, weite Teile des Landes aus eigener Kraft und vor dem Eintreffen der US-Armee befreit zu haben. Deserteure galten in diesem Mythos als Nukleus des Widerstands, als Rebellen eines kolonialisierten Volkes, bevor eine andere Realität – die hohe Truppenkohäsion der Gebirgsdivisionen und deren expansive Veteranenkultur – sie für lange Zeit unsichtbar machte. Überbetonung und Verdrängung spiegeln sich in der Literatur wider. In manchen Berichten ist von mehr als 800 Deserteuren seit 1944 die Rede7 und von der Exekution von 450 einheimischen Soldaten allein in Innsbruck.8 An anderer 4 Vgl. etwa die Beiträge in Claudia Bade/Lars Skowronski/Michael Viebig (Hg.), NS-Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg. Disziplinierungs- und Repressionsinstrument in europäischer Dimension, Göttingen 2015. 5 Vgl. Thomas Geldmacher et al. (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit.“ Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Mandelbaum Verlag, Wien 2010. 6 Zur regionalen Traditionsbildung der Wehrmacht und der Erinnerungskultur zur Wehrmacht in den Alpengauen siehe Peter Pirker, Söhne und Rebellen der Alpen. Geschichtsbilder und empirische Ergebnisse zum Desertionsgeschehen in den Alpengauen, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und Gedächtnisbildung, Paderborn 2023 (im Erscheinen). Zur Erinnerungskultur in Tirol: Horst Schreiber: Gedächtnislandschaft Tirol. Zeichen der Erinnerung an Widerstand, Verfolgung und Befreiung 1938–1945, Innsbruck 2019. 7 Siehe die Berichte und Darstellungen von Widerstandskämpfern aus der ersten Nachkriegszeit in DÖW (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934–1945, Band 2, Wien 1984, etwa 453, 577. 8 Die Kriegsopfer des zweiten Weltkrieges sind Opfer des Nazismus, o. A., o. D. Tiroler Landesarchiv (TLA), Kanzlei Landeshauptmann, LH Weißgatterer, LH 60/48 Presse. Auf die Darstellung wies erstmals Martin Achrainer hin. Ders., Die Aufgabe der Justiz. Nationalsozialismus und Justiz in Österreich 1938 bis 1945 anhand der Akten des Oberlandesgerichts Innsbruck, Diplomarbeit, Universität Innsbruck 2001, 220.

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

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Stelle, vor allem in der weit verbreiteten Veteranenliteratur und in der Landesgeschichtsschreibung, wurden sie geflissentlich und lange ignoriert oder nur am Rande erwähnt.9 Erst in den vergangenen zehn Jahren schenkten Historiker*innen Geschichten von Deserteuren in Tirol und Vorarlberg mehr Aufmerksamkeit, eine quantitative Einschätzung des Fluchtgeschehens aus der Wehrmacht konnte jedoch nicht geleistet werden.10 Christina Müller nahm im Rahmen ihrer Masterarbeit erste gründliche Sichtungen von Quellen vor und konnte immerhin 15 Hinrichtungen durch Innsbrucker Divisionsgerichte am Paschberg dokumentieren.11 Ziel des vorliegenden Artikels ist es, zunächst – und damit vor weiteren Darlegungen zu den Deserteuren und ihrem Sozialprofil, ihren Entscheidungen und Motiven, der Ökonomie und den Techniken des Überlebens, den Beschreibungen desertionsfreundlicher regionaler und lokaler Milieus sowie einer Interpretation des Phänomens – empirische Grundlagenarbeit zu leisten, das Desertionsgeschehen in den Alpengauen des Deutschen Reiches zu vermessen, basierend auf Daten, die durch ein breites und intensives Quellenstudium zu etwa 4.300 Einzelfällen gewonnen wurden, aus denen schließlich ein Sample von 2.064 Deserteuren und Wehrdienstverweigerern sowie 296 Helfer*innen gebildet wurde.12 Ausgehend vom Territorium des Wehrkreises XVIII mit Kommando in Salzburg wird der Fokus auf das Gebiet der heutigen Bundesländer Tirol und Vorarlberg sowie der italienischen Autonomen Provinz Bozen – Südtirol gelegt. Die militä9 Beispielsweise Karl Ruef, Gebirgsjäger zwischen Kreta und Murmansk: die Schicksale der 6. Gebirgsdivision, Graz 1975; Wilhelm Eppacher/Karl Ruef, Hohe Tapferkeitsauszeichnungen an Tiroler im zweiten Weltkrieg, Innsbruck 1975; Franz-Heinz Hye, Die „Gauhauptstadt“ Innsbruck in der Zeit von 1938 bis 1945, in: Meinrad Pizzinini (Hg.), Tirol 1938. Voraussetzungen und Folgen. Ausstellung des Landes Tirol, Innsbruck 1988, 56–73, 72. 10 Vgl. die entsprechenden Beiträge in: Thomas Geldmacher et al., (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit…“ Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010; Gisela Hormayr, „Die Zukunft wird unser Sterben einmal anders beleuchten“. Opfer des katholisch-konservativen Widerstands in Tirol 1938–1945, Innsbruck 2015; Horst Schreiber, Endzeit. Krieg und Alltag in Triol 1945, Innsbruck 2020. Zu Südtirol und Vorarlberg siehe außerdem die weiteren Beiträge in diesem Heft. 11 Christina Müller, Zum Vergessen verurteilt? Die NS-Militärjustiz in Innsbruck mit besonderem Hinblick auf die Vollstreckung der Todesurteile am „Paschberg“, Masterarbeit, Universität Potsdam 2016; dies., „Die Vergessenen vom Paschberg“. Eine Hinrichtungsstätte der Deutschen Wehrmacht in Innsbruck, in: Gaismair-Jahrbuch 2014, Innsbruck 2013, 176–183. 12 Ich danke Aaron Salzmann und Simon Urban, die im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA), im Tiroler Landesarchiv (TLA) und Vorarlberger Landesarchiv (VLA) an der Auswertung von Akten mitgearbeitet haben und meinem Kollegen Johannes Kramer, der das Projekt zu Südtirol durchführt, sowie Isabella Greber und Klaus Hagen für das gute gemeinsame Arbeiten. Christina Müller, Helmut Muigg, Sabine Pitscheider, Ingrid Böhler, Dirk Rupnow, Eva Pfanzelter, Christian Mathies, Magnus Hauglid, Lars Hannson, Gisela Hormayr, Hannes Metzler, Magnus Koch, Marcus Herrberger, Kerstin von Lingen, den Mitarbeiter*innen der Staats- und Landesarchive, von lokalen Museen und Archiven, Chronist*innen und Angehörigen von Deserteuren schulde ich Dank für die freundliche Hilfe und das höchst kollegiale Überlassen von Quellen und Hinweisen auf solche.

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rische Konfiguration und Bedeutung des Raumes für die deutsche Kriegsführung wird eingangs knapp beleuchtet, ohne auf die komplizierten organisatorischen Verläufe von Umgliederungen und Umbenennungen von Truppenteilen einzugehen. Ausführlicher wird in einem nächsten Schritt die Quellenbasis der Erhebung dargestellt. Der dritte Abschnitt präsentiert anhand von Tabellen quantitative Ergebnisse zur regionalen Herkunft der Deserteure und Verweigerer, zu Formen und Verläufen der Entziehungspraxis, zur regionalen und lokalen Verteilung des Desertionsgeschehens und schließlich zu den Überlebenschancen der Deserteure und Verweigerer. Das Ermitteln von Deserteuren glich bisweilen dem sprichwörtlichen Suchen nach Nadeln in Heuhaufen, letztlich wurden aber fast in jedem welche gefunden.

II.

Der Wehrkreis XVIII im deutschen Alpenland und seine Erweiterungen nach Süden

Das Oberkommando der Wehrmacht teilte das Gebiet des ehemaligen Österreich in die Wehrkreise XVII und XVIII ein. Der erste umfasste die Reichsgaue Oberdonau und Niederdonau, der zweite die Alpengaue Tirol-Vorarlberg, Salzburg, Steiermark und Kärnten. In zeitgenössischen Atlanten wurde dieses Gebiet als „deutsches Alpenland“ tituliert. Im Wehrkreis XVIII stellte die Wehrmacht 1938/39 aus Truppen des Bundesheeres Gebirgsjägerregimenter auf und bildete aus ihnen und einigen kleineren Einheiten die 2. und die 3. Gebirgsdivision, die im September 1939 nach Polen in den Krieg geschickt wurden.13 Später waren die beiden Divisionen im Großraum Nordnorwegen, Finnland, Sowjetunion gegen die Rote Armee im Einsatz, 1944 an der Westfront, die Reste kämpften zuletzt in Tirol. Hinzu kam die in Salzburg gebildete 5. Gebirgsdivision, die 1941 nach Griechenland und später an die Fronten in der Sowjetunion und in Italien geschickt wurde. Soldaten aus dem Wehrkreis XVIII füllten aber auch die Gebirgsjägerregimenter der 6. und 7. Gebirgsdivisionen auf, die 1940/41 in Baden sowie in Bayern entstanden. Deren Einsatzgebiete lagen ebenfalls in Griechenland und später an den nördlichen Abschnitten der Front gegen die Sowjetunion. Nach dem Abkommen zwischen Hitler und Mussolini über die Option in Südtirol vom Oktober 1939 übernahm der Wehrkreis XVIII auch die Anwerbung von Freiwilligen in der italienischen Provinz Bolzano, außerdem wurden 13 Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945. Band 2: Die Landstreitkräfte 1–5, Osnabrück 1973, hier 101–102; ders., Band 16 (Teil 3): Wehrkreise XVII, XVIII, XX, XXI und besetzte Gebiete Ost und Südost, Osnabrück 1996, hier 41–54; und ders., Band 7: Die Landstreitkräfte 131–200, Osnabrück 1973, hier 23–38.

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deutsch- oder ladinischsprachige Männer, die sich für das Auswandern ins Deutsche Reich entschieden hatten, ab Sommer 1941 auch jene, die nach wie vor in Südtirol lebten, wehrpflichtig.14 Bereits im November 1939 gebildet, erhielt die Division 188 als Teil des Ersatzheeres die Aufgabe frische Rekruten auszubilden, die anschließend die Felddivisionen auffüllten. Ihr unterstellt waren unter anderem die Gebirgsjäger-Ersatz-Regimenter (GJER) 136 (Innsbruck), 137 (Salzburg), 138 (Graz) sowie 139 (Klagenfurt). Im Jahr 1941 erfuhr der Wehrkreis XVIII mit dem Angriff auf Jugoslawien und der Einrichtung von Zivilverwaltungsgebieten (Chef der Zivilverwaltung – CdZ) in Oberkrain/Gorenjska und in der Untersteiermark/Stajerska eine territoriale Erweiterung. Im Zuge der Germanisierungspolitik wurde die als eindeutschungsfähig erachtete männliche Bevölkerung 1942 wehrpflichtig, gemustert und zur Ausbildung einberufen, sehr häufig zu Einheiten der Division 188 und ab 1943 zur neu gebildeten Division 418. Im September 1943 erfolgte der nächste Expansionsschritt: Mit der Besetzung Norditaliens und der Einrichtung zweier ebenfalls zivil verwalteter Operationszonen in Slowenien und Norditalien (Adriatisches Küstenland und Alpenvorland) erhielt die Division 188 nun auch Funktionen des Feldheeres: Ein Teil fungierte als Besatzungstruppen in Norditalien mit Standorten von Postonja über Belluno bis Schlanders, ein Teil blieb zur Bildung von Ersatz in Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Kärnten und der Steiermark und wurde der von Klagenfurt nach Salzburg verlegten Division 418 unterstellt. An deren Stelle entstand in Klagenfurt die Division z.b.V. (zur besonderen Verwendung) 438, deren Landesschützenregimenter zur Grenzsicherung und Bekämpfung der slowenischen Partisanen eingesetzt wurden. In den Operationszonen waren die deutschen Truppen fast überall mit italienischen und slowenischen Partisanen konfrontiert. Zugleich entstand ein eng kommunizierender multiethnischer Raum mit viel Bewegung zwischen Herkunfts-, Ausbildungs- und Einsatzgebiet, da die Soldaten beispielsweise kurze Urlaube für Heimfahrten nutzen konnten. Die Heimat war relativ leicht erreichbar. Ein weiteres Merkmal war die 1943/44 von den Reichskommissaren Franz Hofer und Friedrich Rainer in den Operationszonen verordnete Ausdehnung der Wehrpflicht auf nicht-deutsche Staatsbürger, was den Zulauf zu den slowenischen und italienischen Partisanen verstärkte.15 All diese Faktoren können als günstige Voraussetzungen für die Entwicklung von Desertionsgeschehen im (erweiterten) Wehrkreis XVIII betrachtet werden.16

14 Siehe dazu den Beitrag von Johannes Kramer in diesem Heft. 15 Siehe dazu Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik in Norditalien 1943 bis 1945, München 2003, 209–216. 16 Freilich wurden Soldaten aus dem Wehrkreis XVIII auch zu anderen als den genannten Divisionen abgestellt.

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III.

Empirische Untersuchung

3.1

Quellen zur Erfassung von Desertionsgeschehen

Grob gesprochen untersuchen die eingangs erwähnten Projekte Desertionen und andere Formen von Wehrdienstentziehungen bezogen auf einen bestimmten Raum, nämlich dem Gebiet der heutigen österreichischen Bundesländer Vorarlberg und Tirol sowie der italienischen autonomen Provinz Bozen – Südtirol. Wir erforschten die Desertions- bzw. Entziehungspraxis von Soldaten und Wehrpflichtigen mit Herkunft aus diesem Raum und ungeachtet ihrer Herkunft in diesem Raum. Die Eingrenzung der Erhebung ergibt sich somit aus den auf das genannte Gebiet bezogenen Kriterien der Herkunft und der Handlung. Uns interessiert also beispielsweise ein Soldat aus Osttirol (das zwischen 1938 und 1945 zum Reichsgau Kärnten gehörte), der aus dem Gebirgsjägerregiment 139 an der Murmanskfront in Finnland zur Roten Armee überlief, ein Hamburger Matrose, der in Vorarlberg über den Rhein in die Schweiz schwamm, ein Ötztaler Bauer, der nicht mehr zu seiner Infanterieeinheit an der Ostfront einrückte, ebenso wie ein Soldat aus der CdZ Krain, der kaum Deutsch verstand, aber im Gebirgsjägerersatzregiment 136 in Schlanders in Südtirol einer Besatzungstruppe angehörte und über die nahe Schweizer Grenze zu fliehen versuchte, wofür ihn der Richter des Divisionsgericht 188, Hans Petsche, zum Tod verurteilte. Darüber hinaus interessieren uns jene Menschen, es sind vor allem Frauen, die innerhalb dieses Territoriums Deserteure und Verweigerer unterstützten. Die erste Eingrenzung der Quellen erfolgte nach der bereits skizzierten territorialen Organisation des Wehrkreises XVIII. Für die Disziplinierung der Soldaten waren die Militärgerichte der hier aufgestellten Kommandostellen und Divisionen zuständig. Fahnenflucht bzw. Desertion war im deutschen Militärstrafgesetz als unerlaubte Entfernung eines Soldaten mit der Absicht „sich seiner […] Verpflichtung zum Dienste dauernd zu entziehen“17 definiert. Neben Fahnenflucht beinhaltete das Militärstrafrecht eine Reihe weiterer Delikte, die als Entziehungen galten. Dazu gehörten die Flucht von der Front während des Gefechts („Feigheit“), das eigenmächtige Entfernen bzw. das Fernbleiben von der Truppe („unerlaubte Entfernung“), die Selbstbeschädigung oder Vortäuschung von Gebrechen („Selbstverstümmelung“). Hitler und die Armeeführung ließen das deutsche Militärrecht 1939 mit der Einführung der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) gerade im Bereich der Entziehungsdelikte zum Teil neu formulieren. Militärjuristen führten massive Verschärfungen ein, etwa durch den Entfall klarer Straftatbezüge. Mit dem § 5 „Wehrkraftzersetzung“ sollte jegliche Form der Wehrdienstentziehung durch die Androhung der Todesstrafe als Re17 Militärstraf-Gesetzbuch für das Deutsche Reich (1872), § 69.

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gelstrafe unterbunden bzw. jedenfalls gerächt werden.18 Die Militärjustiz wurde auf diese Weise auch zu einem Instrument der Konstruktion einer kriegerischen Volksgemeinschaft, d. h. der Ausscheidung von Menschen, die aus nationalsozialistischer Sicht im Krieg gemeinschaftsfremd agierten. Ein Richter des Gerichts der Division 188, Kriegsgerichtsrat Wildgruber, verurteilte im Oktober 1943 den 30-jährigen Bergbauer Josef Neuner, der nach Lazarettaufenthalten und einem Genesungsurlaub nicht mehr zu seiner Einheit an der Eismeerfront einrückte, mit der Begründung in Innsbruck zum Tod, er habe durch seine Fahnenflucht „in schändlicher Weise auf den Zusammenbruch des Vaterlandes spekuliert und nur daran gedacht, sich dem Einsatz im Endkampf zu entziehen. […] Auch mehren sich die Fälle, dass Bauernsöhne aus ähnlichen Gründen wie der Angeklagte, fahnenflüchtig werden, sodass es zur Aufrechterhaltung der Manneszucht unerlässlich ist, mit der schwersten Strafe vorzugehen. Es ist notwendig gerade in diesen Bevölkerungskreisen, die auf ihren einsamen gelegenen Bauernhöfen ungestört der feindlichen Rundfunkpropaganda ihr Ohr schenken, vor Augen zu führen, dass vaterlandslose Einstellung den sicheren Tod zur Folge hat.“19

Wissenschaftlich unbestritten ist mittlerweile, dass Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht – auch wenn sie auf den Grundlagen des älteren Militärstrafrechts basierten – staatlicherseits zu hochpolitisierten Taten geformt wurden. Sie galten führenden Militärjuristen als ultimative Verbrechen eines Soldaten an der deutschen Volksgemeinschaft. So wurden „traditionelle Normen von Disziplin und Gehorsam […] bewußt und bereitwillig den politischen Konzepten“ angepasst.20 Das Delikt Wehrkraftzersetzung umfasste verschiedene Ausprägungen. Für unser Forschungsinteresse sind die Strafakten zu Entziehungen und Beihilfen dazu relevant, unberücksichtigt blieben hingegen wehrkraftzersetzende sprachliche Äußerungen, es sei denn, diese führten zu Fluchthandlungen von Soldaten oder Wehrpflichtigen. Für unser Forschungsvorhaben bildeten die überlieferten Akten der genannten Gerichte der Gebirgsdivisionen und ihrer Ersatz-Divisionen den ersten Quellenbestand (Tab. 1).21 Die Gerichte der Felddivisionen urteilten meist direkt bei den kämpfenden Truppen. Die Gerichte der Ersatzdivisionen 188 und 418 hatten Standorte in Innsbruck, Salzburg, Graz und Klagenfurt und ab 1943/44 auch im 18 Reichsgesetzblatt Nr. 147, 26. 8. 1939. Siehe dazu Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2005, 72; Stefan Kurt Treiber, Helden oder Feiglinge? Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt/Main 2021, 95–96. 19 Gericht der Division 188, Urteil, 19. 10. 1943. ÖStA, Archiv der Republik (AdR), Deutsche Wehrmacht (DWM), Gerichtsakten (GerA), 349/8. 20 Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1995, 95; vgl. Treiber, Helden oder Feiglinge, 105. 21 Ausgenommen bleiben musste aus forschungsökonomischen Gründen das Gericht der Division z.b.V. 438, zu dem es einen Aktenbestand im Bundesarchiv Militärarchiv gibt.

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gesamten oberitalienischen Raum. Für Innsbruck ist belegt, dass die Anfang Mai 1945 dort noch verwahrten Verfahrensakten der Divisionsgerichte 188 und 418 zur Gänze vernichtet wurden.22 Erledigte Verfahren waren allerdings von den Gerichtsstandorten an das Wehrkreiskommando XVIII in Salzburg abgegeben und am Landesgericht Salzburg gesammelt worden, sodass das Österreichische Staatsarchiv 1955 etwa 5.400 Akten von Militärgerichten des Wehrkreises XVIII übernehmen konnte.23 Im Bundesarchiv Militärarchiv in Freiburg sind zudem Divisionsgerichtsakten erhalten, die von den Gerichtsstandorten an das Zentralgericht des Heeres abgegeben worden waren – in den meisten Fällen handelte es sich um Akten zu flüchtigen Soldaten. Wir nahmen die Verfahrensakten der Divisionen 188 und 418 im Österreichischen Staatsarchiv und im Bundesarchiv Militärarchiv vollständig auf und ergänzten sie um an anderer Stelle gefundene Splitter. Dadurch sollte der Anteil von Entziehungsdelikten an allen Verfahren dieser Gerichte abschätzbar werden. Insgesamt wurden auf diese Weise 1.982 beschuldigte Soldaten eruiert. Hinzu kamen Entziehungsfälle der Gerichte der Gebirgsdivisionen 2, 3, 5 und 6, der 188. Reserve-Gebirgs-Division24, der 118. Jägerdivision, der 718. Division, des Generalkommandos des XVIII. Armeekorps, des Befehlshabers Kroatien und der Heeresgruppe C. Ergänzend lieferten die Literatur und der Austausch mit anderen Forscher*innen Hinweise auf eine größere Zahl von Einzelfällen von Verfahren gegen Soldaten aus dem Untersuchungsgebiet, die anderen Divisionen zugeteilt waren. Im Bundesarchiv Militärarchiv wurden außerdem die Todesurteilssammlungen des Gerichts des Armeeoberkommandos 1825, des Zentralgerichts des Heeres26 sowie die (unvollständige) Kartei der zum Tode Verurteilten27 durchgesehen. Aus der Forschung ist die Problematik der Urteilsfindung im Falle der unerlaubten Entfernung von Soldaten bekannt.28 Zu Beginn einer festgestellten eigenmächtigen Entfernung verfasste die zuständige Truppe einen Tatbericht, der meist noch nicht festlegte, ob Fahnenflucht oder unerlaubte Entfernung vorlag. Welches Delikt angeklagt wurde, hing vom Verlauf der Entfernung und den weiteren Erhebungen ab. Relativ einfach gestaltete sich die Sache, wenn Soldaten 22 Sterbebuch des Standesamtes Innsbruck, Inhaltserklärung, 31. 12. 1945. Stadtarchiv Innsbruck. Vgl. Müller, Zum Vergessen verurteilt, 15. 23 Archivierungsgeschichte, ÖStA, AdR, MaNS Gerichte, 1938–1945 (Bestand), https://www.ar chivinformationssystem.at/detail.aspx?ID=5847 (abgerufen 20. 7. 2022). 24 Dies war die Bezeichnung nach der Umgliederung der Division 188 zur Verlegung ihrer Truppen nach Norditalien mit dem Divisionsstab in Belluno. 25 Bundesarchiv Militärarchiv (BA MA), RW 60/243–253. 26 BA MA, RW 60/3765–3767. 27 BA MA, RW 59/2216. Bei diesen Beständen ist die Identifizierung nach dem Herkunftsprinzip schwierig, da zwar die Truppenzugehörigkeit, nicht aber die Geburts- oder Wohnorte der Soldaten verzeichnet sind – die Nachrecherchen gestalten sich entsprechend aufwändig. 28 Vgl. Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“, 137–139.

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aus eigenem Antrieb wieder zur Truppe zurückkehrten. Dann wurde in den meisten Fällen je nach Dauer der Abwesenheit entweder eine Disziplinarstrafe verhängt oder Anklage wegen unerlaubter Entfernung erhoben. Wenn Soldaten erst durch eine Festnahme zur Rückkehr gebracht wurden, musste dagegen erst eruiert werden, ob die Absicht einer dauerhaften Entziehung das Motiv der Entfernung gebildet hatte. Um dies festzustellen, gab es verschiedene Kriterien, etwa ob der Soldat sich Zivilkleider angezogen hatte, ob er beim Versuch, ins Ausland, zu den Alliierten oder zu Partisanen zu gelangen, festgenommen worden war, ob er andere Vorkehrungen getroffen hatte, um seine Ergreifung zu erschweren oder ob er aus Angst vor dem Kampf oder Furcht vor dem Feind entwichen war. Soldaten, die sich nach einer unerlaubten Entfernung stellten oder festgenommen worden waren, hatten selbstverständlich jedes Interesse, derartige Vorwürfe zu entkräften, um eine Anklage auf Fahnenflucht und damit die drohende Todesstrafe abzuwenden. Formalrechtlich hatte das Militärgericht im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung die Absicht der Fahnenflucht nachzuweisen. Freilich genügte die NS-Militärjustiz aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung und der Einschränkung von Rechten der Angeklagten – sie war eine Form der Sonderjustiz – nicht den Standards damals üblicher rechtsstaatlicher Verfahren der zivilen Justiz. Es wäre aber auch eine grobe Verkürzung, würde man davon ausgehen, dass das Interesse von Militärrichtern stets darauf gerichtet war, einen nach unerlaubter Entfernung angeklagten Soldaten der Fahnenflucht zu überführen, um nach Möglichkeit die Todesstrafe zu verhängen. Diese Tendenz mag bei manchen Richtern ausgeprägt gewesen sein, das Aktenstudium zeigt aber auch gegenteilige Fälle mit geradezu umgekehrten Urteilen, bei denen Richter der Darstellung der Angeklagten folgten und der Eindruck entsteht, dass sie eine Verurteilung wegen Fahnenflucht vermeiden wollten. Vor allem auf der Ebene der Gerichte der Divisionen des Feld- und Ersatzheeres hatten die Richter neben den ideologisch hoch aufgeladenen Bestimmungen der NS-Militärjustiz spätestens ab dem Sommer 1944 auch das Interesse der Truppen im Blick, verurteilte Soldaten nach Verbüßung von (Teil-) Strafen wieder zur Verfügung zu bekommen – und das war bei der Bestrafung nach dem Delikt der unerlaubten Entfernung weit einfacher als bei einer Verurteilung nach dem Delikt Fahnenflucht, das mit dem Verlust der Wehrwürdigkeit einherging. Ähnliches galt auch für den Strafvollzug. Heinrich Himmler, der im August 1944 Befehlshaber des Ersatzheeres wurde, ordnete im September 1944 an, den Strafvollzug unbedingt in den Dienst der Kriegsführung zu stellen, was in der Praxis die in den Akten häufig festzustellende Aussetzung auch von gravierenden Strafen zur „Frontbewährung“ bedeutete.29 29 Vgl. dazu Kerstin Theis, Wehrmachtjustiz an der „Heimatfront“: Die Militärgerichte des Ersatzheeres im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2016, 404–405.

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Ist das Forschungsinteresse nicht allein auf das Handeln der Richter und das Funktionieren der Wehrmachtsjustiz gerichtet, sondern die Gerichtsakten als Quelle für das Studium des Handelns von abtrünnigen Soldaten dienen, können das Delikt der Anklage bzw. das Urteil nicht die entscheidenden Kriterien der Analyse sein. Ein Gericht muss ein Verfahren im Regelfall mit einer eindeutigen Entscheidung schließen – dieser Notwendigkeit unterliegt die historische Interpretation nicht.30 Ihr muss es vielmehr darum gehen, offen zu bleiben für die Schattierungen und die Dynamik des Handelns des sich entziehenden Soldaten. Ein entwichener Gebirgsjäger, den der Vater nach einer Woche Abwesenheit in die Kaserne zurückbrachte, konnte ein gescheiterter Deserteur sein, der wegen fehlender familiärer Unterstützung zum Abbruch seiner Flucht genötigt war. Die Selbststellung reichte dem Gericht aber aus, um sein Handeln als unerlaubte Entfernung gelten zu lassen. Strafverfahren, die nach dem Delikt der unerlaubten Entfernung geführt wurden, mangels Ergreifens des Soldaten zu keinem Abschluss kamen und zur Einleitung weiterer Fahndungsmaßnahmen an das Zentralgericht des Heeres abgegeben wurden, blieben auf der Ebene der Divisionsgerichte mit diesem Delikt verzeichnet. So meldete die Gebirgs-Sanitäts-Ersatz-Abteilung 18 in Saalfelden am 20. September 1944 dem Gericht der Division 418 die unerlaubte Entfernung des Stabsgefreiten Alfons Auderer aus Tumpen im Ötztal. Zwei Monate später schloss es die Ermittlungen und gab den Fall an die Abteilung Fahndung des Zentralgerichts des Heeres weiter.31 Aus anderen Quellen wissen wir, dass sich Auderer mit Hilfe seiner Familie und bereits desertierter Soldaten in der Umgebung seines Heimatortes bis Kriegsende versteckte und überlebte, seine unerlaubte Entfernung also eine Desertion war.32 Neben der Erfassung von Fällen aus den Akten der Wehrmachtsjustiz galt es Quellen zu erschließen, die jenes Desertionsgeschehen im skizzierten Gebiet dokumentieren, welches in den Militärjustizakten mangels Zuständigkeit nicht aufscheint. Zu nennen sind hier zunächst Überreste der Akten der Polizei- und Justizbehörden im Reichsgau Tirol-Vorarlberg sowie des Reichsgaus Kärnten, sofern sie sich auf Osttirol bezogen. Die Polizei des NS-Staates war in allen Gliederungen (Kriminalpolizei, Geheime Staatspolizei, Schutz- und Ordnungspolizei, Gendarmerie) in die Fahndung und Verfolgung flüchtiger Soldaten eingebunden. Dokumente der polizeilichen Verfolgungspraxis der Gendarmerieposten sind in den unterschiedlich gut erhalten gebliebenen Akten der Landräte im Reichsgau Tirol-Vorarlberg vorzufinden, die die Scharnierstelle 30 Nicht in das Sample aufgenommen wurden Fälle, bei denen das Gericht das Verfahren einstellte, weil sich der Anfangsverdacht als unbegründet herausstellte oder ein Freispruch erfolgte. 31 ÖStA, AdR, DWM, Divisionen 418 u. 188, Strafsachenliste 1944, II 706. 32 DÖW 13240; Interview mit Hildegard Frischmann (Tochter), 16. 9. 2020.

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zwischen den regionalen und lokalen Instanzen bildeten.33 Mancherorts entwickelten die Landräte besonderen Eifer bei der Aktivierung der lokalen Gendarmerie für die Nachforschung nach Deserteuren. Der Landrat des Kreises Bregenz, Walter Didlaukies, ließ sein Amt ab November 1943 zwei separate Verzeichnisse über „Fahnenflüchtige die im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ und „Fahnenflüchtige die nicht im Landkreis Bregenz ihren Wohnsitz haben“ führen. Im ersten wurden bis März 1945 65 Personen, im zweiten hundert verzeichnet. Angeschlossene Berichte der Gendarmerie- und Grenzpolizeikommandos über Festnahmen und Fahndungen boten soziale Daten, manchmal rudimentäre, manchmal detaillierte Informationen über den Verlauf von gescheiterten und (bislang) gelungenen Fluchten.34 Unterschiedlich ergiebig war die stichprobenartige Durchsicht der Chroniken der Gendarmerieposten in Tirol und Vorarlberg. Manche Postenkommandanten protokollierten Festnahmen und Aktivitäten von namentlich genannten Deserteuren, andere Chroniken erwähnen Desertionen zwar, jedoch ohne weitere Angaben, sodass die Darstellungen kaum oder nur mit erheblichem Aufwand nachvollziehbar sind.35 Provenienz Militärgerichte und Wehrmachtsschriftgut

Div. 188 Div. 418 Zwischensumme

Eruierte Relevante Relevante Fälle Fälle Fälle % (Sample) 1122 329 860 1982

181 510

2. Geb.Div. 3. Geb.Div.

65 17

31 8

4. Geb.Div. 5. Geb.Div.

8 18

5 7

6. Geb.Div. 188. Res.Geb.Div.

46 51

31 7

21 140

17 98

2348

8 722

Reichskriegsgericht Diverse Mil.Gerichte Wehrmachtsschriftgut Zwischensumme

31 %

33 Dichte und Qualität der Überlieferung der „Vorfallensberichte“ der Gendarmerieposten an die Landräte variieren stark. Für Landeck und Schwaz liegen im TLA gut geordnete Bestände vor, bei Kitzbühel ist dies nicht der Fall, zu Lienz gibt es keinen Bestand. Im VLA war der Bestand des Landratsamtes Bregenz ergiebig. 34 VLA, Landratsamt Bregenz, PV 043/1/1. 35 Ein Beispiel für ersteres ist die Chronik des Gendarmerieposten (GP) Huben in Osttirol, ein Beispiel für zweiteres die Chronik des GP Reith im Alpbachtal. TLA.

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(Fortsetzung) Provenienz Sondergerichte

Feldkirch Innsbruck

Eruierte Relevante Relevante Fälle % Fälle Fälle (Sample) 206 158 149 101

Bozen Feldkirch

8 5

8 5

Innsbruck Diverse Standorte

4 5

4 5

Vorarlberg Tirol

140 62

86 37

Diverse Standorte Vorarlberg

4 179

2 169

Tirol Zwischensumme

113 875

100 675

A-Opferfürsorge

Vorarlberg Tirol

50 125

32 96

A-Justiz, Polizei, Politik A-Lokalarchive

Tirol und Vorarlberg Tirol und Vorarlberg

48 19

29 17

CH-Flüchtlingsakten SWE-Flüchtlingsakten

Schweiz Schweden

140 22

140 22

SLO-Österr. Bataillone UK-Deserteursakten

Slowenien Großbritannien Zwischensumme

8 1 413 108

8 1 345 103

544 652

515 618

Landgerichte

Gefängnisse u. Lager

Polizei

Privatquellen, Interviews Quellenpublik., Literatur Zwischensumme

29 %

14 %

26 %

Gesamt 4290 2360 100 % Tab. 1: Quellenübersicht zu eruierten und relevanten Fällen (angegeben sind die jeweils zusätzlich gefundenen Fälle). Stand der Erhebung: 30. 9. 2022.

Essenziell für die Erfassung der Desertions- und Entziehungspraxis sind die Akten der im September 1939 eingerichteten Sondergerichte an den Landgerichten Feldkirch, Innsbruck und Klagenfurt und des 1943 etablierten Sondergerichts Bozen. Die Sondergerichte können bei der Bekämpfung von Fahnenflucht und Wehrdienstentziehung als die zivile Ergänzung der Militärgerichte betrachtet werden. Sie urteilten wegen Wehrdienstentziehung, wenn die Betroffenen grundsätzlich wehrpflichtig waren, aber (noch) nicht im Wehrdienst standen. Zudem wurden Zivilist*innen belangt, wenn sie Wehrpflichtigen oder Soldaten die Flucht vor dem Dienst in der Wehrmacht nahelegten und/oder sie

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dabei unterstützten, sei es durch Fluchthilfe, sei es durch Nichtanzeigen, Unterkunft und Versorgung. So wurden die Eltern des erwähnten zum Tode verurteilten Bergbauern und ein weiterer Unterstützer vor dem Sondergericht Innsbruck angeklagt und zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt. Als Rechtsgrundlage zogen Sondergerichte im ehemaligen Österreich neben dem § 5 der KSSVO auch das Österreichische Strafgesetzbuch (ÖStGB) mit den §§ 220 (Begünstigung der Fahnenflucht), 221 (Beihilfe zur Fahnenflucht) und 222 (Verleitung oder Hilfeleistung zur Verletzung militärischer Dienstpflicht) heran.36 Relevant für unsere Untersuchung war außerdem die Verordnung zum Schutz des Reichsarbeitsdienstes (§ 4 Fahnenflucht, § 5 Dienstpflicht).37 Die Richter besaßen einigen Spielraum, um Strafverfahren selbst durchzuführen oder an andere Gerichte abzugeben. In letzterem Fall blieben die entsprechenden Taten durch die gepflogenen Vorerhebungen zumindest für Vorarlberg rudimentär rekonstruierbar.38 Festgehalten werden muss für die Ergebnisse der Recherchen zu den Sondergerichten, dass die Akten in ganz unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung stehen. Am besten ist die Quellenlage zum Sondergericht Feldkirch. Im Vorarlberger Landesarchiv (VLA) liegen die Unterlagen von etwa 210 Strafsachen wegen Wehrdienstentziehung mit umfangreichen Einvernahmen der Angeklagten, Protokollen der Hauptverhandlungen, Anklage- und Urteilsschriften. Im Tiroler Landesarchiv (TLA) sind immerhin 67 Akten solcher Gerichtsverfahren verwahrt, wobei sämtliche Verfahren, die zu keiner Anklage führten, fehlen. Vom Sondergericht Bozen sind nur eine Handvoll Verfahren erhalten geblieben bzw. über Häftlingsakten rekonstruierbar.39 Nicht besser ist die Überlieferung zum auch für den Kreis Lienz zuständigen Sondergericht Klagenfurt. Hier ist kein einziger Fall der Ahndung von Wehrdienstentziehung oder Beihilfe zur Fahnenflucht mehr verfügbar. Neben den Sondergerichten verurteilten auch die Landgerichte Feldkirch, Innsbruck und Klagenfurt fallweise 36 Vgl. Albrecht Kirschner, Teil IV Wehrkraftzersetzung, in: Wolfgang Form/Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938–1945, Berlin 2011, 405–750, 419–423. 37 Vgl. Peter Pirker/Aaron Salzmann, Wehrdienstentziehungen an der Reichsgrenze. Die Verfolgungspraxis des Sondergerichts Feldkirchs im regionalen Vergleich, in: Kerstin von Lingen/Peter Pirker (Hg.), Deserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Verfolgung und Gedächtnisbildung, Paderborn 2023 (im Erscheinen). 38 Zum Spezialfall des Sondergerichts Bozen siehe ebenda, sowie Gerald Steinacher, „…verlangt das gesunde Volksempfinden die schwerste Strafe“: Das Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland 1943–1945. Ein Vorbericht, in: Klaus Eisterer (Hg.), Tirol zwischen Diktatur und Demokratie (1930–1950). Beiträge für Rolf Steininger zum 60. Geburtstag, Innsbruck 2002, 247–266; Kerstin Von Lingen, Sondergericht Bozen: ‚Standgerichte der Besatzungsjustiz‘ gegen Südtiroler, 1943–1945, in: Geschichte und Region/Storia e regione, 24 (2015) 2, 75–94. 39 Ebd. Im Tiroler Landesarchiv wurden in den Beständen des Oberlandesgerichts Innsbruck trotz intensiver Suche keine Spuren zu Sondergerichtsverfahren in Bozen gefunden.

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Helfer*innen von Deserteuren nach dem ÖStGB. In diesen Beständen konnten im TLA und im VLA einzelne Fälle aufgefunden werden, wenngleich hier keine vollständige Durchsicht möglich war. Weitere polizeilich-juristische Institutionen der Verfolgung waren die Polizeiund Gerichtsgefängnisse in Bregenz, Feldkirch, Bludenz und Innsbruck, wo Soldaten und Zivilist*innen vorübergehend zur Verfügung der Wehrmacht oder der Gestapo bzw. als Untersuchungs- oder Strafgefangene einsaßen. Obwohl der Haftgrund nicht durchwegs verzeichnet wurde, ließen sich aus den Gefangenenbüchern bzw. Häftlingsprotokollen eine beträchtliche Zahl von relevanten Personen mit rudimentären Daten eruieren.40 Durchgesehen wurden im Staatsarchiv München das Hinrichtungsbuch der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim und die vorhandenen 850 Hinrichtungsakten.41 Für andere relevante Hinrichtungsorte wie den Landesgerichten Graz und Wien, den Militärschießplätzen Kagran (Wien), Feliferhof (Graz), Glanegg (Salzburg), Paschberg (Innsbruck) sowie Kreuzbergl (Klagenfurt) konnte auf zum Teil bereits publizierte Vorarbeiten und Dokumentensammlungen zurückgegriffen werden.42 Bereits 1945 beschloss der Nationalrat das Opferfürsorgegesetz. Widerstandskämpfer*innen und Verfolgte des NS-Regimes mit gesundheitlichen und materiellen Schäden sowie Nachkommen von Todesopfern konnten bei den Sozialabteilungen der Landesregierungen um staatliche Anerkennung und materielle Hilfe ansuchen. Im TLA und im VLA wurden alle verfügbaren Akten gesichtet und eine Reihe relevanter Fälle identifiziert. Dabei stach die beträchtliche Zahl der zurückgewiesenen Anträge ins Auge. Ein großer Teil von Betroffenen, denen diese Praxis wohl nicht verborgen blieb, dürfte deshalb gar kein Ansuchen gestellt haben. Berichtete eine Tiroler Tageszeitung 1943 über die Verurteilung der Helfer von Josef Neuner durch das Sondergericht Innsbruck unter der Überschrift „Verräter werden vernichtet“43, erfuhr Neuner vom Amt der Tiroler Landesregierung 1954, dass er lediglich wegen eines Verstoßes gegen die Wehrdisziplin bestraft worden sei. Sein Antrag wurde abgelehnt.44

40 Christina Müller stellte dem Autor ihre Ergebnisse der Durchsicht der Gefangenenbücher des Haftanstalt Innsbruck und Sabine Pitscheider ihre Ergebnisse der Durchsicht der Häftlingskartei des Polizeigefängnisses Innsbruck zur Verfügung. 41 Staatsarchiv München (StA) München, Justizvollzugsanstalt (JVA) München-Stadelheim, Hinrichtungsbuch, Hinrichtungsakten (Einzelfälle). 42 Hier ist auf die von Christina Müller und Helmut Muigg erstellte Sammlung von Nachweisen zu den Erschießungen in Innsbruck hinzuweisen, die der Tiroler Landesverband des Bundes der sozialdemokratischen FreiheitskämpferInnen und Opfer des Faschismus (BSF Tirol) verwahrt. Belege von Hinrichtungen in Norwegen aus dem Riksarkivet (Reichsarchiv) Oslo stellte Magnus Hauglid zur Verfügung. 43 „Verräter werden vernichtet“, Zeitungsausschnitt in ÖStA, AdR, DWM, GerA, 349/8. 44 Bescheid, 4. 3. 1954. TLA, Amt der Tiroler Landesregierung (ATLR), Vf+Va, 1168.

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Da das Untersuchungsgebiet an die Schweiz grenzt, einem wichtigen Zufluchtsland für Deserteure, boten uns die bislang für Österreich nicht systematisch genutzten Bestände der eidgenössischen Landesverteidigung, der Polizei und der Bundesanwaltschaft einen quantitativ und qualitativ reichen Fundus. Die Einvernahmeprotokolle der Nachrichtensammelstelle 1, eines Schweizer Militärgeheimdienstes, enthalten biografische Daten, Angaben zur Wehrmachtskarriere, zum Fluchtverlauf und den Motiven, freilich unter anderen Vorzeichen gegeben als bei Einvernahmen durch Militär-, Polizei- oder Gerichtsorgane des NS-Staates. Hier sprachen Deserteure – die von den Schweizer Militärs kühl behandelt wurden – zum Teil ausführlich über die Zustände in ihren Einheiten, Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten und die Gründe ihrer Flucht.45 Fallweise reichhaltiges Material lieferten zudem die Personaldossiers, die das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartment zu Deserteuren erstellte. Sie beinhalten auch Wehrpässe und Korrespondenzen. Einen weiteren Bestand stellen die meist einseitigen Berichte der Polizei über festgestellte Deserteure an die Bundesanwaltschaft dar, die für die Aufnahme von Flüchtlingen zuständig war. Ihr übermittelte auch das Armeekommando Einvernahmeprotokolle und Ermittlungsergebnisse.46 Gesichtet wurden außerdem die Rapporte der Kantonspolizei St. Gallen über Deserteure sowie Refraktäre, also in der Schweiz ansässige oder eingereiste wehrpflichtige deutsche Staatsangehörige im Zivilstand, die dem Einberufungsbefehl nicht Folge leisten wollten.47 Nicht alle von den Schweizer Behörden erhobenen Angaben der Deserteure sind glaubwürdig. So fand der Bericht eines elsässischen Soldaten über einen vorangegangenen gescheiterten Fluchtversuch mit 14 weiteren Deserteuren auf einem in Bregenz gestarteten Boot in den ansonsten von den Vorarlberger Gefängnissen penibel geführten Haftbüchern keine Bestätigung. Ähnlich ergiebiges Material konnte für den zweiten neutralen Zufluchtsstaat Schweden nicht eingesehen werden, da ein geplanter Forschungsaufenthalt den Einschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie zum Opfer fiel. Schweden stellte ein Fluchtziel für desertionswillige Soldaten der in Norwegen und Finnland stationierten Gebirgsdivisionen dar. Etwa 160 österreichische Soldaten kehrten nach Kriegsende aus Schweden nach Österreich zurück, wobei unklar ist, ob es sich bei allen um Deserteure handelte.48 Eine von Bruno Kreisky 1944 unter

45 Bundesarchiv Bern (BAR), E27#1000/721#9927*und 9928, vgl. zu den Beständen Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008, 51–52. 46 BAR, E4320B#1991/243#206* Deserteure und Refraktäre. 47 BAR, E4320B#C.29 Kantonspolizei St. Gallen, Politische Polizei. 48 Vgl. Irene Nawrocka, „Das große Erlebnis einer funktionierenden und lebendigen Demokratie“. ÖsterreicherInnen im schwedischen Exil und die Frage der Rückkehr in autobio-

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55 internierten Wehrmachtsflüchtlingen durchgeführte Befragung ergab einen Anteil von etwa 30 Prozent Tirolern.49 Die ausgefallene Archivrecherche in Schweden konnte durch eine Kooperation mit dem Historiker Lars Hannson immerhin ansatzweise kompensiert werden. Er eruierte in schwedischen staatlichen Archiven in Grenzregionen zu Norwegen und Finnland die Namen von insgesamt 198 österreichischen Soldaten, die von den Polizeibehörden als Wehrmachtsflüchtlinge registriert worden waren. Bei 115 erlauben die übermittelten Daten eine regionale Zuordnung, bei 22 zum Untersuchungsgebiet. Diese Zahl blieb deutlich unter den ursprünglichen Erwartungen. Neben Dokumenten staatlicher Behörden bildeten Aufzeichnungen privater Akteure einen elementaren Fundus. Sie bedürfen ebenfalls jeweils einer kritischen Betrachtung. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes publizierte 1984 in seiner Quellenedition „Widerstand und Verfolgung in den österreichischen Bundesländern“ zwei Bände zu Tirol.50 Für Vorarlberg leistete die Johann-August-Malin-Gesellschaft eine ähnliche Pionierarbeit.51 Manche in der unmittelbaren Nachkriegszeit erstellten Berichte von NS-Gegnern und Aktivisten des Widerstandes enthalten detaillierte Angaben über lokales Desertionsgeschehen. Autorenschaft und Entstehungskontext liegen bei manchen dieser Berichte jedoch im Dunklen und lassen sich heute kaum mehr klären. Ein dem Innsbrucker Eisenbahner Hubert Saurwein zugeschriebener, 24 Seiten starker „Kurzbericht der österreichischen Widerstandsbewegung im Ötztal“, datiert mit 4. Mai 1946, enthält Hinweise auf 46 Deserteure, von denen 41 namentlich genannt sind, 12 jedoch nach dem Herkunftskriterium nicht dem Ötztal zuzuordnen waren. Er schrieb außerdem pauschal von 50 talfremden Soldaten, die im Gebirgstal Zuflucht gefunden hätten. Das würde eine Gesamtzahl von 84 Deserteuren ergeben. Aufgenommen in das Sample wurden die 46 individuell genannten Deserteure. Ihre Identität wurde stichprobenartig anhand des Wehrmachtsschriftgutes (Bestand der Karteikarten der Wehrersatzinspektion Innsbruck und der Wehrstammbücher im Tiroler Landesarchiv52), durch Interviews mit Nachkommen von Deserteuren und privat erhaltenen Erinnerungsschriften überprüft. Dabei stellte sich heraus, dass die Angaben zu den Ötztaler Deser-

49 50 51 52

graphischen Texten, in: Katharina Prager/Wolfgang Straub (Hg.), Bilderbuch-Heimkehr? Remigration im Kontext, Wuppertal, 275–290, 277. Bericht Oscar Pollak an Stefan Wirlandner, 1. 6. 1944. Verein für die Geschichte der Arbeiterbewegung (VGA), London Büro (LB), 1/10. DÖW (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934–1945, Bd. 2, Wien 1984, passim. August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933–1945, Bregenz 1985. Auf den Karteikarten ist nur in Ausnahmefällen ein Vermerk zur Fahnenflucht zu finden, in den Wehrstammbüchern finden sich immer wieder Eintragungen zu Gerichtsverfahren, fallweise auch Korrespondenzen. Beide Quellen sind wichtig, um Identitäten zu überprüfen und den Verlauf von Einsätzen zu rekonstruieren.

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teursgruppen, die sich an mehreren Stellen des verzweigten Tales sammelten, weitgehend valide sind. Weniger stichhaltig hingegen erscheint manche Darstellung, die über die Schilderung des Desertionsgeschehens hinausgeht, insbesondere hinsichtlich überregionaler Kontaktaufnahmen mit NS-Gegnern in Deutschland, Italien und den Alliierten.53 Bei der Auswertung wurden die Berichte gewissermaßen ihrer überschießenden Rhetorik entkleidet. Aufgenommen wurde das überprüfbare Substrat der Informationen über Deserteure und deren Unterstützer*innen. Darstellungen von Zeitzeugen gingen vielfach auch in die Regional- und Lokalgeschichtsschreibung ein, sei es in Bücher, sei es in Zeitungen und Zeitschriften. Auch diese wurden nicht pauschal als unzuverlässig verworfen, sondern so weit wie möglich in Archiven nachrecherchiert. Ergänzend wurden über Medienberichte Aufrufe an die Bevölkerung lanciert, Wissen um Desertionen mit dem Forschungsprojekt zu teilen. Fallweise wurden Angehörige gezielt angeschrieben. Das Interesse war beachtlich: Mehr als 50 Personen meldeten sich mit zum Teil bislang undokumentierten Desertionsereignissen. Der Überblick zu den in die Datenbank aufgenommenen und schließlich als relevant eingestuften Fälle in Tabelle 1 macht deutlich, dass nur ein breiter Quellenzugang Desertionsgeschehen zu erfassen vermag. Würde man sich auf die Militärjustiz beschränken, blieben mehr als zwei Drittel der relevanten Fälle unberücksichtigt. Würde man nur die Felddivisionen betrachten, bekäme man den Eindruck eines faktisch kaum existenten Phänomens. Tatsächlich scheint die Kohäsion der „ostmärkischen“ Gebirgsdivisionen im Einsatz sehr hoch gewesen zu sein. Der Kommandant der 2. Gebirgsdivision, der Vorarlberger Valentin Feuerstein, erhob gegen den Verzicht auf die Todesstrafe für die wiederholte Fahnenflucht des Wiener Tschechen Johann Hejc aus dem Gebirgsjägerregiment 136 in Norwegen keinen Einspruch und bestätigte das Strafausmaß von fünf Jahren Zuchthaus. Kriegsgerichtsrat Günter Schuppenies hatte sein Urteil vorher so begründet: „Die Fälle von Fahnenflucht sind selten. Die Manneszucht ist gefestigt. Ein abschreckendes Urteil ist deshalb nicht erforderlich.“54 Weit häufiger waren die Gerichte der Ersatzdivisionen 188 und 418 mit unerlaubter Entfernung und Fahnenflucht befasst. Dies dürfte, so die noch zu überprüfende These, mit der Entscheidungsfindung und der Fluchtbewegung zu tun gehabt haben. Frontgediente Soldaten aus den Alpengauen dürften sich häufig während Genesungs- oder Heimaturlauben mit der Möglichkeit der Desertion befasst haben. Wenn sie nicht mehr zur Feldtruppe zurückkehrten, wurden sie formal dem Ersatztruppenteil zugeordnet und damit auch dessen Gericht. 53 So berichtet Saurwein, dass einer der Ötztaler Widerstandskämpfer, Wolfgang Pfaundler, nach Deutschland gereist sei, um Kontakt mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg aufzunehmen. DÖW, Widerstand und Verfolgung, 557. 54 Gericht der 2. Gebirgsdivision, Urteil, 9. 11. 1940. ÖStA, AdR, DWM, GerA 242/8.

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Fast ein Drittel des relevanten Geschehens erschloss sich aus Akten der Justizund Polizeiorgane des NS-Staates im Reichsgau Tirol-Vorarlberg. Diese Fälle betreffen einerseits gescheiterte und gelungene Fluchtversuche von Soldaten und Wehrpflichtigen aus dem gesamten Deutschen Reich und den annektierten Gebieten, andererseits tauchen hier die Helfer*innen im Untersuchungsgebiet auf. Überwiegend gelungene Desertionen und Hilfeleistungen dokumentieren die Opferfürsorgebestände der Tiroler und Vorarlberger Landesregierungen und vor allem die Flüchtlingsakten der Zufluchtsländer Schweiz und Schweden. Aus ihnen kamen 345 Fälle (14 Prozent) hinzu. Mehr als 500 Spuren wurden bereits publizierten Quellen und Darstellungen entnommen. Etwas mehr als die Hälfte davon fanden sich in Namenslisten, die der Südtiroler Widerstandskämpfer und Politiker der Südtiroler Volkspartei (SVP) Friedl Volgger noch im Jahr 1945 publiziert hatte.55 Ein derartiges Verzeichnis liegt für keine andere Region des Untersuchungsgebietes vor. Unberücksichtigt blieben Darstellungen über die Auflösung von Volkssturm- bzw. Standschützeneinheiten in den letzten Kriegstagen mit Ausnahme von einzelnen nachvollziehbaren Berichten individueller Fluchten bzw. Verweigerungen. Differenziert wurde auch die Phase des Zusammenbruchs der Wehrmacht im Frühjahr 1945 betrachtet. Die Truppen der Division 418 meldeten ab Februar/März eine große Zahl von irregulären Abwesenheiten von Soldaten als „Fahnenflucht/unerlaubte Entfernung“ an das Divisionsgericht. In das Sample wurden nur Fälle aufgenommen, bei denen es Hinweise auf Entziehungshandeln gab. Wenn Soldaten zum Beispiel von Urlauben in Herkunftsregionen, in denen die Alliierten bereits präsent waren, nicht mehr zurückkehrten, wurden sie nicht in das Sampel aufgenommen.

3.2

Formen und Verläufe

Eine quantitative Studie erfordert Kategorienbildung; sie kommt nicht umhin, aus Einzelfällen Generalisierungen abzuleiten. Im Forschungsprozess verfassten die Projektmitarbeiter bei der Durchsicht der Quellen in den Archiven neben der Erfassung objektiver Daten wie den Personalien kurze Darstellungen des Geschehens. Diese lieferten unter Berücksichtigung der objektiven Daten zum Verlauf, wie etwa der Dauer einer unerlaubten Entfernung, der Festnahme oder freiwilligen Stellung, die Grundlage für die Codierung der Fälle durch den Autor. Diese erfolgte induktiv in drei Schritten. Nach einer ersten offenen Verschlagwortung von 4.290 Fällen erfolgte zu einem späteren Zeitpunkt eine Präzisierung und Klassifikation, mit dem Ziel, ein Sample von relevanten Fällen für die weitere 55 Friedl Volgger, Südtirols Opfergang unter dem Nationalsozialismus, in: Tiroler Volksbote, 15. 11. 1945, 22. 11. 1945, 6. 12. 1945, 27. 12. 1945.

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477

Analyse zu bilden. Hier wurden Fälle ausgeschieden, die keine oder kaum Hinweise auf Desertionspraxis boten. Ein Beispiel: Johann Weinrich aus Grän im Bezirk Reutte verließ im Herbst 1940 zweimal unerlaubt das in Hall stationierte Gebirgs-Artillerie-Ersatz-Regiment 111, um seine Frau vor und nach der Geburt des gemeinsamen Kindes zu besuchen. Beide Male kehrte er nach drei Tagen zurück und wurde zunächst mit Arrest, dann mit sechs Monaten Gefängnis bestraft.56 Im August 1941 eröffnete ihm sein Kommandant, dass er aus einer „Zigeunerfamilie“ stamme und in ein Lager komme. Weinrich, der in Bozen bei einer Pflegefamilie aufgewachsen war und für das Deutsche Reich optiert hatte, verschwand neuerlich, dieses Mal kehrte er nicht zurück und wurde erst Monate später festgenommen. Verurteilt wurde er dennoch „nur“ wegen unerlaubter Entfernung. Die Strafe verbüßte er unter Zwangsarbeit in der Wehrmachtsgefangenenabteilung Silvrettadorf in Vorarlberg. Nach der Entlassung deportierte ihn die Kripo Innsbruck in das KZ Mauthausen. Die ersten beiden Fälle unerlaubter Entfernung wurden ausgeschieden, die dritte Entfernung als relevanter Versuch der dauerhaften Flucht interpretiert und in das Sample aufgenommen. Um die Uneindeutigkeit des Verlaufs und das Scheitern der Entziehung zu zeigen, wurde der Fall mit „Desertion/Entfernung verurteilt“ codiert. Durch die Einführung der Kategorie Desertion/Entfernung sollte eine einfache Übernahme der Bewertungen abweichenden Handelns sowohl durch die Justiz- und Polizeibehörden des NS-Staates als auch durch die Behörden der Zweiten Republik – die gerade im Militärischen häufig die Einschätzung ersterer übernahmen – vermieden werden. Tabelle 2 zeigt das Entziehungsgeschehen gegliedert nach vier Formen und acht Verläufen. Die Kategorie Desertion zeigt Fahnenfluchten, die Kategorie Verweigerung/„Verrat“ Entziehungen im Kriegsgeschehen (z. B. als „Feigheit“ verfolgte Fluchten von der Front, als „Kriegsverrat“ und „Landesverrat“ verfolgte Kooperationen mit dem Kriegsgegner), die Kategorie Flucht/Verweigerung Einberufung Wehrdienstentziehungen vor der Einberufung oder Selbstbeschädigungen vor der Abstellung zum Feldheer. Insgesamt wurden 2.064 Entziehungshandlungen identifiziert.57 Ein markantes Ergebnis ist, dass gelungene Desertionen (922) häufiger waren als gescheiterte (568). Ein weiteres Kennzeichen der gelungenen Desertionen ist, dass sie überwiegend (534 Fälle, 58 Prozent) dem Schauplatz Tirol/Vorarlberg/Südtirol zugeordnet werden können. Durch die Analyse der Herkunft der handelnden Akteure soll später noch präzisiert werden, ob sich das Vorgehen einheimischer Deserteure vom Fluchthandeln reichsdeutscher Soldaten insgesamt unterschied. 56 ÖStA, AdR, DWM, GerA 362/4. 57 Berücksichtigt sind hier ausschließlich „eigene“ Entziehungen, nicht jedoch Entziehungen anderer Personen von ihrer Wehrpflicht sowie Hilfshandlungen.

478

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

Verlauf/Form

Desertion

Verweigerung/ „Verrat“

Desertion/ Flucht/ VerweigeEntferrung nung Einberufung

Gesamt

Gelungen Neutrales Ausland Kriegsgegner

220 85

13 1

233 86

Untersuchungsgebiet Andere Gebiete

534 83

38

572 83

Zwischensumme Gescheitert

922

52

974

Festgenommen Verurteilt

327 233

1 26

9 124

94 119

431 502

Selbstmord Zwischensumme

8 568

27

133

6 219

14 946

127 1617

1 28

1 134

14 285

143 2064

Unbekannt Gesamt

Tab. 2: Formen und Verläufe der Entziehung aus der Wehrpflicht.

Zunächst werfen wir aber noch einen kurzen Blick auf die Helfer*innen. Unter den Deserteuren finden sich klarerweise kaum Frauen (16 bzw. 0,8 Prozent)58, unter den 296 eruierten Helfer*innen machen sie jedoch fast genau die Hälfte aus. Im Sample dominieren solidarische Handlungen, die in Festnahmen und Verurteilungen mündeten (66 Prozent). Dies steht in einem gewissen Widerspruch zum Überhang an erfolgreichen Desertionen. Eine Erklärung liegt in den ausgewerteten Quellen: Vor allem das Sondergericht Innsbruck verfolgte intensiv Hilfestellungen für Deserteure und Wehrdienstentzieher. Hinzu kommt, dass Hilfsstrukturen hinter gelungenen Desertionen nur selten (wie beispielsweise im Falle der Deserteursgruppen im Ötztal und im Vomperloch) zeitnah genauer beschrieben wurden. In ausgewählten Fällen konnten sie im Rahmen des Forschungsprojektes mit Hilfe von archivierten und selbst geführten Interviews ansatzweise rekonstruiert werden. Quantitative Aussagen sind vor diesem Hintergrund nicht möglich. Das Sample bietet aber vielversprechendes Material für tiefergehende qualitative Analysen.

58 Es handelt sich um Fluchten aus bzw. vor dem Kriegshilfsdienst, beispielsweise von Luftwaffenhelferinnen.

479

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

3.3

Herkunft und Fluchtregion

Um das Entziehungsgeschehen im Untersuchungsgebiet genauer zu analysieren, kann das Sample regional nach Herkunfts- (Geburts- bzw. Wohnort) und nach Handlungsregionen modelliert werden. Dafür wurde der Reichsgau Tirol-Vorarlberg in die acht Tiroler Landkreise (T) und die drei Vorarlberger Landkreise (V) getrennt, außerdem der 1938 dem Gau Kärnten eingegliederte Osttiroler Landkreis Lienz (OT) separat betrachtet. Tabelle 3 zeigt die Zusammensetzung des Samples nach der Herkunft der Deserteure und Verweigerer. Aus den Vorarlberger Landkreisen kamen 239 Deserteure und Verweigerer, aus jenen Tirols 479. Insgesamt konnten wir für den Reichsgau Tirol-Vorarlberg somit 718 eruieren. Relativ zur Gesamtzahl im Sample stammten nur etwas mehr als die Hälfte aus dem Untersuchungsgebiet (55 Prozent), gefolgt von den etwa gleich starken Gruppen aus den anderen Alpengauen mit den eingegliederten Gebieten (14 Prozent) sowie von Soldaten aus den Ländern des „Altreiches“ (15 Prozent). Relativ klein ist die Zahl von Soldaten aus den Donaugauen. Regionale Herkunft zum Fluchtzeitpunkt Tirol-Vorarlberg (V) Tirol-Vorarlberg (T) Kärnten (OT) Bolzano/Bozen Untersuchungsgebiet Steiermark

Zahl

% 239 479 49 375 1142 92

Salzburg Kärnten

79 70

CdZ Untersteiermark CdZ Kärnten und Krain

31 15

Rest Wehrkreis XVIII Wien Niederdonau Oberdonau DR Donaugaue Preußen Bayern Andere DR Länder Reichsgau Sudetenland Protektorat Böhmen und Mähren Andere

287 62

55

14

28 23 113 173

5,5

77 57 307 16 12 5

15

480

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

(Fortsetzung) Regionale Herkunft zum Fluchtzeitpunkt Eingegliederte Gebiete CdZ Luxemburg

Zahl

% 33 10

Andere Angegliederte Gebiete Besetzte Gebiete (Sowjetunion, Frankreich etc.) Andere Staaten (Spanien, Schweiz, Italien bis 1943 etc.) Unklar Gesamt

1,5

12 22

1

11 36 113 2064

0,5 2 5,5 100

Tab. 3: Herkunft der Deserteure und Verweigerer.

Um das Desertionsgeschehen im Untersuchungsraum nach der Herkunft der Deserteure zu bestimmen, sind jene relevant, die aus diesem Gebiet stammten und jene, die unabhängig von ihrer Herkunft hier handelten. Bei den aus der Untersuchungsregion stammenden Deserteuren sind die Handlungsorte sekundär, da unabhängig davon, wo und wohin sie flüchteten, die Fahndung immer auch auf ihre Herkunftsgemeinde und Herkunftsfamilie zurückwirkte. Ein Deserteur aus Feldkirch, der in Italien von seiner Truppe verschwand, löste ungeachtet seiner tatsächlichen Fluchtorientierung Suchaktionen in seiner Heimat aus. Die folgenden drei Tabellen (4–6) setzen Herkunft und Handlungsregion in Beziehung. Mitzudenken ist, dass sich Deserteure bewegten, insbesondere wenn sie über Fertigkeiten und Ressourcen verfügten, Urlaubsscheine, Wehrmachtsfahrscheine und Ausweise zu fälschen und mit geänderten Identitäten Lebensmittelkarten an verschiedenen Orten beziehen konnten. Dementsprechend ist es möglich, dass ein und derselbe Deserteur in allen drei Tabellen repräsentiert ist. Die Zahlen der Zeile „Handlung ja/Herkunft nein“ und „Deserteure aus und in…“ sind daher nicht zu summieren. Tirol-Vorarlberg (V) Herkunft ja

Zahl

Übereinstimmung 239

Herkunft ja/Handlung ja Handlung ja

154 64 % 535

Handlung ja/Herkunft nein Deserteure aus und in Vorarlberg

381 71 % 620

Tab. 4: Zusammensetzung des Desertionsgeschehens nach Herkunft der Deserteure, Vorarlberg (100 % ist jeweils der Wert bei „Herkunft ja“ und „Handlung ja“).

481

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

Tirol-Vorarlberg (T) und Kärnten (OT) Herkunft ja

Zahl

Übereinstimmung 528

Herkunft ja/Handlung ja Handlung ja

354 67 % Übereinstimmung 579

Handlung ja/Herkunft nein 236 41 % Übereinstimmung Deserteure aus und in Tirol 764 Tab. 5: Zusammensetzung des Desertionsgeschehens nach Herkunft, Tirol (Nordtirol und Osttirol). Bolzano/Bozen Herkunft ja Herkunft ja/Handlung ja Handlung ja Herkunft nein/Handlung ja Umgesiedelt ins DR davon Rückkehrer als Deserteure Deserteure aus und in Südtirol

Zahl

Übereinstimmung 375 326 87 % Übereinstimmung 362 36 10 % Übereinstimmung 48 12 23 % Übereinstimmung 356

Tab. 6: Zusammensetzung des Desertionsgeschehens nach Herkunft, Bolzano/Bozen (Südtirol).

Der Vergleich offenbart Ähnlichkeiten und Unterschiede: 64 Prozent der aus Vorarlberg und 67 Prozent der aus Tirol stammenden Abtrünnigen orientierten sich bei der Flucht an ihrer Heimatregion, noch höher war die Bezogenheit auf die Herkunftsgesellschaft in Südtirol (87 Prozent). Von den im Deutschen Reich angesiedelten Optanten unter den Deserteuren, also jenen, die vor dem Einrücken nicht mehr in Südtirol gelebt hatten, suchten dagegen nur 23 Prozent Zuflucht in der alten Heimat. Relativ zur Größe des Landes war das Desertionsgeschehen in Vorarlberg und hier besonders im Rheintal am stärksten. Dafür sorgten fluchtwillige Soldaten von außerhalb des Landes, deren Ziel die Schweiz war. Sie machten mehr als 70 Prozent der in Vorarlberg agierenden Deserteure aus. Viele von ihnen hatten weite Wege in der Illegalität, manche von der Ostfront, hinter sich gebracht, die meisten (108) stammten aus Preußen. Relativ hoch ist der Anteil auswärtiger Deserteure mit 41 Prozent auch in Tirol. Doch hier suchten relativ wenige Ortsunkundige die gefährlichen Passagen durch die Schluchten des Inn oder über das Gebirge nach Samnaun, als vielmehr nach Möglichkeiten, in Innsbruck, in Bergdörfern oder Fremdenverkehrsorten, oft mit falschen Identitäten ausgestattet, (vorübergehend) unterzutauchen. Die geringste Zahl an ortsfremden Deserteuren gab es in Südtirol. Stärker frequentierte Fluchtrouten aus Norditalien in die Schweiz verliefen weiter im Westen – und wurden hauptsächlich von Soldaten der italienischen Armee genutzt. Die Frage, ob unter den aus Südtirol stammenden Deserteuren häufiger Optanten für Ita-

482

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

lien als Optanten für Deutschland vertreten waren, ist anhand unseres aktuellen Datenstandes noch nicht klar beantwortbar. Der Wohnort zum Desertionszeitpunkt gibt keine Auskunft über das Abstimmungsverhalten von 1939, da nur ein geringer Teil der Optant*innen für Deutschland Südtirol tatsächlich verließ.59 Evident wird, dass es sich beim Desertionsgeschehen in Südtirol in hohem Maße um ein Binnengeschehen handelte. Nur 10 Prozent der Deserteure, die in Südtirol auftraten, hatten ihren Wohnsitz außerhalb der Provinz. Ein Drittel von ihnen (12) verband mit der Desertion die Rückkehr in die alte Heimat. Nur in Ausnahmefällen schlossen sich Südtiroler Deserteure nach unserer aktuellen Datensammlung italienischen oder slowenischen Partisanenformationen an, ähnlich verhielt es sich bei ihren Tiroler und Vorarlberger Fluchtgenossen.60

3.4

Verbreitung von Desertionsgeschehen

Um ein Gefühl für Ausmaß und Bedeutung des Desertionsgeschehens in einer Region zu bekommen, eignet sich die Methode der Projektion der Daten auf das Untersuchungsgebiet. Die sozialräumliche Verteilung, ausgewertet nach Herkunfts- bzw. Handlungskriterium, zeigt für Tirol einerseits eine recht weite Verbreitung, andererseits treten einige Gemeinden bzw. Zonen mit einer starken Häufung bzw. Dichte des Desertionsgeschehens hervor. Für 153 Gemeinden (bei einer Gesamtzahl von 279) trifft zu, dass Deserteure entweder von dort stammten, sich dort auf- bzw. versteckt hielten oder dort festgenommen wurden. Tabelle 7 zeigt die Orte mit hohen Zahlen von Deserteuren nach dem Herkunftskriterium. Im Unterschied zu Südtirol, wo auch in absoluten Zahlen nur vergleichsweise wenige abtrünnige Soldaten aus den größeren Stadtgemeinden Bozen, Meran, Brixen oder Bruneck kamen, liegt in Nordtirol Innsbruck deutlich an der Spitze. Betrachtet man Innsbruck als Handlungsort näher, zeigt sich freilich, dass die Stadt nur für 31 auch längerfristig als Fluchtstation diente. Der Aufenthalt in der Stadt mit ihrem dichtmaschigen Netz an Kontrollen verschiedener Polizei- und Wehrmachtsstellen wurde offenbar als riskant eingeschätzt.

59 Siehe dazu den Beitrag von Johannes Kramer in diesem Heft. 60 Eine Gruppe von etwa 15 Wehrdienstentziehern aus dem Ultental verbarg sich im benachbarten italienischsprachige Nonnstal, siehe Leopold Steurer/Martha Verdorfer/Walter Pichler, Verfolgt, verfemt, vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–1945, Bozen 1997, 121–128.

483

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

Herkunft Innsbruck

Anzahl 129

Umhausen im Ötztal Reith im Alpbachtal

22 16

Hopfgarten im Defereggen St. Leonhard im Pitztal Pfunds Ötz

14 14 12 11

Hall Sölden

10 10

Kufstein Schwaz

9 7

Fügenberg Innervillgraten

6 6

Kappl Lienz

6 6

Sautens Schlaiten

6 6

Fügen Imst

5 5

Längenfeld Vomp

5 5

Tab. 7: Herkunftsorte von Deserteuren in den Tiroler Landkreisen plus Landkreis Lienz des Reichsgau Kärnten (Osttirol).

Dahinter folgen bereits einige kleine Kommunen in abgeschiedenen Gebirgstälern (Ötztal, Alpbachtal, Defereggental, Pitztal). Eine Besonderheit stellte das Desertionsgeschehen im Dorf Pfunds im oberen Inntal dar. Dort nutzten relativ viele einheimische Soldaten (manche von ihnen waren zur Waffen-SS eingezogen worden) die Nähe zur Schweiz und ihre im Schmuggel angeeigneten Kenntnisse der illegalen Grenzüberquerung nach Samnaun. In den anderen genannten Tälern verschanzten sich kriegsmüde Soldaten ab dem Sommer 1943 meist in selbstgebauten Hütten in Schrofen, Gräben und auf Almen, aber auch in verdeckten Einbauten in Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, wo sie von ausgeklügelten, kleinräumigen und familiären Solidarsystemen unterstützt wurden. Die Klärung der Frage, wie viele derartige verborgene und geschützte „Nester“ im Untersuchungsgebiet existierten, bedarf noch einiger Detailanalysen. Für das fast immer gelungene Überleben war zudem von entscheidender Bedeutung, dass der Verfolgungsdruck niedrig blieb. Dies gelang einerseits durch Abtauchen und passives Verhalten, andererseits lässt es sich auf systemambivalentes Handeln

484

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

der lokalen Gendarmen zurückführen, die für die Fahndung vor Ort verantwortlich und auf deren Kenntnisse der sozialen, ökonomischen und topografischen Verhältnisse die übergeordneten Verfolgungsinstanzen der Gestapo, der Kripo und der Wehrmacht angewiesen waren. Das Geschehen im Ötztal unterschied sich in dieser Hinsicht beträchtlich von jenem im Passeiertal in Südtirol, das hinter dem Talschluss auf der anderen Seite der Ötztaler Alpen liegt. Dort war der Verfolgungseifer einheimischer Nationalsozialisten und Sicherheitsorgane ungleich stärker – wodurch eine Dynamik entstand, die zu bewaffneter und zum Teil offensiver Selbstverteidigung bzw. partisanenähnlicher Praxis führte, auch gegen die systematisch eingesetzte Sippenhaft, die im Ötztal zu keinem Zeitpunkt angewandt wurde.61 Derart radikale Eingriffe in ein ansonsten angepasstes bäuerlich-katholisches Milieu, von dem für die NS-Herrschaft keine weitere Destabilisierung ausging, unterließen Gauleiter Hofer, die Gestapo und das Wehrkreiskommando XVIII in Tirol und Vorarlberg letztlich, auch wenn ihr breiter Einsatz offenbar bereits besprochen war.62 Anders entwickelte sich die Praxis einer Gruppe von jungen Deserteuren – der Älteste war 21 Jahre alt – und deren Freundinnen in Innsbruck und Umgebung im Herbst und Winter 1944/45, die sich um Ernst Federspiel und Eduard Platter bildete. Zunächst hielten sie sich in Wohnungen auf. Der Fahndungsdruck war nicht zuletzt durch entsprechendes Verhalten von Schutzpolizisten und Unterstützer*innen gering, zu denen auch ein V-Mann der Abwehrstelle in Innsbruck gehörte, der die Gruppe mit Lebensmittelkarten versorgte. Als dieser selbst desertierte, zerfiel das fragile System des Lebens im Verborgenen und die Gruppe war zur „Selbstversorgung“ genötigt. Sie wagte beispielsweise die Requisition einer großen Menge von Zigaretten durch einen Überfall auf eine Trafik in Igls, um damit Tauschhandel betreiben zu können. Fatal für den weiteren Verlauf war, dass sie als gut bewaffnete Partisanen in Uniformen auftraten – sich selbst so bezeichneten und vor dem Hintergrund von Erfahrungen mit Partisanen in Slowenien den roten Stern als Emblem verwendeten.63 Ernst Federspiel, der im 61 Zum Passeiertal: Steurer/Verdorfer/Pichler, Verfolgt, 53–55; Giambattista Lazagna, Der Fall des Partisanen Pircher, hg. Carlo Romeo und Leopold Steurer, Meran 2022. 62 Schutzhaft, Sippenhaft, Absiedelung und Hofenteignungen wurden in anderen Gemeinden fallweise durchgeführt, dokumentierbar sind davon betroffene Familien in Pfunds und Schlaiten. Die breite Anwendung derartiger Mittel wurde in der Gauleitung zwar diskutiert, letztlich in Nordtirol aber nicht systematisch angewandt. Erinnerungen von Heinrich Mandlez (Leiter der Geschäftsstelle des Amtes für Agrarpolitik in der Gauleitung TirolVorarlberg) nach seinem eigenen Diktat aus der Zeit 1938–1945, TLA, HS 7063. Dieses Ergebnis bestätigt die Untersuchung von Maria Fritsche, „…haftet die Sippe mit Vermögen, Freiheit oder Leben…“ Die Anwendung der Sippenhaft bei Familien verfolgter Wehrmachtsoldaten, in: Manoschek, Opfer der NS-Militärjustiz, 482–491. 63 Kripo Innsbruck, Rundschreiben Fahnenflüchtige rotten sich zusammen und treten als Gewaltverbrecher auf, 2. 1. 1945. TLA, ATLR, Va 240–23.

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

485

Mai 1943 das erste Mal desertiert war und seither eine Kette von Festnahmen und Fluchten in den Alpengauen hinter sich gebracht hatte, stammte aus einer jenischen Familie bzw. einem proletarischen, sozial eher randständigen, kommunistischen Milieu, ähnlich wie seine Schulfreunde Eduard Plattner und Alois Eberharter. Innsbrucker Kriminalpolizisten, die Deserteure unbehelligt ließen, solange sie sich passiv verhielten, führten im Jänner 1945 eine breit angelegte Razzia gegen die Gruppe durch. Dabei kam es zu Schusswechseln und insgesamt dreißig Festnahmen.64 Eberharter wurde erschossen, Plattner angeschossen. Die überlebenden Deserteure verurteilte das Gericht der Division 418 in Innsbruck zum Tode. Ernst Federspiel wurde mit einem zweiten Soldaten noch am 21. April 1945 im Steinbruch am Paschberg exekutiert.65 Ein kurzfristiger Versuch der überlebenden Deserteure, sich nach der Befreiung mit der Gruppenbezeichnung „Kampfbrigade Münichreiter“66 in die Annalen des Widerstandes einzuschreiben, scheiterte, da Praxis und Herkunft offenbar nicht in den Darstellungsrahmen des konservativen Widerstandes in Tirol passten.67 Die vergangenheitspolitische Geschichte des justiziellen und sozialen Umgangs der Tiroler Behörden mit dieser Deserteursgruppe und ihren weitgehend weiblichen Unterstützer*innen bedarf einer genauen Analyse unter Berücksichtigung von klassenund geschlechtsspezifischen Kriterien, angesichts einer Entscheidung des Landesgerichts Innsbrucks im Februar 1950, eine vom Sondergericht Innsbruck fünf Jahre zuvor wegen Beihilfe zur Fahnenflucht verhängte Strafe neu zu bemessen und zu exekutieren, außerdem auch einer rechtsgeschichtlichen Betrachtung.68

64 Kripo Innsbruck, Strafanzeigen, 3. 3. 1945. TLA, ATLR, Va+Vf 680. 65 Gericht der Division 418 an Nikolaus Federspiel, 23. 4. 1945 (Abschrift der Vollzugsmeldung der Exekution). TLA, ATLR, Va 240–23; Müller, Zum Vergessen verurteilt, 107. 66 Der Namenspatron Karl Münichreiter war Gruppenführer des Republikanischen Schutzbundes in Wien und wurde bei den Kämpfen des Schutzbundes gegen das Dollfuß-Regime am 12. Februar 1934 schwer verwundet und nach einer standrechtlichen Verurteilung zwei Tage später hingerichtet. 67 Eine stark abwertende Darstellung findet sich etwa bei Wolfgang Pfaundler, Zum Problem des Freiheitskampfes 1938–1945 an Hand von Beispielen, insbesondere des Widerstandes eines Tiroler Tales, phil. Diss., Universität Innsbruck 1950, 346–352. Die Schrift wurde vom Dekan der philosophischen Fakultät nicht anerkannt, da die Begutachtung „unter falschen Voraussetzungen erfolgt ist“. Dekan der philosophischen Fakultät an Wolfgang Pfaundler, 23. 10. 1952. Universitätsarchiv Innsbruck, Dissertationsgutachten Wolfgang Pfaundler. 68 Beides muss aus Platzgründen an anderer Stelle erfolgen. Siehe Österreichische Zeitung, 30. 6. 1950. Vgl. Eduard Rabofsky/Gerhard Oberkofler, Verborgene Wurzeln der NS-Justiz, Wien 1985.

486 3.5

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

Todesarten, Todesraten und Exekutionsorte

Ernst Federspiel und Walter Patzelt waren die letzten von einem Divisionsgericht in Innsbruck zum Tode verurteilten und hingerichteten Soldaten. Patzelt, der am 18. März 1945 von der Gendarmerie Hohenems wohl bei einem versuchten Grenzübertritt in die Schweiz festgenommen und am 30. März an den Standortältesten der Wehrmacht in Innsbruck überstellt worden war,69 stammte aus Leitmeritz im Sudetenland. Anders als im eingangs zitierten Bericht von 1948 dargestellt, standen die beiden nicht am Ende einer Reihe von 450 exekutierten einheimischen Soldaten. Im Sample scheinen insgesamt 205 Deserteure und Verweigerer auf, die ihre Entziehung von der Wehrpflicht nicht überlebten (10 Prozent), davon starben 112 durch ein Erschießungskommando ihrer Truppe oder unter dem Fallbeil in einem Zuchthaus oder Gefängnis. 45 stammten aus dem Untersuchungsgebiet (Tab. 6). Todesarten Deserteure, Verweigerer Hinrichtung nach einschlägigem Urteil Strafvollzug Flucht/Festnahme Konzentrationslager Widerstand Konflikt intern Selbstmord Gesamtzahl Todesstrafe nicht vollstreckt

Gesamt Tirol

Vorarlberg

Bolzano/ Bozen

Andere

112

27

12

6

67

24 40

8 8

2 3

3 9

11 22

5 7

2 2

2 2

1

3

3 14

2 3

2

205 24

51 5

22 1

1 9 22 7

111 11

Todesstrafe Vollzug ungeklärt 4 4 Tab. 8: Todesarten von Deserteuren und Verweigerern im Gesamtsample nach Herkunft.

Bei der Verbüßung von Zuchthausstrafen und in Bewährungseinheiten kamen weitere 24 zu Tode. 40 starben auf der Flucht (fast 20 Prozent der Getöteten), meist wurden sie von Polizisten, Grenzschutzbeamten oder anderen Organen des Sicherheitsapparats bei der Festnahme, in einigen Fällen auch bei Gefechten, erschossen. Mehr als die Hälfte der auf diese Weise getöteten Deserteure war ortsfremd. Fast alle von ihnen (21) starben beim Versuch, in die Schweiz zu gelangen. In Bezug auf die Zahl der Toten ist einschränkend zu betonen, dass uns über den Verlauf des Strafvollzugs, sei es in Zuchthäusern, Straflagern und Bewährungstruppen, keine vollständigen Informationen vorliegen. Der Prozentsatz 69 VLA, Gefangenenbuch Gericht Bregenz 1945, Zl. 413.

487

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

der dabei Umgekommenen ist mit Sicherheit noch um einiges höher. Weit valider sind unsere diesbezüglichen Daten bei den aus dem Untersuchungsgebiet stammenden Deserteuren und Verweigerern. Die niedrigen Todesraten (Tab. 7) zeigen gute Überlebenschancen bei der stark angewandten Überlebensstrategie, sich auf Urlauben in Heimatnähe vom Krieg zu verabschieden.70 Todesrate Deserteure/Verweigerer Gesamtzahl Tote Todesrate

Tirol

Vorarlberg

Südtirol

Gesamt

528

239

375

1142

51 9,7 %

22 9,2 %

22 5,8 %

95 8,3 %

Tab. 9: Todesraten bei Deserteuren/Verweigerern aus dem Untersuchungsgebiet.

Doch kehren wir am Ende zur Frage der Hinrichtungen in Innsbruck zurück: Von den 112 exekutierten Deserteuren und Verweigerern starben sechs nachweislich in der Tiroler Landeshauptstadt, weitere neun Erschießungen sind durch Vermerke in seriellen Quellen belegbar, allerdings ohne Hinweise auf die Vergehen der Soldaten. Jedoch ist davon auszugehen, dass die meisten von ihnen ebenfalls Fahnenflüchtige oder Verweigerer waren; schließlich war der Bruch des Eides auf den Führer der häufigste Hinrichtungsgrund für die Militärrichter der Wehrmacht und der Waffen-SS. Freilich dürfte die Zahl der tatsächlich Hingerichteten noch etwas höher liegen, denn das Verwischen der Spuren der Exekutionen in Innsbruck ist für die letzten vier Kriegsmonate evident. Das dürfte aber nichts an dem Befund ändern, dass die meisten der Soldaten, die im Kugelhagel von Erschießungskommandos starben, nicht aus dem Reichsgau Tirol-Vorarlberg oder aus Südtirol stammten. Häufiger als in Innsbruck waren in unserem Sample Hinrichtungen in Graz (14), Glanegg (13), München-Stadelheim (11), Berlin (10) sowie bei Feldgerichten in Norwegen (14) und der Sowjetunion (8). Gerichte der Division 188 exekutierten mindestens 36 Soldaten, davon waren 24 belegbar Deserteure und Verweigerer. In der kurzen Zeit ihres Bestehens zwischen Mai 1943 und April 1945 fällten Gerichte der Division 418 mindestens 21 Todesurteile und exekutierten sie. Bei den Gebirgsdivisionen sind im Vergleich dazu die Zahlen bedeutend geringer, was – wie bereits erwähnt – mit der Tendenz zur Fahnenflucht in der Heimatgegend zu tun gehabt haben dürfte. Insgesamt vollzogen die genauer untersuchten Divisionsgerichte des Wehrkreises XVIII mindestens 74 Todesstrafen.

70 Vgl. dazu auch ähnliche Ergebnisse bei Treiber, Helden oder Verräter?, 304.

488

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

Hinrichtungen untersuchte Divisionen

Deserteure/ Verweigerer

Gesamt

Andere WKZ u. ungeklärte Delikte

Division 188

24

12

36

Division 418 2. Gebirgsdivision

17 7

4 1

21 8

6. Gebirgsdivision Gesamt

9 57

17

9 74

RKG Andere Gerichte der Wehrmacht

10 30

5

10 35

SS-Gerichte Volksgerichtshof u. Sondergerichte

10

2

12

1 24

1 136

Unklar Gesamt

4 1 112

4

Tab. 10: Hinrichtungen der untersuchten Divisionen und anderer Gerichte.

IV.

Resümee

Ziel des Artikels war es, das Desertionsgeschehen im Untersuchungsgebiet in den Grundzügen zu vermessen. Erstmals wurden eine Reihe von Kriegsgerichten der im Wehrkreis XVIII aufgestellten Divisionen systematisch analysiert, ergänzt um vertiefende Auswertungen einer breiten Palette an Quellen mit Bezug zu Wehrpflichtigen aus Tirol, Vorarlberg und Südtirol und dort agierenden abtrünnigen Soldaten jeglicher Herkunft. Generell ist festzuhalten, dass Deserteure innerhalb des Deutschen Reiches auch in diesem Gebiet eine sehr kleine Minderheit bildeten. Geht man von etwa 93.000 im Reichsgau Tirol und Vorarlberg einberufenen Männern aus71 und schätzt die Zahl der Deserteure basierend auf der oben genannten Zahl von 718 auf etwa 1.000, lag ihr Anteil knapp über der Ein-Prozent-Marke. Angesichts dieser empirischen Befunde scheint die bisherige Schätzung von drei bis fünf Prozent Deserteure unter den ostmärkischen Soldaten als zu hoch gegriffen.72 In Südtirol war das Ausmaß von Wehrdienstentziehungen geringfügig stärker. Ausgehend von der nachweisbaren Zahl von 375 und geschätzten 30.000 Einberufungen zu den deutschen Streitkräften73 dürfte der Anteil bei etwa 1,5 Prozent 71 Übersicht des Wehrbezirkskommandos Innsbruck über Einberufungen und Unabkömmlichkeitsstellungen im Reichsgau Tirol-Vorarlberg, 1. 3. 1945. BA MA, RH 15/429. 72 Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“, 188. 73 Siehe dazu den Beitrag von Johannes Kramer in diesem Heft.

Peter Pirker, Deserteure in den Alpen

489

liegen. Für die benachbarte italienischsprachige Provinz Trentino wurde das Ausmaß von Fahnenflucht und Einrückungsverweigerung Ende 1944 auf etwa 3 Prozent geschätzt.74 Beträchtlich verstärkt wurde das Fluchtgeschehen in Tirol-Vorarlberg durch nicht aus dem Reichsgau stammende Soldaten. Von den 535 in Vorarlberg aktiven Deserteuren kamen 381 von außerhalb (71 Prozent). Weniger transregional war das Geschehen in Tirol (41 Prozent). Weit stärker als im reichsdeutschen Durchschnitt, aber auch im Vergleich mit Deserteuren aus den Donaugauen (Wehrkreis XVII), bestand bei Deserteuren aus dem Untersuchungsgebiet die Tendenz, nicht beim Kriegsgegner, sondern in ihrem Herkunftsmilieu Zuflucht und Sicherheit zu suchen. Das deutet auf vergleichsweise großes Vertrauen in die lokale und familiäre Solidarität hin. Viele nutzten Front- und Genesungsurlaube, um abzutauchen. Dieses Verhalten ähnelte jenem von Deserteuren aus den einbzw. angegliederten Gebieten und besetzten Ländern, etwa Luxemburgern, Franzosen und Slowenen,75 wofür der hohe Anteil von Deserteuren aus dem „Altreich“ unter den auswärtigen Deserteuren im Untersuchungsgebiet auch ein indirektes Indiz liefert. Freilich ist zu betonen, dass der Fluchtwille bei Tirolern, Vorarlbergern und Südtirolern weit geringer ausgeprägt war als unter elsässischen, luxemburgischen oder slowenischen Soldaten bzw. Wehrpflichtigen.76 Insgesamt dürften etwa 43 Prozent der Wehrmachtsdeserteure nichtdeutscher Herkunft gewesen sein,77 was in den österreichischen und deutschen Rehabilitierungsdebatten kaum thematisiert worden ist. In den besetzten Gebieten Oberkrain und Untersteiermark desertierten beispielsweise etwa 3–4.000 Zwangssoldaten (etwa 10 Prozent), viele weitere der Wehrpflicht unterworfene junge Männer flohen zu den Partisanen, so dass in Oberkrain im September 1944 die Musterungen als kontraproduktiv eingestellt wurden.78 Einen vergleichbar starken Zwang fühlten die allermeisten Soldaten aus dem westlichen Alpengau und aus Südtirol wohl nicht – dafür spricht auch die in beiden Regionen dominante heroisierende Kriegserinnerung seit den späten 1940er-Jahren. Die Überlebenschancen von Deserteuren aus dem Untersuchungsgebiet waren – verglichen etwa mit jenen aus der Minderheit der Kärntner Slowenen – 74 Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik, 214. 75 Nach Berechnungen von Treiber flüchteten nur fünf Prozent der deutschen Deserteure im Urlaub. Treiber, Helden oder Feiglinge?, 219. Vgl. zu Deserteuren überwiegend aus der Division 177 (Wehrkreis XVII) Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“, 744. 76 Vgl. Frédéric Stroh, Die Zwangsrekrutierung in Frankreich: Durchsetzung, Opposition, Erinnerung, in: Zdenko Marsˇálek/Jirˇí Neminárˇ (Hg.), Zwangsrekrutierte in die Wehrmacht. Mobilisation – Widerspruch – Widerstand – Gedächtnis in der schlesischen, tschechischen und slowenischen Perspektive, Prag 2021, 55–68, 59. 77 Treiber, Helden oder Feiglinge?, 176. 78 Damijan Gusˇtin, Die Konfrontation der slowenischen Zwangssoldaten mit ihrer Heimat, in: Ebd., 171–187, 176.

490

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

relativ gut. Gegen letztere ging die Militärjustiz zwar nicht drakonischer vor, aber die meisten schlossen sich dem Widerstandskampf der slowenischen Befreiungsfront in Kärnten und in den an das Deutsche Reich angegliederten besetzten Gebieten Sloweniens an. Etwas mehr als 40 Prozent überlebten die Verfolgung und den Kampf für die Befreiung vom Nationalsozialismus nicht.79 Bis auf wenige Ausnahmen nutzten Deserteure im Untersuchungsgebiet die Waffe nur zur Selbstverteidigung. Der hohe Anteil an gelungenen Desertionen in manchen alpinen Gebieten regt dazu an, nach der Analyse der Praxis der NSMilitärjustiz und der Wahrnehmung der Deserteure als deren Opfer, das Augenmerk stärker auf die Praxis des Überlebens und der Selbstverteidigung gegenüber dem totalen Verfügungsanspruch der Wehrmacht und der Verformung zu Menschenmaterial zu richten. Eine Untersuchung der Desertion als Selbstverteidigung stellt nicht die Frage der Legitimität des Handelns aus (national)staatlicher Perspektive in den Vordergrund, wie es in der ganzen Debatte um die Wehrmachtsdeserteure entlang der Diskursstränge „Feiglinge oder Helden“, „Widerstand oder Pflichtverletzung“ so zentral war. Desertieren als eine Praxis der Selbstverteidigung zu betrachten, bei der es mit den Worten von Elsa Dorlin vor allem darum ging, „nicht sofort getötet zu werden“,80 würde bedeuten, auf das Unterscheiden von politischen und persönlichen Motiven, auf das die Nachkriegsbehörden so viel Wert legten, zu verzichten und auch dem Opfernarrativ, das die Rehabilitierungsdebatten prägte, die wichtige Dimension des Überlebens und der Solidarität hinzuzufügen. Nach der Erforschung des Ausmaßes steht die Darstellung der Varianten desertierenden Handelns, der Wege dorthin, der Umstände des Gelingens und der Gründe für die gesellschaftliche und politische Minderbewertung der Desertion als Selbstverteidigung nach 1945 auf dem Programm.

79 Vgl. Brigitte Entner, Slowenische Soldaten – Organisiert Flucht innerhalb der Reichsgrenzen?, in: Kerstin von Lingen/Peter Pirker (Hg.), Deserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und Gedächtnisbildung, Paderborn 2023 (im Erscheinen). 80 Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt, Frankfurt/Main 2020, 21.

Johannes Kramer

Sonderfall Südtirol. Die erfolgreiche und die gescheiterte Aktivierung des „volksdeutschen Wehrwillens“

Schätzungsweise 25–30.000 deutschsprachige Südtiroler dienten im Zweiten Weltkrieg in den deutschen Streitkräften, davon bis zu 5.000 in der Waffen-SS. Weiter ist von 8.000 Gefallenen die Rede. Die Zahl der Südtiroler Deserteure wurde zuletzt auf 400 geschätzt.1 Ausgehend von der Fachliteratur und unter Rückgriff auf die umfangreiche Materialsammlung des in diesem Heft bereits eingangs erwähnten Südtiroler Projekts wird im vorliegenden Beitrag zunächst die (Struktur-)Geschichte der Mobilisierung und des Wehrmachtseinsatzes der deutschsprachigen (und auch ladinischsprachigen) Südtiroler schlaglichtartig beleuchtet. Darauf aufbauend wird der Versuch unternommen, die im Projekt bislang dokumentierten Fallverläufe in Bezug auf Verweigerungshandlungen entlang einiger zentraler Faktoren und Merkmale einzuordnen. Dafür werden auch bislang gänzlich ungenutzte Quellen herangezogen. Vor dem Hintergrund der regionalspezifischen Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus in Südtirol wird abschließend der Aushandlung des Phänomens „Verweigerung“ in der Region nach Kriegsende in Relation zum bundesdeutschen und österreichischen Beispiel nachgegangen.

1 Dieser Beitrag präsentiert Erkenntnisse aus dem vom Südtiroler Landesarchiv (SLA) geförderten Projekt „Deserteure der Wehrmacht in Südtirol“, das vom Verfasser bearbeitet wird. Der Autor dankt Christine Roilo und Gustav Pfeifer für die Projektförderung, außerdem Leopold Steurer und Martha Verdorfer für Beratung und wertvolle Hinweise sowie Michael Messner für Unterstützung bei den Recherchen im Staatsarchiv Bozen. Die Zahlenangaben, auf die in diesem Beitrag später noch etwas vertiefender eingegangen wird, basieren auf der aktuellen Fachliteratur, eigenen Quellenrecherchen und Angaben des Südtiroler Kriegsopferund Frontkämpferverbands (SKFV). Siehe dazu auch Johannes Kramer/Peter Pirker, Die „Alpensöhne“ im Zweiten Weltkrieg. Schlaglichter auf die Wehrmacht im Reichsgau Tirol und Vorarlberg und die Tiroler in der Wehrmacht, in: Matthias Egger (Hg.), „… aber mir steckt der Schreck noch in allen Knochen.“ Innsbruck zwischen Diktatur, Krieg und Befreiung 1933– 1950, Innsbruck 2020, 139–172.

492

I.

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

Zur Strukturgeschichte der Südtiroler in den deutschen Streitkräften 1939 bis 1945

Der Waffengang der Südtiroler Minderheit für das „Dritte Reich“ und dessen Nachgeschichte wurde mit Blick auf die umfangreiche Forschungslandschaft zur Geschichte der Region noch vergleichsweise wenig explizit erforscht und dokumentiert. Das anhaltend hohe Interesse an der Geschichte Südtirols steht dabei stets in Zusammenhang mit der besonderen geopolitischen Situierung der Region im 20. Jahrhundert und ihrer bis in die Gegenwart anhaltenden Funktion als Projektions-, Agitations- und Aktionsfläche für (neo-)faschistische Strömungen. Die zentralen Zäsuren in Südtirol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geben dabei auch im Wesentlichen die Weichenstellungen für das Verständnis des Waffengangs der deutschsprachigen Südtiroler wieder: (1) Annexion durch das Königreich Italien nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und damit Unterwerfung unter den italienischen Faschismus ab den 1920er-Jahren, Versuch der ethnischen „Flurbereinigung“ mittels Zwangsentscheid (so genannte Option) und Umsiedlung der rund 250.000 deutschsprachigen Südtiroler und Südtirolerinnen ab 1939 (nur in etwa 75.000 siedelten tatsächlich um), (2) de facto Eingliederung in den NS-Staat ab Herbst 1943 nach dem Zusammenbruch des Achsenbündnisses Rom-Berlin, der Besetzung Norditaliens durch die Wehrmacht und der Errichtung der zivilverwalteten Operationszone „Alpenvorland“ (OZAV) sowie (3) Verbleib bei Italien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und anschließend Kampf um Autonomie bis in die 1990er-Jahre, begleitet von Terrorismus (oder je nach Lesart „Aktivismus“). Will man davon ausgehend eine grobe Periodisierung des nationalsozialistischen Zugriffs auf das „Menschenmaterial“ in der Region im Zweiten Weltkrieg herausarbeiten, lassen sich im Wesentlichen, wenngleich freilich stark verkürzt dargestellt, folgende Phasen ausmachen: (1) Freiwilligenmeldungen von Südtiroler Wehrpflichtigen im italienischen Heer und bei den faschistischen Bürgermeistern im Vorfeld und im Zuge der so genannten Option 1939, (2) Einberufungen von Freiwilligen und Umsiedlern sowie ab 1941 auch von nicht umgesiedelten Optanten in der Region, insbesondere durch den „Bevollmächtigten Offizier der Wehrmacht“ in Bozen und (3) völkerrechtswidrige Mobilisierung und später auch Einberufung aller dienstpflichtigen Männer in der Region unabhängig von der „Volksgruppenzugehörigkeit“ und damit auch jener deutsch(und ladinisch-)sprachigen Südtiroler, die sich für den Beibehalt der italienischen Staatsbürgerschaft entschieden hatten, in der zivilverwalteten Operationszone „Alpenvorland“ (OZAV) ab September 1943. Wenngleich in der Operationszone ein Zentralmusterungsamt eingerichtet wurde, waren vor allem das Wehrbezirkskommando Innsbruck mit seinen Wehrmeldeämtern und die Wehr-

Johannes Kramer, Sonderfall Südtirol

493

ersatzinspektion Innsbruck über den gesamten Kriegsverlauf die zentralen Schaltstellen für die Zuteilung des „Menschenmaterials“ aus der Region zu den deutschen Streitkräften.

1.1

Freiwillige und aus dem italienischen Heer Rekrutierte

Die grundsätzliche Organisation der Zuteilung der Wehrpflichtigen aus der Region und der Südtiroler Freiwilligen aus dem italienischen Heer unmittelbar nach Ablauf der Optionsfrist im Dezember 1939 macht ein Schreiben des Wehrkreiskommandos VII (München) vom 12. Februar 1940 nachvollziehbar. Demnach wurden die dienstpflichtigen Optanten zunächst von der Stadtgemeinde Innsbruck eingebürgert, anschließend vom Wehrbezirkskommando Innsbruck gemustert, rekrutiert und Ersatztruppenteilen in den Wehrkreisen VII (München), XVII (Wien), XVIII (Salzburg) zugewiesen.2 Ein besonderes Augenmerk galt seitens der Wehrmachtsspitzen zu diesem Zeitpunkt der Eingliederung der bereits gedienten italienischen Heeresangehörigen aus Südtirol, denen im Rahmen einer militärischen „Frühoption“ im Sommer 1939 die Möglichkeit geboten wurde, in den italienischen Kasernen für die Abwanderung und den Dienst in den deutschen Streitkräften zu votieren. Sie wurden anschließend gemeinsam mit anderen dienstpflichtigen Südtirolern, die teils auch schon vorab bei den faschistischen Bürgermeistern (Podestá) auf die italienische Staatsbürgerschaft verzichten konnten, im Rahmen von Freiwilligentransporten über den Brenner geschickt. Die Verteilung der Rekruten und Soldaten auf die Wehrkreise VII, XVII und XVIII oblag zunächst dem Wehrkreiskommando Salzburg. Die aus dem italienischen Heer rekrutierten Soldaten wurden in vierwöchigen Kursen umgeschult und gemäß ihren Dienstgraden in das deutsche Wehrverhältnis übernommen. Für Unteroffiziere gab es eine Probezeit. Eine Dienstanweisung des Wehrkreiskommandos VII zeigt, dass der Integration der Südtiroler viel Beachtung geschenkt wurde: „Die als Ausbilder der Südtiroler einzuteilenden Dienstgrade sind sorgfältig auf ihre Eignung gerade für diesen Zweck zu überprüfen […]. Vor beginnender Ausbildung sind alle Dienstgrade und Mannschaften durch die Kommandeure der Ersatztruppenteile über ihre besonderen Obliegenheiten zu belehren. Den Südtirolern muß genügend Zeit gelassen werden, sich in die neuen Verhältnisse einzuleben. Verständnisvolle, fürsorgliche, kameradschaftliche Betreuung, besonders außer Dienst, muß dieses Einleben

2 Überführung von Reichs- und Volksdeutschen von der italienischen in die deutsche Wehrmacht und Ausbildung der ungedienten Südtiroler, Rundschreiben des Wehrkreiskommandos VII, 12. 2. 1940. Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg (BA-MA), RH 54/108.

494

zeitgeschichte 49, 4 (2022)

erleichtern. Im Unterricht sind die Südtiroler mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen vertraut zu machen.“3

Rund 2.500 Südtiroler dürften in dieser Phase den Optionsentscheid mit einer Freiwilligenmeldung für die deutschen Streitkräfte verbunden haben und in Innsbruck in die Wehrmacht eingegliedert worden sein.4 Es ist auch mehrfach belegt, dass besonders ungeduldige junge Männer im Jahr 1939 auf eigene Faust illegal über die Grenze gingen, was Besorgnis bei den deutschen Offizieren und Beamten erregte, die die Vorgänge im italienischen „Vertragsgebiet“ (so lautete damals die amtsmäßige Bezeichnung für Südtirol und die darüber hinaus in die „Option“ eingebundenen Gebiete) regeln sollten. So findet sich in den Beständen des „Reichskommissars für die Festigung des Deutschen Volkstums“ (RKFDV, Heinrich Himmler) ein Bericht vom 6. September 1939, wonach bei der mit der Umsiedlung betrauten „Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle“ (ADERSt) in Bozen täglich hunderte von wehrfähigen Volksdeutschen vorsprechen würden, die es „gar nicht begreifen können“, dass sie nicht sofort als Freiwillige in die Wehrmacht einrücken dürfen.5 Die jungen Männer seien unter anderem darauf hingewiesen worden, dass keiner schwarz über die Grenze gehen dürfe und die Aufnahme volksdeutscher Freiwilliger von Stellen im Deutschen Reich geregelt werde. Darauf müssten „alle, auch wenn sie noch so ungeduldig die Möglichkeit im Deutschen Heer zu kämpfen herbeisehnten,“ warten. Trotzdem ließ sich eine Anzahl junger Volksdeutscher nicht abhalten.6 Unter diesen Männern befand sich auch der in Brixen geborene Willy Acherer (Jahrgang 1920), der für den „Völkischen Kampfring Südtirol“ (VKS) 7 in der Illegalität als Jugendführer aktiv war. In seinen (revisionistischen) Memoiren, die im Jahr 1986 erschienen, nennt Acherer als Grund für den illegalen Grenzübertritt, dass die italienischen Carabinieri im November 1939 eine Liste mit den 3 Ebd. 4 Leopold Steurer, „Grüße uns alle Kameraden mit Heil Hitler!“ Südtiroler Kriegsfreiwillige im Optionsgeschehen, in: Leopold Steurer/Günther Pallaver (Hg.), Deutsche! Hitler verkauft euch! Das Erbe von Option und Weltkrieg in Südtirol, Bozen 2011, 51–111, sowie Thomas Casagrande, Südtiroler in der Waffen-SS. Vorbildliche Haltung, Fanatische Überzeugung, Bozen 2015. 5 Vorschlag für die Regelung der Einstellung volksdeutscher Freiwilliger aus dem ehemaligen Südtirol, Schreiben vom 6. 9. 1939. SLA, Forschungsnachlass Karl Stuhlpfarrer/Bundesarchiv (BArch) R 49/2128. Der Autor des Dokuments schätzte die Zahl der „ungedienten Volksdeutschen“, die zu diesem Zeitpunkt als Freiwillige in Frage kämen, auf 2.500 Mann, was sich mit den Angaben in der Fachliteratur weitestgehend deckt. 6 Ebd. 7 Genuine Südtiroler NS-Aufbauorganisation, ging im Januar 1940 in der „Arbeitsgemeinschaft der Optanten“ (AdO) auf. Die AdO war gegenüber der ADERSt weisungsgebunden. In der Operationszone „Alpenvorland“ wurde die Volksgruppenführung wiederum in der „Deutschen Volksgruppe“ (DV) vereint.

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Namen und der Anschrift von Männern aufgefunden hätten, die sich beim VKS in Brixen freiwillig für den Wehrmachtsdienst gemeldet hatten.8 Da die „Option“ zwar von der reichsdeutsch besetzten ADERSt offiziell organisiert wurde (dem RKFDV unterstellt), der VKS jedoch vorerst weiterhin illegal blieb, wenngleich er später in der „Arbeitsgemeinschaft der Optanten für Deutschland“ (AdO) als Volksgruppenführung aufging und damit offiziell anerkannt wurde, befürchteten Acherer und seine Kameraden Repressionen und machten sich auf den Weg über den Brenner: „Ein Vertrauensmann oberhalb Schellenberg sorgte für unsere sichere Einweisung und mit Einbruch der Dunkelheit kamen wir ungestört über die Grenze und fanden in einer Almhütte, schlotternd vor Kälte, Unterkunft.“9 In Gries am Brenner nahm die Gruppe einen Zug nach Innsbruck, wo sie wie viele andere erste Umsiedler aus Südtirol in einer Gaststätte untergebracht wurden.10 Die wehrpflichtigen Umsiedler seien schließlich nach ihrer Einbürgerung und den damit verbundenen Feierlichkeiten vom Wehrkreiskommando erfasst und zur Musterung vorgeladen worden. Nach seiner Einbürgerung wartete Acherer seinen Memoiren zufolge aber gar nicht erst auf eine Einladung, sondern ging selbst zum Musterungskommando und zeigte seine Einbürgerung vor, „denn ich wollte einfach Soldat werden“. Da ihm notwendige Papiere fehlten, fälschte er schließlich ein Entlassungsschreiben aus dem italienischen Heeresverband und wurde zu einem Infanterie-Ersatz-Regiment nach Landshut einberufen. Am 20. Januar 1940 gelangte Acherer mit einem Personenzug mit über 300 Südtirolern zu seinem bayerischen Ausbildungsregiment. Die Stimmung unter den Rekruten sei ausgelassen fröhlich gewesen, Heimatlieder und alte Soldatenweisen seien gesungen worden. In Landshut angekommen, begrüßte sie der Kompaniechef mit „Heil Südtiroler“.11 Nach der Ausbildung meldeten sich Acherers Kameraden, wie die meisten Südtiroler in dieser Phase, für die Gebirgsjäger. Der Drill und der Umgang mit den jungen Männern aus der Region wurden indes von der inzwischen in der AdO versammelten Volksgruppenführung in Südtirol genau beobachtet. So wurden Beschwerden eines Angehörigen des in Innsbruck aufgestellten und stationierten Gebirgsjäger-Ersatz-Regiments 136 im Frühjahr 1940 durchaus zur Kenntnis genommen. Freilich versicherten sich die Vertreter der Volksgruppenführung gegenseitig, dass die Behandlung der jungen Südtiroler in der Wehrmacht nicht weiter besorgniserregend sei. Der Leiter des AdO-Hauptbeirates in Meran hielt fest, dass der Ton der Feldwebel „in keinem Heere ein sehr hochstehender“ sei. Wenn, dann solle der Sache außerdem nur sehr vorsichtig 8 9 10 11

Willy Acherer, Mit seinem schweren Leid. Jugendbekenntnisse eines Südtirolers, Brixen 1986. Ebd., 96. Ebd., 96–97. Ebd., 100.

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nachgegangen werden, da es vielleicht zu Strafen gegen Südtiroler kommen würde, wenn „ein Wehrmachtsangehöriger über das Verhältnis und die Disziplin an Kreise außerhalb der Wehrmacht Nachrichten gibt.“12 Generell verlief die Aufnahme der Südtiroler Freiwilligen und aus dem italienischen Heer Rekrutierten ohne gravierende Probleme.13

1.2

Einberufungen durch den „Bevollmächtigen Offizier der Wehrmacht“ ab 1941

Im Februar 1941 verfasste das Oberkommando der Wehrmacht (OKW) ein Rundschreiben an alle Wehrkreiskommandos mit Anordnungen für die Überführung der „volksdeutschen Wehrpflichtigen aus Italien in den Beurlaubtenstand der deutschen Wehrmacht“, in dem auch grundsätzlich auf das nun gültige Verfahren der Zuteilung zu den deutschen Streitkräften eingegangen wurde.14 Die „Rückwanderer“, so die offizielle Diktion, wurden zunächst nach Innsbruck geleitet (im Falle von Kanaltalern, die ebenfalls in die „Option“ einbezogen wurden, nach Klagenfurt). Dort seien die Wehrdienstpflichtigen der Geburtsjahrgänge 1896 bis 1922 zu erfassen und vom Wehrbezirkskommando (WBK) Innsbruck zu mustern. Karteimittel seien anzulegen und der Wehrpass auszuhändigen. Anschließend seien die „Rückwanderer“ darüber zu belehren, dass sie sich bei den Wehrersatzdienststellen des Niederlassungsortes innerhalb von 48 Stunden zu melden hätten (den eingebürgerten Umsiedlern stand das Recht zu, sich nach freiem Ermessen im Reichsgebiet niederzulassen). In Wehrüberwachung wurden die wehrpflichtigen Südtiroler laut dem OKWRundschreiben schließlich von der für ihren endgültigen Wohnort zuständigen Wehrersatzdienststelle genommen, die bei den Wehrbezirkskommandos Innsbruck und Klagenfurt die Karteimittel und Personalpapiere anforderte. Beim WBK Innsbruck sei darüber hinaus „eine zentrale Suchkartei aller wehrüberwachten Südtiroler zu führen, um Anfragen über wehrüberwachte Südtiroler beantworten und Auskünfte aller Art geben zu können.“15 Sämtliche Wehrersatzdienststellen hätten hierfür Zweitschriften der Suchkarten derjenigen Südtiroler Wehrpflichtigen, die von ihnen zum aktiven Wehrdienst einberufen wor12 Behandlung der Südtiroler bei der deutschen Wehrmacht, Schreiben des AdO-Hauptbeirates, Meran, 26. 4. 1940. SLA, VKS/AdO Position 274, 690. 13 Behandlung der Südtiroler bei der deutschen Wehrmacht, Schreiben des Beirats der I. AdOHauptstelle, 23. 4. 1940, SLA, VKS/AdO Pos. 691. 14 Oberkommando der Wehrmacht, Grundsätzliche Anordnungen für Überführung der volksdeutschen Wehrpflichtigen aus Italien in den Beurlaubtenstand der deutschen Wehrmacht, Rundschreiben vom 15. 2. 1941, BA-MA, RH 15/222, 26–30. 15 Ebd., 3.

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den seien oder bei ihnen in Wehrüberwachung stünden, an das Wehrbezirkskommando Innsbruck zu übersenden und Änderungen laufend mitzuteilen.16 Während der Status des WBK Innsbruck als zentrale Schaltstelle für die Zuteilung und Überwachung des „Menschenmaterials“ aus Südtirol damit weiter verfestigt wurde, ergab sich aber ein grundsätzliches Problem bei den Einberufungen in der Region selbst: Zunächst konnten Optanten nur im Falle einer freiwilligen Meldung und mit ausdrücklicher Zustimmung der italienischen Behörden einberufen werden.17 Das änderte sich grundlegend im August 1941: Nach Unterzeichnung der „Römischen Vereinbarungen“, mit denen das Deutsche Reich Italien eine Steigerung der inzwischen bereits stagnierenden Umsiedlungszahlen zusicherte, wurde die Wehrpflicht auch auf jene Optanten ausgeweitet, die sich noch nicht ins Reich begeben hatten. Bei den Einberufungen sprachen die Funktionäre der AdO „ein wichtiges Wort mit, vor allem politisch nicht Zuverlässige wurden an die Front geschickt.“18 Die wichtigste Dienststelle im Vertragsgebiet war hierbei neben der ADERSt und der AdO mit ihrem „Amt für Wehrmachtsangelegenheiten“,19 der „Bevollmächtigte Offizier der Deutschen Wehrmacht für italienische Vertragsgebietsangelegenheiten“ in Bozen, Kurt Lüdecke, der bereits seit Herbst 1939 für das Wehrkreiskommando XVIII in Südtirol tätig war. Er war der offizielle Vertreter der Wehrmacht gegenüber den deutschen und italienischen Behörden und stand in stetiger Absprache mit den Wehrkreiskommandos und dem Wehrmachtsattaché in Rom. Einige seiner Aufgaben im Vertragsgebiet waren laut Dienstanweisung des OKW die Mitwirkung bei der Einstellung von Reichs- und Volksdeutschen in die Wehrmacht, die Mitwirkung bei der Annahme ungedienter Freiwilliger, die Mitwirkung bei Einberufungen von Reichs- und Volksdeutschen, die Werbung von Unteroffiziersschülern, die Beratung der Rückwanderer und die Betreuung der Angehörigen der bei der Wehrmacht befindlichen Optanten.20 Auch bei der Begutachtung von Uk-Stellungen (Unabkömmlichkeitsanträgen) konnte Lüdecke ein Wort mitsprechen und, worauf später noch kurz anhand 16 Ebd. 17 Michael Wedekind, Nationalsozialistische Besatzung- und Annexionspolitik in Norditalien 1943–1945. Die Operationszonen „Alpenvorland“ und „Adriatisches Küstenland“, München 2003, 215. 18 Rolf Steininger, Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit, Innsbruck (u. a.) 1997, 177. 19 In dem im August 1942 eingerichteten „Amt für Wehrmachtsangelegenheiten“ der AdO wurde die Bearbeitung sämtlicher Soldatenbelange gebündelt, für die zuvor verschiedene Dienststellen zuständig waren. Vgl. Einheitliche Leitung des Amtes für Wehrmachtsangelegenheiten in der A. d.O., Weisung des Leiters der Arbeitsgemeinschaft der Optanten, 18. 8. 1942. SLA, Forschungsnachlass Karl Stuhlpfarrer/BArch Do35/Ak-6/2642–2703. 20 Dienstanweisung für den Bevollmächtigten Offizier der Deutschen Wehrmacht für italienische Vertragsgebietsangelegenheiten, Rundschreiben des OKW an alle Wehrkreiskommandos, 30. 1. 1942. BA-MA, RH 15/228.

498

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eines Fallbeispiels zurückzukommen ist, bei der Straffreiheit im Zusammenhang mit Entziehungsdelikten in Einzelfällen.

1.3

Völkerrechtswidrige Mobilisierung ab September 1943

Unmittelbar nach der Besetzung Norditaliens durch die Wehrmacht im September 1943 (zu diesem Zeitpunkt befanden sich schätzungsweise 20.000 Südtiroler im aktiven Dienst in der Wehrmacht und Waffen-SS)21 und der Errichtung der zivilverwalteten Operationszonen „Alpenvorland“ (Provinzen Bozen, Trient, Belluno) und „Adriatisches Küstenland“ (u. a. Provinzen Udine, Triest, Fiume, Lubiana) setzte eine völkerrechtswidrige Phase der Mobilmachung ein. Im „Alpenvorland“ wurden noch im September ohne Unterschied der Volkszugehörigkeit und damit auch unabhängig von der Optionsentscheidung zunächst die Geburtsjahrgänge 1924 und 1925 mobilisiert und damit zum Kriegsdienst verpflichtet, der auch bei der Organisation Todt oder Sicherungsverbänden abgeleistet werden konnte. Tatsächlich einberufen wurden aber vorerst in erster Linie weiterhin die Optanten.22 Ergänzende Verordnungen des Gauleiters von TirolVorarlberg und nun auch Obersten Kommissars der Operationszone „Alpenvorland“, Franz Hofer, im Januar und April 194423 weiteten den Personenkreis auf alle italienischen Staatsangehörigen der Jahrgänge 1894 bis 1926 sowie später 1927 aus.24 Vor allem aufgrund der ergänzenden und zugleich verschärfenden Verordnungen ab 1944 mussten in Südtirol auch viele „Dableiber“ einrücken, mit deren systematischer Musterung ab Februar begonnen wurde. Das Wahlrecht in Bezug auf die Einheit, in welcher der Kriegsdienst abgeleistet werden konnte, 21 Vgl. Casagrande, Vorbildliche Haltung, 81. Die überlieferten Zahlenangaben in Bezug auf die einberufenen und eingezogenen Südtiroler sind nicht immer eindeutig und divergieren oftmals in der Literatur, lassen aber zumindest Schätzungen zu. Dies ist auf die unvollständige Aktenlage zurückzuführen. In einem Dokument in den Beständen des RKFDV ist beispielsweise von 15.600 Eingerückten aus dem Vertragsgebiet Ende Februar 1942 die Rede. Allerdings lassen derartig grobe Zahlenangaben, die zumindest bis 1943 an unterschiedlichen Stellen in den Akten auftauchen, Detailfragen offen. Vgl. Besprechung Buffarini, 27. 2. 1942. SLA, Forschungsnachlass Karl Stuhlpfarrer/BArch, R 49/2128. In einem anderen Dokument in den RKFDV-Beständen werden 17.000 Optanten im aktiven Dienst in Wehrmacht und Waffen-SS Ende Mai 1943 genannt und eine verbleibende „Gesamtreserve“ von 21.500 Mann. RKFDV, Sonderreferat Italien, Vermerk v. 21.5.1943 für Hauptamtschefs zur Besprechung mit Staatssekretär von Steengracht. SLA, Forschungsnachlass Karl Stuhlpfarrer/BArch, R 49/2257. 22 Verordnung Nr. 30 des Obersten Kommissars Franz Hofer, 6. 11. 1943, abgedruckt in Margarete Lun, NS-Herrschaft in Südtirol. Die Operationszone Alpenvorland 1943–1945 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 22), Innsbruck (u. a.) 2004, 174–175. 23 Verordnung Nr. 41 des Obersten Kommissars, 6. 1. 1944, und Verordnung Nr. 52, 10. 4. 1944. Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann, III 101.740. 24 Ähnlich verlief die Mobilmachung im „Adriatischen Küstenland“. Vgl. Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik, 209–210.

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hielt nicht lange stand und es wurde dem Bedarf entsprechend einberufen.25 Im September 1944 wurde die Kriegsdienstpflicht in Hofers neuem Machtbereich analog zu den Verordnungen in Deutschland außerdem auf Gymnasiasten der 12. und 13. Klasse ausgedehnt.26 Über die Kriegsdienstverwendung – Arbeitsdienst oder Dienst mit der Waffe – entschieden die in beiden Operationszonen neu geschaffenen Zentralmusterungsämter Bozen und Triest. Zum stellvertretenden Leiter in Bozen wurde der bereits erwähnte „Bevollmächtigte Offizier“ Kurt Lüdecke ernannt. In großem Umfang setzte 1944 außerdem in beiden Operationszonen der auf Zwangsrekrutierungen basierende Aufbau von Sicherungs- und Polizeiverbänden ein, hervorzuheben sind an dieser Stelle die SS-Polizeiregimenter „Bozen“, Brixen, „Schlanders“ und „Alpenvorland“. Vor allem in den italienischsprachigen und slowenischen Provinzen der beiden Operationszonen widersetzten sich phasenweise größere Teile der Bevölkerung der Einberufung und Wehrdienstunwillige schlossen sich mitunter lokalen Partisanenbewegungen an. In Südtirol kam es bei der Einberufung der „Dableiber“ ab Mai 1944 vermehrt zu Fällen unerlaubter Entfernung. Über das Passeiertal wurde gar „angesichts zunehmender Desertionen und Wehrdienstverweigerungen der Belagerungszustand verhängt.“27

II.

Entziehungen: Bedingungen und Verläufe, extrinsische und intrinsische Faktoren

Die Mobilisierung der deutschsprachigen Südtiroler für die Wehrmacht und die Waffen-SS war vor allem zu Kriegsbeginn aus deutscher Perspektive überaus erfolgreich und der „Wehrwille“ unter den jungen Männern ging phasenweise weit über das notwendige Maß und die reine Vermeidung des Dienstes im italienischen Heer hinaus, wie sich an der Freiwilligenbewegung der Jahre 1939 bis 1941 ablesen lässt. In Südtirol ließ aber freilich auch ebenso wie andernorts die Begeisterung für den nationalsozialistischen Krieg im Zeitverlauf spürbar nach. Der Wille unter der deutschsprachigen Bevölkerung zur Umsiedlung flaute bereits im Jahr 1941 stark ab. Ursachen hierfür waren unter anderem ungeklärte Besitzfragen und Fragen im Hinblick auf ein geschlossenes Siedlungsgebiet im Deutschen Reich. Spätestens mit den immer fataler werdenden Verlusten der deutschen Streitkräfte an der Ostfront ab Herbst/Winter 1942, die die blutige Realität der Kriegsführung in Form von Gefallenenmeldungen auch der „Hei25 Lun, NS-Herrschaft, 176. 26 Wedekind, Nationalsozialistische Besatzungs- und Annexionspolitik, 209–210. 27 Ebd.

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matfront“ nachhaltig vermittelten, wurde auch die Rekrutierung von Südtirolern nachweislich immer schwieriger und die Einberufungspraxis verschärft.28 Entziehungen wurden schließlich vor allem im Jahr 1944 zu einem immer größer werdenden Phänomen, das stellenweise auch dem aktiven Widerstand gegen das NS-Regime zuzuordnen ist. Die bisherigen Forschungen bezogen sich dementsprechend und nicht zuletzt auch aus Quellengründen primär auf die Zeit der OZAV, die mit der widerrechtlichen Einberufung der „Dableiber“ verbunden war. Ausgehend von der für das gegenständliche Projekt wegweisenden Studie von Leopold Steurer, Martha Verdorfer und Walther Pichler („Verfolgt, verfehmt, vergessen“, erstmals erschienen 1993)29 und den laufenden neuen Erhebungen sollen nun einige wesentliche Faktoren und Verlaufsmerkmale dargestellt und punktuell anhand von einigen Fallbeispielen vertieft werden.

2.1

Optionsverhalten und Verweigerung

Insbesondere Orte mit starken „Dableiber“-Milieus, sprich, mit wenig Bereitschaft zur Umsiedlung ins „Dritte Reich“, scheinen wenig überraschend insgesamt höhere Verweigerungsraten aufzuweisen. Dazu gehören beispielsweise das Ahrntal, Tisens und Deutschnofen. Dafür waren wohl zwei Gründe ausschlaggebend: Die Minderheit der „Dableiber“ wies einerseits eine höhere Resistenz gegenüber der NS-Propaganda bis hin zu dezidiert antifaschistischen Haltungen auf und darüber hinaus wurde die Einberufung dieser Personen in der Operationszone ab Herbst 1943 nachvollziehbarerweise in vielen Fällen als große Ungerechtigkeit empfunden. Jedoch sollte die Entscheidung, sich dem Dienst in den deutschen Streitkräften zu entziehen, nicht ausschließlich auf das Optionsverhalten zurückgeführt werden. Auch dies wurde bereits am Beispiel des Passeiertals oder des Vinschgau herausgearbeitet, wo sich auch ursprünglich begeisterte Freiwillige finden lassen, die nach einem durch den Kriegseinsatz hervorgerufenen Sinneswandel zu überzeugten Regimegegnern wurden.30 Dass eine frühe Optionsentscheidung nicht zwingend mit einer hohen Identifikation mit den deutschen Streitkräften oder auch mit militärischen Wertehaltungen im Allgemeinen einhergehen musste, belegen darüber hinaus auch nun neu erhobene Fälle in den Akten des Gerichts der Division 188. So entfernte sich beispielsweise der Optant Josef Winkler (Jahrgang 1918, geboren in Feld28 Luig, Behandlung wehrpflichtiger Optanten im Vertragsgebiet, Vermerk, 27. 11. 1942. SLA, Forschungsnachlass Karl Stuhlpfarrer/BArch, R 49/2128. 29 Leopold Steurer/Martha Verdorfer/Walter Pichler, Verfolgt, verfehmt, vergessen: Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg. Südtirol 1943–1945, Bozen 1997. 30 Ebd., 16.

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501

thurns/Eisacktal) nach seiner Einrückung und Zuweisung zum Umschulungskommando Bludenz (Lager Rungelin) am 4. September 1942 kurz vor einem Strafantritt unerlaubt von der Truppe.31 Winkler wurde im Zuge der Erhebungen des Divisionsgerichts als „asoziales Element“ eingestuft, er soll sogar bereits bei seiner Einrückung erklärt haben „dass er in der deutschen Wehrmacht nicht dienen wolle und nicht lange beim Militär sein werde.“32 Grund für die Strafe war laut Strafbuch, dass er seinen Dienst absichtlich nachlässig ausgeführt hatte und andere Kameraden dazu angestiftet hatte, dies ebenso zu tun.33 Während Reinigungsarbeiten überkletterte er (vermutlich in Zivilkleidung) die Umzäunung der Kaserne und entzog sich damit dem Wehrdienst und der Strafe. Obschon er für Deutschland optiert hatte, geht aus der Stellungnahme seines Kompanieführers recht eindeutig hervor, dass Winkler wohl zu keinem Zeitpunkt ein begeisterter Soldat war und sich vermeintlich bereits in Südtirol durch den Aufschub einer Operation dem Wehrdienst entziehen wollte und danach mehrfach versucht hatte „Schwachsinn zu simulieren“.34 Das Divisionsgericht in Innsbruck ging zunächst davon aus, dass eine Rückkehr nach Italien wahrscheinlich sei.35 Dieser Erstverdacht wurde im Dezember 1942 bestätigt, als die Dienststelle des Sonderbeauftragten des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei in Bozen (Karl Brunner) mitteilte, dass sich Winkler nach einem kürzeren Aufenthalt in Südtirol in die neutrale Schweiz abgesetzt habe und in Chur aufhalten solle.36 Dies ist nur ein Beispiel dafür, dass eine frühe Optionsentscheidung keineswegs mit einer nachhaltigen Überzeugung einhergehen musste, für Adolf Hitler und das „Dritte Reich“ in den Krieg zu ziehen und gegebenenfalls dafür das eigene Leben zu opfern. Auf die Rolle der Schweiz als Zufluchtsort und das Umdenken von teils überzeugten Kriegsfreiwilligen der ersten Stunde ist später noch zurückzukommen.

31 Gericht der Division 188, Zweigstelle Innsbruck, Haftbefehl Nr. 283/1942 gegen Josef Winkler. BA-MA, Pers 15/151173. 32 Ebd. 33 Umschulungs-Abteilung Bludenz, Lager Rungelin, 2. Kompanie, Auszug aus dem Strafbuch. Ebd. 34 Umschulungskommando Bludenz, Lager Rungelin, 2. Kompanie, Stellungnahme des Kompanieführers. Ebd. 35 Umschulungskommando Bludenz, Lager Rungelin 2. Kompanie, Meldung über Fahnenflucht. Ebd. 36 Wehrmacht-Standortältester Bludenz an den Gerichtsherrn der Division 188 Zweigstelle Innsbruck, 8. 12. 1942. Ebd.

502 2.2

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Geographische Faktoren, Alter und Kriegsverlauf

Weiter stellten Wehrdienstverweigerung und Desertion in der Region – soweit bislang erforscht – primär ein ländliches Phänomen dar und dort vor allem ein Bergphänomen. Diese Beobachtung wurde bislang sowohl auf geographische als auch mentalitätsgeschichtliche Faktoren zurückgeführt. Einerseits waren geographisch abgelegene Siedlungen und Höfe, die sich in manchen Fällen geradezu zu Widerstandszellen entwickelten, weit weniger der NS-Propaganda ausgesetzt, andererseits kann angenommen werden, dass das „Abseits“ als Sozialisationserfahrung deviantes, normabweichendes Verhalten grundsätzlich begünstigt.37 Auch in sozialer Hinsicht tauchen dementsprechend bislang untere Schichten wie Kleinbauern, Pächter, Knechte aber auch Arbeiter häufiger als Verweigerer auf, wobei an dieser Stelle noch weitere Materialauswertungen und Recherchen vorzunehmen sind, um die sozio-ökonomischen Verhältnisse präziser einordnen zu können. Steurer et al. wiesen in diesem Kontext auch auf den Umstand hin, dass viele der von ihnen interviewten Deserteure ledige Kinder waren und bereits diese Erfahrung ein Faktor gewesen sein könnte, der bei der späteren Entscheidung gegen das Militär eine Rolle spielte.38 Im Hinblick auf die Altersstruktur der Südtiroler Deserteure lässt sich weiters anhand von Listen, die im Jahr 1945 vor dem Hintergrund der zu diesem Zeitpunkt noch strittigen Zugehörigkeitsfrage der Region nicht zuletzt auch mit dem Ziel publiziert wurden, die antinazistische Haltung der deutschsprachigen Südtiroler darzulegen, die These aufstellen, dass jüngere Dienstpflichtige eher den Entschluss zur Desertion fassten als ältere (gemeint sind damit Männer über dreißig).39 Dies wurde bislang einerseits darauf zurückgeführt, dass Familienväter wohl eher Skrupel gehabt hätten, einen solchen Entschluss zu fassen, und andererseits eine gewisse „jugendliche Unbekümmertheit“ kein unbedeutender Punkt gewesen sein dürfte.40 Im Zeitverlauf spielte darüber hinaus, wie schon angesprochen, der allgemeine Kriegsverlauf eine wesentliche Rolle. Die Begeisterung für den Krieg ging spätestens ab Herbst 1942 sukzessive zurück, als die Realität der Kriegsführung an der Ostfront die Blitzkrieg-Euphorie der ersten Kriegsphase an der „Heimatfront“ einholte. Stimmungsbilder diesbezüglich liefern unter anderem die Sammelberichte des „Südtiroler Nachrichtendienstes“ der AdO, die im gegenständlichen Projekt umfassend erhoben wurden und auf die an dieser Stelle aus Platzgründen nicht ausführlich eingegangen werden kann. Zunächst ist festzuhalten, dass die AdO 37 Steurer u. a., Verfolgt, 18. 38 Ebd. 39 Friedl Volgger, Südtirols Opfergang unter dem Nationalsozialismus, Tiroler Volksbote, 15. 11. 1945, 6. 12. 1945, 27. 12. 1945. 40 Steurer u. a., Verfolgt, 19.

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503

einen Anstieg systemimmanenter Entziehungsversuche registrierte. Uk-Stellungen nahmen im Zeitverlauf jedenfalls derart zu, dass der SS-Oberführer und Leiter der Dienststelle RKFDV, Ulrich Greifelt, im Februar 1943 anordnete, die bisherigen Rückstellungen in der Region einer sofortigen und strengen Überprüfung durch das Wehrkreiskommando zu unterziehen.41 Gemeindemitarbeiter, Gastwirte und der niedere Klerus, also Pfarrer in einzelnen Gemeinden, stellten sich immer öfter gegen den Krieg und versuchten stellungspflichtige junge Männer dazu zu bewegen, dem Musterungsbefehl nicht Folge zu leisten. Dies geht unter anderem auch aus den Akten des „Amts für Wehrmachtsangelegenheiten“ der AdO hervor, beispielsweise aus einem Schreiben Ulrich Greifelts an den Leiter der AdO, Peter Hofer, im Juli 1943. Der Pfarrer der Gemeinde Andrian habe das „Greuelmärchen“ verbreitet, „die Deutschen würden bei ihrem Einzug in ein russisches Dorf gleich 15 bis 20 Russen aufhängen. Die Deutschen hätten daher auch keinen Grund, sich über die Methode der Engländer aufzuhalten. Die Russen seien auch keine Unmenschen, sie würden nur die in Gefangenschaft geratenen SS-Männer aufhängen.“42

2.3

Desertion in den Widerstand und die ladinische Sprachgruppe

Hinsichtlich des Widerstandspotentials, das auch von ursprünglich intrinsisch motivierten jungen Soldaten ausgehen konnte, ist vor allem das Passeiertal hervorzuheben, über das im Jahr 1944 wie bereits erwähnt der Ausnahmezustand verhängt wurde und sich zu einem Zentrum des bewaffneten Widerstands, getragen von Deserteuren und Verweigerern entwickelte (und im Übrigen eine hohe Optionsquote 1939 aufwies). Um den desertierten Kriegsfreiwilligen und Optanten der ersten Stunde mit Ostfronterfahrung Karl Gufler, der in Südtirol je nach Standpunkt als „Bandit“ oder „Partisanenführer“ tituliert wurde, entwickelte sich hier ein militant-antinazistisches Milieu, das bereit war, das eigene Leben mit der Waffe zu verteidigen und gegebenenfalls auch Rache an den regimetreuen Verfolgern zu üben. Hofer reagierte im September 1944 mit der Einführung der Sippenhaft. Angehörige der Deserteure und Wehrdienstverweigerer wurden in das Polizeiliche Durchgangslager (DULAG) Bozen verschleppt. Die Maßnahme bewegte einige der Deserteure dazu, sich zu stellen und die Lagerhaft (unter anderem im Konzentrationslager Dachau) in Kauf zu nehmen. Im Passeiertal kam es zum einzigen dokumentierten Feuergefecht zwischen Deserteuren und Männern des Südtiroler Ordnungsdienstes – einer Polizei41 Lun, NS-Herrschaft, 171. 42 Verbreitung von Gräuelmärchen durch den Pfarrer von Andrian, Ulrich Greifelt an Peter Hofer. SLA, VKS/AdO Pos. 24, 42.

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hilfstruppe, die auch maßgeblich an der Verfolgung der Südtiroler Jüdinnen und Juden beteiligt war –, bei dem zwei SOD-Männer erschossen wurden. Ein „harter Kern“ von Partisanen aus dem Passeiertal, die durch ihre Familien und den niederen Klerus unterstützt wurden, verblieb auch nach Kriegsende in den Wäldern. Gufler wurde im Jahr 1947 bei einem Schusswechsel mit den italienischen Carabinieri tödlich verwundet.43 Einen weiteren Sonderfall in Südtirol stellt darüber hinaus die bislang noch wenig erforschte Geschichte der Ladiner dar. Bei der ladinischen Sprachgruppe im Gadertal und Gröden in den Dolomiten handelt es sich um eine Minderheit in der Minderheit. Auf den bereits erwähnten Listen, die im Jahr 1945 veröffentlicht wurden, finden sich 25 Personen, die sich vorläufig via Nachnamen oder Geburtsort der ladinischen Sprachgruppe zuordnen lassen. Im Projektverlauf wurden 14 weitere Fälle eruiert. Auch mit Blick auf das Siedlungsgebiet der Ladiner ist zu vermerken, dass das Verhalten im Optionsgeschehen hier nicht einheitlich war. Während das Gadertal und Buchenstein „Dableiber-Hotspots“ darstellten, fruchtete die NS-Propaganda offenbar in Gröden, wo das Optionsergebnis dem Südtiroler Durchschnitt entsprach (mehr als achtzig Prozent für die Umsiedlung ins Deutsche Reich). Die ladinischsprachigen Grödner Optanten entwickelten hier offenbar eine Art vorauseilenden Gehorsam gegenüber den NS-Behörden. Im September 1943 wurden nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Südtirol bekannte „Dableiber“ und ehemalige Soldaten aus dem italienischen Heer verhaftet und gemeinsam mit verhafteten italienischen Soldaten ins Reich deportiert.44

2.4

Die Schweiz, Schweden und das Trentino als Orte der Zuflucht

In den Flüchtlings-, Einvernahme- und Internierungsakten Schweizer Polizeiund Armeedienststellen, die bislang in diesem Zusammenhang noch nicht genutzt wurden, konnten auch Südtiroler ausfindig gemacht werden, die oftmals wenig überraschend die Nähe ihres Heimatortes in Südtirol zur Eidgenossenschaft nutzten (z. B. Laas oder Mals im Vinschgau), um während eines Heimatoder Genesungsurlaubes den Grenzübertritt zu wagen. Es ließen sich jedoch auch komplexere Fluchtrouten aus dem Deutschen Reich über Südtirol in die Schweiz dokumentieren. Bemerkenswert ist unter anderem der Fall eines nicht namentlich genannten Bauernsohnes aus dem Pflerschtal (Jahrgang 1911), der bereits im Jahr 1936, als Benito Mussolini zahlreiche Südtiroler in den Abessinienkrieg schickte, nach Österreich floh, wo er zunächst als Knecht und Alp43 Steurer u. a., Verfolgt, 33–57. 44 Ebd., 17.

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pächter in Axams arbeitete. Nach seiner Einberufung zur Wehrmacht und Fronteinsätzen gegen die Rote Armee fasste er im Jahr 1943 während eines Genesungsurlaubs ein zweites Mal den Entschluss, zu desertieren. Er begab sich von Mals im Vinschgau zu Fuß über die Schweizer Grenze und stellte sich im eidgenössischen Münster der Polizei.45 „Fremde Wehrmänner“ wurden in der Schweiz in Arbeitslagern interniert. Vorher wurden sie vom militärischen Geheimdienst zur Kriegslage und auch zu ihren persönlichen Motiven befragt. „Hatte genug vom Krieg und Militärdienst, fühlt sich als Tiroler und ist Feind alles Deutschen“, vermerkten die Schweizer Beamten im Falle des „doppelten Deserteurs“ aus dem Pflerschtal im Einvernahmeprotokoll.46 Der Deserteur gab weiter an, an der Ostfront in verlustreichen Kämpfen am Kaukasus in einem Granatwerfer-Zug als Munitionsträger eingesetzt worden zu sein. Er habe seinen Dienst außerdem „ohne jede Begeisterung gemacht und war immer das ‚faule Tirolerschwein‘“.47 Ein anderer in die Schweiz geflohener Deserteur aus Bozen, Jahrgang 1910 und zuletzt wohnhaft in Innsbruck, gab als einen Beweggrund an, dass die „Versprechen, welche die Deutschen uns Südtirolern gegeben hatte[n], […] gar nicht gehalten [wurden]“.48 Der Buchhalter hatte 1939 für Deutschland optiert, wurde 1942 eingezogen und nach seiner Ausbildung einer Infanteriedivision zugeteilt. Im April des Jahres kam die Division nach Russland und rückte dort bis zum Don vor, wo der russische Widerstand den Vormarsch zum Erliegen brachte. Es folgten blutige Abwehrkämpfe, im September erlitt der Befragte einen Beindurchschuss und meldete sich nach einem längeren Lazarettaufenthalt für eine Dolmetscher-Ausbildung im Wehrkreis VII. Als er hörte, dass er wieder zu seiner alten Division versetzt werden sollte, floh er von Bayern aus über Südtirol in die Schweiz. Bereits seit dem Russlandfeldzug habe er dem Protokoll zufolge mit dem Gedanken gespielt zu fliehen, da er „nicht mehr zu diesem Massenmorden“ zurückwollte.49 Im Juli 1943 entfernte er sich in Landsberg von seinem Trupp und gelangte mit einem gefälschten Urlaubspass nach Bozen zu seinen Eltern. Von dort aus fuhr er mit dem Zug nach Mals und ging zu Fuß über den Schlinigpass. An der Schweizer Grenze stellte er sich einem Grenzposten und wurde interniert. Auch das überwiegend italienischsprachige Trentino diente als Zufluchtsort. Bereits in den 1990er-Jahren wurde der Fall einer größeren Gruppe von Deserteuren aus dem Ultental dokumentiert, die im Rabbital Zuflucht fanden, wobei einerseits alttirolerische Verbindungen in das Trentino eine Rolle gespielt haben 45 Bericht No. 9340/d4743/165/J142, 22. 6. 1943. Bundesarchiv Bern (BAR), E27#1000/721#9928 *Bd 5. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Bericht No. 9447/d4775/194/J155, 6. 8. 1943. BAR, E27#1000/721#9928*Bd 5. 49 Ebd.

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dürften, aber auch eine generelle, primär von katholischem Pazifismus getragene Widerstandshaltung der dortigen Bevölkerung und auch der offiziellen Stellen.50 So konnten die Südtiroler Deserteure, die sich über Monate hinweg auf verschiedenen Höfen verstreut aufhielten, mit einem über mehrere Stationen laufenden Informationssystem auch vor Razzien gewarnt werden. Der Fall liefert außerdem interessante Ansatzpunkte für bislang in der Forschung noch wenig berücksichtigte Akteure, wie etwa Fluchthelfer im Gebirge. Ein Bergführer im Rabbital namens Bernado Dallasera brachte „hunderte Deserteure und Flüchtlinge, darunter auch Amerikaner, Engländer und Franzosen“ in die Schweiz, worüber der Kommandant der Carabinieristation von Rabbi auch im Bilde war.51 Hinsichtlich Zufluchtsorte außerhalb der Region sei außerdem auch noch auf das neutrale Schweden hingewiesen, das allerdings im Hinblick auf die Südtiroler nur vereinzelt eine Rolle gespielt haben dürfte. Einzelfälle blieben bislang in unserer Erhebung auch Südtiroler, die sich den italienischen Partisanen in den Provinzen Belluno und Trient oder anderen Besatzungsgebieten anschlossen. Insgesamt listet die projektübergreifende, transregionale Datenbank derzeit 411 für die Provinz Bolzano/Bozen relevante Fälle von Desertion und Verweigerung auf, darunter 375 mit Herkunft aus der Provinz (Stand: September 2022). Wiederum einen Sonderfall mit Blick auf die Optionsgeschichte im Allgemeinen und die Frage militärischer Verweigerung im Besonderen stellten die deutschen Sprachinseln im Trentino dar (Zimbern), die ebenfalls in die „Option“ miteinbezogen wurden und auf die mit einem Fallbeispiel aus dem Fersental auch noch kurz eingegangen werden soll. Es weist in vielerlei Hinsicht Besonderheiten auf. Am 13. Januar 1943 übermittelte die Stamm-Kompanie der Kraftfahrer Ersatz-Abteilung 18 (Bezau in Vorarlberg) einen Tatbericht an das Gericht der Division 188, wonach der Kraftfahrer Rudolf Petri von seinem Weihnachtsurlaub nicht zurückgekehrt war.52 Im Juli 1943 erließ das Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin einen Haftbefehl gegen den im Juni 1914 in Palai bei Trient geborenen, abtrünnigen Soldaten.53 Zugleich wurden der Kommandant des Südtiroler-Lagers Hallein und die Ortspolizei in Bezau mit der Bitte um Auskünfte über den Flüchtigen und Aufnahme von Ermittlungen kontaktiert.54 Wenig später informierte die Ortspolizei Bezau, dass die Ehefrau des Vermissten erklärt habe, von ihrem Mann dazu aufgefordert worden zu sein, zu ihm nach Italien zu kommen. Dies habe sie jedoch abgelehnt, da sie als Optantin nun Angehörige des Deutschen Reiches sei. „Es macht den Anschein, ob Frau 50 Steurer u. a., Verfolgt, 119–129. 51 Ebd., 125. 52 Tatbericht der Stamm-Kp. Kf. Ers. Abt. 18 an das Gericht der Division 188, Zweigstelle Innsbruck, 13. 1. 1943. BA-MA, Pers 15/151292. 53 Haftbefehl, ausgestellt vom Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin, 8. 7. 1943. Ebd. 54 Ebd.

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Petri mit der Fahnenflucht des Petri gar nicht einverstanden sei“, so die abschließende Einschätzung des Beamten.55 Lüdeckes Dienststelle („Bevollmächtigter Offizier der Deutschen Wehrmacht“ in Bozen) richtete außerdem ein längeres Schreiben an das Gericht in Berlin, in dem sie, ausgehend von Informationen der Dienststelle Karl Brunners (Sonderbeauftragter RFSS und Chef der Deutschen Polizei Bozen), über die bisher bekannten Details zum Verbleib Petris aufklärte.56 Dieser sei Ende 1942 nach Palai im Fersental zurückgekehrt und nach kurzer Zeit zur italienischen Wehrmacht eingezogen worden, wo er nun als Dolmetscher diene.57 Auf eine Befragung, warum er zurückgekehrt sei, habe er erklärt „dass ihm seinerzeit versprochen worden war, dass er sich im Reich ankaufen könne wo er wolle. Er wollte einen Hof im Gau Tirol und Vorarlberg kaufen, vom Reichskommissar für die Festigung [des, Anm. JK] deutschen Volkstums aber wurde ihm bedeutet, dass er [sich] so wie alle anderen Fersentaler im Budweiser Becken niederlassen müsse.“58 Nachdem das Versprechen nicht eingehalten worden sei, sehe sich Petri auch nicht mehr an seine Erklärung zur Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft gebunden. Bemerkenswert an dem Schreiben ist, dass es mitteilt, Lüdecke habe höchstpersönlich Petri zugesichert, dass er nun einen Hof in Tirol bekommen könne und im Falle einer Rückkehr zu seiner Truppe auch Straffreiheit versprochen. Trotz dieser Zusagen wolle Petri aber „von einer Rückkehr ins Reich nichts mehr wissen.“59 Petri könne außerdem seinen Besitz in Palai problemlos rechtmäßig wieder übernehmen, da er vor der allgemeinen Abwanderung der Fersentaler zur Wehrmacht eingezogen und der Besitz noch nicht übergeben worden war. Auch ein Antrag auf Überstellung sei aufgrund rechtlicher Unstimmigkeiten im Zuge der „Option“ der Fersentaler völlig aussichtslos, so das Schreiben abschließend.60 Darüber hinaus finden sich im Akt abgefangene Briefe von der bzw. an die Ehefrau Petris, die von der Dolmetscherabteilung des Oberkommandos der Wehrmacht übersetzt/bearbeitet und transkribiert wurden (vermutlich auf Italienisch und im Dialekt verfasst). Der verklausulierte Duktus lässt annehmen, dass zumindest einigen der Verwandten und Freunde bewusst gewesen sein

55 Antwort der Ortspolizeibehörde Bezau/Bregenzerwald an das Gericht der Wehrmachtskommandantur Berlin, gestempelt 22. 7. 1943. Ebd. 56 Fahnenflucht des Kraftfahrers Rudolf Petri, Bev. Offizier der Deutschen Wehrmacht für ital. Vertragsgebietsangelegenheiten an das Gericht der Wehrmachtskommandantur, 24. 7. 1943. Ebd. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Ebd.

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könnte, dass die Post abgefangen wurde.61 Weiters entsteht bei der Durchsicht der Eindruck, dass es Petris Frau im Zuge der ersten Einvernahme durchaus gelungen sein dürfte, die Beamten in Bezug auf ihre Einstellung zur Fahnenflucht ihres Mannes zu täuschen. Letztlich blieb der Wehrmacht keine Handhabe gegen den desertierten Soldaten aus dem Fersental.

III.

Nachkrieg und Resümee: Strukturen und Besonderheiten in Südtirol

Die Grenzland-Situation und die dynamischen Macht- und Zugehörigkeitsverhältnisse vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg machen aus der Region in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall. Dies schlug sich – abseits der zuvor skizzierten Abläufe und Einordnungen in Bezug auf den Kriegseinsatz der Südtiroler und Verweigerungshandlungen in der Region während des Zweiten Weltkriegs – auch auf die nationalsozialistischen Repressionsorgane und -methoden nieder, auf die in diesem Beitrag nicht gesondert eingegangen werden kann. Es soll an dieser Stelle aber zumindest noch kurz hervorgehoben werden, dass in der Operationszone „Alpenvorland“ eine Regimepraxis durchscheint, die zwischen Reichs- und Besatzungsgebiet oszillierte. Diese regionalspezifische Signatur wird gerade an der Verfolgung militärischen Ungehorsams gut ablesbar. Mit der weiten Anwendung von Sippenhaft kamen phasenweise Methoden zum Einsatz, die in diesem Ausmaß im Reichsgebiet wohl nicht denkbar gewesen wären. Weiter eingehen könnte man an dieser Stelle auch noch auf das Sondergericht für die OZAV in Bozen, das sich unter anderem mit Einberufungsverweigerung befasste und das in der Forschungsliteratur von der Funktion und Praxis her mitunter als ein Besatzungsinstrument klassifiziert wurde.62 Diese Umstände

61 Beispielhafter Auszug aus den Übersetzungen der abgefangenen Briefe, mit denen sich die Dolmetscher-Abteilung sichtlich schwertat: „Der Rudi hat das gemacht was ich ihm empfohlen habe, jenen Gefallen, Du weißt ja; sicher hat er sich nicht an mich erinnert (unklar!). Der Sentale ist noch in Innsbruck und der Alex ist beim Militär und der Dominikus ist dort. Mini ist Soldat und auch Thomas und Heinrich von der Ramila…(unverständlich!).“ Brief No.7. Ebd. 62 Kerstin von Lingen, Sondergericht Bozen: „Standgerichte der Besatzungsjustiz“ gegen Südtiroler, 1943–1945, in: Geschichte und Region/Storia e Regione 24 (2015) 2, 75–95. An mehreren Stellen wurde im Diskurs zum Sondergericht Bozen außerdem darauf hingewiesen, dass auch nach der Errichtung der OZAV in der Hauptsache die SS- und Polizeigerichte sowie die Wehrmachtsgerichte für Entziehungsdelikte zuständig waren. Diesbezüglich sind noch weitere Erhebungen in Deutschland geplant, im Fokus steht dabei in erster Linie das Gericht der Militärkommandantur 1010 Bozen. Vgl. Gerald Steinacher, „…verlangt das gesunde Volksempfinden die schwerste Strafe“: Das Sondergericht für die Operationszone Alpenvorland 1943–1945. Ein Vorbericht, in: Klaus Eisterer (Hg.), Tirol zwischen Diktatur und

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sollen aber keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass der Nationalsozialismus in Südtirol von Teilen der deutschsprachigen Minderheit auf zahlreichen Ebenen mitetabliert und mitgetragen wurde. Das inkludiert auch das Mitwirken bei Maßnahmen, die gegen Angehörige der Minderheit selbst gerichtet waren, wenn man etwa die Rolle des Südtiroler Ordnungsdienstes bei der Verfolgung der Deserteure bedenkt. Diese Dualität, die selbstverständlich auch in engem Zusammenhang mit der Optionsgeschichte generell und der Unterdrückung der Minderheit im italienischen Faschismus zu verstehen ist, lässt sich grundsätzlich auch nach Kriegsende an vielen Stellen ablesen (Stichwort „Opfergang der Südtiroler“). Blickt man auf die Nachgeschichte des Kriegseinsatzes der Südtiroler, offenbart sich – wenn auch hier wieder stark verkürzt dargestellt – zunächst grundsätzlich eine ähnliche Gemengelage wie in Österreich. Einerseits sollte angesichts der unmittelbar wieder aufkeimenden Zugehörigkeitsfrage der Region und schließlich der Frage der Minderheitenrechte offiziell die antinazistische Haltung der Südtiroler möglichst prominent in den Vordergrund gerückt werden, was mit einer bewussten Repräsentation konservativer Widerstandskämpfer, anderer Verfolgter des Nationalsozialismus und zunächst zumindest teilweise auch von Deserteuren einherging. Andererseits dauerte es in Südtirol ebenso wie in Österreich nicht lange, bis sich die Politik zusehends auf die „gehorsamen“ Wehrmachtsveteranen konzentrierte, die sich alsbald nach Kriegsende in einflussreichen Interessenverbänden organisierten. Hier ist vor allem der Südtiroler Kriegsopfer- und Frontkämpferverband (SKFV) zu nennen, der in den 1950erJahren aus einem Zusammenschluss des Südtiroler Kriegsopferkomitees und des Südtiroler Heimkehrerverbands hervorging.63 Die wohl zentralste Aufgabe des SKFV in den Nachkriegsjahrzehnten war es, Südtiroler Veteranen der deutschen Streitkräfte beim Erlangen von Kriegspensionen und Frontkämpferzulagen zu unterstützen. Dabei ging es zunächst primär um die Gleichstellung der Südtiroler Veteranen mit den italienischen Frontkämpfern, Heimkehrern und Kriegsinvaliden. Allerdings entwickelte der SKFV von Beginn an auch eine sehr energische kulturelle Tätigkeit und etablierte mit demonstrativer Unterstützung prominenter Politiker, wie dem langjährigen Landeshauptmann und Kriegsinvaliden Silvius Magnago, Geschichtsnarrative in Bezug auf den Dienst in der Wehrmacht und der Waffen-SS, die sich, materialisiert in zahllosen Kriegerdenkmälern, über viele Jahrzehnte hielten und in denen bis auf wenige Ausnahmen kein Platz für Verweigerer vorgesehen war. Demokratie (1930–1950). Beiträge für Rolf Steininger zum 60. Geburtstag, Innsbruck 2002, 247–266. 63 Weiterführend und vertiefend zur Entstehungsgeschichte und ideologischen Ausrichtung des SKFV siehe die fundierte Analyse in Elmar Heinz, Die versteinerten Helden. Kriegerdenkmäler in Südtirol, Bozen 1995, 89–111.

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Juristisch wurde einem Teil der Südtiroler „Ungehorsamen“ allerdings bald nach Kriegsende unmissverständlich beigebracht, wo ihr Platz war. Die Angehörigen der „Gufler-Bande“ aus dem Passeiertal fanden sich vor Gericht wieder. Sie wurden nach zwei umfangreichen Prozessen in den Jahren 1949 bis 1951 (Schwurgericht Bozen) und 1953 (Berufungsverfahren Appellationsgericht Trient), „während des restaurativ-konservativen politischen Klimas, des Kalten Krieges, in dem in ganz Italien die Vertreter der ‚Resistenza‘, aber auch in Südtirol die Angehörigen des antinazistischen Widerstands schon längst wieder zu Außenseitern und ‚subversiven Elementen‘ gestempelt worden waren“, zu Haftstrafen von bis zu dreißig Jahren verurteilt.64 Die zweitinstanzlichen Verurteilungen folgten, nachdem zunächst erstinstanzlich vor dem Bozner Geschworenengericht die Aktivitäten der Deserteure in Teilen als legitime Widerstandsaktionen anerkannt worden waren, die unter eine entsprechende Amnestie fielen. Hans Pircher, der am längsten von allen Verurteilten inhaftiert war, wurde im August 1975 begnadigt. Ausschlaggebend dafür war das Buch eines italienischen Widerstandskämpfers, das die Öffentlichkeit auf „Il caso del partigiano Hans Pircher“ (Der Fall des Partisanen Hans Pircher) aufmerksam machte.65 Das zitierte „restaurative Klima“ hielt für die Deserteure und Verweigerer in Südtirol ebenso wie in Deutschland und Österreich aber letztlich bis in die 1980er-/1990er-Jahre an. Das erdrückende Interpretationsmonopol der überwiegenden Mehrheit der „Gehorsamen“, das über Jahrzehnte die Veteranengesellschaften gleichsam imprägnierte, konnte schließlich nur durch generationelle Wechsel schrittweise aufgebrochen werden. Wegweisend für Südtirol war die Veröffentlichung der Memoiren des Deserteurs Franz Thaler im Gedenkjahr 1989, fünfzig Jahre nach der „Option“, das als ein zentrales Momentum in der Südtiroler Geschichtspolitik zu werten ist.66 Es folgten die in diesem Beitrag mehrfach herangezogenen Forschungen von Steurer/Verdorfer/Pichler, die, und dies ist ein weiteres Alleinstellungsmerkmal der Region, schließlich in einer gewissen Rehabilitierung in Bezug auf Pensionszusätze resultierten und zwar früher als in Deutschland und Österreich: Im Jahr 1995 wurde ein Regionalgesetz 64 Steurer u. a., Verfolgt, 46. 65 Ebd., 47, sowie Giambattista Lazagna, Der Fall des Partisanen Pircher (hg. v. Carlo Romeo und Leopold Steurer), Bozen 2022. Nicht näher eingegangen werden konnte in diesem Beitrag auf die sehr zentrale, konservative Widerstandsgruppierung um Hans Egarter (AndreasHofer-Bund), der auch Verweigerer angehörten, die Deserteure und ihre Familien unterstützte und sie als Mittelsmänner zu den Alliierten und anderen Widerstandsgruppen (u. a. „Patria“ um Wilhelm Bruckner in der Schweiz) nutzte. Der Fall Egarter ist auch bereits sehr gut dokumentiert. Vgl. u. a. Gerald Steinacher, Hans Egarter – Für Glaube und Heimat gegen Hitler: Eine biografische Skizze, in: Pallaver/Steurer (Hg.), Das Erbe von Option und Weltkrieg, 251–279. 66 Franz Thaler, Unvergessen. Option, KZ, Dachau, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr, Bozen 1989.

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verabschiedet, das auch „Fahnenflüchtige“ explizit in den Anspruch auf Pensionszusätze für Widerstandskämpfer, Opfer des Nationalsozialismus, Frontkämpfer und Heimkehrer einbezog.67 Während die Region im internationalen Vergleich damit eine Vorreiterrolle einnahm, blieb ein zentrales materielles Gedenken in Form eines Erinnerungszeichens bis heute allerdings ausständig.

67 Autonome Region Trentino – Südtirol: Regionalgesetz vom 27. 11. 1995, Nr. 12. Gleichstellung der in Konzentrationslagern Inhaftierten, Gefangenen, Fahnenflüchtigen bzw. Partisanen mit den Frontkämpfern und Heimkehrern gemäß Regionalgesetz vom 19. 12. 1994, Nr. 4, URL: https://www.regione.taa.it/de/ocmultibinary/download/5026/1620096/11/860abde920a aef35ef21ae7643ab8150.pdf/file/LR_1995_12_st.pdf (abgerufen 6. 11. 2022): „Allen Personen die zwischen 1939 und 1945 in Trentino-Südtirol den Kriegsdienst verweigert, sich ihm durch Flucht entzogen haben oder passiven oder aktiven Widerstand geleistet haben sowie jenen, die durch deren Unterstützung jede Art von Verfolgung, Gewaltanwendung und Haft erleiden mussten, ist der Status als Widerstandskämpfer bzw. Widerstandskämpferin wider den Faschismus bzw. Nationalsozialismus zuerkannt. Diese Personen sind im Rahmen der Zielsetzungen dieses Artikels den in Absatz 3 erwähnten Personen gleichgestellt.“ Die schrittweise Rehabilitierung setzte in Deutschland und Österreich erst später ein, wenngleich auch schon im Jahr 1994 erste Initiativen im deutschen Bundestag eingebracht wurden – in Österreich nahm die Rehabilitierung im Jahr 1999 mit einem Entschließungsantrag der Grünen ihren Lauf.

Isabella Greber / Peter Pirker

Unabkömmlichkeit, Selbstbeschädigung, Desertion, Widerstand: Wehrdienstentziehungen im Vorarlberger Dorf Krumbach

I.

Einleitung

Etwa vier Monate nach dem Ende der NS-Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges in Europa forderte der Chef der französischen Militärregierung im Bezirk Bregenz in Vorarlberg, Joseph Martial Brenité, Bezirkshauptmann Emil Seeberger dazu auf, von den Bürgermeistern der Gemeinden seines Bezirks Berichte über „den geschichtlichen Werdegang“ der „deutschen Besetzung von Österreich“ einzuholen.1 Ein Aspekt, über den Brenité in Kenntnis gesetzt werden wollte, war die Haltung der lokalen Bevölkerung zum „Anschluss“ im März 1938, ein anderer der „Widerstand gegen Nationalsozialisten“. Den Bericht über die Gemeinde Krumbach verfassten drei Männer: Bürgermeister Franz Josef Steurer, Gendarmerie-Revier-Inspektor Karl Girardi und Pfarrer Oskar Gafanesche. Steurer hatte seine Funktion bereits zwischen 1935 und 1938 innegehabt und war im Juli 1938 vom NS-Regime abgesetzt worden.2 Girardi und Gafanesche übten ihre Ämter seit den frühen 1930er-Jahren kontinuierlich aus.3 Zum ersten Punkt hielten sie fest: „Mit Ausnahme weniger Nationalsozialisten wurde der Anschluß mit großer Traurigkeit aufgenommen. […] Durch die Drohung, daß Krumbach es büßen müsse, stimmte der Großteil der Bevölkerung mit ‚Ja‘. Doch dürfte kaum eine Gemeinde des Landes relativ so viele Neinstimmen gehabt haben.“4 Zum zweiten Punkt gaben sie an: „Starker passiver Widerstand des Großteiles der 1 Militärregierung des Bezirks von Bregenz an den Herrn Bezirkshauptmann von Bregenz, 28. 8. 1945, abg. in: Wolfgang Weber, NS-Herrschaft am Land. Die Jahre 1938 bis 1945 in den Selbstdarstellungen der Vorarlberger Gemeinden des Bezirks Bregenz, Regensburg 1999, 27– 28, 27. 2 Vorarlberger Tagblatt, 16. 7. 1938, 5. 3 Gouvernement Militaire en Autriche, Fragebogen, Girardi Karl, 7. 8. 1945. Vorarlberger Landesarchiv (VLA), Personalakt Girardi Carlo Luigi. 4 Gendarmerie-Posten Krumbach Landkreis Bregenz an die Bezirkshauptmannschaft in Bregenz, E.Nr. 358, Darstellung des geschichtlichen Werdeganges über die deutsche Besatzung von Österreich bis zur Befreiung durch die Alliierten, eingelangt am 2. 10. 1945, abg. in: Weber, NSHerrschaft, 102–106, 103 (im Folgenden zitiert als Bericht Girardi/Steurer/Gafanesche).

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Bevölkerung. – 10 Wehrmachtsflüchtlinge, die zum Teil 3 Jahre von der Bevölkerung verborgen gehalten wurden. – Ein französischer Dienstverpflichteter wurde in der Gemeinde über 1 Jahr verborgen gehalten und unterstützt (1944– 1945). In den letzten Wochen bildete sich eine organisierte Widerstandsbewegung.“5 Man neigt zunächst dazu, die Darstellung als eines von vielen Beispielen für die Konstruktion des Opfermythos in der Nachkriegsgesellschaft einzuordnen. Doch im Vergleich mit den Berichten aus den 35 anderen Gemeinden des Bezirks sticht Krumbach hervor: Nur der Bericht aus dem Nachbarort Langenegg enthielt eine ähnlich starke Betonung des Widerstands – in den meisten Berichten wurde er angesichts der Repressionsdrohung als unmöglich bezeichnet – und in kaum einem anderen Dorf wurde explizit über „Wehrmachtsflüchtlinge“, schon gar nicht von einer derart großen Zahl, berichtet. Eine vorläufige Auswertung der im Forschungsprojekt „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ bei Archiv- und Literaturrecherchen eruierten Fälle von Wehrdienstentziehungen bestätigte den Eindruck. In keiner Gemeinde außerhalb des Rheintales, wo sich aufgrund der Nähe zur Schweizer Grenze die meisten Fälle von Entziehungen aus den deutschen Streitkräften in Vorarlberg ereigneten,6 waren so viele Wehrdienstentziehungen aktenkundig geworden. Dabei war davon auszugehen, dass die in den Archiven aufgefundenen Fälle mit den im Bericht vom August 1945 erwähnten Fällen nicht ident waren, die Entziehungspraxis also noch stärker gewesen war. Krumbach liegt auf 730 Meter Seehöhe im Vorderen Bregenzerwald, einer ländlich geprägten Hügel- und Gebirgsregion, die zum politischen Bezirk Bregenz gehört. Das Dorf wird im Nordwesten von der Weißach und im Osten von der Bolgenach umrahmt. Ringsum befinden sich Steilufer, weshalb Krumbach durch Brücken mit den Nachbardörfern verbunden ist. Im Jahr 1934 verzeichnete Krumbach 737 EinwohnerInnen.7 1947 mussten sich 73 Personen nach dem „Gesetz über die Behandlung der Nationalsozialisten“ registrieren.8 Das bedeutet, dass ungefähr 10 % der Bevölkerung Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Krumbach lag damit im Vorarlberger Durchschnitt.9 5 Ebd. 6 Vgl. Peter Pirker, Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg. Ein Werkstattbericht mit Zwischenergebnissen und Thesen, in: Museums Verein Jahrbuch – Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsverein (JVLM) 2021, 96–111. 7 Vgl. Kurt Klein, Daten zur Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung der Vorarlberger Gemeinden seit dem 18. Jahrhundert, in: Montfort 43 (1991) 4, 281–302. 8 Registrierungen und Nachregistrierungen 1947–1956. VLA, Bezirkshauptmannschaft Bregenz II, Sch. 85, Abteilung I. 9 Wolfgang Weber, Aspekte der administrativen Entnazifizierung in Vorarlberg, in: Walter Schuster/Wolfgang Weber (Hg.), Entnazifizierung im regionalen Vergleich, Linz 2004, 59–96, 87.

Greber / Pirker, Unabkömmlichkeit, Selbstbeschädigung, Desertion, Widerstand

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Mehr als die Hälfte der Eintritte wurden in den Jahren 1938 und 1939 verzeichnet. Nach dem Bericht von Steurer/Girardi/Grafenesche hatte die lokale NSDAP viele der neuen Parteimitglieder nur „durch offene und versteckte Drohungen“ und „mit innerem Widerstreben“ gewonnen. Tatsächlich war die Zahl der sogenannten „Illegalen“, die bereits vor 1938 der NSDAP beigetreten waren, mit 10 in Krumbach niedrig (14 %). Gemessen an den Stimmberechtigten bei der Volksabstimmung vom 10. April 1938 (415) lag der Prozentsatz bei 2,4 %. Im Vergleich mit den Nachbargemeinden Langenegg (17 %) und Alberschwende (12,1 %) ist dieser Anteil auffallend gering.10 Dem Bericht ist ferner zu entnehmen, dass es im Juni 1943 einen ungewöhnlichen Bruch in der NSDAP gegeben hatte, als die Gestapo den im August 1938 eingesetzten Bürgermeister Johann Peter Fink, den Ortsgruppenleiter Emil Nußbaumer und den Ortsbauernführer Josef Nußbaumer verhaftete. Die Gründe dafür wurden von Girardi/Steurer/Gafanesche nicht angeführt. So viel kann jedoch vorweggenommen werden: Sie hatten mit Vorwürfen der Wehrdienstentziehung von Wehrpflichtigen zu tun. Einer der Krumbacher, die noch 1938 einen Aufnahmeantrag stellten, war Postenkommandant Karl Girardi, Mitverfasser des Berichts. Girardi, 1938 51 Jahre alt, stammte aus Pergine im Trentino und sprach Deutsch und Italienisch. Nach seiner Ausbildung in Innsbruck hatte er als Gendarm seit 1911 an verschiedenen Gendarmerieposten in Vorarlberg gedient. Seit 1927 führte er den Gendarmerieposten von Krumbach und lebte hier mit seiner Ehefrau und der 16jährigen Tochter. Nach der Ausschaltung der Demokratie war er 1933 der Vaterländischen Front beigetreten. Er erhielt durchgehend Auszeichnungen und Beförderungen und dürfte den Posten auch zwischen 1938 und 1945 zur Zufriedenheit aller geführt haben.11 Gegenüber der französischen Militärregierung erklärte er seinen Beitritt zur NSDAP mit dem „Zwang der Verhältnisse“. Anfang Mai 1945 blieb er mit Zustimmung der französischen Militärregierung im Amt.12 Das hatte wohl stark mit seinem Verhalten gegenüber Deserteuren und der Widerstandsgruppe in Krumbach im April und Mai 1945 zu tun – auf einer Liste mit 37 Mitgliedern, die wahrscheinlich im Mai 1945 erstellt wurde, scheint er bereits an dritter Stelle als Mitglied auf. Nicht umsonst finden sich im Bericht vom Oktober 1945 die „Wehrmachtsflüchtlinge“ unter der Rubrik Widerstand:

10 Wolfgang Weber, Nationalsozialismus und Kriegsende 1945 in Langenegg, in: Drs./Kurt Bereuter/Andreas Hammerer (Hg.), Nationalsozialismus im Bregenzerwald unter besonderer Berücksichtigung der NS-„Euthanasie“ im Bregenzerwald, Alberschwende 2008, 93–105, 95; drs., Opfer und Täter der NS-Diktatur in Alberschwende, in: Ebd., 10–36, 20. 11 Der Reichsstatthalter, Der Staatskommissar, Fragebogen 47623 Girardi Karl, 15. 8. 1938. VLA, Personalakt Girardi Carlo Luigi. 12 Hauptgrundbuchsblatt, Karl Luigi Girardi. VLA, Personalakt Girardi Carlo Luigi.

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Ihre Namen stehen ebenfalls auf der Mitgliederliste der Widerstandsgruppe. Ein weiterer Name, der ins Auge fällt, ist der des Gemeindearztes Dr. Johann Müller.13 Aufgrund seiner Lage und Topografie wurde Krumbach vom Festungskommandanten von Vorarlberg im Frühjahr 1945 als Verteidigungspunkt im sogenannten Vorderwald auserkoren. Um das Vordringen französischer Truppen aus dem bayrischen Allgäu zu erschweren, sollten die Brücken gesprengt und die Stellungen verteidigt werden.14 Durch diese Entscheidung waren Krumbach und die umliegenden Dörfer von Zerstörung bedroht. Dies zu verhindern war das wesentliche Ziel der Widerstandsgruppe, die Ende April unter der Führung des aus Bregenz stammenden Deserteurs Max Ibele auftrat. Er fiel am 30. April im Kampf mit einer in Krumbach stationierten SS-Einheit. Bemerkenswert ist, dass Ibele als einziger Todesfall unter den Deserteuren von Krumbach genannt wurde, was die Frage aufwarf, wie die Deserteure der Verfolgung durch die Wehrmachtsjustiz entgangen waren und wie sie überlebt hatten. Ein Blick in die Forschungsliteratur zeigt, dass das Überleben von Deserteuren in den österreichischen Alpen nicht die Regel war, aber auch nicht die Ausnahme. Die ortsbezogenen Studien zeigen oftmals individuelle Fälle und Kleingruppenstrukturen auf, die von Hilfeleistungen aus dem Familien- und/oder Freundeskreis gekennzeichnet waren. In Bezug auf die Motive und die Herkunft von Deserteuren ergaben die Untersuchungen, dass die Beweggründe einerseits mit der Sozialisation der Soldaten verbunden waren. Es handelte sich oftmals um junge Männer, die aufgrund ihrer antifaschistischen Einstellung oder aufgrund ihrer Religiosität Ablehnung gegenüber dem NS-Regime und seiner Kriegsführung entwickelt hatten. Zum anderen handelte es sich häufig um Menschen, die aus ärmlichen Verhältnissen stammten und abseits der bürgerlichen Norm aufgewachsen waren – sie waren oftmals Arbeiter, Pächter, Kleinbauern und Knechte.15 Eine Pionierstudie über Wehrmachtsdeserteure in Südtirol stellte nicht nur diesen Sachverhalt fest, sondern damit zusammenhängend auch, dass Deserteure selten aus dem städtischen Raum kamen. Die meisten der beschriebenen Männer stammten aus Bergregionen, die dem Zugriff staatlicher Autori-

13 Wiederstandsbewegung [sic] Krumbach (Breg.Wald), ohne Datum. Bregenzerwald Archiv (BWA), I-060, Sch. 15, Fasz. 200. 14 Vgl. Georg Schelling, Festung Vorarlberg. Ein Bericht über das Kriegsgeschehen 1945 in Vorarlberg, Bregenz 1987, 218. 15 Vgl. Maria Fritsche, Entziehungen. Österreichische Deserteure und Selbstverstümmler in der Deutschen Wehrmacht, Wien/Köln/Weimar 2004, 26–31. Vgl. die Fallstudien in Thomas Geldmacher/Magnus Koch/Hannes Metzler/Peter Pirker/Lisa Rettl (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit …“. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010 sowie Markus Barnay, Wehrmachtsdeserteure und ihr Umfeld im Großen Walsertal, URL: https://www.malingesellschaft.at/pdf/Barnay-Burtscher-Lorenz.pdf (abgerufen am 10. 7. 2022).

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täten durch ihre periphere Lage bis zu einem gewissen Grad entzogen waren.16 Freilich ist bei der Generalisierung solcher Beobachtungen Vorsicht geboten: Die politischen Verhältnisse waren in den 1920er- und 1930er-Jahren in Südtirol gänzlich andere als beispielsweise in Vorarlberg. Auch Spezifika der politischen Geographie und der Topographie sind zu beachten. In Vorarlberg scheint die Verteilung zwischen Zentrum und Peripherie umgekehrt zu Südtirol gewesen zu sein: Das dicht besiedelte Gebiet im Rheintal zog wegen der dort verlaufenden Flussgrenze zur Schweiz viel mehr fluchtwillige Soldaten an als die Peripherie des Bregenzerwaldes. Bekannt ist, dass während der NS-Diktatur nonkonformes Handeln lokal und fallbezogen unterschiedlich stark verfolgt wurde. Dies lässt sich zum einen durch die Willkür der Polizei- und Justizbehörden des NS-Staates begründen, lag zum anderen aber auch an unterschiedlich starker Verfolgungsintensität durch lokale Instanzen des NS-Staates, wie Steurer/Verdorfer/Pichler bereits angemerkt haben.17 Vom Verhalten lokaler Funktionsträger wie dem Bürgermeister, dem Postenführer der Gendarmerie, dem Ortsgruppenleiter, dem Ortsbauernführer, aber auch dem Gemeindearzt konnte im Einzelfall viel abhängen. Sie befanden sich an der Schnittstelle zwischen den staatlichen Behörden der Kreis- und Gauverwaltung bzw. des Wehrkreises und der lokalen Lebenswelt. Sie hatten die Direktiven „von oben“ umzusetzen und darüber Bericht zu erstatten, mit potentiell beträchtlichen Folgen für ihnen meist gut bekannten Personen und Familien. Ebenso waren sie Anlaufstelle für Anzeigen aus der Bevölkerung und mussten entscheiden, wie sie damit weiter umgingen. Nicht selten ergriffen sie selbst die Initiative, um die Normen und Ideale der propagierten Volksgemeinschaft durchzusetzen. Gravierende Unterschiede lassen sich aber auch auf regionaler Ebene feststellen: Das Sondergericht Feldkirch, das für die juristische Verfolgung der Delikte Wehrdienstentziehung und Beihilfe zur Fahnenflucht zuständig war, fällte – im Unterschied etwa zum Sondergericht Bozen – kein einziges Todesurteil wegen Wehrdienstentziehung18, selbst wenn der Staatsanwalt sie als Ankläger in der Verhandlung forderte. Einer dieser Fälle betraf Krumbach und war gekennzeichnet von der eingangs erwähnten Involvierung der lokalen NS-Funktionäre, wobei Gendarmeriemeister Girardi intensiv in die Ermittlungen involviert war. Bemerkenswert milde Urteile gegen flüchtige Soldaten aus 16 Leopold Steurer/Martha Verdorfer/Walter Pichler, Verfolgt, Verfemt, Vergessen. Lebensgeschichtliche Erinnerungen an den Widerstand gegen Nationalsozialismus und Krieg, Südtirol 1943–1945, Bozen 1997, 16–18. 17 Ebd., 29. 18 Vgl. Peter Pirker/Aaron Salzmann, Wehrdienstentziehungen an der Reichsgrenze. Die Verfolgungspraxis des Sondergerichts Feldkirch im regionalen Vergleich, in: Kerstin von Lingen/ Peter Pirker (Hg.), Deserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Verfolgung und Gedächtnisbildung (in Druck).

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Krumbach konnten wir außerdem in den überlieferten Strafakten des Kriegsgerichts der Division 188 feststellen.

II.

Formen der Wehrdienstentziehung

Am 21. Juli 1945 erstellte der von der französischen Militärregierung eingesetzte Bürgermeister und „Gruppenführer“ der Widerstandsbewegung Krumbach Franz Josef Steurer eine „Liste über Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere“, die im Bregenzerwald Archiv überliefert ist.19 Von den neun angeführten Männern waren sechs im Zeitraum zwischen 23. März und 26. April 1945 desertiert. Zu diesen sechs Soldaten wurden in Staats- und Landesarchiven keine Akten der Wehrmachtsjustiz oder Meldungen der Polizeibehörden gefunden – sie wären bei der Nichtbeachtung lokaler Archive unsichtbar geblieben. Zu drei Personen auf der Liste, die 1942, 1944 und Anfang Februar 1945 aus der Wehrmacht geflohen waren, wurden Akten der Wehrmachtsjustiz und Meldungen der Polizeibehörden eruiert. Drei weitere Soldaten, die nicht auf der Liste standen, aber sich ebenfalls aus der Wehrmacht abgesetzt hatten, sind durch Aktenfunde in Staats- und Landesarchiven belegbar. Hinzu kommt ein Fall der Wehrdienstentziehung mit einer Reihe von Beschuldigten, der ebenfalls nicht auf der Liste des Bürgermeisters aufschien, weil es sich zum Tatzeitpunkt um Zivilisten, darunter eine Frau, und wohl auch, weil es sich zum großen Teil um Nationalsozialisten handelte. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Personen, die desertierten oder sich auf andere Weise dem Wehrdienst entzogen, auf 14. Hinzuzuzählen sind vier Personen, die wegen Beihilfe zur Entziehung verfolgt wurden. Im Folgenden schildern wir fünf ausgewählte Fälle, die sich zwischen 1940 und 1945 ereigneten, verschiedene Formen der Wehrdienstentziehung zeigen, hinsichtlich des Kreises der Beteiligten unterschiedlich komplex und dem System der Wehrverpflichtung gegenüber unterschiedlich radikal waren.

2.1

Fingierte Uk-Stellung und Selbstverstümmelung

Der 1913 geborene Josef Mennel betrieb auf einer Fläche von 5,5 ha eine Landwirtschaft mit sieben Stück Vieh und einem Pferd, die er 1936 von seinem damals 67-jährigen halbblinden Vater Alois übernommen hatte.20 Auf dem Hof lebte 19 Vgl. Liste über Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere, 21. 7. 1945. BWA, I-060, Sch. 15 Fasz. 199. 20 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, 9. 12. 1943. VLA, SGF 27/44 (verwahrt unter LG Feldkirch, Vr 176/46).

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1939 neben Vater und Sohn außerdem noch Josefs 22-jährige Braut Rosa Fink, die Schwester des damaligen Bürgermeisters Johann Peter Fink. Sie war als Haushaltsgehilfin bedienstet und half in der Landwirtschaft mit. Josef Mennel war Parteianwärter und Blockleiter der NSDAP sowie Mitglied der SA. Er wurde 1939 zur Wehrmacht eingezogen und diente als Sanitätssoldat bei der SanitätsErsatz-Kompanie 18 in Saalfelden in Salzburg. Ab November 1939 reichten Alois und Josef Mennel über die Kreisbauernschaft mehrere Gesuche auf Zuerkennung einer Uk-Stellung ein.21 Diese durfte maximal drei Monate dauern, eine Verlängerung sollte „nur in den aller-seltensten Fällen“ beschieden werden.22 Im Fragebogen, der nachweisen sollte, dass die Arbeitskraft des Sohns auf dem Hof unbedingt notwendig war, fehlte ein Hinweis auf Rosa Fink. Bestätigt wurden die Angaben mehrfach durch Bürgermeister und Baumwärter Johann Peter Fink, seit 1933 Mitglied der NSDAP, Ortsbauernführer Josef Nussbaumer und Ortsgruppenleiter Emil Nussbaumer, von Beruf Reichsbahnangestellter.23 Sie befürworteten die Freimachung Mennels vom Wehrdienst, dessen Entlassung schließlich am 8. Juni 1940 erfolgte.24 Die Uk-Stellung wurde mit gleichlautenden Anträgen und Befürwortungen bis Herbst 1942 laufend verlängert. Freilich war Josef Mennel nicht der einzige Wehrpflichtige in Krumbach, der uk gestellt war. Im Juli 1941 befanden sich 68 Männer im Militär, demgegenüber waren 30 wegen Unabkömmlichkeit vom Dienst befreit.25 Damit lag Krumbach auf ähnlichem Niveau wie einige andere ländliche Gemeinden in der Umgebung (Langen, Langenegg, Adelsbuch, Bildstein, Doren). In Gemeinden wie etwa Alberschwende lag die Zahl der Uk-Stellungen jedoch deutlich niedriger (160:60).26 Die Bürgermeister hatten nicht nur die Zahl der Uk-Stellungen in ihren Gemeinden an den Landrat des Kreises Bregenz zu melden, sondern damit verbunden auch die Stimmung in der Bevölkerung.

21 Die Anträge mussten an eine vorlageberechtigte Dienststelle wie die Kreisbauernschaft (Ernährungsamt) gerichtet werden, die sie nach Überprüfung dem Wehrbezirkskommando vorlegte. Wehrbezirkskommando Bregenz, Inkraftsetzung der neuen „Bestimmungen für Unabkömmlichkeitsstellung bei besonderem Einsatz“, 29. 1. 1941, Bundesarchiv Militärarchiv (BA MA), RW 14 Wehrersatzinspektion Innsbruck. 22 Wehrersatz-Inspektion Innsbruck, Unabkömmlichkeit von Wehrpflichtigen, o. D. Tiroler Landesarchiv (TLA), Landesgericht (LG) Innsbruck, Oberlandesgericht (OLG) Innsbruck, Generalakten betreffend Wehrmacht. 23 Der Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht, 25. 9. 1944. VLA, Sondergericht Feldkirch (SGF), KLs 46/44. 24 Liste der Heimkehrer in der Gemeinde Krumbach, ohne Datum. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199. 25 Bürgermeister der Gemeinde Krumbach an Landrat des Kreises Bregenz, 10. 7. 1941. VLA, Landratsamt (LRA) Bregenz 1940–1945, Sch. 35, Wehrangelegenheiten, Übersicht 1941. 26 Berichte von Bürgermeistern des Kreises Bregenz in: VLA, LRA Bregenz 1940–1945, Sch. 35, Wehrangelegenheiten, Übersicht 1941.

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Die Ortsgranden standen unter zweierlei Beobachtung: Versuche, Uk-Stellungen durchzubringen oder zu verlängern, konnten auf höherer Ebene den Eindruck einer laschen Mitarbeit an der Kriegsmobilisierung erwecken, denn die Wehrersatzinspektion Innsbruck machte jeden „Bauer, Handwerker, Betriebsführer, Amtsvorstand, Dienststellenleiter […] für jeden nicht mit strengstem Maßstab überprüften Unabkömmlichkeitsantrag“ verantwortlich.27 In der Gemeinde nährten auffällige Uk-Stellungen Gerüchte über Günstlingswirtschaft und Bevorzugungen gegen Vorteilnahme, was wiederum die Stimmung gegenüber NS-Staat und Wehrmacht negativ beeinflusste und zu Anzeigen bzw. Denunziationen wegen Amtsmissbrauch führen konnte. Nicht nur deshalb erodierte der Spielraum und die Macht der lokalen NS-Funktionäre. Mit dem beginnenden Einsatz von ZwangsarbeiterInnen in der Landwirtschaft und der steigenden Zahl an Gefallenen nach der massiven Ausweitung der Kriegsführung in Ost- und Südosteuropa handhabten die Wehrbezirkskommandos den Zugang zu Uk-Stellungen immer restriktiver. Auch die Kontrollen der Angaben über den Arbeitskräftebedarf in der Landwirtschaft wurden strenger. Das Wehrbezirkskommando Bregenz veranlasste den Landrat, die Angaben der Antragsteller von der lokalen Gendarmerie genau überprüfen zu lassen. Alle Uk-Antragsteller unterzeichneten ab 1942 außerdem eine Erklärung, dass sie im Fall von Falschangaben „schwere Bestrafung wegen Zersetzung der Wehrkraft“ nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) zu gewärtigen hatten.28 Im § 5 der KSSVO war das Delikt der Wehrkraftzersetzung definiert. Darunter fielen neben anderen Ausprägungen laut Absatz 1, Ziffer 3 auch Handlungen, die dazu geeignet waren, „sich oder einen anderen durch Selbstverstümmelung, durch ein auf Täuschung berechnetes Mittel oder auf eine andere Weise der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise zu entziehen“.29 Als Normstrafe war die Todesstrafe festgelegt, nur in minderschweren Fällen konnten Richter die Zuchthaus- oder Gefängnisstrafen verhängen.30 Im Dezember 1942 fertigte die Wehrersatzinspektion Innsbruck aus 18 Verfügungen des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), des Wehrkreiskommandos XVIII und der Wehrersatzinspektion einen nach Nichtbergbauerngemeinden und Bergbauerngemeinden gegliederten Raster für die Freimachung 27 Wehrersatz-Inspektion Innsbruck, Unabkömmlichkeit von Wehrpflichtigen, o. D. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Generalakten betreffend Wehrmacht. 28 Wehrbezirkskommando Bregenz an den Landrat des Kreises Bregenz, 23. 11. 1942. VLA, LRA Bregenz, 1940–1945, Sch. 35, PV 043/15. 29 Zit. nach Wolfgang Form, Wehrkraftzersetzung: Die Verfolgung des „Inneren Feindes“. Die Wandlung eines rein militärischen Straftatbestandes zu einer der schärfsten Waffen der politischen Justiz, in: Peter Pirker/Florian Wenninger (Hg.), Wehrmachtsjustiz. Kontext, Praxis, Nachwirkungen, Wien 2011, 60–76, 62. 30 Ebd.

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von Wehrpflichtigen aus der Landwirtschaft für die Wehrmacht an, der eine möglichst vollständige Mobilisierung aller Männer, die kriegsverwendungstauglich waren, gewährleisten sollte.31 Josef Mennels Uk-Stellung lief im Oktober 1942 aus. Am 3. November erhielt er einen Einberufungsbefehl. Nach den späteren Ermittlungen des Oberstaatsanwaltes des Landgerichts Feldkirch Herbert Möller entzog er sich jedoch der Rückkehr in die Wehrmacht durch Selbstverstümmelung, indem er sich in der Tenne seines Anwesens durch einen Sturz von der Leiter den rechten Arm brach.32 Wenig später beantragte er eine neuerliche Uk-Stellung, wofür er wiederum Bestätigungen und Befürwortungen von Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer einholte. Wie bisher verschwieg er die Mithilfe von Rosa Fink. Der Antrag wurde genehmigt. Bis Mitte März 1943 konnte Mennel somit auf seinem Hof bleiben. Ein weiterer Antrag wurde jedoch abgelehnt. Um der Einberufung zu entgehen, habe er sich nach Darstellung des Oberstaatsanwaltes wenige Tage später auf Anraten des Gemeindearztes Johann Müller, bei dem er bereits zuvor über Bauchschmerzen geklagt hatte, in das Sanatorium Mehrerau bei Bregenz begeben, um sich dort einer „nicht unbedingt notwendigen“ Blinddarmoperation zu unterziehen.33 Nach der Ausheilung erfuhr Mennel von der Kreisbauernschaft, dass seine Einberufung bevorstehe. Nun versuchte er mit Hilfe von Rosa Fink bei einem mit ihr verwandten Drogisten Medikamente zu beschaffen, um damit Herzprobleme zu simulieren. So sollte bei der Nachmusterung ein geringer Tauglichkeitsgrad bewirkt werden. Das hätte die Chance auf eine neuerliche Verlängerung der UkStellung verbessert. Auch bei verschiedenen Ärzten soll Mennel probiert haben, entsprechende Tipps und Medikamente zur Reduzierung der Tauglichkeit zu erhalten. Im Mai 1943 wurde Mennel nach der Musterung dennoch für kriegsverwendungsfähig (kv) erklärt.34 Etwa zur gleichen Zeit erhielt die Gestapo Bregenz eine Mitteilung über Josef Mennel, die den Verdacht der Selbstverstümmelung begründete. Die Gestapo beauftragte Revier-Inspektor Girardi Erhebungen vorzunehmen. In einem ausführlichen Bericht schilderte Girardi, es werde in Krumbach allgemein „schmunzelnd die Ansicht vertreten“, dass der Armbruch Mennels „kein reiner Zufall sei, sondern dass Mennel wahrscheinlich sich selbst den Arm gebrochen 31 Wehrersatzinspektion Innsbruck, Übersicht Austausch in der Landwirtschaft, 14. 12. 1942. BA MA, RW 15, Wehrmeldeamt Bregenz. 32 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, Ermittlungsverfahren gegen Josef Mennel aus Krumbach u. a. wegen Wehrdienstentziehung bezw. Beihilfe hierzu usw., 9. 12. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 33 Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch an den Gend.Posten Krumbach, 25. 9. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Kopie in SGF KLs 46/44). 34 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, 9. 12. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46).

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habe, um nicht einrücken zu müssen.“35 Auch die Blinddarmoperation Mennels sei in Krumbach mit demselben Verdacht Tagesgespräch gewesen. Girardi zitierte ausführlich die Aussage einer Frau aus Krumbach, die Mennel der zweifachen Selbstverstümmelung und der Verleitung anderer auf Heimaturlaub befindlichen Soldaten dazu bezichtigte. Bei der Nationalsozialistin dürfte es sich um dieselbe Person handeln, die ursprünglich die Gestapo informiert hatte.36 Sie gab außerdem Hinweise auf „dunkle Geschäfte“ Mennels, die sich später als recht schwunghafter illegaler Tauschhandel mit Schnaps und Holz in der näheren und weiteren Umgebung herausstellten.37 Am 19. Juni 1943 nahm die Gestapo Josef Mennel und Rosa Fink fest und führte eine Hausdurchsuchung durch, bei der Entwürfe der Uk-Stellungsgesuche und Briefe, die auf Selbstverstümmelung und Schwarzhandel hinwiesen, gefunden wurden.38 Diese Dokumente rückten nun die Trias, bestehend aus Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer, ins Visier der Gestapo. Auch sie wurden festgenommen und in das Landesgericht Feldkirch eingeliefert.39 Die Ermittlungen gegen die drei Funktionäre beschränkten sich nicht nur auf den Vorwurf der Zersetzung der Wehrkraft. Sie basierten außerdem auf Betrugsanzeigen, die Verstöße gegen die kriegswirtschaftliche Verbrauchsregelung, wie die Verteilung von Kleiderbezugskarten an unberechtigte Personen, die Erzielung von Überpreisen zum Schaden einiger Landwirte und andere Formen von Amtsmissbrauch betrafen.40 Zu den Beschuldigten gehörten vorübergehend auch der Drogist und zwei Ärzte, die Mennel und Rosa Fink konsultiert hatten. Girardi berichtete nach Einvernahmen vor Ort außerdem von weiteren UkStellungen, die angeblich durch den Bürgermeister gegen Abgabe von Lebensmitteln begünstigt worden seien.41

35 GP Krumbach an Geheime Staatspolizei Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Erhebungsbericht Mennel Josef, 25. 5. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 36 Registrierungsblatt zur Verzeichnung der Nationalsozialisten gemäß § 4 des Verbotsgesetz 1947. VLA, Bezirkshauptmannschaft Bregenz (BH), Registrierungsbehörde, Krumbach, BH Bregenz II, Sch. 285. 37 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch an Reichsminister der Justiz, Ermittlungsverfahren gegen Josef Mennel, 9. 12. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 38 Geheime Staatspolizei Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Bericht, 6. 7. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 39 Der Landrat des Kreises Bregenz, Stimmungsbericht, 6. 7. 1943. VLA, LRA Bregenz, Sch. 46, PV 51/10/1. 40 Der Landrat des Kreises Bregenz, Stimmungsbericht, 2. 10. 1943. VLA, LRA Bregenz, Sch. 46, PV 51/10/1; Der Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg, Preisüberwachungsstelle, Betrugsanzeige gegen Josef Nußbaumer und Josef Fink, Innsbruck 10. 1. 1945. VLA, SGF KLs 46/ 44. 41 GP Krumbach an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Feldkirch, 8. 7. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46).

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Die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Feldkirch strengte ursprünglich ein gemeinsames Verfahren vor dem Sondergericht Feldkirch gegen die Beschuldigten an. Ein wesentlicher Zweck der Einführung der Sondergerichtsbarkeit im Jahr 1939 war es gewesen, dem Richter rasches und radikales Vorgehen gegen jegliche Schwächung der Wehrkraft des deutschen Volkes zu ermöglichen.42 Die große Zahl von Beschuldigten mit diversen Deliktvorwürfen bremste jedoch die Ermittlungen, weil Aussagen in den Einvernahmen durch Gendarmerie, Gestapo und Gericht widersprüchlich ausfielen, zum Teil wurden Vorwürfe auch vehement bestritten. Mitte Mai 1944 teilte der Oberstaatsanwalt das Verfahren43, stellte die Ermittlungen gegen einige Beschuldigte ein und erhob zunächst am 18. Mai 1944 gegen Josef Mennel und Rosa Fink Anklage wegen Wehrdienstentziehung und kriegswirtschaftlicher Delikte.44 Der Oberstaatsanwalt hielt es für erwiesen, dass sich Mennel mit Finks Hilfe durch Selbstverstümmelung und Täuschung wiederholt der Erfüllung des Wehrdienstes teilweise bzw. zeitweise entzogen hatte. Der Ankläger berief sich auf § 5 Abs. 1. Nr. 3 KSSVO, damit stand die Todesstrafe im Raum. In der Einvernahme durch den Untersuchungsrichter hatte Mennel zwar die Nichtangabe von Rosa Fink in den Uk-Stellungsanträgen zugegeben und bedauert, aber bestritten, aus Angst vor dem Wehrdienst gehandelt zu haben. Als Motiv hatte er einzig die Sorge um sein Anwesen genannt. Seine Braut habe er nicht als Arbeitskraft in der Landwirtschaft betrachtet und sie deshalb nicht erwähnt. Auch den Verdacht der absichtlichen Selbstverletzung und der bewusst vor der Einberufung durchgeführten Blinddarmoperation zur Vermeidung des Wehrdienstes hatte er strikt zurückgewiesen.45 Oberstaatsanwalt Möller schenkte dem keinen Glauben und warf Mennel „eigensüchtiges, die Belange der Volksgemeinschaft schädigendes Verhalten“ vor. Zur Untermauerung zitierte er eine von Girardi befragte Zeugin, zu der Mennel gesagt hätte, er „habe es wie der Jude, lieber kein Vaterland, als keinen Kopf mehr, lieber am Morgen tot im Bette sein, als noch einmal einrücken müssen, er könne nichts dafür, er habe vor dem Einrücken Angst.“46 Bei der Hauptverhandlung unter dem Vorsitz von Landgerichtspräsident Heinrich Eccher am 15. Juni 1944 prallten die konträren Darstellungen aufeinander. Der Verteidiger Wilhelm Schratz beantragte die Vernehmung des 42 Vgl. Pirker/Salzmann, Wehrdienstentziehungen. 43 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, Verfügung, 18. 5. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 44 Der Reichsminister der Justiz an den Oberstaatsanwalt in Feldkirch, 26. 2. 1945. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Sammelakten betreffend Strafverfahrensrecht 41. 45 Ermittlungsrichter des LG Feldkirch, Vernehmung des Beschuldigten Josef Mennel, 24. 7. 1943. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 46 Oberstaatsanwalt als Leiter der Anklagebehörde beim Sondergericht, Anklageschrift gegen Josef Mennel und Rosa Fink, 18. 5. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46).

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Krumbacher Gemeindearztes Johann Müller und des Primarius des Sanatoriums Mehrerau Walter Vogel. Ein Sachverständiger des Wehrbezirkskommandos Bregenz sollte darlegen, welchen Einfluss das Verschweigen Rosa Finks auf die Bewilligung der Uk-Stellungen überhaupt gehabt hatte. Der Vertreter der Anklagebehörde, Staatsanwalt René Daniaux, beantragte seinerseits weitere Erhebungen der Gendarmerie zu Finks Mithilfe auf dem Hof. Eccher genehmigte alle Anträge und vertagte die Verhandlung auf unbestimmte Zeit. Der Gemeindearzt schloss indessen Selbstverstümmelung als Ursache für den Armbruch aus. Auch hinsichtlich der Blinddarmoperation wurde Mennel durch die Aussagen Müllers, er habe die Operation empfohlen, und des Primars, die Operation sei medizinisch geboten gewesen, entlastet.47 Müller erklärte zudem, dass Rosa Fink kränklich an Nerven und Herz und nicht voll leistungsfähig sei. Die Erhebungen des Gendarmen Girardi zu Rosa Fink ergaben, dass sie nur zeitweise bei Mennel mitgeholfen und tage-, wochen- und monatsweise bei ihren Eltern gearbeitet hatte sowie regelmäßige schwere Tätigkeiten wie Melken nicht richtig beherrsche.48 Damit hatten die vom Verteidiger verlangten Einvernahmen und Ermittlungen die schwersten Vorwürfe des Staatsanwalts entkräftet. Bei der wiederaufgenommenen Hauptverhandlung trat Major Adolf Reinl als Vertreter des Wehrbezirkskommandos Bregenz als Sachverständiger auf. Er hielt fest, dass Mennel unter allen Umständen verpflichtet gewesen wäre, Rosa Fink als Hilfskraft anzuführen. Er führte aber auch aus, dass sie wegen ihres angeschlagenen Zustands, wie vom Gemeindearzt festgestellt, nicht als „volle, männliche und einsatzfähige Arbeitskraft zu erkennen“ sei.49 Ihre Nennung im Erhebungsblatt hätte die Erledigung der Uk-Gesuche nicht beeinflusst. Für den Gutachter war evident, dass sie und der Vater Mennels allein nicht in der Lage gewesen seien, den Hof ordentlich zu bewirtschaften. Aber trotz dieser Aussagen beantragte die Staatsanwaltschaft Schuldspruch im Sinne der Anklage. Sie verlangte die Verurteilung Mennels zum Tode und Finks zu einer Zuchthausstrafe von drei Jahren.50 Der Richter folgte dem Staatsanwalt zwar hinsichtlich des Schuldspruches, nicht jedoch beim Strafausmaß. Aufgrund der Aussagen des Krumbacher Gemeindearztes und des Primarius des Sanatoriums Mehrerau verwarf Eccher den Vorwurf der Selbstverstümmelung – übrig blieben das bewusste Auslassen Rosa Finks in den Uk47 Amtsgericht Bezau, Zeugenvernehmung Josef Mennel, 22. 6. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 48 GP Krumbach an SG bei LG Feldkirch, Erhebungsbericht, Strafsache gegen Josef Mennel, Arbeitsverhältnis der Rosa Fink, 3. 7. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 49 SG Feldkirch, Urteil in der Strafsache gegen Josef Mennel und Rosa Fink, 21. 7. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 50 Protokoll geführt in der öffentlichen Sitzung des SG beim LG Feldkirch, 21. 7. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46).

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Anträgen und die Versuche, durch die Einnahme von Medikamenten vor der Musterung im Mai 1943 den Tauglichkeitsgrad herabzusetzen. Beides erachtete Eccher als „Unternehmen […], um sich zumindest zeitweise dem Wehrdienst zu entziehen“, stufte beides jedoch als jeweils „minderschwere[n] Fall“ ein. Interessant ist die Begründung, mit der er die Todesstrafe abwendete: Eccher beschrieb Mennel als unbescholtenen, tüchtigen und fleißigen Landwirt, aber minderbegabten und schwerfälligen, jedoch nicht durchtriebenen Menschen. Er habe sich nur zeitweilig und nicht gänzlich dem Wehrdienst entziehen wollen. Als einziges Motiv Mennels erkannte er, „nur das Bestreben […], den Hof lebensfähig zu erhalten“. Das erschwerende und verpönte Motiv „Angst vor dem Militär“ schloss Eccher aus – ohne auf die entsprechenden Passagen in der Anklage einzugehen. Indem er den Ergebnissen der Beweisanträge des Verteidigers folgte, konnte er zu einer völlig anderen Einschätzung der Motivlage kommen als der Oberstaatsanwalt. Eccher verurteilte Mennel schließlich unter Einbeziehung der eingestandenen kriegswirtschaftlichen Vergehen zu sechs Jahren Zuchthaus. Rosa Fink sprach er ebenfalls wegen Wehrdienstentziehung schuldig, weil sie den Kontakt zwischen Mennel und dem Drogisten hergestellt und diesen um Medikamente für Ihren Bräutigam ersucht hatte. Eccher hielt Fink aber für „intelligenter als ihr Bräutigam und jedenfalls durchtrieben“.51 Damit wälzte er Verantwortung auf Rosa Fink ab. Sie habe Mennel verleitet. Er verurteilte sie in Kombination mit kriegswirtschaftlichen Vergehen zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus und damit fast so hart, wie vom Staatsanwalt beantragt. Stellt man die Strafausmaße in den Kontext anderer Urteile Ecchers zum Delikt der Wehrdienstentziehung, wird ersichtlich, dass es sich um den zweiten Fall handelt, in dem er die vom Staatsanwalt beantragte Todesstrafe nicht anwandte. Von den 52 bekannten Strafbemessungen Ecchers wegen eigener Wehrdienstentziehung waren jedoch nur fünf schärfer. Rosa Fink erhielt die deutlich höchste Strafe, die Eccher wegen Wehrdienstentziehung anderer Personen aussprach.52 Die Urteile wirken wie ein Balanceakt – Mennel wurde im Vergleich zur Strafdrohung relativ mild, Fink dafür streng verurteilt. Obwohl es Überlegungen in diese Richtung

51 Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, Bescheid, 7. 8. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 52 Vgl. Pirker/Salzmann, Wehrdienstentziehungen an der Reichsgrenze. Eccher fällte insgesamt 10 Todesurteile im Falle von „Gefährlichen Gewohnheitsverbrechern“, sechs davon wegen Eigentumsdelikten. Martin Achrainer, „Standgerichte der Heimatfront“: Die Sondergerichte in Tirol und Vorarlberg, in: Rolf Steininger/Sabine Pitscheider (Hg.), Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit. Innsbruck 2002, 111–130, 121–122. Zu seiner Biografie und zur „Entnazifizierung“ siehe Sabine Pitscheider, Die Entnazifizierung des Oberlandesgerichtes Innsbruck nach 1945, in: Bundesministerium für Justiz (Hg.), Täter – Richter – Opfer. Tiroler und Vorarlberger Justiz unter dem Hakenkreuz, Wien 2016, 49–108, 82.

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gab, verzichtete die übergeordnete Justizbehörde darauf, das Urteil aufzuheben.53 Am 9. August 1944 wurde Mennel in das Strafgefangenenlager Rodgau-Dieburg in Hessen überstellt, wo er Zwangsarbeit zu leisten hatte. Er überlebte die Haft. Rosa Fink entkam dem Strafvollzug. Sie sollte ihre Strafe Anfang September 1944 in der Haftanstalt Feldkirch antreten, was Gemeindearzt Müller verhinderte, der sie zu einer Entfernung von Knochenauswüchsen an beiden Füßen in die Mehrerau überwies.54 Da sie zum neuen Hafttermin Ende September nicht erschien, wurde sie von Girardi in Krumbach verhaftet, allerdings erst vier Wochen nach der ersten Aufforderung des Oberstaatsanwalts und zwei Wochen nach der zweiten Aufforderung.55 Fink verlangte in der Haftanstalt Feldkirch Spitalsbehandlung und wurde vom Amtsarzt untersucht. Dieser stellte Schwellungen und Bewegungseinschränkungen an den Füßen fest und empfahl die Verschiebung des Strafantritts um vier Wochen.56 Als neuer Haftantrittstermin wurde der 1. Dezember 1944 festgelegt. Zehn Tage vorher erklärte der Gemeindearzt, dass sich die Gehfähigkeit „nur unbedeutend gebessert“ habe.57 Nichtsdestotrotz beschied ihr der Amtsarzt Haftfähigkeit.58 Rosa Fink trat die Haft jedoch auch dieses Mal nicht an. Nach der Untersuchung im Gesundheitsamt in Bregenz verschwand sie von der Bildfläche. Mit der Ermittlung ihres Aufenthaltsortes war Girardi beauftragt. Ende Dezember 1944 berichtete er dem Oberstaatsanwalt ausführlich von seinen Misserfolgen bei der Suche. Sie sollte erst im Mai 1945 wieder auftauchen59 und bald darauf Josef Mennel heiraten. Beim abgetrennten Verfahren gegen die lokale NS-Elite – Johann Peter Fink, Josef und Emil Nussbaumer – wollte sich die Staatsanwaltschaft zunächst damit begnügen, einen Strafantrag bei einem Einzelrichter des Landgerichts Feldkirch zu stellen. Der Vorwurf lautete auf Mitschuld an der Wehrdienstentziehung 53 Die Verhandlungsführung Ecchers ähnelt seinem Vorgehen in einem anderen Aufsehen erregenden Prozess vor dem SG Feldkirch im Jahr 1944, den Ingrid Böhler analysiert hat: Ingrid Böhler, Ein glamouröser Fall am Sondergericht Feldkirch, in: Lucile Dreidemy et al. (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte. Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Band 1, Wien 2015, 230–242. 54 GP Krumbach an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, 3. 10. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 55 GP Krumbach an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, 26. 10. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 56 Der Landrat des Kreises Feldkirch, Staatl. Gesundheitsamt an den Direktor der Haftanstalt Feldkirch, 25. 10. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 57 Dr. med. Joh. Müller, Bestätigung, 20. 11. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/ 46). 58 Der Landrat des Kreises Bregenz an den Oberstaatsanwalt beim LG in Feldkirch, 1. 12. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46). 59 GP Krumbach an Oberstaatsanwalt beim LG Feldkirch, Erhebungsbericht Fink Rosa, 23. 12. 1944. VLA, SGF, KLs 27/44 (Az LG Feldkirch, Vr 176/46).

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Mennels nach § 5 Abs. 4 KSSVO. Danach war mit Gefängnis zu bestrafen, wer „leichtfertig unrichtige oder unvollständige Angaben macht, die dazu bestimmt sind, sich oder einen anderen von der Erfüllung des Wehrdienstes ganz, teilweise oder zeitweise freistellen zu lassen“.60 Das Vorgehen war ungewöhnlich, da „Verfahren wegen Kriegsverbrechen“, wozu Verstöße gegen die KSSVO gehörten, generell vor einem Sondergericht durchzuführen waren.61 Das Reichsjustizministerium maßregelte deswegen auch den Feldkircher Oberstaatsanwalt und bestand auf Anklage vor dem Sondergericht.62 Erst am 25. September 1944 lag die Anklageschrift vor;63 die Hauptverhandlung wurde von Eccher für den 29. Dezember 1944 anberaumt. All diese Verzögerungen riefen Nachfragen und Kritik des Ministeriums hervor. Moniert wurde etwa, dass „in Sondergerichtssachen auch bei ungünstigen Verkehrsverhältnissen die Hauptverhandlung innerhalb von zwei bis drei Wochen“ stattzufinden habe.64 Eccher vertagte den Gerichtstermin trotzdem – weil Johann Peter Fink und Josef Nussbaumer zum Wehrdienst eingezogen worden seien (was im Falle Finks bereits im Februar 1944 nach der Entlassung aus der U-Haft geschehen war). Nun hieß es zuerst die Zuständigkeit des Gerichts zu klären, da die Strafverfolgung von Soldaten eigentlich der Militärjustiz oblag. Die Entscheidung des zuständigen Gerichtsherrn, das Verfahren an das Sondergericht Feldkirch abzutreten, fiel erst Ende Jänner 1945. Eccher setzte daraufhin die Hauptverhandlung für den 14. März 1945 an. Vor Gericht erschien dann nur Fink, die beiden weiteren Angeklagten Johann und Emil Nußbaumer waren wegen Wehrdienst bzw. Krankheit verhindert. Für die Nicht-Erschienenen legte Eccher den 4. Mai 1945 als neuen Termin fest65 – doch zu diesem Zeitpunkt war die NS-Herrschaft im Reichsgau Tirol-Vorarlberg durch den Einmarsch der alliierten Armeen bereits Geschichte. Das Urteil Ecchers gegen Johann Peter Fink fiel milde aus. Er beschrieb Fink als Mitglied der NSDAP seit 1933, was ihm 1938 das Bürgermeisteramt eingebracht hatte. Fink sei ein einfacher, wenig energischer und leicht beeinflussbarerer Mann mit durchschnittlicher Intelligenz, „der den vielfachen Aufgaben eines Bürgermeisters, insbesondere in der Kriegszeit, nicht gewachsen zu sein 60 Kriegssonderstrafrechtsverordnung (KSSVO) in der Fassung der ErgänzungsVO vom 1. November 1939 (RGBl. 1939 I 1455, 2131) und vom 10. Oktober 1940 (RGBl. I 1940, 1362). 61 Generalstaatsanwalt beim Oberlandesgericht an Oberstaatsanwalt in Feldkirch, Innsbruck, 30. 9. 1940. VLA, LG Feldkirch, Generalakten, Gerichtsorganisation, 32/1. 62 Der Landgerichtspräsident an den Oberlandesgerichtspräsidenten in Innsbruck, 20. 3. 1945. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Sammelakten betreffend Strafverfahrensrecht 41. 63 Der Oberstaatsanwalt beim Landgericht Feldkirch an den Reichsminister der Justiz, Feldkirch 25. 9. 1944. VLA, SGF, KLs 46/44. 64 Der Reichsminister der Justiz an den Oberstaatsanwalt in Feldkirch, 26. 2. 1945. TLA, LG Innsbruck, OLG Innsbruck, Sammelakten betreffend Strafverfahrensrecht 41. 65 Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Feldkirch, Handakten zu der Strafsache Fink Johann Peter u. 3 andere. VLA, SGF, KLs 46/44.

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scheint“.66 Milderungsgründe für das Strafausmaß waren das volle Geständnis, die Unbescholtenheit, die Sorge für die Familie, die Bewährung im Krieg und der Umstand, „dass Fink aus falschem Mitleid gehandelt“ hatte.67 Der Staatsanwalt beantragte ein Jahr Zuchthaus als Strafe, Eccher hielt zehn Monate Gefängnis für angemessen und rechnete auch die U-Haft an.

2.2

Desertion vor der Frontabstellung

Der Landwirtssohn Johann Steurer, geboren 1913, arbeitete 1939/40 auf dem Bauernhof seines Vaters Alfred, eines Bruders des ehemaligen christlichsozialen Bürgermeisters Franz Josef Steurer. Er erhielt nach einer kurzen militärischen Ausbildung im März 1939 am 3. Dezember 1940 die Einberufung zur RadfahrErsatz-Kompanie 67 in Kufstein. Nach der ärztlichen Untersuchung wurde er als „garnisonsverwendungsfähig Heimat“ eingestuft, konnte also nicht zur kämpfenden Truppe im Kriegseinsatz geschickt werden.68 Am 13. März 1941 erhielt er, auch bedingt durch diese Einstufung, eine Uk-Stellung und wurde nach Krumbach entlassen. Diese endete Anfang Jänner 1942, als er zum Gebirgsjägerersatzregiment 136 in Landeck einberufen wurde, wo ihn der Musterungsarzt nun als kv einstufte. Das bedeutete die baldige Abstellung an die Front. Wenige Tage später wurde er zum Marschbataillon 1/1 nach Innsbruck verlegt. Am 28. Jänner 1942 meldete diese Einheit dem Divisionsgericht 188 in Innsbruck, Steurer habe sich eigenmächtig aus der Kaserne entfernt und sei abgängig.69 Dem nicht genug, vermisste das Marschbataillon 1/1 noch einen weiteren Soldaten aus Krumbach, den 1905 geborenen Kraftfahrer Josef Pankraz Fink.70 Er war Johann Steurers Schwager. Finks Ehefrau Elisabetha führte zu dieser Zeit eine Krämereihandlung, die beiden hatten für vier Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren zu sorgen.71 Finks bisheriges Soldatenleben ähnelte stark jenem von Steurer: Auch er wurde im August 1939 zu einer kurzen Grundausbildung bei der Gebirgs-Kraftfahr-Ersatzabteilung 18 eingezogen und danach als Chauffeur des bereits erwähnten Gemeindearztes Müller uk gestellt. Fink übernahm die Krankentransporte in den Nachbargemeinden und war außerdem einer Fräch66 Sondergericht beim Landgericht Feldkirch, Urteil gegen Johann Peter Fink, 14. 3.1945. VLA, SGF, KLs 46/44. 67 Ebd. 68 Wehrstammbuch Johann Steurer, IV. Aktiver Wehrdienst. TLA. 69 Ebd. 70 4./Marschbataillon 1/1, Meldung über unerlaubte Entfernung/Fahnenflucht, 31. 1. 1942. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Deutsche Wehrmacht (DWM), Gerichtsakten (GerA) 334/3. 71 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, 2. 3. 1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/3.

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terei, dessen Besitzer zur Wehrmacht eingezogen worden war, als Kraftfahrer zugeteilt. Auch seine Uk-Stellung endete Mitte Jänner 1942 mit einer Einberufung zum Marschbataillon 1/1 nach Innsbruck. Diese Einberufung versuchten Bürgermeister Peter Johann Fink und der Gemeindearzt abzuwenden, indem sie eine „einstweilige Entlassung“ beim Wehrbezirkskommando Bregenz beantragten. Die vom Arzt zu versorgenden Gemeinden seien ausgesprochene Berggemeinden. Die hier lebenden Bauern würden einen Arzt oftmals erst dann rufen, wenn es fast zu spät sei. Daher sei es von höchster Notwendigkeit, den Chauffeur des Arztes uk zu stellen.72 Fink händigte das Ansuchen auch seinem vorgesetzten Hauptmann aus, der ihm Hoffnung auf eine Befreiung vom Wehrdienst gemacht hatte. Einige Tage später hieß es jedoch, dass die Truppe ins Feld abgestellt werde und das Uk-Ansuchen somit wohl hinfällig sei. Gemeinsam mit Johann Steurer verließ Fink am 28. Jänner 1942 unerlaubt die Truppe. Bei Befragungen beteuerten die Familien der beiden Soldaten, nichts über deren Verbleib zu wissen.73 Da die Ermittlungen des Divisionsgerichts erfolglos blieben, veröffentlichte es Mitte Februar 1942 Steckbriefe der beiden und stellte Haftbefehle wegen Fahnenflucht aus.74 Bei Fahnenflucht drohte wie bei Wehrkraftzersetzung Todesstrafe. Mit den weiteren Ermittlungen in Krumbach war wiederum Gendarmeriemeister Girardi beauftragt. Anfang März 1942 nahm er mit zwei weiteren Gendarmen eine Hausdurchsuchung in Finks Wohnung vor und traf den Gesuchten in der Stube sitzend an. Nach der Festnahme fasste Girardi die Aussagen Finks über die Flucht mit Johann Steurer zusammen. In drei Tagen hätten sie die 200 km weite Strecke nach Krumbach zu Fuß bewältigt. Fink versteckte sich in seinem Haus, während Steurer angeblich beabsichtigt hatte, sich auf einer Alm in Aach in Bayern zu verbergen, wo seine Familie eine Hütte gepachtet hatte.75 Die Suche auf der genannten Alm blieb erfolglos. Im hohen Schnee gab es keine Spuren, die umliegenden Hütten waren verlassen. Auch die Familie beteuerte, den Gesuchten weder gesehen, noch etwas von ihm gehört zu haben. Girardi durchsuchte mit weiteren Beamten mehrfach das Elternhaus, immer vergeblich.

72 Bürgermeister und Gemeindearzt Krumbach an Wehrbezirkskommando Bregenz, Bitte um einstweilige Entlassung, 19. 1. 1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/3. 73 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Kommandantur Berlin, Abteilung Fahndung, 15. 6. 1942 und Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Steurer Johann und Fink Josef Pankraz, 17. 2. 1942. BA MA, PERS 15/ 145287. 74 Zit. n. Haftbefehl, Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, 25. 2. 1942. BA MA, PERS 15/145287; Gericht Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Steckbrief und Haftbefehl Fink Josef Pankraz, 17. 2. 1942. ÖStA, AdR, DWM, GerA 334/3. 75 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Fink Josef Pankraz, Jäger, Fahnenflucht, 2. 3. 1942. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3.

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Da Steurer nicht gefunden wurde, vermutete die Gestapo Innsbruck, dass er in die Schweiz geflüchtet war.76 Auch Girardi meldete im Oktober 1943 an das Gericht der Wehrmachtkommandantur Berlin, dass die Möglichkeit einer Flucht Steurers zu seinem Onkel in Diepoldsau-Schmitter in der Schweiz in Betracht gezogen werden sollte.77 Die Fahndung wurde nach St. Gallen weitergeleitet, zeitigte aber ebenfalls kein Ergebnis.78 Als weitere Maßnahme ließ die Militärjustiz Briefsendungen durch das lokale Postamt überprüfen.79 Am 25. August 1944 berichtete Girardi abschließend an das Zentralgericht des Heeres, Abteilung Fahndung, dass „der Aufenthalt des fahnenflüchtigen Johann Steurer nicht festgestellt werden konnte“.80 Tatsächlich hielt sich Johann Steurer zumindest zeitweise in seinem Elternhaus in Krumbach versteckt. Girardi wusste davon und soll die Hausdurchsuchungen entsprechend gestaltet haben. Dazu gibt es eine mündliche Überlieferung, berichtet vom Gendarmeriebeamten i. R. Kilian Höfle: „In Krumbach, Haus 90, war Johann versteckt im unteren Stock. Als die Polizei kontrollieren kam, ging Girardi in den unteren Stock, der jüngere Gendarm in den oberen Stock. Unten war Johann versteckt. Die Eltern [Alfred und Agathe Steurer] gaben Girardi einen Speck in die Hand. Johann wurde nicht gefunden.“81 Einer anderen mündlichen Überlieferung nach soll Steurer zwei Jahre lang im Kirchturm gelebt haben.82 Im April 1945 wurde er Mitglied der Widerstandsgruppe in Krumbach. Steurers Fluchtgefährte Josef Pankraz Fink kam nach der Festnahme am 2. März 1942 in die Haftanstalt Innsbruck. Bereits einen Monat später fand die Hauptverhandlung vor dem Gericht der Division 188 statt. Bemerkenswert ist, dass die Anklage nicht mehr auf Fahnenflucht, sondern nur mehr auf unerlaubte Entfernung lautete. Ersteres wurde – unter bestimmten Umständen – mit der Todesstrafe geahndet, zweiteres hatte einen Strafrahmen, der von 14 Tagen verschärften Arrests bis zu zehn Jahren Gefängnis reichte. Bereits dem Einvernahmeprotokoll Girardis ist zu entnehmen, dass Fink die Absicht der Fahnenflucht, also einer dauerhaften Entziehung aus der Wehrmacht, dezidiert in Abrede 76 Zit. n. Abwehrstelle im Wehrkreis XVIII, Nebenstelle Innsbruck, an das Gericht der Wehrmachtkommandantur, Abteilung Fahndung Berlin, 28. 9. 1942. BA MA, PERS 15/145287. 77 Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Wehrmachtkommandantur, Abteilung Fahndung Berlin, 25. 10. 1943. BA MA, PERS 15/145287. 78 Deutsches Konsulat St. Gallen an das Gericht der Wehrmachtkommandantur, Abteilung Fahndung Berlin, 11. 1. 1944. BA MA, PERS 15/145287. Tatsächlich gibt es im Schweizer Bundesarchiv Bern keinen Flüchtlingsakt zu Johann Steurer. 79 Gendarmerieposten Krumbach an das Zentralgericht des Heeres, Abteilung Fahndung, 25. 8. 1944. BA MA, PERS 15/145287. 80 Zit. n. ebd. 81 Interview mit Kilian Höfle, geführt von Isabella Greber, 19. 3. 2022, Aufzeichnungen bei der Autorin. 82 Anmerkungen des BWA zur Liste über Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere.

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stellte. Er sei bloß von seinem Schwager überredet worden, mit ihm nach Hause zu gehen. Weiters gab er an, er sei nur deshalb mitgegangen, weil er „furchtbar Heimweh nach meiner Frau und Kindern“ hatte.83 Er sei entschlossen gewesen, sich beim Militärkommando in Bregenz zu stellen. Nachdem der Bürgermeister seiner Ehefrau allerdings gesagt habe, Deserteuren drohe die Todesstrafe, wenn die Abwesenheit mehr als drei Tage dauere, habe ihm der Mut dazu gefehlt. Deshalb habe er sich dazu entschlossen, in seiner Wohnstube auf die Gendarmerie zu warten.84 Das Motiv des starken Heimwehs wurde vom Bürgermeister, vom Ortsgruppenleiter und auch der Ehefrau bestätigt. Sie bescheinigten Fink in Briefen an das Gericht ein Familienmensch zu sein, sprachen von einer unüberlegten Handlung und baten um ein mildes Urteil.85 Diese Darstellung erschien dem Ankläger, Kriegsgerichtsrat Theodor Dürnbauer, offenbar glaubwürdig, obwohl Fink sich fast einen Monat lang versteckt gehalten hatte. Die Hauptverhandlung unter dem Vorsitz von Kriegsgerichtsrat Jakob Gorbach dauerte nur kurz. Fink wiederholte und bestätigte seine bisherigen Angaben. Dürnbauer beantragte, die unerlaubte Entfernung mit zehn Monaten Gefängnis zu bestrafen. In einem seltenen Fall der Überbietung des Anklägers verurteilte Gorbach Fink schließlich zu 18 Monaten.86 Gorbach beschrieb Fink als bescheidenen Mann, dem jede soldatische Haltung und jedes Verständnis dafür fehle. Die Ursache sah er darin, dass Fink nie weit über die Berggemeinden Riefensberg und Krumbach hinausgekommen sei und er sehr an Familie und Heimat hänge. Es sei also die „Sehnsucht nach Heimat und Familie und nicht Feigheit oder Furcht vor der Front bestimmend“87 gewesen. Im Rahmen des Delikts „Unerlaubte Entfernung“ war die Strafbemessung durchaus hart. Da er trotz des Zeitpunktes der unerlaubten Entfernung unmittelbar vor der Frontabstellung nicht auf Fahnenflucht erkannt hatte, begründete der Richter 83 Zit. n. Gendarmerieposten Krumbach an das Gericht der Division Nr. 188, Zweigstelle Innsbruck, Fink Josef Pankraz, Jäger, Fahnenflucht, 2. 3. 1942. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3. 84 Gericht der Division Nr. 188, Einvernahme des Beschuldigten Josef Pankraz Fink, Innsbruck 11. 3. 1942. Ebd. Faktisch war die – angebliche – Aussage des Bürgermeisters falsch, wenngleich diese Ansicht weit verbreitet gewesen sein dürfte. Nach den Richtlinien Hitlers für die Strafzumessung bei Fahnenflucht vom 14. 4. 1940 war die Höchststrafe geboten, wenn „der Täter aus Furcht vor persönlicher Gefahr gehandelt hat oder wenn sie […] unerlässlich ist, um die Manneszucht aufrecht zu erhalten“, außerdem bei wiederholter oder gemeinschaftlicher Fahnenflucht und bei Fahnenflucht ins Ausland. Rudolf Absolon, Das Wehrmachtstrafrecht im 2. Weltkrieg. Sammlungen der grundlegenden Gesetze, Verordnungen und Erlasse, Kornelimünster 1958, 77. 85 Brief des Bürgermeisters und des Ortsgruppenleiters an das Gericht der Division Nr. 188, 7. 3. 1942. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3. 86 Öffentliche Sitzung des Kriegsgerichts der Division Nr. 188, 2. 4. 1942. ÖStA, AdR, DWM/ GerA, 334/3. 87 Ebd.

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das Strafausmaß mit „dem schlechten Beispiel und die zersetzende Wirkung auf die Truppe“.88 Schlussendlich musste Fink die 18 Monate nicht absitzen. Nach sechs Wochen verschärftem Arrest in der Haftanstalt Innsbruck sollte der Strafrest bis Kriegsende zur Frontbewährung ausgesetzt werden. Da er Jahrgang 1905 war und die Jahrgänge 1907 und ältere nicht zur kämpfenden Truppe abgestellt wurden, entstand zunächst Unklarheit über die weitere Vorgangsweise.89 Im Juni 1942 war die Kriegslage und der Mannschaftsbedarf der Wehrmacht jedoch derart ernst, dass „bei nicht unbedingt gegebener Notwendigkeit kein Mann im Gefängnis angehalten werden darf, der in irgendeiner Weise zu einer Feldverwendung herangezogen werden kann,“90 wie der Gerichtsherr festhielt. So landete Fink rasch als Lkw-Fahrer beim Gebirgsjägerregiment 100, das in der Sowjetunion gegen die Rote Armee kämpfte. Er fügte sich den Anforderungen der Truppe gemäß diszipliniert ein. Im März 1943 meldete seine Kompanie an das Divisionsgericht, er sei „willig und arbeitsam“.91 Ein halbes Jahr später fiel die Bewertung noch vorteilhafter aus („in jeder Beziehung einwandfrei“, „stets willig sein Bestes zu geben“).92 Im November 1943 wurde das Regiment an die Front in Italien verlegt. In der Anfangsphase der Schlachten gegen die US-Truppen am Monte Cassino erhielt Fink eine Beförderung zum Gefreiten. Kurz darauf war der Krieg für ihn zu Ende, als er Anfang März 1944 von US-Truppen in Kriegsgefangenschaft genommen wurde. Im September 1945 kehrte er nach Krumbach heim.93

2.3

Desertion nach Fronteinsatz und Verwundung

Der Tischler Alois Nenning, geboren 1912, erhielt am 27. Mai 1940 den Einberufungsbefehl zur 3. Kompanie des Gebirgsjäger-Ersatz-Regiments 136 in Landeck, wo er zum MG-Schützen ausgebildet wurde.94 Seine Vorgesetzten lobten

88 Ebd. 89 Geb. Jäg. Ers. Rgt. 137 an das Gericht der Division Nr. 188, Strafsache gegen den Jg. Fink Josef Pankraz, 17. 6. 1942. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3. 90 Gericht der Division Nr. 188 an das Geb. Jäg. Ers. Rgt. 137, Strafsache gegen den Jg. Josef Fink, 1. 7. 1942. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3. 91 Dienststelle 29 812 an das Gericht der Division Nr. 188, 15. 3. 1942. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3. 92 Schwere Züge, GJR 100 an Gericht der Division Nr. 188, 16. 10. 1943. ÖStA, AdR, DWM/GerA, 334/3. 93 Liste der österreichischen Heimkehrer in der Gemeinde Krumbach, 22. 5. 1946. BWA, I-060 Sch. 15 Fasz. 199. 94 IV. Aktiver Wehrdienst, Einstellung, Wehrstammbuch mit Einlagen, Alois Nenning. TLA.

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ihn als „sehr willig“, Leistung und Führung bewerteten sie als gut.95 Bereits am 7. September 1940 ging ein Urlaubsgesuch bei der Kompanie für ihn ein. Der Vater Ludwig Nenning bat darum, seinen Sohn für den gemeinsamen Betrieb freizustellen, da er seine Hilfe für Arbeiten benötige, die noch vor dem Winter zu erledigen seien. Es handelte sich um das Erneuern von Fensterstöcken und Türen in Behelfswohnungen für Familien aus Südtirol, die für Deutschland optiert hatten und bis zur Fertigstellung von Siedlungsbauten vorübergehend auch in Krumbach untergebracht wurden. Nenning, der sehr gläubig war und als Anhänger der Christlichsozialen Partei bekannt96, verzichtete auf politische Anbiederungen. Bürgermeister Fink unterstützte sein Ansuchen dennoch, ebenso Ortsgruppenleiter Nussbaumer. Das Wehrbezirkskommando bewilligte einen Sonderurlaub von bis zu sechs Wochen, um eine Uk-Stellung zu vermeiden.97 Anschließend diente Alois Nenning bis Jänner 1943 als MG-Schütze im Infanterie-Regiment 596 der in Wien aufgestellten 327. Infanteriedivision in Frankreich. Im Küstenschutz an der Atlantik- und Mittelmeerküste gab es in diesem Zeitraum keine Kämpfe.98 Der vergleichsweise komfortable Einsatz änderte sich schlagartig im Februar 1943, als die Division nach der Niederlage von Stalingrad zu den Abwehrkämpfen gegen die Offensive der Roten Armee im Raum Woronesch und Kursk verlegt wurde. Bei Kämpfen im Raum Kiew und Shitomir wurde er im November 1943 schwer verwundet. Er erlitt einen Durchschuss der linken Ferse. Bis Februar 1944 kurierte er die Verletzung in verschiedenen Lazaretten aus, anschließend erhielt er zwei Wochen Genesungsurlaub. Im April 1944 wurde er zum Grenadier-ErsatzBataillon I/462, Znaim, abgestellt, wo er die folgenden Monate blieb.99 Erst Mitte Februar 1945 nutzte er einen Sonderurlaub nach Krumbach, um sich von der Wehrmacht abzusetzen. Der Zeitpunkt war nicht zufällig: Der Einsatz gegen die näher rückende Rote Armee stand unmittelbar bevor.100 Offenbar um Spuren einer Ankunft in Krumbach zu verwischen, schlug sich Nenning gemeinsam mit einem befreundeten Soldaten zu Fuß nach Vorarlberg durch. Seinen Söhnen erzählte er später, sie seien ausschließlich nachts gewandert und hätten sich tagsüber in Wäldern versteckt. In Bregenz trennten sich die beiden. Zuhause angekommen, machte sich die Tischlerfamilie daran, für Alois ein Versteck zu 95 Ebd. 96 Interview mit Franz, Josef und Pauline Nenning, geführt von Isabella Grebner, 18. 3. 2022. 97 Wehrbezirkskommando Bregenz, 25. 9. 1940, Wehrstammbuch mit Einlagen, Alois Nenning. TLA. 98 Interview mit Franz, Josef und Pauline Nenning, geführt von Isabella Greber, 18. 3. 2022. 99 IV. Aktiver Wehrdienst, Zugehörigkeit zu Dienststellen des Heeres, Wehrstammbuch mit Einlagen, Alois Nenning. TLA. 100 Gren.E.B.I/134, Marschkompanie, Unerlaubte Entfernung des Obgefr. Alois Nenning, Brünn 25. 2. 1946. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), 6055.

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bauen. Im Haus wurde eine zusätzliche Wand zwischen Schlafzimmer und Stube eingezogen. Das Refugium war gerade einmal so breit, dass der geheime Bewohner darin einige Schritte gehen und sich umdrehen konnte. Bei Durchsuchungen – die im Februar und März 1945 nicht Girardi, der sich im Krankenstand befand, durchführte – blieb die Doppelwand unbemerkt.

2.4

Übergänge zu Widerstand

Der 1891 geborene Bauer Josef Bilgeri hatte bereits im Ersten Weltkrieg gedient, zwei Brüder waren gefallen. Laut 1939 erfolgter Musterung war Bilgeri „Ldst. II av“ (Landsturm II arbeitsverwendungsfähig).101 Er konnte daher ausschließlich in der Heimat im Rahmen eines Landesschützenverbandes für Sicherungsaufgaben verwendet werden. Seiner Enkelin zufolge wollte er aber unter keinen Umständen ein weiteres Mal einrücken.102 Sie berichtet, dass sich Bilgeri deshalb am 1. September 1939, unter dem Eindruck des verkündeten Kriegsbeginns, mit einem Hammer ein Knie zertrümmerte, was ihm für den Rest seines Lebens ein steifes Bein einbrachte. Als NS-Gegner hörte er verbotene „Feindsender“ und verweigerte den „Hitlergruß“. Die Familie repräsentierte wohl, was als katholisch-konservative Resistenz gegen das Eindringen des Nationalsozialismus in die bisherige religiös-patriarchal geprägte Gesellschaft gilt. Sie dürfte auch eine Keimzelle der Desertionen im Frühjahr 1945 sowie der Widerstandsgruppe gewesen sein. Aufrufe zur Desertion gab es in Krumbach bereits früher: In der Nacht vom 4. auf den 5. September 1944 brachten Unbekannte an einem Zaun zwei handgeschriebene Zettel an. Mit Bezug auf die berühmte Rede von Propagandaminister Joseph Goebbels vom Februar 1943 lautete die erste Botschaft „Der totale Krieg, der totale Einsatz, wir erklären den totalen Widerstand“,103 die zweite „Einberufene sollen ins Holz gehen“, sich also in die Wälder absetzen.104 Im Oktober oder November 1944 nahm die Familie Bilgeri den aus Bregenz stammenden Deserteur Max Ibele bei sich auf und gewährte ihm sechs Monate Schutz und Verpflegung.105

101 Suchkarte Bilgeri Karl Josef. TLA. 102 Interview mit Katharina Freithofer, geführt von Isabella Greber, 17. 2. 2022, Aufzeichnungen bei der Autorin. 103 Der Landrat des Kreises Bregenz an den Reichsstatthalter in Tirol und Vorarlberg, Stimmungsbericht 3. Quartal 1944, 7. 10. 1944. VLA, LRA Bregenz, Sch 46, PV 051/10/1. 104 Ebd. 105 Paula Ibele an die Bezirkshauptmannschaft in Bregenz, 4. 11. 1948. VLA, VLandreg IVa-168/ 190.

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Warum Ibele, damals 23 Jahre alt, nach Krumbach zur Familie Bilgeri kam, ließ sich nicht klären, es finden sich aber Hinweise auf politische Verbindungslinien zwischen Bregenz und dem Bregenzerwald, die noch aus der Zeit der Vaterländischen Front stammten. Der außereheliche Sohn der Näherin Paula Ibele und des Polizisten Max Stampfl wuchs in Bregenz in geordneten katholischen Verhältnissen auf, war Kornett bei den Pfadfindern und stand vom 8. Lebensjahr an unter der Obhut von Eugen Leissing, dem Landesobmann des Reichsbundes (einem Verband katholischer Sportvereine) und Sekretär der Vaterländischen Front.106 Ibele erlernte das Schlosserhandwerk und meldete sich auf Anraten seines Vaters 1939 zur Polizei, wurde jedoch – so die Darstellung der Mutter –, weil er für die Polizei zu jung war, im März 1940 zur Waffen-SS eingezogen und dem SS-Panzer-Grenadier-Regiment „Germania“ zugeteilt.107 Leissing wurde im März 1938 vorübergehend verhaftet, bekam dann Gauverweis, war aber im Frühjahr 1945 unter den Widerstandsaktivisten in Bregenz, die sich auf den Zusammenbruch der NS-Herrschaft vorbereiteten. Er flüchtete im April vor der Gestapo nach Langen im Bregenzerwald und fand aufgrund alter politischer Kontakte Unterschlupf beim örtlichen Gendarmeriepostenführer.108 Da befand sich Ibele bereits seit einigen Monate bei der Familie Bilgeri. Die Darstellungen des Geistlichen Georg Schelling, der im Herbst und Winter 1945 für eine Artikelserie im „Vorarlberger Volksblatt“ Recherchen über den Widerstand durchführte und diese für sein hier mehrfach zitiertes Buch „Festung Vorarlberg“ fortführte, ist die einzige verfügbare Quelle zum Verlauf der Desertion Ibeles. Schelling sprach mit Menschen, die Ibele zwischen Herbst 1944 und April 1945 begegnet waren. Dabei hörte er zwei Versionen. In der ersten erhielt Ibele in Frankreich den Befehl, auf die „eigenen Leute“, wahrscheinlich (ungehorsame) Angehörige seiner Truppe, zu schießen. Weil er dies wiederholt verweigerte, sei er zum Tode verurteilt worden, habe jedoch über die Schweiz nach Vorarlberg fliehen können. Der zweiten Version zufolge verweigerte Ibele ihm befohlene Zwangsmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung und musste deswegen fliehen.109 Ibele war nicht der einzige Deserteur im Hause Josef Bilgeri. Auch dessen gleichnamiger 24-jährige Sohn kehrte im März 1945 der Wehrmacht den Rücken und blieb in Krumbach. Richtet sich der Blick auf die weiteren Deserteure aus bzw. in Krumbach, zeigt sich, dass neben der Familie Bilgeri die Familie des ehemaligen Bürgermeisters Franz Josef Steurer den sozialen Raum für Desertion 106 Zu Leissing siehe Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Von Herren und Menschen. Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg 1933–1945, Bregenz 1985, 320. 107 Vgl. Gebürniskarte Ibele Max. Bundesarchiv Berlin, R-9361-III-334266; Verleihungsliste zur Verleihung des Eisernen Kreuzes II. Klasse, 5. 4. 1943, BA MA, RH 7/2476 fol. 405. 108 Schelling, Festung Vorarlberg, 97; Meinrad Pichler, Das Land Vorarlberg 1861 bis 2015, Innsbruck 2015, 226, 276. 109 Vgl. Schelling, Festung, 218–221.

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und Widerstand bildete. Zwei seiner Söhne verabschiedeten sich 1944/45 ebenfalls unerlaubt von ihren Truppen: Der 32-jährige Theodor kam von der GebirgsNachrichten-Ersatz-Abteilung 18 bereits Anfang Oktober 1944 illegal nach Hause110, sein 23-jähriger Bruder Alfred tat es ihm am 1. April 1945 gleich.111 Beide wurden nicht gefasst und waren bei Bildung der Widerstandgruppe dabei. Die Familien Bilgeri und Steurer waren nicht nur politisch gleich gesinnt, sie waren auch durch gegenseitige Hilfe verbunden: Die Familie von Adam Steurer, dem ältesten Sohn Franz Josef Steurers, betrieb den Gasthof „Zum Löwen“. Sie beherbergte und verpflegte Max Ibele über einen Monat hinweg (vor oder nach Bilgeri), wie dessen Mutter bezeugte.112 Persönliche Beziehungen gab es zudem zwischen dem Deserteur Alois Nenning und der Familie Steurer: Er war mit Franz Josefs Tochter Anna liiert und sollte sie 1946 heiraten.

III.

Widerstand in der Kriegsendphase

Von der Festnahme und Absetzung der lokalen NS-Funktionäre im Juni 1943 dürfte sich die NSDAP-Ortsgruppe Krumbach nicht mehr erholt haben. Ein deutliches Zeichen der Erosion und öffentlichen Anfechtung ihrer Autorität meldete Girardi am 4. April 1945 an die Gestapo Bregenz. Demnach wurde in der Nacht vom 29. auf den 30. März „die vor dem Parteilokale der NSDAP, Ortsgruppe Krumbach, am hiesigen Schießstande gewesene, 11.45 m lange Fahnenstange von unbekanntem Täter, oder Tätern, in einer Höhe von 105 cm vom Boden abgesägt“. Das von der Stangenspitze entfernte Hakenkreuz fand sich am Straßenrand liegend und darauf die vom Täter verrichtete „große Notdurft“. Girardis „vielseitig gepflogenen Erhebungen“ – die gleichwohl dazu führten, dass das Ereignis überall bekannt wurde – verliefen einmal mehr ergebnislos.113 Etwa um diese Zeit begann das Festungskommando Vorarlberg mit dem eingangs erwähnten Stellungsbau in Krumbach. Die Straßenbrücken, die Krumbach mit Doren, Riefensberg bzw. Bolgenach verbanden, wurden mit Sprengbomben versehen. An Verteidigern schickte das Festungskommando zunächst das Volkssturmbataillon Dornbirn-Lustenau nach Krumbach. Hinzu kam am

110 Strafsachenliste 1944 Div. 418 und Div. 188, II/748. ÖStA, AdR, DWM. 111 Liste über Wehrmachts-Entlassene und Fahnenflüchtige ohne Entlassungspapiere. BWA, I060, Sch. 15, Fasz. 199. 112 Paula Ibele an die Bezirkshauptmannschaft in Bregenz, 4. 11. 1948. VLA, VLandreg IVa-168/ 190. 113 GP Krumbach an Geheime Staatspolizei Grenzpolizeikommissariat Bregenz, Tgb.Nr. 147/45, 4. 4. 1945. VLA, LRA Bregenz, Sch. 48.

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30. April eine 175 Mann starke SS-Kompanie.114 An diesem Tag trafen außerdem HJ-Führer im Dorf ein, angeblich mit dem Auftrag, gegebenenfalls die Häuser in Brand zu stecken.115 Gerüchte wie diese machten auch andernorts die Runde und führten zu direkten Angriffen auf Nationalsozialisten, etwa im Tiroler Dorf Nauders, wo Deserteure am 2. Mai zwei Nationalsozialisten erschossen, um die Brandschatzung des Dorfes zu verhindern.116 Im Bregenzerwald schlossen sich in mehreren Gemeinden Personen zusammen, um den apokalyptischen Endkampfvisionen regionaler Führungskräfte der Wehrmacht, der Waffen-SS und der HJ entgegenzutreten. Laut Schelling versammelten sich Mitte April etwa vierzig Vertreter aus dem Vorder- und Mittelbregenzerwald in einem Heustadel bei Großdorf, etwa zehn Kilometer von Krumbach entfernt. Schelling betont, dass es keine übergeordnete Organisation mit einem Namen oder einem politischen Programm gegeben habe, allerdings mündliche Absprachen, die er in mehreren Punkten rekonstruierte. Primäres Ziel war demnach die Bildung von Gruppen aktiver Freiheitskämpfer in jeder Gemeinde, die alles unternehmen sollten, damit „der Krieg ohne Kampf und Zerstörung“ zu Ende gehe. Deshalb sollte niemand mehr einer Einberufung zur Wehrmacht oder zum Volkssturm Folge leisten, der Volkssturm vor Ort außerdem dazu gebracht werden, die Waffen niederzulegen. Als zweites Ziel sollte die Sprengung von Brücken und Kraftwerken sowie das Anzünden von Häusern und Vorräten verhindert werden. Tunlichst vermieden werden sollten Kampfhandlungen mit der Wehrmacht. Schließlich sollten „im geeigneten Augenblicke“ auf eine Parole hin, weiße Fahnen gehisst und die öffentlichen Gebäude besetzt werden.117 Das Ziel der (eigenmächtigen) Demobilisierung scheint in Krumbach funktioniert zu haben. Im April kamen zu den vier im Dorf bereits versteckten Deserteuren fünf weitere hinzu. Diese Gruppe von neun Deserteuren bildete unter der militärischen Führung von Max Ibele den aktivistischen Kern des Widerstands. Die seit November 1944 etwa 40 zum Volkssturm eingezogenen Männer zwischen 47 und 60 Jahren (im Reichsgau Tirol-Vorarlberg „Standschützen“ genannt118) hatten eine vierwöchige Ausbildung in Kasernen in Südtirol (Schlanders, Meran, Gossensass) erhalten. Im April befanden sich die meisten von ihnen in Krumbach, ob sie in die Vorbereitungen zum „Endkampf“ eingebunden wa114 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Eintrag 30. 4. 1945 Kriegsende (verfasst von Karl Girardi). VLA. Schelling, Festung, 218, beziffert ihre Stärke auf 120 Mann. Die Stärke des Volkssturmbataillons ist nicht bekannt. 115 Schelling, Festung, 214, 218. 116 Vgl. Die Todesschüsse von Nauders. Widerstandskampf oder Mord?, Wiener Zeitung, 14. 10. 1949, 3. 117 Schelling, Festung, 215–216. 118 Vgl. Horst Schreiber, Endzeit. Krieg und Alltag in Tirol 1945, Innsbruck 2020, 146.

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ren, ist nicht überliefert.119 Allerdings stehen nur acht von ihnen auf der Liste der Widerstandsgruppe – die meisten dürften sich aber zumindest passiv verhalten haben. Die Standschützen aus Dornbirn und Lustenau ließen sich offenbar leicht davon überzeugen, nicht zu kämpfen. Sie machten sich am 30. April „heimlich gruppenweise“ auf den Weg nach Hause.120 Das Ziel, die Brücken zu retten, wurde in Krumbach nicht erreicht. Es gelang der Gruppe um Max Ibele wohl einmal, die Sprengladungen zu entfernen, das Sprengkommando der Wehrmacht erneuerte diese jedoch. Am Nachmittag des 30. April wurden die Brunsttobel-, die Bärentobel- und die Engelbrücke gesprengt.121 In der Chronik des Gendarmeriepostens führte Girardi „Sprengkommandos der Deutschen Wehrmacht“ als Täter an, im Bericht Girardi/Steurer/Grafenesche ist von „SS-Leuten“ die Rede. Ein Versuch des kommissarischen Bürgermeisters Anton Wagner, den Kommandanten der SS zum Abzug zu bewegen, war zuvor bereits gescheitert. Die Gruppe um Max Ibele dürfte den hartnäckigen Zerstörungswillen und die Präsenz der Waffen-SS am 30. April jedenfalls als eminente Bedrohung verstanden haben. Sie entschied sich entgegen der ursprünglichen Strategie, Kämpfe zu vermeiden, die SS-Einheit direkt im Dorf mit starkem Feuer aus einem Maschinengewehr, das sie von der Standschützen-Einheit übernommen hatte, anzugreifen und zu vertreiben. Bei der Attacke wurden fünf SS-Männer erschossen und mehrere verwundet. Überliefert ist, dass die Ausführung des Angriffs den Anschein einer großen Zahl von Widerstandskämpfern erweckte. Nach kurzem Gefecht verließ ein Teil der SS-Einheit Krumbach. Auf Seiten der Widerstandsgruppe erlitt Max Ibele, der das MG bedient hatte, einen Kopfschuss, an dem er einige Tage später verstarb.122 Bürgermeister Wagner wurde von der SS mit dem Erschießen bedroht. Wie seine Tochter erzählte, hatte er über Nacht ein Munitionsdepot der SS-Truppe zu bewachen. Am nächsten Tag, dem 1. Mai, hisste er die weiße Fahne und flüchtete.123 Auch die restliche SS zog schließlich ab. In dieser Situation des Machtvakuums ergriff Girardi die Initiative und organisierte Wachen an den Ortseingängen, um Dorf und Bevölkerung zu schützen. 61 Freiwillige meldeten sich 119 Liste der ausgebildeten und heimgekehrten Soldaten in der Gemeinde Krumbach, 27. 12. 1945. BAW, I-060, Sch. S15, Fasz. 199. Bei Girardi/Steurer/Grafenesche gibt es dazu keine Angaben. 120 Bericht Girardi/Steurer/Gafanesche, 105; Schelling, Festung Vorarlberg, 230. 121 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Eintrag 30. 4. 1945. VLA; Bericht Girardi/ Steurer/Gafanesche, 105. 122 Berkmann Jos. Anton an das Amt der Vorarlberger Landesregierung, betrifft Ibele Max, 13. 5. 1949; Todesbescheinigung Max Ibele. VLA, IVa-168/190. 123 Bericht Girardi/Steurer/Gafanesche, 105; Schelling, Festung, 218–221; Gemeinde Krumbach (Hg.), B’üs im Krumbah. Eine Gemeinde aus dem Vorder Bregenzerwald stellt sich vor, Hard 1999, 41.

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dafür. Sie blieben bis zum Eintreffen von 300 französischen Soldaten am 5. Mai auf ihren Posten.124 Die Befreiung von existentieller Bedrohung, das war wohl das vorherrschende Gefühl in Krumbach. Mit einem Toten auf der Seite des Widerstands war die kurze Konfrontation mit Wehrmachts- und SS-Truppen verglichen mit dem Nachbardorf Langenegg relativ glimpflich verlaufen. Auch dort hatten Wehrmachtsdeserteure eine Widerstandsgruppe gebildet, um finale Zerstörungen und Gewalt zu vermeiden. Anders als in Krumbach mussten sie dafür aber zuerst die einheimischen NS-Funktionäre ausschalten. Daraus entstand am 1. Mai ein Kampf mit herbeigeholten Soldaten der Waffen-SS oder der Wehrmacht, bei dem fünf Angehörige des Widerstands und ein Dorfbewohner erschossen wurden.125

IV.

Conclusio

Bei den vierzehn Deserteuren und Wehrdienstentziehern aus Krumbach sticht auf den ersten Blick die breite Palette der vertretenen Jahrgänge ins Auge, die zwischen 1891 und 1922 verteilt sind. Alle waren zu Beginn der Entziehungspraxis älter als 22, sechs sogar älter als 31 Jahre (42 %). Im Vergleich mit verfügbaren Daten der Altersverteilung von österreichischen Deserteuren waren die Krumbacher Deserteure überdurchschnittlich alt;126 ihre Handlungen liegen weit auseinander, von 1939 bis 1945. Wenig überraschend häuften sich die Entziehungen erst im Frühjahr 1945. Zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings bereits drei bis dorthin geglückte Fahnenfluchten, die im Dorf sicherlich bekannt waren und zeigten, dass das Überleben entgegen der Todesdrohung der Kriegsgerichte und der Schlachtfelder durchaus möglich war. Bemerkenswert und auch überregional äußerst ungewöhnlich ist die mit mehr als vier Jahren extrem lange währende und erfolgreiche Desertion von Johann Steurer im Binnenland des Dritten Reiches. Nur ein Deserteur aus unserer mehr als 2.000 Fälle von Wehrdienstentziehungen umfassenden Sammlung überlebte die Fahnenflucht als U-Boot in Heimatnähe noch länger. Dieses Phänomen lenkt den Blick auf die eingangs aufgeworfene Frage der Verfolgungsintensität und der Unterstützung. Im Vergleich betrachtet scheint Krumbach kein für die NSDAP besonders fruchtbarer Boden gewesen zu sein. Eine relativ hohe Zahl an Uk-Stellungen zeigt nicht nur den breiten Versuch der bäuerlichen Bevölkerung, möglichst vom 124 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Eintrag 30. 4. 1945. VLA. 125 Schelling, Festung, 223–225. 126 Vgl. Thomas Geldmacher, „Auf Nimmerwiedersehen!“ Fahnenflucht, unerlaubte Entfernung und das Problem, die Tatbestände auseinander zu halten, in: Walter Manoschek (Hg.), Opfer der NS-Militärjustiz. Urteilspraxis – Strafvollzug – Entschädigungspolitik in Österreich, Wien 2003, 133–194, 155 (Tab. 15 im Anhang, 748).

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Militärdienst befreit zu werden. Sie kann auch als Schwäche der Funktionsträger interpretiert werden, Kriegsdienstbereitschaft durchzusetzen. Die Unterstützung von Uk-Stellungen scheint in der Anfangsphase des Krieges vielmehr eine Möglichkeit für den Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Ortsbauernführer gewesen zu sein, ihre Positionen im Dorf zu verbessern. Durch eine Denunziation aus der NSDAP-Ortsgruppe brach dieses lokale System der (Selbst-)Privilegierung zusammen. Zudem gab es Rivalitäten zwischen der Partei und der zweiten Säule der NS-Herrschaft in Krumbach, der staatlichen Exekutive. Wohl auch mangels Alternativen blieb der langjährige Kommandant des Gendarmeriepostens 1938 im Amt. Er trat der NSDAP bei und tat damit den Erwartungen seiner vorgesetzten Dienststellen Genüge. Mit seinen Ermittlungen gegen die lokale NSElite lieferte er der Gestapo zunächst reichlich Material für Anklagen. Erst in der Phase der Verhandlung vor dem Sondergericht trug er ebenso wie der Gemeindearzt wieder zur Entlastung der Beschuldigten bei, was die Todesstrafe für Josef Mennel abwendete. Auch den Haftantritt von Rosa Fink scheinen die beiden alles andere als forciert zu haben. Die erste Funktionselite der NSDAP verschwand 1943 in Haft bzw. in der Wehrmacht und musste ersetzt werden – zum Teil durch Personen, die bereits in hohem Alter waren. Girardis Position im Dorf stärkten diese Rochaden. Bei den Ermittlungen zu den Deserteuren wurde sichtbar, wie Girardi im Falle von Josef Pankraz Fink durch die Art der Formulierung der Anzeige den Weg für eine milde Bestrafung ebnete. Im Falle Johann Steurers ließ er den Schutz, den dieser bei seiner Familie gefunden hatte, unangetastet, wiewohl er zugleich die Anforderungen der Wehrmachtsjustiz nach Fahndungen beständig erfüllte, bis die Suche als aussichtslos abgebrochen wurde. Das Verhalten Girardis im Frühjahr 1945 offenbart, dass es für das längerfristige Gelingen von Desertionen (und Widerstand) nicht nur auf die Solidarität von UnterstützerInnen ankam. Das ambivalente Agieren von Polizisten und Gendarmen, die einerseits mit den übergeordneten Behörden kooperierten, andererseits durch Wegsehen und Verschleppen dissidenten Praktiken vor Ort Entfaltungsräume ließen, erweist sich als genauso wesentlich. Die Beziehungen der Deserteursfamilien zur Gendarmerie waren auf dieselbe Weise wie die Entfaltungsräume politisch grundiert: Die Familien gehörten zum vor 1938 tonangebenden katholisch-konservativen, monarchistisch orientierten Kern der Gemeinde, den Girardi bestens kannte.127 Girardis Weiterverwendung nach 1945 demonstriert nicht zuletzt, wie ein Gendarm den Übergang von einem Regime zum nächsten durch eigenständiges Agieren auch für sich selbst vorteilhaft gestalten konnte. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen drängt sich die Frage auf, warum nicht mehr Soldaten aus Krumbach desertiert sind. Spezifische Situationen und 127 Chronik des Gendarmeriepostens Krumbach, Einträge 1936/1937. VLA.

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Beziehungen, die das Überleben einzelner ermöglichten, sollten nicht zu Generalisierungen verleiten. Desertieren war die radikale Praxis einer kleinen Minderheit von Soldaten und sie war unter den Bedingungen einer sich weitgehend konformistisch verhaltenden Umgebung über längere Dauer nur im Verborgenen möglich, wofür die sozialen und ökonomischen Ressourcen sehr knapp waren. Die Eltern von Johann Steurer hätten wohl kaum auch ihren zweiten, jüngeren Sohn, der ebenfalls Soldat war, verbergen und verpflegen können. Ähnlich war es bei Franz Josef Steurer, der neben den zwei desertierten Söhnen zwei weitere in der Wehrmacht hatte. Zudem müssen die Größenverhältnisse im Blick behalten werden. Etwa 160 Krumbacher dienten in den deutschen Streitkräften,128 13 von ihnen entzogen sich dem Kriegsdienst, was einen vergleichsweise hohen Anteil (8 %) darstellt. Aus einer Liste mit 127 Heimkehrern geht auch hervor, dass 46 Parteimitglieder bzw. -anwärter waren (36 %). Unter ihnen befand sich mit Josef Mennel nur ein Wehrdienstentzieher.129 Daraus lässt sich schlussfolgern, dass fast 40 % der Soldaten eine mehr oder weniger ausgeprägte Affinität zum NS-Regime hatten. Diese Größenverhältnisse zeigen, wie stark es der NSDAP 1938/39 auch in Krumbach gelungen ist, Männer aus dem katholisch-konservativen bäuerlichen Milieu anzusprechen und aus den traditionellen politischen Bindungen herauszulösen. Diese Tatsache spielte wohl auch bei der lokalen Tradierung des Kriegshandelns ab 1946 eine wichtige Rolle. Auffallend ist jedenfalls, dass sich vor Ort keine manifeste öffentliche Erinnerung an die lokalen Deserteure und die Widerstandsgruppe herausbildete.130 Die vorliegende Fallstudie macht außerdem deutlich, dass Deserteure auch in einer relativ günstigen Umgebung solidarischer Familienzusammenhänge zwar eine kleine Minderheit blieben, jedoch keineswegs randständige Existenzen sein mussten. In Krumbach stammten sie vielmehr aus alteingesessenen Bauern- und Handwerkerfamilien, waren im Wirtschafts-, Kultur- und Sozialleben des Dorfes vor 1938 und nach 1945 nicht nur sehr gut integriert, sondern auch Träger politischer Macht. Aus der von den Deserteuren maßgeblich mitgeprägten Widerstandsgruppe entstand die erste Kommunalverwaltung nach der Befreiung, Deserteure nahmen darin wichtige Funktionen wahr.131 Zur Befriedung der Dorfgesellschaft sorgten sie nach 1945 offenbar selbst dafür, dass ihre Geschichte und Desertieren als eine Form der möglichen Dissidenz in Vergessenheit geriet. 128 Diverse Listen von Heimkehrern in der Gemeinde Krumbach aus den Jahren 1945 und 1946. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199. 129 Namensliste entlassener ehemaliger Angehöriger der deutschen Wehrmacht in der Gemeinde Krumbach, 11. 1. 1946. BWA, I-060, Sch. 15, Fasz. 199. 130 Dies wird auch in der Dorfchronik deutlich: Gemeinde Krumbach (Hg.), B’üs im Krumbah. 131 Protokoll der konstituierenden Gemeinderats-Sitzung, 29. 5. 1945. BWA, Krumbach GV 1903–1951.

Nikolaus Hagen

„Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern“. Der Fall der Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller1

Am 14. Oktober 1943 gab Fritz Müller, ein „fahnenflüchtiger“ Vorarlberger, der am Tag zuvor mit seinen zwei Brüdern Erwin und Kurt Müller die deutschschweizerische Grenze illegal überschritten hatte, folgende Darstellung der Beweggründe am Polizeiposten Buchs (St. Gallen) zu Protokoll: „Nachdem jeder seine Kriegserlebnisse erzählt hatte, mussten wir erkennen, dass Deutschland nie siegen werde. Da wir sowieso nicht für das deutsche Regime eingestellt sind und wieder Österreich werden möchten, beschlossen wir zu entfliehen. Wir wollten unser junges Leben nicht für eine aussichtslose Sache opfern oder später als Krüppel unser Leben fristen.“2

Die Thematik der Desertion im Zweiten Weltkrieg ist für Vorarlberg in wissenschaftlicher Hinsicht bislang nur ungenügend aufgearbeitet. Dieser Befund mag erstaunen, da das Phänomen in jüngerer Zeit einen prominenten Stellenwert in der Diskussion zur öffentlichen Erinnerungskultur des Landes eingenommen hat. So wird in Bregenz am 2015 errichteten Widerstandsmahnmal, das Land, Stadt und Vorarlberger Gemeindeverband gemeinsam finanzierten, explizit auch an einzelne Deserteure erinnert. Ursprünglich war sogar die Errichtung eines reinen Deserteursdenkmals angedacht.3 Schon 2011 wurde im Stadtmuseum Dornbirn, als dritte österreichische Station nach Wien und Klagenfurt, die von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas konzipierte Wanderausstellung „‚Was damals recht war…‘ Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der

1 Dieser Artikel entstand im Rahmen des Projekts „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“, gefördert von der Vorarlberger Landesregierung. 2 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Fritz Müller, 14. 10. 1943. Schweizerisches Bundesarchiv (BAR), E4264#1985#196#2250. 3 Johannes Spies, Das Widerstands- und Deserteursmahnmal in Bregenz, in: schulnotizen (2016) 1, 12–13.

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Wehrmacht“, ergänzt um einen Vorarlberger Teil, gezeigt.4 Jüngstes Beispiel für öffentliches Erinnern an Vorarlberger Deserteure ist die im Sommer 2022 eröffnete Radroute mit Hörstationen „Über die Grenze“, die sich vom Bodensee bis in das Montafon zieht und u. a. Deserteursgeschichten beinhaltet.5 Auch in der regionalhistorischen Literatur werden verschiedene Einzelfälle erwähnt. Allerdings fehlen sowohl ausführliche, grundlegende Fallstudien6 als auch eine größere quantitative Studie, die in einem Sozialprofil der Vorarlberger Deserteure münden könnte, wie es etwa Magnus Koch anhand eines Samples von 194 in die Schweiz geflohenen Deserteuren skizziert hat.7 Gegenstand dieser Fallstudie ist die bislang weitgehend unbekannte Geschichte der drei Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller aus Hohenweiler im Laiblachtal, die im Oktober 1943 anlässlich eines Heimaturlaubs in Vorarlberg gemeinsam desertierten und über das Montafoner Rellstal in die Schweiz flohen. Der Fall der Brüder Müller tangiert zahlreiche zentrale Aspekte des Phänomens Desertion im alpinen Grenzgebiet des Deutschen Reichs zur Schweiz während des Zweiten Weltkriegs. Zu diesen Aspekten gehören neben der erfolgreichen Flucht über die Alpen, die anschließende Internierung in der Schweiz, die Rückkehr noch während des Krieges sowie das erfolgreiche Verstecken innerhalb des Landes bis Kriegsende. Die Tatsache einer gemeinsamen, noch dazu erfolgreichen „Fahnenflucht“ dreier Brüder ist für sich allein genommen schon bemerkenswert, umso mehr, wenn man bedenkt, dass die Zahl der bekannten Deserteure und Wehrdienstverweigerer aus Vorarlberg nach derzeitigem Wissensstand 239 betrug.8 Auch im Verhältnis zur Gesamtzahl der in der Schweiz nachweisbaren deutschen Deserteure, die Daniel Zumbühl mit 1.358 von insgesamt etwa 103.869 fremden Militärinternierten erhoben hat,9 sticht der Fall 4 Zur Vorarlberger Ausstellung erschien eine Begleitpublikation: Hanno Platzgummer/Karin Bitschnau/Werner Bundschuh (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist …“ Vorarlberger vor den Gerichten der Wehrmacht, Dornbirn 2011, 72. 5 Über die Grenze, 2022, URL: http://www.ueber-die-grenze.at/ueber.php (abgerufen 1. 7. 2022). 6 Eine Ausnahme: Maria Fritsche, Die wagemutige Flucht des Tobias Studer. Deserteure im Vorarlberger Großwalsertal, in: Thomas Geldmacher et al. (Hg.), „Da machen wir nicht mehr mit…“ Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Wien 2010, 146– 154. 7 Magnus Koch, Fahnenfluchten. Deserteure der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg – Lebenswege und Entscheidungen, Paderborn 2008, 393–398. 8 Siehe dazu den Beitrag von Peter Pirker in diesem Heft, 479; vgl. Peter Pirker, Deserteure der Wehrmacht in Vorarlberg. Ein Werkstattbericht mit Zwischenergebnissen und Thesen, in: Museumsverein Jahrbuch – Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsverein 2021, 96–111, 102. 9 Daniel Zumbühl, 1939–1945: Deutsche Deserteure in der Schweiz, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 60 (2010) 4, 395–411. Siehe auch: Tonja Furrer/Nina Kalser, Sowjetische und russische Militärinternierte in der Schweiz und in Liechtenstein während des Zweiten Weltkrieges, in: Carsten Goehrke/Werner Zimmerman (Hg.), „Zuflucht Schweiz“. Der Umgang mit Asylproblemen im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1994, 309–343, 309.

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hervor. Der Fall gewinnt eine weitere Dimension durch Erwin Müllers im Juni 1944 auf umgekehrter Route erfolgte klandestine Rückkehr nach Vorarlberg, wo er sich bis zum Kriegsende in Hohenweiler versteckte. Da er bei seiner Rückkehr nach Vorarlberg einen Hilfszöllner namens Wilhelm Tschabrun erschoss, wurde der Fall Müller in der Nachkriegszeit Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung. Bei dieser Rückkehr noch vor Kriegsende handelt es sich zwar nicht um einen absoluten Einzelfall,10 allerdings doch um ein Ereignis, zu dem bislang nur wenige regionale Vergleichsstudien existieren. Bekannteste Ausnahme sind die Arbeiten zu Franz Weber (1920–2001), einem Tiroler Deserteur, der sich dem USamerikanischen Nachrichtendienst OSS anschloss und im Februar 1945 im Zuge der „Operation Greenup“ nach Tirol zurückkehrte.11 Für einen Vergleich mit dem Fall Müller eignet sich aufgrund zahlreicher Parallelen besonders eine rezente Studie und Edition zum Südtiroler Deserteur und „Partisanen“ Johann Pircher.12 Pircher hatte einen ähnlichen familiären und sozialen Hintergrund wie die Brüder Müller und flüchtete ebenfalls in die Schweiz. Wie Erwin Müller kehrte auch Pircher noch vor Kriegsende zurück und wurde aufgrund einer Verwicklung in die Tötung von lokalen NS-Kollaborateuren in der Nachkriegszeit von der italienischen Justiz belangt. Der Fall der Brüder Müller ist bislang nicht eingehend untersucht worden. Von den drei Brüdern hat nur Erwin Müller eine gewisse Beachtung in der regionalen (Forschungs-)Literatur gefunden. Seine Erlebnisse unmittelbar bei Kriegsende wurden im Jahr 1985 von Josef Berkmann in einer nicht ganz faktentreuen Kalendergeschichte verarbeitet,13 die späteren Arbeiten offenbar als eine der Hauptquellen diente. So scheint Erwin Müller mit Kurzeinträgen im Lexikon „Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg“ und in einer Publikation zu Vorarlbergern vor den Gerichten der Wehrmacht auf, beides mal unter Verweis auf Berkmann.14 In letzterer werden auch Kurt und Fritz Müller beiläufig genannt. Weiters wird Erwin Müller in einem Jugendsachbuch zum Nationalsozialismus in Vorarlberg als Fallbeispiel für einen Vorarlberger Deserteur er-

10 Gerald Steinacher, Südtirol und die Geheimdienste 1943–1945, Innsbruck 2000, 89–95. 11 Thomas Albrich, Franz Weber. Widerstand und Politik, Innsbruck 2019; Peter Pirker, Codename Brooklyn. Jüdische Agenten im Feindesland, Die Operation Greenup 1945, Innsbruck/ Wien 2019. 12 Giambattista Lazagna, Der Fall des Partisanen Pircher, hg. v. Carlo Romeo und Leopold Steurer, Meran 2022. 13 Josef Berkmann, Stehengeblieben, in: Vorarlberger Volkskalender 1985, 85–89. 14 Johann-August-Malin-Gesellschaft (Hg.), Lexikon Verfolgung und Widerstand in Vorarlberg, 1985/2022, URL: https://www.malingesellschaft.at/lexikon-verfolgung-und-widerstand (abgerufen 10. 6. 2022); Platzgummer/Bitschnau/Bundschuh (Hg.), „Ich kann einem Staat nicht dienen, der schuldig ist …“, 72.

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wähnt.15 Der Historiker Michael Kasper thematisiert den Tod des Hilfszöllners Wilhelm Tschabrun in Zusammenhang mit Erwin Müllers Rückkehr in einem noch nicht erschienenen Beitrag.16 Der Todesort Tschabruns war zudem in einer 2020/21 gezeigten Ausstellung zum Nationalsozialismus im Montafon als „Erinnerungsort“ genannt, ohne allerdings Erwin Müller in diesem Zusammenhang namentlich zu benennen.17 Das Forschungsinteresse dieser Mikrostudie richtet sich, neben einer Rekonstruktion des Fluchtaktes und der anschließenden Internierung in der Schweiz, primär auf die Lebens- und Erfahrungswelt der drei Brüder. Die Fallstudie orientiert sich dabei an einem Modell, das der Historiker Peter Pirker zur Erforschung des Phänomens Desertion vorgeschlagen hat.18 Anstelle möglicher Motive19 stehen die familiären, sozialen, militärischen und geografischen „Erfahrungsräume“, die zum Akt der „Fahnenflucht“ führten bzw. diesen ermöglichten, im Mittelpunkt des Interesses. Der Begriff des „Erfahrungsraums“ rekurriert damit auf Pierre Bourdieus Konzeption des sozialen Raums,20 also auf die gesellschaftlichen Strukturen und die Positionierung des Individuums in diesen, und betont vor allem die Kontingenz der individuellen Erfahrungen und Erlebnisse innerhalb dieses Raums. Diese Erfahrungsräume zu skizzieren, muss in Anbetracht der derzeitigen Quellenlage ein Versuch bleiben. Es bedürfte zudem einer breiteren Vergleichsbasis, als sie zum derzeitigen Zeitpunkt existiert, um die Grenzen und Überlappungen dieser Räume und die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Positionierungen deutlicher sichtbar zu machen. Es handelt sich folglich um einen Versuch. Soweit bislang bekannt, haben die drei Brüder ihre Erlebnisse später nicht verschriftlicht oder öffentlich thematisiert. Hauptquellen der Fallstudie sind 15 Meinrad Pichler, Nationalsozialismus in Vorarlberg. Opfer–Täter–Gegner, Innsbruck 2012, 327 16 Michael Kasper, Flucht über die Berge. Desertion und Fluchthilfe an der Gebirgsgrenze zwischen Tirol-Vorarlberg und Graubünden, in: Kerstin von Lingen/Peter Pirker (Hg.) Deserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und Gedächtnisbildung, Paderborn 2023. Ich danke für die Überlassung des Manuskripts. 17 Das Montafon „unterm Hitler“, 28 NS-Erinnerungsorte im Montafon, o. D., URL: https:// stand-montafon.at/kultur-wissenschaft/ausstellungen/das-montafon-unterm-hitler (abgerufen 10. 6. 2022). 18 Peter Pirker, Fahnenflucht in den Alpen, Vortrag im Rahmen der Tagung Wehrmachtsdeserteure. Neue Forschungen zu Entziehungsformen, Solidarität, Verfolgung und (digitaler) Gedächtnisbildung, Innsbruck 16. 9. 2021, online unter: https://www.youtube.com/watch?v =JsK652KJfhw (eingesehen 10. 6. 2022). 19 Vgl. Maria Fritsche, Die Analyse der Beweggründe. Zur Problematik der Motivforschung bei Verfolgten der NS-Militärgerichtsbarkeit, in: Walter Manoschek, Opfer der NS-Militärjustiz, Wien 2003, 104–113. 20 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 2016, 171–209.

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komplementäre Akten aus dem schweizerischen Bundesarchiv und dem Bundesarchiv (Militärarchiv) in Freiburg, die jeweils den Fahnenfluchtakt bzw. die Überschreitung der Grenze zum Inhalt haben.21 Im schweizerischen Dossier finden sich u. a. die Soldbücher der Brüder sowie Einvernahmeprotokolle, die kurz nach der Flucht am Polizeiposten in Buchs angefertigt wurden und die Hauptquelle für die Rekonstruktion des Fluchtaktes darstellen. Komplementär wurde ein Akt der Vorarlberger Kriminalpolizei aus der Nachkriegszeit herangezogen.22 Besonders dankbar bin ich dem Netzwerk Vorarlberger Kommunalarchivarinnen und -archivare, die mich direkt oder indirekt mit zahlreichen wichtigen Informationen, insbesondere zu den Lebensstationen der Familienangehörigen, versorgt haben.23 Die Nachkriegszeit und die weiteren Lebenswege der drei Brüder können hier nur angerissen werden.

I.

Familiärer und sozialer Erfahrungsraum: Der Erste Weltkrieg als Folie

Die drei Brüder Erwin, Kurt und Fritz Müller stammten aus einem kleinbäuerlichen bzw. ländlich-proletarischen Umfeld, das von den wirtschaftlichen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und dem für viele damit verbundenen sozialen Abstieg geprägt war. Ihre Mutter, Maria Berlinger-Müller, hatte als überwiegend alleinerziehende Mutter für acht Kinder zu sorgen. Diese mussten ihrerseits früh selbständig werden, was sich in den Berufs- und Bildungswegen vor dem Eintritt in den Wehrdienst niederschlug. In den unterschiedlichen Geburtsorten der Kinder spiegeln sich ökonomisch bedingte Umzüge und familiäre Brüche in der Zwischenkriegszeit wider. Maria Berlinger-Müller stammte aus Mellau im Bregenzerwald, wo sie am 28. Dezember 1882 als Maria Felder zur Welt kam.24 Ihr erster Ehemann, Kaspar Berlinger, kam ebenfalls aus Mellau und war Bauer und Gastwirt („Gamswirt“) in Baien, einem Weiler nahe Bezau, der zu Reuthe gehört. Reuthe, das über Jahre den Lebensmittelpunkt der Familie bildete, war eine aus mehreren kleinen 21 Ich danke Peter Pirker und Aaron Salzmann, die im Rahmen des Projekts „Deserteure der Wehrmacht. Verweigerungsformen, Verfolgung, Solidarität, Vergangenheitspolitik in Vorarlberg“ grundlegende Archivrecherchen getätigt und mir für diesen Beitrag zur Verfügung gestellt haben. 22 Vorarlberger Landesarchiv (VLA), Kriminalbeamtenabteilung des Amtes der Vorarlberger Landesregierung in Feldkirch (Kriminalstelle Feldkirch), 3488/49. Ich danke Markus Schmidgall für das Ausfindigmachen des Akts. 23 Ich danke Carina Haltmayer (Hohenweiler), Oliver Heinzle (Lustenau), Nicole Ohneberg (Hard) und Stefan Stachniß (Bürs/Nüziders) sowie Herbert Patt (Cazis/Graubünden) und deren Auskunftspersonen für ihre wertvollen Hinweise. 24 Pfarre Mellau, Tauf-, Firm-, Trauungs- und Sterbebuch 1812–1883, fol. 240.

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Weilern bestehende, agrarisch-geprägte Landgemeinde, die Anfang des 20. Jahrhunderts etwa 350 Einwohnerinnen und Einwohner zählte. Der Erste Weltkrieg traf die Familie hart. Im März 1915 ging Kaspar Berlinger nach dem Fall der k.u.k. Festung Przemys´l in russische Kriegsgefangenschaft, in welcher er im November oder Dezember desselben Jahres an einer Infektionskrankheit verstarb.25 Ein ähnliches Schicksal traf noch weitere enge Familienangehörige. Ein Bruder Berlingers war bereits im Jahr zuvor gefallen26 und auch Maria Berlingers Bruder Franz Josef Felder, der ebenfalls in Reuthe lebte, verstarb im April 1916 in einem Kriegslazarett.27 Nach dem Tod ihres Ehemanns musste Maria Berlinger allein für vier Kleinkinder, nämlich Arnold (geb. 1. November 1909), Theresia (geb. 15. Oktober 1910), Josef Emil (25. September 1912) und Walter (14. April 1914),28 sorgen. Im April 1919 heiratete Maria Berlinger in Rankweil den zehn Jahre jüngeren Franz Anton Müller.29 Dieser war am 3. November 1892 in Bezau als lediges Kind zur Welt gekommen und nach Reuthe zuständig.30 Als Beruf ist in den Matriken der katholischen Pfarre Reuthe Oberbauarbeiter sowie Bahnoberbauarbeiter verzeichnet, was darauf schließen lässt, dass er zumindest zeitweise bei der Bregenzerwaldbahn, die Bezau mit der Landeshauptstadt Bregenz verband, im Dienst stand. Franz Anton Müller zog nach der Heirat zu seiner Ehefrau und den Kindern an deren Wohnstätte, die Gaststätte in Baien. Abgabenschulden, die nach dem Tod des ersten Ehemannes offengeblieben waren und welche Maria Berlinger-Müller erfolglos bekämpfte, dürften die Familie finanziell belastet haben.31 Am 4. November 1919 kam Erwin, der erste gemeinsame Sohn des Paares, in Reuthe zur Welt.32 Ein Jahr darauf, am 19. November 1920, folgte ein weiterer Sohn namens Leopold Kaspar, der schon kurz vor seinem ersten Geburtstag verstarb.33 Während der Beruf des Vaters im Taufregister bei Erwins Geburt noch „Oberbauarbeiter“ lautete, war er bei der Geburt von Leopold Kaspar nur mehr als „Taglöhner“ verzeichnet. Ein Indiz, dass sich die wirtschaftliche Lage der Familie verschlechtert hatte. Vermutlich war die Berufssituation ein Grund, weshalb sich die Familie um 1921 dazu entschloss, in die Steiermark zu übersiedeln. Am 25 Die Datumsangaben variieren: Vorarlberger Volksblatt, 2. 2. 1915, 3; Vorarlberger Volksblatt, 22. 3. 1917, 3; Vorarlberger Tagblatt, 21. 8. 1920, 5; Pfarre Reuthe, Tauf-, Sterbe-, Trauungsund Firmbuch 1830–1938, fol. 296 (Forthin als Taufbuch Reuthe zitiert). 26 Vorarlberger Volksblatt, 19. 1. 1916, 3. 27 Vorarlberger Landes-Zeitung, 8. 5. 1916, 2. 28 Alle Angaben aus Taufbuch Reuthe. 29 Ebd., fol. 410. 30 Ebd., fol. 84. 31 Bludenzer Anzeiger, 27. 11. 1920, 1. 32 Taufbuch Reuthe, fol. 162. 33 Ebd., fol. 164.

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6. Dezember 1921 kam in Feldkirchen bei Graz der zweite überlebende Sohn des Paares, Kurt, zur Welt. Das Taufbuch der Pfarre Feldkirchen vermerkt beim Vater als Standesbezeichnung „Schweizer“.34 Vermutlich war damit eine Tätigkeit in der Viehhaltung, als Knecht oder Hirte, oder im Molkereiwesen gemeint.35 Wie lange die Familie in Feldkirchen verblieb, ist unklar. Sohn Fritz (Friedrich) kam am 5. Februar 1924 in Fürstenfeld in der Südoststeiermark zur Welt. Im Jahr darauf, am 5. Oktober 1925, folgte, ebenfalls in Fürstenfeld, das vierte und letzte gemeinsame Kind, ein Sohn namens Adalbert.36 Beruflicher Erfolg dürfte sich für Franz Anton Müller auch in der Steiermark nicht eingestellt haben. Im späteren Soldbuch von Erwin Müller ist als Beruf des Vaters „Hilfsarbeiter“ verzeichnet;37 in jenen von Kurt und Fritz Müller fehlt jeder Hinweis auf ihn. Im Jahr nach der Geburt des jüngsten Sohnes muss es eine ernste Ehekrise gegeben haben, die zur Trennung führte. Um 1925 kehrte Maria Berlinger-Müller mit ihren Kindern zurück nach Reuthe im Bregenzerwald. Der Vater, so gab Erwin Müller später an, hatte die Familie verlassen und war allein in Fürstenfeld zurückgeblieben.38 Der Kontakt zu seinen Söhnen dürfte danach abgebrochen sein.39 Der frühe Tod des ersten Ehemanns, die Trennung vom zweiten Ehemann, der offenbar kein stabiles berufliches Auslangen finden konnte, und die Wohnortswechsel bedeuteten in Summe wohl einen gravierenden sozialen und wirtschaftlichen Abstieg für die alleinerziehende Maria Berlinger-Müller und ihre acht Kinder. Im Jahr 1937 übersiedelte die Familie von Reuthe nach Hohenweiler im Laiblachtal, einer ländlichen Gemeinde mit etwa 600 Einwohnerinnen und Einwohnern an der bayerischen Grenze. Dort pachtete Maria Berlinger-Müller ein kleines landwirtschaftliches Gut zur Selbstversorgung. Ein Teil der älteren Kinder war zu diesem Zeitpunkt schon volljährig und hatte eigene Familien gegründet. Wir wissen nur wenig über die Kindheit und Jugend der Geschwister Berlinger-Müller in Reuthe und in Hohenweiler. Die Familie war jedenfalls katholisch und die Kinder wurden alle gefirmt. Über eine besondere Politisierung und über die in der Familie oder bei einzelnen Angehörigen vorherrschende Einstellung zum Krieg und zum Kriegsdienst ist nichts bekannt. Die Tatsache, dass der leibliche Vater der ersten Kinder ebenso wie mindestens zwei weitere nahe 34 Pfarre Feldkirchen, Taufbuch 1913–1927, fol. 216. 35 Eintrag Schweizer, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, URL: https:// www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemid=S21762 (abgerufen am 22. 6. 2022). 36 Gendarmerieposten Hörbranz an das Gericht der Division Nr. 418, Zweigstelle Innsbruck, Februar 1944. Bundesarchiv Freiburg (BA-MA), Pers 15/146444, fol. 11. 37 Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. 38 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Erwin Müller, 4. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 39 Franz Anton Müller verstarb 1961 in Graz. Pfarre Rankweil, Ehebuch 1901–1931, fol. 545.

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Verwandte im Krieg ums Leben gekommen waren, stellte aber sicherlich eine schmerzhafte Erinnerung dar, wie sie viele Familien teilten. Der Historiker Oswald Überegger konstatiert für die unmittelbaren Nachkriegsjahre in Tirol und Vorarlberg zunächst eine durch „die Erfahrung von Leid und Tod sowie die allgegenwärtige Angst vor einer erneuten Rekrutierung zur Kriegsdienstleistung im Rahmen eines künftigen Konflikts“ Entfremdung von Gesellschaft und Militär, die allerdings nicht von Dauer geblieben sei. Schon Ende der 1920er-Jahre sei die leidvolle Kriegserinnerung in den Hintergrund getreten und durch die unmittelbare Erfahrung der drängenden ökonomischen Krisen der damaligen Jahre überlagert worden.40 Im Fall der Familie Berlinger-Müller mag dieser Befund durchaus zutreffend gewesen sein. Auch wenn die Familie eine kleine Landwirtschaft bewirtschaftete, war sie ökonomisch im Landarbeitermilieu und nicht im Bauernstand zu verorten. Die Kinder mussten folglich, neben der Mithilfe auf dem Hof, früh eine Lohnarbeit ergreifen. Eine höhere Schulbildung oder gar Matura erlangte aus diesem Grund keines der acht Kinder; auch Fachausbildungen waren die Ausnahme. Erwin und Kurt Müller absolvierten noch in Reuthe die achtjährige Volksschule, Fritz Müller sechs Jahre in Reuthe und die letzten beiden Klassen in Hohenweiler. Nach dem Schulabschluss arbeitete Erwin Müller bei verschiedenen Bauern in der jeweiligen Umgebung als Knecht. Im Februar 1936 wurde er offenbar wegen Diebstahls vom Landesgericht Feldkirch zu vierzehn Tagen Arrest verurteilt.41 Die näheren Umstände sind allerdings unbekannt. Zu Jahresbeginn 1938 trat er nach eigenen Angaben eine Metzgerlehre an. In seinem späteren Soldbuch ist dagegen Hilfsarbeiter als Beruf verzeichnet.42 Sein Bruder Kurt arbeitete nach der Schule auf dem Familiengut mit und begann schließlich 1937 eine Friseurlehre in Bregenz, die er 1940 mit der Gesellenprüfung abschloss. Der jüngste der drei Brüder, Fritz, arbeitete bis 1941 in der eigenen Landwirtschaft. Zu diesem Zeitpunkt musste die Mutter diese aufgeben, da fast alle Söhne als Arbeitskräfte ausgefallen waren. In der Schweiz gab er später an, dass er sich damals für eine kaufmännische Schulbildung interessiert hätte. Allerdings sei ihm das vom Arbeitsamt nicht gestattet worden und stattdessen sei er einem Bauern in Lochau namens Johann Sinz als Knecht zugeteilt worden. In den Wintermonaten der Jahre 1941 und 1942 besuchte er nebenbei landwirtschaftliche Schulkurse, die er aber nicht mehr vor Beginn des Wehrdiensts abschloss. Bei der Mutter verblieben waren zu diesem Zeitpunkt wohl nur mehr die Tochter Theresia Berlinger und der jüngste Sohn Adalbert. Kurt Müller, der zum Zeit40 Oswald Überegger, Im Schatten des Krieges. Geschichte Tirols 1918–1920, Paderborn 2019, 175–176. 41 Gendarmerieposten Hörbranz an die Kriminalabteilung für Vorarlberg, Müller Erwin aus Hohenweiler, Aufenthaltsermittlung, 15. 3. 1946. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 42 Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250.

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punkt des „Anschlusses“ im März 1938 16 Jahre alt war, sagte vor den Schweizer Behörden aus, dass er in der Hitlerjugend (HJ) gewesen war, allerdings „nie mit rechter Begeisterung“.43 Auch vom jüngeren Fritz Müller ist eine HJ-Mitgliedschaft anzunehmen. Im Zusammenhang mit der späteren Flucht der drei sind auch der ältere Halbbruder Arnold Berlinger und dessen Familie relevant. Berlinger verehelichte sich 1936 in Bludenz mit Maria Fetz und hatte mit dieser einen Sohn.44 Im Mai 1938 pachtete er von Johann Bachmann eine Metzgerei in Bürs.45 Anfang Juni verlegte die Familie ihren Wohnsitz von Wolfurt-Rickenbach nach Bürs.46 Im November übersiedelte sie schließlich in die Nachbargemeinde Nüziders.47 Es ist denkbar, dass Erwin Müller seine Metzgerlehre bei seinem Halbbruder antrat, auch wenn er in den Melderegistern von Bürs und Nüziders für die damalige Zeit nicht aufscheint. Allerdings hatte er in Nüziders eine Freundin namens Lina Dressel.48 Das spricht doch dafür, dass er häufig in der Gegend war und möglicherweise auch die nahen Berge des Rätikons kannte. An dieser Stelle bietet sich ein Vergleich mit dem in der Einleitung genannten Südtiroler Johann Pircher an, dessen Familienhintergrund einige Parallelen aufweist. Pircher, geboren 1924, im selben Jahr wie Fritz Müller, stammte aus Laas im Vinschgau aus einer ärmlichen Bauernfamilie mit fünf Kindern. Nach dem frühen Tod seiner Mutter wuchs er bei fremden Bauern als unbezahlter Knecht auf. Wie die Brüder Müller besuchte auch Pircher nur die Volksschule. Erschwerend kam in Südtirol allerdings dazu, dass die Faschisten deutschsprachige Schulen verboten hatten und er folglich seine gesamte Schulbildung in einer Fremdsprache absolvieren musste. Wie die Brüder Müller war auch Pircher bis zu seinem Wehrdienst als Landarbeiter tätig. Im Zuge der sogenannten „Option“ 1939 entschied sich der Vater für Deutschland; ein Schritt, der den minderjährigen Sohn ebenfalls band. Insgesamt stimmte eine klare Mehrheit der deutschen Südtirolerinnen und Südtiroler für die Umsiedlung nach Deutschland, unter den ärmeren Schichten war das Votum für das Fortgehen aber besonders ausgeprägt. Da sich die tatsächliche Umsiedlung verzögerte, wurde

43 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Kurt Müller, 4. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 44 Taufbuch Reuthe, fol. 141; Bludenzer Anzeiger, 17. 6. 1939, 6. 45 Bludenzer Anzeiger, 21. 5. 1938, 12. 46 Gemeindearchiv Bürs, Meldekartei, Arnold Berlinger, 1938. 47 Gemeindearchiv Nüziders, Meldekartei, Arnold Berlinger, 1938–[1946?]. 48 Wehrmachtsstandortältester von Bregenz an das Gericht der Division Nr. 188 Innsbruck, betr. Müller Erwin Obgfr., Müller Kurt Obgfr., Müller Fritz Jg. Fahnenflucht, 20. 10. 1943. BA-MA, Pers 15/146444, fol. 1.

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Pircher, wie viele andere Optanten seiner Generation, bei seiner Volljährigkeit 1943 direkt aus Südtirol in den deutschen Wehrdienst rekrutiert.49 Es ist natürlich spekulativ darüber zu sinnieren, ob der familiäre Hintergrund und die soziale Lage in den Fällen Müller und Pircher die spätere Desertion beeinflussten. Dazu bedürfte es, wie einleitend angemerkt, eines noch zu erhebenden Sozialprofils der Deserteure aus dem Raum Vorarlberg und Tirol. Vermutlich begünstigten aber die Tatsache geringer örtlicher Bindung (keine eigenen Kinder, kein Grund- oder Unternehmenseigentum) sowie die wenig gefestigte Berufssituation (überwiegend Tätigkeiten als Hilfsarbeiter) die Entscheidung zur späteren Flucht in die Schweiz.

II.

Militärischer Erfahrungsraum: Leningrad und Eismeer

Im Quellenmaterial, das für diese Fallstudie herangezogen wurde, finden sich nur rudimentäre Angaben zum Wehrdienst, zumeist aus offiziellen Unterlagen. Wir wissen also nichts über Einstellungen und Gefühle der Brüder Müller in Bezug auf das Militär, beispielsweise zu „soldatischen Tugenden“ oder „Kameradschaft“, und wie sich diese Vorstellungen im Kriegsverlauf veränderten. Wir wissen auch nicht, inwiefern sie NS-spezifische Ideologeme und Konzeptionen vom Krieg, etwa als Kampf gegen „jüdisch-bolschewistische Gefahr“ oder als „Rassenkrieg“, teilten. Auch wenn wir dazu keine Aussagen kennen, so ist nicht anzunehmen, dass die Brüder gänzlich unbeeinflusst von derartigen Sinngebungen waren. Der Krieg traf die Familie Berlinger-Müller stark. Mindestens sechs der sieben Söhne mussten Wehrdienst leisten. Nach derzeitigem Kenntnisstand fielen zwei – Walther Berlinger und Adalbert Müller.50 Einer der ersten, die einrücken mussten, war der junge Familienvater Arnold Berlinger, dessen Wehrdienst am 4. März 1940 begann.51 Einen Monat später folgte ihm Erwin Müller. Beim Polizeiverhör in Buchs gab Müller an, dass er sich zuvor freiwillig zur Ordnungspolizei gemeldet hatte.52 Mit einer derartigen Meldung könnten zwei Hoffnungen verbunden gewesen sein: Zum einen mochte der Polizeidienst einen gewissen 49 Carlo Romeo/Leopold Steurer, Vom Borbera-Tal über Fossano ins Vinschgau. Ein Spaziergang mit dem Fall des Partisanen Pircher im Kopf, in: Lazagna, Der Fall, 9–50, 15–16. 50 Taufbuch Reuthe, fol. 153. Adalbert Müllers Tod geht aus einem Tagebuchbericht der Kriminalabteilung Vorarlberg vom 4. Dezember 1949 hervor. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 51 Gemeindearchiv Nüziders, Meldekartei, Arnold Berlinger, 1938–[1946?]. 52 Die Angaben zu den militärischen Stationen sind der Polizeilichen Einvernahme am 14. 10. 1943 am Polizeiposten Buchs entnommen und wurden mit den Angaben im Soldbuch abgeglichen.

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sozialen Aufstieg versprechen, zum anderen waren Ordnungspolizisten grundsätzlich von der Wehrpflicht freigestellt. Am 15. April 1940 musste Erwin Müller zur Ausbildung zum Polizeidienst einrücken. Er kam zuerst nach Wiener Neustadt zur Grundausbildung, anschließend wurde die Ausbildung an der Polizeischule Heidenheim an der Brenz, nahe Ulm, fortgesetzt. Eine mögliche Hoffnung, vom Kriegsdienst freigestellt zu werden, zerschlug sich spätestens jetzt. Zwar blieb Müller nominell Ordnungspolizist, im Juni 1940 wurde er allerdings an die Artillerieschule Jüterbog bei Berlin versetzt und dort etwa zwei Monate lang zum Kanonier ausgebildet. Diese Ausbildung, die jener beim Heer entsprach, diente der Vorbereitung seiner Eingliederung in das neuaufzustellende Polizeiartillerieregiment, das Teil der SS-Polizeidivision werden sollte.53 Bis Sommer 1940 bestand die Polizeidivision, die in die reguläre Heeresorganisation eingegliedert war, zum einen aus Ordnungspolizisten und zum anderen aus einem Artillerieregiment und einer Nachrichtenabteilung des Heeres. Im Juni 1940 hatte sie am Westfeldzug teilgenommen. Die beiden Heereselemente wurden im Sommer 1940 herausgelöst und durch eigens aufgestellte Polizeieinheiten, darunter das genannte Polizeiartillerieregiment, dem Erwin Müller zugeteilt wurde, ersetzt. Den nominellen Zusatz „SS“ erhielt die Polizeidivision gerade in diesem August 1940, als Müller seine Ausbildung absolvierte, auf ausdrücklichen Wunsch des Chefs der deutschen Polizei, Reichsführer-SS Heinrich Himmler. Himmler lag daran, die von ihm im November des Vorjahres erdachte „WaffenSS“ symbolisch zu stärken. Zum damaligen Zeitpunkt handelte es sich aber keineswegs um eine Gliederung der SS, sondern um eine reine Polizeieinheit. Nach seiner Ausbildung erhielt Müller im September erstmals Heimaturlaub und besuchte seine Familie in Hohenweiler.54 In den folgenden Monaten war die SSPolizeidivision als Besatzungstruppe im Raum um Paris eingeteilt. Im Juni 1941 wurde sie nach Ostpreußen verlegt und machte den deutschen Überfall auf die Sowjetunion mit. Über Litauen und Lettland erreichte die SS-Polizeidivision Anfang August die russische Stadt Luga, etwa 120 km südlich von Leningrad (St. Petersburg). Dort erlebte Erwin Müller seinen ersten Fronteinsatz. Die Kämpfe um Luga gingen mit schweren eigenen Verlusten einher.55 Bis Anfang September soll die Division etwa 1.000 Gefallene und 2.000 Verwundete bei einer 53 Zur Entstehung der Polizeidivision und ihrem Zusammenhang mit der Waffen-SS siehe Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933–1945, Paderborn 1982, 127. Die weiteren Ausführungen zur SS-Polizei-Division entstammen im Wesentlichen dem Artikel SS-Polizei-Division/Kampfgruppe SS-Polizei-Division/Kampgruppe Bock, Internetportal Lexikon der Wehrmacht (o. O. u. J.), URL: https://www.lexikon-der-wehrmacht.de/Glie derungen/SS-Divisionen/SSDivPolizei.htm (abgerufen 10. 6. 2022). 54 Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985#196#2250. 55 Vgl. Jeff Rutherford, Combat and Genocide on the Eastern Front. The German Infrantry’s War, 1941–1944, Cambridge 2014, 115–150.

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damaligen Sollmannschaftsstärke von ungefähr 15.000 verzeichnet haben. Nach einem Rückzug der Roten Armee aus Luga konnte die Division schon kurz darauf bis Leningrad vorrücken. In den nächsten Monaten waren Müller und seine Einheit Teil des Belagerungsrings um Leningrad. Die mehrjährige deutsche Belagerung dieser Stadt war von erschreckender Brutalität und hatte als Teil des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs gegen die sowjetische Zivilbevölkerung genozidalen Charakter. In den Jahren der Belagerung von 1941 bis 1944 verloren zwischen 1,6 und 2 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger ihr Leben in und um die Stadt Leningrad.56 Es sind keine Aussagen von Müller zu diesen Ereignissen dokumentiert. Der Südtiroler Pircher, der 1943 eingezogen wurde, war mit seiner Einheit ebenfalls Teil der Belagerung Leningrads.57 Anfang Februar 1942 wurden die Angehörigen der SS-Polizeidivision formal in die SS aufgenommen und erhielten die entsprechenden Rangbezeichnungen zugeteilt. Für Erwin Müller ging die Eingliederung mit der Beförderung zum SSSturmmann (Gefreiter) einher. Im gleichen Monat zog die SS-Polizeidivision von Leningrad Richtung Südosten an den Wolchow ab, wo sie in der dortigen Kesselschlacht erneut massive Verluste erlitt. Im April wieder nach Leningrad zurückverlegt, wurde Erwin Müller verwundet. Von 30. April bis 29. Mai 1942 lag er mit Verbrennungen ersten und zweiten Grades an Torso und Hals in einem Ortslazarett. Am 8. August 1942 erhielt er die Ostmedaille, am 7. September das Verwundetenabzeichen in Schwarz und am 9. September das Eiserne Kreuz II. Klasse verliehen. Im Jänner 1943 wurde die Division von Leningrad abgezogen, um deutsche Truppen aus der umschlossenen Stadt Schlüsselburg am Ladogasee, östlich von Leningrad, freizukämpfen, was nicht gelang. Im April befand sich die Division erneut im Raum Leningrad. Zu diesem Zeitpunkt war sie de facto schon mehrmals beinahe aufgerieben worden. Trotz wiederholter Zuführung von Ersatztruppen wies sie nur mehr gut ein Drittel der Mannstärke vom Sommer 1940 auf. Als Kanonier stand Müller vermutlich nicht immer an vorderster Front, dennoch war angesichts der enormen Verluste sein Überleben bis dorthin mehr oder weniger Zufall. Im Mai 1943 erhielt er das Sturmabzeichen und mit Monatsbeginn September die Beförderung zum SS-Rottenführer (Obergefreiter). Zwei Wochen darauf, am 15. September, erhielt er einen Urlaubsschein auf zwanzig Tage ausgefertigt. Der Schein berechtigte zum Heimaturlaub in Hohenweiler und in Bludenz. Die Abfahrt am Hauptumsteigebahnhof Tauroggen in Litauen war für den 18. September festgelegt, die Ankunft am selben Bahnhof für den 12. Oktober.58 56 Richard Bidlack/Nikita Lomagin, The Leningrad Blockade, 1941–1944. A New Documentary History from the Soviet Archives, New Haven-London 2011, 1. 57 Romeo/Steurer, Vom Borbera-Tal, 16–17. 58 Kriegsurlaubsschein, 15. 9. 1943, Beilage zum Soldbuch, Erwin Müller. BAR, E4264#1985 #196#2250.

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Kurt Müller rückte im Februar 1941 zum Gebirgsartillerieersatzregiment 111 in Hall in Tirol ein.59 Nach der Ausbildung, die bis August dauerte, wurde er dem Gebirgsartillerieregiment 118 zugeteilt, das zur 6. Gebirgsdivision gehörte. Anders als Erwin hatte Kurt Müller damit eine für einen Vorarlberger typische „Wehrmachtskarriere“. Besonders im Wehrkreis XVIII, der die Reichsgaue Tirol und Vorarlberg, Salzburg, Kärnten und Steiermark umfasste, wurde die Mehrzahl der Wehrpflichtigen in die Formationen der Gebirgstruppe rekrutiert.60 Die 6. Gebirgsdivision hatte zu diesem Zeitpunkt schon Einsätze in Frankreich und Griechenland hinter sich. Im Sommer 1941, als Kurt Müller zu ihr stieß, wurde sie in Österreich wieder aufgefüllt und ging anschließend Richtung Finnland ab. Die Division war in den folgenden Jahren bis Kriegsende durchgehend im Raum Lappland–Murmansk–Eismeerküste eingesetzt. Nach seiner Aussage im Oktober 1943 in Buchs kam Kurt Müller mit seinem Regiment nach Petsamo, damals in Nordfinnland gelegen, heute ein Teil Russlands, einem wichtigen Wehrmachtsstützpunkt im Norden. Aus den Wehrunterlagen geht weiters hervor, dass er am 1. Februar 1942 zum Gefreiten befördert wurde und im August desselben Jahres zu einem Erholungsurlaub nach Hohenweiler zurückkehren konnte. Ein Jahr darauf, am 1. August 1943, wurde er zum Obergefreiten befördert. Im September 1943 erhielt er 24 Tage Erholungsurlaub im Heimatgebiet zuerkannt. Die Fahrscheine wurden am 10. September ausgefertigt. Am nächsten Tag reiste er nach Vorarlberg ab. Fritz, der dritte Bruder, musste am 7. Dezember 1942 einrücken.61 Wie Kurt kam auch er zur Gebirgstruppe, und zwar zum Ausbildungsbataillon des Gebirgsjägerersatzregiments 136 in Landeck, das der Division 188 unterstellt war. Nach der Ausbildung wurde er im April 1943 dem Marschbataillon 106 zugeteilt, einem Ersatzbataillon, das zur Auffrischung der 3. Gebirgsdivision in den Donbass gesendet wurde. Laut seiner Aussage in der Schweiz war er bis Mitte Juli 1943 an der Mius-Front eingesetzt und dort wohl direkt der Division zugeteilt. Zu diesem Zeitpunkt wurde er wegen einer ernsten Entzündung am Knie in ein Lazarett in Woroschilowsk (heute Altschewsk im ukrainischen Oblast Luhansk) verlegt, wo er operiert wurde. Von dort kam er über weitere Lazarette in Stalino (heute Donezk), Kiew und Lemberg schließlich in das Lazarett Bernkastel an der Mosel. Am 10. September erhielt er insgesamt 28 Tage Urlaub zuerkannt und reiste sofort nach Hause. 59 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Kurt Müller, 14. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250; Soldbuch, Kurt Müller. Ebd. 60 Johannes Kramer/Peter Pirker, Die „Alpensöhne“ im Zweiten Weltkrieg. Schlaglichter auf die Wehrmacht im Reichsgau Tirol und Vorarlberg und die Tiroler in der Wehrmacht, in: Matthias Egger (Hg.), „… aber mir steckt der Schreck noch in den Knochen.“ Innsbruck zwischen Diktatur, Krieg und Befreiung 1933–1945, Innsbruck 2020, 139–172. 61 Soldbuch, Fritz Müller. BAR, E4264#1985#196#2250.

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Bei ihrer späteren Einvernahme in Buchs gaben alle drei Brüder unisono die Aussichtslosigkeit der militärischen Lage Deutschlands als primären Beweggrund für die Entscheidung zur Desertion an. Aufgrund der rudimentären Angaben in den Polizeiprotokollen und in den Soldbüchern lässt sich nicht feststellen, was sie an ihren jeweiligen Fronten tatsächlich erlebten, inwiefern sie Kriegsverbrechen beobachtet oder gar an diesen teilgenommen hatten. Wir wissen auch nicht, wie sie sich zu diesen Ereignissen verhielten. Klar ist aber, dass die Art der Kriegsführung sich gerade an der Ostfront massiv gegen die dortige sowjetische Zivilbevölkerung richtete. Es ist kaum anzunehmen, dass diese Tatsache den Brüdern – vor allem Erwin und Fritz Müller – nicht bewusst war. Hinzu kamen Verletzungen, Verstümmelungen und Sterben der eigenen Kameraden. Erwin und Fritz waren selbst verwundet worden. Die eingangs zitierte Aussage Fritz Müllers, er wolle sein Leben nicht lassen oder als Invalider fristen, bezieht sich auf die Schrecken der Fronterfahrung.

III.

Erfahrungsraum Grenzgebiet I: Der Fluchtakt

Dass die drei Brüder zur gleichen Zeit Heimaturlaub gewährt bekommen hatten, war ein Zufall. Zu diesem Zeitpunkt leisteten noch drei weitere Brüder Wehrdienst, nämlich Walter und Arnold Berlinger sowie Adalbert Müller. Letztere beide waren in Hall in Tirol und Innsbruck stationiert. Fritz Müller traf im September als erster zuhause in Hohenweiler ein. Kurz darauf folgten Erwin und Kurt. Der Entschluss zur Desertion und Flucht in die Schweiz dürfte nicht sofort, sondern erst relativ spät, gegen Ende des Urlaubs, erfolgt sein. Während Fritz und Kurt Müller ihren Heimaturlaub überwiegend in Hohenweiler verbrachten, reiste Erwin regelmäßig nach Nüziders, um dort seine Schwägerin Maria Berlinger und seine Freundin Lina Dressel zu besuchen. Etwa zur Mitte ihres gemeinsamen Heimaturlaubs wurde Vorarlberg zum ersten Mal Ziel eines schweren Luftangriffs. Am 1. Oktober warfen amerikanische Flugzeuge Bomben über Feldkirch ab. Mindestens 171 Personen verloren dabei ihr Leben.62 Zwar vertuschte die lokale Propaganda zuerst das Ausmaß des Luftangriffes, der Sicherheitsdienst der SS vermerkte in seinem Bericht vom 5. Oktober dennoch die extrem negativen Auswirkungen auf die Stimmung der Bevölkerung: „Der Terrorangriff auf Feldkirch, als erster Stadt des Gaues, hat bei den Volksgenossen eine schockartige Wirkung ausgelöst […] Auf einen Schlag ist die Sorglosigkeit, die weite Kreise der Bevölkerung auch trotz der Alarme der letzten Tage immer wieder an

62 Thomas Albrich, Luftkrieg über der Alpenfestung 1943–1945. Der Gau Tirol-Vorarlberg und die Operationszone Alpenvorland, Innsbruck 2014, 33, 38.

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den Tag legten, einer Angst gewichen, dass nun weitere Städte des Gaues das Angriffsziel der feindlichen Bomben sein werden.“63

Es ist denkbar, dass dieses Ereignis die Fluchtpläne der Brüder befeuerte und sie in ihrer Ansicht bestärkte, dass der Krieg, der sie bis in die Heimat verfolgt hatte, verloren war. „Wenige Tage bevor Fritz wieder hätte einrücken sollen, besprachen wir drei den Entschluss, nach der Schweiz zu desertieren“, gab Erwin in Buchs zu Protokoll.64 Nicht zu unterschätzen ist auch die Tatsache der Geografie: Die nahe, friedliche Schweiz lag als Antithese zu den eigenen Kriegserlebnissen direkt vor der Haustüre. Von Hohenweiler ist die Grenze nur 15 km Luftlinie entfernt und die nahen Schweizer Berge sind sichtbar. Anders als an der Ostfront bot sich hier die Möglichkeit zur Flucht in ein neutrales Land. Die Deadline für eine gemeinsame Flucht setzte die Tatsache, dass Fritz Müller am Samstag, den 9. Oktober, in Landeck bei seinem Ersatztruppenteil einrücken musste. Zugleich bot diese Einrückung aber auch ein Alibi für eine Zugfahrt von Hohenweiler Richtung Arlberg. Ihre Angehörigen weihten sie nicht in ihren Plan ein, zumindest behaupteten sie das später. Den eigentlichen Ablauf der Flucht schilderten die drei Brüder bei ihrer polizeilichen Einvernahme übereinstimmend. Dieser deckt sich auch weitestgehend mit den Ermittlungen des Standortältesten der Wehrmacht in Bregenz. Am 6. Oktober, einem Mittwoch, fuhr Erwin Müller von Nüziders nach Hohenweiler. Er erklärte dort, dass er vor seiner Rückreise an die Front, die Anfang der kommenden Woche anstand, noch einmal in Nüziders vorbei wolle, um sich zu verabschieden. Am Freitag, den 8. Oktober, reiste er in Uniform und mit einem Koffer ab. Im Koffer hatte er offenbar Zivilkleidung für sich und seine beiden Brüder. Am Vormittag des nächsten Tages, Samstag, den 9. Oktober, nahmen auch Fritz und Kurt den Zug Richtung Bludenz. Fritz gab vor, nach Landeck zu seiner Ersatztruppe einzurücken – Kurt behauptete, seinen Bruder dorthin zu begleiten. Beide fuhren aber nur bis Nüziders, wo sie vermutlich zur Mittagszeit mit Erwin zusammentrafen. Was sich in den nächsten 36 Stunden genau zutrug, lässt sich nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Der Bericht des Standortältesten der Wehrmacht vom 20. Oktober 1943 enthält folgende Darstellung: „Wie durch den Gendarmeriekreis-Posten Bludenz festgestellt werden konnte, hielten sich die drei Brüder bis zum Sonntag, den 10.10.43, 23 Uhr bei Familie Berlinger in Nüziders 143 und bei Lina Dressel in Nüziders 144 auf. Vor dem Weggang äußerte Kurt 63 Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS, SD-Abschnitt Innsbruck, Allgemeine Stimmung und Lage, Innsbruck 5. 10. 1943. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Reichsstatthalter in Wien, Hauptbüro Schirach. 64 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Erwin Müller, 4. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250.

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Müller, er fahre nach Hall i.T., wo er den Arnold Berlinger in der Kaserne besuchen werde. Fritz Müller sagte, er müsse nach Landeck Montag früh einrücken und Erwin Müller solle Montag früh in Lindau sein.“65

Davon abweichend gab Fritz Müller in Buchs an, dass sie in einem Gasthaus nahe Bludenz übernachtet hätten.66 Ein bemerkenswertes Detail fehlt allerdings in beiden Schilderungen – Erwin machte sich noch am Samstag nach Innsbruck auf. Zu entnehmen ist dies einem Brief, den Adalbert Müller am 10. Oktober an seine Mutter in Hohenweiler schrieb: „Wir haben am Samstag Ausgang gehabt, da war ich in Hall aber Arnold [den Bruder, Anm.] habe ich keinen gefunden […] Als wir heim kamen [nach Innsbruck, Anm.], ging ich in die Kantine was Essen, auf einmal stoßte mich jemand da schaute ich um, wer war es, Erwin, ganz erstaunt war ich, dann gingen wir den Hof hinaus und dann sagte er es mir. Er ist dann ganz verrückt geworden, aber ich war ganz übergeschnappt. Ich ging nicht mit. Bin sehr gespannt, wie die das machen.“67

Erst in einer Einvernahme 1949 erwähnt Erwin Müller seine Fahrt nach Innsbruck, um seinen Bruder Adalbert zu holen.68 Anders als seine drei Brüder verfügte der sich in der Grundausbildung befindende Adalbert noch nicht über Fronterfahrung. Er hatte auch keine Zeit gehabt, sich mit dem Gedanken an eine Fahnenflucht auseinanderzusetzen, sondern wurde von Erwin damit überrumpelt. „Der Bruder Adalbert wollte von einer Desertation nichts wissen oder besser gesagt, er getraute sich nicht und fuhr daher nicht mit mir nach Nüziders.“69 Noch am selben Tag oder spätestens am Sonntag, den 10. Oktober, traf Erwin Müller wieder in Nüziders ein. Am Sonntag, kurz vor Mitternacht, brachen die drei Brüder in das nahe Rellstal auf, ein unbewohntes alpines Tal, das durch das Rätikon-Gebirge bis an die Schweizer Grenze führt. Das Schweizertor, den Gebirgspass am Ende des Rellstals, überschritten sie allerdings erst am Mittwoch, den 13. Oktober. Vom Bahnhof in Bludenz bis zum Eingang in das Rellstal in der Montafoner Gemeinde Vandans ist es bereits auf den Hauptverkehrswegen ein gut zweistündiger Fußmarsch von etwa zehn Kilometer. In dieser ersten Nacht kamen sie wohl kaum weiter als bis zum Eingang des Rellstals. Dass dieses sich als Fluchtweg eignen würde, hatten sie nach eigenen Angaben einer Karte ent65 Wehrmachtsstandortältester von Bregenz an das Gericht der Division Nr. 188 Innsbruck, betr. Müller Erwin Obgfr., Müller Kurt Obgfr., Müller Fritz Jg. Fahnenflucht, 20. 10. 1943. BA-MA, Pers 15/146444, fol. 1. 66 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Fritz Müller, 14. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 67 Adalbert Müller an Maria Berlinger, Brief vom 10. 10. 1942 (Abschrift vom 18. 2. 1944). BAMA, Pers 15/146444, fol. 12. 68 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1. 12. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 69 Ebd.

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nommen. Es war allerdings keineswegs ein ungefährlicher Weg. Zum einen handelt es sich um hochalpines Gelände – das Schweizertor befindet sich auf 2.137 m. ü. A. – zum anderen querten sie bewachtes Sperrgebiet. Ein Alpinistenblatt hatte schon 1940 folgendes berichtet: „Im Interesse des Grenzschutzes ist es unvermeidlich, daß Teile der Vorarlberger Wintersportgebiete im Rätikon und in der Silvretta in Sperrbereiche fallen und sowohl für Wintersportgäste wie für Einheimische verboten sind. […] Gesperrt […] sind Douglashütte–Lünersee–Schesaplana und die Übergänge von dort ins Rells- und Gauertal, also auch die beliebte Rundfahrt über Verajoch–Schweizertor–Ofenpaß70–Lindauerhütte. Im Rellstal darf zwar das Rellshüsli und engste Umgebung besucht werden, da aber seine Hauptskigebiete, die Täler Lün und Salonien, gesperrt sind, desgleichen die Übergänge zum Lünersee und Gauertal, so ist diese Freigabe praktisch bedeutungslos, zumal das Rellshüsli selber von einer starken Grenzschutzwache belegt ist.“71

Da sich die drei nur in der Dunkelheit fortbewegen konnten, ist es verständlich, weshalb sie für die etwa elf Kilometer Wegstrecke vom Taleingang bis zum Schweizertor zwei weitere Nächte benötigten. Es ist anzunehmen, dass sie die bekannten Wege und die Alphütten mieden, auch wenn letztere zu dieser Jahreszeit wohl bereits verlassen waren. In der dritten Nacht, am 13. Oktober, um etwa fünf Uhr früh, erreichten sie das Schweizertor. Kurz nach dem Grenzübertritt versteckten sie ihre Uniformen und ihre drei Militärpistolen samt drei Dutzend Schuss Munition unter einem großen Stein. Wie aus der Aussage von Kurt Müller hervorgeht, wanderten sie noch einige Kilometer nach Graubünden hinein, ehe sie nahe der Ortschaft Schuders auf eine schweizerische Streife trafen und sich dieser stellten: „Wir wanderten nur während der Nacht und am Tag hielten wir uns versteckt. Aus diesem Grund kamen wir nur langsam vorwärts. Zwischen 0500 und 0600 passierten wir ungehindert Mittwoch, den 13. ac. die deutsch-schweiz. Grenze. Vor Schuders sprachen wir mit 2 Schweizersoldaten.“72

IV.

Erfahrungsraum Internierungslager

„Überall, in jedem Bergdorf, trifft man heute Soldaten in fremden Uniformen an, einzeln, in Gruppen oder in ganzen Lagern, an der Arbeit, auf dem Spaziergang, beim Sport“, so begann ein Artikel zu „Internierung und Asylrecht“ in einer schweizerischen Zeitschrift im März 1945.73 Der Artikel pries die Leistungen des 70 Recte: Öfapass. 71 Allgemeine Schutzhütten-Zeitung 12 (Februar 1940) 2, 2. 72 Kantonspolizei St. Gallen Posten Buchs 2, Polizeiliche Einvernahme des Kurt Müller, 14. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 73 Walter Jäger, Internierung und Asylrecht, in: Die Neue Schulpraxis 15 (1945) 3, 97–108, 97.

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Landes in der Beherbergung von Zivilflüchtlingen und fremden Militärangehörigen – die meisten davon in Lagern interniert. Es müsse festgehalten werden, „dass unseren Bewachungstruppen lange nicht alle Flüchtlinge gleich viel zu schaffen geben. Es kommt auf die Nationalität der fremden Soldaten an“, hieß es weiter. Während die unter eigenem Kommando stehenden polnischen Soldaten als vorbildlich beschrieben werden, würden „gewisse Internierte sich ziemlich rebellisch und widerspenstig verhalten“.74 Welche Nationen dem Autor als besonders aufsässig galten bleibt unklar. Deserteure der Wehrmacht waren aus Sicht der schweizerischen Behörden jedenfalls problematisch.75 In rechtlicher und organisatorischer Hinsicht unterschied die Schweiz unter den fremden Militärangehörigen vier Hauptgruppen: 1.) die eigentlichen Internierten im Sinne des Haager Abkommens76, d. h. vor allem fremde Soldaten, die der Gefangennahme durch Flucht entgehen wollten; 2.) Militärhospitalisierte, die sich auf Zeit zur medizinischen Behandlung in der Schweiz aufhielten; 3.) entwichene Kriegsgefangene; 4.) Deserteure. Bei Letzteren handelte es sich nach schweizerischer Definition um „Wehrmänner, die, während sie unter den Fahnen standen, unerlaubt ihre Einheit verlassen haben […]“.77 Das Haager Abkommen über die Pflichten neutraler Mächte sah für diese letzte Gruppe keine Regelung vor. Die Schweiz gewährte Deserteuren dennoch eine Form des Asyls, auch nachdem sie ab 1942 ihre Politik gegenüber ausländischen Flüchtlingen massiv verschärft hatte. Eine Weisung der Polizeiabteilung vom 26. September 1942 verfügte die Ausweisung illegal einreisender Ausländer, wovon allerdings Ausnahmen zu machen waren, so bei „Deserteure[n], sofern sie sich durch Uniformstücke, durch ein Soldbuch oder irgend einen andern Ausweis als solche legitimieren“.78 In einem Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements von 1950 (sogenannter „Bericht Schürch“) hieß es: „Die Deserteure, deren Zahl […] gering war und während des ganzen Krieges nie ein ausserordentliches Ausmass annahm, wurden interniert.“79 Tatsächlich wurden Deserteure erst ab 1942 in Lagern interniert und militärisch bewacht – bis dahin waren die wenigen einzeln Bauern zur Arbeit zuge-

74 Ebd. 75 Zur Schweiz als Fluchtziel für deutsche Deserteure siehe Koch, Fahnenfluchten, 44–54. 76 Artikel 11. Übereinkommen vom 18. Oktober 1907, betreffend die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkrieges (V. Übereinkommen der II. Haager Friedenskonferenz). Reichsgesetzblatt Nr. 181/1913. 77 O[scar] Schürch, Die Schweiz und die Flüchtlinge, Das Rote Kreuz 53 (1945) 23, 189–192, 191. 78 Zit. n. Eidg. Justiz- und Polizeidepartement, Das Flüchtlingswesen in der Schweiz während des zweiten Weltkrieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1933–1950 (Bericht Schürch), o. O. 1950, 18. BAR, E4260C#1995/54#6*. Forthin als Bericht Schürch 1950 zitiert. 79 Bericht Schürch 1950, 9.

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wiesen worden.80 Die Internierung sei „in erster Linie eine polizeiliche, innenpolitische Schutzmassnahme“ gewesen, so ein zeitgenössischer Bericht des Eidgenössischen Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung. Und zwar weil es sich bei den Deserteuren um eine „Kategorie“ von Personen gehandelt habe, „bei der die anständigen ‚Gesinnungs-Flüchtlinge‘ leider in der Minderzahl war“. Laut diesem Bericht habe es sich zu einem Drittel um „kriminelle Elemente“ und zu einem weiteren Drittel um „moralisch schwache oder verlotterte Existenzen“ gehandelt. Nur das letzte Drittel habe sich „durch anständiges Betragen und ihre Arbeitsleistungen unsere Achtung“ erworben.81 Sehr deutlich zeigt sich, dass fremde Deserteure in der Schweiz grundsätzlich als verdächtig galten und ihnen unter allen Militärinternierten vermutlich das größte Misstrauen entgegenschlug. Nichtsdestotrotz unterschied sich in der Praxis die Unterbringung und Behandlung wenig von jener der anderen Flüchtlingsgruppen. „Die Schweiz sollte vor politischer und, was in den Augen der fremdenfeindlichen Nationalisten noch schlimmer gewesen wäre, vor sozialer Ansteckung – vor ‚kultureller Destabilisierung‘ – bewahrt werden“, so der Historiker Georg Kreis.82 Ab 1940 wurden Militärinternierte generell zu landwirtschaftlichen Arbeiten abkommandiert. Massenhaft geschah das im Zuge der sogenannten „Anbauschlacht“ ab 1942. Bei äußerst bescheidener Entlohnung – im Oktober 1943 betrug der Tageslohn zwei Franken, im Akkord maximal fünf – hatten sie unter der Woche neun und am Samstag fünf Stunden zu arbeiten.83 Die Zahlen stammen aus Forschungen zu polnischen Militärinternierten, aber es ist wohl davon auszugehen, dass für Deserteure gleiches galt.84 Das Kommissariat für Internierung und Hospitalisierung war bestrebt, Deserteure „möglichst dauernd in Arbeit“ zu setzen.85 Einerseits diente das der Kontrolle, andererseits erhielten diese im Gegensatz zu anderen Internierten keine finanzielle oder materielle Unterstützung durch ihr Heimatland, was ihre Situation besonders prekär machte und weshalb sie auf die geringen Tageslöhne angewiesen waren.86 Die Internierung und die damit verbundene Arbeitsdienstplicht mag von vielen Betroffenen wohl 80 Carl Ludwig, Die Flüchtlingspolitik der Schweiz in den Jahren 1933 bis 1955. Bericht an den Bundesrat zuhanden der eidgenössischen Räte (Bericht Ludwig publiziert), o. O. 1957, 190. BAR, E4001C#1000/783#2731*. 81 Schlussbericht des Eidg. Kommissariats für Internierung und Hospitalisierung (EKIH) über die Internierung fremder Militärpersonen 1940–1945, o.O. 1947, 97. BAR, E5791#1000/ 949#2560*. Forthin als Schlussbericht 1947 zitiert. 82 Georg Kreis, Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Innsbruck-Wien 2011, 138–139. 83 May Broda, Verbotene Beziehungen. Polnische Militärinternierte und die Schweizer Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkrieges am Beispiel des Internierten-Hochschullagers Herisau/St. Gallen, Ein Bericht, in: Appenzellische Jahrbücher (1991) 119, 7–61, 22. 84 Zivilflüchtlinge sollen, mit Stand Oktober 1942, nur zwischen einem und 1,80 Franken erhalten haben. Hoerschelmann, Exilland, 130. 85 Schlussbericht 1947, 97. 86 Bericht Schürch 1950, 81.

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mit einigem Recht als Zwangsarbeit empfunden worden sein. Die Verpflegung in den Lagern entsprach den Rationen der schweizerischen Armee und konnte von den Internierten selbst zubereitet werden. Zwar waren die Rationen größer als jene der Zivilbevölkerung, und damit auch der Zivilflüchtlinge, die Ernährung war wohl dennoch vielfach karg.87 Die Schweiz gewährte grundsätzlich nur desertierten Wehrmachtssoldaten Aufnahme, nicht jedoch SS-Angehörigen. Wie der Bericht Schürch festhielt, sorgte aber gerade die Beurteilung der Waffen-SS-Angehörigen für Probleme: „Schwieriger war der Entscheid bei der sogenannten Waffen-SS, indem dort eine Reihe von Ausländern durch Zwang in Deutschland eingegliedert worden waren. Zudem wurden in diesem Zeitpunkt auch alle neu rekrutierten Deutschen ohne weiteres in die Waffen-SS eingereiht.“88 Bei Angehörigen der Waffen-SS behielt sich der Bundesrat einen Einzelfallentscheid vor. Im Falle Erwin Müllers scheint zumindest in den überlieferten Akten kein derartiges Verfahren auf. Er dürfte ohne weitere Umstände als Deserteur anerkannt worden sein. Prinzipiell durchliefen alle fremden Militärpersonen bei ihrer Ankunft eine ähnliche Abfolge von Stationen: 1.) Aufnahme in einem Auffanglager (Sammellager); 2.) Transfer in ein Quarantänelager und 3.) die Verbringung in ein Interniertenarbeitslager.89 Die erste Station konnte auch nur wenige Stunden dauern oder gänzlich durch ein Verhör auf einem Polizeiposten ersetzt werden. In diesem ersten Schritt wurde abgeklärt, um welche Kategorie von Flüchtling – Zivilperson oder Militärangehöriger – es sich handelte.90 Die Brüder Müller wurden nach eigenen Angaben nach ihrem polizeilichen Verhör in Buchs und einer gewissen Zeit in Sargans zuerst am Dietschiberg bei Luzern interniert. Dort hatte der Nachrichtendienst der Schweizer Armee in einem ehemaligen Hotel ein Spezialinterniertenlager eingerichtet. Dieses wurde zur Befragung von Deserteuren genützt, von denen sich die Armee wertvolle militärische Informationen erhoffte.91 Fritz Müller gab 1949 an, dass sie sich dort für etwa vier bis fünf Wochen aufgehalten hätten.92 Am 29. Oktober wurden die drei Brüder, ge-

87 88 89 90

Broda, Verbotene Beziehungen, 20–21. Bericht Schürch 1950, 34. Schürch, Die Schweiz und die Flüchtlinge, 192. Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938–1945, Innsbruck 1997, 41. 91 May Broda, Die Agentenlinie „Mo“. Hans Eckert und der Nachrichtendienst der Schweizer Armee im Zweiten Weltkrieg, in: May Broda/Ueli Mäder/Simon Mugier (Hg.), Geheimdienste – Netzwerke und Macht. Im Gedenken an Hans Eckert, Basel 2015, 68–137, 77, 107. 92 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Fritz Müller, Feldkirch 30. 11. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49.

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meinsam mit acht weiteren deutschen Deserteuren, in das Lager Unterrealta nach Graubünden verlegt.93 Das Internierungslager Unterrealta war eines von mehreren in der Gemeinde Cazis, die nur wenige Kilometer südwestlich von Chur liegt. Das kleine Deserteurslager befand sich in der damaligen Poststelle, einem dreigeschossigen Gebäude, das wohl auch landwirtschaftlich genutzt wurde. Die weitaus größeren Lager in Cazis dienten der Internierung von Polen.94 In einer Liste deutscher Deserteure, datiert mit 1. Februar 1944, scheinen neben den Brüdern Müller nur noch vier weitere Deserteure, nämlich Albert Frielingsdorf (Jg. 1925), Traugott Maier (Jg. 1921), Franz Stürtz (Jg. 1905) und Karl Schmidt (Jg. 1911) in Unterrealta auf.95 Am 21. November 1943 schrieb Erwin Müller einen Brief aus Unterrealta an die Verwandten in Hohenweiler: „Vorerst recht herzl. Grüße aus dem Graubündnerland. Ich hoffe das es Euch allen gut geht was ich von uns auch berichten kann. Was macht Seppl96 und die Resl97? Ich habe schon lange nichts mehr gehört von Euch. Habt Ihr von Lini98 oder von der Marie99 auch schon Neuigkeiten? Und was schreibt Jeannine? Wir sind jetzt umgesiedelt ins Graubündnerland nach Unterrealta. In Luzern war es ja auch ganz schön. Ich bin fest am schnitzen sonst ist alles so ziemlich im alten. Nun will wieder langsam schließen mit tausend Grüßen von uns“

Eine Woche darauf folgte ein weiterer Brief: „Aus dem Graubündnerland die besten Grüße. Wir hoffen das es Euch gut geht was wir von uns auch mitteilen können. Weihnachten steht nun auch wieder vor der Tür. Hoffentlich bringt uns das Christkind bessere Zeiten. Wie geht es dem Bübi100? War er schon einmal auf Besuch bei Euch? Die Resl wird auch immer wohlauf sein. Habt Ihr unseren letzten Brief erhalten? Wir haben noch keine Antwort erhalten. Nun will ich für heute schließen in der Hoffnung bald wieder etwas von Euch zu hören. Nochmals recht liebe Grüße von uns allen.“

Beide Briefe wurden von der Gestapo konfisziert und dem Akt des Militärgerichts in Innsbruck beigelegt.101

93 Polizeiabteilung an die Direktion des Interniertenlagers Unter-Realta, Bern 28. 10. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 94 Schriftliche Mitteilung von Herbert Patt, Kulturarchiv Cazis, 23. 6. 2022. 95 Deutsche Deserteure, welche am 1. Februar 1944 vom eidg. Kommissariat für Internierte und Hospitalisierung übernommen werden (Liste). BAR, E4264#1985#196#2250. 96 Josef Berlinger. 97 Theresia Berlinger. 98 Lina Dressel, Nüziders. 99 Maria Berlinger, Nüziders. 100 Möglicherweise Adalbert Müller. 101 BA-MA, Pers 15/146444.

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Am 1. Dezember entwich Erwin Müller aus dem Lager und versuchte auf eigene Faust über die Grenze nach Vorarlberg zurückzukehren. Schon am nächsten Tag wurde er in Landquart gefasst. Bei seiner Einvernahme erklärte Müller, „er habe in Innsbruck seinen 17-jährigen Bruder holen wollen, der nach der Beendigung der militärischen Ausbildung an die Ostfront geschickt werde. Es selbst habe 2 Jahre dort gestanden, ohne zu wissen warum, daher habe er sich verpflichtet gefühlt, seinen jüngsten Bruder davor zu bewahren, sollte er nicht verloren sein.“

Müller wurde mit fünf Tagen Zellenarrest bestraft. Die Lagerleitung ging dennoch davon aus, „dass er weiterhin seinen Plan verfolgen und allenfalls nochmals eine Flucht zu diesem Zwecke versuchen wird“.102 Anfang Februar 1944, nach etwa drei Monaten in Unterrealta, wurden die drei Brüder in den Kanton Aargau in das Lager Stalden bei Bözberg verlegt. Dort wurden sie verschiedenen Bauern in der weiteren Umgebung zur Arbeitsleistung zugeteilt. Nach Aussage von Kurt Müller kam er selbst nach Eggenwiel, sein Bruder Fritz nach Effingen und Erwin nach Oberbözberg.103 Laut einem späteren Polizeibericht verließ Erwin Müller am 6. Juni 1944 seinen Arbeitsplatz im Aargau, „angeblich mit der Absicht, sich zu den Partisanen nach Österreich durchzuschlagen“.104 Wie wir heute wissen, unterblieben im Deutschen Reich, mit Ausnahme Kärntens, größere Partisanenaktivitäten.105 Auch äußerten weder Erwin noch seine Brüder in ihren späteren Aussagen eine solche Absicht. Erwin selbst gab 1949 nur Folgendes an: „Ende Mai oder Anfang Juni 1944 flüchtete ich neuerlich, wobei mir die Rückkehr nach Vorarlberg über das Schweizertor, die an einem mir nicht mehr erinnerlichen Tag erfolgte, glückte.“ Sein Bruder Fritz äußerte sich ausführlicher: „Vermutlich wegen Heimweh und aus Interesse, wie es zu Hause in Hohenweiler geht (wir hatten von dort keine Post erhalten) flüchtete der Bruder Erwin eines Tages aus dem Lager in Aargau. Er weilte um diese Zeit nicht im Lager selbst, sondern auf Außenkommando bei einem Bauern in der Umgebung beschäftigt […] Ich glaube mich auch zu erinnern, daß mich Erwin anläßlich seiner Flucht sogar kurz besuchte, da ich gleich ihm ebenfalls bei einem Bauern in der Umgebung arbeitete. Hierbei hat er mir wahrscheinlich auch gesagt, daß er den Rückweg ebenfalls wieder über das Schweizertor nehmen werde.“106

102 Lagerdirektion an die Polizeiabteilung Bern, 8. 12. 1943. BAR, E4264#1985#196#2250. 103 Gendarmeriepostenkommando Hörbranz, Vernehmungsniederschrift mit Kurt Müller, 22. 12. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 104 Grenzwachtkorps des III. Schweiz. Zollkreises Diepoldsau an Grenzwachtkommando III Chur, Nacherhebungen Mordfall Müller Erwin – Tschabrun, 25. 12. 1949. BAR, E4320B #1973/171119. 105 Pirker, Codename Brooklyn, 9. 106 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Fritz Müller, Feldkirch 30. 11. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49.

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Auch einem Freund erzählte er nach dem Krieg, „dass es ihm in der Schweiz nicht gut gefiel und dass er Heimweh gehabt habe“.107 Leider fehlen Details, wie Müller aus dem Aargau bis nach Graubünden an die dortige Grenze gelangt war. Auf den ersten Blick erstaunt die Wahl der Rückkehrroute. Der kürzeste Weg nach Hohenweiler hätte nämlich über Zürich und St. Gallen an den Rhein geführt. Müller war aber offenbar bestrebt, wieder über das Schweizertor nach Vorarlberg zu gelangen. Die Tatsache, dass die drei Brüder dort ihre Handfeuerwaffen versteckt hatten, dürfte mindestens so wichtig gewesen sein wie die vermeintliche Ortskenntnis. In Schiers, dem Ausgangsort für die Bergtour zum Schweizertor, irrte er sich zuerst im Weg. Einem Polizeibericht zufolge fiel den Einheimischen am 6. oder 7. Juni „ein junger Bursche mit österreichischem Dialekt“ auf, der nach dem Weg zum Schweizertor fragte.108 Es scheint klar, dass Erwin Müller auf eigene Faust handelte. Auch wenn er vielleicht selbst das Gerücht in die Welt gesetzt hatte, dass er sich Partisanen anschließen werde, so gibt es keinen Hinweis darauf, dass seine Rückkehr mit anderen Internierten oder gar Personen im Reich abgesprochen war. Anders war das im Fall des Südtirolers Pircher. Dieser desertierte im Juli 1944 aus einem Lazarett im badischen Müllheim, nördlich von Basel, und kam ebenfalls in ein Lager im Aargau.109 Dort wurde er im Herbst 1944 von einer Gruppe österreichischer Deserteure um Wilhelm Bruckner (1919–1972), der mit den schweizerischen und britischen Nachrichtendiensten in Verbindung stand, rekrutiert.110 Dass Müller ebenfalls Kontakt zu dieser Gruppe hatte, ist unwahrscheinlich, da Bruckner zwar ab Mai 1944 erste Vorarbeiten leistete, aber erst im September mit der Rekrutierung von anderen Deserteuren begann.111 Im Gegensatz zu Müller überquerte Pircher anschließend mit zumindest impliziter Unterstützung der Schweiz die Grenze nach Südtirol.

107 Gendarmeriepostenkommando Hörbranz, Vernehmungsniederschrift mit Josef Fessler, 29. 11. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 108 Grenzwachtkorps des III. Schweiz. Zollkreises Diepoldsau an Grenzwachtkommando III Chur, Nacherhebungen Mordfall Müller Erwin – Tschabrun, 25. 12. 1949. BAR, E4320B #1973/171119. 109 Romeo/Steurer, Vom Borbera-Tal, 17. 110 Vgl. Peter Rohrbacher, Pater Wilhelm Schmidt im Schweizer Exil: Ausgewählte Interaktionen mit Wehrmachtsdeserteuren und Nachrichtendiensten 1943–1945, in: Andre Gingrich/Peter Rohrbacher (Hg.), Völkerkunde zur NS-Zeit aus Wien (1938–1945). Institutionen, Biographien und Praktiken in Netzwerken, Band 1, Wien 2021, 1611–1642, 1626–1636. 111 Ebd., 1628–1629.

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V.

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Erfahrungsraum Grenzgebiet II: Rückkehr und Versteck

Am 7. Juni stieg Müller, unter Umgehung der schweizerischen Grenzposten, bis hinauf zum Schweizertor und holte die drei Armeepistolen aus dem Versteck.112 Den Grenzübertritt wagte er nach eigenen Angaben erst gegen 23 Uhr im Nebel, weil auf der deutschen Seite Wachen postiert waren. Weiter unten im Tal, beim sogenannten Rellshüsli, stieß er am 8. Juni gegen 2 Uhr früh auf den einheimischen Hilfszöllner Wilhelm Tschabrun. Es kam zu einem Schusswechsel, der mit dem Tod Tschabruns endete. Müller erschoss Tschabrun aus nächster Nähe. Vermutlich noch am selben Tag, gegen 22 Uhr, erreichte er das Haus seiner Freundin Lina Dressel in Nüziders. Diese gab 1949 an: „Müller sah sehr blaß aus und machte sichtlich einen verstörten Eindruck. Auf meine sofortige Frage, woher er komme, antwortete er: ‚Von der Schweiz.‘ […] schon beim Eintreffen sagte [er], er sei deshalb aufgeregt, weil es beim Grenzübergang eine Schießerei gegeben habe.“ Müller verbrachte einige Tage bei der Familie Dressel und erfuhr dort, dass Tschabrun tot aufgefunden worden war. Am Samstag, den 10. Juni, berichtete das „Vorarlberger Tagblatt“: „Mord an einem Grenzaufsichtsbeamten. Am 8. Juni, zwischen 24 und 2 Uhr, wurde der Hilfszollbeamte Wilhelm Tschabrunn [!] im Gemeindegebiet Vandans in der Nähe der Rellstal-Kapelle während eines Dienstganges erschossen. Ueber den Täter liegen bisher keine Anhaltspunkte vor.“113

Die schweizerischen Behörden, die ebenfalls Kenntnis von Tschabruns Tod erhielten, vermuteten offenbar bereits im Juni 1944 in Erwin Müller den Todesschützen. Bei einer Diensttour am 13. Juni waren vom Grenzwachtkorps drei Uniformen, die sich den Brüdern Müller zuordnen ließen, gefunden worden, allerdings keine Waffen. Erwin Müller war bereits als abgängig bekannt und seine beiden Brüder verneinten, gegenüber Dritten Angaben zum Versteckort gemacht zu haben. Der Kommandant des Grenzpostens Schuders schloss aus den Umständen: „Der Mörder des am 8.6.44 im Rellstal erschossenen HZBAs. ‚Tschabrun Wilhelm‘ dürfte mit dem Müller Erwin identisch sein, denn aus der Sachlage geht hervor, dass die Zeit des Grenzübertrittes von Müller Erwin mit dem Datum des Mordes Tschabrun übereinstimmen könnte.“114

112 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1. 12. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 113 Vorarlberger Tagblatt, 10. 6. 1944, 4. 114 Grenzwachtkorps des III. Schweiz. Zollkreises, Grenzposten Schuders (Zimmermann) an den U.A. Chef 9, Mord des deutschen HZBAs. Tschabrun im Rellstal und Auffinden von 3 deutschen Uniformen der Wehrmacht auf Schweizergebiet, Schuders 1. 7. 1944. BAR, E4320B#1973/171119.

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Die deutschen Kriminalbehörden wussten offiziell nicht, wer der Todesschütze war, aber ein Bericht der Kriminalabteilung Feldkirch hielt 1949 fest: „Schon bei den 1944 durchgeführten Ermittlungen nach dem Mörder ergaben sich Anhaltspunkte dafür (auf Grund von Indiskretionen schweiz. Grenzwachbeamter) daß der Fahnenflüchtige Erwin Müller in Betracht kommt.“115 Vermutlich brach Müller am Tag der Zeitungsmeldung, dem 10. Juni, zu Fuß von Nüziders Richtung Hohenweiler auf. Nach zwei oder drei Tagen kam er in der Parzelle Kellen am Lochauerberg an, wo er bei einer Familie Felder unterkam. Dort hielt er sich erneut zwei bis drei Tage auf und traf Mutter und Schwester. Anschließend begab er sich nach Hohenweiler, wo er sich im Haus der Mutter bis auf die letzten Wochen und Tage vor Kriegsende versteckte. Insgesamt hielt sich Müller also beinahe ein Jahr mitten in seiner Heimatgemeinde auf. Dabei traf er auch verschiedentlich andere Gemeindebewohner, die ihn nicht verrieten, obwohl er teilweise in ernsthaften Konflikt mit ihnen geriet. Das betraf vor allem den örtlichen Forstwart Matthias Fink, mit dem es zur bewaffneten Konfrontation kam, da Müller wiederholt wilderte. Fink gab 1949 an, er habe bei einem Aufeinandertreffen im Oktober 1944 gegenüber Müller folgenden Ausspruch getätigt: „Was du politisch (gemeint die Fahnenflucht) ausgefressen hast, kümmert mich nicht aber das mit der Wilderei muß aufhören. Lasse dies und verschwinde aus der Gegend, sonst kenne ich keine Rücksicht mehr.“116 Dass Müller nicht verraten wurde, hatte, so hieß es zumindest im Nachgang, auch damit zu tun, dass er manchen, darunter auch Fink, als gefährlich galt. Über die Zeit im Versteck in seiner Heimat wissen wir ansonsten nur wenig – die Kalendergeschichte von Berkmann enthält abenteuerliche Details, die einer Überprüfung vielfach nicht standhalten. So etwa, dass sein Aussehen komplett verwildert war und er zwei Jahre in diversen Höhlen und Erdlöchern gehaust hätte. Müller selbst gab 1949 an, er habe sich nur im Juli 1944, also kurz nach der Rückkehr, knapp drei Wochen in einer Höhle versteckt, da er befürchtete, er werde bei seiner Mutter gesucht. Anschließend habe er sich überwiegend im Elternhaus aufgehalten. „Die letzten Wochen vor Kriegsende verbrachte ich hauptsächlich in einer Höhle in der Gegend der Rucksteig (zwischen Möggers u. Hohenweiler).“117 Auch seine Schwester Theresia bestätigte diese Darstellung.118 115 Kriminalabteilung für Vorarlberg an die Staatsanwaltschaft in Feldkirch, Hilfszollassistent Wilhelm Tschabrunn, geb. 24.6.01, in der Nacht zum 8. 6. 1944 im Rellstal/Montafon ermordet, Feldkirch 9. 11. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 116 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1. 12. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49; Gendarmerieposten Hörbranz, Vernehmungsniederschrift mit Matthias Fink, Hörbranz 25. 11. 1949. Ebd. 117 Kriminalabteilung für Vorarlberg, Vernehmungsniederschrift mit Erwin Müller, Feldkirch 1. 12. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49.

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VI.

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Nachkriegszeit und Schlussbemerkungen

Kurt und Fritz Müller kehrten Anfang Dezember 1945 aus der Schweiz nach Vorarlberg zurück. Dies geschah offenbar im Zuge einer großen Aktion, in der 469 österreichische Militärinternierte über den Grenzübergang St. Margrethen nach Österreich repatriiert wurden.119 Beide fassten schnell wieder Fuß. Fritz Müller wurde im Jänner 1946 Bediensteter der Bundesbahn in Bregenz und lebte 1949 in Hard. Später heiratete er. Kurt Müller nahm mit 1. Jänner 1946 seinen Beruf als Friseur wieder auf. Zuerst in Bregenz, dann wechselte er zu einem Friseur nach Heerbrugg in St. Gallen. Auch er heiratete und hatte 1949 bereits zwei Kinder. Erwin Müller stellte ein Aufnahmegesuch beim Gendarmerieposten Hörbranz, dem aber im März 1946 noch nicht entsprochen worden war.120 Die Kriminalstelle Feldkirch erfuhr um diese Zeit durch die Schweizer Polizeibehörden, dass Müller in Zusammenhang mit dem Tod Tschabruns stehen könnte. Zuvor hatte es bereits Gerüchte über Müller als möglichen Schützen gegeben. Müller war an diesen Gerüchten wohl nicht unschuldig, da er offenbar diversen Personen von seiner Begegnung mit Tschabrun erzählt hatte. Die Ermittlungen wurden damals aus unbekanntem Grund nicht weitergeführt. Im Jahr 1949 wurden sie erneut aufgenommen und führten zur Verhaftung Müllers, der den Schuss auf Tschabrun sofort gestand. Allerdings behauptete er, als Zweiter geschossen und in Notwehr gehandelt zu haben.121 Der Fall kam vor Gericht, der entsprechende Akt ist aber nicht mehr vorhanden. Es ist unwahrscheinlich, dass Erwin Müller tatsächlich wegen Mordes verurteilt wurde. Allerdings dürfte er bis März 1953 in Garsten inhaftiert gewesen sein und kehrte dann nach Hard zurück,122 wo er seit 1949 den Wohnsitz hatte. Im Jahr darauf heiratete er.123 Die weiteren Lebenswege können an dieser Stelle nicht mehr detailliert ausgeführt werden. Erwin Müller übersiedelte in den 1960er-Jahren in das Burgenland und eröffnete dort später einen Freizeitpark. Kurt Müller, der später eine Stickerei betrieb, verstarb am 25. Mai 2011 in Lustenau und Fritz Müller am 3. Juni 2013 in Hard. In dieser Fallstudie wurde der Versuch unternommen, jene Erfahrungsräume zu skizzieren, innerhalb derer sich die gemeinsame Desertion der Brüder Erwin, 118 Vernehmungsniederschrift mit Theresia Pfeiffer, Hard 29. 11. 1949. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 119 Schlussbericht 1947, 177. 120 Gendarmeriepostenkommando Hörbranz an Kriminalabteilung für Vorarlberg, Müller Erwin aus Hohenweiler, Aufenthaltsermittlung, 15. 3. 1946. VLA, Kriminalstelle Feldkirch, 3488/49. 121 Vgl. die Darstellung in diversen Medienberichten, u. a. Vorarlberger Nachrichten, 6. 12. 1949, 2; Bludenzer Anzeiger, 10. 12. 1949, 4. 122 Gemeindearchiv Hard, Meldebuch 1953, Nr. 1809. 123 Taufbuch Reuthe, fol. 162.

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Fritz und Kurt Müller abspielte. Thesenhaft sollen hier noch einmal einige Schlüsse zusammengefasst werden: – Sozialer Erfahrungsraum: Die Familie war durch einen sozialen Abstieg in der Zwischenkriegszeit in das Landarbeitermilieu geprägt. Zwei Brüder verdingten sich als Knechte und Hilfsarbeiter; nur einer erlernte einen Beruf. Alle drei hatten eine geringe örtliche Bindung, da sie ledig und kinderlos waren und auch keinen eigenen Betrieb oder Grund- und Hauseigentum besaßen. Das unterschied sie etwa von ihrem älteren Bruder Arnold Berlinger, der ebenfalls Wehrdienst leistete, aber Frau, Kind und ein Unternehmen hatte. Es wäre im Zuge von weiteren Vergleichsstudien noch herauszuarbeiten, ob Vorarlberger Soldaten aus dem Land- und Hilfsarbeitermilieu häufiger desertierten als Angehörige anderer sozialer Klassensegmente. – Familiärer Erfahrungsraum: Deutlich wird, wie sehr die Brüder Müller auf ein familiäres Netzwerk, sowohl bei der Organisation ihrer Desertion als auch später beim erfolgreichen Verstecken Erwin Müllers in der Heimat, zurückgriffen. Zudem befeuerte die soziale Dynamik unter den im Urlaub zusammengetroffenen Brüdern den möglicherweise schon insgeheim angedachten, aber letztlich wohl sehr kurzfristig gefassten Entschluss zur Desertion. Dafür spricht auch der in letzter Minute getätigte Versuch, einen vierten Bruder, Adalbert, ebenfalls zur „Fahnenflucht“ zu bewegen. Inwiefern Angehörige aktiv in die Desertion involviert waren, ist ungeklärt. – Militärischer Erfahrungsraum: Die Kriegserlebnisse an der Ostfront gaben wohl den Ausschlag für die Entscheidung zur Flucht. Zwei der Brüder waren selbst verwundet worden, alle drei erlebten Tod oder Verstümmelung von Kameraden. Vermutlich spielte auch die Familienerfahrung des Ersten Weltkriegs eine Rolle. Der Wille zu überleben, das eigene Leben zu retten, war letztlich Hauptmotiv für die Entscheidung, in die Schweiz zu fliehen. – Erfahrungsraum Grenzgebiet: Der Heimaturlaub im alpinen Grenzgebiet war die Voraussetzung sine qua non für die erfolgreiche Desertion. Am Fall Müller zeigt sich deutlich ein von Peter Pirker für Westösterreich bereits konstatiertes Muster „Lazarett–Heimaturlaub–Desertion“.124 Die Lage gegen die Schweiz bot eine einmalige Opportunität zur Flucht in ein neutrales Land, wie ansonsten nur in Südbaden sowie im Tiroler Oberland und im Vinschgau. – Erfahrungsraum Internierung: Die Situation von Deserteuren in den Internierungslagern der Schweiz ist eine bislang wenig erforschte Thematik. Der Fall Müller gibt Hinweise darauf, dass das Erlebnis in den Lagern wohl stark von der erhofften Freiheit in Frieden abwich. In Erwin Müllers Fall scheint die Angst um das eigene Leben, welche die Desertion angetrieben hatte, rasch von der Monotonie der Zwangsarbeit und der Sehnsucht nach der Heimat über124 Neue Vorarlberger Tageszeitung, 27. 9. 2020, 22–23.

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lagert worden zu sein. Die Behauptung, sich nach einer Rückkehr Partisanen anschließen oder einen weiteren Bruder retten zu wollen, mögen auch als Erklärungsversuch für einen nicht leicht zu vermittelnden Umstand gedient haben: Nämlich, dass Erwin Müller die Aussicht auf ein Sich-Verstecken unter Todesgefahr in der Heimat möglicherweise als erträglicher empfand als den Verbleib in der Internierung.

zeitgeschichte extra

Andreas Kranebitter / Maria Pohn-Lauggas

„Meine mundlmäßige Familie“. Zur Präsenz des Subproletarischen in Erinnerungen und Familienstrukturen von NS-Opfern

I.

Einleitung

Im Nationalsozialismus wurden zehntausende Menschen von der Kriminalpolizei, die darin mit Fürsorge-, Arbeits- oder Gesundheitsämtern kooperierte, als „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ etikettiert und in Konzentrationslager deportiert. Das Spezifische an dieser nationalsozialistischen Verfolgungspolitik war, dass sie im Sinne der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ präventiv ausgerichtet war: es ging nicht um aktuelle Verstöße gegen das Strafrecht oder auch aktuell „abweichendes“ Verhalten, sondern um die nationalsozialistische Vorstellung, dass vergangenes Handeln zur Genüge bewiesen habe, dass manche Menschen wesenhaft „Asoziale“ oder „Verbrecher“ seien, vor denen die „Volksgemeinschaft“ zukünftig durch ihre Wegsperrung zu schützen sei. Die Verfolgung, Wegsperrung und zeitweise Vernichtung von Menschen, die als „asozial“ oder „kriminell“ etikettiert worden waren, ist erst in jüngster Zeit Gegenstand geschichtswissenschaftlicher und historisch-soziologischer Forschung geworden.1 Obwohl es bereits einige soziologische Mehrgenerationen1 Wolfgang Ayaß, ‚Asoziale‘ im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995; Patrick Wagner, Volksgemeinschaft ohne Verbrecher? Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Hamburg 1996; Christa Schikorra, Kontinuitäten der Ausgrenzung. „Asoziale“ Häftlinge im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001; Nikolaus Wachsmann, Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NSStaat, München 2006; Thomas Roth, „Verbrechensbekämpfung“ und soziale Ausgrenzung. Kriminalpolizei, Strafjustiz und abweichendes Verhalten zwischen Machtübernahme und Kriegsende, Köln 2010; Jens Dobler (Hg.), Großstadtkriminalität. Berliner Kriminalpolizei und Verbrechensbekämpfung 1930–1950, Berlin 2013; Frank Nonnenmacher, DU hattest es besser als ICH. Zwei Brüder im 20. Jahrhundert, Bad Homburg 2015; Dagmar Lieske, Unbequeme Opfer? „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im KZ Sachsenhausen, Berlin 2016; Julia Hörath, „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ in den Konzentrationslagern 1933 bis 1938, Göttingen 2017; Sylvia Köchl, „Das Bedürfnis nach gerechter Sühne“. Wege von „Berufsverbrecherinnen“ in das Konzentrationslager Ravensbrück, Wien 2016; Andreas Kranebitter, Der „Kampf gegen das Verbrechertum“ im nationalsozialistischen Österreich. Die Kriminalpolizei und die Radikalisierung der NS-Verfolgungspolitik nach 1938, in: Österreichische Zeitschrift für Ge-

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studien zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Verfolgungserfahrungen verschiedener Opfergruppierungen auf Nachkommen gibt,2 trifft dies auf diese Opfergruppierungen nicht zu. Wir haben erstmals biographisch-narrative Interviews mit Angehörigen von als „Berufsverbrecher“ kategorisierten Verfolgten durchgeführt, die auch die empirische Grundlage für den vorliegenden Beitrag darstellen.3 Die lange Nicht-Beachtung dieser Opfergruppierungen hatte nicht zuletzt mit ihrer Position in der nationalsozialistischen Gesellschaft zu tun – denn als „asozial“ und „kriminell“ verfolgt wurden vor allem Angehörige der „Unterschicht“ im weitesten Sinne. Man kann davon sprechen, dass die Kriminalpolizei einen sozialen „Klassenkampf von oben“4 führte, der subproletarisches Alltagshandeln als deviant und delinquent etikettierte und damit eine „Politisierung von oben“5 bedeutete. Wir stellen eben diese soziale Position in den Mittelpunkt unseres Interesses und fragen nach ihrer Bedeutung in den Biographien und Narrativen der Nachkommen.

2

3

4 5

schichtswissenschaften 29 (2018) 1, 148–179; Andreas Kranebitter, Renitenz als Resistenz. Zur nationalsozialistischen Konstruktion und Verfolgung von „Berufsverbrechern“, in: Kriminologisches Journal 51 (2019) 4, 251–272; Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr/Elke Rajal, „Arbeitsscheu und moralisch verkommen“: Verfolgung von Frauen als „Asoziale“ im Nationalsozialismus, Wien/Berlin 2019; Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr/Elke Rajal, Stigma Asozial. Geschlechtsspezifische Zuschreibungen, behördliche Routinen und Orte der Verfolgung im Nationalsozialismus, Wien/Berlin 2020. Gabriele Rosenthal, Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen 1999; Maria Pohn-Lauggas, Gedächtnisorte des Widerstands. Zur Bedeutung von Kollektiven in intergenerationalen Erinnerungsprozessen, in: Andreas Kranebitter/Christoph Reinprecht (Hg.), Die Soziologie und der Nationalsozialismus in Österreich. Sondierungen und Perspektiven, Bielefeld 2019, 209–227; Maria Pohn-Lauggas, In Worten erinnern, mit Bildern sprechen. Zum Unterschied zwischen visuellen und mündlichen Erinnerungspraktiken, in: Sonderheft Materiale Visuelle Soziologie, hg. v. Roswitha Breckner und Jürgen Raab, Zeitschrift für Qualitative Forschung (ZQF) 17 (2016) 1+2, 59–80; Bettina Völter, Judentum und Kommunismus. Deutsche Familiengeschichte in drei Generationen, Opladen 2003. Die biographisch-narrativen Interviews wurden im Rahmen der Pilotstudie „Stigmatisierte Familienvergangenheiten: Intergenerationale Erinnerungsprozesse und Narrative von Nachkommen von ‚Berufsverbrechern‘“ von 2018 bis 2020 geführt. Das Projekt wurde vom Zukunftsfonds der Republik Österreich und vom Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus gefördert. Derzeit wird unter der Leitung und Koordination von Maria Pohn-Lauggas und Miriam Schäfer sowie in Kooperation mit Andreas Kranebitter das DFG-Projekt „‚Gemeinschaftsfremde‘ und ‚Staatsfeinde‘: Intergenerationale Handlungsund Erinnerungsstrukturen in Familien stigmatisierter NS-Opfer in Österreich und Deutschland“ (GZ: PO 2422/2–1, Laufzeit: 2021–2024) durchgeführt und weitere Interviews – auch mit Nachkommen der Gruppierung der als „asozial“ etikettierten Verfolgten – erhoben. Kranebitter, Renitenz, 263. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus. Münster 2015, 137.

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Zahlreiche Soziolog*innen haben auf die Problematik der wertenden Zuschreibung hingewiesen, die der wissenschaftlichen Verwendung von Etikettierungen wie „Unterschicht“ anhaftet. Rolf Lindner schreibt etwa: „Gemeinsam ist all diesen Etikettierungen die Vermischung von sozialen und moralischen Kriterien oder genauer: die moralische Klassifizierung des Sozialen.“6 Das gilt wohl unabhängig von der Intention der Schreibenden. Die Nicht-Benennung kann als Unsichtbarmachung oder Verdrängung demgegenüber allerdings nicht analytische Lösung sein. Die problematische und zu problematisierende Bezeichnung selbst enthält vielmehr einen gesellschaftskritischen Impetus: „Wer von ‚Unterschicht‘ spricht, muss auch von ‚Oberschicht‘ sprechen und damit von Herrschaft, Macht und struktureller Ungleichheit. Selbst im gesellschaftsanalytisch so unpräzisen Begriff der Unterschicht klingt immer noch die diskursiv längst ad acta gelegte Klassengesellschaft an. Der Begriff signalisiert, dass es eine Bevölkerungsschicht gibt, die strukturell benachteiligt ist.“7

Wir haben uns im Anschluss an diese Überlegungen dazu entschlossen, von „Unterschicht“ zu sprechen, wenn es analytisch um die soziale Position der jeweiligen Akteure geht, in der Fremdbezeichnung aber vom „Subproletarischen“, bei dem es eben genau um einen abwertenden Herrschaftsbegriff geht, von dem sich die Akteure selbst eigensinnig distanzieren und abgrenzen. Der abwertende Blick auf die soziale Unterschicht, generelles Merkmal „moderner“ Gesellschaften, wurde im Nationalsozialismus staatlich radikalisiert und in spezifisch nationalsozialistischem Unrecht kodifiziert. Das damit verbundene Stigma war äußerst wirkmächtig und wurde schon in der NS-Zeit von zahlreichen Mitgefangenen in den Konzentrationslagern übernommen. Im Gegensatz zu politischen Gefangenen, die sich oft als Teil einer „anständigen Arbeiterklasse“8 sahen, sah man in den „Kriminellen“ der Lager deren „lumpenproletarische Kontrahenten“.9 Die darin zum Ausdruck kommende Tendenz zur Distanzierung setzte sich nach der Befreiung der Konzentrationslager im postnazistischen gesellschaftlichen Klima des Kalten Krieges fort, in dem insbesondere in Österreich politische Überlebendenverbände angesichts des Endes der Entnazifizierung bald in die Defensive gerieten. Ergebnis war die Exklusion von im Nationalsozialismus als „asozial“ oder „kriminell“ Etikettierten aus den 6 Rolf Lindner, „Unterschicht“. Eine Gespensterdebatte, in: Rolf Lindner/Lutz Musner (Hg.), Unterschicht: Kulturwissenschaftliche Erkundungen der „Armen“ in Geschichte und Gegenwart, Freiburg i. Br. 2008, 9–18, 15. 7 Ebd. 8 Wachsmann, Gefangen unter Hitler, 119. 9 Patrick Wagner, „Vernichtung der Berufsverbrecher“. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei bis 1937, in: Ulrich Herbert/Karin Orth/Christoph Dieckmann (Hg.), Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwicklung und Struktur, Band 1, Göttingen 1998, 87–110, 105.

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Opferverbänden, aus der finanziellen Entschädigung10 und damit Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus und aus den kollektiven Formen von Gedächtnis und Gedenken in Österreich; eine Exklusion, die erst in jüngster Zeit (forschungs-)politisch aufbricht.11 Zu zwei zentralen – auch zusammenhängenden – Gründen für die Exklusion zählen die Tatsache, dass es sich bei diesen Opfergruppierungen um Angehörige der sozialen Unterschicht handelte, und dass sie als Projektionsfläche für jegliches mehrdeutige Verhalten in der sogenannten Grauzone der Lager und Mittäterschaft dienten. Diese spezifische Mischung aus Verschweigen und Verdächtigen (sub-)proletarischen Alltagshandelns prägte auch das Leben der Nachkommen, das wir in biographisch-narrativen Interviews soziologisch beforschen. In diesem Artikel widmen wir uns der Frage, in welchen familiengeschichtlichen und biographischen Zusammenhängen und wie sozialer Ort und Klasse thematisiert werden und die Biographien und Familien der Angehörigen von „Berufsverbrechern“ strukturieren. Wie und mit Hilfe welcher Zuschreibungen des Sozialen wird über die Herkunft des „Berufsverbrechers“ in der Familie und mit uns gesprochen? In der Analyse folgen wir der analytischen Trennung und Kontrastierung des erzählten und gelebten Lebens12 und legen ein besonderes Augenmerk auf die Einflüsse des Interviewsettings und der sozialen Interaktion zwischen Interviewenden und Interviewten, in denen die Bedeutung des Sozialen verhandelt wird.13 Theoretisches Leitkonzept ist dabei der „Eigen-Sinn“ nach Alf Lüdtke, der im folgenden Kapitel dargestellt werden soll (i). Ausgehend von den Befunden einer Globalanalyse einiger unserer bisherigen Interviews (ii) widmen wir uns in Folge einem spezifischen Fall der Familie eines als „Berufsverbrecher“ etikettierten NS-Opfers (iii), zu dem wir narrativ-biographische Interviews mit vier Nachkommen geführt haben. In der Interpretation dieses Falles zeigen wir die Spannung, die zwischen einer Orientierung auf die „gute“ Arbeiterbewegung und der wahrgenommenen Gefahr des „Rückfalls“ in das Subproletariat besteht. Die Analysen wurden rekonstruktiv und sequentiell durchgeführt.

10 Vgl. Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus, Wien 1993. 11 Jüngstes Beispiel dafür ist die durch eine entsprechende Petition an den Deutschen Bundestag ausgelöste politische Debatte und letztlich Beschlussfassung des Bundestags zur Anerkennung der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ als Opfer des NS-Regimes, gefolgt von der Ausschüttung finanzieller Mittel für die Erarbeitung einer Ausstellung zu diesen beiden Opfergruppierungen. 12 Vgl. Gabriele Rosenthal, Erzählte und erlebte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen, Frankfurt a. M./New York 1995. 13 Vgl. Andreas Kranebitter/Maria Pohn-Lauggas/Elisabeth Mayer, Von Taugenichtsen und NoGos. Narrative in den familialen Erinnerungen stigmatisierter NS-Opfer, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 45 (2020) 3, 315–336.

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II.

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Theoretische Sondierungen

In Abgrenzung zu klassischeren Formen der Geschichtsschreibung, die mit den „unteren Klassen“ entweder nur (arbeitende) Objekte und Gehorsamsträger assoziierten oder deren Handeln zu Formen oder Vorformen politisch bewussten Widerstandshandelns von Kollektivsubjekten wie „Proletariat“ und „Arbeiterklasse“ überhöhten, prägte der Alltagshistoriker Alf Lüdtke das Konzept des „Eigen-Sinns“. Die Feststellung, die „Unterschicht“ würde sich eigensinnig verhalten, war zunächst nicht mehr als ein Herrschaftsetikett durch Schulmeister und Gelehrte für „jene Rüpeleien, Grobheiten oder Wunderlichkeiten, die sie allenthalben unter dem ‚Pöbel‘ entdeckten.“14 Der Begriff bezeichnet jenseits des Labels der Obrigkeit für nicht-gefälliges Verhalten unterer Klassen für Alf Lüdtke aber auch diese unterschiedlichen Verhaltensformen des „Ungebärdige[n], nicht selten auch Rätselhafte[n]“15 von Angehörigen der „Unterschicht“ selbst. Im Fabrikalltag hätten diese Verhaltensweisen etwa in „Neckereien“ bestanden, die kollektiv körperliche Gemeinsamkeiten hergestellt und den Arbeitsrhythmus unterbrochen hätten: „Sie eigneten sich die Zeit an, indem sie die auferlegte Zeitordnung umgingen und unterbrachen. Plaudern und ‚Quatschen‘, Herumgehen und nicht zuletzt die ‚Neckereien‘ – all das waren illegale Unterbrechungen.“16 Individuell ginge es um „stumme und vornehmlich individuelle Rückzüge und buchstäbliches Verschwinden“17 in Form von Toilettengängen, Nickerchen, Tagträumen oder nicht erledigten Arbeitsaufträgen. Eigensinnige Verhaltensweisen interpretiert Alf Lüdtke dabei nicht als Formen des Widerstands, sondern als Form temporärer Distanzierung zur Macht, die ebendiese Macht im Prinzip unangetastet lässt, sozusagen als „Momente der Befreiung“18, ohne der Unfreiheit zu entkommen (oder auch subjektiv entkommen zu wollen). „Eigensinnige Freiheit zielt danach auf Distanz gegenüber herrschaftlichen Zumutungen; sie entfalte aber keine weitertreibende Dynamik. Eigensinn wendet sich – in dieser Sicht – nicht grundsätzlich gegen Abhängigkeit.“19 Sind Praktiken des Eigen-Sinns damit auch nicht mit Widerstand (zumindest im engeren Begriffssinne) zu verwechseln, so seien sie dennoch als „politisches Verhalten“ zu begreifen.20 14 15 16 17 18

Lüdtke, Eigen-Sinn, 17. Ebd., 12. Ebd., 127. Ebd., 128. Heinz Steinert, Die Wiener und die Frankfurter Schule. Drei Anmerkungen anlässlich des Gesprächs Theodor W. Adorno/Lotte Tobisch in Wespennest 117, in: Wespennest 118 (2000), 84–88, 85. 19 Lüdtke, Eigen-Sinn, 17. 20 Vgl. ebd., 133.

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Empirische Forschungsbefunde zu „Berufsverbrechern“ und „Asozialen“ können in vielerlei Hinsicht in diesem Lichte als eigensinnige Praktiken einer nichtangepassten Unterschicht gelesen werden, und zwar sowohl was das von vielen Mitgefangenen beobachtete Verhalten in den „Häftlingsgesellschaften“ nationalsozialistischer Konzentrationslager betrifft, als auch ihr „abweichendes Verhalten“ vor der Deportation. Dieses „abweichende Verhalten“, obrigkeitlich als „Kriminalität“ definiert, besteht für Lüdtke (unter Rückgriff auf Heinz Reif 21) aus Praktiken des Eigen-Sinns, die staatlicherseits durch physische Gewalt wie polizeiliche Intervention gewaltsam gezähmt worden seien, wodurch die Amtsbehandelten im Rahmen der organisierten und formalisierten Interessenverfolgung sozusagen „verstaatlicht“ wurden: „Diese Politisierung des Privaten funktionierte als ‚Politisierung von oben‘.“22 Ihre Verhaltensweisen richten sich nicht nur gegen den Text des Strafgesetzes, sondern entziehen sich der Textlichkeit schlechthin. Gerade diese Momente haben Lutz Musner und Wolfgang Maderthaner als Formen des Protests in der „Anarchie der Vorstadt“ mikrohistorisch untersucht. Die Septemberunruhen 1911 in Ottakring seien als „Hungerrevolten“ durch einen zufällig gelösten Revolverschuss zustande gekommen, wobei sich randalierende Menge und prügelnde Polizei sozusagen gegenseitig eskalierten: „Lumpenproleten“, die, wie Wolfgang Maderthaner und Lutz Musner aus Tageszeitungen zitieren, niemand gekannt und gerufen habe, hätten von Laternen bis Fensterscheiben alles zerstört und „aus den Fenstern der Zinskasernen“ seien „Steine, Eisenstücke, Biergläser und ähnliches gegen Polizei und Militär“23 geworfen worden. Der scheinbar blinde Hass der Ottakringer Jugend richtete sich gegen die Volks- und Bürgerschulen ebenso wie gegen Verwaltungseinrichtungen, die die Gesellschaft ab dem 19. Jahrhundert verstärkt persönlich und statistisch erfasst hatten. Die Autoren interpretieren diese Formen des Protests als Kampf gegen das Registriert- und Diszipliniertwerden durch die Instanzen der schriftlichen Kultur der bürgerlichen Stadt, als Ausdruck der widerständigen Subkultur der „populare[n] Kultur der Vorstadt“ gegen die „Gewalt der Schrift“24 hinter der vermeintlich rein ökonomischen Form der „Hungerrevolte“. Unsere Forschungen zeigen, dass das Verhalten der im Nationalsozialismus als „Berufsverbrecher“ Verfolgten oft, gerade beim ersten Delikt, aus solchen rätselhaften, eigen-sinnigen Handlungen gegen das kulturelle Erfasstwerden und die obrigkeitlichen Zumutungen und Erniedrigungen besteht. Aus vielen mög21 Heinz Reif (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit: Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984. 22 Lüdtke, Eigen-Sinn, 137. 23 Wolfgang Maderthaner/Lutz Musner, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, Frankfurt a. M./New York 2000, 29. 24 Ebd., 35.

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lichen Fallbeispielen sei eines kurz dargestellt: Der Wiener Gärtnergehilfe Franz Schächle ist einer von wenigen nach Mauthausen deportierten „Berufsverbrechern“, von dem ein kriminalpolizeilicher „Vorbeugungsakt“ überliefert ist.25 Am 18. Oktober 1938 notierte die Kriminalpolizeileitstelle Wien in einem „kriminellen Lebenslauf“, der für jeden Vorbeugungshäftling verpflichtend zu erstellen war und Vorstrafen ebenso wie zurückliegende Urteile berücksichtigen sollte, um die „Unverbesserlichkeit“ plausibel zu begründen, auch die ersten Delikte, für die Schächle Anfang der 1920er-Jahre gerichtlich verurteilt worden war. Offenbar standen diese ersten Delikte in Zusammenhang mit Zurückweisungen gesellschaftlicher Instanzen, die – so auch die Interpretation der Kriminalpolizeileitstelle Wien – seine Renitenz verursachten: „Gelegentlich einer Vorsprache im Frühjahr 1926 bei seinem früheren Lehrherrn in Sieghartskirchen wegen Arbeit wurde er von diesem abgewiesen. Aus Rache über die Abweisung überkletterte er zur Nachtzeit mit noch 4 Komplizen die Einfriedung der Gärtnerei und entwendete Rosenstöcke. Die Namen der Komplizen sind ihm nicht mehr erinnerlich.“26

Der Eigen-Sinn von als „asozial“ oder „kriminell“ verfolgten unterschichtsangehörigen Opfern des Nationalsozialismus wurde aber auch nach 1945 innerhalb der Familien auf spezifische Weise von Generation zu Generation weitertradiert. Die Revolte gegen die obrigkeitliche Textlichkeit27 wirkte auch in den Interaktionen unserer Interviews unbewusst weiter. Was für die Zeitgenoss*innen und deren Texte gilt, gilt auch für die Erinnerungserzählungen ihrer Nachkommen in den Interviews – eigensinnige Geschichten entziehen sich der Sinngebung, lassen sich nicht in klar strukturierte Narrative transformieren, schon gar nicht, wenn keine kollektiven Deutungsangebote ( jenseits der Verdammung) zur Verfügung stehen. Das ist in der ethnographisch und (ethno-)psychoanalytisch inspirierten sozialwissenschaftlichen Literatur kein unbekanntes Phänomen: Alf Lüdtke selbst widmete sich ausführlich der Differenz zwischen den Lebenswelten der Erforschten und der Forschenden – die in teilnehmenden Beobachtungen Beforschten würden oft Widerstand gegen die Forschenden zeigen. Was Ethno-

25 Vgl. Staatliche Kriminalpolizei – Kriminalpolizeistelle Wien: Schächle Franz, krimineller Lebenslauf, Meldung, I C-2750, Wien, 18. 10. 1938. Arolsen Archives, Document ID 109924. 26 Ebd. Diese Manifestationen des Eigen-Sinns waren nicht nur mit der „Delinquenz“ der als Berufsverbrecher Verfolgten verbunden, sondern auch mit Verhaltensweisen innerhalb der sogenannten Häftlingsgesellschaften der Konzentrationslager, die nicht Thema dieses Artikels sind. Unseres Erachtens ließen sich einige oft beschriebene Verhaltensweisen „alter Häftlinge“, d. h. lang in KZ inhaftierter Häftlinge, in Lüdtkes Sinne als Eigen-Sinn deuten, etwa Praktiken der temporären Arbeitsunterbrechungen, die von „neuen Häftlingen“ als unsolidarische, individuelle Akte der Bessergestellten, als Privilegium auf Kosten der Masse der Häftlinge interpretiert wurden. 27 Vgl. Lüdtke, Eigen-Sinn, 21.

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log*innen und Soziolog*innen bekannt sei, bleibe Historiker*innen oft verborgen, weil ihre Quellen nicht zurückfragen würden. „Die Besuchten verweigern immer auch Kontakte, suchen ihre Bedingungen des ‚Spiels‘ durchzusetzen – wenn sie nicht gar massiv werden, lautstark protestieren, vielleicht den Eindringling kurzerhand hinausschmeißen. Historikern widerfährt das nur, wenn sie ‚oral history‘ versuchen.“28 Iris Därmann widmete sich jüngst Praktiken des Widerstands, die bislang nicht mit diesem Begriff assoziiert wurden. Erster Ansatzpunkt ihrer Analyse ist Emmanuel Lévinas „ethischer Widerstand“, sozusagen das Sich-Entziehen bzw. die Störung der absoluten Macht unter extremsten Bedingungen. Diese Form des Widerstands ist im Kern bereits anschlussfähig an Lüdtkes Begriff des EigenSinns. Ein Beispiel dieser Widerstandsformen ist der Widerstand versklavter Menschen in den USA, der für Därmann auch in Interviews eigensinnig zum Ausdruck kam: Unter Franklin D. Roosevelt entstand in den USA etwa die Initiative für die „Work Progress Administration“. Diese führte 2.000 Interviews mit ehemals versklavten Menschen, die 1941 als 17-bändige Edition unter dem Titel „Slave Narratives: A Folk History of Slavery in the United States from Interviews with Former Slaves“ erschienen.29 Die Beobachtung, dass afroamerikanische Interviewte gegenüber afroamerikanischen Interviewer*innen andere und radikalere Antworten gaben als gegenüber weißen Interviewenden30, wurde lange als Argument gegen die Qualität dieser Interviews ins Treffen geführt. Für Därmann ist sie jedoch vielmehr Beweis für eigensinniges Verhalten in der sozialen Interaktion des Interviews: Die Interviews vermittelten, so die Autorin, „einen Eindruck von ebenjenen Bedingungen selbst, unter denen sie stattgefunden haben, und tragen Stimmen, Klangfarben, Erzählungen, Erlebnisse, Schmerzen und Widerstände über die color line, von der sie zugleich bestimmt sind. Sie verzeichnen ein Spektrum an Erzähl- und Gesprächsstrategien, mittels derer sich viele der Beantwortung des Fragenkatalogs entzogen und sich weigerten, ihre persönliche Geschichte geradewegs mit den weißen Interviewern zu teilen.“31

Andere hätten fantastische Details dazu erfunden, korrigierend Fußnoten hinzugefügt oder Memos geschrieben, in denen sie sich bei den Vorgesetzten der Interviewenden über den Eingriff in ihre Erzählung beschwert hätten. In anderen Worten: Die Interviews sind widerborstige Resultate eigensinniger ErzählHandlungen in der sozialen Interaktion des Interviews. In der Soziologie kennt man diese – gerade über Vorstellungen von „Rasse“, Klasse, Alter, Generation und Geschlecht vermittelten – Effekte der Interview28 29 30 31

Ebd., 36. Vgl. Iris Därmann, Widerstände. Gewaltenteilung in statu nascendi, Berlin 2021, 61. Vgl. ebd., 62. Ebd., 63.

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konstellation und -situation auf das Antwortverhalten der Interviewten seit langer Zeit unter dem Stichwort der „sozialen Erwünschtheit“. Interviewte würden ihre Antworten der antizipierten Meinung ihres Gegenübers anzupassen versuchen – ein Effekt, der die Ergebnisse verzerre. Der Soziologe Heinz Steinert hat darauf verwiesen, dass dieser Effekt keine nachträgliche Verzerrung im Sinne eines „Messfehlers“ darstelle, sondern im Gegenteil den Kern der Erkenntnisbildung berühre. „Wenn man nämlich einmal die Annahme riskiert, daß das, was man so miteinander redet, nicht (nur) Ausdruck vorgegebener ‚Einstellungen‘ ist, sondern (auch) mit einer Dynamik der Situation zu tun hat, dann werden gerade diese Diskrepanzen zwischen Reden und Tun (und Reden und Reden) und die Versuchsleitereinflüsse zum eigentlich interessanten Material der sozialpsychologischen Analyse.“32

Die unserem Beitrag zugrunde liegenden biographisch-narrativen Interviews33 stellen eine Erhebungsweise dar, die neben der an den Relevanzen der Gesprächspartner*innen orientierten offenen Gesprächsführung auch das Interview selbst als soziale Interaktion anerkennt und damit die Interaktion zwischen den Forschenden und den Beforschten und das Interviewsetting selbst als konstitutiven und nicht auszublendenden Teil einer sozialwissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung versteht. Wir gehen an dieser Stelle nicht genauer auf die narrative Gesprächsführung34 ein, sondern wollen den Stellenwert der Situati32 Heinz Steinert, Das Interview als soziale Interaktion, in: Heiner Meulemann/Karl-Heinz Reuband (Hg.), Soziale Realität im Interview. Empirische Analysen methodischer Probleme, Frankfurt a. M./New York 1984, 17–59, 18. 33 Fritz Schütze, Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien, Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien Nr. 1 der Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, 1977; Rosenthal, Gabriele Rosenthal, Interpretative Sozialforschung, Weinheim/München 2008; Rosenthal, Lebensgeschichte. 34 Bei der Kontaktaufnahme haben wir unsere Gesprächspartner*innen über unser Forschungsvorhaben informiert. Begriffe wie „Berufsverbrecher“ werden dabei von uns nicht verwendet. Wir sprechen von NS-Opfergruppierungen, die sehr spät oder bis heute keine staatliche Anerkennung erhalten haben. Wir haben die Gespräche mit folgender Eingangsfrage begonnen: „Wir möchten Sie bitten, uns Ihre Lebens- und Familiengeschichte zu erzählen, all die Erlebnisse, die Ihnen einfallen. Sie können sich so viel Zeit nehmen, wie Sie möchten. Wir werden Sie nicht unterbrechen, wir werden uns nur Notizen machen, auf die wir dann bei den Nachfragen noch eingehen.“ Den Gesprächspartner*innen wird auf größtmögliche Weise Raum gegeben, um ihren eigenen Relevanzsetzungen in der Beantwortung folgen zu können. Während dieser Phase unterbrechen die Interviewer*innen nicht mit Fragen und hören aktiv zu. Erst wenn sie mit ihrer selbststrukturierten Haupterzählung zu Ende sind, werden erzählgenerierende Nachfragen gestellt. Siehe dazu Rosenthal, Sozialforschung; Gabriele Rosenthal, Biographisch-narrative Gesprächsführung: zu den Bedingungen heilsamen Erzählens im Forschungs- und Beratungskontext, in: Psychotherapie und Sozialwissenschaft 4 (2002) 3, 204–227; Ulrike Loch, Spuren von Traumatisierungen in narrativen Interviews [20 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research (2008) 9 (1), Art. 54, URL: https://www.qualitative-research.net/inde x.php/fqs/article/view/320/702 (abgerufen 4. 11. 2022).

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onsdefinitionen des Interviews durch uns und unsere Gesprächspartner*innen betonen. Reflexionen zum Interviewsetting selbst (Ort, Zeitpunkt usw.), zur sozialen Konstellation, zur sich vollziehenden Interaktion zwischen uns und unseren Gesprächspartner*innen sowie zu den damit verbundenen Erwartungshaltungen und Selbstdarstellungen35 – d. h. die Beachtung des sozialen Ortes – zählen in diesem Verständnis zu den zentralen methodologischen Momenten in der Erhebungs- und Auswertungsphase unserer Forschung. Die Bedeutung des sozialen Ortes zeigt sich dabei in den bereits erwähnten Situationsdefinitionen und gegenseitigen Zuschreibungen – wenn etwa die Interviewten die Erwartung haben, dass die Interviewenden Behördengänge übernehmen36, der Promovierende als „Ausbeuter“ der Lebensgeschichte wahrgenommen wird oder die Interviewte das Interview als therapeutisches Setting rahmt37, jedoch auch wenn entgegen der Erwartung der Interviewenden mehrere Familienmitglieder zum Interviewtermin erscheinen.38 Als sozialer Ort hat aber genauso die wahrgenommene Klassenposition der Interviewenden zu gelten, die bei der Akademikerrolle beginnt. Sie ist in unserer Forschung zu Familien des „sozialen Unten“ von besonders großer Relevanz. Steinert zufolge variieren die Situationsdefinitionen dabei gerade entlang von sozialen Merkmalen: Zwar würden alle Interviewten die Interviewenden als „Abgesandte eines irgendwie bedeutenden Auftraggebers“39 wahrnehmen – diese könnten allerdings als Spione, Vertretungen einer Behörde, freundliche Unbekannte, Menschen, denen man eine Sorge anvertraut, als arme Hunde oder als Menschen, denen man die Meinung sagen wolle, wahrgenommen werden.40 Angehörige der Unterschicht, so Steinert, nähmen das Interview meist als Behördensituation wahr, während Ober- und Mittelschichtsangehörige in der befragenden Person eher den armen Hund, freundlichen Unbekannten oder zu Belehrenden sähen. „Es ist zu vermuten, daß einiges von dem, was die Soziologie angeblich über den Unterschied zwischen ‚Mittelschicht‘ und ‚Unterschicht‘ weiß, darauf beruht, daß der Angehörige der Unterschicht sich ‚nach oben‘ darstellt – wofür er seine eigenen Taktiken hat.“41 Hinzuzufügen wäre: seine (oder ihre) eigenen eigensinnigen Taktiken. Das Verständnis der Interviewinteraktion, die Steinert zugespitzt als „so etwas wie ‚verbale[n] Klassenkampf‘“42 bezeichnet, und ihrer subjektiven 35 36 37 38 39 40 41 42

Fallend, Forschung; Rosenthal, Sozialforschung, 91; Steinert, Interview, 1984. Rosenthal, Sozialforschung, 91. Vgl. Fallend, Forschung, 263–365. Vgl. Rosenthal, Gesprächsführung; Maria Pohn-Weidinger [Lauggas], Heroisierte Opfer: Bearbeitungs- und Handlungsstrukturen von „Trümmerfrauen“ in Wien (Theorie und Praxis der Diskursforschung), 2. Auflage, Wiesbaden 2014. Steinert, Interview, 35. Vgl. ebd., 36. Ebd., 38. Ebd., 44.

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Situationsdefinitionen wäre demnach zentraler Bestandteil des Erkenntnisprozesses über das interessierende Forschungsobjekt. Karl Fallend hat im Anschluss an psychoanalytische Autor*innen darauf hingewiesen, dass gerade beim Sprechen über den Nationalsozialismus, dessen Erforschung Angst mache, auf Übertragungen und Gegenübertragungen in Interviews zu achten sei.43 Ort und Setting eines Gesprächs seien ebenso relevant wie implizite Rollenverteilungen und ihre Veränderungen und Diffusionen in den Irritationsverläufen eines Interviews. Die interviewende Person erfahre dabei zunächst eine Rollendiffusion als Akademiker*in, die meist auf verschiedene Weise abgewehrt werde: „Eine Rollendiffusion, der man in der Regel in solchen Situationen ausgesetzt ist, denn die von Beginn an zurechtgelegte, stützende und schützende Selbstdefinition als WissenschaftlerIn ist im Forschungsprozess mit lebensgeschichtlichen Interviews nicht aufrecht zu erhalten. Das potentiell belastende Moment liegt gerade in der Unvorhersehbarkeit der – zumeist unbewussten – Zuschreibung und in deren Vielfalt. Eine Belastung, die der Reflexion gerne entzogen und abgewehrt wird und zu einem akademischen Rückzug, einer überbetonten wissenschaftlichen Eigendefinition, strengeren Methodenkriterien, bis hin zur aggressiven Distanzierung oder libidinösen Umarmung von InterviewpartnerInnen führen kann.“44

Das Nicht-Zulassen von Schweigen sei eine weitere Form dieser Abwehr – psychoanalytisch betrachtet die Angst vor dem sozialen Sterben.45 Auch Alf Lüdtke, um zum Ausgangspunkt der theoretischen Sondierungen zurückzukommen, geht auf den „sozialen Tod“ ein – als notwendigen, wenn auch unmöglichen Versuch der Feldforschenden. Das Sich-Selbst-In-Frage-Stellenlassen46 und die Selbst-Entfremdung sind dabei Mittel, die nicht nur im Interview selbst, sondern auch in der reflexiven Auswertung dieser Interviews vonnöten sind. Diese Mittel können also nicht nur die Befragten betreffen, sondern müssen die Befragenden – uns – miteinschließen, vor allem in der Analyse der situativen Interaktion im Interview. Im Folgenden interpretieren wir unsere Interviews im Lichte der skizzierten theoretischen Positionen globalanalytisch. Dabei vergleichen wir die Struktur unserer Interviews entlang einiger Parameter, etwa dem Interviewsetting oder den Interaktionen zwischen den Interviewten und uns, gehen jedoch nicht, wie bei Feinanalysen einzelner Interviewpassagen üblich, in die Tiefe.

43 44 45 46

Vgl. Fallend, Forschung. Ebd., 264. Vgl. ebd., 282. Vgl. Lüdtke, Eigen-Sinn, 35.

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III.

Globalanalytische Beobachtungen

3.1

Soziale Orte im Interviewsetting

Bereits bei den Erstkontakten zu unseren Gesprächspartner*innen, deren Namen und Wohn- bzw. Arbeitsorte wir hier verändert wiedergeben, um Anonymität zu gewährleisten, wurde die Bedeutung des sozialen Ortes der Interaktion deutlich. Als wir zum ersten Mal Kontakt mit David Moser in Salzburg aufnahmen, der zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte, zu seinem als „Berufsverbrecher“ verfolgten Urgroßonkel zu recherchieren, stimmte er sofort zu, uns seine Lebens- und Familiengeschichte zu erzählen und nahm sich extra Urlaub für unser Gespräch. Seine Verwandten, die er von sich aus informiert hatte, würden allerdings nicht mit uns sprechen wollen, da sich bisher ja auch niemand dafür interessiert habe. Diese Reaktion war uns vertraut. Immer wieder reagierten Personen zunächst positiv, dann aber mit Abwehr auf unserer Anfrage. Diese Abwehr artikuliert eine Position der Isolation. Wir interpretieren sie als soziale Wut auf die Obrigkeit, mit der wir identifiziert werden, und damit als Ausdruck von Eigen-Sinn. Deutlich wird dies auch in einem Telefonat mit Gerda Heumann in Niederösterreich, einer Enkelin eines als „Berufsverbrecher“ nach Mauthausen Deportierten, die aus Rücksicht auf ihre Mutter ihre Zusage zu einem Interview zurückzog. Der soziale Ort bzw. die angenommene Klassenposition von uns Interviewenden schien dafür eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Sie erzählte, dass ihre Großmutter, eine Magd, mehrere uneheliche Kinder geboren habe, ihr Großvater habe sie, wie es die Enkelin ausdrückte, „trotzdem genommen“. Ihre Großeltern hätten sehr gelitten, keine Unterstützung bekommen und ärmlich gelebt, der Großvater sei Hilfsarbeiter gewesen. Sie wiederholte, dass sie gehofft hatte, durch uns mehr zu erfahren, denn ihr Großvater habe nie gesprochen, obwohl er „von Anfang an dabei“ gewesen sei. Dann habe sie von der Einweisungskategorie „Berufsverbrecher“ erfahren. Im Telefonat wirkte sie empört, das sei nicht möglich und eine Lüge, er sei der beste Großvater gewesen. Er habe sich stets um die Großmutter gekümmert. Zur Frage, was sie denke, was ein „Berufsverbrecher“ sei, assoziierte sie Diebstahl und Betrug. Ihr Großvater habe jedoch nur Gutes getan – und dann stehe da „Berufsverbrecher“: Sie habe eine wahnsinnige Wut bekommen. Es bleibt unklar, gegen wen sich diese diffuse Wut richtete, sie wurde jedenfalls auf die KZ-Gedenkstätte Mauthausen und indirekt wohl auch auf uns als „Abgesandte eines irgendwie bedeutenden Auftraggebers“47 übertragen. Das Telefonat beendete Heumann mit den Worten: „Er wollte

47 Steinert, Interview, 35.

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einmal Mauthausen wiedersehen. Er war sehr krank. Wenn er unbeobachtet war, dann schaute er ins Leere.“

3.2

Interaktionen: Positionierungen und Rollendiffusionen

Ein ähnlicher Wunsch begegnete uns auch im ersten unserer Interviews mit Sabine Pichler. Auch ihr Großvater Johann Wagner, der als „Berufsverbrecher“ ins KZ Mauthausen deportiert worden war und dessen Fall wir an anderer Stelle ausführlich beschrieben haben,48 wollte Zeit seines Lebens zu einer Gedenkfeier nach Mauthausen fahren – was die Familie verhinderte. Es schien nicht passend zu sein, den Vater bzw. Großvater in diesem Ansinnen zu unterstützen. Im KZ Mauthausen war er zeitweise „Kapo“ gewesen, vom Chronisten des KZ Mauthausen, Hans Marsˇálek, war er in einer pauschalisierenden Fußnote mit anderen Mitgefangenen negativ charakterisiert worden. Seinen Beteuerungen, nicht in Verbrechen verwickelt gewesen zu sein, schien man auch innerfamilial keinen Glauben zu schenken. Dieses Nicht-Glauben-Wollen lesen wir als Abwehrstrategie, die gesellschaftlich vermittelt ist. Sie äußerte sich auch in der Weigerung, gemeinsam mit der Familie die KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu besuchen. Erst nach seinem Tod holten Mutter und Tochter, d. h. Tochter und Enkelin Johann Wagners, dies nach und begannen zu recherchieren. In der sozialen Interaktion mit uns, im Rahmen zweier Interviews mit der Enkelin, wurde zentral die Frage der Opferwürdigkeit verhandelt. Durch das erste Interview fand sie vieles widerlegt oder bestätigt. Ihrer Mutter teilte sie darüber mit: „Ich hab dann eh der Mutti gesagt: ‚Nichts, Mama, von dem, was, ah, was, was er erzählt hat, hat nicht gestimmt‘.“ In diesem Fall waren wir als Interviewer*innen wesentlicher Teil der Aushandlung eines Familiennarrativs zu Johann Wagner. Sabine Pichler separierte dabei die eigene Biographie aus der Familienbiographie und führte das Gespräch – in maximaler Distanz zum Großvater – auf Meta-Ebene als Expert*innenaustausch. Der Ort des Interviews ist dabei hochsignifikant: Sabine Pichler bestand darauf, das Interview in den Räumlichkeiten des Innenministeriums zu geben, zu dem die KZ-Gedenkstätte Mauthausen damals noch gehörte, und empfand das Gespräch als „reinigend“, d. h. kathartisch. Die Aushandlung der Opferwürdigkeit sollte dort geschehen, wo die nationalsozialistische Polizei ursprünglich die Deportation ihres Großvaters verfügt hatte. Wir Interviewende sollten als Bürgen fungieren, die am Ort des Geschehens das Etikett des Opfers zu verleihen vermochten. Auch solche Formen der Interaktion begreifen wir als Manifestation des Eigen-Sinns: Auf mehrfache Weise wurden unsere Rollener48 Vgl. Kranebitter/Mayer/Pohn-Lauggas, Von Taugenichtsen und No-Gos.

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wartungen durchbrochen bzw. diffundierten unsere Rollen als Interviewende, wenn wir etwa direkt zum Gesprächspartner eines „Plauscherls“ erklärt und nach der eigenen Familiengeschichte gefragt wurden: „Aber ich glaub, das sind halt einfach nur so Episoden, weil der muss es ja, er muss ja gewohnt gewesen sein, diesen, den Tod ununterbrochen und diese Brutalität […] Die haben’s einfach immer nur, gehaut und geprügelt und, […] ja, aber was erzählt Ihre Familie?“

Die in diesem Fall zu beobachtende Distanz zum Großvater, die ein Sprechen über ihn und das Einordnen seiner Geschichte erst ermöglichte, fand sich auch in anderen Erzählungen wieder. Die Sozialarbeiterin Nina Gasser aus Tirol hatte die Gedenkstätte nicht von sich aus kontaktiert, sondern über einen Freund. In einem Telefonat gab sie an, gewusst zu haben, dass ihr Großvater Fritz Gasser im KZ Mauthausen gewesen war, aber erst von der Gedenkstätte den Grund erfahren zu haben. Die schon im ersten, indirekten Kontakt zum Ausdruck kommende Unsicherheit setzte sich in den Telefonaten und schließlich im Interview selbst fort. Sie wisse nicht, ob ihre Geschichte interessant sei, wo das Interview am besten stattfinden solle und ob sie das alles überhaupt wissen wolle. Die Etikettierung ihres Großvaters als „Berufsverbrecher“ löste offenbar eine schockartige Reaktion aus: „So wie ich gerade erfahren habe, irgendwie, mein Opa ist jetzt irgendwie Berufsverbrecher ((lacht kurz)) … Ich meine, das ist ja wirklich, auch wenn es nicht stimmt oder auch wenn es irgendwie Umstände gibt, das ist so etwas Kränkendes. //Interviewer*in 2: mhm// Und ich glaube vielleicht, das alleine hat schon meinen Opa total fertig gemacht. Ich meine: Selbst wenn ich das sage, das klingt so, so wie /ohh ((angewidert)), oder auch irgendwie asozial. Das ist so etwas tiefes Beleidigendes, unter jeder Kritik, oder?“

Die selbst empfundene gesellschaftliche Beleidigung wurde übernommen und klar zum Ausdruck gebracht, wobei wir als Interviewende mit dem (in Tirol üblichen) „oder?“ den entwickelten Gedankengang bestätigen sollten (und bestätigten). In diesem Fall zog sich insbesondere das Thema der geografischen und sozialen Flucht durch die Familiengeschichte, sowohl als selbst gewählte Lebensweise als auch als Objekt der Abwertung durch die Obrigkeit: Gegen den Großvater war nach 1945 Anklage erhoben worden, weil er seine spätere Frau einem anderen Mann „entführt“ hätte – Nina Gassers Großmutter. Mit ihr sei der Großvater durch die westlichen Bundesländer gezogen, wobei das Paar mehrmals des Diebstahls verdächtigt wurde. Ab den 1950er-Jahren entfloh das Paar sowohl Delinquenz als auch Unterschicht, indem der Großvater eine fixe Stelle als Industriearbeiter annahm. Ihr Sohn, Nina Gassers Vater, „floh“ auf seine Weise mit dem Musikverein nach Italien und lernte dort Gassers Mutter kennen. Nina Gasser selbst arbeitete in der Betreuung von Flüchtlingen, deren politische und soziale Abwertung sie auch im Zusammenhang mit der Abwertung ihres Groß-

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vaters thematisiert. Kurz: Flucht ist – auch als Distanzschaffung vom Gefühl, eingesperrt zu sein – ein Familienthema. Unter diesen Umständen wurde jedoch kaum über die Vergangenheit gesprochen. Bestandteil des familialen Geheimnisses, das daraus resultierte, war die soziale Deklassierung der Herkunftsfamilie. Nina Gassers Vater gelang der Anschluss an eine politische Deportationsgeschichte, indem er in eine italienische Partisanen-Familie einheiratete und so den Prozess des sozialen und politischen Aufstiegs vollzog, der dem Großvater zeitlebens verwehrt blieb – der Weg dorthin ging aber buchstäblich mit Umwegen einher bzw. führte über die Flucht. „Also für mich hat’s einfach immer zwei Kulturen gegeben. Es hat immer das=das sehr Tirolerische gegeben, total mega supertirolerische. […] Mein Papa ist mit […] seiner Zwillingsschwester und seinen vier Halbgeschwistern in den ehema- in den Baracken, […] aufgewachsen, und die sind dann übersiedelt, da war mein Papa, keine Ahnung, sicher noch ein Kind, in so einem Sozialwohnbau also, halt so ganz, weiß nicht wieso […] und ahm, ja und da war halt dann irgendwie Kartenspielen, Zigaretten rauchen, Bier trinken und so, ein bisschen mundlmäßig kann man sich das vorstellen //Interviewer*in 1: mhm// Und dann hat’s eben die Familie gegeben von meiner Mama, […] das ist am Land in Italien immer gewesen, da waren wir jedes Jahr, und so war ich dem ganz Tirolerischen nicht so ausgesetzt […].“

Nina Gasser thematisiert hier das Aufwachsen in zwei unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten. Daran anschließend kommt sie darauf zu sprechen, dass sie als erste in der Familie studierte. „Und irgendwie sind dann so die Wege von der […] Familie, und von mir, also ich bin dann irgendwann einmal auch nicht mehr hin gegangen. Also ich bin als Kind bin ich da immer mit dabei gewesen, und es war nett und ich hab mich da a wohl gefühlt und es war halt irgendwie recht bodenständig, aber es hat mir irgendwie auch Spaß gemacht, es war so ein geborgener Raum, aber irgendwann einmal hab ich mich da auch entfremdet, also es hat mich dann einfach überhaupt nicht mehr interessiert […] ja, das war wirklich so mundlmäßig, vielleicht nicht so romantisch ((lacht)).“

Das Attribut „mundlmäßig“, eine Anspielung auf den stolzen Proletarier Edmund „Mundl“ Sackbauer in der österreichischen Fernsehserie „Ein echter Wiener geht nicht unter“, wird als soziales Unten skizziert, das Nina Gasser anfangs narrativ romantisierte, ihm aber durch Bildung entfloh. Das Bild stehe, wie sie auf Nachfrage sagte, für „Arbeiterfamilie, //Interviewer*in 2: mhm// und ahm, Bier und Zigaretten ((lacht)) und Kartenspielen […] und halt irgendwie doof und doch liebenswert“, für einfache Verhältnisse, Zusammenhalt (Solidarität), Alkohol und Bodenständigkeit. Die Baracken, in denen der Vater aufgewachsen war, stünden für das „fahrende Volk“ der Jenischen, das als „Mischung aus Freiheit /und/ ((lachend)) Armut“ von ihr romantisiert wurde.

588 3.3

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Fragen der Dominanz

Zuweilen dominierte eine Art Aushandlung des sozialen Ortes die soziale Interaktion vor und während des Interviews, wobei die Selbstpräsentation als Überkompensation gegen die permanente Angst vor der sozialen Deklassierung interpretiert werden kann. In diesen Fällen wurden wir als Konkurrent*innen um das (geheime) „Wissen“ wahrgenommen, letztlich als potentielle Bedrohung. Der Kärntner Franz Dobernig, Investor in Pension, präsentierte sich als sehr aktiver 73-Jähriger. Bei unserem ersten Telefonat kam zunehmend das Gefühl auf, sich in einem Verkaufsgespräch zu befinden; Dobernig präsentierte sich als jemand, der viel und Wichtiges, gar eine Art Lebensgeheimnis über seinen Vater, der das KZ Mauthausen als „Berufsverbrecher“ überlebt hatte, zu erzählen habe. Er vermutet auf unserer Seite die soziale und/oder wissenschaftliche Ausbeutung seiner Lebensgeschichte, die „Vermarktung“, wie er sagte. Diese Sorge reichte bis zu phantastischen Vorstellungen. Per SMS schrieb er uns vor dem Interview: „Ich bin ja nicht gerade ängstlich, aber tiefst aus meiner Seele Gegriffenes, anschließend Heiklestes von ‚Lauggas & Co‘ vermarktet zu wissen, schon sehr gewagt sein mag? Siehe: Jüngster Fall! Quellennachweis: STANDARD, KRONE!!!“ Seiner eigenen Formulierung zufolge ging es also um tief in der Seele Vergrabenes, um das „Heikelste“ seines Lebens. Unklar blieb, welche Folgen er befürchtete. Reflektiert man die beabsichtigte wissenschaftliche Auswertung der Ergebnisse, war der Vorwurf der „Vermarktung“ nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Diese Angst trug in der weiteren Kommunikation, die durchzogen ist von sexualisierten Phantasien und Begrifflichkeiten, allerdings paranoide Züge. Franz Dobernig schickte uns Bilder von zwei toten, in Fallen gefangenen Mäusen und entschuldigte sich wenig später dafür, uns falsch zugeordnet zu haben. Doch woher die „falsche Zuordnung“? Wer „wir“ als Interviewende sind, war von Anfang an von größter Bedeutung – er konnte uns (wie auch die Geschichte seines Vaters) nicht einordnen. Er fragte, ob wir jüdisch seien, vermutete eine „Wanze“, von der er nicht abgehört werden wollte – was angesichts unserer offen gestellten Frage, das Gespräch auf Tonband aufzunehmen, verwunderte. Da auch solche Formen der Interaktion Teil unseres Themas sind, entscheiden wir uns, das Interview trotzdem zu führen. Bereits im Setting ging es um die Aushandlung des sozialen Verhältnisses; der soziale Ort dominierte die Erzählung, bevor sie begann: Franz Dobernig musste, sozial gesehen, „oben“ sein, das drückte er schon durch das Erscheinungsbild aus – er erschien mit Mercedes und schriller Kleidung –, wurde aber auch dadurch geklärt, dass er uns aufforderte, in einem Restaurant, in dem man ihn gut kannte, Essen zu bestellen und selbst nicht aß. Im Interview wurden meist Situationen der sozialen Abwertung erzählt, die dem Vater auch nach 1945 widerfuhren – Franz Dobernigs Schwiegervater, ein

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ehemaliger SS-Angehöriger, hatte etwa darauf bestanden, dass der Vater nicht an der Hochzeit teilnehmen durfte. Die gesellschaftliche Abwertung des Vaters wurde aber auch narrativ übernommen: Der Vater wurde als schwach erinnert, als „im Prinzip […] hilflos und ein Dahinvegetierender“. So vermischten sich die Distanz zum Vater und zu uns als Interviewer*innen: Wir wurden zusammen abgewertet, um die eigene Ich-Konstruktion nicht durch störende Erzählungen aufzubrechen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sozialer Ort und Eigen-Sinn in einigen unserer Interviews auf mehrfache Weise eine Rolle spielten: In Form der Identifikation von uns mit der Obrigkeit samt Ablehnung des Interviews, in Form der Aushandlung von Narrativen und unserer Rollendiffusion von Expert*innen zu gleichrangigen Partner*innen eines Kaffeetratsches („Plauscherls“), in Form der Scham und des Leidens unter der sozialen Abwertung, der eigenen Distanzierung zur Familiengeschichte, aber auch in Form eines Platzzuweisens, einer sozialen Konkurrenz, bei der wir als Anwält*innen des als „Berufsverbrecher“ verfolgten Familienmitglieds adressiert und mitabgewertet werden. Die Diskussion der Positionierung an einem sozialen Ort und die Abgrenzung und Abwertung des Subproletarischen möchten wir im Folgenden anhand des Falles der Familie Stein/Stangl/Leitner auch hinsichtlich biographischer und familialer Strukturen vertiefen.

IV.

Familiengeschichtliche Skizze der Familie Stein/Stangl/Leitner

Bei der Familie Stein/Stangl/Leitner handelt es sich um eine Familie, in der der Großvater Ferdinand Stein (*1906) als „Berufsverbrecher“ bereits 1938 deportiert wurde und das KZ Mauthausen nicht überlebte. Zum Zeitpunkt seiner Deportation war er mit Sophia Stein (*1914) verheiratet, gemeinsam hatten sie eine Tochter (*1935) und einen Sohn (*1936). In der Generation von Sophia Steins Eltern hatte es vielfältige „Außenseiterpositionen“, Stigmatisierungserfahrungen und Entbehrungen gegeben, etwa im „Hungerwinter“ 1918/19 nach Ende des Ersten Weltkriegs. Hinweise darauf finden sich u. a. in den Erkrankungen der Männer an Tuberkulose. Galt die Krankheit zu Beginn noch als ein Resultat sozialer Ungleichheit im Zuge der Industrialisierung, wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend im Bild des „asozialen Tuberkulösen“49 mit „Asozialität“

49 1930 bestimmte E. Augstein bei einer Tagung der „Deutschen Tuberkulosegesellschaft“ diesen Begriff, „indem er ‚Asoziale‘ und ‚Antisoziale‘ als Menschen definierte, die bewusst ‚gegen das Soziale‘ verstießen bzw. sich gegen ‚soziale Vorschriften‘ auflehnten.“ Zit. n.

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in Verbindung gebracht und zu einer selbst verantworteten bzw. verschuldeten Erkrankung. Das entspricht einer in der Forschung oft konstatierten zunehmenden „Biologisierung von sozialen Merkmalen“.50 Strukturell zeigt sich, dass die Frauen in der Familie über Heirat keinen sozialen Aufstieg vollzogen. Im Gegenteil: Sophias Mutter ließ sich scheiden, als Sophia 14 Jahre alt war, ließ ihre Kinder bei der Großmutter zurück und heiratete ihren zweiten Mann, der in der Familie bis heute mit dem abwertenden Begriff „Polack“ bezeichnet wird. Mit dieser Heirat waren erneut Stigmatisierungserfahrungen verbunden, wobei sich nun sozialrassistische und rassistische Abwertung offen verschränkten. Wir lesen diese lebensgeschichtlichen Entscheidungen als Momente eines eigensinnigen Handelns der Frauen in der Familie von Sophia Stein. Im Frühjahr 1938 erlebte die Familie, wie die Polizei ohne Vorwarnung in der Nacht in die Untermietswohnung kam und Ferdinand Stein verhaftete. Er wurde über mehrere Stationen ins KZ Mauthausen deportiert. Dass er mit den ersten Transporten von „Berufsverbrechern“ aus Österreich ins Konzentrationslager kam, verweist darauf, dass er der Kriminalpolizei schon mehrfach aufgefallen war, sich als „Querulant“ der Obrigkeit widersetzt hatte.51 Ferdinand Stein wurde im Frühjahr 1943 im KZ Mauthausen ermordet. Sophia Stein war nach der Deportation und dem Tod von Ferdinand mit ihren beiden Kindern alleine und erlebte das Kriegsende in einer ökonomisch und sozial prekären Lage. Auch sie heiratete nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus ein zweites Mal und begann, in Fabriken zu arbeiten. Ihre Tochter Sophia erhielt keine Ausbildung und heiratete mit 19 Jahren Ferdinand Stangl (*1927). Er kam ebenfalls aus armen Verhältnissen, konnte jedoch noch vor seiner Einberufung in die Wehrmacht eine Lehre beenden, an die er nach seiner Rückkehr anschließen konnte. Sein Vater Michael Stangl war 1934 als SPÖMitglied in die Februarkämpfe involviert gewesen und hatte auch Ferdinand als Kind für geheime Waffentransporte herangezogen. Dem Ehepaar gelang es, sich in den 1950er-Jahren ökonomisch zu stabilisieren. Nachdem sie ein Haus gebaut hatten, wurde 1961 ihre erste Tochter Barbara und zwei Jahre später die zweite Tochter Sophie-Marie geboren. Mitte der 1960er-Jahre entschied sich die Familie dazu, nach Wien zu ziehen. Es begann ein Leben in einem sozialdemokratisch geprägten Wiener Gemeindebau. Ferdinand Stangl gelang es in Wien nicht, in seinem erlernten Beruf unterzukommen. Er arbeitete als Hausmeister, Sophia

Elisabeth Dietrich-Daum, Die „Wiener Krankheit“. Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich (Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 32), Wien 2007, 296. 50 Amesberger/Halbmayr/Rajal, „Arbeitsscheu und moralisch verkommen“, 23; vgl. allg. Josef Goldberger, NS-Gesundheitspolitik in Oberdonau. Die administrative Konstruktion des „Minderwertes“, Linz 2004. 51 Vgl. dazu Kranebitter, „Kampf gegen das Verbrechertum“.

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Stangl kümmerte sich um die Kinder und besserte mit Reinigungsjobs das Familieneinkommen auf. Die älteste Tochter Barbara Stangl absolvierte das Gymnasium; sie ist seit ihrem Schulabschluss als verbeamtete Verwaltungskraft einer staatlichen Einrichtung tätig. 1990 kam ihr Sohn zur Welt, den sie nach dessen Großvater väterlicherseits Michael nannte. Der Vater ihres Sohnes, Siegfried, stammte aus einer Arbeiterfamilie, beendete sein Studium nicht, war mehrere Jahre im Finanzbereich tätig und mehrmals von Arbeitslosigkeit betroffen. Michael Stangl absolvierte das Gymnasium, brach sein Studium ab und arbeitete im Sozialbereich. Heute ist er hauptberuflich in der österreichischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.

4.1

Sozialer Ort und Eigen-Sinn im Interview

Wir führten 2020 und 2021 mit vier Angehörigen mehrstündige biographischnarrative Einzelinterviews. Wir sprachen mit Barbara Stangl, Enkeltochter von Ferdinand und Sophia Stein und Tochter von Sophia Stangl, und deren Sohn Michael Stangl, sowie mit Daniela Leitner, Enkeltochter von Ferdinand und Sophia Stein und Tochter von Ferdinand Stein, und deren Sohn Patrick Zauner. Daniela Leitners Vater Ferdinand Stein lehnte ein Interview mit der Aussage „Jetzt kommen sie daher“ ab. Mit „sie“ waren erneut wir gemeint, die als Forscher*innen antizipierterweise eine andere Klassenposition innehätten und mit der Gedenkstätte Mauthausen auch eine staatliche Institution vertraten, die sich nie an diese Opfer erinnert oder sich für deren Geschichte interessiert hatte. Das „nicht-gefällige Verhalten“52, ein Interview zu verweigern, kann erneut als eigensinniges Handeln interpretiert werden, mit dem sich Ferdinand Stein unserem „herrschaftlichen Blick“ entzog. Barbara Stangl hatte im Zuge ihrer Recherchen zu ihrem Großvater Ferdinand Stein Kontakt zur KZ-Gedenkstätte Mauthausen aufgenommen und eine Anfrage zu ihrem Großvater gestellt. Unabhängig davon hatte dies auch Patrick Zauner getan. Dass beide nichts von ihren jeweiligen Recherchen wussten, gab uns den ersten Hinweis, dass es sich möglicherweise um eine gespaltene Familie handelte.53 Im Forschungsprozess erhärtete sich diese These. Auf den Vorschlag, den Kontakt herzustellen, reagierte Barbara Stangl anfangs bejahend, brach den Kontakt zu Patrick Zauner aber bald ab. Sie begründete dies mit dem Umstand, er würde in der „Gösserfabrik“ wohnen. Mit der Zuschreibung dieses sozialen 52 Lüdtke, Eigen-Sinn, 17. 53 Vgl. dazu Michael Wirsching/Helm Stierlin, Krankheit und Familie. Konzepte. Forschungsergebnisse. Therapie, Stuttgart 1982, 132–134.

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Abb. 1: Genogramm der Familie Stein/Stangl. Die mit Punkten markierten Personen haben wir für das Projekt interviewt.

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Ortes verortete Barbara Stangl Patrick Zauner in der „schlechten“ Unterschicht, die – im Gegensatz zum „guten“ Proletariat – „den nicht-integrierbaren Teil in Ökonomie, Politik und Gesellschaft“ darstellen würde, „der als das Ausgeschlossene in der vorherrschenden gesellschaftlichen Homogenität negativ bestimmt wird.“54 Sie brachte über die Benennung des zugeschriebenen sozialen Orts eine Abwertung zum Ausdruck und aktualisierte eine soziale Grenzziehung jenem Familienzweig gegenüber, dem sie Instabilität, fehlenden sozialen Aufstieg und die Gefahr des sozialen „Abrutschens“ zuschrieb. Die Grenzziehung wurde bereits in ihrer Elterngeneration begonnen, strukturierte ihre eigene Lebensgeschichte und bestimmte das Verhältnis der folgenden Generationen untereinander. Sie dient unseres Erachtens dazu, eine von sozialer Stigmatisierung und Scham geprägte Familien- und Lebensgeschichte stabilisierend zu bearbeiten. Dass dabei jedoch auch immer wieder Eigen-Sinniges „durchbrach“, soll im Folgenden anhand des Familienzweiges Stein/Stangl herausgearbeitet werden. Bemerkenswert ist, dass Barbara Stangl und ihr Sohn Michael ihren jeweiligen Arbeitsplatz als Ort für das Interview wählten. Anders als ihr Sohn, der eine Fotografie an der Wand hängen hatte, die seinen Großvater Michael Stangl in den 1950er-Jahren in der Fabrik zeigte, hatte Barbara Stangl keine privaten Gegenstände in ihrem Büro. Die Wahl des jeweiligen Interviewortes entsprach nicht nur dem sozialen Ort, von dem aus uns Barbara und Michael Stangl aus einer gewissen Distanz ihre Lebens- und Familiengeschichte erzählen wollten – als etablierte Angestellte. Der Ort rahmte auch die Präsentation der Lebens- und Familiengeschichte. In Barbara Stangls biographischer Selbstpräsentation lag der Fokus auf der Etablierungs- und Aufstiegsgeschichte. Vom Büro als sicherem Ort konnte sie sich auch dem „bedrohlichen“ Teil der Familiengeschichte zuwenden, der von Scham, Tod und Verlust geprägt war. An diesem Ort artikulierte Barbara Stangl auch ihre Erwartung, dass wir diejenigen seien, die sich um diese Geschichte kümmern würden. Ihr Sohn Michael Stangl sprach hingegen über das Bedrohliche in seiner Lebensgeschichte. Das Büro mit dem Bild seines Großvaters vor einer Maschine rahmte gleichsam diese Selbstpräsentation als stabil und an der „guten“ Arbeiterklasse orientiert. Im Unterschied dazu trafen wir Patrick Zauner und seine Mutter Daniela in ihren privaten, beengten Wohnräumen. Beide präsentieren ihre Lebensgeschichten als brüchig, von Gewalt, von Krankheit, vom Tod eines Kindes und von sozialer Ächtung durchzogen. In diesem Familienzweig wurde das sozial bedrohliche Subproletarische thematisiert und die Distanzierung zum „sozialen Unten“ weniger stark vollzogen. Das Private und auch das Intime traten damit weniger stark in den Hintergrund.

54 Christopher Wimmer, Lumpenproletariat. Die Unterklassen zwischen Diffamierung und revolutionärer Handlungsmacht, Stuttgart 2021, 10.

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Narrative Distanzierungen zum Subproletarischen

Wir kehren in die Vergangenheit zurück: Das gewaltsame Eindringen der Kriminalpolizei im Jahr 1938, die Deportation und der Verlust des Ehemanns und Vaters wurde für Sophia Stein und ihre beiden Kinder Sophia und Ferdinand zum traumatischen Erlebnis, das eng mit dem Erleben der sozialen Scham verbunden war. So erlebte etwa Sophia Stein, dass sie vom Lehrer geschlagen und als „Kind eines Verbrechers“ beschimpft wurde. Die erlebte Stigmatisierung, das „Kind eines Verbrechers“ zu sein, schrieb sich in ihr Selbstbild ein, die erfahrene soziale Scham wirkte mit Sighard Neckel auch als soziale Angst vor Ächtung und weiterem Ausschluss.55 Nach 1945 riss diese Erfahrung nicht ab. Barbara Stangl sagte im Interview, dass sie immer noch ihre Großmutter Sophia Stein sagen höre: „Meine Kinder sind etwas geworden, so, meine Kinder sind keine Verbrecher.“ Das Erlebensmuster der sozialen Scham im Kontext des spezifischen Diskurses des Täterverdachts im Nachkriegsösterreich begründete den Auftrag der Witwe Sophia Stein an ihre Kinder, „keine Verbrecher“ zu werden. Sophia Stein heiratete mit Ferdinand Stangl einen Facharbeiter, der Sozialdemokrat und Gewerkschaftsmitglied war. Im Gegensatz zu Sophia stammte Ferdinand Stangl aus einer Familie, die sich positiv auf eine sozialdemokratische Tradition beziehen konnte. Das delinquente Handeln von Ferdinand Stein, seine Kategorisierung als „Verbrecher“, die subproletarische Herkunft und der nach 1945 wirkende gesellschaftliche Täterverdacht waren jene Momente, die nach 1945 überdeckt werden mussten und über biographische und familienstrategische Entscheidungen überwunden werden sollten. Mitte der 1960er-Jahre trafen Sophia und Ferdinand Stangl die Entscheidung, nach Wien zu gehen. Dieser Schritt überrascht. In dieser Zeit florierte die Industrie, in der Ferdinand arbeitete, ihr Niedergang setzte erst in den 1970erJahren ein. Es kann die These aufgestellt werden, dass mit dieser Migration in die Stadt auch eine Distanzierung zur Herkunftsfamilie von Sophia Stangl ermöglicht wurde. Die Familie hatte einen schwierigen Start in Wien: Ferdinand Stangl fand keine Anstellung in seinem gelernten Beruf, sondern arbeitete zuerst als Hilfsarbeiter, dann als hauptberuflicher Hausmeister im Gemeindebau, in dem auch die Familie lebte; Sophia Stangl arbeitete in befristeten Beschäftigungsverhältnissen. Dass insbesondere ihr Vater einen sozialen Abstieg vollzog, thematisierte seine Tochter Barbara Stangl im Interview nicht. Sie präsentierte im Gegenteil eine Aufstiegs- und Etablierungsgeschichte, eng verwoben mit den Wiener sozialdemokratischen Strukturen. Indem sie die Geschichte ihres Vaters 55 Vgl. Sighard Neckel, Achtungsverlust und Scham. Die soziale Gestalt eines existentiellen Gefühls, in: Hinrich Fink-Eitel/Georg Lohmann (Hg.), Zur Philosophie der Gefühle, Frankfurt a. M. 1993, 244–265, 249.

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als eine stabile Geschichte erzählte, schützte sie sich vor der familiengeschichtlich bedingten Angst vor sozialem Abstieg und der damit verbundenen Scham. Insbesondere blendete sie jedoch Brüche, cholerische Ausbrüche und Alkohol aus.56 Kann die Binnenmigration bereits als Distanzierung gelesen werden, war das Leben im Gemeindebau von weiteren sozialen Grenzziehungen geprägt. Sophia und Ferdinand Stangl achteten darauf, dass sich ihre Töchter nicht mit dem „Gesindel“ im Gemeindebau herumtrieben, das als alkoholkrank, in zerrütteten Verhältnissen lebend und keiner (legalen) Arbeit nachgehend erlebt wurde. „Da haben sie schon auch gesagt, da hast du es schon wieder“, erzählt Barbara Stangl. Dass diese Grenzziehung im Erleben von Sophia Stangls Töchtern unmittelbar mit der Verfolgungsvergangenheit in Verbindung stand, wurde ihnen in Streitsituationen ihrer Eltern vermittelt. Barbara Stangl erinnerte sich, dass ihr Vater ihre Mutter dann mit den Worten anschrie: „‚Verdammt noch einmal, denk nach, du bist die Tochter eines Verbrechers‘, also diese Dinge sind dann schon in Worten gekommen.“ In diesen Momenten wurde die soziale Angst vor Ächtung und Ausschluss für Sophia und ihre beiden Töchter aktualisiert und die Delegation vermittelt. Barbara Stangl erlebte ihre Mutter in dieser Situation als jemanden, der zu weinen begann und verstummte. Barbara Stangl und ihre Schwester entwickelten also bereits ab ihrer frühen Kindheit ein Bewusstsein dafür, wer zur guten, d. h. sozialdemokratisch orientierten Arbeiterklasse und wer zum „Gesindel“ gehörte. Die Migration in die Stadt und das Leben als Arbeiter*innen im Gemeindebau waren Momente der Distanzierung. Die Familie orientierte sich an der väterlichen Familienseite, die mit dem sozialdemokratischen Narrativ korrespondierte: Kampf für die Demokratie, gewerkschaftliches Engagement und Eingebundensein in sozialdemokratische Organisationen. Halten Sophia und Ferdinand Stangl noch Kontakt zu jenem Familienzweig, der im Norden Österreichs geblieben war, zeigte sich in der Fallrekonstruktion ihrer Tochter Barbara Stangl deutlich, dass sie die Grenzziehung auch innerhalb der Familie vollzog. Sie begann, den Kontakt zum Familienzweig des Bruders ihrer Mutter stark zu reduzieren, ihr 1990 geborener Sohn Michael sollte keinen Kontakt mehr haben, ohne genau zu wissen warum. Sprach Barbara Stangl über diesen Familienzweig, dann tat sie dies in abwertender Form. Barbara Stangls Cousine Daniela erzählte, dass Barbara auf dem Begräbnis ihrer Mutter nicht mit ihr gesprochen habe. Sie deutete an, dass der Familienzweig Stein/Stangl sich durch ihren Umzug nach Wien für etwas Besseres halte.

56 Dieses Wissen stammt aus dem Interview mit ihrem Sohn Michael Stangl. In der Familie wurde darüber sehr wohl gesprochen, jedoch lehnte es Barbara Stangl ab, mit uns darüber zu sprechen. Ihr Sohn Michael deutete es an.

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Die Vermittlung sozialer Scham und Angst vor sozialer Ächtung bestimmten auch die Interaktion der Enkelkindergeneration mit der Urenkelkindergeneration. Michael Stangl erzählte: „Das hat ma meine Mutter schon vermittelt, okay, das sind nicht die Leute, mit denen wir uns abgegeben und so, und wir sind was Besseres und das woll ma nicht, aber irgendwie war das was Normales.“ Seine Großmutter Sophia Stein, bei der er die Nachmittage nach der Schule verbrachte, meinte immer wieder: „Das war das Einzige was ma gstritten haben=ja, ich bin heim, ich bin zu ihr kommen nach der Schule, hab mich auszogen, hab ma die Jogginghose anzogen und hab das Gwand in die Ecke gfetzt=ja, und das war halt so, sowas was ihr wichtig war, dass ich das Gwand aufhäng, ((lacht)) […] und sie hat gsagt ‚ja mit der Einstellung da wirst nicht weit kommen und, ah, da sitzt irgendwann einmal im Gfängnis, wennst weiter so denkst‘ ((lacht)).“

Michael selbst trat als Jugendlicher stärker in Konflikt mit seiner Mutter Barbara Stangl, brachte wenig schulische Leistungen und durchlebte Alkoholexzesse. 2014 kam es zu einem Ereignis, das zum biographischen Wendepunkt in Michaels Leben wurde: Er wurde betrunken in einem Streit schwer verletzt und musste notoperiert werden. Ab diesem Zeitpunkt begann er sich beruflich zu festigen und engagierte sich noch stärker als sein Großvater Ferdinand Stangl in der Gewerkschaft. Er beendete auch die Konflikte mit seiner Mutter und erhielt die Anerkennung seiner Großmutter: „Weil sie immer gesagt hat, er [sein Großvater Ferdinand Stangl] wär sehr stolz gwesen.“

V.

Fazit

Im Nationalsozialismus wurden Verhaltensweisen von Angehörigen der sozialen Unterschicht, die mit Lüdtkes Konzept des Eigen-Sinns gefasst werden können, oft als „staatsfeindlich“ und „gemeinschaftsfremd“ etikettiert. Zehntausende Menschen wurden als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ in Konzentrationslager deportiert, dort dauerhaft weggesperrt und zeitweise vernichtet. Die Überlebenden aus diesen Haftgruppierungen kämpften auch nach 1945 mit teils fortgesetzten, teils neu hinzukommenden Formen sozialer Ausschließung – mit ihnen rangen ihre Familien mit diesen Stigmatisierungen und narrativen Deutungen jenseits hegemonialer Diskurse. Mit der Stigmatisierung lebten unseres Erachtens auch „eigensinnige“ Verhaltensweisen weiter, die sich nicht zuletzt in den sozialen Interaktionen unserer Interviews Bahn brachen. Globalanalytisch haben wir in diesem Artikel – ergänzt durch eine vertiefende Diskussion einer Fallgeschichte – einige Interviews mit Angehörigen präsentiert, in denen der tatsächliche und wahrgenommene soziale Ort und die soziale In-

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teraktion mit uns als den Interviewenden auch in der inhaltlichen Herausbildung der erzählten Geschichte eine zentrale Rolle spielten. Wir haben dabei auf Bezugnahmen und Distanzierungen zum familiengeschichtlichen und gegenwärtigen sozialen Ort und zu der uns zugeschriebenen Klassenposition in biographischen Handlungs- und Erinnerungsstrukturen von Nachkommen von als „Berufsverbrecher“ Deportierten fokussiert. Interaktionen, die uns immer wieder irritierten, verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit bei der Interpretation – von der Wahl des Interviewortes bis zu den Rollenerwartungen an uns. Deutlich wird, dass der soziale Ort auch die Interaktion mit uns Forschenden mitbestimmt und – mehr noch – konstitutiver Teil der Interaktion ist. Darüber hinaus durchziehen Scham und Angst vor sozialer Ächtung all unsere Interaktionen. In den Biographien werden sie bearbeitet – in Form von sozialem Aufstieg, Bildung und sozialer Distanzierung innerhalb der Familie und ganz allgemein zu jenen, die dem „sozialen Unten“ zugerechnet werden. Anhand des Falles von Stein/Stangl konnten wir verdeutlichen, dass das eigensinnige Handeln nicht einfach in diesen biographischen und familialen Bemühungen um Distanzierung und Stabilisierung verschwindet, sondern immer wieder auf unterschiedliche Weise „durchbricht“. Wurde das eigensinnige Handeln schon zuvor von der „Obrigkeit“ kategorisiert und zugerichtet, wurde es mit der kollektivgeschichtlich-familialen Erfahrung der sozialrassistischen NS-Verfolgung jedoch zu jenem Bedrohlichem, das immer wieder über Stabilisierungsstrategien abgewehrt werden muss. Im Ergebnis können wir festhalten, dass diese intergenerationale Weitergabe der Erfahrungen sozialer Ausschließung in der NS-Zeit auf das biographische Handeln ihrer Nachkommen wirkt, bis in die Gegenwart zu familienstrategischen Entscheidungen führt und weitere familiale Grenzziehungen zum „Subproletarischen“ der nachfolgenden Generationen strukturiert.

Abstracts

New Research on Wehrmacht. Deserters in the Alps Peter Pirker Deserters in the Alps. Surveying Escapes from the Wehrmacht during World War Two The article presents results from empirical research on deserters from the Wehrmacht and draft evaders in the former Alpine regions of Nazi Germany during World War Two. Based on research in state and private archives in Austria, Germany, Italy, Switzerland, Sweden, and Slovenia, a sample of more than 2,000 cases of desertion and draft evasion was formed in order to outline the extent and basic structures of the phenomenon. The focus of the study is on the territory of the present-day Austrian provinces of Tyrol and Vorarlberg and the Italian Autonomous Province of Bolzano/South Tyrol. About 1–2 percent of the soldiers from the study area evaded service in the Wehrmacht. The interregional comparison shows region-specific variants of the escape movements: Vorarlberg was mostly a transit area for military service refugees from the entire Reich due to its border with Switzerland while in Tyrol and South Tyrol, soldiers retreated to Alpine areas that were difficult to access and relied on help from their milieus of origin. Keywords: World War II, Wehrmacht, Deserters, Alps, Austria, Italy

Johannes Kramer The Special Case of South Tyrol. The Successful and Failed Activations of the “Ethnic-German Defensive Spirit” It is estimated that between 25,000 and 30,000 German-speaking South Tyroleans served in the German armed forces during World War Two, including up to 5,000 in the Waffen-SS. There is also talk of 8,000 fallen soldiers. Meanwhile, the

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number of South Tyrolean deserters was last estimated at 400. Based on the literature and with recourse to the extensive collection of material of the South Tyrolean project funded by the South Tyrolean Provincial Archives, the article first highlights the (structural) history of the mobilization and assignment of German-speaking (and also Ladin-speaking) South Tyroleans. An attempt is then made to classify the case histories documented so far in the project with regard to acts of refusal according to certain central factors and characteristics. For this purpose, archival sources that have been unused to date will also be consulted. In conclusion, the negotiation of the phenomenon of “refusal” in the region after the end of the war will be examined against the background of the region-specific history and post-history of National Socialism and in relation to the German and Austrian examples. Keywords: World War II, Wehrmacht, Deserters, South Tyrol, Italy

Isabella Greber / Peter Pirker Indispensability, Self-Mutilation, Desertion, Resistance: Draft Evasion in the Vorarlberg Village of Krumbach The article presents results of a case study on draft evasion in the Vorarlberg village of Krumbach during World War Two. A remarkable number of conscripted men from this agrarian and conservative Catholic community deserted from the Wehrmacht during the war or tried to avoid military service by committing self-mutilation or applying for indispensability. Before the arrival of the French army in early May 1945, they also participated in resistance actions against the SS and then in the political reconstruction of the communal administration. Based on files of the Wehrmacht justice system and the special justice system of the Nazi state as well as documents from local archives and interviews, five cases are here reconstructed. The study shows that the conscripts’ possibilities for action depended both on solidarity in their social environment and on the behavior of functionaries of the Nazi state at the regional and local levels. Conforming and nonconforming actions did not confront each other abruptly. Rather, the actions of the local commander of the gendarmerie illustrate how his ambivalence enabled draft evictions or mitigated persecution. Moreover, the article shows that the deserters of Krumbach were not necessarily socially marginalized. Rather, they belonged to families that had formed part of mainstream society before 1938 and again after 1945. Keywords: World War II, Wehrmacht, Deserters, Austria, Vorarlberg

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Nikolaus Hagen “We did not want to sacrifice our young lives for a hopeless cause.” The Case of the Brothers Erwin, Kurt, and Fritz Müller In October 1943, the three Müller brothers fled across the Alps to neutral Switzerland. During their leave from the front, they had decided to desert the Wehrmacht and the Waffen-SS. One of the brothers, Erwin Müller, returned to Vorarlberg in June 1944, where he successfully hid until the end of the war. Upon his return, he shot and killed an auxiliary border employee. This case study examines the social, military, and geographical spaces of experience that led to the three brothers’ successful desertion. Keywords: World War II, Wehrmacht, Deserters, Austria, Vorarlberg

Andreas Kranebitter / Maria Pohn-Lauggas “My Plebeian Family.” On the Presence of the Sub-Proletarian in Memories and Family Structures of Nazi Victims The National Socialist regime often labeled members of the social underclass, whose behavior can be grasped with Alf Lüdtke’s concept of Eigen-Sinn (roughly translated as “stubbornness”), as “public enemies” or “aliens to the community.” Tens of thousands of people were deported to concentration camps as “antisocials” or “professional criminals” and were thus permanently socially excluded or exterminated. After 1945, the survivors within these groups struggled with various forms of social exclusion and stigmatization – and their families struggled with them. In our view, “idiosyncratic” behaviors endured along with stigmatization, breaking through not least of all in the social interactions of our interviews. This article presents the findings of a global analysis of fifteen narrative biographical interviews with relatives of stigmatized victims of National Socialism, supplemented by an in-depth discussion of one case history. We focus on the question of how the actual and perceived social location and interaction with us as interviewers played a role in the formation of the content of the story told. The family experience of Eigen-Sinn being object to socio-racist Nazi persecution turned into a social threat that had to be warded off through stabilization strategies. As a result, we can state that this intergenerational transmission of the experiences of social exclusion during the Nazi era affects the biographical actions of their descendants, leads to strategic family decisions up to the present, and structures further familial demarcations against the “sub-proletarian” of following generations. Keywords: Conzentration Camp, Eigen-Sinn (Stubbornness), Stigmatisation, “Professional Criminals”, Multigenerational Research, Family Memory

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Gerhard Botz/Alexander Prenninger/Regina Fritz/Heinrich Berger (Hg.), Mauthausen und die Nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik (Europa in Mauthausen 1), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2021, 711 Seiten. Alexander Prenninger/Regina Fritz/Gerhard Botz/Melanie Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen (Europa in Mauthausen 2), Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2021, 420 Seiten. Im Jahr 2001 schrieb das österreichische Bundesministerium für Inneres (BMI) das Oral History-Forschungsprojekt „Mauthausen Survivors Documentation Project“ (MSDP) international aus. Unter der Leitung des nunmehr emeritierten Universitätsprofessors Gerhard Botz, damals Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, bildete sich eine Arbeitsgemeinschaft des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW) und des Instituts für Konfliktforschung (IKF), die zur Ausführung des Projekts beauftragt wurde. Innerhalb von 16 Monaten – zwischen Jänner 2002 und Mai 2003 – wurden in 19 europäischen Staaten, den USA, Kanada, Argentinien und Israel Interviews mit Überlebenden des KZ-Komplexes Mauthausen geführt. Es wurden 859 lebensgeschichtliche Interviews mit 846 Personen in 16 verschiedenen Sprachen aufgenommen.1 Der aus dem Projekt resultierende Quellenbestand „war die umfassendste systematische Sammlung von lebensgeschichtlichen Audio- und Videointerviews mit Überlebenden, die zu einem einzelnen nationalsozialistischen Konzentrationslager von der internationalen Geschichtsforschung erstellt wurde.“2 Diese Interviews, die über das Archiv der KZ-Gedenkstätte Mauthausen für Interessierte zugänglich sind, bilden die Quellenbasis für die zwei ersten im Jahr 2021 erschienenen Bände der Reihe „Europa in Mauthausen“. Dieses umfassende Werk, das nur durch die Kooperation und Expertise internationaler WissenschafterInnen publiziert werden konnte, ist das Ergebnis des 2007 begonnenen „Mauthausen Survivors Research Projects“ (MSRP) des LudwigBoltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft (LBIHS) und des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien. In insgesamt vier Bänden werden Erinnerungen ehemaliger Häftlinge des KZ-Systems Mauthausen aus vergleichender Perspektive untersucht. In Band 1 („Mauthausen und die nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik“) werden methodologische Überlegungen, die Vorgeschichte sowie Durchführung des MSDP detailliert dargelegt und durch Beiträge zum Forschungsstand der nationalsozialistischen 1 Bei fünf Interviewten handelte es sich um Angehörige der U.S. Army und mit acht Personen wurden sowohl Audio- als auch Videoaufnahmen angefertigt. 2 Gerhard Botz/Alexander Prenninger/Regina Fritz, Vorwort, in: Gerhard Botz/Alexander Prenninger/Regina Fritz/Heinrich Berger (Hg.), Mauthausen und die Nationalsozialistische Expansions- und Verfolgungspolitik (Europa in Mauthausen 1), Wien 2021, 6.

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Expansions-, Besatzungs- und Verfolgungspolitik im Kontext der Errichtung von NS-Konzentrationslagern und anderen Terrorstätten ergänzt. Band 2 widmet sich den Deportationswegen und -orten der Überlebenden sowie der Einordnung dieser Erfahrungen und Erinnerungen unter dem Titel „Deportiert nach Mauthausen“. Die noch in Bearbeitung befindlichen zwei weiteren Bände behandeln Fragen nach dem Leben und Überleben in der Häftlingsgesellschaft des KZ Mauthausen und seinen über 40 Außenlagern sowie den individuellen und kollektiven Erinnerungen im Hinblick auf die Bedeutung der Verfolgungs- und Hafterfahrung. Der erste Band ist somit als Einführung für die weiteren Bände der Reihe zu verstehen. Bei der Darlegung der Vorgeschichte, Durchführung und Nachbereitung des MSDP werden realpolitische Gegebenheiten ebenso wie geschichtswissenschaftliche Debatten über Oral History im Allgemeinen und die Konzeption der mittlerweile neugestalteten Ausstellung der Gedenkstätte Mauthausen im Besonderen berücksichtigt – 20 der insgesamt 100 Videointerviews sind Teil der 2013 eröffneten Ausstellung „Das Konzentrationslager Mauthausen 1938–1945“ in der Gedenkstätte. Von 1938 bis 1945 waren in Mauthausen und seinen Außenlagern zirka 190.000 Männer, Frauen und Kinder inhaftiert – mehr als 90.000 überlebten das KZ nicht bzw. starben in den Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Haft. Aufgrund der Dauer des Bestehens des KZ-Komplexes Mauthausen – die ersten Häftlinge wurden am 8. August 1938 überstellt, am 6. Mai 1945 wurden die letzten Lager befreit – „erfuhr Mauthausen alle Phasen des Krieges und der Verfolgungspolitiken im Reich und in den besetzten Gebieten.“3 Der daraus resultierende Funktionswandel des KZ wird durch die Veränderung der Häftlingsgesellschaft sichtbar, die zunehmend internationaler wurde. Der Titel der Buchreihe „Europa in Mauthausen“ reflektiert damit diese Entwicklung. Das Sample des MSDP ist kein direktes Abbild der Häftlingsgesellschaft (und soll es auch gar nicht sein). Neben der offensichtlichsten „Verzerrung“ – nur Überlebende konnten interviewt werden – wurden als „jüdisch“ verfolgte Überlebende und Frauen vermehrt in das Projekt einbezogen. „Jüdische“ Häftlinge deshalb, weil sie dem Vernichtungsdruck ungleich stärker ausgesetzt waren als andere Häftlingskategorien, und Frauen, da sie in der Mauthausenforschung stark unterrepräsentiert waren und immer noch sind.4 Dieser Tatsache könnte 3 Alexander Prenninger/Regina Fritz/Gerhard Botz/Melanie Dejnega/Heinrich Berger, Ständige Bewegung im Ungewissen. Deportierte und ihre Wege nach Mauthausen. Einleitung, in: Alexander Prenninger/Regina Fritz/Gerhard Botz/Melanie Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen (Europa in Mauthausen 2), Wien 2021, 21. 4 Ausnahmen bilden hier: Andreas Baumgartner, Die vergessenen Frauen von Mauthausen. Die weiblichen Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen und ihre Geschichte, Wien 1997; Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr, Weibliche Häftlinge im KZ Mauthausen und seinen

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auch geschuldet sein, dass in beiden Bänden mehrheitlich das generische Maskulinum verwendet wird. Grundsätzlich wurde versucht, eine breite Streuung unter Berücksichtigung unterschiedlicher Parameter (Nationalität, Geschlecht, „Winkel“-Kategorie, Alter etc.) im Sample zu erreichen sowie bislang stigmatisierte Häftlingsgruppen („Asoziale“, „Kriminelle“, „Zigeuner“, Homosexuelle aber auch Geiseln und Kriegsgefangene) stärker einzubeziehen – eine absolute Proportionalität entzog sich allerdings den Möglichkeiten der Umsetzung. Der zweite Band der Reihe führt den LeserInnen die Vielfalt der Häftlingsgesellschaft vor allem hinsichtlich ihrer nationalen Herkunft vor Augen. „Deportiert nach Mauthausen“ ist in acht Kapitel („Deutschland und Österreich“, „Ostmitteleuropa“, „Westeuropa und Skandinavien“, „Südosteuropa“, „Sowjetunion“, „Italien, Slowakei und Ungarn“, „Länderübergreifende Deportationserfahrungen“ und „Endphase“) gegliedert, die wiederum in Abschnitte unterteilt sind, in denen die regionalen Kontexte der nationalsozialistischen Eroberungs- und Besatzungspolitik sowie die Wege der Deportation der Überlebenden nachgezeichnet werden. Beiträge in diesem Band, deren Bezugsrahmen über jenen der nationalen Grenzziehung hinausgehen, sind jene von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayr, die die Wege und Erfahrungen weiblicher KZ-Häftlinge thematisieren, sowie jener von Kobi Kabalek zum Thema „Die Wege von Juden nach Mauthausen. Eine integrative Geschichte.“ Der abschließende Beitrag von Alexander Prenninger zu Evakuierungstransporten und sogenannten „Todesmärschen“ bezieht verschiedene Regionen Europas ein und bildet eine gelungene Abrundung zweier Ebenen, die in diesem Publikationsprojekt zusammengeführt werden: Die Entwicklung des KZ-Systems im Kontext der nationalsozialistischen Besatzungs- und Expansionspolitik.5 In der Einleitung merken die AutorInnen an, dass „[w]eitere Beiträge mit einem nationsübergreifenden Ansatz, etwa zu child survivors oder Roma und Sinti“6 nicht realisiert werden konnten. Zum Teil werden diese „Lücken“ implizit geschlossen – Kinder und Jugendliche waren aufgrund des Zeitpunkts der Projektdurchführung stark im Sample vertreten. Roma und Romnja sowie Sinti und Sintize hingegen waren unterrepräsentiert – insgesamt wurden nur drei Interviews mit dieser Personengruppe geführt. Die Außenlagern, unveröff. Projektbericht, Wien 2010 sowie der Beitrag in Band 2, ebenfalls von Helga Amesberger/Brigitte Halbmayr, Der lange Weg. Weibliche Häftlinge im KZ-System Mauthausen, in: Prenninger/Fritz/Botz/Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen, 457–490. 5 Ende des Jahres 2021 wird Alexander Prenningers detaillierte Studie, auf der sein Beitrag in Band 2 basiert, als Band 16 der Publikationsreihe „Mauthausen-Studien“ unter dem Titel „Das letzte Lager. Evakuierungstransporte und Todesmärsche in der Endphase des KZ-Komplexes Mauthausen“ erscheinen. 6 Prenninger/Fritz/Botz/Dejnega/Berger, Einleitung, in: Prenninger/Fritz/Botz/Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen, 22, Hervorhebung im Original.

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Erinnerungen des Roma Michael Horvath und des Sinto Reinhard Florian werden im Kapitel „Deutschland und Österreich“ verarbeitet. Die einzelnen Beiträge dieses Bandes interpretieren den „Weg“ nach Mauthausen unterschiedlich, manche aus struktur- andere aus biografiegeschichtlicher Perspektive. Beinahe alle analysieren Interviews des MSDP – die Ausnahme bildet der Beitrag von Merethe Aagaard Jensen zu dänischen und norwegischen KZ-Häftlingen. Da diese nur in geringer Zahl im Mauthausen-Komplex inhaftiert und im MSDP-Sample nicht vertreten waren, bezieht Jensen lebensgeschichtliche Interviews skandinavischer Institutionen ein. Entgegen der These, dass die Deportation eines Menschen in ein KZ eine singuläre Erfahrung war, zeigen die Beiträge dieses Bands, dass die zwangsweise Verschleppung nach Mauthausen bei vielen Überlebenden eine von vielen Deportationserfahrungen war. Durchschnittlich befanden sich die Überlebenden während der Zeit des Nationalsozialismus in mehr als sechs Internierungsorten. Neben den Konzentrationslagern zählen hierzu auch Gefängnisse, Durchgangs-, Zwangsarbeits- und Kriegsgefangenenlager oder Ghettos – Orte des Terrors, die meist nicht in die KZ-Forschung miteinbezogen werden. Auch die Bedeutung, die der Deportation nach Mauthausen von den Überlebenden zugeschrieben wurde, divergiert. Manchen war Mauthausen ein Begriff, der zumeist mit Angst und Bedrohung konnotiert war,7 für andere hingegen war es „[d]as unbekannte und erschreckende Ziel“8 und für die meisten – im Rahmen der Lagerevakuierungen in der Endphase – „das letzte Lager.“9 Ein erklärtes Ziel des Publikationsprojekts ist die Darstellung von „Vielfalt und Ambivalenz individueller Schicksale“10 als differenzierte Gegenerzählung zu geschichtsrevisionistischen Erzählungen und rassistischen sowie antisemitischen Handlungen. Erinnerungen und Erfahrungen an die Zeit des Nationalsozialismus werden im zweiten Band der Reihe zwar mehrheitlich nach nationaler Herkunft geordnet, aber dennoch gleichberechtigt dargestellt. Dadurch wird die gegenseitige Anerkennung trennender Erinnerungen ermöglicht, was in Anlehnung an Aleida Assmann Voraussetzung für die Etablierung eines europäischen transna-

7 Vgl. Katja Happe, „…geben Sie besser alle Hoffnung auf.“ Die Deportation von Niederländern nach Mauthausen als Abschreckung, in: Prenninger/Fritz/Botz/Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen, 209. 8 Sigrid Heide zit. n. Jensen, „Wie vom Erdboden verschwunden…“. Die dänischen und norwegischen Mauthausen-Häftlinge, in: Prenninger/Fritz/Botz/Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen, 241. 9 Alexander Prenninger, Evakuierungslager Mauthausen. Lagerräumungen, Evakuierungstransporte und Todesmärsche in der Endphase des „Dritten Reichs“, in: Prenninger/Fritz/ Botz/Dejnega (Hg.), Deportiert nach Mauthausen, 591. 10 Botz/Prenninger/Fritz, Vorwort, in: Botz/Prenninger/Fritz/Berger (Hg.), Mauthausen, 6.

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tionalen Gedächtnisrahmens ist,11 dessen Gedenken allen Opfern des Nationalsozialismus gilt. Die Interviews bilden den bislang wichtigsten Quellenkorpus lebensgeschichtlicher Erinnerungen des KZ-Systems Mauthausen. Sie wurden in Anbetracht des hohen Alters der Interviewten relativ spät, aber noch rechtzeitig aufgenommen und bleiben damit der Nachwelt als wichtiges zeitgeschichtliches Zeugnis erhalten – in den beiden Bänden wurden ihre Erfahrungen für eine breite (wissenschaftliche) Leserschaft zusammengefasst und aufbereitet. Elisa Frei

Helmut Konrad, Das Private ist politisch. Marianne und Oscar Pollak, Wien: Picus Verlag 2021, 279 Seiten. Marianne Pollak ist mir durch meine Forschungen zu den Geschlechterverhältnissen im Feld des Politischen im Österreich des 20. Jahrhunderts vertraut. Sie war eine der wenigen Frauen, die sich theoretisch und konzeptionell mit der Rätebewegung nach dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzte; sie zählte zum Kreis der jüngeren, linken Sozialdemokratinnen, viele jüdischer Herkunft, rund um die intellektuelle Doyenne der Partei Therese Schlesinger; sie initiierte Anfang der 1930er-Jahre eine Umfrage unter jungen Frauen in Wien, warum sich diese für den Nationalsozialismus begeisterten etc. Marianne Pollak, geb. 1891 als Marianne Springer in Wien war eine Frau des Wortes. Und, sie war verheiratet mit einem Mann des Wortes, mit Oscar Pollak, geb. 1893. Die beiden, bereits engagierte SozialdemokratInnen, heirateten 1915. Sie machte eine Ausbildung zur Französisch- und Englischlehrerin, er absolvierte das Studium der Rechtswissenschaften. Auch dank der Sprachkenntnisse von Marianne Pollak arbeiteten sie von 1922 bis 1924 im Sekretariat der „Internationalen Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Parteien“ bei Friedrich Adler in London. Dem Leben der beiden widmet Helmut Konrad, emeritierter Professor der Universität Graz und ein zentraler Protagonist der Zeitgeschichtsschreibung in Österreich, eine Doppelbiographie. Als Quellenkorpus fungiert der Nachlass der Pollaks im Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung in Wien. Eingebettet in sein umfangreiches Wissen um die Geschichte Österreichs und der ArbeiterInnenbewegung im 20. Jahrhundert verknüpft Konrad das spannende und außergewöhnliche Leben dieses Paares mit vielfältigen historischen Diskursen: Es geht um Partei-, Sozial-, Medien-, Kultur- und Gesellschaftspolitiken. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit nach ihrer Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1945. 11 Vgl. Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, 270–271.

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Die Pollaks emigrierten bereits 1935. Ihre Stationen waren Zürich, Paris, Brüssel, wieder Paris und schließlich entschlossen sie sich, nach einer spektakulären Flucht, in Lissabon trotz vorhandener USA-Visa, für das vertraute London. Der Blick war in die Zukunft gerichtet, man wollte nicht zu weit entfernt von Österreich sein, um den Zugriff auf die gesellschaftspolitische Neugestaltung nicht zu verlieren. Die seit Jahrzehnten gepflegten internationalen Kontakte erleichterten das Leben in der differenzierten Londoner EmigrantInnenszene. Von KommunistInnen dominiert, drehten sich die Diskussionen um das Konzept Volksfront, die österreichische Nation und ob der alte sozialistische Traum von der „gesamtdeutschen Revolution“ mit den neuen Realitäten noch kompatibel sei. Oscar Pollak engagierte sich im Aufbau des sozialdemokratischen „London-Büros“, beharrte auf klarer Trennung von den KommunistInnen und knüpfte enge Kontakte mit zentralen Figuren der Labour Party und der britischen Gewerkschaftsbewegung. Diese ermöglichten die überraschend frühe Rückkehr der Pollaks nach Wien, denn jüdischer Herkunft zu sein und eine linke Parteivergangenheit zu haben, waren nach 1945 eigentlich Garantien dafür, dass man mit „kein Platz mehr“ abgespeist wurde. Etliche EmigrantInnen mussten dies schmerzlich erleben. Den Pollaks half eine ambivalente Situation: Die britische Regierung erhoffte sich Informationen über die kritisch beäugte Provisorische Regierung Renner und die Sozialistische Partei erhoffte sich gute Kontakte mit der britischen Besatzungsmacht. Oscar Pollak übernahm die Chefredaktion der „Arbeiter-Zeitung“ (AZ) als das Zentralorgan der neugegründeten SPÖ und gründete die „Die Zukunft“ als neues theoretisches Diskussionsorgan. Marianne Pollak wurde Nationalrätin für die SPÖ (1945–1959) und Chefredakteurin der „Frau“. Das bedeutete, die sozialistische Medienlandschaft befand sich in Pollakscher Hand und entwickelte sich in den ersten Jahren äußerst erfolgreich. Die AZ fungierte als Zeitung, „die sich was traut“ – nämlich Übergriffe und Entführungen in der sowjetisch besetzten Zone zu veröffentlichen. „Die Frau“ wurde zur erfolgreichsten Frauenzeitschrift Österreichs. Der „strenge Chef“ Oscar Pollak sah sich als Erbe Otto Bauers und suchte die AZ im Sinne der Ersten Republik fortzuführen, als eine Zeitung, die auch die politische Richtung der Partei vorgab. Von links wurde ihm Antikommunismus unterstellt, von rechts wurde er zum Protagonisten der roten Einheitsfront. Der Resonanzboden beider Positionen lautete: Antisemitismus. Mitte der 1950erJahre startete Franz Olah das ‚moderne‘ Medienprojekt „Kronen-Zeitung“ als Alternativprojekt zu der ideologielastigen, mit sinkenden Auflagezahlen kämpfenden AZ. Die Ränkespiele innerhalb der SPÖ sind bestürzend zu lesen, ebenso der unfreiwillige Rückzug Pollaks als Chefredakteur Ende 1961. Die Steigerungs-Formel vom Freund, Feind zum Parteifreund wird dabei deutlich nachvollziehbar – Oscar Pollak war nachhaltig tief verletzt.

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Marianne Pollak erlebte keinen innerparteilichen Gegenwind. Im Gegenteil, sie wurde aufs Herzlichste willkommen geheißen und in die Frauenorganisation integriert. Ihr parlamentarisches Anknüpfen an das frauenpolitische Programm der Ersten Republik stand allerdings der gesellschaftspolitischen Verfasstheit und auch dem Mainstream in der SPÖ entgegen: Die Abschaffung des patriarchalen Familienrechts des ABGB von 1811 („Der Mann ist das Haupt der Familie“) oder die Reform des Abtreibungsparagrafen 144 blieben bis in die 1970er Jahre unter der Regierung Kreisky nur Träume. Ihre Nachfolge im Erfolgsprojekt „Die Frau“ bereitete Marianne Pollak sorgfältig vor und ging friktionslos über die Bühne. Die tragische Entwicklung Oscar Pollaks und der AZ an der Wende von den 1950er zu den 1960er-Jahren analysiert Helmut Konrad als Teil einer „etwas anderen Periodisierung der österreichischen Zeitgeschichte“. Im Zentrum steht die Wirkmächtigkeit des Austromarxismus, der Menschen wie die Pollaks für die Sozialdemokratie vor 1933/34 begeistert hatte. Ab Mitte der 1950er-Jahre war anderes angesagt, der Austromarxismus galt nicht mehr als „zeitgemäß“, so die These Konrads. Eine Entwicklung, die Hand in Hand mit den nachhaltigen Veränderungen der Medienlandschaft ging, zu der auch das Ende der AZ alten Stils gehörte. Oscar Pollak verstarb bei einem Urlaub in Hinterstoder im Sommer 1963 an einem Herzinfarkt, Marianne Pollak beging zwei Tage später Suizid. Helmut Konrad hat seinem Buch den Titel „Das Private ist politisch“ gegeben und knüpft damit an eine zentrale Losung der autonomen neuen Frauenbewegung seit den 1970er-Jahren an. Damals wie heute wird darunter verstanden, dass Leben und Handlungen hinter verschlossenen (familiären) Türen öffentlich thematisiert und verhandelt werden müssen, vor allem die Gewaltszenarien und die ungleich verteilten Reproduktionsarbeiten. Auf das Ehepaar Pollak angewendet, meint der Spruch wohl ‚parteipolitisch‘, wenn Helmut Konrad feststellt, dass bei den beiden immer „eine Dritte“ mit am Tisch saß „beruflich und privat“ – nämlich die Sozialdemokratische Partei. Die Frauen- und Geschlechtergeschichte und in der Folge die neue Politikgeschichte forderten einen erweiterten Politikbegriff, und die neue (Auto-)Biographiegeschichte die Dekonstruktion des autonomen Subjekts. Beides thematisiert Helmut Konrad nicht explizit, aber er öffnet Fenster: indem das Leben und Sterben der beiden nichtlinear und sensibel in verschiedene Kontexte verwoben und Dokumente und Korrespondenzen (besonders berührend die Abschiedsbriefe Marianne Pollaks) ausführlich zitiert bzw. abgedruckt werden. Ein aufschlussreicher Bildteil rundet das äußerst lesenswerte Buch ab. Gabriella Hauch

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Matthias Marschik, Bewegte Körper. Historische Populärkulturen des Sports in Österreich, Wien: LIT Verlag 2020, 544 Seiten. Der Kulturwissenschafter Matthias Marschik zählt zu den versiertesten Sporthistorikern Österreichs. Seine kultur- und gesellschaftshistorischen Betrachtungsweisen auf die Sportgeschichte sind von einer persönlichen Leidenschaft und Begeisterung für den Sport, vor allem für den Fußball, getragen. Wie schon in vorangegangenen Publikationen versteht es Marschik auch in „Bewegte Körper. Historische Populärkulturen des Sports in Österreich“ seine Passion als interessierter und kritischer Beobachter mit dem stets notwendigen distanzierten Blick eines Historikers zu verknüpfen. Marschik absolviert in „Bewegte Körper“ einen über 500 Seiten starken Orientierungslauf durch die österreichische Sportgeschichte. Dabei gestaltet sich das Buch vom Terrain her über weite Strecken nicht als Marathon auf einer Ebene, sondern eher als Crosslauf durch unwegsames Gelände. Marschik begibt sich, wie er schreibt, „auf die Suche nach historischen Brüchen und Diskontinuitäten“ (S. 12) und verfolgt diese nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch im Umgang mit dieser. Damit bietet seine umfassende Analyse über die Entwicklung und Geschichte von Populärkulturen im österreichischen Sport des 20. Jahrhunderts Einblicke in die Funktionsweisen des kollektiven österreichischen Sportgedächtnisses. Marschik stellt die Frage, wie sich der Sport in der nationalen Erinnerungskultur bewegt und wie diese nach innen und außen wirkt. Gleich zu Beginn macht sich Marschik für eine kontextualisierte, in gesellschaftlichen Bezügen gedachte Sportgeschichtsforschung stark und unterstreicht die Komplexität des Themenfeldes Sport. Er begreift Sport als der Gesellschaft eingeschriebenes, kulturelles Betätigungsfeld, das nicht von dieser getrennt betrachtet werden kann und bestimmte Absichten verfolgt. Diese Absichten (Sportdispositive) versucht Marschik in unterschiedlichen thematischen Kapiteln zu ergründen. Die Kapitel handeln von Sporträumen, aber ebenso von konkreten Biografien. Das Potpourri umfasst den proletarischen Fußball der Zwischenkriegszeit, Fußballstadien als Orte der Globalisierung und des Kommerzes, die Geschichte des jüdischen Fußballs in Floridsdorf und den Einfluss des österreichischen Fußballs der 1930er-Jahre in Malta. Die Zusammenstellung ergibt sich aus den bisher von Marschik veröffentlichten Artikeln, die für diesen Band unverändert abgedruckt wurden und damit auch als Zeitdokumente zu lesen sind sowie aus einigen unveröffentlichten Manuskripten des Autors. Abseits der großen sozialhistorischen Entwicklungslinien im Sport gelingt es Marschik, mit Hilfe kleinräumiger Analysen von Egoquellen aus privaten Nachlässen und Familienalben Sportpraxen kulturhistorisch zu erklären. Anhand ausgewählter Bilder aus einem Familienalbum zeichnet Marschik in dem Kapitel „Das Bild des Skiläufers“ (S. 119) eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte

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des alpinen Skilaufs nach, der sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zum Skisport entwickelte und in den 1920er-Jahren als eine der sportlichen Populärkulturen neben dem Fußball herauskristallisierte. Dieses Kapitel ist übrigens eines der wenigen, das nicht die Fußballgeschichte im Blick hat. Der Fokus auf den Fußballsport ergibt sich nicht nur durch das bevorzugte Forschungsfeld des Sporthistorikers Marschik, das in unzähligen Publikationen zu Tage tritt, sondern auch durch seine schon erwähnte Leidenschaft für eben diesen Sport und seiner Historie. Mit „Sportliche Avancen“ (S. 176) nimmt Marschik gemeinsam mit Johanna Dorer ein wenig beachtetes Thema der Sportgeschichtsforschung in den Blick und liefert erste Befunde zu Konzepten und Praxen des österreichischen Frauensports zur Zeit des Austrofaschismus. Die beiden zeichnen darin die gesellschaftspolitischen und kulturellen Rahmenbedingungen nach, die Frauen im nationalen Sport der 1930er-Jahre in bestimmte Rollen zwängten. Marschik und Dorer sprechen aber gleichzeitig von ersten Freiräumen, die sich in diesen Jahren auftaten und denen zumindest eine gewisse Emanzipation innewohnte. Eine ambivalente Entwicklung, die auf nationaler wie internationaler Ebene durch Mediatisierung zu beobachten ist. In einem weiteren Kapitel charakterisiert Marschik die Entwicklungslinien des österreichischen Fußballsports von 1945 bis in die 1990er-Jahre. Unter dem klingenden Titel „Go West“ (S. 354) widmet sich der Historiker dem Phänomen der „Verösterreicherung“ beginnend mit dem Meistertitel des LASK 1965. Marschik zeichnet darin aber nicht nur den sportlichen und wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesländerklubs nach, sondern verweist darin, und das ist nicht unwesentlich für das gegenwärtige Verstehen des globalen Fußballs, auch auf den Wandel Österreichs vom Fußballexport- zum Fußballimportland. Damit geht Marschik auf die ab den 1960er-Jahren einsetzenden Migrationsbewegungen aus Ost- und Südosteuropa ein, die bis heute das Erscheinungsbild des österreichischen Fußballsportes und dessen Netzwerke prägen. In einer Art Exkurs (S. 360) widmet sich Marschik gemeinsam mit dem CoAutor Andreas Maier der Wanderungsbewegung ungarischer SportlerInnen im Zuge des Ungarn-Aufstandes 1956. Die beiden gehen der Frage nach, ob diese Bewegung eine Migrations- oder Fluchtbewegung war, und verorten diese in den (sport)politischen Debatten, die sowohl medial als auch auf politischer und Verbandsebene geführt wurden. Die in dem Exkurs nachgezeichneten Biografien von Profifußballern und LeichtathletInnen werden im Kontext der österreichischen Gesellschaftspolitik der späten 1950er-Jahre betrachtet, die von einer Stabilisierung und Westorientierung im Kalten Krieg geprägt war. Damit zeigen Marschik und Maier jene Ambivalenzen in den ungarisch-österreichischen Sportbeziehungen auf, die einerseits auf eine gemeinsame Geschichte aufbauten, andererseits starke antikommunistische Ressentiments enthielten.

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„Bewegte Körper“ bietet einen facettenreichen und gesellschaftshistorisch fundierten Einblick in die Kulturgeschichte des österreichischen Sports, wobei der Fußball – hier speziell der Wiener Fußball – dominiert, während andere populäre Sportarten und die sportliche Provinz klar in der Defensive sind. Diese starke Akzentuierung und gleichzeitige Wien-Zentrierung verengen die Perspektive und bergen die Gefahr, bestimmte sporthistorische Entwicklungen außer Acht zu lassen oder gar falsch einzuschätzen. So fand eine „Verösterreicherung“ im Skisport schon vor 1938 unter der austrofaschistischen Herrschaft statt, während das im Fußball erst nach 1945 der Fall war. Das unkonventionelle Schlusswort offenbart ein Stück familiäre Fußballgeschichte und verdeutlicht die emotionale Verbundenheit des Autors mit seinem Kindheitsklub, der Admira. Das ist durchaus ein charmanter, dem Genre entsprechender Ausstieg. Dieser gibt gleichzeitig den Blick frei auf die investigative und detailreiche Arbeitsweise des Historikers Marschik, der es versteht, Sportgeschichte aus verschiedensten Quellen zu lesen und zu erzählen. Andreas Praher Niklas Perzi/Hildegard Schmoller/Ota Konrád/Václav Sˇmidrkal (Hg.), Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch, Weitra: Verlag Bibliothek der Provinz 2019, 416 Seiten (auch in tschechischer Sprache). Österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch, Unterrichtsmaterialien, https:// www.geschichtsbuch-didaktik.at/unterrichtsmaterialien [Projektleitung: Ondrˇej Mateˇjka/Thomas Hellmuth; Autorinnen und Autoren: Judith Breitfuß/Ondrˇej Mateˇjka/Alexander Preisinger/Bernard Trautwein/Isabella Schild]. Niklas Perzi, Broschüre zum Buch „Nachbarn“. Eine Publikation der Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe (SKÖTH), 2019. Alle drei hier rezensierten Publikationen bzw. Internet-Modulsammlungen widmen sich in unterschiedlicher Intensität und unter Verwendung unterschiedlicher Methoden der „langen“ Geschichte zwischen Böhmen/Mähren bzw. der Tschechoslowakei und dem Habsburger Imperium bzw. Österreich. Ausgangspunkt für dieses Geschichtsbuch-Projekt 2009 der „Ständigen Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe“ (SKÖTH) waren die heftigen Konflikte des FPÖ-Parteichef Jörg Haider und auf tschechischer Seite des sozialdemokratischen Politikers und späteren Staatspräsidenten Milosˇ Zeman. Im Zentrum standen damals die „Benesˇ-

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Dekrete“ und die Frage der etwaigen Entschädigung der nach 1945 rund drei Millionen vertriebenen „Deutschen“ und „Alt-Österreicher“. Sowohl in der von mir initiierten Wanderausstellung „Kulturen an der Grenze“ als auch in dem von Andrea Komlosy herausgegebenen Sammelband „Kulturen an der Grenze – Kultury na hranici“ spielte das Thema „Vertreibung“ – oder aus tschechischer Perspektive der „Transfer“ – eine wichtige Rolle. Barbara Coudenhove-Kalergi und ich haben in einem Symposion mit dem nachfolgenden Sammelband „Die Benesˇ-Dekrete“ (Wien 2002) versucht, sowohl die unterschiedlichen nationalen, persönlichen als auch die individuellen Perspektiven zu thematisieren und der parteipolitischen Ideologisierung des Themas „Vertreibung“ entgegenzuwirken. Vor diesem heißen politischen Hintergrund wurde die Idee eines gemeinsamen Geschichtsbuches bereits 2004 bei den Österreichisch-Tschechischen Historikertagen der Waldviertelakademie entwickelt und letztlich auf diplomatischer Ebene auch erfolgreich auf Schiene gesetzt, wobei der damalige österreichische Botschafter in Prag, Ferdinand Trautmannsdorff, eine wichtige und positive Rolle spielte. Insgesamt versuchten 27 Historikerinnen und Historiker aus Tschechien und Österreich, auf der Basis eigener und vorhandener Forschungen, gemeinsam in zwölf Kapiteln die Geschichte der wechselhaften und häufig extrem konfliktgeladenen Geschichte zu schreiben. Bewusst wurde die slowakische Perspektive ausgelassen, was historisch natürlich nicht korrekt war, aber scheinbar einen politischen Kompromiss darstellt. Des Weiteren wurde gemeinsam über Formulierungen diskutiert und auch die endgültige Textierung akkordiert – an manchen Stellen wird dieser Kompromiss auch lesbar, wobei meiner Meinung nach zwei divergierende Interpretationen fallweise durchaus hätten stehen bleiben können. Auch das eingangs erwähnte Thema der Vertreibung/Odsun/Transfer wurde sehr sachlich und ruhig auf der Basis der rezenten Forschungen dargestellt und analysiert, wobei David Schriffl und Tomásˇ Dvorák hierzu konzise Studien lieferten. Mit dieser kollektiven Monografie ist ein ganz wichtiges historiografisches Unternehmen geglückt. Trotz der Kürze wurden die wichtigsten historischen Entwicklungen in der Politik, Gesellschaft und Kultur analysiert; zu kurz kommen meiner Meinung nach jedoch die bedeutende Wirtschaftsgeschichte sowie die mentalgeschichtlich signifikante Sportgeschichte (Stichwort: Fußball). Aber vielleicht gelingt eines Tages ein stärker mentalitätsgeschichtlich angelegter Vergleichsband. Vor allem für den Zeitraum der Habsburger Monarchie – oder aus tschechischer Sicht für die Zeit der „Finsternis“ nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 –

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steht mit knapp 80 Seiten (davon 20 zum Ersten Weltkrieg) zu wenig Platz zur Verfügung. Besonders eindrucksvoll und forschungsgeleitet sind die beiden Kapitel zum Leben an der Grenze in der Zwischenkriegszeit und der NS- bzw. Nachkriegszeit, getragen von den langjährigen Forschungen Niklas Perzis. Besonders gelungen ist das Kapitel von Walter Reichel und Václav Petrbok zu den wechselseitigen Wahrnehmungen, Vorurteilen und Stereotypen, die weit in die Gegenwart reichen. Generell ist das wissenschaftliche Niveau der Beiträge, die auch teilweise zu Recht essayistischen Charakter haben, ausgezeichnet, trotz mancher Lücken wie beispielsweise im Kapitel zur Geschichte der Wiener Tschechinnen und Tschechen, das sehr knapp ausgefallen ist. So hätten sowohl die furchtbaren Arbeitsbedingungen der tschechischen Ziegelarbeiterinnen und Ziegelarbeiter thematisiert werden sollen wie auch die Tatsache, dass der mehrfach im Geschichtsbuch erwähnte Reichsstatthalter Baldur von Schirach nach einem tödlichen Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich ankündigte, als Rachemaßnahme „Wien Tschechenfrei“ zu machen. Tatsächlich begann die Gestapo entsprechende Karteien anzulegen. Sehr zu gratulieren ist den Herausgeberinnen und Herausgebern, die auch hinsichtlich des Layouts und der Bebilderung ein exzellentes und trotz der inhaltlichen Dichte gut lesbares Geschichtsbuch entwickelt haben. Nicht nur an Zeitgeschichte interessierte Leserinnen und Leser, sondern auch viele professionelle Zeithistorikerinnen und -historiker werden bei der Lektüre viele wichtige Informationen, Thesen und auch kontroverse Themen mitnehmen. Eine wichtige Initiative zur weiteren Verbreitung der Inhalte stellt auch die Erstellung einer Kurzfassung des Buches im Umfang von 29 Seiten durch Niklas Perzi dar. Für ein Projekt zur Umsetzung von didaktischen Internet-Modulen für den Schulunterricht in deutscher und tschechischer Sprache lieferten Judith Breitfuß, Ondrˇej Mateˇjka, Alexander Preisinger, Bernard Trautwein und Isabella Schild exzellente Stundenbilder. Es wäre wünschenswert, wenn diese Module auch in gedruckter Form der hoffentlich bald erscheinenden zweiten Auflage des besprochenen Bandes beigelegt werden können. Oliver Rathkolb

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Andreas Huber/Linda Erker/Klaus Taschwer, Der Deutsche Klub. Austro-Nazis in der Hofburg, Wien: Czernin Verlag 2020, 299 Seiten. Das vorliegende Buch ist eine Gemeinschaftsarbeit der beiden Autoren und der Autorin und baut auf einem 2017 in der Zeitschrift „zeitgeschichte“ erschienenen Beitrag, der aus der gleichen Feder stammt und nun durch die Monographie umfassend ergänzt wird, auf. Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, – die bis auf eine Ausnahme (Kapitel 3) – die Entstehung, das Wirken und die Nachwirkung des Deutschen Klubs in einzelnen zeitlich unterteilten Etappen darstellen. Kapitel 3 beleuchtet als Exkurs die Deutsche Gemeinschaft. Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Entstehungszeit des Deutschen Klubs, bettet dessen Gründung in die politische und gesellschaftliche Landschaft des frühen 20. Jahrhunderts ein. Dabei wird schnell klar, dass der Deutsche Klub als reiner Männerverein bereits seit seiner Gründung 1908 viele einflussreiche Männer beheimatet hat, die noch zu Zeiten der Monarchie Strategien und Pläne entwickelten, um die „völkischen“ Interessen zu stärken. Unter den Mitgliedern der ersten Stunde waren Universitätsprofessoren, Vertreter des höheren Staatsdienstes, Mediziner, Juristen und bedeutende Männer aus Handel und Industrie, wie beispielsweise der Handelskammersekretär Richard Riedl und der Anwalt und spätere Wegbereiter der NSDAP in Österreich, Walter Riehl. Anschließend wird der Aufstieg des Deutschen Klubs in der Ersten Republik skizziert, vom Umzug in Räumlichkeiten in der Hofburg (S. 61f.), über die Aufnahme eines „Arierparagraphen“ 1924 in die Vereinsstatuten (S. 63), bis hin zur Unterstützung der Heimwehren in den späten 1920er-Jahren (S. 76ff.). Deutlich zeigt sich dabei die antisemitische Grundstimmung der 1920er-Jahre, die sich ganz besonders in den analysierten Vorträgen des Deutschen Klubs zeigt. Anhand einiger Beispiele – so unter anderem im Bereich der Rassenhygiene – dokumentieren die Autorin und die Autoren, dass der Deutsche Klub als „wichtiger Umschlagplatz“ (S. 69) für (radikale) Ideen aus unterschiedlichen Bereichen fungierte. Der Deutsche Klub diente dabei nicht nur dem geistigen Austausch, sondern war eine Art „Stellenvermittlungsagentur“ (S. 35), um ideologisch genehme Personen den Aufstieg und somit dem Deutschen Klub weitere Einflussmöglichkeiten zu sichern. Anhand der Auswertung der vorhandenen Mitgliederverzeichnisse und der Vereinszeitschrift zeigt das Buch die Verflechtung des Deutschen Klubs innerhalb der Politik, Verwaltung und Justiz in der Ersten Republik auf. Nicht weniger als 18 Regierungsmitglieder der Ersten Republik waren Mitglieder des Deutschen Klubs (S. 71), auch die zwei österreichischen OGH-Präsidenten der Zwischenkriegszeit (Julius Roller und Franz Dinghofer) waren Klubmitglieder (S. 72), wie auch zahlreiche Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter. Dieser Umstand lässt manche umstrittene Gerichtsprozesse der Zwischenkriegszeit in einem neuen Licht erscheinen – etwa den Prozess gegen

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den Mörder von Hugo Bettauer, Otto Rothstock, und den Schattendorf-Prozess, so die beiden Beispiele im Buch. In die 1930er-Jahre fallen insbesondere die Bemühungen des Deutschen Klubs zur Schaffung „eine[r] deutsche[n] Einheitsfront“ (S. 119). Schlussendlich näherte sich der Klub immer mehr der nationalsozialistischen Bewegung an, mehrere nationalsozialistische Berufsorganisationen nützten die Räumlichkeiten des Deutschen Klubs. Gleichzeitig erfolgte eine Distanzierung von der Regierung Dollfuß (S. 128ff.); trotz einer kurzen Vereinssperre nach der Ermordung Dollfuß‘ konnte der Deutsche Klub erstaunlicherweise seine Tätigkeit auch während des Austrofaschismus aufrechterhalten. Akribisch recherchieren die Autoren und die Autorin die Vernetzungsgeflechte, die dem Deutschen Klub in den unterschiedlichen politischen Perioden seine Stellung sicherten und untermauern ihre Thesen mit vielen Beispielen. Auch nach dem „Anschluss“ wurden Klubmitglieder bevorzugt, der „Elitenaustausch“ (S. 150) erfolgte nicht nur auf politischer und universitärer Ebene, auch im Bankenwesen und in der Ärzteschaft kamen Klubmitglieder wie bspw. der Kinderarzt und Eugeniker Franz Hamburger nun zum Zug. Klubmitglieder waren zudem in die Planung der Entrechtung der Jüdinnen und Juden involviert, so beispielsweise der Vordenker der „Arisierung“, Hans Fischböck (S. 164f.). Klar herausgearbeitet wird der Umstand, dass für die „Umsturzprofiteure“ (S. 16) 1938 die Mitgliedschaft zum Deutschen Klub ausschlaggebend war, einige der ranghohen Positionen wurden mit Personen besetzt, die (noch) nicht NSDAP Mitglieder waren, jedoch im Deutschen Klub ihre „ideologische Zuverlässigkeit“ (S. 16) bewiesen hatten. Der Erfolg des Deutschen Klubs war im Nationalsozialismus von kurzer Dauer. Zwar konnten viele Mitglieder nach dem „Anschluss“ Karriere machen, der Verein selbst wurde nach längeren Debatten und gegen den Willen der Mitglieder im Herbst 1939 aufgelöst. Josef Bürckel begründete diesen Schritt mit der Erfüllung des Vereinsprogramms (S. 188). Kein Erfolg war der Intervention des Juristen Egbert Mannlicher zugunsten des Deutschen Klubs gegönnt, 1940 wurde die Angelegenheit erfolglos Hitler persönlich vorgelegt. Die nationalsozialistischen Machthaber sahen im Deutschen Klub „eine Nebenregierung […], die für Staat und Partei unerträglich ist“ (S. 190). In den letzten beiden Kapiteln wird die Situation der ehemaligen Mitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt. Zwar standen einige von ihnen auf Kriegsverbrecherlisten, jedoch hatten sie in der Regel keine langfristigen Nachteile zu befürchten, was anhand vieler Beispiele dargestellt wird. 1957 kam es schließlich zur Neugründung des Deutschen Klubs unter dem Namen „Neuer Klub“ (S. 225). Trotz der dürftigen Quellenlage zeigen die Autorin und die beiden Autoren hier die Kontinuitäten zum Deutschen Klub auf und skizzieren die

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Tätigkeit des Neuen Klubs, der freilich nie so einflussreich wie sein Vorgänger war. Als Exkurs im dritten Kapitel wird ein weiteres antisemitisches Netzwerk behandelt, die Deutsche Gemeinschaft, die im Gegensatz zum Deutschen Klub ein Geheimbund war, sich jedoch zum Teil aus den gleichen Männern zusammensetzte. Anders als im Deutschen Klub leitete „eine Doppelspitze aus nationalen und katholischen Kräften“ (S. 96) dieses Kartell. Die Tätigkeit beschränkte sich nicht nur auf die Unterstützung der Mitglieder, sondern umfasste gezielt die „Diskriminierung der Gegner“ (S. 102). Die Gegner, auch als „ungerade“ (S. 94) bezeichnet, wurden mittels Listen (in sogenannten „Gelben Listen“, S. 100) und Kataster erfasst. Anhand der erhaltenen Protokolle für die Fachgruppe Hochschulwesen, eine Untergruppe der Deutschen Gemeinschaft, zeigt das Werk die Interventionen der Deutschen Gemeinschaft insbes. bei den Fällen Josef Bayer und Stephan Brassloff. Die Autoren und Autorin verstehen es, die Vorgänge innerhalb des Deutschen Klubs und der Deutschen Gemeinschaft gekonnt in die allgemeine politische und soziale Geschichte hineinzuweben. Dadurch wird deren Entwicklung und Bedeutung im größeren Rahmen noch besser verständlich, gleichzeitig spricht die Studie mit dieser Konzeption auch nichtwissenschaftliche Kreise der Leser*innenschaft an. Im Resümee wird ein Bogen zur aktuellen politischen Landschaft gespannt und aufgezeigt, dass die Ergebnisse der Forschungen zum Deutschen Klub durchaus von aktueller Relevanz sind. Vereinzelt sind fehlerhafte Bezeichnungen zu monieren, so werden Karl Herman Wolf (S. 37), Gustav Bodirsky und Franz Jesser (S. 40) als Reichstagsabgeordnete bezeichnet, korrekt müsste es Reichsratsabgeordnete heißen, da das cisleithanische Parlament – anders als der reichsdeutsche Reichstag – den in der Verfassung verankerten Terminus Reichsrat führte. Unklar erscheint der Verweis auf das „erste Staatsgrundgesetz“ (S. 49) bei der Frage der Staatsgrenzen von Deutschösterreich. Zwar werden in dieser Passage – inhaltlich richtig – deutschsprachige Exklaven in Böhmen und Mähren dem österreichischen Staatsgebiet zugeordnet, doch wird dieses „erste Staatsgrundgesetz“ nicht näher präzisiert – die Gebietsfestlegung erfolgte mit dem Gesetz vom 22. November 1918 (StGBl. 40/1918), dabei handelte es sich weder um das erste Gesetz Deutschösterreichs, noch um ein Staatsgrundgesetz. Bei diesen Punkten handelt es sich jedoch nur um Kleinigkeiten, die vollständigkeitshalber zu erwähnen sind, sich jedoch nicht auf das stimmige Gesamtbild der Darstellung auswirken. Die Fußnoten sind kurzgehalten, an einzelnen Stellen wäre weiterreichende Literatur wünschenswert, jedoch ist die Lesbarkeit für die Nicht-Wissenschaftliche-Leser*innenschaft dadurch stark erhöht. Für die Untersuchung des Themas wurden verschiedene in- und ausländische Archive ausgewertet. Besonders erfreulich für die Benützbarkeit ist das

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zeitgeschichte 49, 4 (2022)

Personenverzeichnis, mehrere Tabellen mit Auswertungen der Mitgliedsverzeichnisse und Namenslisten runden das Buch ab. Abschließend ist festzuhalten, dass mit der vorliegenden Publikation eine große Lücke in der österreichischen Zeitgeschichte geschlossen wurde, gleichzeitig kann es als Ausgangspunkt zu weiteren Untersuchungen, so beispielsweise zur „Unterwanderung der Rechtsprechung durch das deutschnationale Netzwerk“ (S. 255), dienen. Kamila Staudigl-Ciechowicz

Autor/innen

SSc Mag.a Dr.in Ingrid Böhler Leiterin des Instituts für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck, ingrid.boehler@ uibk.ac.at Elisa Frei, M.A. Forschungsstelle Mauthausen Memorial | KZ-Gedenkstätte, elisa.frei@maut hausen-memorial.org Mag.a Isabella Greber Historikerin und AHS-Lehrerin, stellvertretende Obfrau der Johann-AugustMalin-Gesellschaft, [email protected] Mag. Dr. Nikolaus Hagen Saul Kagan Fellow in Advanced Shoah Studies und Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg, [email protected] Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Gabriella Hauch Institut für Geschichte, Universität Wien, [email protected] Mag. Johannes Kramer, Bakk. Doktorand am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Beauftragter des Südtiroler Landesarchivs im Projekt „Deserteure der Wehrmacht in Südtirol“, [email protected] Mag. Dr. Andreas Kranebitter Soziologe und Politikwissenschafter, geschäftsführender Leiter des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich an der Universität Graz, ab April 2023 wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW), [email protected]

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Autor/innen

Priv.-Doz. Mag. Dr. Peter Pirker Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte, Universität Innsbruck und Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte, Universität Klagenfurt, [email protected] Prof.in Mag.in Dr.in Maria Pohn-Lauggas Soziologin, derzeit tätig am Institut für Methoden und methodologische Grundlagen an der Universität Göttingen, [email protected] Mag. Dr. Andreas Praher Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Projekt Qualitätstourismus Alpenraum, Johannes Kepler Universität Linz, [email protected] Univ.-Prof. Dr. Dr. Oliver Rathkolb Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, [email protected] Dr.in iur. Kamila Staudigl-Ciechowicz, LL.M. Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte, Universität Wien, [email protected]

Zitierregeln Bei der Einreichung von Manuskripten, über deren Veröffentlichung im Laufe eines doppelt anonymisierten Peer Review Verfahrens entschieden wird, sind unbedingt die Zitierregeln einzuhalten. Unverbindliche Zusendungen von Manuskripten als word-Datei an: [email protected]

I.

Allgemeines

Abgabe: elektronisch in Microsoft Word DOC oder DOCX. Textlänge: 60.000 Zeichen (inklusive Leerzeichen und Fußnoten), Times New Roman, 12 Punkt, 1 12-zeilig. Zeichenzahl für Rezensionen 6.000–8.200 Zeichen (inklusive Leerzeichen). Rechtschreibung: Grundsätzlich gilt die Verwendung der neuen Rechtschreibung mit Ausnahme von Zitaten.

II.

Format und Gliederung

Kapitelüberschriften und – falls gewünscht – Unterkapiteltitel deutlich hervorheben mittels Nummerierung. Kapitel mit römischen Ziffern [I. Literatur], Unterkapitel mit arabischen Ziffern [1.1 Dissertationen] nummerieren, maximal bis in die dritte Ebene untergliedern [1.1.1 Philologische Dissertationen]. Keine Interpunktion am Ende der Gliederungstitel. Keine Silbentrennung, linksbündig, Flattersatz, keine Leerzeilen zwischen Absätzen, keine Einrückungen; direkte Zitate, die länger als vier Zeilen sind, in einem eigenen Absatz (ohne Einrückung, mit Gänsefüßchen am Beginn und Ende). Zahlen von null bis zwölf ausschreiben, ab 13 in Ziffern. Tausender mit Interpunktion: 1.000. Wenn runde Zahlen wie zwanzig, hundert oder dreitausend nicht in unmittelbarer Nähe zu anderen Zahlenangaben in einer Textpassage aufscheinen, können diese ausgeschrieben werden. Daten ausschreiben: „1930er“ oder „1960er-Jahre“ statt „30er“ oder „60er Jahre“. Datumsangaben: In den Fußnoten: 4. 3. 2011 [keine Leerzeichen nach den Punkten, auch nicht 04. 03. 2011 oder 4. März 2011]; im Text das Monat ausschreiben [4. März 2011]. Personennamen im Fließtext bei der Erstnennung immer mit Vor- und Nachnamen. Namen von Organisationen im Fließtext: Wenn eindeutig erkennbar ist, dass eine Organisation, Vereinigung o. Ä. vorliegt, können die Anführungszeichen weggelassen werden: „Die Gründung des Öesterreichischen Alpenvereins erfolgte 1862.“ „Als Mitglied im

Womens Alpine Club war ihr die Teilnahme gestattet.“ Namen von Zeitungen/Zeitschriften etc. siehe unter „Anführungszeichen“. Anführungszeichen im Fall von Zitaten, Hervorhebungen und bei Erwähnung von Zeitungen/Zeitschriften, Werken und Veranstaltungstiteln im Fließtext immer doppelt: „“ Einfache Anführungszeichen nur im Fall eines Zitats im Zitat: „Er sagte zu mir : ,….‘“ Klammern: Gebrauchen Sie bitte generell runde Klammern, außer in Zitaten für Auslassungen: […] und Anmerkungen: [Anm. d. A.]. Formulieren Sie bitte geschlechtsneutral bzw. geschlechtergerecht. Verwenden Sie im ersteren Fall bei Substantiven das Binnen-I („ZeitzeugInnen“), nicht jedoch in Komposita („Bürgerversammlung“ statt „BürgerInnenversammlung“). Darstellungen und Fotos als eigene Datei im jpg-Format (mind. 300 dpi) einsenden. Bilder werden schwarz-weiß abgedruckt; die Rechte an den abgedruckten Bildern sind vom Autor/von der Autorin einzuholen. Bildunterschriften bitte kenntlich machen: Abb.: Spanische Reiter auf der Ringstraße (Quelle: Bildarchiv, ÖNB). Abkürzungen: Bitte Leerzeichen einfügen: vor % oder E/zum Beispiel z. B./unter anderem u. a. Im Text sind möglichst wenige allgemeine Abkürzungen zu verwenden.

III.

Zitation

Generell keine Zitation im Fließtext, auch keine Kurzverweise. Fußnoten immer mit einem Punkt abschließen. Die nachfolgenden Hinweise beziehen sich auf das Erstzitat von Publikationen. Bei weiteren Erwähnungen sind Kurzzitate zu verwenden. – Wird hintereinander aus demselben Werk zitiert, bitte den Verweis Ebd./ebd. bzw. mit anderer Seitenangabe Ebd., 12./ebd., 12. gebrauchen (kein Ders./Dies.), analog: Vgl. ebd.; vgl. ebd., 12. – Zwei Belege in einer Fußnote mit einem Strichpunkt; trennen: Gehmacher, Jugend, 311; Dreidemy, Kanzlerschaft, 29. – Bei Übernahme von direkten Zitaten aus der Fachliteratur Zit. n./zit. n. verwenden. – Indirekte Zitate werden durch Vgl./vgl. gekennzeichnet. Monografien: Vorname und Nachname, Titel, Ort und Jahr, Seitenangabe [ohne „S.“]. Beispiel Erstzitat: Johanna Gehmacher, Jugend ohne Zukunft. Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädel in Österreich vor 1938, Wien 1994, 311. Beispiel Kurzzitat: Gehmacher, Jugend, 311. Bei mehreren AutorInnen/HerausgeberInnen: Dachs/Gerlich/Müller (Hg.), Politiker, 14. Reihentitel: Claudia Hoerschelmann, Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945 (Veröffentlichungen des Ludwig-

Boltzmann-Institutes für Geschichte und Gesellschaft 27), Innsbruck/Wien [bei mehreren Ortsangaben Schrägstrich ohne Leerzeichen] 1997, 45. Dissertation: Thomas Angerer, Frankreich und die Österreichfrage. Historische Grundlagen und Leitlinien 1945–1955, phil. Diss., Universität Wien 1996, 18–21 [keine ff. und f. für Seitenangaben, von–bis mit Gedankenstich ohne Leerzeichen]. Diplomarbeit: Lucile Dreidemy, Die Kanzlerschaft Engelbert Dollfuß’ 1932–1934, Dipl. Arb., Universit8 de Strasbourg 2007, 29. Ohne AutorIn, nur HerausgeberIn: Beiträge zur Geschichte und Vorgeschichte der Julirevolte, hg. im Selbstverlag des Bundeskommissariates für Heimatdienst, Wien 1934, 13. Unveröffentlichtes Manuskript: Günter Bischof, Lost Momentum. The Militarization of the Cold War and the Demise of Austrian Treaty Negotiations, 1950–1952 (unveröffentlichtes Manuskript), 54–55. Kopie im Besitz des Verfassers. Quellenbände: Foreign Relations of the United States, 1941, vol. II, hg. v. United States Department of States, Washington 1958. [nach Erstzitation mit der gängigen Abkürzung: FRUS fortfahren]. Sammelwerke: Herbert Dachs/Peter Gerlich/Wolfgang C. Müller (Hg.), Die Politiker. Karrieren und Wirken bedeutender Repräsentanten der Zweiten Republik, Wien 1995. Beitrag in Sammelwerken: Michael Gehler, Die österreichische Außenpolitik unter der Alleinregierung Josef Klaus 1966–1970, in: Robert Kriechbaumer/Franz Schausberger/ Hubert Weinberger (Hg.), Die Transformation der österreichischen Gesellschaft und die Alleinregierung Klaus (Veröffentlichung der Dr.-Wilfried Haslauer-Bibliothek, Forschungsinstitut für politisch-historische Studien 1), Salzburg 1995, 251–271, 255–257. [bei Beiträgen grundsätzlich immer die Gesamtseitenangabe zuerst, dann die spezifisch zitierten Seiten]. Beiträge in Zeitschriften: Florian Weiß, Die schwierige Balance. Österreich und die Anfänge der westeuropäischen Integration 1947–1957, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994) 1, 71–94. [Zeitschrift Jahrgang/Bandangabe ohne Beistrichtrennung und die Angabe der Heftnummer oder der Folge hinter die Klammer ohne Komma]. Presseartikel: Titel des Artikels, Zeitung, Datum, Seite. Der Ständestaat in Diskussion, Wiener Zeitung, 5. 9. 1946, 2. Archivalien: Bericht der Österr. Delegation bei der Hohen Behörde der EGKS, Zl. 2/pol/57, Fritz Kolb an Leopold Figl, 19. 2. 1957. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA)/AA, II-pol, International 2 c, Zl. 217.301-pol/ 57 (GZl. 215.155-pol/57); Major General Coleman an Kirkpatrick, 27. 6. 1953. The National Archives (TNA), Public Record Office (PRO), Foreign Office (FO) 371/103845, CS 1016/205 [prinzipiell zuerst das Dokument mit möglichst genauer Bezeichnung, dann das Archiv, mit Unterarchiven, -verzeichnissen und Beständen; bei weiterer Nennung der Archive bzw. Unterarchive können die Abkürzungen verwendet werden].

Internetquellen: Autor so vorhanden, Titel des Beitrags, Institution, URL: (abgerufen Datum). Bitte mit rechter Maustaste den Hyperlink entfernen, so dass der Link nicht mehr blau unterstrichen ist. Yehuda Bauer, How vast was the crime, Yad Vashem, URL: http://www1.yadvashem.org/ yv/en/holocaust/about/index.asp (abgerufen 28. 2. 2011). Film: Vorname und Nachname des Regisseurs, Vollständiger Titel, Format [z. B. 8 mm, VHS, DVD], Spieldauer [Film ohne Extras in Minuten], Produktionsort/-land Jahr, Zeit [Minutenangabe der zitierten Passage]. Luis BuÇuel, Belle de jour, DVD, 96 min., Barcelona 2001, 26:00–26:10 min. Interview: InterviewpartnerIn, InterviewerIn, Datum des Interviews, Provenienz der Aufzeichnung. Interview mit Paul Broda, geführt von Maria Wirth, 26. 10. 2014, Aufnahme bei der Autorin. Die englischsprachigen Zitierregeln sind online verfügbar unter : https://www.verein-zeit geschichte.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_verein_zeitgeschichte/zg_Zitierregeln_ engl_2018.pdf Es können nur jene eingesandten Aufsätze Berücksichtigung finden, die sich an die Zitierregeln halten!

Patterns and Foundations for the Return of Authoritarian Movements in Europe

Florian Kührer-Wielach and Oliver Rathkolb (eds.)

Authoritarian Regimes in the Long Twentieth Century

Preconditions, Structures, Continuities – Contributions to European Historical Dictatorship and Transformation Research zeitgeschichte Sonderheft 2022. 208 Seiten, kartoniert € 35,– D / € 36,– A ISBN 978-3-8471-1502-1

This special issue of the journal “zeitgeschichte” presents the results of the doctoral theses written within the framework of the “Doctoral College European Historical Dictatorship and Transformation Research” (2009–2012) as selected scholarly essays. The contributions are devoted to authoritarian regimes of the 20th century in Austria, Belarus, Greece, Hungary, Italy, Latvia, Lithuania, Poland, Portgal, Romania, Spain, and the Soviet Union. Using various methods from the humanities and social sciences, different aspects of mainly “small” dictatorships are examined: conditions of emergence, structures, continuities, as well as preceding and subsequent processes of political and social transformation.

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