Religion im urbanen Raum: Neue Stadtquartiere und ihre religiöse Topographie 9783839467046

Religion existiert nicht im luftleeren Raum. Sie ist gebunden an Orte und Gebäude, lokale Gepflogenheiten und regionale

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Religion im urbanen Raum: Neue Stadtquartiere und ihre religiöse Topographie
 9783839467046

Table of contents :
Inhalt
0. Einleitung
1. Zentralität
2. Orte
3. Hybride
4. Wandel
5. Ungleichheit
6. Öffentlichkeit
7. Interreligiosität
8. Organisation
9. Akteure
10. Engagement
11. Planung
12. Schluss
Literaturverzeichnis
Abkürzungs- und Siglenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Danksagung

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Juliane Kanitz, Thorsten Moos, Christopher Zarnow Religion im urbanen Raum

Urban Studies

Juliane Kanitz (Dr. phil.), geb. 1984, ist Islamwissenschaftlerin und Europäische Ethnologin. Sie forscht, evaluiert und berät für das i-unito Institut für Praxisforschung Extremismuspräventionsprojekte. Davor forschte sie im Rahmen ihrer Postdocarbeit für die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V. (FEST) im Projekt »Religion in neuen Stadtquartieren«. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind religiös begründeter Extremismus und Verschwörungstheorien. Thorsten Moos (Dr. theol.), geb. 1969, ist Professor für Systematische Theologie (Ethik) an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er forscht unter anderem zur Systematischen Theologie im Kontext empirischer Wissenschaften, zur theologischen Anthropologie, zu Leiblichkeit und Räumlichkeit, zum Begriff der Krankheit, zu ethischen Grundfragen kirchlichen und diakonischen Handelns sowie zum Sozialen Protestantismus und zur politischen Ethik in historischer und systematisch-theologischer Perspektive. Christopher Zarnow (Dr. theol.), geb. 1975, ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Berlin. Davor war er Mitbegründer und Leiter der Arbeitsstelle »Theologie der Stadt« der evangelischen Kirche in Berlin. Neben der Erforschung urbaner Religionskulturen gehören zu seinen Forschungsthemen die theologische Anthropologie und Identitätstheorie, die Transformation der Materialdogmatik unter den Bedingungen der Spätmoderne sowie die Entwicklung einer zeitgemäßen Didaktik der Glaubenslehre.

Juliane Kanitz, Thorsten Moos, Christopher Zarnow

Religion im urbanen Raum Neue Stadtquartiere und ihre religiöse Topographie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: Juliane Kanitz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839467046 Print-ISBN: 978-3-8376-6704-2 PDF-ISBN: 978-3-8394-6704-6 Buchreihen-ISSN: 2747-3619 Buchreihen-eISSN: 2747-3635 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

0. 0.1 0.2 0.3

Einleitung .................................................................................9 Religion in neuen Stadtquartieren ..........................................................9 Das Verhältnis von städtischem Raum und Religion ........................................ 10 Die Untersuchung der Quartiere ........................................................... 21

1. 1.1 1.2 1.3 1.4

Zentralität ...............................................................................27 Zentralität als Merkmal städtischer Raumstruktur ..........................................27 Zentralität als Problem in neuen Stadtquartieren.......................................... 29 Religion zwischen Zentralität und Randständigkeit ......................................... 41 Fazit......................................................................................47

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Orte ..................................................................................... 49 Orte und Verortungen von Religion im städtischen Raum .................................. 49 Die Entstehung religiöser Orte in neuen Stadtquartieren ................................... 51 Religiöse Orte in Beziehung zu ihrer städtischen Umgebung ................................ 61 Fazit..................................................................................... 69

3. 3.1 3.2 3.3 3.4

Hybride .................................................................................. 71 Hybridität als Thema und Kategorie empirischer Religionsforschung ....................... 71 Religionshybride im urbanen Raum ........................................................75 Elemente einer Phänomenologie religiöser Hybridität ..................................... 86 Fazit..................................................................................... 90

4. 4.1 4.2 4.3 4.4

Wandel .................................................................................. 93 Stadträumlicher Wandel im Spiegel erzählter Geschichte(n) ............................... 93 Religiöse Topographien im Wandel........................................................ 96 Religiöser Wandel und seine Deutung durch die betroffenen Akteure ......................106 Fazit..................................................................................... 114

5. 5.1 5.2 5.3 5.4

Ungleichheit ............................................................................ 117 Religion und soziale Ungleichheit im städtischen Zusammenleben ......................... 117 Soziale Ungleichheit als Herausforderung von religiösen Gemeinschaften..................122 Ungleichheitskatalysatoren...............................................................129 Fazit.....................................................................................135

6. 6.1 6.2 6.3 6.4

Öffentlichkeit ...........................................................................137 Öffentliche Religion und religiöse Öffentlichkeit...........................................137 Religion und Öffentlichkeit: Strategien und Konflikte ...................................... 141 Vier Dimensionen des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit .......................158 Fazit..................................................................................... 172

7. 7.1 7.2 7.3 7.4

Interreligiosität ......................................................................... 175 Religiöse Pluralität und Interreligiosität................................................... 175 Interreligiosität als Bewältigung religiöser Diversität ...................................... 178 Interreligiosität als Ideal urbaner Religionskultur .........................................196 Fazit.................................................................................... 202

8. 8.1 8.2 8.3 8.4

Organisation ........................................................................... 205 Der Organisationsbegriff im Diskurs der Praktischen Theologie........................... 205 Spannungsfelder differenzierter kirchlicher Organisation in neuen Stadtquartieren ....... 207 Entdifferenzierungsexperimente ........................................................ 220 Fazit.................................................................................... 225

9. 9.1 9.2 9.3 9.4

Akteure ................................................................................ 227 Akteursrollen im Stadtraum ............................................................. 227 Die Formierung religiöser Stadtakteure .................................................. 229 Typen religiös-urbaner Akteure.......................................................... 240 Fazit.................................................................................... 252

10. 10.1 10.2 10.3 10.4

Engagement ........................................................................... 255 Religion und bürgerschaftliches Engagement ............................................ 255 Konflikte als Treiber bürgerschaftlichen Engagements ................................... 258 Funktionen bürgerschaftlich engagierter Religion ........................................ 266 Fazit.................................................................................... 274

11. 11.1 11.2 11.3 11.4

Planung ................................................................................ 277 Religion und Stadtplanung............................................................... 277 Religiöse Selbstpostionierungen in städtischen Planungsprozessen....................... 279 Religion als Faktor und Subjekt von Planung ............................................. 289 Fazit.................................................................................... 297

12. 12.1 12.2 12.3

Schluss .................................................................................301 Grundlegende Aspekte der Forschungsfrage (Kapitel 1-4) ................................. 302 Dimensionen städtischer Verräumlichung von Religion (Kapitel 5-11) ...................... 303 Impulse für die weitere Forschung....................................................... 305

Literaturverzeichnis ........................................................................ 307 Abkürzungs- und Siglenverzeichnis ........................................................ 323 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 327 Tabellenverzeichnis......................................................................... 329 Danksagung ..................................................................................331

0. Einleitung

0.1 Religion in neuen Stadtquartieren »Religion« findet nicht im luftleeren Raum statt. Sie manifestiert sich in konkreten Praktiken, Subjekten, Gegenständen, Symbolen, Bildern, Narrativen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten, Medien und Organisationsformen. Religion hat Räume und Orte. Sie nimmt Wohnung in Städten und ländlichen Regionen. Sie wird aufgesucht in eigens errichteten Kultstätten, in flüchtigen Quartieren oder im öffentlichen Raum. Kirchtürme, Minarette und Pagoden prägen Räume und bieten Orientierung für die, die sich darin bewegen. Umgekehrt beeinflussen räumliche Gegebenheiten Manifestationen des Religiösen. Straßen und Plätze, Infrastrukturen, soziale Schichtung und kulturelle Diversität schreiben sich in das religiöse Leben ein. Religion greift Raum. Das gilt insbesondere in der Stadt. Phänomene städtischer Religion haben in den letzten Jahrzehnten einige wissenschaftliche Aufmerksamkeit erhalten. Stadtkultur und Religion beeinflussen sich auf mannigfache Weise (Burfeind, Heimbrock, Spory 2009; Steck 2011; Becker et al. 2014). Empirische Untersuchungen, die versuchen, diese wechselseitige Beeinflussung näher zu analysieren, gibt es allerdings nur wenige – zumal im deutschen Sprachraum. An diesem Forschungsdesiderat setzt die vorliegende Studie an. Sie fragt danach, wie Religion und urbaner Raum miteinander verflochten sind und sich gegenseitig definieren, produzieren und beeinflussen. Dabei werden nicht nur der Begriff des (städtischen) Raums, sondern auch der Religionsbegriff als mehrdimensionale Größen gefasst. In dieser Hinsicht hebt sich die vorliegende Studie auch von anderen vergleichbaren Untersuchungen ab, die oft mit einem eindimensionalen Verständnis von Religion arbeiten, insofern diese als ›sozialer Tatbestand‹ vorausgesetzt bzw. als fixes Attribut einer sozialen Gruppe konzeptualisiert wird. Demgegenüber liegt der inhaltliche Schwerpunkt des Folgenden gerade darin, Religion im Raum als eine Größe zu adressieren, die sich je nach eingenommener Beschreibungsperspektive auf unterschiedliche Weise als Religion zeigt. Der spezifische Ansatz der vorliegenden Untersuchung besteht darin, Prozesse und Strukturen der Verräumlichung von Religion exemplarisch anhand von neuen Stadtquartieren zu analysieren. Dieser Fokus wurde aus einem doppelten Grund gewählt. Zum einen lässt sich hier beobachten, wie räumliche Strukturen von Religion sich überhaupt

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Religion im urbanen Raum

erst entwickeln und allmählich herausbilden. Durch den Zuzug neuer Stadtteilbewohner:innen kann neues religiöses Leben entstehen. Bewohner:innen bringen unterschiedliche religiöse Prägungen mit und verorten sich in einem religiös und weltanschaulich pluralen Umfeld. Zum anderen werden neue Stadtquartiere von den etablierten Religionsgemeinschaften ausdrücklich als Erprobungsräume ausgezeichnet, in denen mit neuen Präsenzformen experimentiert wird. Gebäude werden geplant und bezogen, im Stadtraum werden Feste gefeiert und Rituale begangen, soziale Dienstleistungen und kulturelle Angebote für die eigene Gruppe, für den Stadtteil, für die Stadt ins Werk gesetzt. Häufig sind Religionsgemeinschaften Partner der Städte und Kommunen, wenn es um Fragen des gedeihlichen Zusammenlebens geht. Gerade im Bereich der christlichen Kirchen sind die Modelle und Vorhaben vielfältig und reichen von der Erweiterung und Intensivierung bestehender Strukturen über die Etablierung ökumenischer Zentren und Foren bis hin zu Neugründung von Gemeinden. Die genannten Faktoren machen neue Stadtquartiere zu besonders interessanten, aber auch anspruchsvollen Gegenständen der empirischen Religionsforschung. Dabei wird der Begriff eines »neuen« Stadtquartiers weit gefasst: nämlich im Sinne von Neubau- wie auch von Konversionsquartieren, was unterschiedliche Phasen ihrer Entwicklung zulässt (als Entwicklungsgebiet ausgezeichnet, in Planung und/oder im Bau befindlich; bereits fertiggestellt). Wie greift Religion Raum in neuen Stadtquartieren? Diese forschungsleitende Hauptfrage wird im Folgenden angesichts der unüberschaubaren Vielfalt und Diversität urbaner Religionskulturen nicht abstrakt-allgemein, sondern anhand von verdichtet beschriebenen und analytisch aufbereiteten Konstellationen bearbeitet. Dazu wird mittels des mit den Begriffen »Religion« und »Raum« aufgespannten Theorierahmens (0.2) ein qualitativ-empirisches Forschungsdesign entwickelt (0.3). Eine Zusammenfassung der Forschungsergebnisse ist am Ende jedes der folgenden Kapitel aufgenommen; ihre Verbindung zu einem gesamten Narrativ findet sich am Schluss des Buches.

0.2 Das Verhältnis von städtischem Raum und Religion Im Folgenden sollen zunächst der Forschungskontext zum Wandel urbaner Religionskulturen skizziert (0.2.1) und anschließend der theoretische Horizont sowie einige zentrale Begriffe, die dem Forschungsdesign zugrunde liegen, näher in den Blick genommen werden – namentlich die Begriffe des Raums (0.2.2), der Stadt (0.2.3) und der Religion (0.2.4). Aus ihnen leitet sich die der Studie zugrundeliegende Forschungsheuristik ab (0.2.5). Dabei kann es hier nicht darum gehen, umfängliche begriffs- und forschungsgeschichtliche Theoriearbeit zu leisten – dafür sei auf die angeführte Sekundärliteratur verwiesen. Ziel der folgenden Erläuterungen ist es vielmehr, die für die Studie leitenden Referenztheorien und begrifflichen Differenzierungen zu markieren.

0. Einleitung

0.2.1

Transformationen urbaner Religionskultur

Die urbane Religionskultur befindet sich im Wandel.1 Doch gilt das tatsächlich für die religiöse Lage selbst, oder hat sich nur die wissenschaftliche Ökonomie der Aufmerksamkeit verschoben? Was letztere angeht, lässt sich jedenfalls eine regelrechte Trendwende innerhalb der Urbanistik beobachten. Bis in die 1980er Jahre hinein herrschte, was die Bestimmung der religiösen Lage in den Städten angeht, innerhalb der Sozialwissenschaften ein einliniges Säkularisierungsnarrativ vor: Die Großstadt galt als Höhepunkt und Speersitze der gesellschaftlichen Modernisierung; das Wesen der Moderne wurde wiederum als religionsfeindlich und säkular definiert (Joas 2013). Aufgrund dieser Vorannahmen ging man davon aus, dass sich moderne Stadtkultur und Religion gleichsam a priori gegenseitig ausschlössen.2 Demgegenüber hat sich der Debattenfokus in jüngerer Zeit gründlich verschoben. Religion und religiöser Pluralismus sind zu zentralen Themen der Stadtforschung geworden. So untersuchte im Global-Prayers-Projekt eine interdisziplinäre Forschergruppe die Wechselbeziehungen zwischen religiösen Initiativen und städtischem Sozialraum auf ihre soziologischen, kulturellen und ökonomischen Gesetzmäßigkeiten hin (Becker et al. 2014). Forschungen fanden unter anderem in Mexico City, Lagos, Berlin, Istanbul und Rio de Janeiro statt. In faszinierenden Detailstudien konnte nachgezeichnet werden, wie verschiedenartig und vielfältig religiöse Gruppen auf ihre urbanen Kontexte Bezug nehmen und umgekehrt von ihrer städtischen Umgebung beeinflusst werden. Überall verzeichnen die Forschenden, die vorrangig ethnologisch gearbeitet haben, vitale, hochdifferenzierte Religionsmärkte in den Metropolen der Gegenwart, die den urbanen Raum prägen und selbst von ihm geprägt werden. Religiöser Pluralismus ist Schwerpunktthema auf urbanistischen Fachtagungen, die Entstehung und der Wandel von »Glaubenstopographien« Gegenstand ethnologischer Fallstudien (Becci, Burchhardt, Casanova 2013). Hier zeichnet sich ein grundlegender Paradigmenwechsel ab: Nicht die einseitig als säkular verstandene Stadt, sondern die global city als religionsproduktiver Ort mit ihren differenzierten Religionskulturen fasziniert Forscherinnen und Forscher über disziplinäre Grenzen hinweg. Nun kann man, wie angedeutet, fragen, ob diese erneute wissenschaftliche Aufmerksamkeit der Religionsthematik sich ausschließlich innerbetrieblichen akademischen Konjunkturschwankungen verdankt oder auch einen Anhaltspunkt in der Sache selbst hat. Diese Frage ist naturgemäß schwer zu beantworten. Fakt ist, dass die Zahl der eingetragenen evangelischen und katholischen Kirchenmitglieder etwa in Berlin bei knapp 20 Prozent der Gesamtbevölkerung liegt, Tendenz fallend (Stand: Ende 2022). Fakt ist auch, dass eine Studie vom Beginn des Jahrtausends über 350 verschiedene Religionsgemeinschaften für dieselbe Stadt verzeichnet, teilweise mit verschwindend kleiner Anzahl an Mitgliedern (Grübel, Rademacher 2003). Jetzt ließe sich trefflich darüber streiten, auf welche Begriffe man diese Befunde bringen will – ob man diese

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Formulierungen aus den folgenden Abschnitten sind teilweise wörtlich übernommen aus Zarnow 2018a. Diese apriorische Setzung liegt auch dem theologischen Klassiker von Harvey Cox aus dem Jahr 1965 zugrunde: Secular City. Secularization and Urbanization in Theological Perspective (Cox 1971).

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Religion im urbanen Raum

Lage als säkular oder post-säkular oder noch anders bezeichnen möchte. So oder so ist festzuhalten, dass wir es in den Großstädten mit einer fortschreitenden Differenzierung und Pluralisierung, aber auch mit punktuellen Vitalisierungen der Religionskultur zu tun haben. Die säkulare Großstadt ist in vielerlei Hinsicht ein religionsproduktiver Ort (Zarnow 2018b). Eine neue Aufmerksamkeit für die Stadt ist vielerorts auch in den christlichen Kirchen zu spüren. Der urbane Raum wird als Erprobungsraum für neue Formen des Gemeindeaufbaus entdeckt, dritte Orte entstehen, an denen neue Formen der Spiritualität ausprobiert werden können, Sonderpfarrämter werden eingerichtet, um Strategien kirchlichen Handelns in neu Stadtgebieten zu entwickeln. Kurz: Der urbane Raum wird als Labor und Experimentierfeld religiöser Praxis neu entdeckt. Dabei kann es als Aufgabe der empirischen Religionsforschung angesehen werden, die komplexen Konfigurationen, in denen Religion in den städtischen Raum eingeschrieben ist, differenziert zu beschreiben. In theologischer Hinsicht ist darüber hinaus zu fragen, welche existenziellen Themen mit dem Erfahrungsraum der urbanen Alltagswelt verbunden sind. In der Großstadt als Laboratorium der Moderne verdichten sich Erfahrungen der Individualisierung und Beschleunigung, der Fragmentierung von Identitäten, der Anonymisierung des Lebens. Die Erschließung solcher großstädtischen Differenzerfahrungen im Lichte der christlichen Glaubenstradition gehört zu den zentralen Aufgaben einer theologischen und kirchlichen Praxis, die sich religionssensibel auf ihre urbane Lebenswelt einlassen will. Diese Praxis bedarf wiederum einer differenzierten Wahrnehmung eben jener Lebenswelt, zu der die vorliegende Studie beitragen soll.

0.2.2 Raum Raumbegriff und Raumtheorie sind seit einiger Zeit ins Zentrum sozial- und kulturwissenschaftlicher Debatten gerückt (Günzel 2022). Im Zuge dessen wurde vor noch gar nicht allzu langer Zeit ein spatial turn, eine raumwissenschaftliche Wende der Kulturwissenschaften, ausgerufen. Raum wird in diesem Kontext nicht (mehr) als selbstverständlich gegebene Größe gesehen, in dem sich das (erforschte, beobachtete) Geschehen abspielt, sondern selbst auf seinen sozialen, politischen und symbolischen Konstruktionscharakter hin befragt (Döring, Thielmann 2009). Produktive Impulse gehen von der Raumtheorie insofern in die Stadtforschung aus, als die urbane Alltagswelt ihrerseits als eine komplexe Konfiguration von in sich verschachtelten Lebens-, Sozial- und Kulturräumen beschrieben werden kann (Manderscheid 2004).3 Eine paradigmatische Vorreiterrolle in Bezug auf raumtheoretische Fragen kommt der Sozial- bzw. Humangeographie zu, die sich »mit den von Menschen geschaffenen und gekennzeichneten räumlichen Verhältnissen und Gliederungen« (Werlen 2012: 142) beschäftigt. Menschliches Handeln vollzieht sich nicht nur im Raum – Menschen handeln Räume aus, sie gestalten und streiten um Räume, und in alldem agieren sie raumschaffend. Eine besondere Weise raumkonstruktiver Tätigkeit kann in der Herstellung »emo3

»Urbaner Raum ist ein dynamisches Gefüge und kann somit nur in der Komplexität von Orten und Institutionen, Akteuren und Aktivitäten, Erfahrungen und Erzählungen betrachtet werden« (Huffschmid, Wildner 2009).

0. Einleitung

tionale[r] und symbolische[r] Ortsbezüge« (Werlen 2012: 145) gesehen werden. In solchen Ortsbindungen – die für religiöse Menschen etwa in der Bindung an ein bestimmtes Gotteshaus liegen können – manifestiert sich in prägnanter Form die »Räumlichkeit« des Daseins als eine existenzielle Grundstruktur des Lebens (Bollnow 2010). Ausgezeichnet sind solche Orte insbesondere durch die Rolle, die sie in der eigenen Lebensgeschichte oder auch in der Geschichte einer Gruppe spielen. Gerade solche Orte, zu denen Akteure eine subjektive und emotionale Verbindung und Zugehörigkeit verspüren (sense of place), können dabei als »Schauplätze[] oder actions settings« (Werlen 2012: 145) verschiedenen Möglichkeiten von Interaktion eine Bühne geben. Dabei lässt sich Raum auf verschiedenen Ebenen adressieren. Henri Lefebvre zufolge lässt sich der (urbane) Raum auf den drei Ebenen der lebensweltlichen Erfahrung, der ideologischen Ordnung sowie der symbolischen Imagination beschreiben (Lefebvre 1990: 1994, Huffschmid, Wildner 2009). Dieter Läpple unterscheidet in seinem Modell des Matrix-Raumes (Läpple 1991: 196ff) zwischen dem gesellschaftlich produzierten materiell-physischen Substrat (Artefakte, materielle Nutzungsstrukturen), der gesellschaftlichen Praxis, dem institutionalisierten und normativen Regulationssystem (Eigentumsformen, rechtliche Regelungen, Planungsrichtlinien) sowie einem Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem (Frey 2012: 511; Wehrheim 2011: 164). Dies zusammengenommen kann Raum zunächst in den Blick genommen werden als physikalischmaterielle Größe, die sich über Koordinaten und Entfernungsangaben bestimmen lässt und eine spezifische physisch-materielle Charakteristik aufweist. Allerdings zeigen schon die verschiedenen Möglichkeiten, ihn zu vermessen und zu kartieren, dass die Erschließung des physikalischen Raums immer schon von bestimmten gesellschaftsund kulturrelativen Ordnungsvorstellungen überformt ist. Der geographisch-materielle Raum und der soziale Raum sind folglich nicht getrennt zu betrachten, sondern stehen in einem Wechselverhältnis zueinander (Schneider 2012: 97–99; Wehrheim 2011: 166): So wie sich soziale Verhältnisse räumlich ausformen, verweist die Ordnung des Raumes auf soziale Aushandlungspraktiken und Konventionen zurück.4 Räume lassen sich aber auch administrativ – etwa als Verwaltungseinheiten (Parochie, Kirchenkreis, Stadtdekanat) bestimmen, die einen bestimmten territorialen Zuschnitt mit einem bestimmten Grenzverlauf haben. Räume sind Gegenstand von Mythenbildungen, Phantasien, Erzählungen und diskursiven Zuschreibungen, die beispielsweise mit der Gründerzeit eines Stadtgebiets verbunden sind. Räume können so zu Symbolen für Erwartungen, aber auch für enttäuschte Hoffnungen werden, an denen Erinnerungen und Lebensentwürfe haften. Diese unterschiedlichen Beschreibungsperspektiven werden in Abschnitt 2.5 erneut aufgegriffen, wenn die Forschungsheuristik entwickelt wird, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegt.

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Dass der Raum aus soziologischer Perspektive nicht als das »Worin« sozialer Gegebenheiten zu verstehen ist, sondern sich im Vollzug und als Resultat sozialer Handlungen überhaupt erst konstituiert, ist die zentrale These des Buchs von Martina Löw: Raumsoziologie (Löw 2012).

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Religion im urbanen Raum

0.2.3 Stadt Der Begriff der Stadt wird in der neueren Stadtsoziologie kontrovers diskutiert. In welcher Form ist »die Stadt« überhaupt einer empirischen Fragestellung zugänglich? Können Städte als solche Gegenstände soziologischer Forschung sein – oder nur ihre Bewohner bzw. das Leben, das sich in ihnen abspielt? Soll die Stadt als Ort der Verdichtung gesamtgesellschaftlicher oder gar globaler Prozesse in den Blick genommen werden, als »gesellschaftliche Organisationsform der Moderne« (Dangschat 1994: 337) oder als die je konkrete Stadt in Gestalt eines Habitus-Ensembles mit je spezifischer »Eigenlogik« (Berking, Löw 2005)? Insbesondere von der neueren Raumsoziologie sind wichtige Impulse für die gegenwärtige Stadtforschung und Urbanistik ausgegangen. In den Fokus rücken damit die Mechanismen und Praktiken, durch die urbane Räume hergestellt, verteilt, verwaltet und ausgehandelt werden (Schroer 2012). Ein solcher »raumkonstruktivistischer« Ansatz lässt sich wiederum auf verschiedenen Ebenen konkretisieren. Auf materieller Ebene kann eine Stadt als eine große Siedlung verstanden werden, deren Umwelt weitgehend von Menschen geschaffen wurde und deren baulich-räumliche Struktur im Vergleich zum Land stark verdichtet ist (Antweiler 2004: 286; Mieg 2013: 6). Auf sozialer Ebene stellt sich eine Stadt als ein spezifischer Modus sozialer Organisation dar, der das Verhalten von Individuen und Gruppen formt und ihrerseits von ihnen geformt wird (Schwanhäußer 2010). Die Stadt ist dabei durch die Mannigfaltigkeit ihrer sozialen Gruppen geprägt und hat einen Verbandscharakter, der wesentlich durch Integration bestimmt ist: Anders als das Territorium ist insbesondere die Großstadt nicht durch Ausschluss (territoriale Grenzen), sondern durch Einschluss definiert (Berking 2015). Öffentliche Räume in der Stadt, wie beispielsweise Plätze, Straßen oder Park-Anlagen, sind potenziell allen Teilen der Stadtbevölkerung zugänglich. Auf der anderen Seite führen Effekte der sozialräumlichen Segregation zur Herausbildung relativ geschlossener Areale, in denen sich Menschen verschiedener sozialer und kultureller Milieus im Alltag kaum begegnen. Der Raum der Stadt ist so durch die Wechselbeziehung und Polarisierung von öffentlicher und privater Sphäre bestimmt (Bahrdt 1969).5 Durch Privatisierung und Kommerzialisierung öffentlicher Räume und umgekehrt durch die Ausdehnung des Privaten ins Öffentliche (urban gardening und andere Techniken des Alltagsurbanismus) entstehen dabei zunehmend Mischformen, also Graubereiche, die weder klar der einen, noch der anderen Sphäre zuzuordnen sind. Städte sind aber nicht nur Orte des alltäglichen Lebens sowie der sozialen Interaktion und Partizipation, sondern auch behördlich gesteuerte Verwaltungseinheiten. Aus administrativer Sicht erscheinen Städte als »Träger kommunaler Autonomie bzw. lokaler Selbstverwaltung« (Mieg 2013: 8). Entscheidungen, die alle Bewohner des Gebietes betreffen, werden in spezifischen Foren ausgehandelt, getroffen und durchgeführt. Auf diskursiver Ebene kann betrachtet werden, wie unterschiedliche Akteure der Stadt als ganzer, aber auch einzelnen Stadtvierteln unterschiedliche Bedeutungen zuschreiben.

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Bahrdts Anschauungsobjekt ist die Stadt der bürgerlichen Gesellschaft. Welche analytische Kraft sein stadt(planungs)soziologischer Ansatz für gegenwärtige Stadtentwicklungen besitzt, hängt damit zusammen, wie die Prägekraft der »bürgerlichen« oder auch »europäischen« Stadt für die »Zwischenstädte« (Sieverts 2013) der Gegenwart eingeschätzt wird.

0. Einleitung

Akteure sind beispielsweise die Bewohnerinnen, Stadtplaner, Journalistinnen oder Mitglieder religiöser Gemeinschaften. Deren Wirklichkeitsdeutungen, etwa hinsichtlich der Geschichte und der Individualität der Stadt, werden insbesondere in lokalen Medien und auf öffentlichen Veranstaltungen entworfen und ausgehandelt sowie stabilisiert und transformiert (Christmann 2006: 600). Städte sind zugleich Projektionsflächen und Referenzpunkte von Diskursen und Narrativen. Sie sind mit bestimmten Etikettierungen verbunden – wie Berlin als die »gottloseste Stadt Europas« oder die »weltoffene« Hansestadt Hamburg. Solche Narrative sind teilweise tief in der Geschichte verwurzelt und werden in unterschiedlichen Medien immer wieder aktualisiert, wiederholt und dadurch legitimiert. Zudem werden sie im Stadt-Marketing mit dem Ziel aufgegriffen, ein »Image« der Stadt herauszustellen und dieses im Konkurrenzkampf der Städte zu behaupten (Löw 2010). Zugleich finden sich in der Stadt die Symbole unterschiedlicher sozialer Gruppen wieder, seien es Graffiti an Häuserwänden oder Kreuze auf Kirchturmspitzen. Diese Symbole stehen in komplexen Relationen wechselseitigen Verweisens. Aber auch Namensgebungen sind Teil symbolhafter Praktiken und geben oft Auskunft über die Selbstverortung der Akteure. Städte sind zudem der Ort von Praktiken, durch die sie bestimmt werden und die sie ihrerseits transformieren. Eine spezifisch städtische Praktik ist der Umgang der einander fremden Bewohner, die sich im öffentlichen Raum begegnen (Antweiler 2004: 286). Diese Praktiken bewegen sich in einem Kontinuum der Inszenierung von Individualität und der Gestaltung von Anonymität: Die Pluralität urbaner Lebensstile wird durch Techniken der Wahrung sozialer Distanz erst ermöglicht und für das einzelne Individuum ertragbar. Überdies sind Städte ihrerseits in kleinere Einheiten gegliedert. Zumindest in Großstädten ist es so, dass die dortigen Bewohner meist nicht die gesamte Stadt, sondern lediglich einzelne Viertel näher kennen, zwischen denen sie sich bewegen und in denen sich ihr alltägliches Leben abspielt.6 Doch nicht nur deshalb bieten sich Quartiere als Untersuchungsorte an. Sie sind konkrete Orte im Stadtgebiet, in denen sich gesellschaftliche Prozesse auf einer mittleren Ebene beobachten und verstehen lassen (Frey 2012: 509).7 Wenn man davon ausgeht, dass das Quartier in vielerlei Hinsicht eine Stadt im Kleinen ist, lassen sich die meisten der oben genannten stadtbezogenen Begriffsbestimmungen auf das Quartier übertragen. Quartiere sind wie Städte »durch gebaute, natürliche, soziale und symbolische Strukturen gekennzeichnet sowie in einen übergreifenden historischen Zusammenhang eingebettet« (Steinführer 2002: 3). Anders als die Stadt sind Quartiere für die Akteure jedoch räumlich überschaubarer und kleinteiliger – und damit lebensweltlich »greifbarer« (Schnur 2012). Die Identifikation mit dem eigenen Quartier oder »Kiez« kann dabei weit größer sein als die Identifikation mit der gesamten 6 7

In Anlehnung an Steinführer (2002: 3) verwenden wir die Begriffe des (Wohn-)Viertels, des (Wohn-)Quartiers und des Stadtteils synonym. Nicht die Stadt als Ganze, sondern das exotische Viertel bildete dann auch den primären Forschungsgegenstand der Chicagoer Schule (Lindner 2007). Von dort gingen entscheidende Impulse nicht nur für die Segregations-, sondern auch für die Nachbarschafts- und Quartiersforschung aus. Einen Sonder- und Extremfall urbaner Segregation stellen dabei Distrikte mit einem hohen Grad an sozio-kultureller und ethnischer Homogenität dar – wie »China Town« oder »German Village« in amerikanischen Großstädten.

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16

Religion im urbanen Raum

Stadt. Auf der anderen Seite bietet die Großstadt in der Vielfalt ihrer Quartiere, Areale und Zonen die Möglichkeit, immer wieder auf Distanz gegenüber dem eigenen Viertel zu gehen. So ist das Verhältnis von »Kiez« und »Stadt« wohl am ehesten dialektisch zu begreifen: Man wohnt eben sowohl im Kiez als auch in der Stadt. Beides bedingt sich und verweist wechselseitig aufeinander. Für die Stadt wie auch für ein einzelnes Quartier lässt sich demnach festhalten, dass es sich um ein baulich verdichtetes Gebiet handelt, in dem unterschiedliche soziale Gruppen leben, die spezifischen Regulationen unterliegen und bestimmte Formen von Praktiken pflegen. Städten werden zudem spezifische Bedeutungen zugeschrieben; gleichzeitig enthalten sie eine Vielzahl an Symbolen. Aus dem Zusammenspiel dieser Faktoren sowie dem historischen, politischen und sozioökonomischen Hintergrund ergibt sich die jeweilige Einzigartigkeit der Stadt (Desplat 2012: 29).

0.2.4 Religion Die Vielfalt an Formen, in der religiöses Leben sich empirisch zeigt, spiegelt sich theoretisch in einer unübersehbaren Vielfalt an Definitionen und »wissenschaftliche[n] Imaginationen« (Riesebrodt 2007: 75) des Religionsbegriffs. Funktionalistische Ansätze verstehen Religion von bestimmten Aufgaben und Leistungen her, die für eine Gesellschaft bzw. für einzelne Individuen essenziell sind, wie beispielsweise die Bewältigung von Kontingenz (EKD-Text 2007: 34; Schulze 2009: 161), die Integration von Gruppen (EKD-Text 2007: 35) oder die Sinndeutung sozialer und personaler Identität (Zarnow 2014). Diejenigen Deutungsmuster und Sinnsysteme bzw. die »Sammlungen von Zeichen und Symbolen« (Waardenburg 1993: 30), die diese Leistungen erbringen, wären dann per definitionem als religiös zu bezeichnen. Substanzielle Zugänge hingegen definieren Religionen inhaltlich, etwa als Glauben an übermenschliche Mächte oder als Erfahrungen des Heiligen (Pollack 2012: 32–36). Sie nehmen darin für sich in Anspruch, eng den Selbstbeschreibungen gläubiger Menschen zu folgen. Wieder andere Ansätze kombinieren Gesichtspunkte aus beiden Zugängen. So versteht der Religionswissenschaftler Martin Riesebrodt Religionen als »Systeme von Praktiken« (Riesebrodt 2007: 13), die ihren genuinen Nutzen darin haben, »Unheil abzuwehren, Krisen zu bewältigen und Heilszustände herbeizuführen« (a.a.O.: 14). Im Begriff des Nutzens kann dabei ein Anschluss an funktionalistische Ansätze gesehen werden. Die inhaltliche Näherbestimmung dieses Nutzens gewinnt Riesebrodt dann allerdings nicht aus einer soziologischen Außensicht, sondern indem er der Binnenperspektive des religiösen Bewusstseins folgt; hierin besteht gewissermaßen ein Anschluss an den substanziellen Religionsbegriff. Religion zu erforschen, bedeutet in dieser Theorieeinstellung, die Selbstdeutung von Akteuren nachzuzeichnen, also gewissermaßen eine Deutungsarbeit in zweiter Potenz: Deutungen zu deuten. Die wissenschaftliche »Außenperspektive« realisiert sich als »Abstraktion und Systematisierung von Innenperspektiven« (a.a.O.: 109).8

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Das Material, an dem sich der Sinn religiöser Praktiken ablesen lässt, sind die expliziten oder auch impliziten Theologien, Ethiken und Liturgien der Akteure, die ihrerseits in charakteristischer Weise auf überlieferte religiöse Traditionen Bezug nehmen.

0. Einleitung

Angesichts der Vielfalt an Phänomenen und möglichen Religionsdefinitionen gilt es auszuweisen, was in dieser Studie unter »Religion« verhandelt werden soll, um insbesondere die Bezüge zwischen Religion und urbanem Raum adressieren zu können. Drei Fragen sind dabei zu beantworten. Erstens: Welche raumbezogenen Phänomenbereiche sollen überhaupt in den Blick genommen werden, wenn nach Religion gesucht wird? Zweitens: Was soll innerhalb dieser Phänomenbereiche als religiös identifiziert bzw. empirisch erfasst werden? Drittens: Wie lässt sich das solcherart Identifizierte religionstheoretisch rekonstruieren? Zum ersten: In Anknüpfung an die Religionstheorie Martin Riesebrodts legt es sich zunächst nahe, Religion als Bündel sozialer Praktiken zu verstehen, die als habitualisierte, beobachtbare Prozesse in Raum und Zeit der empirischen Forschung zugänglich sind.9 Doch auch Gebäude und Verwaltungsstrukturen, Regularien und Symbole, diskursive Tatbestände und soziale Organisationsformen können in unterschiedlichen Zusammenhängen als ›religiös‹ adressiert werden. So wird in der vorliegenden Untersuchung entsprechend zu den verschiedenen Ebenen, auf denen der urbane Raum beschrieben wurde (siehe 0.2.2), auch das Phänomen »Religion« multiperspektivisch in den Blick genommen. Dabei ist keineswegs ausgemacht, dass sich diese verschiedenen Adressierungen des Religiösen in einer übergreifenden Theorieperspektive bündeln lassen. Die Frage, ob den unterschiedlichen Erscheinungsformen urbaner Religion als symbolischer Kosmos, Bündel von Praktiken, diskursiver Tatbestand oder gesellschaftliche Sozialform ein einheitlicher und konsistenter Wesenskern zugrunde liegt, überschreitet jedenfalls die Anlage der vorliegenden Untersuchung. Im Folgenden wird nur angenommen, dass dasjenige, was sich im Raum der Stadt als Religion zeigt bzw. was hier von unterschiedlichen Akteuren als religiös adressiert wird, sich erst innerhalb eines multiperspektivischen Analyserahmens rekonstruieren lässt. Da wir somit nicht mit einem vorab definierten Religionsbegriff ins Feld gehen, stellt sich, zweitens, die Folgefrage, was im Kontext der unterschiedlichen Phänomenbereiche nun überhaupt im engeren Sinn als Religion gelten soll. Auch hier schließen wir an Riesebrodt an und orientieren uns an der »inneren Sichtweise« der im Feld begegnenden Gruppen und Akteure. Methodisch leitend sind dabei ein pragmatischer Ausgangspunkt und eine Fortsetzungsregel. Den Ausgangspunkt nimmt die Studie bei den evangelischlandeskirchlichen, römisch-katholischen und entsprechenden ökumenischen Akteuren und Aktivitäten vor Ort. Von ihnen aus nehmen wir weitere religiöse Phänomene mithilfe einer iterativen Fortsetzungsregel in den Blick: Was von einem religiösen Akteur – in kooperativer Nähe oder im Gestus der Konkurrenz bzw. der Ablehnung – als religiös benannt bzw. als ›Seinesgleichen‹ oder signifikanter Anderer erkannt wird, soll als solches bzw. solcher gelten (Riesebrodt 2007: 43–74).10 Damit ist nicht der Anspruch verbunden, 9

10

Die Praxistheorie, die »bisher keine abgeschlossene, durchsystematisierte Form gefunden« hat, versteht unter Praktiken die Vorstellung, dass diese »nichts anderes als Körperbewegungen darstellen und dass Praktiken in aller Regel einen Umgang von Menschen mit ›Dingen‹« sind (Reckwitz 2003: 289–290). Ausführliche Darstellungen der Praxistheorie finden sich in Reckwitz (2003) und Ortner (1994). Was in diesem Sinne als Religion erkannt wird, wandelt sich historisch. Gerade in Städten haben es etwa die Kirchen gelernt, sich als ein Fall von Religion unter anderen religiösen Gruppierungen zu verstehen.

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18

Religion im urbanen Raum

schließlich zu einer objektiven Lagebeschreibung von Religion im Raum des Quartiers zu kommen; skizziert wird vielmehr die religiöse Lage, wie sie sich aufgrund des gewählten Ausgangspunktes ergibt.11 Die dritte Frage ist, wie sich das solcherart empirisch vordergründig als religiös Identifizierte schließlich begreifen, d.h. theoretisch rekonstruieren und auf unterschiedliche, etwa funktionalistische oder auch substanzielle Religionsdefinitionen zurückbeziehen lässt. Spätestens hier zeigt sich allerdings ein grundsätzliches hermeneutisches Problem. Weil Religion empirisch gleichsam nicht in »Reinform« vorkommt, sondern nur in Verbindung mit allerlei Profanem, stellen sich auf analytischer Ebene immer wieder neu die Fragen, was genau das ›eigentlich‹ Religiöse am vordergründig als religiös Etikettierten ist, wo die Grenze zwischen Religion und Nicht-Religion verläuft und wie überhaupt mit der notorischen Mehrdeutigkeit der Empirie religionshermeneutisch intelligent umgegangen werden kann. All dies sind Fragen von erheblichem Gewicht, die daher auch nicht hier, am Ort der Einleitung und ersten begrifflichen Orientierung, sondern in einem eigenen Kapitel der Studie unter der Überschrift der Hybridität religiöser Phänomene näher beleuchtet werden sollen (siehe Kapitel 3).

0.2.5 Religiöse Topographie der Stadt Wie lassen sich die Prozesse und Strukturen, durch die sich Religion innerhalb von neuen Stadtquartieren verräumlicht, auf empirisch gehaltvolle Weise erforschen? Es hat sich gezeigt, dass sich schon der urbane Raum selbst auf verschiedene Weise adressieren lässt. Er ist beschreibbar als materieller (insbesondere: gebauter) Raum, als sozialer Interaktionsraum, als Raum diskursiver Zuschreibungspraktiken, als politische Verwaltungseinheit, als lebensweltliche Bühne, als öffentlicher und privater Raum usw. (Guelf 2010). Jede dieser Beschreibungsperspektiven auf den städtischen Raum eröffnet auch eine eigene Sicht auf das Thema der Religion: Religion manifestiert sich im Raum der Stadt in Gestalt von Bauten wie Kirchengebäuden, Gemeindehäusern, Diakoniestationen, konfessionellen Kindertagesstätten, Familienbildungszentren, Friedhöfen usw. Der religiöse Raum lässt sich aber auch als Verwaltungseinheit (Parochie, Stadtdekanat) beschreiben, die sich territorial mit städtischen Verwaltungseinheiten (Bezirk, Kommune) überlagert und in Austausch befindet. Auf wieder anderer Ebene ist der religiöse Raum als Sozialraum beschreibbar, der in bestimmten städtischen Milieus verwurzelt ist. Im Zuge des spatial turn liegt der Blick darüber hinaus besonders auf der Analyse von Praktiken, durch die religiöse Räume ausgehandelt bzw. überhaupt erst hergestellt werden (spacing).

11

An dieser Stelle ist zu berücksichtigen, dass der öffentliche Status einer Religion in vielen Ländern durch die staatliche Anerkennung als Religionsgesellschaft bestimmt ist, welche die Sichtbarkeit religiöser Gemeinschaften und damit auch die Wahrnehmung der Forschenden beeinflusst (Becci, Burchhardt, Casanova 2013: 12). Zwischen den großen Religionen wie Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus oder Hinduismus, philosophischen Weltanschauungen, spirituellen Angeboten und Aktivitäten aus den Bereichen Beratung, Psychologie und Wellness lassen sich wiederum keine materialen Abgrenzungen ziehen, die sich nicht ihrerseits der Binnenperspektive der jeweiligen Akteure verdankten.

0. Einleitung

Als Inbegriff des durch diese Vielfalt möglicher Beschreibungsebenen aufgespannten Relationsgefüges zwischen Religion und Raum dient im Folgenden der Begriff der religiösen Topographie. Er soll auf das Gesamt der Arten und Weisen verweisen, auf die Religion innerhalb der Stadt bzw. eines Stadtquartiers Raum greift.12 Unterschiedliche Ebenen der religiösen Topographie eines Stadtquartiers können entlang der dargelegten Beschreibungsebenen des urbanen Raums differenziert werden. Entsprechend lassen sich religiöse Gemeinschaften und Stadtquartiere auf materieller Ebene in Beziehung setzen und beispielsweise daraufhin untersuchen, ob eine große Straße durch das Gebiet einer Gemeinde diese in zwei Hälften trennt. Auf sozialer Betrachtungsebene lässt sich fragen, welche Gruppen oder Milieus Zugang zu religiösen Gemeinschaften finden und welche anderen exkludiert bleiben. Auf der Diskursebene ist von Interesse, inwieweit religiöse Topoi öffentlich ventiliert sowie umgekehrt im Binnendiskurs der religiösen Gemeinschaften explizite Stadtteilthemen aufgegriffen werden. In der Analyse der symbolischen Ebene rücken bedeutungsvoll aufgeladene Verweiszusammenhänge in den Vordergrund. So greifen religiöse Gemeinschaften beispielsweise in ihrer Namensgebung städtische Begriffe auf. Als Beispiel seien die Namen von Moscheevereinen in Hamburg und Berlin genannt, die »in erster Linie an ihrer städtischen Lage orientiert sind: u.a. ›Neukölln Camii‹, ›Tegel Selimiye‹« (Färber, Spielhaus, Binder 2012: 72). Auf administrativpolitischer Ebene lässt sich beobachten, wie sich die unterschiedlichen Regelungen und Verwaltungsvollzüge der Stadt und der religiösen Gemeinschaften aufeinander beziehen. Setzt man schließlich städtische und religiöse Praktiken in Beziehung zueinander, lässt sich fragen, inwieweit sich diese ineinander verschränken oder aber berührungslos nebeneinanderstehen. Die religiöse Topographie umfasst also vielfältige Dimensionen der Konfigurationen, in denen Religion dem urbanen Raum eingeschrieben ist. Diese komplexe Topographie lässt sich daher auch selbst nicht noch einmal räumlich in Form einer einfachen Karte abbilden. Sie ergibt sich vielmehr erst durch das Übereinanderlegen verschiedener Karten – ähnlich wie in einem Atlas, der physikalische, historische oder politische Landkarten beinhaltet. In einem engeren Sinn verwenden wir den Begriff der religiösen Topographie daher für die Darstellung signifikanter Orts- und Raumbezüge einzelner religiöser Akteure. Ausgehend von der Perspektive der evangelischen und katholischen Gemeinden – entsprechend des in Abschnitt 0.2.4 genannten Ausgangspunktes und der Fortsetzungsregel – kommen zunächst die von ihnen benannten religiösen Orte, Akteure, Gruppen und Gemeinschaften in den Blick. Im weiteren Sinn verweist der Begriff der religiösen Topographie auf das Gesamt des Beziehungsgefüges zwischen urbanem Raum und Religion. Die skizzierten Ebenen fungieren als Forschungsheuristik, die der empirischen Untersuchung der einzelnen Quartiere, deren Ergebnisse im Folgenden dargestellt werden, zugrunde liegt. Entwickelt wurde die Heuristik in Bezug auf erste empirische Beobachtungen aus den Quartieren sowie im konstruktiven Anschluss an die urbanis-

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Der Begriff ist im vorliegenden Zusammenhang inspiriert durch den Titel von Becci, Burchhardt, Casanova 2013: Topographies of Faith.

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20

Religion im urbanen Raum

tischen Theoriemodelle, die oben (0.2.2) angeführt sind.13 Im Endeffekt unterschieden wir sechs Ebenen der Beschreibung und Analyse religiöser Topographien in neuen Stadtquartieren: eine materielle, eine politisch-administrative, eine soziale, eine symbolische, eine diskursive Ebene und eine Ebene der Praktiken. Tabelle 1: Heuristik der sechs Bezugsebenen von Religion und Raum, dazugehörige Beispielfragen und Auswahl an Referenzmethoden Bezugsebene zwischen Religion und Raum

Beispielhafte Fragestellungen

Ausgewählte Referenzmethoden

materiell

Wie ist ein religiöser Ort (Kirche, Moschee, Gemeindezentrum; aber auch: Kindertagesstätte, Diakoniestation, Weltladen) in das städtische Umfeld eingebettet?

Auswertung von Karten des Stadtteils, Auswertung von Fotos, Beschreibungen von Gebäuden und Raumatmosphären

politischadministrativ

Wie sind Religionsgemeinschaften in die Planung neuer Stadtteile eingebunden? Welchen Blick haben Stadtplanende auf Religion?

teilnehmende Beobachtungen bei Sitzungen, Auswertung von Archivmaterialien, Auswertung von Statistiken

sozial(-strukturell)

Durch welche Sozialstrukturen ist ein Stadtteil geprägt? Wie bilden sich städtische Milieus und Milieugrenzen in religiösen Gruppierungen ab?

Auswertung kommunaler und kirchlicher Statistiken und vergleichbarer Daten

symbolisch

Nehmen die Religionsgemeinschaften im Namen oder Logo Bezug auf das Quartier? Welche Geschichten und ›Mythen‹ werden über das Quartier erzählt?

semi-strukturierte Interviews, Auswertung von Archivmaterialien, Auswertung von Fotos Diskursanalyse (lokaler) Medien, semi-strukturierte Interviews

diskursiv

In welchen (lokalen) Medien wird auf Religionsgemeinschaften Bezug genommen? Welche Rolle spielen religiöse Orte für die Identität des Quartiers?

praktisch

Durch welche Praktiken (Prozessionen, Kunstaktionen etc.) werden Religion und Raum verbunden?

teilnehmende Beobachtungen, semi-strukturierte Interviews

Diese Ebenen sind keineswegs trennscharf voneinander abzugrenzen. Aber ihre Unterscheidung erlaubt es, erstens die verwendeten Begriffe gezielt zu präzisieren, zweitens die Rede von der Beziehung zwischen städtischem Raum und Religion nach

13

Neben den dort erwähnten Konzepten Henri Lefebvres und Dieter Läpples entwickelt auch Walter Siebel ein mehrdimensionales Modell des urbanen Raums (Siebel 2012: 207).

0. Einleitung

Aspekten zu differenzieren sowie drittens die Auswahl einzelner Forschungsmethoden zu plausibilisieren. Tabelle 1 zeigt die genannten Ebenen und ordnet ihnen beispielhafte Fragestellungen und ausgewählte Referenzmethoden zu. Die verschiedenen Ebenen der Heuristik erfordern mithin je spezifische Methoden der qualitativen Sozialforschung, die im Folgenden näher dargestellt werden. Insgesamt entsteht so ein qualitatives Mixed-Method-Design. Der Vorteil eines solchen Ansatzes ist es, dass sich durch die Verbindung »von dichten Beschreibungen mit der analytisch-vergleichenden Sicht und der Innensicht der Menschen« ein umfassender Einblick in das Forschungsfeld ergibt (Antweiler 2004: 300). Durch die Kombination mit einigen quantitativen Daten wie beispielsweise Mitgliederzahlen und Gründungsdaten wird darüber hinaus der größere soziographische und historische Kontext mit einbezogen.

0.3 Die Untersuchung der Quartiere Im Folgenden werden ein Einblick in die Zeitstruktur des Projekts sowie ein Überblick über die untersuchten Quartiere geboten (0.3.1) sowie die Generierung (0.3.2) und Interpretation der Forschungsdaten (0.3.3) dargestellt.

0.3.1 Zeiten und Orte Die Datenerhebung erfolgte hauptsächlich im Zeitraum von Frühjahr 2017 bis Herbst 2018. In diesem Zeitraum wurden insgesamt neun Quartiere in Hamburg, Berlin und München erforscht. Neben diesen neu untersuchten Quartieren aus der Hauptphase fließen Ergebnisse der Pilotstudie des Projekts in die vorliegende Darstellung ein (Thiesbonenkamp-Maag, Moos, Zarnow 2017). Diese hatte Quartiere in den Städten Heidelberg, Karlsruhe und Freiburg zum Gegenstand; die Daten wurden zwischen Frühjahr 2015 und Herbst 2016 erhoben. Auswertungsworkshops vor Ort, die der kommunikativen Validierung und weiteren Datengenerierung dienten, fanden bis Oktober 2019 statt. Das Gesamtmaterial an Forschungsdaten, das in der Auswertung Berücksichtigung fand, umfasste Beobachtungen aus insgesamt sechs Städten bzw. 13 Quartieren (siehe Tabelle 2). Die Auswahl der Quartiere beschränkte sich auf Stadtquartiere, die von Seiten der jeweiligen Stadtverwaltung beziehungsweise -politik ausdrücklich Gegenstand städtebaulicher Entwicklungsprogramme sind oder waren. Dabei wurde darauf geachtet, Quartiere unterschiedlichen Charakters und unterschiedlicher Entwicklungsphasen einzubeziehen. Die Auswahl der Quartiere richtete sich auch nach dem Umfang der Forschungsgelder, die in einer Region erhoben werden konnten. Von daher, aber auch schon aufgrund der Zahl der Quartiere und der Art des Zugangs, ist die Studie in keiner Weise repräsentativ. Ihre Aussagekraft besteht in der Beschreibung und Analyse der aufgefundenen Phänomene. Dabei gilt zu beachten, dass »zur Untersuchung eines Phänomens [wenige] Fälle oft aussagekräftiger sind als der Einsatz einer Methode an vielen Fällen« (Flick 2000: 260). Zu beurteilen, inwieweit die Ergebnisse sich auf andere Quartiere übertragen lassen, muss den Lesenden überlassen bleiben.

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Religion im urbanen Raum

Tabelle 2: Überblick über die untersuchten Stadtquartiere Pilotphase

Hauptphase

Bahnstadt (Heidelberg) Heidelberg Süd (Heidelberg) Südstadt (Karlsruhe) Vauban (Freiburg)

Hafencity (Hamburg) Hammerbrook (Hamburg) Billstedt-Horn (Hamburg) Mitte Altona (Hamburg) Agfa-Gelände Giesing (München) Neuperlach (München) Freiham (München) Rummelsburger Bucht (Berlin) Blankenburger Süden (Berlin)

In der vorliegenden Studie wurde der Hauptteil der Daten im christlich-religiösen Kontext erhoben. Das hat zunächst seine Ursache darin, dass die christlichen Kirchen in den untersuchten Gebieten nach wie vor demographisch wie ressourcenmäßig von dominierender Präsenz sind. Es wurden aber auch Daten aus dem Bereich anderer Religionsgemeinschaften erfasst. Durch die Einbeziehung von Redakteurinnen, Architekten oder für ihr Stadtteil engagierten Bürgerinnen war darüber hinaus teils explizit, teils implizit die Stimme der Konfessionslosen und Säkularen präsent. Durch den kontrastierenden Vergleich der verschiedenen Quartiere und ihrer entstehenden religiösen Topographien konnten Gemeinsamkeiten ebenso wie signifikante Unterschiede herausgearbeitet werden. Dabei galt es einerseits, den lokalen Eigentümlichkeiten gerecht zu werden und andererseits, Querschnittsthemen zu erkennen und auszuwerten. Die Kapitel des vorliegenden Bandes sind nach Querschnittsthemen gegliedert, beinhalten aber jeweils die Beschreibung eines einzelnen Quartiers, an dessen Beispiel das Thema zunächst entwickelt wird.

0.3.2 Methoden Die Auswahl der Methoden der Datengewinnung orientierte sich an der Forschungsheuristik (siehe 0.2.5) zum einen, am Entwicklungsstand und an der situativen Gegebenheit des jeweils untersuchten Gebiets zum anderen. Da das Hauptaugenmerk der Studie – dem Thema Religion (siehe 0.2.4) angemessen – auf der Rekonstruktion des Selbstverständnisses, der Sinnwelten und Praxiskontexte lokaler Akteure liegt, werden vorrangig subjektzentrierte Methoden verstehender Sozialforschung wie Interviews und teilnehmende Beobachtung eingesetzt (Glaser und Strauss 1967; Spradley 1979; Flick 1991; Mayring 2002; Beer 2008). Pro Quartier waren drei Monate Forschungszeit angesetzt. Diese Forschungszeit gliederte sich wie folgt: Nach einer Recherche und Sondierung von Gesprächspartner:innen erfolgte eine Feldbegehung einschließlich erster Tiefeninterviews. Ziel dieser ersten Begehung war es insbesondere, Hinweise auf weitere potenzielle Interviewpartner:innen und für den Stadtteil wichtige Termine zu erhalten (Stadtteilfeste, Umzüge, wichtige Gremiensitzungen, Jubiläen usw.). Nach einer Sichtung des so generierten Materials erfolgten mehrere weitere Begehungen, teilnehmende Beobachtungen und (Stegreif-)Interviews. Das sich so stetig anreichernde Material wurde auf mehreren

0. Einleitung

Interpretationsworkshops der Forschungsgruppe gesichtet und analysiert. In einer Vertiefungsphase wurden dann noch einmal gezielt einzelne Themenfelder fokussiert, die sich für das Quartier im Horizont der vorliegenden Fragestellung als besonders einschlägig herauskristallisierten. Mit einem solcherart geschärften Blick wurden weitere Daten erhoben. Auch wurden Daten auf Workshops generiert, die zu Beginn und zum Ende der Forschungszeit in den beteiligten Städten mit Vertreter:innen der evangelischen Landeskirchen und weiteren Interessierten durchgeführt wurden. Zu den qualitativen Methoden, die in jedem Stadtteil zur Anwendung kamen, zählen Beobachtung und teilnehmende Beobachtung, Go-Alongs, Fotographie und vor allem das semi-strukturierte Interview. Weiterhin wurden punktuell Artikel aus (Stadtteil-)Zeitungen, Sitzungsprotokolle städtischer und kirchlicher Gremien sowie Webseiten ausgewertet. Die einzelnen Methoden wurden schon aufgrund der begrenzten Ressourcen des Projekts niemals ›flächendeckend‹ angewandt, sondern je nach sich herauskristallisierenden Forschungsgegenständen spezifisch eingesetzt und triangulierend aufeinander bezogen. Grundlage für die Analyse waren qualitative Interviews mit Akteuren aus einem Quartier, die aufgezeichnet und anschließend transkribiert wurden. Die Fragen der semi-strukturierten Interviews betrafen alle sechs dieser Studie zu Grunde gelegten Bezugsebenen zwischen Religion und Raum. Die Dauer der Interviews betrug in der Regel dreißig Minuten bis zwei Stunden; das Rohmaterial an Aufzeichnungen umfasste pro Quartier ca. 20–30 Stunden. Zu den Interviewpartnern zählten religiöse Akteure: Pfarrerinnen und Pfarrer sowie Vertreter anderer religiösen Gemeinschaften, Mitglieder der Ältestenkreise und Ehrenamtliche, Vertreter der Stadtteilvereine sowie Mitarbeitende der Stadt wie beispielsweise Stadtplanerinnen. Die Daten wurden pseudonymisiert, so dass ein Rückschluss auf die Identität der Personen erschwert ist. Allerdings handelt es sich in einer Reihe von Fällen um öffentliche Personen, etwa um kirchliche Leitungsverantwortliche. Auch ihre Namen wurden im vorliegenden Bericht geändert, wiewohl hier eine robuste Pseudonymisierung (im Sinne einer Zuordenbarkeit nur unter unverhältnismäßigem Aufwand) nicht möglich ist. Dies war den Beteiligten bereits bei der Aufnahme der Interviews bewusst. Die Interviewausschnitte, die im Folgenden wiedergegeben werden, sind um ihrer Lesbarkeit willen moderat geglättet worden. Auslassungen und Einfügungen durch die Autor:innen dieser Studie sind durch eckige Klammern markiert. Pro Quartier wurden zwei bis drei Personen in strukturierten Interviews befragt. Mit einigen wurde wiederholt gesprochen – teils in ausgewiesenen Interviewsituationen, teils in offenen Gesprächen, in denen auch über den Fortgang der Thesenentwicklung diskutiert wurde. Dabei handelt es sich um eine Form der kommunikativen Validierung in einem dialogischen Forschungsprozess (Helfferich 2005: 155). Hinzu kamen pro Quartier etwa 10–15 Stegreifinterviews mit der Bewohnerschaft auf Stadtteilfesten, auf Spielplätzen, auf der Straße und in Geschäften oder bei Stadtteilbegehungen mit zufällig angetroffenen Besuchern der religiösen Einrichtungen. Diese Stegreifinterviews wurden in einem Feldtagebuch festgehalten, das ebenfalls in den Prozess der Datenauswertung einbezogen wurde. Ein weiterer methodischer Zugang bestand in teilnehmenden Beobachtungen sozialer Interaktionen bzw. Praktiken. Er zielte unter anderem darauf ab, die Perspektiven

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Religion im urbanen Raum

und Selbstrepräsentationen der beobachteten Personen in unterschiedlichsten Situationen nachzuvollziehen und Daten zu erheben, die vermittels von Interviews nicht primär zugänglich sind. So konnten Verschränkungen zwischen den verschiedenen Bezugsebenen von Religion und Raum, vor allem zwischen der materiellen, der sozialen, der symbolischen und der praktischen Ebene adressiert werden. Die teilnehmenden Beobachtungen dauerten zwei bis sechs Stunden. Sie bezogen sich auf eine Vielzahl an Aktivitäten, wie beispielsweise Stadtteilfeste, Stadtführungen, Gremiensitzungen, Andachten und Gottesdienste, Flohmärkte und Laternenumzüge. Zur ethnografischen Raumanalyse gehörten in jedem Quartier zudem wiederholte intensive Wahrnehmungsspaziergänge sowie Stadtteilbegehungen gemeinsam mit Forschungsteilnehmenden (Go alongs), mit deren Hilfe die Perspektive der Akteure erfasst werden konnte (Kusenbach 2008: 349). Über Wahrnehmungsspaziergänge »lassen sich auch Merkmale des Ambientes (klimatische Bedingungen, Geräusche, Gerüche) und unsichtbare strukturierende Raumelemente (Knotenpunkte, Grenzen, Zonen) erfassen« (Huffschmid, Wildner 2009). Diese wurden ergänzt durch Fotografien etwa von permanenten Gebäuden oder temporären bzw. ephemeren Architekturen auf Stadtteilfesten, die zum Teil im Forschungsverlauf erstellt, teils auf Nachfrage von den Interviewpartner:innen überlassen und im Verlauf der Analyse den Aussagen der Gesprächspartner:innen ergänzend oder auch kontrastierend zur Seite gestellt wurden.14 Schließlich wurden punktuell Medien (Websites, Pressemitteilungen, Stadtteilzeitschriften etc.) und Archivmaterialien (Statistiken, Protokolle etc.) herangezogen. Ziel dieser Erhebung war es zum einen, allgemein zugängliche Hintergrundinformationen über die soziale Zusammensetzung der Wohnbevölkerung, den räumlichen Zuschnitt und das Selbstverständnis von religiösen Gemeinschaften, städtische Entwicklungsmaßnahmen oder Planungsvorhaben privater Investoren zu erfassen. Zum anderen fungierte insbesondere die Recherche von Archivmaterialien als eine eigene Datenquelle zur politisch-administrativen wie auch zur diskursiven Bezugsebene von Religion und Raum, die ergänzend neben die anderen Quellen trat. Zur Veranschaulichung wurden Karten der Quartiere erzeugt, die zum Teil in diesem Band wiedergegeben sind. Sie sind unter Verwendung von OpenStreetMap-Daten von den wissenschaftlichen Hilfskräften Cedric Reif, Frederik Fuß und Lea Roth erstellt worden.15

0.3.3 Interpretation und Ergebnisdarstellung Die verwendeten Methoden zielten darauf ab, einen – immer subjektiv gefärbten – Ausschnitt der Wirklichkeit dicht zu beschreiben (Geertz 1983). Ausgewertet wurden die erhobenen Daten in der Interpretationsgemeinschaft der Autor:innen dieses Bandes. Auf regelmäßigen Interpretationsworkshops während des gesamten Forschungszeitraums wurde das Datenmaterial aus den unterschiedlichen Quellen gesichtet, systema-

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In den folgenden Kapiteln sind Ergebnisse von teilnehmenden Beobachtungen und Wahrnehmungsspaziergängen, die eine dezidierte Ich-Perspektive der Forscherin einnehmen, zur besseren Lesbarkeit kursiv gesetzt. © OpenStreetMap-Mitwirkende; Stand zwischen Juni 2017 und September 2020.

0. Einleitung

tisiert und analysiert. Ein weiterer Teil wurde allein von Juliane Kanitz bearbeitet. In die Interpretationsschleifen wurden außerdem die Forschungspartner:innen selbst mit eingebunden. Auf einem Auftakt- und einem Abschlussworkshop pro Stadt wurde das Forschungsvorhaben bzw. wurden die vorläufigen Ergebnisse vorgestellt und diskutiert. Die Anregungen und Diskussionsergebnisse flossen in den weiteren Forschungsverlauf mit ein. Die Auswertung der Daten wie auch die Erhebung derselben orientierten sich zunächst an der Methode der Grounded Theory (Glaser, Strauss 1967). Hier laufen Forschungsphasen (Datenerhebung und -analyse) und Theoriebildung parallel und bedingen sich wechselseitig – mit dem Ziel, eine gegenstandsbegründete Theorie zu entwickeln. Dazu gehört auch, dass begriffliche Konzepte wie ›Religion‹ dem generierten Datenmaterial nicht äußerlich bleiben, sondern – soweit möglich – aus dem Material selbst erschlossen werden. Auf diese Weise wurden insbesondere die Grundbegriffe der Studie selbst noch einmal modifiziert (siehe dazu insbesondere Kapitel 1–4). Darüber hinaus wurden einzelne sozial- und kulturwissenschaftlichen Theorien ins Spiel gebracht – allerdings erst nachrangig, sofern sie sich als nützlich erwiesen, das Material zu analysieren. Genauer betrachtet bestand ein hermeneutischer Zirkel zwischen solcher ›externer‹ Theorie und dem Material mitsamt den daraus induzierten moderaten Verallgemeinerungen: Theorierelevante Themen legten sich aufgrund der interpretativen Auswertung des Materials nahe. Daraufhin wurden geeignete Theorieversatzstücke aus der Stadtsoziologie, der Kulturwissenschaft, der Ethnologie, der praktischen Theologie und anderen Referenzdisziplinen herangezogen. Diese dienten wiederum als Heuristik der weiteren Wahrnehmung und Interpretation, als Strukturierungshilfe für die Analyse und schließlich auch dazu, die Beobachtungen am Material an bestehende theoretische Debatten um Religion und Stadt anzuschließen. Ob solche Theorieversatzstücke erschließungskräftig waren, hatte sich wiederum am Material zu bewähren. So präsentieren sich die einzelnen Kapitel der Studie im Endergebnis als eine Dreiheit aus quartiersspezifischen Beobachtungen, thematischem Fokus und theoretischer Kontextualisierung. In der Regel wurde eine Auswertung im Sinne einer inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse vorgenommen (Schreier 2012; 2014). Textstellen in Interviews und Forschungstagebüchern sowie weiteren Materialien wurden mit einem offenen System codiert, sodass verschiedene Passagen zu gleichen Themen anschließend zusammengestellt und gemeinsam interpretiert werden konnten. Dabei wurden vor allem induktive Codes verwendet und durch deduktive Codes aus den Ebenen der Heuristik und den untersuchungsleitenden Grundbegriffen ergänzt. Diese Codes wurden in zahlreichen Interpretationsschleifen immer weiter modifiziert, durch Bildung von Über- bzw. Unterkategorien differenziert und gegenseitig profiliert. Das Interpretationsverfahren führte schließlich zu elf Leitthemen, denen jeweils ein Kapitel der folgenden Darstellung gewidmet ist. Sie stellen das zentrale Ergebnis der Studie dar. Diese Themen erheben keinen Anspruch auf Allgemeinheit, sind aber von stadtteilübergreifender Bedeutung. Jedes Thema wird zunächst anhand eines Stadtteils dargestellt, kommt aber nicht exklusiv in diesem vor, sondern lediglich in besonders prägnanter Weise. Zwischen den Themen besteht keine scharfe Trennung, aber sie implizieren doch jeweils einen neuen und anders ausgerichteten Fokus auf den Gegenstand der

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Religion im urbanen Raum

Studie. Die Liste der Themen stellt ein offenes, prinzipiell erweiterungsfähiges Tableau ohne Anspruch auf Vollständigkeit dar. Dennoch zeichnen sie in ihrer Gesamtheit ein gutes Bild religiöser Topologien in neuen Stadtquartieren, wie es sich aufgrund der Studiendaten ergibt. Jedes Thema wird zunächst anhand eines Quartiers eingeführt (n.2), dann aber anhand von Daten aus anderen Quartieren vertieft und systematisiert (n.3). Die Kapitel werden gerahmt durch eine theoretische Einführung, die die jeweils interpretationsrelevanten Theorieelemente fokussiert (n.1), und eine knappe, thesenartige Zusammenfassung (n.4). Die Reihenfolge der Kapitel ergibt eine narrative Logik, die im Schlussteil des Buches nachgezeichnet wird. Gleichwohl können die Kapitel auch einzeln und in abweichender Reihenfolge gelesen werden.

1. Zentralität

1.1

Zentralität als Merkmal städtischer Raumstruktur

Das Erscheinungsbild des städtischen Raums wird durch diverse Stilelemente geprägt: durch natürliche Fluchten, Barrieren und Grenzen, durch Schneisen, Straßen und Wege, durch auffällige Orte und Bauten, durch leere Flächen und verrufene Areale. All diese Elemente tragen zur Erscheinung des Raumes als einer gegliederten Größe bei und ermöglichen Orientierung in ihm. Die Lesbarkeit der Stadt ist vermittelt durch eine Vielzahl räumlicher Markierungen, die sich insgesamt zu einem Stadtbild fügen. Die inneren Landkarten – die mental maps – der Bewohner:innen repräsentieren und variieren dieses Bild auf vielfältige Weise (Lynch 1975). Im Zusammenspiel von äußeren Gliederungselementen und standpunktbezogen-konstruktivem Zugriff erscheint der Raum der Stadt als bedeutungsvolles Ordnungsgefüge, das den Hintergrund der Alltagsroutinen seiner Bewohnerinnen darstellt.1 Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Ausrichtung der Raumstruktur auf ein Zentrum (bzw. mehrere Zentren) zu. Die »Unterscheidung von Zentrum und Peripherie […] bzw. Mitte und Rand« gehört zu den »hervorstechende[n] Merkmal[en] der europäischen Stadt« (Schroer 2012: 241). Beide Begriffe sind mit mehrdeutigen, teils normativen Bedeutungen beladen: Was ›randständig‹ ist, erscheint eben von ›peripherer‹ Bedeutung, während das, was als ›zentral‹ gilt, hohe Relevanz für sich beansprucht. Die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie ist damit mehr als eine bloß geographische: In sie sind zugleich soziale und kulturelle Aspekte eingelagert. Randständige soziale Gruppen wohnen nicht nur in der urbanen Peripherie; sie bewegen sich auch außerhalb der gesellschaftlichen Norm: »Die Randständigkeit transportiert Teilnahmslosigkeit und Ausgeschlossenheit und steht damit diametral dem Ideal des aktiven Stadtbürgers entgegen« (Schroer 2012: 242). Der Peripherie (genauer: den vielen Peripherien) steht das Zentrum gegenüber, wo Sehenswürdigkeiten versammelt sind, wo sich das Le-

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Zur Räumlichkeit als Existenzialstruktur des menschlichen Daseins vgl. Bollnow 2010.

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Religion im urbanen Raum

ben verdichtet und wo Macht präsentiert wird.2 ›Zentral‹ meint mithin zugleich eine topographische Lagebestimmtheit und eine Verdichtung von Bedeutsamkeit. Wer oder was im Zentrum liegt, ist von herausragendem Gewicht für das Ganze.3 Gegenwärtige Tendenzen der Stadtentwicklung können allerdings so interpretiert werden, dass die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie an Eindeutigkeit verliert. Thomas Sieverts hat in diesem Zusammenhang den Begriff der »Zwischenstadt« geprägt. Damit gemeint »ist die Stadt zwischen den alten historischen Stadtkernen und der offenen Landschaft, zwischen dem Ort als Lebensraum und den Nicht-Orten der Raumüberwindung, zwischen den kleinen örtlichen Wirtschaftskreisläufen und der Abhängigkeit vom Weltmarkt« (Sieverts 2013: 7). Gerade auch für neue Stadtquartiere gestaltet sich die Suche nach der Mitte oft als prekär: Es gibt kein gewachsenes Zentrum, die städtebauliche Mitte bleibt leer, wird verbaut oder mit einem Provisorium gestaltet. Hier zeigt sich in extremer Form, was sich auch anderorts beobachten lässt: ein »Abbau räumlicher Zentralitätshierarchien zugunsten einer […] raumfunktionalen Spezialisierung« (Sieverts 2013: 38f). Wieviel Zentrum überhaupt gebraucht bzw. gewünscht wird, kann zum Gegenstand kontroverser Auseinandersetzungen werden. Der Zwischenstadt korrespondiert dabei »ein Wechsel im Verhältnis zwischen BürgerInnen und Stadt. Die Bewohner der Zwischenstadt sind nicht mehr die von Max Weber beschriebenen Bourgeois und Citoyens […] Die Beziehung der Zwischenstädtler […] zur alten Stadt kam am besten mit dem Schlagwort ›To Have the City, but Not to Be the City‹ beschrieben werden« (Löw, Steets, Stoetzer 2008: 112). Die Schleifung des Gegensatzes von Zentrum und Peripherie lässt sich unterschiedlich bewerten: als Verlust an alteuropäischer Urbanität oder auch als Transformationsgeschehen, das »neue Gestaltungsperspektiven eröffnet« (Sieverts 2013: 9). Aus Perspektive der Bewohner ist das keine abstrakte Theoriedebatte, sondern eine Frage der alltäglichen Lebensqualität: Wohin fahre ich, wenn ich ins Zentrum fahre – und wie weit bin ich davon entfernt? Auch und insbesondere für die Religionsthematik ist die Frage nach dem Zentrum von hoher Relevanz – und zwar sowohl in räumlicher als auch in symbolischer Hinsicht. Denn Religionen definieren sich per definitionem durch den Anspruch, auf zentrale Aspekte des menschlichen Lebens bezogen zu sein. So sind die Kernaussagen der christlichen Glaubenslehre dadurch charakterisiert, dass sie die Individuen nicht peripher bzw. nur in einer bestimmten, randständigen Hinsicht, sondern »als solche« (Wagner 1995: 63), das heißt wesenhaft und umfassend adressieren und so gleichsam auf die symbolische Mitte des Lebens zielen. In der christlichen Kulturgeschichte wurde dieser Anspruch auf eine zentrale Bedeutung der Religion für das Leben räumlich im Idealbild der alteuropäischen Stadt verwirklicht. Die Wichtigkeit des Glaubens zeigte sich in der zentralen Lage repräsentativer Kirchen, oft eingebunden in die Trias von Rathaus, Marktplatz und

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3

Allerdings ist zu betonen: Zentralität im angedeuteten normativen Sinn muss nicht identisch sein mit der »City«. Letztere kann vielmehr selbst veröden und zu einem Fluchtpunkt »randständiger« Existenz werden (Moos, Zarnow 2022). Diese Konnotationen der Unterscheidung von Zentralität und Peripherie gelten, wie gesagt, insbesondere für die europäische, durch das Christentum geprägte Stadt. Zu den ideen- und kulturgeschichtlichen Hintergründen vgl. Sennett 2011.

1. Zentralität

Kirchturm (Heigl 2008: 227). Bedeutsame Lebensdimensionen (Macht, Handel, religiöser Glaube) wurden entsprechend räumlich versinnbildlicht. Gegenüber dieser symbolträchtigen Konstellation hat sich das heutige Erscheinungsbild städtischer Zentren stark gewandelt. Mit dem gesellschaftlichen Relevanzverlust kirchlich institutionalisierter Religion verflüchtigt sich auch die Selbstverständlichkeit ihrer stadträumlichen Zentralpräsenz. Das Zentrum und seine Symbolik verstehen sich auch und gerade in religiöser Hinsicht nicht mehr von selbst. Aber die Stadt ist eben mehr als ihr Zentrum, und auch die urbane Religionskultur ist räumlich differenziert zu betrachten. Neben der Citykirche gibt es die Vorstadtgemeinde, neben dem Kulturgottesdienst im urbanen Sakralbau den Hauskreis im heimischen Wohnzimmer. Unterschiedliche Formen religiöser Vergemeinschaftung gehen mit verschiedenen Formen der Nutzung von Kirchengebäuden und Gemeindehäusern einher (Hermelink 2017). Religiöse Praktiken suchen und schaffen sich ihre Räume, wie das vorhandene Raumangebot umgekehrt die religiöse Praxis präfiguriert. Somit ist Religion auch unter geänderten städtischen Bedingungen integraler Bestandteil der urbanen Raumordnung. Der unter dem Begriff der Säkularisierung verhandelte Tatbestand stellt (auch) einen Prozess der Pluralisierung und Differenzierung urbaner Präsenzformen des Religiösen dar. Die Kernthese des vorliegenden Kapitels lautet, dass Religion an der Spannung von Zentralität und Peripherie partizipiert, die den urbanen Raum als solchen insgesamt kennzeichnet. In empirischer Hinsicht ist dabei von besonderem Interesse, wie es der Religion im Einzelnen gelingt, sich in neuen Stadtquartieren als Bestandteil einer bedeutsamen Raumordnung zu etablieren. Durch welche räumlichen Elemente wird ein neues Stadtquartier lesbar – und wie fügt sich Religion in diese stadträumliche Textur ein? Gibt es bereits ein Zentrum im neuen Quartier, zu dem sie sich ›verhalten‹ muss – oder wird sie selbst als Zentrumsanwärterin adressiert? Mit diesen Fragen soll zunächst das inzwischen über 50 Jahre alte Neubauquartier Neuperlach und seine religiöse Topographie in den Blick genommen werden. Hier lässt sich eine über die Zeit gewachsene Pluralisierung der Zentren beobachten (1.2). Im darauffolgenden Abschnitt werden die Beobachtungen aus München mit denen aus anderen Quartieren angereichert. Dabei wird näher beschrieben, wie sich Religion auf unterschiedliche Weise im Spannungsfeld von Zentralität und Randständigkeit positionieren kann (1.3). Ein Fazit schließt das Kapitel ab (1.4).

1.2 Zentralität als Problem in neuen Stadtquartieren Im Folgenden soll zunächst, nach einer kurzen Einführung ins Quartier (1.2.1), Neuperlachs religiöse Topographie nachgezeichnet werden, die eine Staffelung von Zentren in mehrere Sub-Zentren und ihnen zugeordnete religiöse Zuständigkeitsbereiche aufweist (1.2.2). Im Anschluss daran wird dargelegt, inwiefern die Frage bzw. Suche nach dem Zentrum in Neuperlach ein drängendes Thema auch und gerade der religiösen Akteure ist (1.2.3). Dabei tritt ein Tableau von Themen in Erscheinung, das unter der Chiffre der Zentralität in neuen Stadtquartieren auch andernorts regelmäßig (mit-)verhandelt wird (1.2.4).

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Religion im urbanen Raum

1.2.1

Neuperlach (München)

Auf der ›grünen Wiese‹ im Südosten Münchens wurde in den 1960er Jahren das Quartier Neuperlach errichtet, das heute zum Stadtbezirk Ramersdorf-Perlach, dem mit 118.000 Einwohner:innen bevölkerungsstärksten Münchens, gehört.4 Das über 50 Jahre alte Quartier ist immer noch bzw. wieder Gegenstand städtebaulicher Entwicklungsmaßnahmen. So plant die Stadt München die Errichtung eines Stadtteilzentrums rund um den Hans-Seidel-Platz. Außerdem soll auf dem Gelände einer ehemaligen Kiesgrube ein neues Quartier mit ca. 1300 Wohnungen für 3000 Menschen errichtet werden. Hier sollen insgesamt 390 Wohnungen im geförderten Wohnungsbau entstehen.5 Neuperlach gehört zu einem der ältesten Bezirke, die in der vorliegenden Studie untersucht werden. Das heutige Viertel setzt sich zusammen aus fünf großzügig angelegten Gebieten, die in einzelnen Bauabschnitten errichtet wurden, was sich auch an unterschiedlichen Architekturstilen ablesen lässt. »Im Verlauf von 25 Jahren entstanden hier in sieben Bauabschnitten 22.700 Wohnungen (darunter 46 Prozent öffentlich gefördert) für rund 55.000 Einwohner*innen. Darüber hinaus wurden mit dem Krankenhaus Neuperlach, mehreren kleineren Einkaufszentren und einem großen Einkaufs- und Dienstleistungszentrum (PEP – Perlacher Einkaufspassagen) die erforderlichen Gemeinbedarfseinrichtungen eingerichtet. Ein neu geschaffenes Straßensystem sowie Bahnhöfe der S- und U-Bahn verbinden Neuperlach sowohl mit dem Stadtzentrum als auch mit der Region.«6 Die Wohnbebauung des Neubaugebietes besteht aus Geschosswohnungen, die in den 1960er Jahren geplant wurden und ihrerzeit als fortschrittlich und modern galten. Bereits in den 1970er Jahren wurden aber zunehmend kleinere Bauformen bevorzugt. Im Kontrast zu den Mietskasernen der 1920er Jahre, die zwar reich verzierte Fassaden hatten, aber dicht an dicht aneinandergesetzt wurden, war das erklärte Konzept, schlichte und vielstöckige, dafür aber hygienisch hochwertige und lichtdurchflutete Häuser zu bauen. Die Zimmeraufteilung sollte sich an den Himmelsrichtungen orientieren, also etwa die Wohnzimmer Richtung Abendsonne und die Schlafzimmer in Richtung Morgensonne ausgerichtet sein, was die teils scheinbar willkürlich angelegten Straßenzüge erklärt (Tamborino 2012). Eine Auflage der Münchner Stadtverwaltung war dabei, als Mindestabstand zwischen zwei Häusern die Summe ihrer Fassadenhöhe einzuhalten, um die Anlage großzügig zu gestalten. Um diese Maßgabe zu umgehen, finden sich in Neuperlach sogenannte »Balkonbrücken«. Sie bestehen aus einer Betonwand, welche benachbarte Häuser miteinander verbindet und an die, zur Gestaltung des Übergangs, Balkone angebaut wurden. Diese Balkonbrücken verbinden Häuser zu zusammenhängenden Häuserblöcken. Im Erdgeschoss wurden Durchgänge freigelassen; ein Merkmal, das in baugestalterischer Hinsicht einen eigentümlichen Eindruck hinterlässt.

4 5 6

Statistisches Taschenbuch München 2020: 121. https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Referat-fuer-Stadtplanung-und-Bauordnu ng/Projekte/Friedrich-Creuzer-Strasse.html, abgerufen am 10.9.2020. Statistisches Taschenbuch München 2020: 121.

1. Zentralität

Neuperlach wurde als Entlastungsstadt von dem »größte[n] und bedeutendste[n] nicht-staatliche[n] Wohnungsbaukonzern im Europa der Nachkriegszeit«,7 der »Neuen Heimat«, geplant und durch dessen baulichen Maßnahmenkatalog geprägt.8 Die »Neue Heimat« erarbeitete den Bebauungsplan mit seinen Straßenzügen, der Wohnbebauung sowie den Einkaufszentren. Einige der Bauabschnitte wurden allerdings nicht so ausgeführt, wie ursprünglich von den Architekten geplant. Ein Beispiel dafür ist der zentrale Wohnring. Entworfen von dem Architekten Bernt Lauterer, der den 1967 ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen hatte, sollte ein achtseitiger Ring mit über 400 Meter Durchmesser eine große Freifläche begrenzen, in deren Mitte sich Ladenpassagen, Kirchen und kulturelle Einrichtungen befinden sollten. Außerdem galt als wichtiger Teil der Planung ein Bürgerhaus mit einer Volkshochschulaußenstelle sowie einer Stadtteilbibliothek. Allerdings überschnitt sich die bauliche Ausführung mit der Planung des Münchner Olympiaparks, wodurch die notwendigen finanziellen Ressourcen fehlten, das Projekt abzuschließen. Anstatt städtische Einrichtungen an einem zentralen Punkt funktional zu verschränken, wurde das Konzept zugunsten einer dezentralen Trennung von Wohnen, Sport, Kultur und Einkaufsmöglichkeiten aufgegeben (Tamborino 2012). Die ursprünglich komplexe Planung wurde schrittweise reduziert. Schließlich war für das Zentrum nur noch ein Bürgerhaus vorgesehen – allerdings wurde dieses bis heute nicht errichtet. Das Ergebnis ist eine zersiedelte Raumstruktur. Das Zentrum als ein das Viertel zusammenhaltender Ort verdichteter Urbanität fehlt bzw. ist baulich nicht ausgestaltet. Die Bewohnerschaft Neuperlachs bestand zu Beginn einerseits aus Eigentümerinnen und andererseits aus Bewohnern des geförderten Wohnungsbaus. Über die Jahre kam es allerdings zu einer vermehrten Umwandlung von Sozialwohnungen in Eigentum, was ein gemeinsames Altern der Erstbewohner nach sich zog. Dieser Synchronisationseffekt wird allerdings von einer anderen Dynamik überlagert. Aufgrund der relativ niedrigen Mieten transformierte sich das Gebiet zu einem Bezirk mit einem hohen Anteil von Migrant:innen. Diese Entwicklung hatte eine teils stark negative Außenwirkung zur Folge: »Naja, also der Ruf von Neuperlach ist nicht der beste, ich weiß nicht, jeder Münchener weiß, was Hasenbergl ist, und Neuperlach kommt direkt danach. Hat seinen Ruf als sozialer Brennpunkt schon auch aus früherer Zeit, vor allen Dingen 90er Jahren. Ist sehr vieles getan worden, ist sehr viel auch besser geworden, aber es ist, was so den Sozialstatus der meisten Leute hier betrifft, eher low-level, und überdurchschnittlich viel Migration.« (Schreiner, PE)

7 8

https://www.architekturmuseum.de/ausstellungen/die-neue-heimat-1950-1986/, abgerufen am 7.9.2019. Das Ende der »Neuen Heimat« ist bekannt: Vorstandsmitglieder der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft wurden im Februar 1982 vom Magazin »Der Spiegel« der Vermögenshinterziehung beschuldigt. Die Affäre führte schließlich zur Abwicklung der »Neuen Heimat«. Die Wohnungsbaugesellschaft wurde durch die WBS ersetzt, die heute die meisten Wohnungen in Neuperlach besitzt.

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Religion im urbanen Raum

Nachdem Neuperlach in den 1990ern in Verruf geraten war, wurden diverse städtebauliche Mittel ergriffen, um den Bezirk aufzuwerten. Durch hochpreisige Nachverdichtung und aufgrund der allgemeinen Preisentwicklung in München konnte nun wieder ein behutsamer Zuzug der Mittelschicht registriert werden. Eine deutlich merkbare Konsequenz aus der sozialstrukturellen Veränderung zeigt sich im Feld des ehrenamtlichen Engagements innerhalb von Kirche und Gemeinde. Waren früher viele Hausfrauen in Neuperlach mit zeitlichen Kapazitäten für ehrenamtliche Tätigkeiten ansässig, sind diese Kapazitäten aufgrund der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen stark zurückgegangen. So wird die soziale Transformation zu einem substanziellen Problem für die kirchlich-religiösen Akteure vor Ort: »Wenn irgendwo Neubaugebiete sind, hier in München, das beobachte ich seit bestimmt 15 oder 20 Jahren, dann sagen immer die Gemeindepfarrer, wo das passiert: ›Oh toll (reibt sich die Hände), da kommen Neue.‹ Die kommen aber nicht, woran liegt denn das? Und Sie haben da einen Teil der Antwort auf alle Fälle, das ist durch die Verdrängung.« (Schreiner, PE) Mit »Verdrängung« meint der evangelische Pfarrer in diesem Fall den Wandel der Bevölkerung, von deutschsprachiger Mittelschicht, auf welche die kirchlichen Angebote zugeschnitten sind, zu einer Bevölkerungsstruktur, die aufgrund von anderer Religionszugehörigkeit, von Sprachbarrieren, aber auch aufgrund anderer Lebensstile mit diesem Angebot nichts (mehr) anfangen kann.

1.2.2

Religiöse Pluralität als stadträumliche Polyzentralität

Über die Jahre hat sich eine hohe Dichte an religiösen Bauten vor allem der christlichen Kirchen in Neuperlach angesammelt. Im ehemaligen Neubaugebiet befinden sich mehrere Standorte der katholischen Kirche: die Kirchenpfarrei Christus Erlöser mit den Kirchenzentren St. Maximilian Kolbe, ferner die kirchlichen Standorte St. Stephan, St. Monika, St. Philipp Neri und die während der Forschungsphase geplante, inzwischen fertiggestellte Kapelle St. Jakobus. Weiterhin gibt es Standorte der evangelischen Kirche: die evangelisch-lutherische Lätare-Gemeinde mit der Lätare-Kirche und die Dietrich Bonhoeffer Kirche, ferner eine ökumenische Krankenhauskapelle, eine Präsenz der reformierten Kirchengemeinde, eine baptistische und eine weitere freikirchliche Gemeinde (Perlacher Herz), zwei Moscheen (Merkez-Moschee, Perlach Camii) und eine SerbischOrthodoxe Gemeinde. In der geographischen Verteilung der religiösen Standorte spiegelt sich die Ausdifferenzierung des Gesamtgebietes von Neuperlach in mehrere kleinere Quartiere bzw. stadträumliche Sub-Zentren wie Perlach-Süd, -Ost, -West und -Nord. Dabei fällt auf, dass in mehreren dieser kleineren Quartiere jeweils zwei Gemeindezentren der katholischen und evangelischen Kirche nah beieinander liegen. Wie ist es zu dieser Doppelstruktur gekommen? Dieser Frage soll im folgenden Punkt nachgegangen werden (a). Daran anschließend werden die anderen genannten religiösen Akteure bzw. Orte kurz vorgestellt (b).

1. Zentralität

Abbildung 1: Übersicht über religiöse Standorte in Neuperlach

a) Ökumenische Konkurrenzen Beide christliche Landeskirchen, die evangelische und die katholische, hatten in dem neuen Quartier in der Gründungsphase Neuperlachs einen Neustart zu verzeichnen. Die katholische Kirche errichtete zunächst eine Behelfskirche in der Quiddestraße (St. Jakobus) und gewährte der evangelischen Gemeinde darin Gastrecht. Diese hatte bis zur Einweihung der Lätare-Kirche im Jahr 1971 keine eigenen Räumlichkeiten – ausgenommen zweier Pfarrwohnungen für den Diakon und den Pfarrer (Rupprecht 2011: 11). In der Folgezeit hat sich die konfessionelle Differenz von katholischer und evangelischer Kirche auch baulich ausgestaltet und führte zu einer ökumenischen Doppelstruktur der religiösen Topographie Neuperlachs: »Das muss man dazu sagen, das ist konzipiert worden als eine ökumenische Achse. Da ist praktisch ein großer Platz [mit der evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-Kirche] […] und direkt gegenüber, wie ein Pendant, die katholische Kirche, Maximilian Kolbe. Das gehört zusammen. Eigentlich, das ist auch architektonisch so geplant, das sind so zwei Kirchen, die sich, nur durch einen Platz getrennt, gegenüberstehen.« (Schreiner, PE) Ebenso waren die ehemalige evangelische Kapelle im Sudermannzentrum und Phillip Neri sowie das inzwischen geschlossene Sechseck im Perschelanger zusammen mit St. Monika paarig angeordnet. Diese durch ökumenische Konkurrenzen angeregte Pluralisierung kirchlicher Standorte erwies sich allerdings zunehmend als dysfunktional. Insbesondere auf der evangelischen Seite hat sich die Situation in den letzten Jahren massiv verschärft:

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Religion im urbanen Raum

»Das große Problem, was wir hier haben: Die Gemeinde hatte mal fünf Gemeindezentren und jetzt haben wir noch zwei, und das ist immer noch eines zu viel. Das sage ich unverblümt, das ist so.« (Schreiner, PE) Ein vollumfängliches kirchliches Angebot an allen Standorten ließ sich dauerhaft nicht aufrechterhalten. Überlegungen, einzelne Standorte zu schließen, stießen dennoch auf teilweise starken innergemeindlichen Widerstand. Inzwischen sind von den ursprünglich fünf evangelischen Standorten noch zwei geblieben, drei Zentren bzw. Gemeindestandorte sind geschlossen oder untervermietet worden. Zurzeit existieren noch die erste Kirche der evangelischen Gemeinde, die Lätare-Kirche aus den 1970er Jahren mit ihrem großen Gemeindezentrum, mehreren Büros, Wohnungen und Kindergärten, sowie die zuletzt gebaute »Kirche der Herzen« (Schreiner, PE), die Dietrich-BonhoefferKirche. In der Anfangszeit Neuperlachs gab es nach der Aussage der Interviewpartner ein reichhaltiges kirchliches Leben. Weil zunächst noch keine Kitas vorhanden waren, wurde zur Kinderbetreuung auf räumliche Kapazitäten der Pfarrwohnungen ausgewichen. Hier betreuten die ersten Erzieherinnen manchmal bis zu 140 Kinder (Rupprecht 2011: 17). Auch die Kindergottesdienste waren gut besucht. Mittlerweile ist der Bedarf an Angeboten für Familien und Kinder stark zurückgegangen; im Gegenzug gibt es eine hohe Nachfrage an Seniorenseelsorge. Entsprechend hat sich der kirchliche Fokus in den letzten Jahren von der Familien- auf die Seniorenarbeit verlagert: »Die kommen und das boomt, also unsere Seniorenkreise, die könnten wir noch verdoppeln und dann würden wir sie immer noch vollkriegen. Also da ist echt was los.« (Schreiner, PE) Um die finanziellen Einbußen, die durch den Rückgang der kirchlichen Mitgliedszahlen entstanden sind, partiell aufzufangen, werden die Kirchengebäude auch untervermietet: »Wir haben z.B. hier in diesem Gemeindezentrum, hier in Lätare haben wir zwei fremde Gemeinden, wir haben die chinesische Gemeinde und wir haben die Adventisten.« (Schreiner, PE) Während man dem Rückgang der Kirchenmitgliederzahlen auf evangelischer Seite mit der Abwicklung und Nebennutzung von Gebäuden begegnete, verfolgt die katholische Kirche in Neuperlach eine andere Strategie. Die ursprünglich fünf Pfarreien ließen sich zwar nicht als selbständige Größen halten und wurden zu einer einzigen zusammengefasst; die einzelnen Standorte wurden aber beibehalten und sind weiterhin in kirchlicher Nutzung.

b) Muslime, Freikirchen Die Muslime, die sich im türkischsprachigen VIKZ (Verband der islamischen Kulturzentren) engagieren, haben sich entschlossen, eine Nachbarschaftsmoschee mit dem Namen Perlach Camii am Rand von Neuperlach, unmittelbar gegenüber der freikirchlichen Nachbarschaftseinrichtung »Perlacher Herz« zu eröffnen. So gehen sie nach Aussage des Vertreters einer VIKZ-Gemeinde in Hamburg-Altona nur vor, wenn es sich

1. Zentralität

demographisch lohnt und ein entsprechender Bedarf vorhanden ist (Interview mit Ufuk Hazneci, PE). Gegenüber der evangelischen Lätare-Kirche und dem benachbarten Einkaufszentrum liegt die Merkez-Moschee. Integriert in ein Bürohaus wurde eine gesamte Etage angemietet mit einem eigenen Gebetsraum für die Frauen und einem Wohnbereich für den Imam. Die Organisationsform des muslimischen Lebens im Viertel wird aus Perspektive der hauptamtlichen Vertreter der christlichen Kirchen dabei als schwer zugänglich markiert: »Es gibt ja keinen Ansprechpartner, es gibt ja keinen, weil die sind ja ganz anders organisiert. Die sind ja nicht als Gemeinde organisiert, die Muslime, sondern die sind ja organisiert als Ort, wo man hinkommen kann, und da kann jeder, der da hinwill, der kann da auch hingehen. Und das sind ja hier, das ist ja nicht eine muslimische Gemeinschaft hier, sondern das sind ja viele.« (Schreiner, PE) Weitere religiöse Standorte Neuperlachs, die im Rahmen dieser Studie nicht ausführlich oder gar nicht begangen wurden, aber in Interviews Erwähnung fanden, sind die freikirchliche Vineyard-Gemeinde sowie die serbisch-orthodoxe Gemeinde. Über erstere berichtet der baptistische Pfarrer: »Das ist eine freikirchliche Bewegung, auch aus den 70ern irgendwie, und die machen hier, bisschen weiter, das nennt sich ›Ein Herz für Perlach‹, die sind also… richtig im Ortsteil angekommen. […] Die haben ein eigenes Haus und haben also auch durch die ganze Woche Programm. Wie die das genau machen, ich hab mich zwar mit dem Verantwortlichen auch schon unterhalten, ich finde das sehr beeindruckend, aber wie die das genau machen, weiß ich gar nicht.« (Ostermann, PE) Das Gemeindezentrum der baptistischen Gemeinde liegt hingegen direkt gegenüber dem Hochhausring. Erklärtes Gründungsziel war die Nähe zu den Menschen vor Ort, die in den zentralen Gebäudekomplex des Neubauquartiers eingezogen sind. »In den 1970er Jahren hat die sich entwickelt aus ’nem kleinen Hauskreis. Ist ’ne Teilgemeinde von München Holzstraße, das ist eine größere Baptistengemeinde im Zentrum von München. Und von dort aus wurde die hier sozusagen gegründet. Und das Gemeindehaus ist in den 1980ern gegründet worden, seitdem gibt es die hier offiziell.« (Ostermann, PE) Das Gebäude der freikirchlichen Gemeinde hat ein Architekt geplant, der zum Zeitpunkt der Studie als über 80jähriger noch im Wohnring gegenüber wohnt. Ebenfalls leben dort noch einige der Gemeindemitglieder, die an der Planung beteiligt und bewusst an den neuen Gemeindestandort hingezogen waren. Heute wird dieser jeden Sonntag an eine vietnamesische Gemeinde untervermietet, die in festlichen Gewändern nach vom Landesverband vorgeschriebenem Ritus ihren Gottesdienst feiert. Trotz der hohen Ambitionen, was ihre Präsenz im Neubauviertel angeht, hat die baptistische Gemeinde vor Ort allerdings kaum Wurzeln schlagen können, wie der Gemeindepfarrer berichtet: »Wir haben dies Gemeindehaus, das wurde damals schon mit dem Blick auf diese… die wurden damals ganz neu gebaut und es gab auch einige Versuche in der Richtung.

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Religion im urbanen Raum

Man muss ehrlicherweise sagen, dass das nie so richtig gelungen ist. Es haben da mal Leute gewohnt und so, das war schon der Wunsch, das ist aber leider letztlich nie gelungen. Das einzige, was es bis heute gibt ist, einmal im Monat sind wir als Gemeinde mit dem Bollerwagen auf den Spielplatz gegangen, der da im Innenraum ist [gemeint ist die Freifläche innerhalb des Wohnrings], und haben da mit den Kindern gespielt und versucht, ins Gespräch zu kommen. Das hat aber nicht so einen richtigen Effekt gehabt.« (Ostermann, PE) Die meisten Gemeindemitglieder kommen heute aus unterschiedlichen Bezirken Münchens und reisen extra zu den Veranstaltungen an – was von dem Pfarrer durchaus problematisch gesehen wird und nicht seinem Wunsch entspricht, als Gemeinde vor Ort präsent zu sein: »Es gibt, ich kann jetzt für uns als Baptisten reden, also Bund evangelischer freikirchlicher Gemeinden Deutschland, zunehmend ein Gefühl dafür, dass wir stärker als Ortsgemeinden auch tatsächlich am Ort ankommen müssen. Also so, dass das System, so, wie wir das jetzt über viele Jahrzehnte hatten, dass alle so angeflogen kommen, und dann ist man am Sonntag und auch über die Woche ab und zu mal hier, aber ansonsten lebt man aber eben nicht da, wo die Gemeinde steht. Dass sich das ja auf Dauer ändern werden muss. […] Weil wir sonst nicht… schönes modernes Wort, weil wir sonst nicht relevant sind. Dann können wir vielleicht versuchen, fromme Leute abzufischen, oder wie man das immer nennen soll, aber so, dass man tatsächlich Menschen erreicht in ihrem tatsächlichen Lebensumfeld, wird dann immer schwieriger.« (Ostermann, PE)

1.2.3 Die Neuverhandlung des Zentrums »Wie gesagt, zentral gibt es hier in dem Sinne gar nichts. Es gibt gar nichts Zentrales, wenn man es genau nimmt.« (Schreiner, PE) Wie eingangs angemerkt, gehört die Anlage eines Zentrums zu den konstitutiven Elementen einer bedeutungsvollen Raumgliederung. Neuperlach gibt ein solches, baulich ausgestaltetes Zentrum auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Den städtebaulichen Mythen und auch der Benennung der entsprechenden U-Bahn-Station (»Neuperlach Zentrum«) nach gibt es allerdings einen geographischen Ort dafür – eine große, unbebaute Fläche außerhalb des Wohnrings, am Hanns-Seidel-Platz. »Jetzt kommen wir hierauf, auf den Hanns-Seidel-Platz, da hatten die Kirchen großes Interesse daran, da einen Standpunkt zu haben. Weil, das ist ja wirklich das Zentrum. Und eine Kirche im Zentrum zu haben ist immer gut. Und da hat das katholische Ordinariat vor vier, fünf Jahren versucht, da was zu kriegen und da versucht zu verhandeln mit der Stadt oder mit dem Bauträger und so weiter und so fort, und das ist gescheitert, und deswegen haben wir auch den Versuch gar nicht mehr gemacht.« (Schreiner, PE) Der aktuelle Bebauungsplan sieht vor, neben der U-Bahn-Station Wohnungen und auch ein Kulturzentrum zu errichten. Derzeit wird die Fläche als Parkplatz genutzt, an dessen Rand sich ein kleines, provisorisches Kulturhaus befindet. Das bisherige Fehlen eines

1. Zentralität

baulich ausgestalteten Zentrums, an dem sich das öffentliche Leben verdichtet, wird von den Ortsansässigen als Manko wahrgenommen.

Abbildung 2: Städtebauliche Visionen: Ursprüngliche Planung des Hanns-Seidel-Platzes und der Freifläche im Wohnring

Bild: picture alliance/dpa

»Es gibt bis zum heutigen Tag in Neuperlach kein richtiges Zentrum. Das Zentrum ist der sogenannte Hanns-Seidel-Platz, da ist ein riesengroßer Parkplatz, und dahinter ist ein riesengroßes Einkaufszentrum, das ist das PEP. Und dieser Platz, der Hanns-Seidel-Platz, der ist bis zum heutigen Tag nicht bebaut. Und am elften Mai war der Auftakt zum fünfzigjährigen Jubiläum, da haben wir einen Grundstein gelegt, für ein Kulturquadrat, nennt sich das ganze Ding, das ist auch eine ganz spannende Architektur. Und das sieht [im Entwurf] wunderschön, toll aus. Die bauen da richtig teuer, aber das Kulturzentrum, das weiß immer noch kein Mensch, ob das eines Tages überhaupt entsteht. Die schließen zwar jetzt das [provisorische] Kulturhaus, und die schließen auch das Schauspielhaus, die schließen das alles erstmal, weil ja was Neues entstehen soll, aber das ist überhaupt noch nicht klar, ob das überhaupt gebaut wird. Denn in Wirklichkeit geht es darum [zeigt auf Abbildung]: Wohnen, Loge Nr. Eins. Da versuchen sie jetzt ein bisschen noch gehobeneres Niveau zu machen. Neben dem neuen Kulturzentrum am Hanns-Seidel-Platz, da kostet der Quadratmeter, kann man ja im Internet gucken, 7500 Euro. Das heißt, ich kriege da eine Zweizimmerwohnung für 4–500.000 Euro. Das ist, glaub ich, kein Geheimnis, wenn ich das ausplaudere: Das ist eine große Baugesellschaft, die kommerzielles Interesse hat, und die Sachen, die für die Bevölkerung interessant wären, z.B. das Kulturzentrum, das da hingebaut werden soll, dafür gibt es noch keinen Bauherrn.« (Schreiner, PE)

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Religion im urbanen Raum

Zur Grundsteinlegung des neuen, geplanten Zentrums anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten (50 Jahre Neuperlach) waren neben dem Münchner Oberbürgermeister auch landeskirchliche Vertreter zugegen. Eingeladen hatten der Bauträger und die GEWOFAG, eine der beiden örtlichen Wohnungsbaugesellschaften. Sogar auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung wird die Grundsteinlegung erwähnt (Ick 2017). Die hohe Bedeutsamkeit der Zentrumsfrage zeigt sich nicht zuletzt darin, welche Repräsentanten der Öffentlichkeit zur Grundsteinlegung überhaupt eingeladen wurden und wieviel Redezeit ihnen zugestanden wurde. Der evangelische Pfarrer berichtet diesbezüglich von harten Verhandlungen: »Wir haben uns da ein bisschen eingeklagt, wir haben da ganz schön Druck gemacht. Wir sollten, drei Minuten haben wir gehabt. Für drei Minuten kommen wir nicht, dann habe ich mit der Dame hier kommuniziert und dann haben wir so lange reden dürfen wie der Bürgermeister auch.« (Schreiner, PE) Die geplante Bebauung des Hanns-Seidel-Platzes wird von den Vertretern der Kirchen allerdings nicht nur positiv gesehen. Insbesondere bedauern sie, dass diese Entwicklung zu einem Zeitpunkt kommt, zu dem sie nicht mehr in der Lage sind, hier selbst baulich tätig werden zu können. »Als die ersten Planungen für dieses Jubiläum waren, haben die mir erzählt, dass dieser Hanns-Seidel-Platz jetzt doch bebaut wird. Da war anscheinend die Idee, wenn da jetzt die neue Mitte kommt, dann müsste doch auch die Kirche irgendwo einen Platz haben. […] Und dann hat der katholische Kollege eine Initiative an sein eigenes Ordinariat gestartet, ob man da irgendwas machen kann, dass da auch eine katholische Kapelle oder so da hineinkommt. […] Und da hat aber das Ordinariat gestreikt. Die haben gesagt, das ist uns zu teuer, wir können das nicht finanzieren, und auch die Bauträger haben da irgendwie keine guten Konditionen angeboten, dass Kirche da rein könnte. Das ist gescheitert, und deswegen haben wir auch den Versuch gar nicht mehr gemacht. Also wir waren ja sowieso schon außen vor, von der evangelischen Kirche war da gar nicht die Rede.« (Schreiner, PE) Neben dem Hanns-Seidel-Platz wird allerdings noch ein zweiter Ort als potenzieller Zentrumsanwärter verhandelt. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Anfangszeiten Neuperlachs. Wie oben erwähnt, hatte Bernt Lauterer, der Architekt des achtseitigen Wohnrings, des städtebaulichen Wahrzeichens des Neubauquartiers, in dessen Mitte ursprünglich ein Zentrum mit Ladenpassagen, Kirche und Bürgerhaus vorgesehen. Gebaut wurden dann tatsächlich das – ursprünglich ökumenische, inzwischen rein katholische – Stephanus-Zentrum und eine Grundschule. Außerdem befindet sich heute am nordwesentlichen Innenrand des Rings die Kontaktstelle des Vereins für Gemeinwesenarbeit und Stadtteilgestaltung ZAK (»Zusammen aktiv in Neuperlach«). Entsprechend findet sich in den Interviews das Narrativ, dass die Mitte des Wohnrings doch das ›eigentliche‹ Zentrum bereits sei und als solches nur wiederentdeckt werden müsse. Insbesondere für die kirchlichen Vertreter ist dieses Narrativ attraktiv, weil sie in Gestalt des Stephanus-Zentrums an diesem Ort baulich bereits präsent sind. Am Tag nach einem ökumenischen Festgottesdienst erzählt der evangelische Pfarrer von einer

1. Zentralität

Diskussion mit Vertretern der Politik, wo das ›eigentliche‹ Zentrum Neuperlachs liegen würde: »Ich habe da ja gestern mit dem Herrn Merz und vor allem auch mit dem Herrn Berndt, das ist unser evangelischer…, das ist der stellvertretende Bezirksausschussvorsitzende, noch ein paar Takte geredet. Die haben gesagt, die haben eigentlich den Platz hinter dem PEP, wo wir gestern waren, da, wo das Stephanszentrum ist, eigentlich erst entdeckt. Die haben immer gedacht, eigentlich müsste das alles auf dem Hanns-SeidelPlatz stattfinden, weil da ist ja eigentlich das Zentrum. Da müsste es ja sein, und der ursprüngliche Plan war auch diese Gottesdienstgeschichte und so, das da auf diesem Platz zu machen. Und dann sind die irgendwie draufgekommen, wieso, wir haben doch schon einen funktionierenden Platz. Das ist genau da, wo wir gestern waren. Und dann haben die gesagt, stimmt, das ist eigentlich die Mitte. Die reale Mitte. Die praktizierte Mitte. Und das mit dem Hanns-Seidel-Platz, das ist immer nur Wunschdenken gewesen. Die haben die Mitte nicht bebaut, weil die so wertvoll und so doll ist, dass man das nicht einfach so machen kann, sondern da muss ein Konzept und ein Plan, und jetzt haben sie den Plan, und jetzt kommen sie eigentlich erst darauf, dass das gar nicht die Mitte ist. Die Mitte gibt es ja schon längst […].« (Schreiner, PE) So stellt sich die Suche nach dem Zentrum Neuperlachs aus Perspektive der beteiligten Akteure nicht zuletzt als eine Frage der Definitionshoheit dar. Durch gezielte Aktionen – wie die Gestaltung eines Festgottesdienstes, dessen Rahmengestaltung inkl. Bierausschankstelle durch die Wohnungsbaugesellschaft Neuperlachs (WSB) gesponsert wird – tragen die religiösen Akteure aktiv zur Etablierung eines Narrativs bei, demzufolge Neuperlach kein neues Zentrum brauche, weil es bereits eine »praktizierte Mitte« habe.

Abbildung 3: Links der Ökumenische Gottesdienst auf dem Theodor-Heuss-Platz neben dem Stephans-Zentrum innerhalb des Wohnrings (Juli 2017), rechts die Einladung zur feierlichen Grundsteinlegung des neuen Zentrums Neuperlach auf dem Hanns-Seidel-Platz (Flyer, Ausschnitt)

Nicht nur für die Bewohner:innen Neuperlachs, auch für die die religiösen Akteure steht mit der Frage nach dem Zentrum folglich viel auf dem Spiel. Die katholische

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Religion im urbanen Raum

Kirche bekäme bei einer Um- bzw. Rückdeutung der Mitte zum Theodor-Heuss-Platz ein kirchliches Zentrum in eben jener Mitte, ohne Gelder dafür generieren zu müssen. Unabhängig von der tatsächlichen weiteren Entwicklung, die wir im Rahmen des Untersuchungszeitraums nicht weiterverfolgen konnten, zeigt das Beispiel Neuperlachs, wie sich das Ringen der ortsansässigen Player um Relevanz in ihrem Anspruch verdichtet, an zentraler Stelle im Quartier präsent zu sein – und im Gegenzug den Ort, an dem sie bereits präsent sind, in seinem Anspruch auf Zentralität zu untermauern.

1.2.4

Zwischenfazit: Zentralität als Wesentlichkeitsbehauptung

Wie einleitend dargestellt und durch das Beispiel Neuperlachs veranschaulicht, kommt der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie bei der Gliederung des urbanen Raums eine herausgehobene Bedeutung zu. In neuen Stadtquartieren, in denen es kein gewachsenes Zentrum – im Sinne eines alten Dorfangers oder Markplatzes – gibt, wird die Frage nach der (symbolischen) Mitte dabei zu einer eigenen städtebaulichen Gestaltungsaufgabe. Damit sind eine Fülle von Anschlussfragen verbunden: Wo soll das Zentrum liegen – und auf welche Weise architektonisch umgesetzt werden? Wodurch definiert es sich überhaupt als Zentrum: durch seine geographische Lage, durch repräsentative Bauten, durch die Ansammlung von Geschäften und Institutionen oder durch eine Verdichtung des öffentlichen Lebens? Folgende Aspekte sind mit im Spiel, wenn die Zentrumsthematik aufgeworfen wird: • • • • • •

Relevanz: Wer oder was im Zentrum angesiedelt ist, ist von Bedeutung. Dichte: Im Zentrum verdichtet sich das städtische Leben. Vollständigkeit: Das Zentrum steht für das Versprechen von Stadt als einer »Totalpräsenz« von Welt.9 Identifikation: Mit dem Zentrum verbinden sich identitätsstiftende Erzählungen. Orientierung: Die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie schreibt dem Raum ein Gefälle ein, durch das er les- und handhabbar wird. Ökonomie: Das Stadtteilmarketing braucht ein Zentrum (schon zur Vermarktung ›zentrumsnaher Lagen‹); im Zentrum konzentrieren sich Geschäfte und Einkaufsmöglichkeiten.

Ein Anspruch auf Zentralität kann sich auch primär symbolisch manifestieren. Dies zeigt sich am Beispiel Neuperlachs schon in der Vielfalt von Einrichtungen, die das Wort ›Zentrum‹ im Titel tragen. Neben der U-Bahn-Station Neuperlach Zentrum sind die einzelnen Bauabschnitte mit Zentrumstiteln versehen, wie das Marx-Zentrum oder das Sudermann-Zentrum. Auch die religiösen Einrichtungen heißen St.-Stephanus-Zentrum, St.-Monika-Zentrum, Kirchenzentrum St. Maximilian Kolbe. Selbst die MerkezMoschee führt das Zentrum im Namen: Merkez bedeutet im Türkischen ›das Zentrum‹. Hinter dieser Pluralität von Zentrumsanwärtern verbirgt sich eine topographische 9

»Es wäre gleichsam Widerlegung der Stadt, wenn man in ihr vermissen müsste, was es nur andernorts gäbe. Städte suggerieren eine Totalpräsenz, sie dulden kein Abwesendes, lassen vielmehr alles gleichzeitig sein.« (Moxter 2010: 148)

1. Zentralität

Staffelung: Der Anspruch, zentral zu sein, verweist auf ein Einflussgebiet, das auf eben dieses Zentrum in bedeutsamer Weise hingeordnet ist. Anders gesagt: Ein Zentrum ist immer ein Zentrum für eine bestimmte Fläche, eine umgebende Region oder ein Einflussgebiet. Mit der Zentralitätsbehauptung verbindet sich folglich die Imagination eines städtisch Anderen, auf das ein Anspruch erhoben wird. Das kann die ganze Stadt sein (»Stadtzentrum München«), eben ein Quartier (»Zentrum Neuperlach«) oder auch das Sub-Zentrum eines Quartiers (»Sudermann-Zentrum«). So wie die Gliederung des städtischen Raums insgesamt eingeschrieben ist in das Gefälle von Zentralität und Peripherie, so partizipiert auch die religiöse Topographie an der Spannung von Zentralitätsbehauptung und Marginalitätserfahrung. Am Beispiel Neuperlachs wurde deutlich, wie die religiösen Akteure versuchen, an zentraler Stelle im Quartier eine Präsenz zu entfalten bzw. im Gegenzug die Orte ihrer Präsenz so zu inszenieren, dass diese als zentral erscheinen. Wie im folgenden Abschnitt näher ausgeführt werden soll, behaupten auch in anderen Quartieren religiöse Gemeinschaften den Anspruch auf eine zentrale Stellung im Stadtteil. Teilweise können sie ihn erfolgreich umsetzen, teils machen sie aber auch die Erfahrung, im Widerspruch zu ihrem eigenen Selbstverständnis in eine eher randständige Lage versetzt zu sein.

1.3 Religion zwischen Zentralität und Randständigkeit Religion in neuen Stadtquartieren ist in komplexer Weise auf die Zentralitätsthematik bezogen. Auf der eine Seite sieht sie sich – in Anknüpfung an das Modell der alteuropäischen Stadt – mit der Erwartung konfrontiert, als symbolische Mitte des Lebens auch in räumlich-zentraler Lage präsent zu sein (1.3.1). Auf der anderen Seite hat sie sich de facto oft mit einer eher randständigen Position zu arrangieren – sowohl, was ihre öffentliche Relevanz für den Stadtteil, als auch, was ihre räumliche Lage betrifft (1.3.2). Das gänzliche Fehlen religiöser Orte und Praktiken im Quartier kann dabei als empfindliche Lücke wahrgenommen werden (1.3.3).

1.3.1

Religion als symbolische Mitte

In der Suche eines Stadtteils nach seinem Zentrum verbinden sich, wie im Zwischenfazit (1.2.4) angedeutet, unterschiedliche Ebenen miteinander: »[F]rüher war es ja im klassischen Sinne so, da gab es dann eben einen Marktplatz und eine Kirche, also [das] war so Zentrum, und irgendwo war [damit] auch ein Lebensgefühl ausgedrückt. Hier bin ich zuhause. Und so diese Beheimatung, die muss andere Formen finden, aber trotzdem ist ein Beheimatungsgefühl nicht ganz unwichtig. Auch gerade, wenn eine Stadt möchte, dass man sich wohlfühlt, braucht es eben etwas, was auch in der Stadt Wurzeln schlagen lassen kann. Da ist sicherlich immer noch die Kirche eine wichtige Institution, die einfach viel bieten könnte und kann.« (Erdmann, KA) Mehr oder weniger ausdrücklich klingt das alteuropäische Stadtmodell mit Marktplatz und Kirchturm im Zentrum an. An die Einrichtung eines religiösen Orts bindet sich dabei der ausdrückliche Wunsch nach »Beheimatung«, nach einem Ankerpunkt für eine

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Religion im urbanen Raum

Befestigung der eigenen Biographie (Erne 2010: 192). Religion wird als Zentrumsanwärterin und -markierer adressiert, und zwar sowohl in städtebaulicher als auch in symbolischer Hinsicht. Städtebaulich, da religiöse Bauten aufgrund ihrer im wörtlichen Sinne herausragenden Architektur sich besonders als Orientierungspunkte eignen, an denen sich ein Heimatgefühl festmachen kann. Schon von Ferne verspricht der Kirchturm: Dort bin ich zuhause. Diese städtebauliche Besonderheit religiöser Gebäude ist aber unlösbar mit ihrer symbolischen Bedeutung verknüpft: Ist Religion doch per definitionem mit dem Anspruch verbunden, eine tiefere, aufs Letzte und Ganze gehende Deutungsperspektive zu eröffnen. Besonders greifbar wird das in den lebensbegleitenden Kasualfeiern wie Taufen, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen: Das Leben der Beteiligten wird an entscheidenden Wendepunkten in einen religiösen Horizont gerückt, der eine symbolisch vermittelte Verankerung angesichts der Wandlungen und Kontingenzen individueller Biographien und Lebensläufe verspricht.10 Die lokale Verankerung solcher lebensbegleitenden Rituale und Feste im Leben des Stadtteils spielt daher für die religiösen Akteure in neuen Stadtquartieren eine große Rolle. In ihr erfüllt sich zumindest teilweise die Verheißung, Religion möge als symbolische Mitte des Lebens auch ein Ort der sozialen Integration der Stadt(teil)gesellschaft sein: »[I]ch hatte schon vor Jahren mal eine Beerdigung, […] wo mir das so ein bisschen aufgefallen ist […]. Und dann stirbt jetzt jemand, damals war es […] eine ältere Frau, die hier, die innerhalb von zwei Jahren […] oder drei Jahren ein total tolles soziales Netz aufgebaut hat in ihrem Haus drin. Und dann hat die Beerdigung stattgefunden, und da ist auch der Stadtteil [mit seiner Bewohnerschaft] da mit seiner ganzen Vielgestalt. […] Und jetzt wieder bei der einen Beerdigung, da war die Frau, die hat zwar nicht im Stadtteil gewohnt, aber die Bewohner, Leute aus [dem sozialen Wohnbauprojekt]. Und da ist auch der Stadtteil [mit seiner Bewohnerschaft] irgendwie da. Und das fand ich ganz interessant.« (Reese, FB) »Also, [das] passt wirklich zu der Fassade, die Gesichter.11 Kirche lebt von diesen Menschen. […] Ich habe es eben auch bei einer Tauffeier [erlebt]. Das heißt, eine Familie kommt. [Sie] möchte ihr Kind taufen lassen im Grundschulalter. Und das ist dann eine Veranstaltung des Stadtteils, weil die einfach vernetzt sind miteinander, und alle [Bewohner des Stadtteils] werden dazu eingeladen.« (Zesche, HDB) »Oder die Hochzeit von [X] und [Y]. Da waren die Nachbarn selbstverständlich mit dabei. […] Das sind so […] neue Sozialbeziehungen.« (Reese, FB) Unterschiedliche Ebenen der Zentrumsthematik bilden sich hier ab, die sich gegenseitig stabilisieren, aber auch in Spannung zueinander stehen können: der Wunsch nach einem Zentrum des Stadtteils, in dem sich das Leben – auch in symbolischer und ritueller Hinsicht – verdichtet, der Wunsch nach einer symbolischen Mitte als lokalem Bezugs-

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Die zentrale Bedeutung, die kirchliche Kasualien für die spätmoderne, ganz auf die Bedürfnisse des einzelnen Individuums zugeschnittene urbane Religionskultur besitzen, wird besonders von Wolfgang Steck herausgestellt (Steck 2011: 192ff). Die Fassade des fraglichen Kirchenraums besteht aus Glas, auf dem Gesichter abgebildet sind.

1. Zentralität

punkt religiöser Glaubenspraxis, aber auch überhaupt der Wunsch nach einer lesbaren, weil bedeutungsvollen Gliederung des urbanen Raums. In einigen Fällen ist eine solche Gliederung bereits vorgegeben und die religiösen Akteure müssen sich zu dieser vorgezeichneten Raumgliederung verhalten und in ihr Position beziehen. In anderen Fällen wird Religion sozusagen städtebaulich intentional als Zentrumsmarkierer in Anspruch genommen. Ein Beispiel dafür ist die Chapel in Heidelberg, eine ehemalige Militärkaserne, die in ein Bürgerzentrum umgewandelt werden soll (siehe 3.3.2). In vorliegendem Zusammenhang ist von Interesse, dass geplant ist, die Chapel absichtsvoll als neue Quartiersmitte für die Heidelberger Südstadt zu installieren. Die ursprüngliche rein religiös-symbolische Zentralität des Gebäudes soll gleichsam ins Stadtplanerische übersetzt werden. Der ehemals religiöse, jetzt säkularisierte Bau erhält damit eine Zentralität, die er zumindest in dieser Form zuvor gar nicht hatte.

1.3.2 Religion in randständiger Lage Im Kontrast zum Wunsch nach Verankerung einer symbolisch-rituellen Deutungskultur an zentraler Stelle wird in vielen Interviews sichtbar, dass Religion de facto eher als randständiges Phänomen im Leben des Stadtteils wahrgenommen wird. Dies kann durch die geographische Lage bedingt sein: »[Es] wurde[n] dann Partner gefunden, die uns diese Fläche in zentraler Lage […], damals hieß es, ein Sahnestückchen von der Lage her, verkauft haben. Heute ist es für uns eine Katastrophe, weil, es wird mal Sahnestückchen, aber erst in fünf bis zehn Jahren. Derzeit leiden wir unter der Randlage.« (Vollmer, HDB) Das Bewusstsein, im Gegensatz zu den eigenen Relevanzansprüchen keine zentrale Stellung im Quartiersleben zu besitzen, kann sich zum Bewusstsein einer regelrechten Exzentrizität steigern, eines Ausschlusses aus dem Zentrum. In Freiburg begründet ein kirchlicher Mitarbeiter diese Exzentrizität mit dem Fehlen eines eigenen Kirchenraums: »Ich habe so das Gefühl, das ist total marginalisiert. An bestimmten Punkten spielt es eine Rolle, also wenn ich jetzt den Ostergottesdienst in den Blick nehme, wenn wir gemeinsam dann ein Lagerfeuer machen. Und dann geht ein Teil mit hoch zum Gottesdienst und ein Teil bleibt auch unten stehen und der wird immer größer […]. Aber was wir an Gottesdienstangebot machen, da ist halt immer das Problem, dass wir work in progress sind. Also, dass wir eigentlich nie des leisten können, was die Leute im Prinzip erwarten. Also dadurch, dass kein Kirchenraum da ist, hat es immer das Gefühl, es ist relativ spontan und es ist nichts Festes.« (Reese, FB) An anderer Stelle erzählt derselbe Mitarbeiter, dass die Kirchengemeinde im Quartier auch deshalb eine randständige Lage hatte, weil andere Akteure des Stadtteils sie in der Vergangenheit als unwichtig dargestellt hätten. Das zeigt sich in der Auseinandersetzung darüber, ob die Gottesdiensttermine der Gemeinde im Kulturkalender des Stadtteils mit erscheinen sollen. Eine Kränkung lag darin, dass nicht die Kirchengemeinde, sondern der Mitarbeiter eines spirituellen Zentrums gebeten wurde, ein Ritual für den Stadtteil zu gestalten:

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Religion im urbanen Raum

»Also vom Thema Gottesdienst auf den Kulturkalendern. Das ist immer so eine Fragestellung gewesen, kann, darf das auftauchen innerhalb des Kulturprogramms. Das ist jetzt dieses Jahr nicht mehr so ein Thema, es gehört einfach dazu. Das war ein Bohren dicker Bretter. Im Quartiersbeirat hat man so immer das Gefühl gehabt, man ist halt so ein Anhängsel, aber wenn man nicht da wäre, wäre es auch nicht schlimm.« – »Das war auch mal eine spannende Erfahrung. Es verstarb bei einem Straßenbahnunfall ein [Stadtteilbewohner]. […] Also, ich wurde von der Quartiersarbeit nicht angerufen, eine religiöse Zeremonie zu feiern. Aber der [Mitarbeiter eines spirituellen Zentrums]. […] Also, das wird schon als Angebot wahrgenommen. Und das fand ich damals, das hatte ich auch der Quartiersarbeiterin gesagt, nach dem Motto, es ist klar, es ist eine asiatische Religion, das ist nicht meine Zuständigkeit. Das ist in dem Sinn schon richtig. Aber dass ich gar keine Information darüber bekomme und ich gar nicht mehr [mit]gedacht werde, das hat mich eher schon fast verletzt.« (Reese, FB) Ein weiteres, in mehreren Quartieren der vorliegenden Studie begegnendes Thema ist die Frage der Einbindung von Gottesdiensten und anderen (inter-)religiösen Zeremonien auf Stadtteilfesten. Am liturgischen Ort – zum Festauftakt, zum Festende, mittendrin oder auch ganz außerhalb der säkularen Festliturgie – zeigt sich exemplarisch die Nähe oder auch die Ferne der lokalen religiösen Institutionen zur symbolischen Mitte des Quartiers. Besonders eindrücklich ist das Beispiel einer Gottesdienstfeier in Vauban (Freiburg), die nicht auf dem Stadtteilfest selbst, sondern erst am anschließenden Sonntag stattfindet. Der Wunsch der Kirche, trotz dieses Ausschlusses vom eigentlichen Geschehen Teil des symbolischen Mittelpunkts von Vauban zu sein, findet seinen Ausdruck unter anderem in der Formulierung »Gottesdienst zum Stadtteilfest« (vauban actuel 2015/2). Ein Bezug zu dem (bereits am Vortag gefeierten, nun schon vergangenen) Stadtteilfest wird auch darüber hergestellt, dass dessen Bühne für den Gottesdienst genutzt wird: [A]uf dem Platz befindet sich eine Bühne, die noch vom Stadtteilfest ist. Die Rückseite der Bühne ist mit einem Tuch bedeckt, auf dem Worte wie »Stadtteilfest«, »Kinder«, »viele Spielplätze«, »nette Menschen« zu lesen sind. Vor diesem Tuch steht auf der Bühne ein Altar. Auf diesem Altar ist ein Kreuz, das aus Ästen gestaltet ist, links von dem Kreuz befinden sich eine Kerze und Sonnenblumen. Vor der Bühne sind etwa 25 Bierbänke sowie einige Stühle aufgebaut. Die Gottesdienstbesucher sind sommerlich gekleidet und vorwiegend mittleren Alters. Auch einige ältere Menschen und Kinder befinden sich darunter. Der Gottesdienst wird nicht durch Glockengeläut markiert. Der Pastoralreferent begrüßt die Gottesdienstbesucher und weist auf das Liedblatt hin. Während der Gottesdienst gefeiert wird, sind Passanten auf und um den Platz unterwegs. Im Restaurant, das sich im Rücken der Gottesdienstbesucher befindet, essen die Leute weiterhin. Nach der Begrüßung ziehen sich der Pastoralreferent und die Pfarrerin einen weißen Taufschal an, um die Verbindung der beiden Konfessionen zu symbolisieren. Der Pastoralreferent erwähnt, dass gestern das Stadteilfest gefeiert wurde und heute der Gottesdienst gefeiert wird. Anschließend übermittelt er Grüße anderer Gemeinden. Die Pastorin führt weiter aus, dass sie nicht nur die Gemeinschaft im Stadtquartier feiern möchten, sondern auch feiern möchten, dass die Gemeinschaft im Stadtquartier einen Schritt weiter geht. In den Fürbitten stellt eine der Personen einen Bezug zum Stadtteil her, indem sie sagt, dass der Stadtteil mit seinem Schicksal, seinen Problemen und Konflikten vor Gott gebracht wird. (FFT FB)

1. Zentralität

Die programmatische Bezugnahme auf den Stadtteil durch die äußere Gestalt des Gottesdienstes (Festbühne, Bierbänke), die Begrüßung und die Fürbitten steht in Spannung zu seiner zeitlich versetzen Terminierung und zu dem Sachverhalt, dass das Geschehen auf der Bühne von beiläufigen Passanten und Restaurantbesuchern nicht näher gewürdigt wird. An diese Beobachtung knüpft auch eine Interviewpassage mit einem hauptamtlichen Mitarbeiter der Kirche an: »Und zwar, der Gottesdienst zum Stadtteilfest wurde nie als Teil des Stadtteilfestes gesehen. […] Ja, das wurde nie so formuliert. Das war immer am zweiten Tag. Samstag ist Stadtteilfest, und danach ist eben irgendwas danach. […] Und dann wurde auch die Diskussion, gehört der Gottesdienst dazu oder nicht, wurde jedes Mal diskutiert. Seit zwei Jahren jetzt nicht mehr so. Aber jedes Mal wurde diskutiert. Jedes Mal habe ich gesagt: ›Hört zu, Leute, wir machen das. Das gehört dazu.‹ Und dann kam immer das Argument, wenn spirituell, wenn die anderen auch mitmachen dürfen. Habe ich gesagt, ja, dürfen alle gerne mitmachen. Also, im Quartiersbeirat. Wenn ihr mir Personen nennt, die eine spirituelle Feier mit mir machen wollen, dürfen alle dazukommen. Da hat sich nie jemand drauf gemeldet. […] Aber immer jedes Jahr wieder war diese Diskussion.« (Reese, FB) Der »Gottesdienst zum Stadtteilfest« ist damit auch ein Beispiel für die beständigen Verhandlungen um die öffentliche Legitimation von Religion im Quartier (siehe 6.3.3). Interessant ist auch die erwähnte Forderung aus dem Quartiersbeirat, dass keine bestimmten religiösen Gruppen bevorzugt werden sollen, sondern bei einem »spirituellen« Angebot, »alle« beteiligt sein sollen. Dieser Topos einer normativ geforderten Interreligiosität begegnet häufiger in den untersuchten Quartieren und wird in Kapitel 7 ausführlich dargestellt. Im Zusammenhang mit der randständigen Lage religiöser Orte und den dort stattfindenden Treffen, Ritualen und Veranstaltungen lässt sich festhalten, dass diese zum einen bauliche Ursachen haben und zum anderen durch die Widerstände anderer städtischer Akteure bedingt sind. Zugleich ist diese Randständigkeit nicht festgeschrieben, sondern wandelbar und zum Teil Gegenstand von Verhandlungen.

1.3.3 Heilige Lücken Die herausragende Bedeutung, welche die Frage nach dem Zentrum für ein neues Stadtquartier besitzt, zeigt sich auch und gerade in der Klage, wenn ein solches Zentrum fehlt. Das fehlende Zentrum wird in unterschiedlichen Quartieren der vorliegenden Studie als Problem markiert: »Die Stadtteile Billstedt und Horn haben eine gemeinsame Herausforderung: Ihnen fehlt jeweils ein attraktives Zentrum. Während in Horn nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges vom alten Kern nichts mehr übrig ist, besteht das Billstedter Zentrum heute aus dem Bereich rund um das Einkaufszentrum ›Billstedt-Center‹ und die U-Bahnstation.«12

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https://billstedt-horn.hamburg.de/entwicklungsraum/, abgerufen am 29.8.2019.

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Religion im urbanen Raum

Das Fehlen eines Zentrums verweist auf einen Mangel an städtischer Infrastruktur. Genau hier ist auch der der Ansatzpunkt für die Einleitung von Stadtentwicklungsmaßnahmen, in denen die alten Ortskerne des Gebietes vitalisiert werden sollen.13 Mit dem Fehlen des Zentrums steht für die ortsansässige Bevölkerung aber noch mehr auf dem Spiel, wie bereits im vorletzten Abschnitt anklang: »Und es wäre schon schön, hier mal [eine] Hochzeit durch den Stadtteil laufen zu sehen.« (Spiegel, HDB) »[I]ch muss [meiner Vorrednerin] Recht geben. [E]s gibt so Sachen, die würde man gerne im öffentlichen Raum wahrnehmen. Also zum Beispiel eine Tauffamilie, die vorbeigeht. Oder ich warte so sehnsüchtig darauf, dass endlich die Kinder mit ihren Schultüten durch den Stadtteil laufen. Das können sie aber erst, wenn die Schule auch da ist. [D]ie wird ja jetzt gebaut. Aber von der Kirche wissen wir, die Kirche an sich wird nicht gebaut. Das heißt, ich kann eigentlich keine Festgemeinde oder auch keine Trauergemeinde, ich kann sie nicht wahrnehmen im Stadtteil, weil sie den Weg nicht antreten hier vor Ort. [Das] ist ja gar nicht […], dass ich da selber an allem teilnehme, aber trotzdem nimmt man das wahr, und es und findet im Stadtteil statt. Und eigentlich ist ein Stadtteilleben ja ganzheitlich mit vielen Aspekten. Da gehören ja ganz viele Punkte dazu, und bis dato war Kirche eigentlich auch immer präsent.« – »[D]a geht es ja auch los. Wir haben Hochzeiten, wir haben Taufen, wir haben Todesfälle, das sind ja auch alles Dinge, wir haben ja auch andere Familienfeste. […] Es gibt ja viele Stationen […], die man durchlaufen kann, und die kann ich ja eigentlich im Stadtteil dann gar nicht machen. [Ich] muss immer aus dem Stadtteil rausgehen.« (Abele, HDB) Der Wunsch nach einer religiösen Beheimatung im Stadtquartier bildet die Hintergrundfolie der geäußerten Enttäuschung. Der eigene Stadtteil erscheint als religiös defizitär, weil »viele Stationen« der Biographie – von Taufen über Hochzeiten bis hin zu Beerdigungen – hier keinen festen rituellen Ort haben. Deutlich greifbar wird der bereits dargestellte Wunsch, dass die Kirche eine symbolische Mitte im Leben der Stadtteilbewohner markieren möge, indem sie durch Feiern, Veranstaltungen, Treffen und Rituale das Leben der Ortsansässigen ›von der Wiege zur Bahre‹ begleitet. Aber es geht noch um mehr: Die Klage über den fehlenden Kirchenbau – nie im eigenen Quartier einen Weihnachtsgottesdienst feiern können! – steht in gewisser Weise selbst noch einmal symbolisch für eine Enttäuschung der urbanen Verheißung, ein ›vollständiges‹ soziales Leben in städtischer Verdichtung leben zu können. Hier gilt ähnliches, wie für die buchstäbliche »Kirche im Dorf« (Möller 2009): Der zentrale Kirchenbau steht für mehr als für seine religiöse Nutzung im engeren Sinn – er markiert die Vollständigkeit und »Totalpräsenz« (Moxter 2010: 148) des sozialen Kosmos. Die heilige Lücke, die der fehlende Kirchenraum markiert, ist daher auch Ausdruck einer Enttäuschung gegenüber dem sozialen Versprechen von Urbanität als solcher.

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Ebd.

1. Zentralität

1.4 Fazit Religion partizipiert an der für das Phänomen von Stadt insgesamt konstitutiven Unterscheidung von Zentrum und Peripherie. Religion in neuen Stadtquartieren ist damit von vornherein Teil eines größeren Ganzen, einer stadträumlichen Konfiguration, einer bedeutsamen Gliederung des öffentlichen Raums. Unterschiedliche Raumgliederungen überlappen, staffeln und überlagern sich dabei und können auch in Konkurrenz zueinander treten. Beim näheren Hinsehen erweisen sich neue Stadtquartiere als polyzentrische Gebilde mit entsprechend verschachtelten Raumkonfigurationen. Die Dynamik von neuen Stadtquartieren bringt es dabei mit sich, dass diese Gliederungen sich selbst im Wandel befinden, geplante von ›praktizierten‹ Zentren abgelöst werden, ehemals randständige Gebiete in zentrale Lage aufrücken können usw. Im Idealtyp der alteuropäischen Stadt war Religion dabei nicht nur Teil der städtischen Raumgliederung, sondern stellte zugleich signifikante Elemente ihrer Markierung bereit (Kirche am Marktplatz). Diese Lage hat sich geändert: In neuen Stadtquartieren ist dieser Idealtyp allenfalls rudimentär verwirklicht. Oft bleibt das Zentrum auf nicht absehbare Zeit ungestaltet, unbestimmt und vage. Das bildet sich auch in religiöser Hinsicht ab: Religiöse Einrichtungen führen zwar programmatisch den ZentrumsBegriff im Titel (Gemeindezentrum) – und damit auch den Anspruch auf Öffentlichkeit und Relevanz –, sind aber nur locker in einer (noch) kaum oder unterentwickelten Raumstruktur verankert. Eher selten werden – in Anknüpfung an die Tradition der alteuropäischen Stadt – (ehemalige) religiöse Gebäude explizit als Zentrumsmarkierer von der Stadtplanung in Anspruch genommen. Dabei ist ›Zentrum‹ (wie auch ›Peripherie‹) nicht nur stadträumliche Tatsache, sondern immer auch Diskurs: Es werden plurale Zentrumsbehauptungen aufgestellt. Solche Zentrumsbehauptungen enthalten normativ aufgeladene Wesentlichkeitsbehauptungen: Zentral ist das Wichtige, das Wesentliche. Mit dem Anspruch auf Zentralität wird mithin zugleich der Anspruch auf Relevanz, Konjunktur und Prosperität erhoben. Ob und wie eine Zentrumsbehauptung wirksam wird, hängt davon ab, ob und wie sich diese Ansprüche erfüllen. Daher werden in Zentrumsdiskursen – gleichsam spiegelbildlich – oft Erfahrungen von Randständigkeit und Marginalität verhandelt. Religiöse Gemeinschaften erheben Anspruch auf Zentralität in neuen Stadtquartieren durch Namensgebung (»Kirche in der Bahnstadt«), öffentliche Praktiken (Gottesdienst zum Stadtteilfest) oder provisorische bzw. temporäre Architektur (Bauwagen im Neubaugebiet).14 Zugleich machen sie die Erfahrung, bei der baulichen Gestaltung der Stadtmitte nicht berücksichtigt zu werden, mit ihren Räumen eher eine randständige Lage zu beziehen und auch um eine symbolische Präsenz ›in der Mitte‹ – etwa bei Stadtteilfesten – kämpfen zu müssen. Insbesondere das Fehlen eines zentralen Kirchbaus kann dabei als Verlust beklagt werden, wobei es wohl um mehr als nur um einen Ort für die gottesdienstliche Praxis geht: Die fehlende Kirche steht als ›heilige Lücke‹ sinnbild-

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Das letzte Beispiel entstammt nicht dieser Studie, sondern einem Projekt des Kirchenkreises Halle-Saalkreis; https://www.kirchenkreis-halle-saalkreis.de/aktuell/nachrichten/1-martinsfeierbeim-bauwagenprojekt-in-der-silberhoehe/, abgerufen am 10.9.2020.

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Religion im urbanen Raum

lich für den Paradigmenwechsel vom alteuropäischen Stadt- und Urbanitätsideal hin zur Realität der »Zwischenstadt« (Sieverts 2013). Die Frage nach der Stadtteilmitte begegnet in fast allen Quartieren der vorliegenden Studie in unterschiedlichen Variationen. Ihre besondere Bedeutung liegt, auf einer Meta-Ebene betrachtet, darin, dass sie einen Interessensschnittpunkt zwischen der Stadtentwicklung, den Investoren und den religiösen Akteuren bildet. Sie alle haben, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht, Interesse an einer bedeutungsvollen Raumgliederung und damit auch Interesse an einem ›Zentrum‹. Der Zentrumsdiskurs erweist sich damit als produktive Schnittstelle, an der religiöse Akteure mit den anderen Playern vor Ort ins Gespräch kommen, Gestaltungsmöglichkeiten aushandeln und diverse Engagementstrukturen entfalten können.

2. Orte

2.1 Orte und Verortungen von Religion im städtischen Raum Kirchen, Tempelanlagen, Kapellen, Klöster – die Präsenz religiöser Orte prägt den Stadtraum seit der Antike bis auf den heutigen Tag. Religiöse Orte liegen oft an zentraler Stelle, haben eine herausgehobene Architektur und sind weithin erkennbar. Als Gottesdienst- und Gebetsräume stellen sie religiöse Praktiken unter Geltungsschutz. Häufig sind es zugleich besonders repräsentative Orte, die das Stadtbild prägen oder sogar den Charakter von städtischen Wahrzeichen haben. Im Modell der alteuropäischen Stadt war die Präsenz der Kirche als weithin identifizierbare Ortsmitte eine Selbstverständlichkeit. Anders stellt sich die Lage in neuen Stadtquartieren dar. Schon die Frage nach dem Zentrum ist hier prekär (siehe Kapitel 1). Es ist daher alles andere als ausgemacht, wo die die mittige Lage sein soll, an der ein religiöser Ort zu errichten ist – wenn ein solcher denn überhaupt geplant ist. Weitere Fragen sind offen: Welche religiösen Akteure werden in den Prozess der Planung eines neuen Quartiers und seiner religiösen Topographie einbezogen? Welche Parteien oder Gremien entscheiden darüber, ob ein neuer religiöser Ort gebaut werden und falls ja, welche Gestalt er besitzen soll? Wie wird ein religiöser Ort eingerichtet und nach außen hin als ein solcher erkennbar, wenn es sich nicht um einen traditionellen Sakralbau handelt? Diese Fragen sollen im vorliegenden Kapitel unter dem Stichwort der ›Ortswerdung‹ von Religion aufgegriffen werden. Wenn im vorigen Kapitel mit der Kategorie der Zentralität ein Strukturelement der städtischen Raumgliederung in den Blick genommen wurde, vollziehen wir mit dem vorliegenden Teil mithin den Übergang vom Raum- zum Ortsbegriff. Das macht einige einleitende Überlegung zum Verhältnis beider Größen nötig. Im ersten, durch eine physikalische Perspektive geleiteten Zugriff verweist der Begriff des Ortes auf die konkrete Position eines Dinges im Raum. Orte sind fixierte Punkte im räumlichen Koordinatensystem; sie liegen auf einem Längen- und Breitengrad und können auf Karten markiert werden. Der Ort hat »immer etwas Punktuelles. Man kann auf ihn hinzeigen« (Bollnow 2010: 38). Orte markieren die Stelle, an der sich Dinge befin-

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Religion im urbanen Raum

den oder Ereignisse stattfinden.1 Insofern und insoweit Dinge einen festen Ort haben, lassen sie sich von anderen Dingen, die nicht zur selben Zeit an derselben Stelle existieren können, unterscheiden und räumlich identifizieren. Der konkrete Ort, den ein Ding im Raum einnimmt, fungiert als ein Kriterium seiner Identität.2 Auf diesen grundlegenden Bestimmungen baut das geographische Ortsverständnis auf. Der Ort fungiert hier als Wechselbegriff für die konkrete Lage eines Landes, einer Stadt o.ä. innerhalb eines bestimmten territorialen Kontextes, politischen Einflussgebietes oder einer klimatischen Zone (Ratzel 1894). Über diese Zuordnung zu einer größeren geographischen Ordnungseinheit hinaus ist der geographische Ort durch ein ganzes Netz aus Relationen bestimmt, die er zu anderen örtlichen Gegebenheiten hat und das sich übergreifend als lokale Topographie beschreiben lässt. Die Wechselwirkungen dieses ortsübergreifenden Relationsgefüges mit der räumlichen Binnenstruktur und den lokalspezifischen Besonderheiten der darin eingesponnen Einzelorte definieren dieselben in ihrer jeweiligen »Eigenlogik« (Löw 2012). Noch weiter lassen sich diese Bestimmungen aus einer anthropologisch-ethnologischen Perspektive anreichern. Hier verweist der Ortsbegriff auf das von einer Gruppe ›besetzte‹ Territorium. Der Ort ist anthropologisch definiert durch diejenigen, die ihn »einnehmen, die dort leben und arbeiten, die ihn verteidigen, seine herausragenden Zeichen bestimmen, seine Grenzen bewachen, aber auch nach den Spuren der unterirdischen und himmlischen Mächte, der Ahnen oder Geister fahnden, die ihn bevölkern und seine innerste Geographie beleben« (Augé 1994: 53). Der so bestimmte Ort ist demnach der von einer bestimmten menschlichen Gruppe ›eingenommene‹ und belebte, insofern aber auch durch die Regeln und Normen ihres Zusammenlebens geprägte Ort. Orte sind in dieser Theorieeinstellung immer schon normativ geladene (Lebens-)Räume, die besetzt, umkämpft und verteidigt werden. Die letztgenannte Bestimmung lässt sich religionsethnologisch aufgreifen und noch weiter differenzieren. So unterscheidet die Religions- und Stadtforscherin Irene Becci religiöse Akteursgruppen nach raumsoziologischen Gesichtspunkten (Becci 2016): Religiöse place keeper besitzen eigene Orte, die sie gestalten, bespielen, für andere öffnen oder auch gegenüber anderen verteidigen. Andere religiöse Gemeinschaften (etwa freikirchliche Gruppierungen oder Migrant:innengemeinden) mieten Räume für ihre Gottesdienste und Gemeindeaktivitäten an, die sie sich für ihre Zwecke anverwandeln. Sie fungieren darin als place maker, die sich sonst anders genutzte Orte (Kinosäle, Gemeindehäuser und Räume von Gastgeberkirchen) temporär aneignen. Aber auch die als place keeper etablierten Gemeinden (zumeist evangelisch-landeskirchliche, katholische und muslimische Gemeinden) agieren immer wieder raumschaffend als place maker: Aktionen wie der St.-Martins-Umzug, die Karfreitags-Prozession oder der Open-Air-Gottesdienst auf dem Stadtteilfest lassen Religion vorübergehend als öffentliche Größe in Erscheinung

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In diese Richtung argumentiert bereits Aristoteles in seiner Naturphilosophie, wenn er den Ort als das ›Worin‹ der räumlichen Situiertheit einer Sache definiert: »Wir setzten als für richtig, Ort sei das unmittelbar Umfassende für das, dessen Ort er ist«, Physik 4, Kapitel 4, 210b, 81 (Aristoteles 1995). Zur frühneuzeitlichen Debatte zwischen John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz um Kriterien bzw. Prinzipien der Identifizierbarkeit von Einzeldingen vgl. Frankel 1981.

2. Orte

treten. Zur Gruppe der place finder rechnet Becci schließlich religiöse Kleinstanbieter aus der esoterischen Szene, die stets auf der Suche nach Räumen sind, in denen sie etwa ihre Séancen oder Chakren-Massagen anbieten können. Unterschiedliche Beschreibungsperspektiven auf den Begriff des (religiösen) Ortes lassen auf solche Weise unterschiedliche Thematiken in den Vordergrund treten, die in den einzelnen Teilen des vorliegenden Kapitels näher untersucht werden sollen. Erstens: An der Ortswerdung von Religion in neuen Stadtquartieren hängt das Thema ihrer Identifizierbarkeit. Hier stellt sich die Frage: Wie ist der Prozess zu beschreiben, in dem ein religiöser Ort entsteht? Und, eng damit zusammenhängend: Wodurch wird ein religiöser Ort überhaupt als religiöser erkenn- und sichtbar? Dieser Frage wird am Beispiel der Errichtung eines neuen religiösen Ortes in der Heidelberger Bahnstadt nachgegangen (2.2). Zweitens: Orte werden definiert durch ihre Lage in einem Netz aus räumlichen Relationen. Das damit aufgeworfene Thema der Relationalität konkreter Ortsbezüge zieht im Kontext der vorliegenden Studie die Frage nach sich, wie religiöse Orte auf ihre stadträumliche Umgebung Bezug nehmen – und wie die Art dieser Bezugnahme sie umgekehrt überhaupt erst zu denjenigen Orten ›macht‹, die sie sind. Hier lassen sich unterschiedliche Typen von religiösen Orten in neuen Stadtquartieren identifizieren: u.a. niedrigschwellige Orte, Heterotope und »dritte Orte«, die religiöse und nicht-religiöse Bedeutungsdimensionen in sich vereinigen. In allen diesen Ortstypen wird das Verhältnis zwischen dem Städtischen und dem Religiösen in je spezifischer Weise konfiguriert (2.3). Drittens: Orte sind normativ geladen durch Regeln, was an ihnen stattfinden darf, was ihre Geschichte ausmacht, ob und inwiefern sie innerhalb ihrer Umgebung ›berechtigt‹ sind usw. Im vorliegenden Kontext verweist die Thematik der Normativität ortsspezifischer Praktiken auf die Frage, wie sich religiöse Orte in neuen Stadtquartieren legitimieren. Diese Frage wird, anders als die ersten beiden, allerdings nicht im vorliegenden Kapitel, sondern an späterer Stelle, im Kontext einer Verhältnisbestimmung von Religion und Öffentlichkeit behandelt (siehe 6.3). Ein Fazit schließt das Kapitel ab (2.4).

2.2 Die Entstehung religiöser Orte in neuen Stadtquartieren Im Ringen um Anschluss an die lokalen Gegebenheiten experimentieren religiöse Akteure in neuen Stadtquartieren mit neuen baulichen Präsenzformen. Teilweise errichten sie Bauten, die zwar nicht als klassische Kirchengebäude erkennbar, aber dennoch als religiös markiert sind – durch Embleme, Symbole, Bezeichnungen oder besondere architektonische Merkmale. Ein Beispiel dafür ist das ökumenische Projekt HALT in der Bahnstadt in Heidelberg, auf das im Folgenden näher eingegangen werden soll. Die folgenden Ausführungen zeichnen die Entstehung des HALT in dreifacher Hinsicht nach, die an der einleitend skizzierten Forschungsheuristik orientiert sind. Nach einer Einführung ins Quartier (2.2.1) wird entsprechend zunächst die politisch-administrative Ebene (2.2.2), sodann die symbolische (2.2.3) und schließlich die Ebenen der Diskurse und Praktiken (2.3.4) in den Blick genommen. Ein Zwischenfazit beleuchtet die Spannungsfelder und Dynamiken, die sich dabei auf den verschiedenen Ebenen zeigen (2.2.5).

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Religion im urbanen Raum

2.2.1

Bahnstadt (Heidelberg)

Die Bahnstadt liegt in der Nähe des Hauptbahnhofs auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Heidelberg. Im Juni 2012 sind die ersten Bewohner:innen in das komplett neu entstandene Quartier eingezogen. Wohnhäuser prägen das Stadtbild. In manchen der Gebäude haben sich im Erdgeschoss Geschäfte wie Bäckereien oder auch Versicherungen eingerichtet. Am Straßenrand sind kleine Bäume gepflanzt. Von der Hauptstraße, die sich durch das Viertel zieht, gehen Straßen ab, die entweder, wie die Cambridgestraße, nach Partnerstädten Heidelbergs benannt sind, oder, wie die Noether-Straße, Namen berühmter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern tragen. Diese Namen sollen die Internationalität und die Verbindung zur Wissenschaft dieses Quartiers verdeutlichen.3 Den Anspruch, gute Rahmenbedingungen für Wissenschaft und wissenschaftsnahe Wirtschaftsunternehmen zu schaffen, unterstreichen symbolisch auch Fahnen und Plakate, die im Stadtteil zu sehen sind. Einige Institute und Unternehmen haben sich bereits angesiedelt. Beispiele für solche Einrichtungen und Firmen sind unter anderem das Unternehmen Heidelberg Engineering, das diagnostische Geräte für die Augenheilkunde entwickelt, produziert und verkauft, sowie das Innovation Lab, eine anwendungsorientierte Forschungs- und Transferplattform im Bereich organischer Elektronik.4 Im Jahr 2014 leben 2271 Menschen in der Bahnstadt.5 5000 sollen es in Zukunft noch werden und 7000 weitere ihren Arbeitsplatz hier haben. Von den Interviewpartnern wird das Gebiet als unfertig beschrieben: »[Es ist] alles noch sehr im Aufbau begriffen. Und damals, es war unglaublich heiß, staubig, Baustelle. Und ich glaube, das ist Bahnstadt in vielen Bereichen immer noch.« (Meckel, HDB) Und über die Stadtteilbewohner und den Stadtteil fügt ein städtischer Mitarbeiter hinzu: »Ich meine, dass sind Pioniere gewesen, die dort auf eine Riesenbaustelle gezogen sind und erst einmal ein paar Jahre mit Lärm, Dreck und unfertigen Straßen kämpfen mussten.« (Opitz, HDB) Diese »Pioniere« scheinen vor allem an neuem Wohnraum interessierte Kleinfamilien zu sein. Die Gesprächspartnerinnen erzählen, dass die Bevölkerung der Bahnstadt hinsichtlich ihres ökonomischen Status wie auch in Hinblick auf ihre Altersstruktur recht homogen sei. Eine Bewohnerin beschreibt es so:

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http://heidelberg-bahnstadt.de/news/bahnstadt-strassen-haben-jetzt-namen, abgerufen am 31. 8.2016. https://www.heidelbergengineering.com/de/unternehmen/; www.innovationlab.de/en/, jeweils abgerufen am 28.9.2016. Datenblatt Bahnstadt auf einen Blick 2014, http://ww2.heidelberg.de/datenatlas/, abgerufen am 18.5.2016.

2. Orte

»Ich habe den Eindruck, dass wir mindestens 70 Prozent unter 40 haben mit sehr vielen kleinen Kindern. […] Wir haben auch Senioren, auch einige, die nimmt man auch wahr, aber eben viel weniger.« (Krause, HDB) Eine städtische Mitarbeiterin teilt ihre Meinung und hebt außerdem hervor, dass der Wissenschaftsstandort Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur hat. »Also, ich habe noch nie so viele Kinder, noch nie so viele schwangere Frauen auf einmal wie in der Bahnstadt gesehen. Im positiven Sinne. Das ist so viel Impuls und so viel Leben. […] Der Stadtteil ist international.« (Lange, HDB) Impulse für die Integration und Entwicklung des jungen Viertels gehen vor allem vom Stadtteilverein »Bahnstadtverein« und dem durch die Stadt initiierten Nachbarschaftstreff »LA33« aus. Beide Akteure möchten das nachbarschaftliche Leben in der Bahnstadt fördern. Der einzige im Forschungszeitraum von außen sichtbar als religiös markierte Ort der Bahnstadt besteht in einem ökumenischen Projekt, das im Mai 2014 eingeweiht wurde. Es trägt den Titel »HALT – Kirche in der Bahnstadt« und knüpft an das ältere Konzept der Ladenkirche an: Der Kirchenraum befindet sich in der Geschäftsetage eines Wohnhauses. Planung, Entwicklung und Belebung des HALT werden im Folgenden als ein Aushandlungsfeld beschrieben, bei dem administrativ-politische und ökonomische Rahmenbedingungen, örtlich-materielle Gegebenheiten sowie Problem- und Situationswahrnehmungen eine Rolle spielen und miteinander verflochten sind.

2.2.2 Ein religiöser Ort wird ausgehandelt: die politisch-administrative Ebene Anders als in anderen Stadtteilen, die im Rahmen der vorliegenden Studie untersucht wurden, waren die Kirchen ursprünglich nicht in den Prozess der städtischen Bauplanung eingebunden: »Da war die Kirche nicht dabei. Die Bahnstadt war eigentlich geplant. Die hat schon eine 20jährige Geschichte. Das ist schon längst alles in den Köpfen geplant gewesen. Wo ich das erste Mal den HALT, irgendetwas mit Bahnstadt gehört habe, gab es schon den Stadtplan, mit den Quartieren eingezeichnet etc. Also da war keine Mitsprache mehr möglich, [weder] Bürgerbeteiligung noch in Bezug auf, wie sehen die Quartiere aus. Was für ein Charakter die Bahnstadt bekommen sollte, da war die Kirche nie mit drin.« (Zesche, HDB) Erst zu einem späteren Zeitpunkt, so berichtet der interviewte kirchliche Mitarbeiter, trat die Stadtverwaltung schließlich doch noch an die Kirchen heran, um ihnen einen Platz anzubieten: »Das Thema Bahnstadt für die Kirche kam Ende 2009, Anfang 2010 und dergestalt, dass auch die Stadt Heidelberg die Kirche gefragt hat, ob sie vor Ort präsent sein möchte, katholisch, evangelisch, die großen Konfessionen. Daraufhin wurde auch sofort von Kirchen gesagt: ›Jawohl, wir wollen präsent sein.‹« (Zesche, HDB)

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Religion im urbanen Raum

Die Idee der Stadt, so wird im Interview mit einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung deutlich, war es, auf dem Gadamerplatz, dem geplanten, aber noch nicht errichteten Mittelpunkt des Stadtteils, ein ökumenisches Zentrum zu bauen: »Es gab in der Planung […] auch die Idee, so ein ökumenisches Zentrum auf dem Gadamerplatz direkt zu realisieren. Da kam dann aber keine weitere Rückmeldung seitens der Kirchenvertreter, um das weiter auszufeilen. Ich habe in den Akten bloß ein Schreiben […] gefunden, aus dem ich ableite, dass da nichts kam. Und im weiteren Prozess wurde das dann auch ein bisschen weiter gefasst im Sinne bürgerschaftliches Zentrum, also, schon einen Anlauf-, Mittelpunkt zu schaffen, aber eben jetzt nicht so auf Kirchen fixiert.« (Opitz, HDB) Ergänzend hierzu erzählt ein kirchlicher Mitarbeiter aus der Südstadt, wie er den Planungsprozess der sozialräumlichen Gestaltung der Bahnstadt erlebt hat: »Die Stadt kam auf die Kirchen zu. Sie fänden es schön, wenn die da auch präsent wären. Es gab großartige Planungen für ein ökumenisches Zentrum mit einigen hundert Quadratmetern. Auch schon eine Lage war geplant. Das hat sich dann alles wieder zerschlagen und verändert. Letztlich hat sich dann auch rausgestellt, dass die Kirchenleitungen selbst nicht bereit sind, da viel zu investieren.« (Kuhnert, HDB) Die Pläne, die seitens der Kirche dann tatsächlich in Angriff genommen wurden, orientierten sich demgegenüber an eigenen Bedarfen und Ressourcen: »Wir brauchen in der Bahnstadt einen kirchlichen Raum, wir brauchen eine kirchliche Präsenz. Die nur ökumenisch geht. Und das war von Anfang an auch klar, weil sowohl Freiburg als auch Karlsruhe, also Erzdiözese und Evangelischer Oberkirchenrat, seit einigen Jahren sagen, dass wir keine neuen Kirchen bauen. Und wenn neue Projekte angegangen werden, wir die ökumenische Variante prüfen und überlegen. Aber wir bauen keine Kirche, aus finanziellen Gründen. Das war auch Weisung von Freiburg und Karlsruhe. Die Kirchenleitungen hier vor Ort, die Bezirksleitungen hätten gerne dort eine Kirche gehabt. Einen kirchlichen Raum zumindest, einen gottesdienstlichen Raum.« (Vollmer, HDB) Wie in anderen untersuchten Quartieren auch liegt die Entscheidungsgewalt über die kirchliche Bauplanung nicht bei der Ortsgemeinde, sondern auf mittlerer bzw. landeskirchlicher Ebene (siehe 11.2.3). Dabei orientiert sich das Handeln der kirchlichen Akteure nicht an den Plänen der Stadtentwicklung, sondern an eigenen strategischen Überlegungen. Eine neue Kirche soll schon aus finanziellen Gründen nicht errichtet werden, wohl aber eine alternative Form kirchlich-religiöser Präsenz. Die unterschiedlichen Vorstellungen, die zwischen Stadtverwaltung, lokaler Ortsgemeinde und Kirchenleitung bestehen, zeigen sich auch hinsichtlich der geplanten Größe dieser Präsenz. Die lokalen kirchlichen Mitarbeitenden der Heidelberger Kirchen hätten sich größere Räume gewünscht, die landeskirchlich nicht genehmigt wurden, aber, wie der folgende Interviewauszug zeigt, in der von der Stadtverwaltung favorisierten Lösung am Rand des Gadamerplatzes baulich umsetzbar gewesen wären:

2. Orte

»Und wir hätten gerne Räume gehabt, die sehr viel größer waren. Wir hätten gerne ungefähr 400 Quadratmeter gehabt. Aber das haben uns unsere beiden Kirchen nicht genehmigt. Das Haus war noch in der Planung. Und die [Akteure der Stadtverwaltung] hätten uns auch größere Räume zur Verfügung gestellt. Hätten die auch mit geplant alles.« (Stellmach, HDB) Die Konsequenzen dieser Positionierung seitens der Landeskirche scheint dieser selbst erst im Nachhinein deutlich geworden zu sein: »Erstaunlich ist, dass im vergangenen Jahr der Landesbischof uns darauf angesprochen hat: ›Jetzt bin ich in der Bahnstadt. Warum um Gottes Willen habt ihr nur so kleine Räume?‹ Und hat gedacht, es wäre unsere Schuld. Und wir haben dann gesagt: ›Bitteschön. Wir hätten gern größere oder mehr Räume.‹« (Stellmach, HDB) So wird nun statt eines großen ökumenischen Kirchengebäudes auf dem Gadamerplatz ein Bürgerzentrum mit Bildungs- und Betreuungsangeboten entstehen. Die kirchliche Präsenz ist hingegen in Gewerberäumlichkeiten unterbracht, die sich um Untergeschoss eines Wohnhauses am Rand des geplanten Gadamerplatzes befinden.6 Eine andere Frage, die im Zuge der kirchlichen Bauplanung geklärt werden musste, war die Zuordnung des neuen Standortes zu einer bereits bestehenden Ortsgemeinde bzw. Parochie. Dabei spielten Fragen des Stellenschlüssels eine wichtige Rolle: »Die Christusgemeinde hat sich damals auf Bitten des Stadtkirchenbezirks bereit erklärt, auf die Bahnstadt zu verzichten, weil die Luthergemeinde andernfalls unter die Bemessungsgrenze für eine ganze Pfarrstelle gefallen wäre.« (Müller, HD) Die Bemessungsgrenze für eine volle Pfarrstelle betrug zum Zeitpunkt der Untersuchung 2500 Gemeindeglieder. Durch den zu erwartenden Zuzug könnte, so wurde argumentiert, die Luthergemeinde ihre volle Pfarrstelle halten. Die Verschiebung der parochialen Grenzen führte auch zu Veränderungen auf symbolischer Ebene. So benannte sich die Luthergemeinde in Bergheim um in »Luthergemeinde Heidelberg«. Trotz dieser symbolischen Integration wird die Bahnstadt aus Sicht der Luthergemeinde allerdings als Anhängsel bzw. Fremdkörper empfunden, wie ein kirchlicher Mitarbeiter ausführt: »Das ist ja für uns hier da draußen. Das ist ein Satellit. Ich spreche mal als Bergheimbewohner, als jemand, der ursprünglich hier in Bergheim in der Gemeinde war. Für uns, die aus der alten Struktur der Luthergemeinde kommen, ist die Bahnstadt etwas Neues, ist ein Zusatz. Und wir arbeiten jetzt daran, dass wir wirklich sagen, Luthergemeinde Heidelberg.« (Vollmer, HDB) Wie auch andere Beispiele aus der vorliegenden Studie zeigen, braucht es Zeit, bis ein neuer und ein alter Stadtteil zusammenwachsen: insbesondere dann, wenn bauliche Strukturen für eine räumliche Trennung sorgen. In der Bahnstadt verhindern vor allem die Bahnschienen eine organische Verbindung der beiden Viertel.

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http://heidelberg-bahnstadt.de/b3-am-gadamerplatz, abgerufen am 6.9.2016.

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2.2.3 Ein religiöser Ort wird architektonisch konzipiert: die symbolische Ebene Was die architektonische Gestalt des HALTs angeht, stand von Anfang an fest, dass in der Bahnstadt keine Kirche gebaut werden soll: »Wir machen eine kirchliche Präsenz, wir machen keinen gottesdienstlichen Ort. Wir bauen keine Kirche. Das war klar.« (Vollmer, HDB) Mit dieser Entscheidung, keinen eindeutig als christlich-sakral identifizierbaren Ort zu bauen, verbinden sich Erwartungen an einen Raum, der möglichst vielseitig nutzbar ist: »Wir haben uns mit dem Innenarchitekten besprochen, und das Ergebnis war dann, dass wir gesagt haben, wir möchten einen ästhetisch ansprechenden Raum, der eine gewisse Wärme vermittelt, aber vor allem flexibel ist in seiner Einrichtung. Ein Raum, der Möglichkeiten für einen Stuhlkreis, für eine Seminartischbestuhlung bietet, den man aber auch kleiner oder größer machen kann und der einen möglichst neutralen einladenden Eingangsbereich hat.« (Vollmer, HDB) Der Eingangsbereich sollte vor allem eine niedrigschwellige Zugänglichkeit gewährleisten, der komplette Innenraum aber, trotz seiner geringen Größe, eine flexible Nutzung ermöglichen: »Und das war dann dieses Loungebereichmäßige, was wir jetzt da haben im Eingang. Und die flexiblen Wände, Holzwände, die kann man aufmachen. Dann ist der ganze Saal nutzbar. Und mit der Einrichtung des Loungebereichs, das sollte einladend sein, so ein bisschen eine Hotellobby-Atmosphäre. Das hat der Architekt immer gesagt. Die Hotellobby war sein Vorbild. Wo man einfach mal unverbindlich Platz nimmt, sich hinsetzen und auch wieder gehen kann. Deshalb direkt an der Tür. Deshalb auch die Holzabtrennung hinten in den anderen Raum. Man muss nicht weit in den Raum, um drin zu sein.« (Vollmer, HDB) Der Eingangsbereich soll Zugänglichkeit signalisieren; die multifunktionale Anlage des HALT unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten gewährleisten. Auch der Hauptraum ist entsprechend zurückhaltend gestaltet. Mit dem doppelten Anspruch, einerseits keinen Kirchenraum im engeren Sinn nachzuahmen, andererseits dann aber doch auch als christlich-religiöser Ort erkennbar zu sein, wurde als Kompromiss ein Relief an der Wand angebracht: »Der Raum sollte ein Symbol bekommen. Auch da wollten wir bewusst nichts Aufdringliches. Wir wollten das Ganze wirklich relativ neutral halten. Eben niedrigschwelliger. Dass da nicht das große Kreuz an der Wand hängt, sondern ein Relief, fein ineinandergeschlungene Weinstöcke, die ein Kreuz bilden. Aber man kann da auch anderes hineinlesen.« (Vollmer, HDB) Der interviewte Mitarbeiter betont, dass eine bewusste Entscheidung für ein Symbol getroffen wurde, das vielfältig interpretiert werden kann und dadurch den zugänglichen Charakter des Raumes unterstreicht. Auf der Webseite der Stadtkirche Heidelberg wird diese Darstellung mit der Ökumene in Heidelberg verknüpft. Die Darstellung des Reliefs wird als »Ökumene-Kreuz« bezeichnet:

2. Orte

»Die Idee war, ein Bild aus zwei Bändern zu schaffen, die ineinander verwoben sind und damit ein Kreuz darstellen – Bild für das Miteinander und das Verwoben-Sein in der Ökumene.«7 Die innen- und außenarchitektonische Gestaltung, die nur zurückhaltend auf eine kirchliche Präsenz verweist, wird kontrovers diskutiert. Deutlich wird dies in einem Interview, das mit Vertreterinnen des Stadtteilvereins geführt wurde: »Der HALT ist sozusagen genau wie die Wohnbereiche oder wie eine Kita oder eine Schule, es ist einfach nur ein Raum. Der ist genauso hoch, der ist ähnlich geschnitten, 08/15. Also so, wie er jetzt eingerichtet ist, ist es wunderbar, aber er erinnert mich, wenn ich dort sitze, nicht an Kirchen. Also zum Beispiel in der Lutherkirche, was ich da fantastisch finde, ist diese wahnsinnig tolle hohe Decke und auch das Licht, gerade am Sonntag, da kommt die Sonne raus. Wenn ich an Ostern in St. Bonifatius morgens um fünf an der Osternacht teilnehme, setz ich mich immer an die gleiche Stelle, weil ich mich dann immer freue, wenn die Sonne aufgeht und das Licht durch dieses eine Fenster kommt. Das ist etwas Emotionales. Oder auch das Beispiel Musik. Wie viel Klang kann ich in den HALT hineinbringen? Wie viel Klang findet in einer Lutherkirche oder in St. Bonifatius statt? Das kann ich nicht erreichen mit diesem Raum, der da ist. Das ist ein bisschen schade, und deswegen kann ich mir auch gut vorstellen, dass viele klar sagen, den Gottesdienst oder die Kommunion oder auch andere Feierlichkeiten, Ostern, Weihnachten, die möchte ich in einem Kirchenraum erleben, der für mich mehr Kirche ist als das.« (Abele, HDB) Die Anlage des frei zugänglichen Versammlungsraumes mit multi-funktionaler Ausgestaltung wird von den Nutzenden nicht zwingend als geglückt wahrgenommen. Zum einen wird bemängelt, dass sich der HALT nicht eindeutig genug von anderen Ladenflächen abgrenzt. Er fügt sich nahtlos in die Gestaltung des Stadtteils ein, ohne als religiöser Ort erkennbar zu sein. Zum anderen fehlt dem Raum eine besondere Atmosphäre, die ein Gefühl von Besinnlichkeit oder Feierlichkeit vermittelt. In ähnlicher Sache merkt eine hauptamtliche Mitarbeiterin der Kirche kritisch an: »Wir machen diese Erfahrung selbst oder gerade bei kirchenfernen Menschen, wenn sie dann mal anlässlich einer Trauung oder Taufe tatsächlich wieder einen sakralen Ort aufsuchen: Dann soll er aber auch bitte als solcher identifizierbar sein. Also kein Versammlungsraum, den man tagsüber für Gymnastik und abends für den Gottesdienst nutzt, sondern tatsächlich einer, der sich in der Ästhetik auch als sakraler Raum zeigt.« (Hessler, HDS) Eine hauptamtliche Mitarbeiterin kommt deshalb zu dem Schluss: »Ich glaube, wir müssen schon sagen, was unsere Identität ist. Aber wir können es nicht mit einem Holzhammer machen. Und deswegen liegt mir sehr wohl da dran, dass es auch das Schild gibt, und zwar groß: HALT – Kirche in der Bahnstadt. Das steht da und ist unübersehbar für jeden, der daran vorbeigeht. Leute, die dahin kommen, wissen, 7

https://www.stadtkirche-heidelberg.de/html/aktuell/aktuell_aktuell_u.html?&m=73853&m=738 53&artikel=60899&cataktuell=5889&volltextstichwortsuche=HALT, abgerufen am 22.6.2016.

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Religion im urbanen Raum

hier ist ein anderer Raum als eine Schulhalle, gleichzeitig aber auch niedrigschwellig genug, dass Leute kommen und fragen können. Und nicht gleich durch großen Weihrauch eingesogen werden. Dass auch die Möglichkeit bleibt, zu atmen, was man selber atmen möchte. Und nicht das, was von vorneherein vorgegeben ist.« (Stellmach, HDB) Das angedeutete Spannungsfeld zeigt sich auch bei der Namenswahl: Einerseits soll der Ort eindeutig als kirchlich identifizierbar sein, andererseits soll er die imaginierte Atmosphäre des Stadtteils in sich bergen. In der Planungsphase wurde der HALT für einen vorübergehenden Zeitraum als Kirchenladen bezeichnet: »Der Arbeitstitel war immer: Kirchenladen in der Bahnstadt.« (Vollmer, HDB) Zu einem späteren Zeitpunkt zeigte sich jedoch Bedarf, diese Bezeichnung umzugestalten. Denn die ökonomische Assoziation wird als missverständlich empfunden: »Wir wollen ja nichts verkaufen, sondern in diesem neuen Stadtteil einen Ort schaffen, an dem man Gott suchen und finden kann.«8 Eine andere Idee war, den religiösen Ort als »Haltestelle« zu bezeichnen. Doch dieser Name war durch das gleichnamige Gottesdienstangebot einer Nachbargemeinde schon belegt. Im Interview erzählt der Mitarbeiter, welche Gründe zu der endgültigen Namensgebung führten: Der Titel »HALT – Kirche in der Bahnstadt« kombiniert einen Ausdruck, der prima facie eindeutig zu verstehen ist (»Kirche«), mit einem anderen, der unterschiedlichen Deutungen offensteht (»Halt«). Zum letzteren: »Und wir haben gemerkt, es ist ein ganz schillerndes Wort, das ganz vieles ausdrücken kann. Es erinnert an den Halt der Züge, die da mal gefahren sind. An den Halt, den jemand sucht, oder den jemand gibt. An den Halt während eines Einkaufsbummels, sich mal hinzusitzen und Kaffee zu trinken. Alles Mögliche.« (Kuhnert, HDB) Im Prozess der Namensgebung manifestiert sich damit noch einmal die Grundspannung, den neuen Ort einerseits niedrigschwellig, einladend und (deutungs-)offen zu gestalten und andererseits als religiösen identifizierbar zu machen.

2.2.4 Ein religiöser Ort wird belebt: die Ebene der Diskurse und Praktiken Wie wird aus einem Raum, der für eine multifunktionale Nutzung konzipiert wurde, ein sakraler Raum? Insbesondere der Baustellengottesdienst, aber auch der Gottesdienst zur Einweihung des HALTs dienten dazu, den Raum öffentlich als neuen religiösen Anlaufpunkt im Stadtteil bekannt zu machen. Vom Baustellengottesdienst, einer Art Richtfest, wurde im Gemeindeblatt berichtet. Programmatisch wird der Anspruch erhoben: »Das ökumenische Kirchenzentrum soll ein zukunftsweisender Ort für die Bewohner der Bahnstadt sein, an dem wir sie mit dem christlichen Glauben in Kontakt bringen möchten.« (Vollmer, HDB)

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Ein kirchlicher Mitarbeiter, zitiert nach Diana Deutsch in einem Artikel der Rhein-Neckar-Zeitung vom 18.9.2012.

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Den religiösen Charakter, der dem Ort mit dem Einweihungsgottesdienst verliehen wird, kommentiert ein Mitglied des Stadtteilvereins während der Veranstaltung mit den Worten: »Gott zieht in die Bahnstadt ein.«9 Aber auch danach sind es vor allen Dingen konkrete Praktiken, die den Ort in seinem spezifischen Charakter definieren: »Und wir haben dann überlegt, was machen wir da? Und dann kam uns so, wir probieren einfach mal verschiedene Formen.« (Vollmer, HDB) Die Veranstaltungen und Treffen, die im HALT angeboten werden, befanden sich während des Forschungszeitraums noch in der Erprobungsphase. Manches gelingt und wird ausgebaut, insbesondere die Angebote für Familien und kleine Kinder. Anderes, wie der »offene HALT«, eine Sprechstunde vor Ort, pausiert aufgrund der mangelnden Nachfrage. Einige Veranstaltungen, wie beispielsweise der »geistliche HALT«, haben eindeutig einen religiösen Bezug, andere verbinden religiöse Aspekte mit profanen Themen. Eine solche Verbindung ist bei den Treffen der Krabbelgruppe gut zu beobachten. Dies zeigt bereits die Beschreibung des Angebotes auf der Webseite: »Die Krabbelgruppe im HALT findet immer mittwochs von 10.00 bis 11.30 Uhr statt (ausgenommen sind die Schulferien). Hier treffen sich alle interessierten Mütter und Babys. Wir werden gemeinsam mit den Kindern singen, Fingerspiele machen, biblische Geschichten hören und basteln, es gibt auch viel Zeit zum Austausch über Gott, die Welt und unsere Kinder. Alle sind herzlich willkommen!«10 Bestätigt wird diese Verschränkung religiöser und nicht-religiöser Themen durch eine teilnehmende Beobachtung beim Treffen der Krabbelgruppe, das von einer hauptamtlichen Mitarbeiterin der Kirche geleitet wird. Gegen halb zehn kommen die Mütter mit ihren Kindern an. An diesem Treffen nehmen insgesamt sechs Mütter und sechs Kinder teil. Das Alter der Kinder bewegt sich zwischen zwei bis 13 Monaten. Es gibt biblische Geschichten und deren Bezüge zum jetzigen Leben, Spielphasen und gemeinsames Singen. Es ist nicht förmlich: Eine Frau telefoniert mit dem Handy, andere versorgen ihre Kinder mit Wasser. Die kirchliche Mitarbeiterin teilt den Frauen noch Leuchtsterne für die Kinder aus. Später fragt eine der Frauen nach, wie die Geschichte von Abraham ausging. Die kirchliche Mitarbeiterin erzählt dann von Hagar und ihrem Sohn und berichtet auch, dass Sarah später schwanger wurde. (FFT HDB) Offenkundig ist das Angebot darauf angelegt, den alltagspraktischen Bedürfnissen einer spezifischen Gruppe von Stadtteilbewohnerinnen entgegenzukommen, indem ein Raum der Begegnung für Mütter sowie deren Säuglinge und kleine Kinder geschaffen wird. Gleichzeitig bringt die kirchliche Mitarbeiterin durch das Lied und die biblische Erzählung religiöse Elemente ein, wobei sie versucht, diese mit der Lebenssituation der Anwesenden zu verknüpfen. Das inhaltliche Angebot des HALT ist dabei durch die bauliche Gesamtsituation bedingt, in der sich das Viertel befindet. Bevor der Stadtteil fertig gebaut ist und der Raum nicht mehr am Ende einer Sackgasse liegt, wird er sein volles Potential kaum entfalten können, betont ein kirchlicher Mitarbeiter: 9 10

https://www.ekihd.de/html/aktuell/aktuell_u.html?&cataktuell=&m=14118&artikel=6227&stich wort_aktuell=&default=true&archiv=1, abgerufen am 24.6.2020. http://ekihd.de/html/media/dl.html?v=62456, abgerufen am 10.9.2020.

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»Der offene HALT läuft nicht, weil, das liegt schon im Wort, es gibt kein Laufen – es gibt dort keine Fußläufigkeit. Da läuft niemand vorbei an unserem Laden, da wir diese Randlage an der Baustelle haben. Es wird rechts und geradeaus vom HALT gebaut. Kein Mensch hat einen Grund, hier zu gehen, außer zum Bäcker. Dann gehen sie nicht um die Ecke rum zu uns, sondern sie bleiben beim Eingang vom [Bäcker], das ist auf der anderen Seite, und deshalb haben wir keinen Fußverkehr, keine Marktplatzsituation, mal zu sagen, jetzt gucke ich da mal rein.« (Vollmer, HDB) Dieser geringe Zulauf führte in der Folgezeit dazu, dass der »offene HALT« pausiert, bis der zentrale Gadamerplatz fertig gestellt ist.11 Auch das Schild »HALT – Kirche in der Bahnstadt«, durch das der Ort überhaupt erst für Passanten als religiöser Ort erkennbar wird, ist aufgrund der baulichen Situation für Passanten temporär kaum einzusehen. Erst wenn der Gadamerplatz fertig gebaut ist und man von diesem auf den HALT blickt, sei mit einer erhöhten Aufmerksamkeit zu rechnen, wie ein Mitarbeiter hofft: »Wir liegen am zentralen Platz, wo in zwei Jahren das Leben brummen wird. Und ich gehe davon aus, wenn das mal soweit ist, direkt vor der Haustür soll eine Grünanlage entstehen und so schräg rechts der große Gadamerplatz. Von dort aus sieht man genau die Schrift an der Säule ›HALT‹. Es wird dadurch viel mehr zu einem Bestandteil im Leben dort werden, und dass man es wahrnimmt.« (Kuhnert, HDB) Nicht nur aufgrund seiner architektonischen Formsprache, sondern auch in seinem noch in Erprobung befindlichen Angebotsprofil befindet sich der HALT in einem Zwischenzustand – wobei die kirchlichen Akteure hoffen, dass mit der Fertigstellung des Viertels zumindest letzteres sich bewähren und verstetigen wird.

2.2.5 Zwischenfazit: Dynamiken religiöser Ortswerdung Das ökumenische Projekt HALT in der Heidelberger Bahnstadt weist eine Reihe von Kennzeichen auf, die auch für andere kirchliche bzw. religiöse Räume in neuen Stadtquartieren charakteristisch sind. Das gilt erstens für sein Zustandekommen und seine konzeptionelle Entwicklung. Diese steht unter dem Einfluss einer Vielzahl von unterschiedlichen Sachzwängen und Rationalitäten. Die Konstruktion eines religiösen Ortes erweist sich bei näherem Hinsehen als Ko-Konstruktion unterschiedlicher Akteure. Planung und Gestaltung eines religiösen Ortes werden durch eine Vielzahl an Akteuren, administrativ-politischen Rahmenbedingungen und bauplanerischen Gegebenheiten mitbestimmt. Charakteristisch für die Situation von Religion in neuen Stadtquartieren erscheint zweitens der hybride Charakter des HALT, der zwischen einer profanen und einer religiösen Codierung oszilliert.12 Dieses Oszillieren hat dabei weniger den Charakter eines ›sowohl-als auch‹, als vielmehr denjenigen eines ›weder-noch‹: Es handelt sich weder um eine klassische Kirche noch um einen rein profanen Raum. In entsprechender Weise sind auch seine Nutzungsmöglichkeiten präformiert: Der HALT schließt weniger Nutzungsarten aus als ein barocker Kirchenraum, bietet dafür aber auch keinen bzw.

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https://www.kirche-in-der-bahnstadt.de/, abgerufen am 7.9.2016. Näher ausgeführt wird dieser Punkt im folgenden Kapitel 3.

2. Orte

nur einen reduzierten Geltungsschutz für religiöse Praktiken wie Gebet und Gottesdienst. Schließlich, drittens, kann die Lage im Übergang, in der sich der HALT befindet, als paradigmatisch angesehen werden: in jetziger, temporärer Randlage bezüglich des Stadtviertels sowie in Erwartung einer zukünftig mehr zentralen Position, wenn das Zentrum des Viertels selbst denn einmal fertig gestellt sein wird. Der Raum hat für die, die ihn nutzen, so den vorläufigen Charakter eines Provisoriums. Ko-konstruiert, weder heilig noch profan, provisorisch: Damit sind in sich spannungsvolle Dynamiken markiert, in denen sich die Ortswerdung von Religion nicht nur im untersuchten Beispiel vollzieht. Während diese Dynamiken – im Sinne der Einleitung des Kapitels – dabei allesamt der übergreifenden Fragestellung zugeordnet werden können, wie ein neuer religiöser Ort entsteht und wie es ihm dabei gelingt, als religiöser identifizierbar zu werden, soll mit den folgenden Ausführungen noch einmal ein Wechsel in der Perspektive vollzogen werden: Die Frage lautet nun, wie sich religiöse Orte in unterschiedlicher Weise mehr oder weniger programmatisch auf ihre Umgebung beziehen, dadurch in ihrer »Eigenlogik« geprägt werden und ihr je spezifisches stadträumliches Profil gewinnen.

2.3 Religiöse Orte in Beziehung zu ihrer städtischen Umgebung Religiöse Orte stehen in komplexer Wechselbeziehung mit ihrer stadträumlichen Umgebung – und dies in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Im Folgenden werden vier Typen voneinander unterschieden, die sich einerseits phänomenologisch voneinander abheben, andererseits zumindest teilweise auch schon als Typen theoretisch konzeptualisiert wurden. Das ökumenische Projekt HALT in der Heidelberger Bahnstadt versteht sich programmatisch als ein niedrigschwelliger Ort, der Zugangsmöglichkeiten für die Stadtteilbevölkerung eröffnen bzw. erleichtern will (2.3.1). Dem kann paradigmatisch das Beispiel eines Stadtklosters gegenübergestellt werden, das sich als religiöser Andersbzw. Gegen-Ort zu seiner stadträumlichen Umgebung exponiert (2.3.2). Ein dritter Ortstyp verbindet Elemente von beidem: eine starke religiöse Binnenprägung (Kloster) mit einer programmatischen Öffnung für den Stadtteil (niedrigschwelliger Ort). Dieser Typ wird im vorliegenden Kontext als »dritter Ort« bezeichnet (2.3.3). Noch einmal quer zu dieser Logik liegen schließlich temporäre religiöse Praktiken, die sich auf die konkrete Örtlichkeit des Stadtquartiers beziehen (2.3.4).

2.3.1 Niedrigschwellige Orte Die im Folgenden in den Blick genommen Orte verstehen sich programmatisch als ›niedrigschwellig‹. In dieser Metapher ist enthalten, dass Barrieren zwischen unterschiedlichen Bereichen – einem ›Innen‹ und einem ›Außen‹ – abgebaut bzw. möglichst erst gar nicht errichtet werden sollen. Sie verstehen sich darüber hinaus als Zwischenorte, worin zugleich ein Teil ihrer Problematik begründet liegt, weil dasjenige, was zwischen zwei Orten liegt, selbst in gewisser Hinsicht ›ortlos‹ ist. Ein Beispiel für die konzeptionelle Ausrichtung eines religiösen Ortes als Schwelle bzw. Übergangszone begegnete bereits in der Planung des HALTs in Heidelberg (siehe

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Religion im urbanen Raum

2.2.3). Die auf solche Weise entstehenden religiösen Orte sind, wie die Bilder der Hotellobby und des Begegnungsraumes verdeutlichen, »nicht mehr [nur] Versammlungsort einer Gemeinde, sondern auch und zugleich eine ›Übergangszone zwischen Innen und Außen‹, in der sich die Frage nach Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft, Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit noch nicht und nicht zu allererst stellt.« (Erne 2010: 193) In anderen Worten: Mit der Idee der Zugänglichkeit sind Raumhierarchien verbunden. Es existieren Zwischenräume, denen Haupträume übergeordnet sind. Die Hotellobby verweist auf das hinter ihr liegende Hotel, die Vorhalle der Kathedrale auf das Langhaus und den Chor. Werden aber Räume als Zwischenräume gestaltet, zu denen es keine Haupträume gibt – wird etwa eine Vorraumsituation gestaltet, hinter der sich dann keine ›richtige Kirche‹ befindet –, so kann der Eindruck entstehen, dass sie keinen ›eigentlichen‹ Raum bieten. Die Anlage eines kirchlichen Zwischenraums kann so das Fehlen eines ›echten‹ Kirchenraumes umso deutlicher machen. Die intendierte Niedrigschwelligkeit ist so gesehen durchaus ambivalent zu beurteilen. Einerseits orientieren sich viele religiöse Orte in neuen Stadtquartieren an der Lebenswelt der Stadtteilbewohnerinnen und fordern von den Besuchern wenig ab, wie auch ein Beispiel aus Karlsruhe zeigt: »Ja, dadurch, dass das schon so ein Begegnungsraum sein soll, […] war schon der Gedanke da, so ’ne kleine Theke zu machen und des so ein bisschen cafémäßig einzurichten, aber natürlich mit einer Kinderecke auch, dadurch kamen irgendwie die Möbel dann zustande. Und auf jeden Fall, eben, wollte ich es gerne bunt haben.« (Demant, KA) Das hier beschriebene »Senfkorn« in Karlsruhe mit einer Kinderecke und einem Café ist nicht als dezidiert religiöser Raum gekennzeichnet. Vielmehr verwischen sich hier die Grenzen zwischen säkularem und religiösem Raum, da er anderen Orten ähnelt, die Menschen in ihrer Freizeit aufsuchen (Becci, Burchardt, Giorda 2016: 8). Die Gestaltung des »Senfkorns« begünstigt informelle, kurzzeitige, durch niedrige Verbindlichkeit gekennzeichnete Interaktionen, wobei als allgemeine Regel zu gelten hat, dass Räume dabei helfen »zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie kanalisieren, […] welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Interaktionsabläufe« (Schroer 2007: 41ff). In diesem Sinne zeigt sich der Raum als niedrigschwellig zugänglich.13 Andererseits kann die ›niedrigschwellige‹ Gestaltung der Räume ihrem Charakter als (auch) religiöse Orte geradezu entgegenwirken, wie ein hauptamtlicher kirchlicher Mitarbeiter in Freiburg darlegt: »Und dann tauchte auch […] diese Glasfassade auf […]. Die war nicht gestaltet. […] Es war Glas. Damals war [das] Motto, wir wollen transparente Kirche sein. Also brauchen wir nichts, was uns da verdeckt. Man sieht auch die wunderschönen Lamellen, die da hängen. Also, es war wirklich büromäßig. Aber der Gedanke war, transparent zu sein. Aber es war faktisch so, dass hier kein Mensch zur Ruhe kommen konnte, weil es so

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Allerdings ist zu fragen, inwiefern das Erscheinungsbild des Raumes und seine ästhetischen Codes auf ein bürgerlich-mittelständisches Milieu ausgerichtet sind und dadurch bestimmte andere soziale Gruppen am Betreten hindern (Wehrheim 2002: 29).

2. Orte

transparent war, dass man weder innen noch außen abgeschirmt war. Meditation ging faktisch gar nicht, weil man auf der Straße sitzt.« (Reese, FB) Die materielle Ausgestaltung weist einerseits geringe Zugangsbarrieren auf. Dies hat jedoch andererseits Auswirkungen darauf, welche Praktiken in den Räumen möglich sind und welche nicht. Das so bezeichnete Spannungsfeld findet sich auch auf symbolischer Ebene wieder, wie bereits am Beispiel der Gestaltung des HALT deutlich wurde (siehe 2.2.3). Er, wie auch andere neu geschaffene kirchliche Räume, weisen, wenn überhaupt, eine zurückhaltende religiöse Symbolik auf, die den Anspruch auf die Zugänglichkeit der Räume unterstützt. »Wir wollten es wirklich relativ neutral halten das Ganze. Eben niederschwelliger. [D]ass da [nicht] irgendwie das große Kreuz an der Wand [hängt], sondern das ist ein Relief, das sind fein ineinandergeschlungene Weinstöcke, die […] natürlich, die ein Kreuz bilden. Aber man kann da auch anderes hineinlesen.« (Vollmer, HDB) Die gewünschte Zugänglichkeit birgt aufgrund der Vieldeutigkeit der Symbole eine Spannung in sich, die eine leitende Mitarbeiterin der Kirche im Interview deutlich zum Ausdruck bringt: »[I]ch glaube, wir müssen schon sagen, was unsere Identität ist. […] Eine Kreuzessymbolik oder Kreuz im Raum, so dass das auch klar ist. Aber gleichzeitig eben auch, [dass die] Leute, die dahin kommen, wissen: Hier ist ein anderer Raum als eine Schulhalle.« (Stellmach, HDB) Der Wunsch nach wenig ausgrenzend wirkender Symbolik konfligiert an dieser Stelle sowohl mit dem kirchenleitenden Wunsch nach »Sichtbarkeit« in der Stadt als auch mit der Einsicht, dass bestimmte Praktiken wie Gebet oder Meditation durch einen bestimmten ästhetischen und symbolischen Geltungsschutz vereinfacht werden. Gebetet werden kann auch im Supermarkt, aber mindestens für manche ist es in einer Kathedrale doch einfacher. Die kirchlich angemieteten Ladenräume befinden sich, materiell wie symbolisch, irgendwo zwischen Supermarkt und Kathedrale. Hier ist eine nicht abgeschlossene Suchbewegung zu verzeichnen, die, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll, auch im Wunsch nach heterotopen religiösen Räumen einen Ausdruck finden kann.

2.3.2 Heterotope Ein Gegenbild zur Erzeugung öffentlicher Zugänglichkeit durch Niedrigschwelligkeit ist das der religiösen Heterotopie (Foucault 2005: 10). Das kann verdeutlicht werden am Beispiel eines Stadtklosters in der Karlsruher Südstadt, das als ein programmatischer Gegen-Ort zum umgebenden Stadtraum projektiert wird. Zunächst ist aber der auf den französischen Philosophen Michel Foucault zurückgehende Begriff der Heterotopie selbst noch näher zu erläutern. Als Beispiele führt Foucault unter anderem Kinos, Gärten, Friedhöfe und Gefängnisse an. Heterotopien schaffen »einen anderen realen Raum […], der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist« (a.a.O.: 19–20) beziehungsweise »vollkommen anders als die übrigen« (a.a.O.: 10) ist. Sie widersetzen sich, ersetzen, reini-

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Religion im urbanen Raum

gen und neutralisieren die Orte, zu denen sie in Beziehung stehen. So erhalten sie »eine besondere Funktion im alltäglichen ›sozial-räumlichen‹ Beziehungsnetz« (Baumgärtner 2009: 183). Ein weiteres Charakteristikum solcher Gegenorte ist, dass sie »oft in Verbindung mit besonderen zeitlichen Brüchen« stehen (Foucault 2005: 16). Sie sind entweder wie Museen und Bibliotheken auf quasi-ewiges Bestehen hin angelegt oder wie Jahrmärkte und Theater programmatisch temporär. Weiterhin besitzen sie ein »System der Öffnung und Abschließung, welches sie von der Umgebung isoliert« (a.a.O.: 16). Das noch zu realisierende Stadtkloster in Karlsruhe stellt einen solchen »anderen Ort« zu dem Stadtteil und dem Platz dar, an dem es liegen soll. Auf diesem belebten, durch Kneipen und verschiedene kulturelle Einrichtungen geprägten Platz halten sich oft Menschen auf, die der Vermutung nach in der näheren Umgebung wohnen, hier Alkohol trinken und andere Drogen konsumieren. Im Stadtteil leben zudem viele Menschen, deren Leben, so die hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiter vor Ort, durch Einsamkeit, Armut und Krankheit geprägt ist. Die heterotope Qualität des bisher nur imaginierten Stadtklosters ergibt sich bereits durch die materielle Gestalt der Kirche, die zu ihm gehören soll: »Und es ist eine wunderschöne Anlage.« (Olschewski, KA) »[W]ir haben ja so einen tollen Saal […]. Sie haben diesen Raum. Sie haben die Weite des Raumes. Und das Licht, wie das reinfällt.« (Degen, KA) In Spannung zu dem als hell, klar und weit empfundenen Kirchenraum steht die Beschreibung des Platzes und des Stadtteils: »Und [der Platz] ist ja, wie kann man das sagen, ohne das so abzuwerten, ich will nicht krank sagen. Es ist aber, das ist gebrochen. Körper, Geist, Seele ist gebrochen […]. Und wenn man hier so etwas machen könnte, was Einheit vermittelt […].« (Degen, KA) Aus Sicht der kirchlichen Mitarbeiter steht ein lichter, sakraler Kirchenraum einem heruntergekommenen, gebrochenen öffentlichen Raum gegenüber. Von der Profilierung und Stärkung des religiösen Raums erhoffen sie sich die Schaffung eines Gegengewichts, von dem eine versöhnende, ja heilende Wirkung auf die Umgebung ausgeht. Diese Funktion als Gegengewicht vermag das imaginierte Stadtkloster aber nur zu erfüllen, wenn es durch eine religiöse Abständigkeit gegenüber dem urbanen Raum gekennzeichnet ist und bleibt: »Das kann nicht darum gehen, dass wir jetzt hier das Kulturzentrum des [Stadtteils] werden, und alle dürfen hier ihre Partys feiern. Das ist nicht das, da würden wir uns selbst verlieren. Und das würde […] letztlich, würde ich behaupten, auch dem Stadtteil nicht guttun. Weil, da gibt es auch andere Lokalitäten dafür.« (Olschewski, KA) »[S]o ein stilles Element, nicht Tageszeitgebete, schon wieder diese traditionelle Form, aber so etwas, wo die Leute wissen, da kommen wir hin, da kann man ruhig werden, und da kann ich eine Kerze anmachen, immer ganz wichtig: Kerze anmachen.« (Degen, KA) Mit anderen Worten: Das Stadtkloster soll ein Ort der Ruhe und des Rückzugs werden. Es bildet somit den Gegenort zum umgebenden Platz und dem Stadtteil. Dies formuliert auch ein ehrenamtlich für die Kirche Tätiger:

2. Orte

»Kloster hat ja auch was mit Klausur, oder mit sich abschließen […] zu tun. Und wir […] könnten mit einem Kloster quasi im Getriebe der Stadt, in dieser Unruhe des Lebens und des Nichtwissen[s] – wo ich stehe und weiß, wo ich hingehe und: ›ich bin in zwei Jahren schon wieder woanders‹ und habe keinen Raum hier, weil ich am Rande stehe –, mit dem Kloster, mitten in der Stadt, einen Raum zu bieten, der, genau: sich abschließen und zurückziehen, besinnen auf diese Momente, [der all das] ermöglicht. Und das hat einen […] ganz spannenden Aspekt. Also drum herum tobt das Leben, und wir sind dann plötzlich ein Ort auch mal der Stille. Und über die Stille, glaube ich, oder über Musik und über Meditation, über Gesprächsmöglichkeiten, da lässt sich dann plötzlich wieder anknüpfen.« (Erdmann, KA) Auf dem Feld der Möglichkeiten religiöser Verräumlichung bildet das geplante Stadtkloster das dem Kirchenladen diametral entgegengesetzte Extrem. Während der Kirchenladen sich in den städtischen Raum einfügen soll und durch einen möglichst nahtlosen Übergang den Besuchern wenig abverlangt, ihnen gleichsam entgegenkommt, wird im Stadtkloster versucht, durch Abgrenzung vom Stadtquartier auf Kosten der Zugänglichkeit ein anderes Angebot herzustellen: das der Besinnung. Die Gesprächspartner stellen sich das Stadtkloster als einen Ort vor, der sich vom städtischen Leben abgrenzt und zu diesem eine Art religiösen Gegenpol darstellt. In diesem kirchlichen Binnenraum sollen über verschiedene Angebote wie Musik, Meditation und Gespräche Beziehungen geknüpft und den Besuchenden Momente der reflexiven Distanz ermöglicht werden. Mit der religionstopographischen Polarität von Stadtkloster einerseits und Kirchenladen andererseits verbinden sich demnach unterschiedliche Vorstellungen davon, welche religiösen Praktiken im städtischen Umfeld eine Rolle spielen (sollen), aber auch vom Verhältnis zwischen Religion und urbanem Raum überhaupt: Religion ist zugleich Teil und Gegen-Teil ihrer stadträumlichen Umgebung.

2.3.3 Dritte Orte Das Konzept des dritten Ortes (third place) geht auf den Soziologen Ray Oldenburg zurück (Oldenburg 1999). Oldenburg hat dabei primär Orte im Blick, die weder dem familiärprivaten Bereich, noch dem Arbeitskontext zugeordnet sind, sondern sich durch öffentliche Zugänglichkeit und kommunikativen Austausch auszeichnen und der Pflege des Gemeinwesens dienen. Von dort aus ist das Konzept in neuerer Zeit auch in praktischtheologischen und kirchentheoretischen Kontexten rezipiert worden. So unterscheidet der Berliner Theologe und Bischof Christian Stäblein zwischen der klassischen Parochie (erster Ort), funktionalen Sonderbeauftragungen (zweiter ›Ort‹) und experimentellen Formen von kirchlichen Neuaufbrüchen, die gleichsam neben der Spur etablierter Strukturen liegen, und bezeichnet letztere als »dritte Orte« (Stäblein 2017). Im vorliegenden Zusammenhang sollen dritte Orte einen Typus religiöser Präsenz bezeichnen, die ein starkes religiöses Binnenprofil mit einer programmatischen Öffnung für ihre stadträumliche Umgebung verbinden. Damit tritt ein Ortstyp in den Blick, der Momente der Übergangszone (2.3.1) und der Heterotopie (2.3.2) in sich vereint. Als Beispiel dafür kann das ökumenische Forum in der Hamburger Hafencity angeführt werden. Die Fassade des Gebäudes, das von einem ökumenischen Trägerverein in dem

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Religion im urbanen Raum

neuen Stadtteil geplant wurde, verdeutlicht die intendierte Verbindung von Stadt und Religion: Auf der Straßenseite wölbt sich die Fassade in das Gebäude hinein, ein Kreuz aus andersfarbig abgesetzten Backsteinen wölbt sich mit – ein Sinnbild dafür, wie Stadt Religion und Religion das Gebäudeinnere prägen soll. Auf der gegenüberliegenden Hausseite, in der Kapelle, wölbt sich die Fassade ebenfalls, nun aber nach außen. Dies soll nach einem Mitglied des Trägervereins andeuten, wie Religion »aus dem Haus heraustritt und Platz in der Stadt und auch im Stadtteil einnimmt« (Loewe, HC). Das religiöse Binnenprofil des Forums wird während des Zeitraums der Forschung durch eine ökumenische Hausgemeinschaft geprägt. Ökumene wird von den Bewohnerinnen dabei als Praxis begriffen, bei der die unterschiedlichen geistlichen Traditionen und religiösen Stile nebeneinanderstehen und gelebt werden dürfen, etwa die altkatholische Lichtvesper neben dem Worship United Gottesdienst, Exerzitien neben lutherischer Tradition, immer jedoch »verbunden in Gott, verbunden in Christus, verbunden durch das Evangelium« (Loewe, HC). Das zeigt sich auch in der überkonfessionellen, bilderfreien Gestaltung der Kapelle. Neben der Praktizierung eigener religiöser Traditionen ist für das Selbstverständnis des Forums das zivilgesellschaftliche Engagement im Viertel bedeutsam. Zum Forschungszeitraum suchen die Bewohnerinnen allerdings noch nach einer Form, in der der gewünschte Sozialraumbezug konkrete Gestalt gewinnen kann. Ein positives Beispiel, das lebendig erinnert wird, war der Sommer 2015, als das Forum für Geflüchtete, die am Hamburger Hauptbahnhof ankamen, seine Türen öffnete: »Ich erinnere mich noch an die Anfangsphase, als viele Flüchtlinge hier angekommen sind, die auf der Durchreise waren. Gestrandet am Hauptbahnhof, wollten sie am nächsten Tag weiter nach Dänemark oder Schweden und brauchten einen Unterschlupf für die Nacht. Die Hausgemeinschaft des Ökumenischen Forums hat die Menschen dann abgeholt und eine Nacht im Ökumenischen Forum beherbergt. Das war die ganze Hausgemeinschaft, die engagiert war.« (Kaufmann, HC) Charakteristisch für das ökumenische Forum als »drittem Ort« ist die Spannung zwischen einer starken religiösen Binnenprägung des Hauses auf der einen Seite, in der Wert auf die gelebte Praxis unterschiedlicher religiöser Prägungen und Tradition gelegt wird, und dem Selbstverständnis als öffentlicher ›Player‹ im Viertel auf der anderen Seite. Diese doppelte Ausrichtung spiegelt sich auch in dem ursprünglichen Titel des Trägervereins »Brücke e.V.«. Allerdings wird selbstkritisch von den Bewohnern bemerkt, dass das Zusammenleben und die Gestaltung des religiösen Alltags einen Großteil der Energien binden, so dass der Schwerpunkt auf der Gemeindearbeit im Haus und weniger auf der Gemeinwesenarbeit im Sozialraum liegt. Das wird besonders deutlich im Kontrast zu der in dieser Hinsicht sehr umtriebigen benachbarten Hauptkirche St. Katharinen, die, wie im folgenden Abschnitt deutlich wird, eine andere Strategie religiöser Selbstverortung im Stadtteil betreibt.

2.3.4 Der städtische Raum als Ort temporärer religiöser Praxis Fragt man nach religiösen Orten in neuen Stadtquartieren, mag man zuerst an Gebäude denken, die mehr oder weniger deutlich einen Bezug zu einer bestimmten Glaubenstra-

2. Orte

dition erkennen lassen. Wie in der Einleitung dieses Kapitels verdeutlicht, ist das aber nur eine mögliche Betrachtungsperspektive. Die Religionsethnologin Irene Becci hat den Blick auf den Sachverhalt gelenkt, dass religiöse Akteure in der Stadt über unterschiedliche räumliche Ressourcen verfügen: Während einige Immobilien in Gestalt von Räumen und Gebäuden besitzen, sind andere ständig auf der Suche nach Orten für ihre Religionsausübung. Ihre Orte sind nicht dauerstabil, sondern transitorisch, müssen immer wieder neu angeeignet und von profanen in religiöse Orte ›verwandelt‹ werden. Doch auch die landeskirchlich etablierten Glaubensgemeinschaften betätigen sich zuweilen als solche place maker, wenn sie ihre Binnenräume verlassen und den Stadtraum religiös besetzen – etwa in Form einer Karfreitags-Prozession oder der Feier eines Gottesdienstes auf der Open-Air-Bühne eines Stadtteilfestes. Solche Orte sind oft mit temporären Architekturen und Symboliken verbunden – einem improvisierten Altar mit Kreuz, einem Bauwagen als mobiler Kirche, einem geliehenen Pferd und Reiter als Veranschaulichung einer Heiligenlegende für den St.-Martins-Umzug. Davon noch einmal phänomenologisch abgehoben werden können Praktiken wie religiös motivierte Stadtteilspaziergänge, Straßenexerzitien oder urbane Pilgertouren. Auch diese sollen im Kontext der vorliegenden Studie als Ausdruck einer Ortswerdung von Religion verstanden werden. Als ›religiöser Ort‹ kommt nun aber kein religiöser Binnenraum, sondern der Stadtteil selbst in den Blick, der im Rahmen einer mehr oder weniger religiös motivierten Praxis begangen, wahrgenommen und erkundet wird.14 Eine explizite Verknüpfung von religiöser Praxis und Erkundung des Stadtraums liegt dem Konzept der Straßenexerzitien zugrunde, das auf den Jesuiten Christian Herwartz zurückgeht und inzwischen in mehreren deutschen Städten angeboten wird: »Bei Straßenexerzitien sind die Teilnehmenden auf der Straße unterwegs. Hierbei folgen sie den Bewegungen der eigenen Sehnsucht. Sie lassen sich ein auf ungewohnte Lebenswelten – oft auf Menschen am Rande der Gesellschaft. So üben sie, sich selbst, den anderen und darin Gott zu begegnen.«15 Im Kontext der vorliegenden Untersuchung begegneten demgegenüber eher implizite religiöse Bezüge im Zusammenhang von angeleiteten Stadtraumerkundungen. So wird die Bedeutung von Stadtteilspaziergängen zunächst noch gar nicht in einem religiösen Kontext, sondern als pädagogisches bzw. bildungspolitisches Instrument der Auf-

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Diese Thematik könnte auch an anderer Stelle der vorliegenden Studie verhandelt werden, zudem sie zu der bisherigen Darstellungslogik in gewisser Weise quer liegt. Dennoch sprechen mehrere Gründe dafür, sie im vorliegenden Kontext aufzugreifen. Zum einen wird dadurch unterstrichen, dass die Ortswerdung von Religion nicht auf die Errichtung von Gebäuden oder Einrichtung von Räumen beschränkt ist. Ist mit der Ortswerdung von Religion vielmehr das Thema räumlich identifizierbarer religiöser Praktiken verknüpft, ist der Blick entsprechend phänomenologisch zu weiten. Zum anderen sind viele religiöse Orte und Architekturen, die in neuen Stadtquartieren beobachtet werden können, von provisorischer bzw. temporärer Natur – wie etwa die Errichtung eines temporären liturgischen Raumes auf der Bühne eines Stadtteilfestes (siehe 1.3.2 und 6.3.3). Ergänzend dazu sollen im Folgenden auch Praktiken von Stadtexerzitien und Pilgertouren als temporäre religiöse Praktiken beschrieben werden. https://strassenexerzitien.de/, abgerufen am 17.9.2022.

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Religion im urbanen Raum

merksamkeitssteigerung von einem Hamburger Stadtplaner verstanden, der eng mit der evangelischen Hauptkirche St. Katharinen kooperiert: »Also der Stadtspaziergang und auch der kommentierte Spaziergang ist eine Beteiligungsstrategie […]. Es ist eine Strategie der Öffnung. Sogar eine der stärksten, wie ich finde, also wenn man alle Leute wachrüttelt, rausholt und jeder den Stadtraum sinnlich erfährt, zu Fuß, mit der Nase, weil er riecht, schmeckt, weil er angepöbelt wird, weil er irgendwo nicht zurechtkommt. Oder auch überrascht wird, im positiven Sinne. Dem ist der Ort nicht mehr egal dann. Also das physische Aufsuchen eines Ortes führt schon zu einer ersten Veränderung in der Wahrnehmung.« (Saenger, HC) Eine besondere Form solch einer Stadtteilbegehung stellt eine geführte Barkassen-Tour dar, die der Stadtplaner zusammen mit dem ortsansässigen Pastor entwickelt hat. Lokale Akteure aus Kirche, Kultur und Zivilgesellschaft versammeln sich auf einem Schiff und nehmen die urbane Umgebung, in der sie wirken, vom Wasser aus wahr: »Was ich erlebt habe, ist, dass vom Wasser die Perspektive anders ist, ein bisschen versöhnlicher, als wenn man sich auf der Straße mit LKWs da durchschlägt und an Straßenstrich vorbei und an all den Widrigkeiten.« (Saenger, HC) Die temporäre Ortsaneignung steht im Zeichen eines Perspektivwechsels, der zwar nicht explizit religiös motiviert sein muss, aber einer religiösen Deutung (»versöhnlich«) offensteht. Eine weitere Form der temporären Ortsaneignung ist der »Katharinenweg«. Dabei handelt es sich ebenfalls um eine geführte Tour, welche vom Hamburger Rathaus zur Hauptkirche St. Katharinen und weiter in die Stadtteile Wilhelmsburg und Harburg führt. Ein Ziel der Veranstalter war dabei, die Aufmerksamkeit auf die politische Debatte und den Protest gegenüber dem als lieblos empfundenen Städtebau rund um die St. Katharinenkirche zu fokussieren. »Wir […] haben angefangen, mit Künstlern und mit Fahrrädern diese Strecken zu fahren und ein Stadtgefühl zu entwickeln und haben im Grunde so ein bisschen im lockeren Format eine Art Pilgertour gemacht. Und haben damit auf der einen Seite Stadt erkundet und Stadtzusammenhänge erkannt, aber auch das Katharinenviertel, wo Katharinen steht, in einen Stadtkontext gesetzt, und damit auch eine Art Öffentlichkeitsarbeit, Stadtaufmerksamkeit geschaffen.« (Gertz, HC) Der Pfarrer deutet den Weg, der ja schon im Namen einen religiösen Bezug erkennen lässt, als »eine Art Pilgertour«. Er beschreibt ihn als Weg, der Erkenntnisprozesse fördern soll: in diesem Fall allerdings nicht vorrangig innere Erkenntnisvorgänge, wie beim klassischen Pilgern, sondern äußere, auf den Stadtkontext bezogene. »Stadtaufmerksamkeit« wird als ein Ziel formuliert. Zugleich geht es ihm ausdrücklich darum, das Bewusstsein für den Zusammenhang zwischen dem religiösen Ort St. Katharinen und seiner stadträumlichen Umgebung zu stärken. Mit dem Ökumenischen Forum (siehe 2.3.4) und der Stadtteilarbeit der Hamburger Hauptkirche St. Katharinen stehen sich damit in gewisser Weise zwei diametral gegenüberliegende Modelle kirchlicher Selbstverortung in der Hamburger Hafencity gegenüber: Während sich das Ökumenische Form als ein »dritter Ort« im Quartier zu etablieren versucht, der durch ein starkes binnenreligiöses

2. Orte

Gemeinschaftsprofil gekennzeichnet ist, das in den Stadtraum hinein ausstrahlen will, macht sich St. Katharinen buchstäblich ›auf den Weg‹, um den urbanen Raum zu erkunden und so die Wahrnehmung für die Lage vor Ort einschließlich ihrer sozialen und religiösen Bedarfe zu schärfen.

2.4 Fazit Kirchen, Tempelanlagen, Kapellen, Klöster – die Präsenz religiöser Orte prägt den Stadtraum seit der Antike bis auf den heutigen Tag. Religiöse Orte liegen oft an zentraler Stelle, haben eine herausgehobene Architektur und sind weithin erkennbar. Sie haben dabei nicht nur die Funktion, religiöse Praktiken zu ermöglichen, sondern sind auch bedeutsame Markierungen innerhalb der städtischen Raumgliederung (siehe Kapitel 1). Anders stellt sich die Sache in neuen Stadtquartieren dar: Ob und wenn ja in welcher Form hier eigenständige religiöse Orte entstehen sollen, ist hier eine offene Frage. Die lange Zeit gewählte Vorzugsoption seitens der christlichen Religionsgemeinschaften bestand darin, in dem geplanten Gebiet Baugrund zu erwerben und ein religiöses Gebäude in Form einer Kirche oder eines Gemeindezentrums zu errichten (siehe Kapitel 11). Allerdings machen sie von dieser Möglichkeit kaum noch Gebrauch. Aufgrund von leerstehenden Gemeinde- und Kirchengebäuden verzichteten sie in den neueren Quartieren, die im Rahmen der vorliegenden Studie untersucht wurden, ausnahmslos auf die Errichtung neuer Kirchengebäude im klassischen Sinn. Stattdessen wird entweder mit neuen Formen von religiösen Orten experimentiert oder in bereits vorhandene lokale Strukturen investiert, die erneuert und ausgebaut werden sollen. Die Errichtung eines religiösen Ortes hat unter solchen Voraussetzungen den Charakter eines längeren Prozesses der Ortswerdung, der durch verschiedentliche Suchbewegungen gekennzeichnet ist. Analytisch kann dieser Prozess in Phasen unterteilt werden, die von ersten, tastenden Orientierungsbemühungen über die Entwicklung eines Konzepts bis hin zur Belebung des neuen Ortes durch konkrete Angebote und Praktiken reichen. Ferner erweist sich die Konstruktion eines religiösen Ortes angesichts unterschiedlichster Sachzwänge und Rationalitäten als Ko-Konstruktion unterschiedlicher Akteure. Die Planung und Gestaltung eines religiösen Ortes in einem neu entstehenden Stadtteil werden durch eine Vielzahl von Interessen, administrativ-politischen Rahmenbedingungen sowie der baulichen Gesamtsituation mitbestimmt. Schließlich befinden sich religiöse Orte in neuen Stadtquartieren hinsichtlich ihrer stadträumlichen Lage oft in einer Übergangssituation: Die gegenwärtige Randlage soll einmal zentral werden, wenn die Stadtmitte erst einmal fertiggestellt ist. Die Ortswerdung von Religion ist dabei mit unterschiedlichen inhaltlichen Thematiken verknüpft. An ihr hängt erstens das Thema der Identifizierbarkeit: Dass Religion im städtischen Raum ›vorhanden‹, präsent und sichtbar ist, hängt an Orten, die eine – wie immer näher bestimmte – religiöse Identität besitzen. Im Wunsch nach einem religiösen Ort geht es folglich immer auch um den Anspruch einer punktuell verdichteten Erkennbarkeit von Religion im Quartier. Religiöse Orte sind aber nicht nur identifizierbare Punkte im (Stadt-)Raum, sondern sie stehen zweitens in Wechselbeziehung zu ihrer Umgebung. Die konkreten Ortsprofile, die so entstehen, unterscheiden sich teilweise erheb-

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Religion im urbanen Raum

lich voneinander. Religiöse Orte können den Charakter von Heterotopien haben, die eine Gegenwelt zu ihrer stadträumlichen Umgebung inszenieren. Sie können aber auch bewusst niedrigschwellig sein und sich architektonisch und atmosphärisch an ihre städtebauliche Umgebung angleichen. ›Dritte Orte‹ wiederum vereinen heterotope und niedrigschwellige Elemente in sich, indem sie ein starkes religiöses Binnenprofil mit einer programmatischen Öffnung für ihre stadträumliche Umgebung verknüpfen. Daneben stehen transitorische Orte und Formen der Ortsaneignungen, die einen eher provisorischen und flüchtigen Charakter haben. In all diesen Ortsprofilen bestimmt sich das Verhältnis des Religiösen zum Städtischen in je unterschiedlicher Form und Konfiguration. Im letzten Absatz klang es bereits an: Nicht alle religiösen Orte haben den Charakter von Immobilien. Einige haben auch den Charakter von temporären Architekturen, wie der provisorische Altar, der auf der Bühne eines Stadtteilfestes errichtet wird, oder die provisorische Kirche im Bauwagen. Ob solche Orte überhaupt errichtet werden dürfen und dann auch ›angenommen‹ werden, darüber entscheiden die religiösen Akteure nicht allein. Hier deutet sich eine weitere Thematik an, die in einem späteren Kapitel ausführlich behandelt werden soll, nämlich die Frage nach der Akzeptanz und Legitimität von Religion im öffentlichen (Stadt-)Raum (siehe Kapitel 6). Noch einmal einer etwas anderen Logik folgen Straßenexerzitien oder urbane Pilgertouren. Auch sie verknüpfen in temporärer Weise eine religiöse Praxis mit einem programmatischen Stadtbezug, sind aber nicht ohne weiteres ›von außen‹ als religiöse Praktiken identifizierbar. Viele der untersuchten Orte oszillieren dabei zwischen einer profanen und einer religiösen Codierung. Dieses Oszillieren ist indessen nicht nur ein Merkmal einzelner Orte, sondern ein Grundmerkmal urbaner Religionsformationen überhaupt: Urbane Religiosität manifestiert sich in Hybridgestalten, in der sich religiöse Elemente mit nicht-religiösen Elementen in verschiedenster Weise begegnen, verdoppeln und mischen. Dieser Hybridcharakter urbaner Religiosität soll im nun folgenden Kapitel in einem eigenständigen Untersuchungsgang näher analysiert werden.

3. Hybride

3.1 Hybridität als Thema und Kategorie empirischer Religionsforschung Nach dem städtischen Raum ist »Religion« der zweite Grundbegriff der vorliegenden Studie. Unter Religion soll, wie in der Einleitung skizziert, zunächst das verstanden werden, was »religiöse« Akteure, beginnend bei den Landeskirchen, als solche wahrnehmen. Doch was ist zu finden, wenn Religion auf diese Weise gesucht wird? Die Studienergebnisse zeigen, dass eine so begriffene »Religion« in vielen Fällen als verschränkt mit dem auftritt, was »nicht Religion« ist. Ein Weihnachtsmarkt, ein Martinsumzug, eine zum Stadtteilzentrum umgewidmete oder als Museum verwendete Kirche, eine Pfarrerin, die als Stadtteilmanagerin auftritt: Sie erscheinen zugleich als religiös und als nichtreligiös. Eine scharfe Grenze zwischen dem »Religiösen« und dem »Nichtreligiösen« wird im Feld kaum bzw. nur unter bestimmten Umständen gezogen und lässt sich auch für den analytischen Blick nicht ohne einen starken, normativ festgestellten Religionsbegriff ziehen. Ebenso wenig präsentiert sich Religion als einlinig polar strukturiert, sodass ein übersichtliches Kontinuum aufgezeigt werden könnte: hier der »rein religiöse« Ort oder Akteur, dort der »rein weltliche«, und zwischen ihnen Mischungen mit unterschiedlichen Gewichtsanteilen. Vielmehr zeigen sich Religion und Kultur, Kirche und Welt, Religiöses und Säkulares auf unübersichtliche Weisen ineinander verflochten.1 Dabei ist es allerdings auch nicht so, dass das Unterscheiden zwischen diesen Begriffen gar keine Rolle mehr spielte. Es ist nicht, mindestens nicht für alle, egal, ob etwas »religiös« ist oder nicht; vielmehr wird gerade darum verhandelt. Die geniale Verlegenheitsformel der altkirchlichen Christologie, die göttliche und die menschliche Natur Christi seien »unvermischt und ungetrennt«, scheint die Ortsbestimmung auch moderner Religion in neuen Stadtquartieren mindestens von der negativen Seite her angemessen zu bestimmen.

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Bereits Friedrich Schleiermacher notierte entsprechend in Bezug auf das Verhältnis von »reiner« und empirischer Religion: »[S]o unverkleidet, wie sie [die Religion] dem Beschwörer erscheint, wird sie unter den Menschen nicht angetroffen«, sondern nur »zerstreut und mit vielem Fremdartigen vermischt« (Schleiermacher 1799: 75).

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Religion im urbanen Raum

Phänomene solcher Verschränkung, Diffusion oder auch Mehrfachcodierung des Religiösen und des Nichtreligiösen – oder auch verschiedener Religionen – sind Gegenstand dieses Kapitels. In Ermangelung eines besseren Begriffs sollen sie als Phänomene religiöser Hybridität oder, sofern die Betonung auf zeitlichen Verläufen liegt, religiöser Hybridisierung bezeichnet werden. Von Hybridität soll dabei gesprochen werden, wenn Verschiedenes ineinanderliegt. Darin ist ein Doppeltes impliziert: Mit Hybridität wird sowohl das Ineinander von Zweien als auch ihre Verschiedenheit namhaft gemacht. Welcher Art das Ineinander ist – Verschränkung, Mischung, Verschmelzung etc. – ist dabei ebenso offen wie die Art der Differenz. Von religiöser Hybridität soll im Folgenden entsprechend dann gesprochen werden, wenn Religion und ein von ihr Unterschiedenes – Nichtreligiöses oder eine andere Religion – ineinanderliegen. Hybridität wird dabei als Beschreibungsbegriff für Phänomene verwendet. Entsprechend dem in dieser Studie verwendeten Vorbegriff von Religion wird keineswegs vorausgesetzt, es ›gäbe‹ zunächst eine Religion in Reinform, die sich sodann mit einem ursprünglich Nicht-Religiösen zu einem Hybrid vereinigte. Behauptet ist nur, dass Religion empirisch greifbar wird in komplexen Konstellationen, welche die skizzierte Hybridstruktur aufweisen können. Die Idee einer Religion in Reinform mag von hier aus geradezu als essentialisierende Projektion verstanden werden, die von der Wahrnehmung von Hybridität (und damit Differenz) auf vermeintliche Reinzustände zurückextrapoliert.2 Wo hybride Phänomene erscheinen, sind demnach auch Eindeutigkeitsprätentionen oft nicht weit: Es handele sich doch um etwas eigentlich Religiöses, Christliches, Kirchliches – oder eben gerade nicht. Derlei Eindeutigkeitsprätentionen können auf Seiten der wissenschaftlichen Betrachterin liegen, die »Religion« empirisch zu identifizieren versucht. Sie können aber auch auf Seiten der Akteure im Feld liegen, wenn etwa der Pfarrer betont, bei diesem Gebäude handele es sich eigentlich um eine Kirche und nicht um ein Museum; in diesem Fall sind sie Teil des Hybriditätsphänomens selbst. Der Begriff der Hybridität und seine Ableitungen sind in jüngerer Zeit in verschiedenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Debattensträngen besonders hervorgetreten. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit3 werden im Folgenden einige dieser Stränge kurz skizziert. Dabei stehen jeweils diejenigen Merkmale im Vordergrund, die für den argumentativen Fortgang des Kapitels bestimmend sind. Im Zusammenhang postkolonialer Theoriebildung ist der Begriff der Hybridisierung zur Analyse interkultureller Translationsprozesse verwendet worden. Homi K. Bhabha zufolge entsteht in solchen Prozessen ein dritter Raum, in dem kulturelle Differenzen verhandelt werden.4 Differenzen, die Hybridisierungen ausmachen, sind nach Bhabha nicht im Modus des Vergleichs ermittelte Unterschiede gegebener Kulturen. Differenzen werden vielmehr beständig hervorgebracht und verhandelt. Auch für religiöse Hybridität soll im Folgenden gelten, dass die Differenz von »religiös« und »nichtreligiös« nicht

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Ein Analogon hierzu wäre der (Fehl-)Schluss von der Wahrnehmung kultureller Differenz auf das vermeintliche Vorhandensein essentiell verschiedener »Kulturen«. Insbesondere wird der soziolinguistische Begriff der Hybridisierung (Kreolisierung) von Sprachen im Folgenden nicht betrachtet. Vgl. dazu Berger, Hock, Klie 2013: 23f; Kazzazi, Treiber, Wätzold 2016: 176; Wrogemann 2012.

3. Hybride

per se gegeben, sondern je und je diskursiv bzw. praktisch ins Werk gesetzt, verhandelt und verändert wird. Wissenssoziologisch ist anschließend an Peter L. Berger und Thomas Luckmann von Hybridität in Bezug auf sozialen Typisierung gesprochen worden. »Als Hybrides Phänomen bezeichne ich ein solches soziales Phänomen, bei dem mindestens zwei zu einem spezifischen historischen Zeitpunkt gesellschaftlich als verschieden typisierte Phänomene augenfällig kombiniert sind« (Betz 2017: 89). In solchen Kombinationen – als Beispiel gelten Events wie »Schnippeldiskos« und »Trauerfußballspiele« – entstehen neuartige, nicht durch eindeutig festgelegte Handlungserwartungen bestimmte Formen sozialer Interaktion (a.a.O.: 93, 96). Anders als bei Bhabhas Hybriditätsbegriff wird in dieser wissenschaftssoziologischen Lesart davon ausgegangen, dass bestimmte sozial konstruierte Typen bereits existieren, bevor sie explizit hybridisiert werden. Auch das ist für manche Formen religiöser Hybridität einschlägig: Der Gottesdienst und das Rockkonzert existierten als sozial typisierte Phänomene, bevor sie in »Beatmessen« explizit hybridisiert wurden.5 In der empirischen Religionsforschung ist der Begriff der »Religionshybride« eingeführt worden, um eine »›hybride‹ Kultur religionsaffiner, religionsäquivalenter oder explizit religiöser Gemeinschaften unterhalb der Schwelle nicht nur kirchlicher, sondern generell religiöser Institutionalisierung im Sinne fortgeschritten verfestigter oder gar etablierter Struktur- und Organisationsformen« (Berger, Hock, Klie 2013: 9) zu analysieren. Untersucht werden auf diese Weise ländliche Kirchbau- und Gutshausvereine sowie alternative Gemeinschaften, die sich auf spezifische symbolische Orte beziehen. Sie können insofern als religionsäquivalent oder -affin gelten, »als sich ihre jeweiligen ›Raumnahmen‹ mit spezifischen Sinngebungen verbinden, die über ein alltägliches Verständnis von ›Sinn‹ hinausgehen« (a.a.O.: 8). Religionshybride werden somit verstanden als Transformationsformen des ehemals in »kulturprägende[n] Konfessionen« (a.a.O.: 11) institutionalisierten Religiösen. Nicht nur die Erosion religiöser Institutionen, sondern auch die Transformation und Produktivität von Religion werden so betont. Insofern trägt dieses Konzept der Hybridität zu einer differenzierten Wahrnehmung von Religion in der Moderne bei. Ebenfalls auf Raumphänomene bezogen ist der Begriff der »[h]ybride[n] Räume der Transzendenz« (Erne 2017). In Kirchenräumen überlagern sich, so die Beobachtung, religiöse und ästhetische Transzendenzerfahrungen. Erstere werden im Kontext der Liturgie, zweitere angesichts der atmosphärischen Anmutung des Kirchenraums gemacht. Das Konzept der Hybridität verweist hier auf divergente Nutzungsformen kirchlicher Gebäude als liturgischer Räume und touristischer Sehenswürdigkeiten (Rebenstorf et al. 2018). Der in der vorliegenden Studie zugrunde gelegte formale Vorbegriff religiöser Hybridität kann durch Merkmale der genannten Begriffe angereichert werden. Mit »religiöser Hybridität« sollen Phänomene benannt werden, in denen Religion und ein von ihr Unterschiedenes – Nichtreligion oder eine andere Religion – ineinanderliegen: in denen 5

Das impliziert jedoch nicht, dass der soziale Typ des Gottesdienstes ein »rein religiöses« und der des Rockkonzerts ein »rein säkulares« Phänomen sei. Eine solche Differenzbildung wird vielmehr erst im Gefolge der Hybridisierung thematisch.

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also zugleich ein Ineinander und eine Differenz von Religiösem und Nicht- bzw. Andersreligiösem gegeben sind. Mit dem Religiösen und dem Nicht- bzw. Andersreligiösen werden dabei möglicherweise verschiedene soziale Typisierungen assoziiert, mit denen sich unterschiedliche Handlungserwartungen verbinden (Betz). Für Räume können sich solche Typisierungen insbesondere zu verschiedenen Modi der Raumnutzung verdichten (Erne). Formen sozialer Typisierung von Religion liegen gegenwärtig immer noch vor allem in den klassischen Konfessionen und institutionalisierten Religionen vor: Es gibt gemeinsam geteilte Vorstellungen davon, wie sich eine Muslima im Freitagsgebet oder ein Katholik auf der Fronleichnamsprozession zu verhalten haben. Am Ort religiöser Hybridität werden solche Typisierungen aufgenommen, angereichert, transformiert oder auch substituiert (Berger, Hock, Klie 2013: 23). Darin ist jedoch, wie bereits benannt, nicht zwingend die Vorstellung religiöser Reinformen impliziert. »Eine ›reine‹ Religion bzw. eine hermetische Kultur sind abstrakte Konstrukte ohne Anhalt an empirischer Wirklichkeit.« (Berger, Hock, Klie 2013: 11)6 Vielmehr ist insbesondere die Differenz von Religion und Nichtreligion Gegenstand fortwährender Verhandlungsprozesse (Bhabha). Diese Verhandlungen, das lässt sich religionstheoretisch anfügen, werden dadurch in Gang gehalten, dass Religion selbst auf Differenzierungen aufbaut. Im Kern des Religiösen liegt die Differenzierung zwischen heilig und profan bzw. von transzendent und immanent, die beständig neu ins Werk gesetzt werden muss. Die Differenz von Religion und Nicht-Religion wiederholt sich mithin in der religiösen Binnenperspektive und kommt in der Gegenüberstellung von »Glaube« und »Unglaube«, »Kirche« und »Welt« usw. zum Ausdruck. Insofern ist die Frage nach der Unterscheidung von Religion und Nichtreligion nicht bzw. nicht allein von außen, etwa durch den Forscherblick, herangetragen, sondern der Religion selbst als beständige Aufgabe immanent.7 Im vorliegenden Kapitel werden – zunächst explorativ anhand der Rummelsburger Bucht in Berlin (3.2), dann systematisierend anhand weiterer Quartiere (3.3) und zusammenfassend in einem Fazit (3.4) – Phänomene religiöser Hybridität betrachtet. In den Blick kommen dabei insbesondere religiös-hybride Akteure, Praktiken und Gebäude. Die These, die dabei belegt werden soll, ist die, dass manches, was als modernespezifische »Säkularisierung« insbesondere am Ort der Großstadt beschrieben worden ist, besser als Hybridisierung zu fassen wäre – unbenommen davon, dass auch Phänomene der Ausdifferenzierung, des Bedeutungsverlusts, der Deinstitutionalisierung oder der Ablösung von Religion in der Moderne ihren Anhalt an der Empirie haben.8 Gerade für 6

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Diese Einsicht wird von Knoblauch 2013 in eine Ideologiekritik des Hybriditätsbegriffs gefasst: »Hybridität unterstellt nämlich a priori, dass etwas aus zwei getrennten Bereichen gebildet wird. Mit Blick auf Religion wird unterstellt, dass sie, im Verhältnis zur Gesellschaft, einen eigenständigen Bereich bildet, dessen Abgegrenztheit erst die Voraussetzung des Denkens von Hybriden darstellt. Ich habe keine Zweifel, dass diese Vorstellung insbesondere von den religiösen Institutionen gerne geteilt wird, die sich auf Religion spezialisiert haben […]« (Knoblauch 2013: 121). Wir greifen, wie dargelegt, diese Kritik auf und verstehen sie als integralen Bestandteil unseres Vorverständnisses von Hybridität. In anderen Worten, in Anlehnung an Niklas Luhmann: Die Unterscheidung von Religion und NichtReligion ist selbst Ausdruck einer religiösen Selbstpositionierung (Luhmann 2000: 320ff). Zum Thema der Säkularisierung siehe auch unten, 4.1.

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religiöse Akteure ist es aber von Bedeutung, den Formenreichtum der Transformationen im religiösen Feld wahrzunehmen, ohne jeweils sofort ›Verlust‹ zu diagnostizieren.

3.2 Religionshybride im urbanen Raum In der Rummelsburger Bucht in Berlin, die zunächst vorgestellt wird (3.2.1), können verschiedene Phänomene religiöser Hybridität aufgewiesen werden. Zu ihnen gehört ein Bürgerverein, bei dem nicht klar ist, inwiefern er eine Form religiöser Präsenz im Stadtquartier darstellt (3.2.2). Hybridcharakter haben auch Martins- bzw. Laternenumzüge im Straßenraum. Sie finden in beiden Teilquartieren der Bucht statt, lassen aber bei genauerem Hinsehen prägnante Unterschiede erkennen (3.2.3). Schließlich wird ein musealisierter Kirchenraum in den Blick genommen. Inwieweit handelt es sich noch um einen religiösen Raum (3.3.4)?

3.2.1 Rummelsburger Bucht (Berlin) Das Forschungsgebiet Rummelsburger Bucht besteht aus zwei unabhängigen Entwicklungsgebieten, nämlich aus den Schwesterquartieren Wasserstadt Rummelsburg im Bezirk Lichtenberg und der Halbinsel Alt-Stralau im Bezirk Friedrichshain/Kreuzberg. Die durch den Rummelsburger See getrennten Gebiete weisen bemerkenswerte Ähnlichkeiten auf. Beide liegen im ehemaligen Ostteil Berlins und waren lange Zeit durch Industriebauten geprägt. Die Planungen zur Nachverdichtung begannen im Zuge der gescheiterten Olympiabewerbung Berlins, als auf Stralau das olympische Dorf errichtet werden sollte. Die Beschlüsse, diese Gebiete zu bebauen, haben aus früheren Enklaven dicht bevölkerte Areale gemacht. Da es sich um zwei ähnliche Gebiete handelt, die aber in unterschiedlichen Stadtbezirken, kirchlichen Gemeindegebieten und Kirchenkreisen liegen, lassen sie sich gut gemeinsam behandeln.

a) Bebauung und Infrastruktur Gleichzeitig ab 1994 entwickelt, sehen sich die neuen Häuser auf beiden Uferseiten recht ähnlich. Am Uferweg der Wasserstadt stehen schmale Stadthäuser, sogenannte Townhouses, mit einer charakteristischen, abwechselnd schwarzen und weißen Fassadengestaltung. Verputzte Häuser wechseln sich ab mit verklinkerten, dazwischen stehen immer wieder ehemalige Gefängnisbauten. Diese wurden zunächst ausgebaut, bevor dazwischen nachverdichtet wurde, erzählt Antje Baier aus dem Gemeindekirchenrat (FFT RB). Am anderen Ufer findet sich auf der Halbinsel Stralau eine ähnliche Bebauung. Zusätzlich stehen hier einige Gründerzeitbauten und exklusive Wohnanlagen. Der hier wohnende Gemeindekirchenratsvorsitzende der zugehörigen evangelischen Gemeinde kommentiert: »Die Lage ist besonders. Es ist eine Halbinsel mit einer wunderschönen Natur drumherum. Viele Städter kommen hier raus zum Spazierengehen. Überall gibt es Wasser. Immer, wenn es heiß und stickig ist, sind hier fünf Grad weniger, und es gibt immer saubere Luft. Es ist in der Nähe der Stadt. Ideal.« (Schroder, RB)

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Gemeinsam sind beiden Vierteln Probleme, die mit unterschiedlichen Nutzungsweisen des Sees zusammenhängen. Die Geschichte dieser Nutzungen reicht von der in beiden Gebieten früher angesiedelten Schwerindustrie, wodurch Schadstoffe ins Gewässer freigesetzt wurden, über im See ankernde Hausboote bis hin zu den Bedürfnissen der heutigen Gewerbetreibenden, Anwohner:innen, Vereinsmitglieder und Naturschützer:innen. Zwischen der Wasserstadt und Stralau liegt eine Brache, die bebaut werden soll und beide Gebiete städtebaulich zu einem Quartier verknüpfen wird. Geplant ist ein Gebäudekomplex, in dem auch der in beiden Gebieten fehlende Einzelhandel zu finden sein soll (Schroder, RB). Die restliche Fläche soll vom Aquapark »Coral World« eingenommen werden, einem 12.000 Hektar großen Aquarium. Seit 25 Jahren wird der Bebauungsplan diskutiert. Inzwischen ist er beschlussfähig, aber die Bedingungen haben sich über die Jahre geändert. Das früher als wenig interessant geltende Gebiet ist beliebt geworden, und Bürgerinnen und Bürger beginnen, auf dem Weg von Demonstrationen und Petitionen Entscheidungen einzufordern, die den Wohnstandort stärken sollen.

Abbildung 4: Karte der Rummelsburger Bucht mit den beiden Entwicklungsgebieten Wasserstadt Rummelsburg und Halbinsel Alt-Stralau (hellblau) sowie einigen signifikanten religiösen Orten

In diese Debatte sind die kirchlichen Akteure recht wenig involviert. Kirchlicherseits heißt es, für die Kommunikation über die vielfältigen Belange des Gemeinwesens müsste es eine beim Kirchenkreis angesiedelte Querschnittsstelle geben, denn auf Gemeindeebene sei das nicht zu leisten. Ein weiteres, beide Quartiere verbindende Thema ist ihre städtebauliche Einbindung. Obwohl die Wasserstadt anders als Stralau ein Uferstreifen ist, handelt es sich in gewisser Weise ebenfalls um eine Halbinsel. Denn auf der wasserabgewandten Seite des Neubaugebietes liegen eine S-Bahn-Trasse, eine viel befahrene Straße und ein älterer

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Gebäuderiegel, die das Gebiet »wie eine Wand« vom restlichen Stadtteil abtrennen, so die evangelische Pfarrerin aus dem benachbarten Waidling-Kiez. Damit verbunden ist die schwierige Verkehrsanbindung beider Viertel. Beide Quartiere weisen zudem einen bemerkenswerten Mangel an sozialer Infrastruktur auf. Es befindet sich hier weder ein regelmäßig betriebenes Café noch ein Spätverkauf. In beiden Gebieten gibt es keinen nennenswerten Einzelhandel und bis auf einen Bäcker kaum Gastronomie. Zum Einkaufen muss das Gebiet verlassen werden, was angesichts der Anbindung insbesondere Stralaus schwierig ist.

b) Bewohnerschaft Über die Bewohnerschaft spricht man in beiden Vierteln ähnlich: Während diese im jeweiligen Restbezirk in sozialer Hinsicht sehr gemischt sei, wohnten in den Neubauquartieren vor allem junge, wohlhabende Familien mit akademischem Hintergrund. Auch wenn es sich nicht um Gentrifizierung im Sinne eines Verdrängungprozesses handelt, da ca. 90 Prozent der Bewohner neu hinzugezogen sind,9 verleiht die jetzt dominante Bewohnerschaft doch dem Gesamtviertel ihr Gepräge. Das wird quartiersübergreifend insbesondere in religiöser Hinsicht deutlich: Kirchliche Mitarbeitende erzählen, dass sie bei ihrem Dienstbeginn davon ausgegangen seien, wie in anderen Stadtgebieten im ehemaligen Ost-Berlin auf einen weitestgehend entkirchlichten Bereich zu treffen. Für die Neubauviertel treffe das aber in besonderer Weise nicht zu: »Die Religionslehrer berichten oft von ganz großen Abneigungen gegenüber allem, was in irgendeiner Weise mit Kirche und Bibel zu tun hat. Für die ist das ganz schwer, sie kämpfen da an der vordersten Front. Wir als Gemeinde haben ja den großen Vorteil, dass wir vor allen Dingen in Karlshorst und hier im Bereich Erlöser [einschließlich des Gebietes der Rummelsburger Bucht] große Zuzugsgebiete haben, in denen Menschen wohnen, die eher aus Westdeutschland oder Westberlin kommen und dann doch eher eine kirchliche Sozialisierung erfahren haben.« (Hirsch, RB) Im Alltag bedeutet das, dass die Pfarrerin die beschriebene Kirchendistanz keineswegs als so drastisch empfindet, schon weil eine Vielzahl von teils persönlichen Einladungen zu Eröffnungen oder Festen bei ihr eingehen. Allerdings hat der Anstieg der Kirchenmitglieder auf Stralau von vormals 60 auf über 400 Evangelische sich nicht nennenswert auf das Gemeindeleben ausgewirkt, unter anderem deswegen, weil ein Teil der neuen Bewohner:innen aus Pendlern besteht, die etwa für die Regierung oder für private Firmen tätig sind. Sie sind nur während der Woche in Berlin und engagieren sich, wenn überhaupt, gemeindlich in ihren Heimatorten. Insgesamt kam mit den neuen Bauten eine neue Wohnbevölkerung, wie der Vorsitzende der Boxhagener Gemeinde erzählt: »Nebenan [wohnt der Botschafter] von Ungarn. Dann wohnt hier der Geschäftsführer von [einem großen Medienunternehmen] usw. Berlin hat ja eine Magnetwirkung erhalten durch den Status als Hauptstadt. Dadurch wurden viele Repräsentanzen hier angesiedelt, und Lobbyräume sind entstanden. So kam es, dass viele hochkarätige Leute hier nach Berlin gezogen sind.« (Schroder, RB)

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Zur Gentrifizierungsthematik siehe 5.3.1.

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c) Soziale und religiöse Akteure Sucht man in der Wasserstadt nach quartiersbezogenen sozialen Akteuren, ist zunächst die Kita zu nennen (ähnlich wie in anderen Quartieren dieser Studie). Sie wird betrieben von der »SozDia«, einer Stiftung, die nach ihrer Satzung »Teil der Sozialdiakonischen Arbeit der Evangelischen Kirche« ist, aber nicht als kirchliche oder diakonische Marke auftritt. Sehr aktiv ist vor allem der WiR-Verein mit seinem rege genutzten Vereinshaus (siehe 3.2.2). Einziger offensichtlicher Hinweis auf einen religiösen Akteur ist die einsam an einem Wegesrand stehende Schautafel der evangelischen Paul-Gerhard-Gemeinde, der das Gebiet parochial zugehört. Auf Stralau hingegen muss Religion scheinbar nicht lange gesucht werden: Eines der ältesten Gebäude Berlins ist die hier befindliche Dorfkirche. Erhalten wird der Bau allerdings nicht in erster Linie von der Kirche, sondern von einem Verein zum Erhalt und zur Sanierung des alten Gebäudes, der eine rege Vereinstätigkeit und Nutzung der Kirche etabliert hat (siehe 3.2.4). Stralau beheimatet zudem drei Kitas und ein Seniorenzentrum, einen Fußballplatz nebst zugehörigem Verein, eine Grund- und eine Oberschule, einen Kiezbeirat, ein Bürgerforum sowie einen Kulturverein.

3.2.2 Hybride Akteure: Ein christlicher oder ein Bürgerverein? Der erwähnte Nachbarschaftsverein »Wohnen in Rummelsburg« (WiR-Verein) ist eine Gründung aus dem evangelisch-freikirchlichen Spektrum. Herr Engelhardt, der die Vereinsstrukturen aufgebaut hat, ist zusammen mit seiner Frau von ihrer Gemeinde – einer Berliner Innenstadt-Gemeinde, die zum Mühlheimer Verband gehört – ausgesendet worden, um im ehemaligen Ost-Berlin Gemeindeaufbau zu betreiben. Es sei der »Wunsch nach Gemeinschaft und der Durst nach Gott«, der sie angetrieben habe. 2003 haben sie als Pioniere in der Wasserstadt mit gebaut. Herr Engelhardt erzählt im Interview, dass seine Idee die Gründung einer Versammlungsstätte gewesen sei. Früher habe es in einem Dorf die Kirche als Versammlungsraum gegeben. Er habe etwas Analoges errichten wollen, wo »Gemeinwesen« stattfinden könne. Es seien gute Voraussetzungen für die Gemeinde gewesen, hier zu wirken, denn die Baugruppe habe schon vorher Nachbarschaftsaufbau betrieben. Im eigenen Garten hätten sie damals zu Weihnachten das Krippenspiel veranstaltet, und die ganze Nachbarschaft sei gekommen und habe mit ihnen Glühwein getrunken. Für einen Open-Air-Gottesdienst seien das erstaunlich viele Nachbarn gewesen. Nach langen Verhandlungen sei der Bürgerverein zustande gekommen, mit dem Lazarett des ehemaligen Gefängnisses als Vereinshaus. Auf dem Stadtteilfest kommt Frau Engelhardt in einem Stegreifinterview nochmal ins Plaudern: Sei seien damals in engen Kontakt mit Architekten gekommen, die dann selbst an einem Glaubenskurs teilgenommen hätten und sich schließlich von Herrn Engelhardt in der Rummelsburger Bucht taufen und in den Vereinsräumen trauen ließen. Anschließend hätten die beiden beschlossen, das Viertel ab sofort im Rahmen ihrer Möglichkeiten christlich zu prägen. Ab diesem Zeitpunkt legten sie jedem Grundstein eine Bibel bei: Das sei ihr Recht als Architekten. Für die evangelische Gemeinde ist der WiR-Verein dadurch zu einem wichtigen Ansprech- und Kooperationspartner in der Wasserstadt geworden. Diese Kooperation zeigt sich u.a. darin, dass Engelhardts bei verschiedenen Anlässen um die Beteiligung der Ge-

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meinde gebeten hatten, etwa beim Martinsspiel. Auch, so erzählt die Katechetin der für fast ganz Lichtenberg zuständigen Paul-Gerhard-Gemeinde, sei es Engelhardt gewesen, der eine Zusammenarbeit im Rahmen der Kinderkirche initiiert habe. Anfangs habe diese in den viel zu kleinen Räumlichkeiten des WiR-Vereins stattgefunden, später in Räumen der kirchlich getragenen SozDia-Kita. Engelhardts möchten das WiR-Vereinshaus aber nicht als Kirche verstanden wissen. Es sei einfach ein Dach, unter dem Gemeinschaft stattfinden könne, sagen sie.

3.2.3 Hybride Praktiken: Ein Martins- oder ein Laternenumzug? In beiden Teilen des Untersuchungsgebietes finden um den 11. November Laternenumzüge statt. Jeweils handelt es sich um hybride Praktiken, die sich gleichwohl signifikant voneinander unterscheiden und im Folgenden nacheinander dargestellt werden. In der Wasserstadt ist es der WiR-Verein, auf dessen Vorplatz das Martinsspiel stattfindet und der auch die komplette Technik für die Veranstaltung zur Verfügung stellt. Die inhaltlichen Elemente des Martinsumzuges10 werden von der Katechetin der evangelischen Kirchengemeinde ausgestaltet. Johanna Hirsch, die für Kirche im benachbarten Kaske-Kiez zuständige Pfarrerin, kommentiert den Umzug: »Wir machen einen doch sehr klassischen Martinsumzug, sogar mit Pferd. Und es gibt eine Blaskapelle. Es gibt ein Martinsspiel, und ich sage noch ein paar Worte. Dadurch gibt es einen doppelten Effekt: Zum einen ist es schön, dass man gemeinsam feiert, und St. Martin ist eine dankbare Gelegenheit, die sehr gerne angenommen wird. Für uns als Gemeinde ist es auch eine Form der Werbung. Wir haben die Möglichkeit zu zeigen, wer wir sind und was wir machen. Es wird auch immer für die Christenlehre geworben und erklärt, was in der Christenlehre überhaupt geschieht. So kann sich, wer das noch nicht kennt, darüber informieren. Wir sind bei solchen Gelegenheiten ja auch ansprechbar, und es ist möglich, da den kurzen Weg zu gehen, um ein Gespräch anzustoßen. Man nennt so etwas ja niederschwellige Angebote. Damit sind Möglichkeiten und Anlässe gemeint, zu denen man unproblematisch in Kontakt kommen und sich kennenlernen kann.« (Hirsch, RB) Die Gemeinde bewirbt den Umzug weitläufig über Schaukästen und Gemeindebriefe und investiert viel in dessen Organisation. Zielgruppe sind vor allem kleinere Kinder; die Zusammenarbeit mit den Schulen ist eher sekundär. Die Schule macht einen eigenen Umzug mit Rumbatrommeln durch die Bucht, und auch die Kita organisiert sich unabhängig vom Umzug der Gemeinde und des WiR-Vereins. Für die Gemeinde ist der Martinstag gleichwohl ein Schwerpunkt im Kirchenjahr: »Wir als Gemeinde haben insgesamt vier Umzüge rund um den St. Martin. Wir haben einen in Karlshorst, einen in Friedrichsfelde, einen in unserer Erlöser-Kita. In der Bucht 10

Die Benennung des Events ist nicht eindeutig: Der Umzug wird auf dem Webauftritt des WiRVereins 2017 als »Lampionumzug« beworben, wenngleich der Flyer mit »St. Martin an der Bucht« überschrieben ist und die URL das Stichwort Sankt-Martinsumzug enthält, https://www.wir-in-ru mmelsburg.de/sankt-martinsumzug-2017, abgerufen am 23.3.2020. Ab 2018 wird der Umzug im selben Design als »St.-Martins-Umzug« beworben.

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hat jede Kita ihren eigenen Umzug. Und dann gibt es noch am 11.11. den Umzug, den wir gemeinsam mit dem WiR-Verein gestalten. Ich glaube, man kann eine Woche lang hier in diesem Einzugsgebiet einen Umzug finden, bei dem man mitlaufen kann. Die evangelische Schule macht auch noch einen.« (Hirsch, RB) Der Umzug in der Wasserstadt, den ich (Juliane Kanitz) teilnehmend beobachte, beginnt am Sonnabend, 11.11.2017, um 17 Uhr. Man trifft sich auf einem großen, mit alten Bäumen bewachsenen Platz, dem Medaillonplatz, an dessen Rand sich das ehemalige Wohnhauscafé befunden hat. Als ich etwa eine halbe Stunde vorher auf dem Medaillonplatz ankomme, sind schon viele Leute da, etwa 200, schätze ich. Zu Beginn des Zuges sind vielleicht 300 Teilnehmende anwesend. Ein kleiner Junge verteilt Liederzettel. Die komplette Blaskapelle der Gemeinde ist da, und als die Bläser gegen fünf Uhr anfangen zu spielen, singen alle laut mit. Dabei werden die nichtreligiösen Lieder ein wenig lauter mitgesungen, Lieder mit explizit religiösen Texten hingegen weniger enthusiastisch unterstützt. Nach einiger Zeit setzt sich der Zug in Bewegung. Eine Vertreterin des Vorstandes des WiRVereins gibt Informationen durch ein Megaphon durch. Aber es scheint kaputt: Obwohl ich direkt neben ihr gehe, verstehe ich kein Wort. Der Zug führt durch die eher schmalen Straßen der Wasserstadt, wodurch er eine beachtliche Länge erreicht. Er endet vor dem alten Lazarett, dem Vereinshaus des WiR-Vereins. Als es schon ziemlich voll ist auf dem eher kleinen Platz, lässt die Katechetin das Spiel beginnen. Große Strahler leuchten auf die Eingangstür des Vereinshauses, die mit drei Eingangsstufen ein passables Stadttor abgibt. Das Pferd läuft davor im Kreis, und die Darsteller, zwischen vier und acht Jahre alt, stellen die Geschichte von Martin dar. Sie hatten noch am Nachmittag die letzte Probe und sind textsicher, laufen aber teils etwas verwirrt über die improvisierte Bühne vor dem Vereinshaus. Die Katechetin liest dazu die Geschichte von St. Martin vor. Auch nach dem Spiel sind die Organisatorinnen und Veranstalter klar zu erkennen: Die Vertreterin des WiR-Vereins moderiert die jeweiligen Sprechenden an, die Katechetin, offenkundig die Organisatorin des Martinspiels, bedankt sich und macht inhaltliche Ergänzungen. Schließlich sagt die Pfarrerin, Frau Hirsch, »drei pastorale Sätze«, wie sie es selbst im Interview formuliert. (FFT RB) Inwieweit handelt es sich um eine »religiöse« Raumpraxis? Schon der Werbeflyer des WiR-Vereins (siehe Abbildung 5) ruft verschiedene christliche Motive auf (Titel: »St. Martin an der Bucht«, Mann auf Pferd etc.). Auf dem Umzug geht es weiter mit einer Gruppe Bläser aus der Erlöserkirche, dem Pferd, auf dem ein Kind in einem roten Mantel sitzt, sowie dem Martinsspiel. Das Pferd sei dabei sehr wichtig, »sowas zieht immer«, höre ich die Katechetin sagen, als sie den Repräsentanten der Feuerwehr, der anwesend ist, um auf das Martinsfeuer aufzupassen, nach der Berliner Polizeistaffel fragt, um auch für die kommenden Jahre die Attraktion Pferd für das Event zu sichern. (FFT RB) Die Texte des Martinsspiels, die die Kinder aufsagen, enthalten christliche Semantiken wie »Gott möge es euch entlohnen« und »ich glaube, Ihr habt verstanden, was es heißt, Christ zu sein«. In ihrer Andachtsrede erwähnt Pfarrerin Hirsch hingegen eher vorsichtig den christlichen Bezug. Sie verknüpft die Laternen mit dem November und betont, wie schön sie die Lichter in der dunklen Jahreszeit fände. Schließlich spricht sie vom Wert des Teilens, weshalb im Anschluss Martinshörnchen verteilt werden. Außerdem weist sie auf das Lutherspiel in der Kinderkirche am nächsten Tag hin. Ihrer Ansicht nach kommen die verschiedenen religiösen De- und Konnotationen den Bedürfnissen der Teilnehmenden durchaus entgegen:

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»Für diese Menschen gehört das eher zum Lebensalltag dazu. Taufen, Weihnachtsgottesdienste, St. Martins Umzug. Solche Dinge. Die Menschen wollen dann keinen Laternenumzug, sondern tatsächlich den biblischen Zusammenhang umgesetzt sehen, damit die Kinder auch die Geschichte kennenlernen.« (Hirsch, RB) Das bestätigt die Vorsitzende des WiR-Vereins: Sie stamme aus Nordrhein-Westfalen und sei froh, dass die Martinsgeschichte auf dem Umzug erzählt wird. Mit den Kitas ihrer Kinder sei sie auch schon hinter Liedern von »Ulf und Zwulf« hinterhergelaufen. Der religiöse Charakter schließt jedoch andere von der Teilnahme aus. Die Beisitzerin im GKR der Paul-Gerhard-Gemeinde formuliert: »Ich finde es schon spannend, dass die Kita, in die mein Kind geht, ausdrücklich sagt, dass es ein Laternenfest ist. Es ist nicht St. Martin. Insofern glaube ich, dass das Laternenlaufen durchaus traditionell ist, und St. Martin hat die Konnotation, die das Fest auch haben soll, jedoch unterstützt dies keine staatliche Kita. Und entsprechend würden sie sich dann auch nicht einbringen. Nicht als Kita.« (Baier, RB)

Abbildung 5: Flyer zum Lampionumzug in der Wasserstadt (links)11 und zum Laternenumzug auf Stralau (rechts)12

Eben ein solcher »Laternenumzug« findet am Tag danach auf Stralau statt. Organisiert hat ihn der Kulturverein Stralau, der die Veranstaltung 2013 bei der ersten Durch-

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http://www.wir-in-rummelsburg.de/sankt-martinsumzug-2017/#iLightbox[gallery918]/0, abgerufen am 23.3.2020. Gleichartig gestalteter Flyer aus dem Jahr 2018 (Ausschnitt); https://www.facebook.com/1694230 49849081/photos/gm.290489378469674/1084122658379111, abgerufen am 22.4.2023.

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führung noch als »Laternenlauf« bezeichnet hatte.13 Auf dem Flyer (siehe Abbildung 5) findet sich in Text und Bild kein ersichtlich religiöser Bezug. Seitens der Veranstalter gibt es zur Kirche keinen Kontakt, obwohl der Umzug direkt an der Stralauer Dorfkirche vorbeiführt. Den Bezug brauche es aber auch nicht für einen Laternenumzug, der ja dediziert kein Martinsumzug sein solle, erläutert die Vorsitzende des Kulturvereins später. Herr Schroder, der Gemeinderatsvorsitzende von Boxhagen-Stralau kommentiert: »Für die ist das aus der DDR-Zeit noch ein Lichterumzug.« (Schroder, RB) Auch im Ablauf des Umzuges finden sich Unterschiede: Wiederum komme ich eine halbe Stunde vorher am zentralen Platz des Viertels, fast am Ende der Insel, an, allerdings sind erst etwa 20 Leute da. Der Kulturverein Stralau hat einen Aufbau aus Tischen neben einem Bäckerladen errichtet und ist kenntlich durch ein mit Klebefilm angebrachtes Plakat am Fenster dahinter. Ein daneben befestigter Zettel macht auf ein geplantes Adventssingen vor dem Seniorenheim aufmerksam. Auf den Tischen stapeln sich Wurstbrote und Töpfe mit Glühwein, die zugunsten der Vereinskasse verkauft werden. Außerdem werden Waffeln gebacken. Zwischenzeitlich wird die Schlange am Stand sehr lang. Der vom Balkon aus durch das improvisiert herabgelassene Verlängerungskabel geleitete Strom fällt immer wieder aus. Vor den Tischen stehen einige Bierbänke. Martinshörnchen wie in der Wasserstadt, die kostenlos verteilt werden, gibt es nicht. Als ich nach den Verantwortlichen frage, werde ich auf eine junge Frau mit Kladde verwiesen, die unter den Neuangekommenen für die Vereinsmitgliedschaft im Kulturverein wirbt und mich wohl mit jemandem verwechselt; jedenfalls umarmt sie mich spontan zur Begrüßung. Nach und nach sammeln sich Erwachsene und Kinder mit selbst gebastelten oder gekauften Laternen. Die stellvertretende Vorsitzende des Kulturvereins verteilt Liederzettel. Der Umzug beginnt kurz nach 17 Uhr mit 120 Leuten. Wie am Vortag geht es eine Runde um den Platz und dann Richtung Wasser. Die musikalische Begleitung übernehmen zwei Gitarristen aus dem Verein. Gesungen werden die gleichen, durchaus zum Teil explizit religiösen Lieder wie am Tag zuvor, allerdings ohne jegliche weitere Referenz auf deren religiösen Hintergrund. Ohnehin unterhalten sich die meisten oder essen, kaum jemand singt mit. Ich spreche ein Ehepaar an, das aber nur wenig Lust hat, sich von mir spontan in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Meine Frage nach den Liedern, die sie da singen, ist ihnen sichtbar unbehaglich. Dass sonst kein kirchlicher Bezug da ist, störe sie jedenfalls nicht sehr. Auch der seit 17 Jahren dort ansässige Bäcker beim Treffpunkt hatte betont, wie wichtig ihm das traditionelle Element des alljährlichen Umzuges sei – und wie wichtig es ihm sei, dass diese lieb gewordene Tradition frei von Religion sei.14 Der zentrale Moment des Martinsumzugs auf Stralau ist der, an dem der Umzug mindestens eine Viertelstunde vor dem Seniorenheim stoppt, um laut Martinslieder zu singen. Allerdings wird das Singen nicht gehört. Kein einziger Senior kommt auf den Balkon, obwohl alle inzwischen 130 Menschen singen, und das nicht eben leise. Irgendwann schleiche ich mich in das Seniorenheim und erkundige mich, ob sie denn nicht hören würden oder auch nur wüssten, dass da draußen für die Seniorinnen und Senioren gesungen würde. Daraufhin nimmt die Frau hinter dem Empfang das Telefon und spricht hinein, jemand möge »die Alten« hinausschaffen. Sie beendet aber das Telefonat, als ich ihr verdeutliche, dass ich das gar nicht bewerten wolle, der Umzug vermutlich eh schon weg sei, bevor die alten Leute wirklich draußen seien, und ich nur wissen wolle, warum denn keiner käme. Sie sagt, dass das vermutlich nicht angekündigt und nicht vereinbart worden sei; und da es nicht 13 14

http://kulturverein-stralau.de/blog/page/3/, abgerufen am 26.8.2019. Vgl. Niekrenz 2013.

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an der Tafel gestanden habe, wisse auch niemand davon. Als ich wieder draußen bin, wird immer noch gesungen, weiterhin unbeachtet von den Bewohner:innen der Häuser. Auf dem Sommerfest ein halbes Jahr später spreche ich noch einmal die Vorsitzende auf den Umzug an. Sie versichert, dass es sehr wohl Aushänge und Absprachen gegeben habe – genau deswegen führe der Umzug ja da vorbei. Dass der Umzug nichtreligiös ist, sieht sie als nicht weiter tragisch an: Die Schule laufe hinter einer Marschkapelle hinterher, da singe nicht mal jemand. Hier würden ja immerhin noch Lieder gesungen, auch religiöse. Vom Pfarrer der Dorfkirche Stralau habe man hier aber bisher nichts mitbekommen. (FFT RB)

3.2.4 Hybride Orte: Eine Kirche oder ein Museum? In den meisten der untersuchten Quartiere gibt es kein Kirchengebäude. Das wird zuweilen bedauert: So werde, so betonte eine Interviewpartnerin in Heidelberg, niemals eine Hochzeit oder eine Beerdigungsgesellschaft durch den Stadtteil ziehen. Ohne Kirchengebäude, so lässt sich diese Wahrnehmung interpretieren, tut sich in der Stadt eine »heilige Lücke« auf: Die Verheißung der Stadt, verdichtete Gesellschaft im Ganzen zu sein, in der man von der Wiege bis zur Bahre leben kann, erweist sich im neuen Stadtquartier als uneingelöst, was insbesondere am Fehlen der für ebendiese Ganzheit des biographischen Lebens stehenden Kirche sichtbar wird (siehe 1.3.3). Auf Stralau verhält es sich in gewisser Weise umgekehrt. Hier steht mit der Dorfkirche ein Kirchengebäude zur Verfügung, das aber von der Gemeinde kaum genutzt wird, zum Kummer bzw. Ärger des Vorsitzenden des Gemeindekirchenrates (GKR). »[Schroder:] Es gibt einen Förderverein, der heißt ›Stralauer Dorfkirche‹, und da gibt es engagierte Bürger, die sich um das Bauwerk kümmern. Die machen das neben der Kirchengemeinde, denn die ist damit ein bisschen überfordert, weil es drei Kirchen zu betreuen gilt. Deswegen wurde der Förderverein gegründet. […] [Interviewfrage:] Und was erwächst daraus? Kommen dadurch mehr Leute auch zu anderen Veranstaltungen? Merken Sie, dass diese Veranstaltungen Wirkung zeigen und es Kreise nach sich zieht? [Schroder:] Alles was man tut, wo man auf die Menschen zugeht, wo man in Verbindung zueinander tritt, das befördert mehr Leben. Auch hier in der kleinen Dorfkirche, die von der klerikalen Seite aus nur ein Mal pro Monat bespielt wird.« (Schroder, RB) Das liege vor allem auch an der stadträumlichen Vorstellung der Kirchenmitglieder von ihrer Gemeinde. Denn in Boxhagen-Stralau seien zwei Gemeinden zusammengelegt worden, »und die Bahnlinie war die Schnittstelle. Und über die Modersohnbrücke zu kommen, scheint schwierig zu sein.« (Schroder, RB) Dabei ist noch nicht einmal die Rede von der Halbinsel Stralau, deren Zugehörigkeit zum eigenen Gebiet von der Gemeinde schlichtweg »gar nicht zur Kenntnis genommen« worden sei (Schroder, RB). Das solcherart vergrößerte und topographisch unübersichtliche Gemeindegebiet übersteigt, so die Interpretation des GKR-Vorsitzenden, bei weitem das, was die Kirchenmitglieder jeweils als ›ihre‹ Gemeinde verstünden. Also versucht der – ebenfalls neu hinzugezogene – GKR-Vorsitzende, die Gemeinde durch Aktivitäten wieder an dem Gebäude zu interessieren und kooperiert dazu mit einem ehemaligen Abgeordneten des Berliner Senats, der an der Dorfkirche als einem geschichtsträchtigen Gebäude interessiert ist

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und schon viele Jahre zuvor den Förderverein zum Erhalt der Dorfkirche gegründet hatte (Schroder, RB). Der Förderverein seinerseits sucht sich Kooperationspartner für das Einwerben von Geldern zum Ausbau und Erhalt des alten Gebäudes: »Der Verein hat in Zusammenarbeit mit dem Museum Friedrichshain/Kreuzberg eine Ausstellung in die Kirche gebracht. […] Wir haben 500.000 Euro Lottomittel bekommen und können damit den Vorraum der Kirche als Geschichtsraum ausbauen.« (Schroder, RB) Zur Eröffnung der Ausstellung nach dem Umbau findet ein Gottesdienst statt, der auch die Beteiligten ehrt, die sich beim Erhalt der Kirche besonders verdient gemacht haben. Die Ausstellung selbst ist nicht nur der Kirche und ihrem Inventar gewidmet, sondern auch Alltagsgegenständen aus der Steinzeit, welche auf Stralau gefunden wurden. Im Gottesdienst mahnt der Pfarrer an, dass es sich bei der Dorfkirche immer noch um eine Kirche handele. Sie sei mitnichten ein Museum, selbst wenn Kultur in die Kirche Einzug gehalten habe. (FFT RB)

Abbildung 6: Museum oder Kirche? Dorfkirche Stralau während des Gottesdienstes zur (Wieder-)Eröffnung der Kirche mit Dauerausstellung im Vorraum

3.2.5 Zwischenfazit: Hybridität als Verhandlungsgegenstand Zwei Quartiere im Osten Berlins, die auf den ersten Blick als weithin säkularisiert in Erscheinung treten, lassen bei genauerem Hinsehen unterschiedliche und in sich durchaus komplexe Bezüge zur Religion erkennen. Im Falle des WiR-Vereins ist es ein ›säkularer‹ Nachbarschaftsverein, der raumbezogen aktiv wird und eine Stadtteilöffentlichkeit für alle Bewohner:innen befördern will.15 Dieser Verein ist jedoch in historischer Hinsicht 15

Zur Affinität von Religion und zum Thema Öffentlichkeit siehe Kapitel 6.

3. Hybride

ein Hybrid: Hervorgegangen aus einem freikirchlichen Hauskreis steht er in Verbindung zu einer institutionalisierten Religionsform. Von dieser setzt er sich aber insofern ab, als er in seiner öffentlichen Selbstdarstellung auf explizit religiöse Referenzen verzichtet. Zugleich zeigt er sich weiterhin ansprechbar für Religion und arbeitet mit der lokalen Gemeinde der Landeskirche in der Ausrichtung des Martinsumzuges zusammen. Indem hier sowohl Vertreterinnen der Gemeinde als auch Vertreter des Vereins nebeneinander in Erscheinung treten, erhält der Verein damit seine explizit nichtreligiöse Charakteristik. Insofern ist in der Tätigkeit des Vereins Verbindung und Differenz zur religiösen Sphäre gleichermaßen intendiert – ein Fall von Hybridität im eingangs entfalteten Sinne. Die Umzüge selbst sind in mehrfacher Hinsicht durch Hybridität von Religiösem und Nichtreligiösem gekennzeichnet. Auf dem Stralauer Umzug stehen die auf das christliche Traditionsgut verweisenden und teils explizit religiös semantisierten Lieder gleichsam wie ein Fremdkörper im Umfeld eines Laternenumzuges, auf dessen nichtreligiösen Traditionscharakter ein Interviewpartner dezidiert Wert legt. Der Laternenumzug ist als Säkularisat des Martinsfestes inzwischen eine eigene soziale Typisierung, die damit in Differenz zu den religiös de- oder konnotierten Liedern treten kann. Insofern liegt auch hier, wenngleich sehr verhalten, Hybridität vor. In der Wasserstadt wird dieser Hybridcharakter wesentlich deutlicher: Ein nichtreligiöser und ein religiöser Veranstalter treten nebeneinander auf; auf der Einladung ist die Veranstaltung als »Lampionumzug« und als »St. Martin an der Bucht« doppelt codiert; das Martinsspiel findet auf dem Gelände des Nachbarschaftsvereins statt, enthält aber religiöse Semantiken; ein Pferd verweist auf eine historisch abständige Tradition, und eine Pfarrerin tritt auf. Sie sagt »drei pastorale Sätze« und ist dabei um eine religiös affine, aber allgemeine Symbolik vom Licht im dunklen November bemüht. Das von ihr explizit religiös-moralisch gedeutete Verschenken von Martinshörnchen fungiert als Distanzmarkierung zum sonst üblichen Imbissverkauf. Die Stralauer Dorfkirche schließlich weist als Gebäude religiöse Hybridität auf. Ihre Hauptverwendung als historisches Museum und die gelegentliche Verwendung als liturgischer Raum bilden eine Dualität der Nutzungspraktiken. Diese sind mit unterschiedlichen sozialen Typisierungen, aber auch mit unterschiedlichen Nutzergruppen, institutionellen Trägern und Kooperationspartnern verbunden. Im Raum selbst materialisiert sich Hybridität im Gegenüber von Ausstellungstafeln und liturgisch verwendeten Einrichtungsgegenständen ohne musealen Wert (etwa der Anstecktafel für Lieder). Zwischen beiden stehen doppelt, liturgisch wie museal nutzbare Artefakte wie etwa der Altar der Kirche. Die Einlassung des Pfarrers anlässlich der Ausstellungseröffnung, es handele sich eigentlich um eine Kirche und nicht um ein Museum, zeigt eine mögliche Reaktion auf Hybridität: die Eindeutigkeitsprätention. Ebenso, nur materialiter umgekehrt, besteht der Bäcker in Stralau auf einen eindeutig nichtreligiösen »Lichterlauf«. Solche Eindeutigkeitsprätentionen sind spezifische Beiträge zur Verhandlung über die im Hybridphänomen mitgegebene Differenz von Religiösem und Nichtreligiösem. Andere Beiträge liegen mit der expliziten Deutungsaktivität der Pfarrerin oder den Deutungssemantiken im Martinsspiel (»ich glaube, Ihr habt verstanden, was es heißt, Christ zu sein«) vor. Sie arrangieren Religiöses und Nichtreligiöses nicht nebeneinander in einem wechselseiti-

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Religion im urbanen Raum

gen Exklusionsverhältnis, sondern gleichsam übereinander als verschiedene Deutungshinsichten auf einen gemeinsamen Referenzpunkt (die gemeinsame Praktik des Umzuges; die im Spiel dargestellten Praktiken moralischer Vorbildlichkeit). Wiederum andere richten sich stillschweigend in den Hybridformen ein und suchen für sich einen angemessenen Platz, indem sie eigene Differenzen markieren und etwa im Umzug mitlaufen, aber die religiösen Lieder nicht oder wenigstens nicht so laut mitsingen.16 Das kann mit Unbehagen verbunden sein, wenn die Anforderung entsteht, sich explizit zu solchen Differenzsetzungen zu verhalten, wie etwa im Falle des in der teilnehmenden Beobachtung auf dem Umzug angesprochenen Paares. Die im Umfeld hybrider Phänomene stattfindenden Verhandlungen um Differenz weisen somit unterschiedliche Niveaus von Explizitheit auf. In ausdrücklicher Form treten sie in der Stadtteilöffentlichkeit auf (siehe Kapitel 6). Schließlich ist zu fragen, inwiefern die Hybridität von »religiös« und »nichtreligiös« und die mit ihren gegebenen Verhandlungen und Positionierungsanstrengungen auch eine unmittelbar soziale Funktion haben. Es ist zu vermuten, dass das Gegenüber von »alten« Einwohnern mit DDR-Vergangenheit und neu Hinzugezogenen, die zum Teil aus dem religionsaffineren »Westen« kommen, einen der relevanten Kontexte bildet. Die Frage, wer im Quartier legitimerweise Heimat hat, steht im Raum. In dieser Situation inszenieren Hybride potenziell die Legitimität unterschiedlicher Herkünfte und weltanschaulicher Zugehörigkeiten in einem gemeinsamen Quartier. Diese Beobachtungen sollen nun einer Systematisierung unterzogen werden.

3.3 Elemente einer Phänomenologie religiöser Hybridität Im Folgenden werden vier Formen der Hybridität nach der Art der Verbindung und nach der Art der Differenz phänomenologisch unterschieden. Dabei handelt es sich um idealtypisch herauspräparierte Abstraktionen aus den Daten der Rummelsburger Bucht und der anderen Quartiere. Diese Formen dürften in konkreten Situationen regelmäßig ineinander liegen, indem sie in der Situation phänomenal verbunden sind bzw. indem die Situationen verschiedenen Beteiligten unterschiedlich erscheinen. Die Liste ist nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit verbunden; vermutlich lassen sich weitere Formen der Hybridität aufweisen.

3.3.1 Mischung Von einer Mischung soll gesprochen werden, wenn die beiden Elemente des Hybrids am konkreten Ort und ggf. zur konkreten Zeit ineinanderfließen, ihre Differenz aber dadurch konstituiert ist, dass sie üblicherweise klar geschieden sind bzw. erscheinen. Das wäre in der Rummelsburger Bucht beim Wasserstädter Martinsumzug der Fall, der von (säkular auftretendem) Bürgerverein und (religiöser) Kirchengemeinde gemeinsam gestaltet und von Repräsentanten:innen beider Seiten begleitet wird. Die Verschiedenheit 16

Insgesamt können Menschen mit Mehrdeutigkeiten in vielerlei Hinsicht durchaus gut leben; vgl. Bauer 2018.

3. Hybride

der Akteure, die jeweils auch sichtbar einzelne Elemente des Umzugs verantworten, konstituiert die gemeinsame Aktivität als Hybrid. Als Beispiel aus einem anderen Stadtquartier kann die zur Al-Nour-Moschee umgewidmete Kapernaumkirche in Hamburg Billstedt/Horn angeführt werden (siehe 4.2.3). Mindestens in der Darstellung eines für die Moscheegemeinde Verantwortlichen handelt es sich um einen gemischten Ort, weswegen auf dem ehemaligen Kirchturm statt des abmontierten Kreuzes kein Halbmond, sondern ein arabischer Schriftzug für den Gottesnamen angebracht worden sei: »[Interviewfrage:] Das heißt, für Sie ist der Halbmond ein aufgeladenes Symbol? [Khouri:] Nein, das will ich damit nicht sagen. Ich sehe ihn als Differenzierungssymbol. Und ich glaube, wenn es sich um den Neubau einer Moschee handeln würde, dann wäre nichts dagegen zu sagen. Aber weil das eine Kirche ist und praktisch ein gemischter Ort sein wird, quasi ein Ort mit zwei Gesichtern und zwei Religionen, zwei Historien, zwei Geschichten: daher soll kein Symbol dominieren.« (Khouri, B/H) An dem – in diesem Fall interreligiösen – Hybrid-Ort kommen zwei Religionen mit ihren Traditionen zusammen. Was an anderer Stelle klar getrennt ist – Islam hier, Christentum dort – soll hier ineinander liegen: Die Moschee soll »ein gemischter Ort«, »ein Ort mit zwei Gesichtern« sein. Die Wahrnehmung davon, wie sich hier Verbindung und Differenz zueinander verhalten, dürfte bei verschiedenen Beteiligten sehr unterschiedlich sein. Mindestens aber ist hier ein religiöser Ort dezidiert als Hybrid, genauer: als Mischung zweier üblicherweise Getrennter, aufgerufen und inszeniert. Bei Mischungen handelt es sich um Hybridphänomene, die von der beständigen Inszenierung der Differenz insofern entlastet sind, als diese Differenz in diesem Kontext als selbstverständlich gilt. Im Fokus der Inszenierung steht mithin die Darstellung von Gemeinsamkeit.

3.3.2 Mehrfachcodierung Anders verhält es sich bei der Mehrfachcodierung. Hier ist das Hybrid mit verschiedenen Codes ausgestattet, die auf unterschiedliche Sinnsysteme verweisen. Diese Codes können je und je hervorgeholt oder zurückgestellt werden, wenn etwa ein hybrider Ort unterschiedlich genutzt wird. Ein Beispiel aus der Rummelsburger Bucht ist die durch Ausstellungstafeln und liturgisches Interieur doppelcodierte Stralauer Dorfkirche. Wer sie als Museum nutzt, blickt auf die Ausstellungstafeln; wer am Gottesdienst teilnimmt, auf die Anstecktafel mit den Liednummern. Das mehrfachcodierte Hybrid lässt sich also, mindestens analytisch, aber auch im Kontext verschiedener Nutzungspraktiken, in durch Codes des Einen und Codes des Anderen (und ggf. adiaphorische Codes) markierte Anteile zerlegen. Ein Beispiel aus einem anderen Quartier ist die Chapel der Heidelberger Südstadt. Die ehemalige amerikanische Militärkirche wurde in den 1950er Jahren als Raum erbaut, der Angehörigen verschiedener Religionen bzw. Konfessionen zur Nutzung offenstehen sollte. Sie war so eingerichtet, dass die Ausstattung entweder von allen Religionen bzw. Konfessionen gemeinsam genutzt werden oder je nach Nutzung verändert werden konnte. So war der Altartisch drehbar installiert; seine Front zeigte zur Gemeinde hin entweder jüdische oder christliche Symbolik.

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Religion im urbanen Raum

Im Zuge der Konversion des Kasernengebiets, zu der die Chapel gehörte, in ein Wohnquartier wurde aus diesem interreligiösen Hybrid ein religiös-nichtreligiöses Hybrid. Da keine der christlichen Gemeinden vor Ort sich vorstellen konnte, das Gebäude zu betreiben, soll es mit Unterstützung der Stadt Heidelberg als Bürgerzentrum betrieben werden. Der dafür gebildete Trägerverein besteht aus zwei nichtreligiösen Partnern, dem Stadtteilverein und der Kreativwerkstatt formAD e.V., sowie zwei dem religiösen Spektrum angehörenden Partnern, dem ökumenischen Effata-Eine-Welt-Kreis und der Caritas. Die Ausrichtung des Bürgerzentrums insgesamt ist eine nichtreligiöse: »Die Angebote sind niederschwellig, barrierefrei und unter Berücksichtigung aller Generationen zu gestalten. Das Bürgerzentrum ermöglicht Partizipationsmöglichkeiten für aktuelle und zukünftige Bürgerinnen und Bürger. […] Das Bürgerzentrum generiert und fördert bürgerschaftliche Engagements auf breiter Basis und stellt die Räumlichkeiten auch für Veranstaltungen anderer Akteure der Stadtgesellschaft, wie z.B. Kirchen und Schulen zur Verfügung.«17 Zugleich wird auf die religiöse Codierung nicht verzichtet. Auf einer Veranstaltung, bei der ein Name für das zukünftige Bürgerzentrum gesucht wird, werden drei verschiedene Vorschläge entwickelt: »Chapel – Freiraum für Kultur und Begegnung«, »Chapel – Aktiv und Offen«, »Chapel – Austauschraum« (FFT HDS).18 Das symbolische Kapital der religiösen Bezeichnung »Chapel« soll jedenfalls nicht aufgegeben, sondern mit einem Zusatz aus dem Kulturjargon – in durchaus spielerischer Weise – hybrid kombiniert werden. So setzt sich die Tradition der Mehrfachcodierung an diesem Ort fort.

3.3.3 Feine Unterschiede Während Mischungsphänomene ihre Differenz nicht betonen müssen, weil sie üblicherweise Getrenntes verbinden, und Mehrfachcodierungsphänomene eine bleibende, starke Differenz verschiedener Codes aufweisen, ist die Differenz beim Typ »feine Unterschiede« eher unauffällig und nur für Eingeweihte sichtbar. Das gilt etwa für die religiösen Verweise auf dem Wasserstädter Martinsumzug. Die moralische Geschichte von der Mantelteilung und die erbauliche Rede vom Licht im dunklen November treten nicht stark als religiöse Grenzmarkierungen hervor. Aber sie ermöglichen es nach Wahrnehmung der Pfarrerin den religiös affinen Neuhinzugezogenen, sich in einer ihnen vertrauten Erzähl- und Symbolwelt zu beheimaten. Für andere Teilnehmende des Lampionumzuges dürften sie mindestens nicht weiter stören. Solche feinen Unterschiede sind unter dem Stichwort der Niedrigschwelligkeit auch Gegenstand intentionaler Gestaltung religiöser Orte. Über den Kirchenladen »Kirche in der Bahnstadt« in Heidelberg wird berichtet: »[M]it der Einrichtung des Loungebereiches [am Eingang], das sollte einladend sein, so ein bisschen eine Hotellobby-Atmosphäre. Das hat der Architekt immer gesagt. Die

17 18

Absichtserklärung des Trägervereins, https://www.heidelberg.de/hd,Lde/HD/Rathaus/gemeinde rat+8_10_2015+und+ausschuesse+oktober.html, abgerufen am 14.6.2016. Dieser Abschnitt des Feldforschungstagebuchs stammt von Simeon Prechtel, Heidelberg.

3. Hybride

Hotellobby war sein Vorbild. Wo man einfach mal unverbindlich Platz nimmt, sich hinsetzen und auch wieder gehen kann. Deshalb direkt an der Tür. […] Man muss nicht weit in den Raum, um drin zu sein.« (Vollmer, HDB) Mit der Einrichtung einer Hotellobby ist klar eine nichtreligiöse soziale Typisierung aufgerufen, die den Bewohnern des Stadtteils Zugänglichkeit und Erwartungssicherheit signalisieren soll. Auch der Hauptraum ist zurückhaltend gestaltet worden – aber nicht bar jeder religiösen Symbolik: »Der Raum sollte ein Symbol bekommen. Auch da wollten wir bewusst nichts Aufdringliches. Wir wollten das Ganze wirklich relativ neutral halten. Eben niedrigschwelliger. Dass da nicht das große Kreuz an der Wand hängt, sondern ein Relief, fein ineinandergeschlungene Weinstöcke, die ein Kreuz bilden. Aber man kann da auch anderes hineinlesen.« (Vollmer, HDB) Weinstöcke und ein auf den zweiten Blick sichtbares Kreuz: Hier sind christliche Zentralsymbole einbezogen, aber gerade in der unauffälligen Form des feinen Unterschiedes. Der Raum soll auch für nichtreligiöse Gruppen und nichtliturgische Zwecke nutzbar sein. Diese »feine« Art der Differenzmarkierung zum nichtreligiösen Umfeld ist Resultat eines intensiven Verhandlungsprozesses, in dem Wünsche nach eindeutiger Identifizierbarkeit und Wünsche nach Zugänglichkeit für alle eingegangen sind.

3.3.4 Diffusität Während bei den »feinen Unterschieden« die kleinen Differenzen als nicht-anstößig präsentiert, aber trotzdem aufrechterhalten werden, ist beim Hybriditätstyp der Diffusität die Differenz nicht mehr sicher gegeben. Damit befindet sich dieser Typ am Rande der Hybridität, dort, wo diese in etwas anderes, nicht mehr Hybrides übergeht. Als Beispiel aus der Rummelsburger Bucht kann das Stralauer Laternenfest gelten. Über die wenigen religiös semantisierten Lieder hinaus, die ohnehin kaum mitgesungen werden, gibt es auf dem Laternenumzug keine weiteren Differenzmarkierungen mehr, die noch von religiöser Hybridität zeugen. Dann, wenn die heterogene Herkunft der Mischung nicht mehr gewusst wird, die Mehrfachcodierungen nicht mehr bekannt sind oder die feinen Unterschiede von niemandem mehr wahrgenommen werden, fällt die für Hybride konstitutive Differenz dahin. Für den in Abschnitt 3.3.3 angesprochenen Heidelberger Kirchenladen ist eine solche Diffusität kritisch angemerkt worden: »Der HALT ist sozusagen genau wie die Wohnbereiche oder wie eine Kita oder eine Schule, es ist einfach nur ein Raum. Der ist genauso hoch, der ist ähnlich geschnitten, 08/15. Also so, wie er jetzt eingerichtet ist, ist es wunderbar, aber er es erinnert mich, wenn ich dort sitze, nicht an Kirchen.« (Abele, HDB) Dem Raum fehlen insbesondere die ästhetischen Anmutungsqualitäten, die die Interviewpartnerin in einer Kirche erwartet. Der behauptete Unterschied durch das religiös lesbare Symbol ist offensichtlich so fein, dass er für sie unter die Wahrnehmungsschwelle gesunken ist. Der Raum funktioniert damit für sie nicht mehr religiös; eine hybride –

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Religion im urbanen Raum

also hier: potenziell auch liturgische – Nutzung ist ihr demnach nicht plausibel. Eine ähnliche Feststellung trifft auch eine hauptamtliche Mitarbeiterin der Kirche: »Wir machen diese Erfahrung selbst oder gerade bei kirchenfernen Menschen, wenn sie dann mal anlässlich einer Trauung oder Taufe tatsächlich wieder einen sakralen Ort aufsuchen, dann soll er aber auch bitte als solcher identifizierbar sein. Also kein Versammlungsraum, den man tagsüber für Gymnastik und abends für den Gottesdienst nutzt, sondern tatsächlich einer, der sich in der Ästhetik auch als sakraler Raum zeigt.« (Hessler, HDS) Ganz ähnlich wird über den Kirchenladen im Vauban in Freiburg berichtet: »Und dann tauchte auch […] diese Glasfassade auf […]. Die war nicht gestaltet. […] Es war Glas. Damals war [das] Motto, wir wollen transparente Kirche sein. Also brauchen wir nichts, was uns da verdeckt. Man sieht auch die wunderschönen Lamellen, die da hängen. Also, es war wirklich büromäßig. Aber der Gedanke war, transparent zu sein. Aber es war faktisch so, dass hier kein Mensch zur Ruhe kommen konnte, weil es so transparent war, dass man weder innen noch außen abgeschirmt war. Meditation ging faktisch gar nicht, weil man auf der Straße sitzt.« (Reese, FB) Wiederum ist es die Einziehung der Differenz zum Straßenraum oder zu einem Bürogebäude, die eine religiöse Nutzung des Raumes nach der Wahrnehmung des Interviewpartners unmöglich macht. Der als Hybrid für eine Mehrfachnutzung geplante Raum wird zu einem diffusen, fast schon eindeutig ›rein‹ funktionalen Raum. Der Typ der Diffusität ist phänomenal am schwierigsten zu greifen. Am ehesten dürfte er mit einem Unbehagen einhergehen, dass hier etwas sein sollte oder erwartet wird, was aber nicht eingelöst wird. Insofern tendiert das diffus Hybride dazu, seine Differenz völlig aufzugeben und sich zu vereindeutigen. So wird im Kirchenladen »HALT« am Ende des Forschungszeitraums kein Gottesdienst mehr gefeiert.

3.4 Fazit Die Unterscheidung von religiös und nichtreligiös – oder auch: kirchlich und nichtkirchlich – ist im Fluss und zudem oft unklar und uneindeutig. Die Chapel der ehemaligen Kaserne wird nach der Konversion zum Wohnquartier zum von mehreren nichtreligiösen und religiösen Vereinen bewirtschafteten Bürgerzentrum des Stadtteils – religiös oder nicht? Was im städtischen Raum angetroffen wird, sind oftmals unentwirrbare Hybridisierungen zwischen Religiösem und Nichtreligiösem. Wer Religion in der Stadt sucht, darf nicht nur nach Religion suchen. Phänomene der Hybridität lassen sich dabei auf vielen Ebenen finden. Organisationen, Gebäude, Praktiken und Symbole lassen sich als hybrid beschreiben, wenn in ihnen das Ineinander von Religiösem und Nichtreligiösem oder auch von zwei Religionen wahrgenommen wird. Religion manifestiert sich näherhin in der Spannung von einem Bedürfnis nach Unterscheidung und Distinktion vom Nichtreligiösen (»Sichtbarkeit«) und zugleich einem Bedürfnis nach Präsenz in und Teilhabe an der »weltlichen« Kultur, des »weltlichen«

3. Hybride

Stadtraums, der allgemeinen Öffentlichkeit (siehe auch Kapitel 6). Religion lässt sich als Differenzpraxis verstehen, die eine Neigung zur Hybridität hat. Insbesondere nach der Art der Differenz zum Nicht- oder Andersreligiösen lassen sich verschiedene Hybriditätsphänomene unterscheiden (Mischung, Mehrfachcodierung, feine Unterschiede, Diffusität). Sie alle stehen dem Bedürfnis nach eindeutiger, klarer Präsenz von Religion in der Stadt entgegen (und stimulieren dieses zuweilen). »Rein« erscheint Religion dem Politikwissenschaftler Olivier Roy zufolge nur als Produkt von Dekulturationsprozessen, also solchen starken Differenzpraktiken, in denen die Verbindung zum kulturellen Kontext als gekappt inszeniert wird.19 Die Wahrnehmung von Hybridisierung behauptet daher nicht die (sozusagen rückblickend vorausgesetzte) Existenz einer »Reinform« von Religion. Was hybridisiert, also eine Verbindung mit anderem eingeht, sind nicht »reine«, sondern in der Regel bekannte, habitualisierte, institutionalisierte Formen von Religion (die selbst wiederum in anderer Perspektive als Hybride verstanden werden können). Solche Phänomene religiöser Hybridität liegen nicht im Blick der Großerzählungen von moderner Säkularisierung oder auch von Postsäkularität (Habermas 2001; Graf 2013). Damit ist nicht bestritten, dass diese Großerzählungen ebenfalls empirischen Anhalt haben; sie decken nur eben nicht den Gesamtumfang religiöser Präsenzen in der Moderne, insbesondere im städtischen Raum ab. Die Phänomene urbaner Religion sind vielfältiger.

19

»Die Dekulturation des Religiösen hat entscheidende Konsequenzen: Zuerst macht sie aus dem Raum zwischen dem Gläubigen und dem Ungläubigen eine Barriere, sie teilen künftig weder Handlungsweisen noch Werte. Der gesamte Zwischenbereich, der aus nicht praktizierenden Gläubigen, den nur formal Praktizierenden und den Ungläubigen mit einer religiös geprägten Kultur bestand, verschwindet.« (Roy 2010: 30)

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4. Wandel

4.1 Stadträumlicher Wandel im Spiegel erzählter Geschichte(n) Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie sind ›neue‹ Stadtquartiere. Allerdings bleiben neue Stadtquartiere nicht neu – sie altern. Die Frage, wie lange ein Stadtquartier als neu zu gelten hat, lässt sich dabei nicht abstrakt beantworten. Im relationalen Gesamtgefüge einer Stadt können Quartiere – wie auch ihre Bewohner:innen – noch nach Generationen als relative Neulinge gelten. Die beiden ältesten NeubauQuartiere, die in die vorliegende Forschung einbezogen wurden, sind Neuperlach in München (Baubeginn 1967) und Mümmelmannsberg in Hamburg (Baubeginn 1970). Anders als in den anderen Quartieren der Studie blicken die von uns interviewten Protagonisten hier bereits auf eine fünfzigjährige Geschichte ihres Viertels und seiner religiösen Topographie zurück. Damit rückt die diachrone Dimension in besonderer Weise in den Vordergrund: Mit der Stadt wird auch die religiöse Landschaft als eine Größe thematisch, die sich über die Zeit gewandelt hat. Dieser Wandel manifestiert sich in Umnutzungen von religiösen Gebäuden, in der Zusammenlegung kirchlicher Verwaltungseinheiten oder auch in der Neuausrichtung kirchlicher Angebote an alternativen Zielgruppen. Greifbar wird er aber vor allem anderen in den Geschichten der lokal situierten Akteure. Der Begriff des Wandels – insbesondere des sozialen Wandels – gehört zu den Grundbegriffen sozialwissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung.1 Moderne Gesellschaften können geradezu durch das Prinzip des Wandels bzw. einer »dynamischen Stabilisierung« (Rosa 2019: 15) definiert werden. Der permanente Übergang ist ihr Normalfall, das heißt, sie stabilisieren sich mittels und in Gestalt einer Dynamik, die u.a. in ökonomischem Wachstum und in wissenschaftlich-technischer Innovation ihren Ausdruck findet. Soziologisch strittig ist allerdings, wie Verlauf und Charakteristik dieser Dynamik näher zu bestimmen sind, ob sie sich eher kontinuierlich oder disruptiv vollzieht und welches ihre treibenden Faktoren sind – ganz abgesehen davon,

1

Die Angabe von Belegtiteln zu Begriff und Theorie des sozialen Wandels würde schnell barocke Formen annehmen, daher sei hier nur exemplarisch auf einen Klassiker sowie zwei neuere deutschsprachige Werke verwiesen: Ogburn 1922; Schelkle et al. 2000; Schäfers 2012.

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Religion im urbanen Raum

dass unterschiedliche soziologische Theorien auch differierende Maßstäbe der Wahrnehmung und Bewertung dessen ansetzen, was überhaupt als (relativ) statisch und was als (relativ) dynamisch gelten soll. Eine einheitliche Theorie des sozialen Wandels ist angesichts dessen nicht in Sicht: »So verfügt die Soziologie nicht über eine einzige, paradigmatische Theorie sozialen Wandels, die unangefochten den Anspruch auf Erklärung der Dynamik moderner Gegenwartsgesellschaften stellen könnte, und die letztinstanzlich und damit ohne Berufungsmöglichkeit über zulässige Probleme, Methoden, Daten und Fakten entschiede.« (Weymann 1998: 18) Diese Schwierigkeiten, gesellschaftlichen Wandel »letztinstanzlich« zu erklären (bzw. zu prognostizieren), tun freilich der Tatsache keinen Abbruch, dass insbesondere die Städte als herausgehobene Orte gelten, in denen er zum Ausdruck kommt: »Städte sind soziale Organismen, die sich laufend verändern. Dabei häufen sie gebaute Zeitschichten aufeinander und werden zu Speichern, in denen sich Überreste ihrer eigenen Geschichte materiell ablagern.«2 Städte sind Orte des permanenten Wandels. Dieser manifestiert sich in den Sedimenten der städtischen Architektur, im Austausch von Bevölkerungsgruppen, im Wechsel von Mentalitäten und kulturellen Formationen. Städte sind Schauplätze des Wandels auch in Bezug auf die Einstellungen ihrer Bewohner:innen zu Fragen des Glaubens und der Religion. Die veränderte Lage der Religion in der modernen Gesellschaft – und hier besonders in den Großstädten – wurde dabei lange einseitig als eine Geschichte der Säkularisierung erzählt. Das Basis-Narrativ dieser Geschichte war, dass Modernisierung Rationalisierung bedeute, Rationalisierung aber – mit Max Weber – einer »Entzauberung der Welt« gleichkäme, in der traditionelle Formen des Jenseitsglaubens an Plausibilität und Relevanz verlören. Und weil in dieser Theorietradition die Großstadt als Labor und exemplarische »Organisationsform der Moderne« (Dangschat 1994: 337) schlechthin gesehen wird, schlügen die Säkularisierungseffekte hier auch am stärksten zu Buche. Es ist hier nicht der Ort, diese These ausführlich zu diskutieren.3 Einer pauschalen Gleichsetzung von Modernisierung und Säkularisierung ist jedenfalls zwischenzeitlich nicht nur aus sozialwissenschaftlich-konzeptioneller Sicht widersprochen worden (Joas 2013). Auch neuere empirische Studien belegen das Vorhandensein vitaler und ausdifferenzierter Religionsmärkte in unterschiedlichen Metropolen dieser Erde (Becker et al. 2014). All das bedeutet nicht, dass die Säkularisierungsthese keinerlei Evidenz besäße. Aber nicht nur ist der Bedeutungsgehalt des Begriffs der Säkularisierung in sich zu differenzieren (Casanova 1994), sondern – und für den vorliegenden Kontext noch wichtiger – ist die Säkularisierungsthese als religionsanalytisches Konstrukt durch andere Beschreibungskategorien der Pluralisierung, Vitalisierung, Dynamisierung und Hybridisierung moderner Religionskulturen zu flankieren.

2

3

Monica Rüthers, Städte im Wandel. Städte als Gesellschaftsentwurf und Geschichtsspeicher, http s://www.bpb.de/politik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft/216894/geschichte-der-stadtentwic klung, abgerufen am 9.7.2020. Vgl. exemplarisch Pollack 2012; Willems et al. 2013; Bär 2020.

4. Wandel

Stadträumlicher Wandel wird im Zugriff der vorliegenden Studie greifbar in Form von Erzählungen, die vom jeweiligen Standpunkt der interviewten Protagonisten abhängen. In ihren Geschichten spiegeln sich auch die skizzierten Leitbegriffe und Diskurse. So diagnostizieren sie eine »Privatisierung« der Religion, der sie entgegenwirken wollen, oder ringen darum, ob sie den Rückbau kirchlicher Strukturen negativ als »Schrumpfung« oder, positiver konnotiert, als »Konzentration« beschreiben wollen (zu den Belegen siehe 4.2). In jedem Fall steckt in diesen unterschiedlichen Beschreibungen immer auch ein Moment der Stellungnahme, der Selbstpositionierung der Akteure gegenüber den von ihnen diagnostizierten Prozessen. Aber nicht nur die Lage der Religion, sondern auch der städtische Gesamtkontext wird in den Interviews als ein solcher thematisch, der teils durch langfristig-schleichende, teils durch disruptive Veränderungen gekennzeichnet ist. Die Dynamik des religiösen Feldes überlagert und verschränkt sich aus Sicht der Interviewten mit unterschiedlichen Entwicklungsdynamiken des Städtischen. Gerade in neuen Stadtquartieren ist die Taktzahl der Veränderungen dabei mitunter hoch, so dass die religiösen Akteure, die hier Fuß fassen wollen, zu häufigen Neupositionierungen und -justierungen ihrer Handlungsstrategien genötigt sind. Der Fokus des Kapitels liegt, noch einmal, auf erzählten Geschichten des städtischen und religiösen Wandels. Was folglich nicht geboten wird, ist eine ›Theorie‹ des stadträumlichen Wandels der Religion. Ganz abgesehen von den angedeuteten grundsätzlichen Problemen, die eine solches Programm nach sich zöge, läge sein Erklärungsanspruch auch jenseits des Rahmens der vorliegenden Untersuchung. Was stattdessen zur Darstellung kommt, ist eine Zusammenstellung von Geschichten, in denen eine sich wandelnde städtisch-religiöse Lage thematisch wird. Oft geht es in diesen Geschichten um Verlust, Abbau und Verfall. Viele Protagonisten haben in ihrer eigenen (Berufs-)Biographie den Einbruch von Kirchenmitgliedschaftszahlen, die Zusammenlegung bzw. Fusion von kirchlichen Verwaltungsgebieten, die Abwicklung von Gebäudebeständen sowie einen Wandel im ehrenamtlichen Engagement erlebt. Sie haben erlebt, wie die kirchlichen Organisationseinheiten und Verwaltungsaufgaben größer und die personellen und finanziellen Ressourcen relational dazu immer kleiner wurden. Daneben treten andere Geschichten, die religiösen Wandel unter einem eher positiven Zeichen wahrnehmen: Geschichten des Aufbruchs, vom Zauber des Anfangs, aber auch von der Würde des Flüchtigen. Zum Aufbau des folgenden Kapitels: Zunächst wird der Wandel religiöser Topographien am Beispiel des Hamburger Stadtteils Billstedt-Horn untersucht (4.2). Unter Hinzuziehung von Material aus anderen Stadtquartieren wird sodann der Frage nachgegangen, mit welchen Phänomenen stadträumlichen Wandels religiöse Akteure konfrontiert sind, wie sie ihn deuten und vor welche Herausforderungen er sie in ihrem professionellen Rollenverständnis stellt (4.3). Eine Reihe zusammenfassender Beobachtungen schließt das Kapitel ab (4.4).

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Religion im urbanen Raum

4.2 Religiöse Topographien im Wandel Der Entwicklungsraum Billstedt-Horn übergreift die Stadtteile Billstedt, Horn sowie die Hochhaussiedlung Mümmelmannsberg (4.2.1). Nach einer Einführung in die jeweilige religiöse Topographie werden drei unterschiedliche Geschichten des städtischen und religiösen Wandels nacherzählt, die den Interviews greifbar werden – eine Geschichte der Konzentration (4.2.2), der Konversion (4.2.3) und der Exploration (4.2.3). Der Zusammenhang dieser Geschichten mit dem Standort, von dem aus sie erzählt werden, ist Gegenstand eines Zwischenfazits (4.2.4).

4.2.1

Billstedt-Horn (Hamburg)

Billstedt und Horn sind zwei separate Stadtteile des Bezirks Hamburg-Mitte im Osten der Hansestadt, die aus Gründen der Hamburger Stadtentwicklung von den zuständigen Behörden zu einem »Entwicklungsraum« zusammengefasst wurden. Die offizielle Internetpräsenz der Stadt Hamburg bezeichnet die beiden Stadtteile als eine eigene ›Stadt in der Stadt‹: »Der Entwicklungsraum Billstedt-Horn ist mit rund 108.000 Einwohnern eine Großstadt in der Metropole Hamburg. Vom Dorf bis zum Stadtteil hat das Gebiet eine wechselvolle Geschichte erlebt. Heute ist es ein wichtiger Wohnstandort für Familien […]«.4 Integraler Bestandteil des Entwicklungsraums ist die im südöstlichen Teil Billstedts liegende Hochhaussiedlung Mümmelmannsberg, die noch einmal auf ganz eigene Weise eine Stadt in der Großstadt darstellt: »Erbaut zwischen 1970 und 1979 entstand eine Großsiedlung mit 7200 Wohnungen für 24.000 Menschen. Heute leben etwas über 18.000 Menschen in diesem Quartier. Es verfügt über eine eigene grüne Meile zum Spazierengehen. Die Straßen sind nach berühmten modernen Malern benannt.«5 Neben dem Fehlen eines Zentrums (siehe 1.3.3) heben die Verfasser der Internetpräsenz für den Entwicklungsraum insbesondere den sozialen Wandel innerhalb der Bewohnerschaft als stadträumliche Herausforderung hervor: »Die Einwohnerzahl hat sich durch den Bau von Großwohnanlagen seit Anfang der 1960er Jahre nahezu verdoppelt. Die Einwohnerdichte liegt […] doppelt so hoch wie im Bezirk Hamburg-Mitte und in Hamburg insgesamt. Trotz der Abwanderung von Familien ist die Einwohnerzahl relativ konstant.«6 Der Wandel des Gebietes manifestiert sich zum einen als zunehmende Verdichtung, zum anderen als Austausch seiner Bewohnerschaft. Familien sind abgewandert, während der prozentuale Anteil an Arbeitslosen und Menschen mit Migrationshintergrund zuge-

4 5 6

https://billstedt-horn.hamburg.de/entwicklungsraum/, abgerufen am 29.8.2019. Ebd. https://billstedt-horn.hamburg.de/lage-und-fakten/, abgerufen am 29.8.2019.

4. Wandel

nommen hat. So entwickelte sich Billstedt-Horn und insbesondere Mümmelmannsberg seit seiner Gründung mehr und mehr in Richtung eines sozialen Brennpunktgebietes.

Abbildung 7: Stadtplan mit religiösen Standorten in Horn (Al-Nour-Moschee), Billstedt (Kreuzkirche) und Mümmelmannsberg (Kirchenzentrum)

Die folgenden Abschnitte orientieren sich an den drei stadträumlichen Gebieten bzw. Siedlungskomplexen, die im Entwicklungsraum Billstedt-Horn zusammengefasst sind. In den Interviews kommen verschiedene Perspektiven auf religiöse Wandlungsprozesse zum Vorschein, die mit unterschiedlichen Handlungsstrategien der Protagonisten verknüpft sind: In Billstedt erwägt man die Aufgabe eines kirchlichen Standorts, um die Kräfte zu konzentrieren, in Horn wurde eine ehemalige Kirche in eine Moschee umgewandelt, in Mümmelmansberg macht sich der evangelische Pfarrer auf die Suche nach neuen Wegen in den Stadtteil, um einer diagnostizierten »Privatisierung« der Religion entgegenzuwirken.

4.2.2 Konzentration: Aufgabe eines kirchlichen Standortes Noch zu den Zeiten, zu denen die Senioren, die heute in der kirchlichen Ortsgemeinde anzutreffen sind, zuzogen, bestand das Gebiet aus den zwei alten Dörfern Öjendorf und Schiffbek. Letzteres wurde bereits im frühen Stadium der Verstädterung Hamburgs 1927 eingemeindet, aber dennoch dominierten hier für lange Zeit Wiesen und Brachflächen. Ein evangelischer Pfarrer erzählt: »Also, wenn Sie jetzt hier in den Osten, Richtung Volksdorf fahren, Richtung Speckgürtel, dann ist das eine sehr zersiedelte Landschaft. Sie kommen über große Straßen, dann kommt da ein bisschen grün, dann kommen wieder Hochhäuser, dann wieder ein paar Familienhäusersiedlungen, dann wieder Hochhäuser. Ist nicht so leicht zu verste-

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hen. Das mit den Einfamilienhäusern ist, glaube ich, insofern gut zu verstehen, weil es hier auch so […] Brachland gegeben hat, wo Leute, die bauen wollten vergleichsweise billigen Baugrund bekommen haben.« (Ebersbacher, B/H) Der »zersiedelte« Eindruck bestätigt sich bei einer Begehung im Forschungsprozess. Das Viertel Öjendorf zunächst präsentiert sich als Einfamilienhausidylle, gelegentlich durchbrochen von höchstens viergeschossigen Neubauten. Viel Grün findet sich hier in Form von Hecken, Rasenflächen und Vorgärten. Bis heute, so der Pfarrer, betonen die ortsansässigen Bewohner:innen, dass sie in Öjendorf wohnen. Billstedt klinge einfach verrufen: »Öjendorf und Schiffbek sind, wie soll ich sagen, traditionelle, inzwischen muss man ja sagen: Bezirke. Das ist ja alles Billstedt, und es sind Bezirke von Billstedt, und das sind Bezeichnungen, die in Wirklichkeit nur eine Rolle spielen bei Straßennamen, also es gibt den Öjendorfer Weg, die Schiffbeker Höhe und so, sie finden auch eine Autobahnausfahrt Öjendorf und Billstedt, Schiffbek nicht. Gerade die Öjendorfer pflegen so ein bisschen den Begriff, das finde ich soziologisch ganz interessant, deswegen sage ich das, weil sie ungern Billstedt sagen wollen. Also, wenn sie irgendwo eingeladen werden und gefragt werden: ›Wo kommen Sie her?‹, dann sagen sie lieber ›Öjendorf‹, das hört sich vornehmer an, das können die Leute nicht so einordnen. Weil Billstedt ist […] ganz unten. Tiefer kann man in Hamburg nicht mehr.« (Ebersbacher, B/H) Auch die Bezeichnung der eigenen Gemeinde, in der explizit auf die städtische Topographie Bezug genommen wird, problematisiert der Pfarrer vor diesem Hintergrund: »Ich weiß nur, dass sich diese Begriffe immer noch abbilden in diesen Kirchennamen ›Kirchengemeinde in Schiffbek und Öjendorf‹ und wir manchmal überlegt haben, ob wir uns nicht umbenennen sollen, was weiß ich, Kirche in Billstedt oder Kirche für Billstedt. Aber Billstedt hat diesen Ruf.« (Ebersbacher, B/H) Viel ist im Interview von Schließungen und Verlust die Rede, in denen sich ein schleichender Wandel des Stadtraums manifestiert. So habe Edeka in Öjendorf vor kurzem sein Geschäft geschlossen, und auch die Sparkasse wolle ihre Filiale nicht weiter betreiben. Eigentlich, so sei man sich im Stadtteil einig, sei die ganze Ladenzeile etwas verkommen. Auch das Kino habe zugemacht. Nur der Tante-Emma-Laden existiere noch, und wenn man wolle, dass in Öjendorf alle etwas Bestimmtes wissen sollen, erzähle man es der Verkäuferin. Schön, so die Senioren eines vom Pfarrer geleiteten Seniorengottesdienstes am Nachmittag, sei es eigentlich nur noch im Öjendorfer Park, einem riesigen Gelände mit See mittendrin, im Norden von Billstedt. Eislaufen sei man da früher gewesen. Und der Ententeich eigne sich so gut zum Füttern mit den Enkeln. Aber vor allem habe die Kirche an Bedeutung gewonnen. Sie sei nun als Treffpunkt umso wichtiger, da die Geschäfte als alltägliche Begegnungspunkte schließen. (FFT B/H) Auch die evangelische Gemeinde in Schiffbek und Öjendorf hat einige Veränderung in den vergangenen Jahrzehnten erlebt. Nach einer Fusion von ursprünglich zwei eigenständigen Gemeindegebieten mit je zwei Kirchen, Gemeindevorständen und insgesamt fünf Pastorenstellen mit ihren jeweiligen Pastoraten ist eine Gemeinde mit zweieinhalb Stellen übriggeblieben. Die Hauptamtlichen ringen selbst um eine angemessene Beschreibung bzw. Deutung dieses Prozesses:

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»Na es gibt natürlich schon, sowohl von der emotionalen Lage, als auch von der kirchlichen Ideologie gibt es natürlich immer so einen anstrengenden Versuch, Schrumpfung umzudefinieren. Das tun ja wahrscheinlich viele Institutionen. Wir würden versuchen [sucht nach Worten] es anders zu nennen. […] I don’t know, ein schönerer Begriff wäre zum Beispiel Konzentration. […] Ich glaube, dass wir kleiner werden, ist keine Frage, insofern schon Schrumpfung, aber man kann das auch begreifen als einen Konzentrationsprozess.« (Ebersbacher, B/H) Diese »Konzentration«, so kommentiert er weiter, setze sich auch innerhalb der fusionierten Gemeinde fort, der zum Forschungszeitpunkt zwei Kirchengebäude, die neuere, 1967 erbaute Jubilatekirche, und die ältere, 1953 erbaute Kreuzkirche gehören. Zwar würden noch in beiden Kirchen Gottesdienste abgehalten. Aber der Schwerpunkt des Gemeindelebens habe sich längst auf den Standort der Jubilate-Kirche verlagert. Gefragt danach, wie es zu dieser Schwerpunktverlagerung kam, antwortet der Pfarrer: »Das ist so eine Entwicklung. […] Das ist so ein bisschen Geschichtsschreibung, das sieht jeder ein bisschen anders. Ich würde sagen, das ist nicht inszeniert worden. […] Inzwischen kann man sagen, wir haben hier [in Jubilate] auch einfach die schöneren Räume, es liegt besser. Es hat vom Hintergrund hier ein bisschen Siedlungscharakter. Wenn Sie die Kreuzkirche sehen, dann stellen Sie fest, Sie haben direkt vor der Kreuzkirche ’ne relativ große Straße. Die Straße funktioniert fast schon ein bisschen wie ein Fluss. Das ist ja manchmal so mit Straßen. Gefühlt, Feng-Shui-mäßig ist das da ’ne tote Hose. Und auf der anderen Seite haben Sie da die Bundesstraße, und auf der ganzen Billstedter Hauptstraße sehen sie nur irgendwelche türkischen Brautmodenläden und Spielhallen.« (Ebersbacher, B/H) Die Bevorzugung der einen Kirche gegenüber den anderen sei dem Zitat nach nicht »inszeniert worden«, sondern maßgeblich durch ihre stadträumliche Lage bedingt – wobei die Ursachenforschung fließend in den Bereich der »Geschichtsschreibung« übergehe. Darin kommt das Bewusstsein um die Vieldeutigkeit von Wandlungsprozessen zum Ausdruck, die jeder »ein bisschen anders« sehen kann. Das Transformationsnarrativ der »Konzentration« hat auch Auswirkungen auf Fragen des Gebäudebestandes. Die Raumkapazitäten der Gemeinde sollen, nach Maßgabe der nächsthöheren kirchlichen Verwaltungsebene, den tatsächlichen Bedarfen angepasst werden. Das kann die Vermietung, intensivierte Nutzung oder auch die gänzliche Entäußerung von Gebäuden zur Folge haben. Zum Zweck der Kapazitätserfassung wurde vom Kirchenkreis Hamburg-Ost ein Instrumentarium entwickelt, Kirchengebäude in drei Kategorien einzuteilen. »A, B und C. A ist eine ganz exponierte Kategorie, so etwas wie eine der Stadtkirchen, die Hauptkirchen. B ist ein Mittelding und C ist eine Kirche, die keine Solidarmittel mehr bekommt.« (Kruger, B/H) Diese Maßgabe des Kirchenkreises ist der konkrete Anlass für die evangelische Gemeinde, den Verkauf der Kreuzkirche in Erwägung zu ziehen – und damit einen Veränderungsprozess zu ratifizieren, der, wie angedeutet, schon längst im Gange ist.

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»Und wir sind gerade an so einer Stelle, wo wir denken, zwei Kirchen sind eigentlich eine Kirche zu viel für uns. Wenigstens für regelmäßige Gottesdienste.« (Kruger, B/H) Allerdings stellt es sich als schwierig heraus, möglichst alle Gemeindemitglieder von der Idee einer Veräußerung der Kreuzkirche zu überzeugen: »Also ein Thema ist, dass, wenn Sie so etwas machen, wenn Sie eine Kirche zumachen wollen oder anders nutzen wollen, dann werden Sie immer Leute finden, die sagen, dass das nicht geht. Die plötzlich erst dann merken, dass das ihre Heimat ist. […] Was natürlich nicht heißt, dass sie da hingehen, aber trotzdem! […] Das ist auch für Kirche nervig, weil Kirche immer alle im Boot behalten will, und wenn fünf weinen, da kann man eigentlich nichts machen. Und die fünf weinen aber immer, und insofern muss Kirche dann irgendwann sagen, so wir machen das jetzt aber trotzdem so. Wir sind jetzt glaube ich so weit, dass wir das machen können.« (Ebersbacher, B/H) Kritik kommt allerdings nicht nur aus Reihen der Gemeinde, sondern auch von außen. Artikel in Wochenblättern sprechen sich gegen den Verkauf der Kirche aus. In einem Interview erklärt einer der Redakteure, seiner Auffassung nach seien Kirchengebäude keine Handelsobjekte: Das verbiete ihr sakraler Charakter. Die Institution Kirche sei zudem kein Wirtschaftsunternehmen und müsse im Zweifelsfall nach alternativen Finanzierungsmodellen Ausschau halten. »Das hätte für mich in dem konkreten Fall geheißen, dass man sich nach Möglichkeiten umschaut, auch dort in der Kreuzkirche einen multireligiösen Ort zu schaffen. Mit den Aramäern, mit den Muslimen, die hundert Meter weiter […], mit den Afrikanern, die dort regelmäßig Gottesdienst feiern. Da ist ja mächtig was los. Und wenn man die Kirche in eine GbR eingebracht hätte und vereinbart hätte, dass jeder, der dort Gottesdienst feiern möchte, eine regelmäßige Miete zahlt, dann wäre auch das eine Möglichkeit gewesen, den Ort zu erhalten.« (Kruger, B/H) In der Tat wurde lange nach Möglichkeiten Ausschau gehalten, wie der Standort erhalten werden könne. Der Pfarrer erzählt, dass ein Gemeindeteam dafür extra nach Berlin gefahren sei, um sich alternative Nutzungskonzepte von Kirchengebäuden anzuschauen: »Wir hatten uns das in Berlin mal angeguckt und wirklich mal überlegt, ob wir unter Umständen die Kreuzkirche in so eine Sozialkirche umbauen können. Es gibt in Kreuzberg so eine Kirchengemeinde, wo ein bis zweimal in der Woche in der Kirche selbst Markt ist. Und zwar ausschließlich für Bedürftige. Zwischendurch versucht man ihnen gewaltlos so eine Andacht mit da reinzuschieben und alle, die nicht schnell genug rauskommen, müssen die miterleben [lacht].« (Ebersbacher, B/H) Umgesetzt wurden diese Pläne allerdings nicht, denn im Stadtteil Horn, nur wenige Kilometer weiter, kämpft die Timotheus-Gemeinde mit ähnlichen Problemen, und man erarbeite dort bereits ein ähnliches Konzept. Dass eine solche Konzeption nicht auch für die Kreuzkirche umgesetzt wurde, lag allerdings nicht nur an dieser sozialräumliche Nähe zur Timotheus, sondern auch daran, dass sich kein Träger finden wollte, der mit Geld und personellen Ressourcen das Projekt hätte stemmen können (Ebersbach, B/ H). So liegt der Fokus inzwischen auf der Veräußerung der Immobilie:

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»Wir sind guter Hoffnung. Ich weiß nicht, ob das Kind jetzt tatsächlich geboren wird. Aber das ist die Hoffnung. Sie sind eben auch ’ne potente ausländische Gruppe. Die bringen Geld mit.« (Ebersbacher, B/H) Ob der Verkauf der Kirche tatsächlich umgesetzt wird, blieb im Rahmen der Forschung offen.7 Für den vorliegenden Zusammenhang lassen sich unabhängig vom Ausgang der Geschichte mehrere Punkte festhalten. Erstens: Kirchengebäude ›gehören‹ – in einem übertragenen Sinn – nicht den Kirchen allein. Eine teilweise hohe Identifikation mit Kirchengebäuden gibt es auch seitens der Stadtbevölkerung, wie im Zitat des Zeitungsredakteurs zum Ausdruck kommt. Zweitens: Der Verkauf eines Kirchengebäudes ist aufgrund seiner symbolischen Qualität noch einmal etwas anderes als die Zusammenlegung von Verwaltungsgebieten im Rahmen einer Fusion – obwohl letztere für das Gemeindeleben womöglich sogar noch weitreichendere Folgen hat. Drittens: Die Um- oder Nachnutzung einer Kirche hat sich in der einen oder anderen Weise zur sakralen Architektur des Gebäudes ins Verhältnis zu setzen. Wie das im Einzelfall aussehen kann, soll anhand des folgenden Abschnitts dargelegt werden.

4.2.3 Transformation: Eine Kirche wird zur Moschee Ein prominentes Beispiel dafür, wie sich der Wandel des städtischen Sozialraums in der Um-, Nach- und Nebennutzung seiner religiösen Gebäude manifestiert, ist der Umbau der ehemaligen Kapernaum-Kirche zur Al-Nour-Moschee im Stadtteil Hamburg-Horn. Als erstes landeskirchliches Gebäude in Deutschland, das in dieser Form von einer Kirche zu einer Moschee umgewandelt wurde, sind es gleich mehrere Faktoren, die hier für aufmerksame Beobachtung sorgten – etwa, dass mit Geld aus Kuwait gebaut wurde: »Das ist groß diskutiert worden. Die Kirche ist, glaube ich, im Jahr 2008 entwidmet worden und wurde an einen Privatmann verkauft. Dann wurde sie von den Muslimen gekauft. Es hat eine fürchterliche Demonstration gegeben. Die Nazis wollten dagegen demonstrieren und haben etwa 30 Personen auf die Straße bekommen. Und wiederum gegen die Nazis haben dann 250 Leute demonstriert. Das war direkt vor der Kirche. Und da hat dann die damalige Menschenrechtsbeauftragte der Nordkirche in ihrer Rede gesagt, dass es doch gut sei, dass die Kirche zu einer Moschee werde. Das sei besser als ein Autohaus. Es ist gut, wenn es ein religiöser Ort bleibt.« (Kruger, B/H) Der Verkauf und die damit verbundene Umwandlung der Kirche zur Moschee wurden sowohl in der öffentlichen Tagespresse als auch im kirchlich-theologischen Binnendiskurs kontrovers diskutiert (Körs 2015; Ackermann 2016; Claussen 2016). Gestritten wurde unter anderem darüber, ob der Fall von einmaliger oder exemplarischer Bedeutung sei, aber auch über den genauen Konfliktverlauf. So betont der ehemals für das Gebiet verantwortliche Hamburger Propst, dass die eigentlichen Konfliktlinien »nicht zwischen Christen und Muslimen, sondern zwischen den Religionsgemeinschaften und der Stadt« verlaufen seien:

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2019, zwei Jahre nach dem Untersuchungszeitraum, wurde die Kreuzkirche tatsächlich der syrischorthodoxen Kirchengemeinde St. Michael verkauft.

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»Vor die doppelte Aufgabe gestellt, für den Erhalt von Kirchen und für die Bereitstellung von Räumen für Muslime zu sorgen, scheint man es in der Stadt für eine gute Idee gehalten zu haben, die Umnutzung von Kirchen in Moscheen voranzutreiben. […] Leider hat man die evangelische Kirche davon nicht in Kenntnis gesetzt. Durch einen bloßen Zufall erfuhren die Kirchengemeinde und der Kirchenkreis von diesem Vorhaben.« (Claussen 2016) In Hamburg-Horn war bereits 2004 ein so großer Rückgang an Gemeindemitgliedern verzeichnet worden, dass man damals die Entscheidung getroffen hatte, einen der beiden Standorte der Kirchengemeinde, eben die Kapernaumkirche, aufzugeben. Die Kirche wurde entwidmet und an einen Investor verkauft, der unterschiedliche Pläne mit dem Gebäude hatte, die aber allesamt nicht realisiert wurden. Nachdem sie zehn Jahre leer stand, entdeckte der Vorstand der Al-Nour-Moschee ein Inserat, in der die ehemalige Kapernaum-Kirche erneut zum Verkauf angeboten wurde. Anders als im Falle der Billstädter Kreuzkirche wird der Wandel im Folgenden nicht aus Perspektive der das Gebäude abgebenden, sondern der es aufnehmenden Gemeinde nachgezeichnet. Das Interesse ist wiederum nicht die Objektivität einer historischen Verlaufsgeschichte, sondern die Art und Weise, wie verräumlichter religiöser Wandel in der Stadt erzählt wird. Das islamische Zentrum Al-Nour ist ein eigenständiger Verein, der keinem der großen muslimischen Dachverbände in Deutschland angehört. Stattdessen gibt es eine eigene Stiftungsausgründung, die Al-Nour-Stiftung, und den Al-Nour-Verein (Khouri, B/ H). Der Name Al-Nour bezieht sich dem Vorstandsvorsitzenden der Gemeinde Khouri zufolge nicht etwa auf die gleichlautende Vierte Sure des Korans, und er stellt auch keine Referenz zu anderen gleichnamigen Kulturzentren dar (etwa in Damaskus). Ausschlaggebend für die Namenswahl war vielmehr die Lage der ersten Moschee des Vereins, eine Tiefgarage in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs: »Maßgeblich war der Ort, nämlich die Garage, wo es kein Licht so wirklich gibt. Und deswegen wurde die Moschee Al-Nour, Licht, genannt. […] Und wissen Sie, es gibt ja weltweit Institutionen und Organisationen, die sich so nennen. Aber das hat alles nichts mit uns zu tun. Es ging einfach nur darum, dass es dort wirklich kein Licht, kein Nour, gab.« (Khouri, B/H) Die damalige Räumlichkeit war danach ausgewählt worden, viele Menschen aufzunehmen und dabei wenig zu kosten: »Dadurch, dass es damals das Bewusstsein einer Parallelgesellschaft gab und noch nicht klar war, dass es wichtig ist, ein Teil der Gesellschaft zu sein und teilzunehmen, ging es nur darum, dass man etwas findet, was man für möglichst wenig Geld mieten kann. Bundesweit waren wir damals mit einem Schmuddel-Image konfrontiert: Hinterhofmoscheen. Der Verein hat damals dann die Tiefgarage gemietet und dann dort angefangen, die Freitagsgebete abzuhalten.« (Khouri, B/H) Um das Jahr 2000 gab es einen Wechsel im Vereinsvorstand: Der Vorsitzende der Gemeinde Khouri und der noch heute wirkende Imam wurden Teil des Leitungsteams. Beide waren sich schnell darüber einig, dass die bisherige Lage der Moschee kein geeigneter Platz sei, um das zwischenzeitlich gewandelte Selbstverständnis des Vereins zum Aus-

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druck zu bringen: dass man sich als in dieser Gesellschaft angekommen versteht, öffentlich sichtbar sein und Verantwortung übernehmen will (Khouri, B/H). »Wir haben dann angefangen, Strukturen aufzubauen. Er [der Imam] hat sich um die Gemeinde gekümmert, und ich habe alles abgefangen, was den gesetzlichen Rahmen betrifft und was Öffentlichkeitsarbeit angeht. Vernetzung, interreligiöser Dialog usw. So haben wir uns die Arbeit eingeteilt. […] Mittlerweile kann man sagen, dass wir unserem Namen gerecht geworden sind. Oder, naja. Wir werden es bald. Aber man darf nicht vergessen, dass sich all das entwickelt hat. Die ganze Arbeit, die ganze Vision. Am Anfang waren wir auf der Suche nach einem respektvollen und würdevollen Gebäude, wo wir in Würde beten können. Wir hätten in unseren Träumen nicht daran gedacht, eine Kirche zu kaufen. Das ist Zufall, es hat sich ergeben und hat sich dann weiterentwickelt.« (Khouri, B/H) Gleichzeitig tritt Khouri dafür ein, dass die Umwandlung der Kirche zu einer Moschee ein Einzelfall bleibt. Das gesellschaftliche Vorurteil einer »Islamisierung« will er nicht befeuern: »Für mich ist es wichtig, dass die Muslime transparente und sichtbare Moscheen haben. Für mich ist es wichtig, als ein Freund und Partner und Mitakteur der Kirche aufzutreten, damit die Kirchen voller werden.« (Khouri, B/H) Diese Maxime macht er an der Behutsamkeit deutlich, mit der die Umwandlung von der Kirche zur Moschee vollzogen wurde. Auf Infoveranstaltungen lud der Moschee-Verein die Nachbarschaft dazu ein, ihre Bedenken und Sorgen zu äußern. Das Kreuz auf dem Turm wurde in einem kleinen, aber respektvollen Rahmen abmontiert, nicht mit einem großen Kran, sondern von einem Fassadenkletterer, und an eine andere Kirche verschenkt (Khouri, B/H). Im Zeichen dieser Behutsamkeit steht auch, dass kein arabischer Halbmond, sondern der Name Gottes in arabischer Schrift auf dem Turm als Symbol angebracht wurde, »denn Gott verbindet alle Menschen« (Khouri, B/H). Dabei ging es dem Moscheevorsitzenden nach eigener Aussage ausdrücklich darum, ein Zeichen der Kontinuität und Verbundenheit zu finden: »Ich glaube, wenn es sich um den Neubau einer Moschee handeln würde, dann wäre nichts dagegen zu sagen. Aber weil das eine Kirche ist und praktisch ein gemischter Ort sein wird, quasi ein Ort mit zwei Gesichtern und zwei Religionen, zwei Historien, zwei Geschichten: Daher soll kein Symbol dominieren. Nach dem Motto: Jetzt ist der Islam da! Der Name Gottes soll im Mittelpunkt stehen.« (Khouri, B/H) Das Projekt hat große Anerkennung erfahren: unter anderem einen Sozialpreis, einen Besuch der amerikanischen Konsulin auf der Baustelle sowie eine Einladung von John Kerry ins Weiße Haus in Washington (Khouri, B/H). Für die Zukunft hat Khouri große Pläne. Zum einen erwartet er ein fortgesetztes Interesse an Moscheeführungen, wie sie auch jetzt schon regelmäßig durch die Tiefgarage stattfänden. Mit der Nachbarschaft plant er Kaffeenachmittage, die insbesondere die Senioren der Gegend ansprechen sollen. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Jugendlichen, die bereit sind, sich mit guten Ideen und viel Engagement ehrenamtlich zu engagieren (Khouri, B/H).

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»Ich bin der Meinung, dass man nur mit transparenten und sichtbaren Moscheen, die als Teil der Gesellschaft sichtbar werden, erfolgreich Präventionsarbeit gegen Radikalisierung, Islamophobie und Diskriminierung betreiben kann. Barrierefreie Moscheen meine ich. Transparente Moscheen meine ich, wo die Menschen nicht immer das Gefühl haben, dass dunkle Männer im Hinterhof irgendwelche unverständlichen Dinge tun, die sie nicht verstehen.« (Khouri, B/H) Das Gebäude selbst sieht er als eine Art interreligiöse Begegnungsstätte: außen Kirche, innen Moschee. Vertrauensvolle Begegnungen sollen hier möglich sein. »Ich sage immer noch: ehemalige Kapernaumkirche, und das wird auch immer so bleiben. Wir dürfen ja die Identität des Gebäudes nicht verleugnen. Ich habe auch extra das Taufbecken aufbewahren lassen. Später irgendwann soll das Taufbecken einen Platz auf der Wiese bekommen. Vielleicht lassen wir dann Goldfische in das Becken einziehen.« (Khouri, B/H) Was hier zum Ausdruck kommt, ist ein komplex arrangiertes Narrativ von Identität und Differenz, von Kontinuität und Diskontinuität: Die Kirche ist keine Kirche mehr, und dennoch trägt das Gebäude Spuren seiner Geschichte, die nicht nur nicht verwischt, sondern ausdrücklich betont werden.

4.2.4 Exploration: Musik als öffentliche Religion im Quartier Noch einmal anders schlägt sich der Wandel der religiösen Lage, den das Quartier seit seiner Gründung durchlaufen hat, in der Großraumsiedlung Mümmelmannsberg nieder. Auch hier hat die evangelische Kirche einen starken Rückgang ihrer Mitgliederzahlen zu verzeichnen. Diese Situation führt beim evangelischen Pfarrer dazu, dass er nach neuen, innovativen Formaten sucht, die auch für Quartiersbewohnerinnen mit einem nicht-christlichen religiösen Hintergrund einladend sind. Vor allem geht es ihm dabei um die Wiederentdeckung und -belebung von Religion als einer Größe des öffentlichen Lebens: »Religion ist privatisiert worden, es ist eine Privatsache, mit diesen Themen musst du alleine fertig werden, das ist nämlich die Botschaft. Und wir versuchen das oder ich versuche, das wieder zu einer öffentlichen Fragestellung zu machen und auch mal danach zu fragen, warum eine Stadtteilschule in einem Bezirk wie diesem, die seit 40 Jahren hier ist, bei 1300 Schülern nur drei Religionslehrer hat.« (Abel, B/H) Ein Schwerpunkt liegt in diesem Zusammenhang auf der Förderung der religionspädagogischen Arbeit in Schule und Kita. Dabei denkt er nicht allein an die konfessionellen Kindergärten, sondern plädiert dafür, alle Kinder des Stadtquartiers in den Blick zu nehmen: »Und deswegen gehe ich in die Kindergärten und frage die: Was macht ihr denn hier an religiöser Erziehung? Da heben die die Hände und sagen: Wie sollen wir das denn machen? Wir haben hier doch so viele Einflüsse hier in diesem Stadtteil […].« (Abel, B/H)

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Die Ausrichtung der eigenen Arbeit auf den Stadtteil geht mit einer Verschiebung des thematischen Fokus einher: Nicht in der Verkündigung des christlichen Evangeliums im engeren Sinn, sondern in der Thematisierung von Religion in unterschiedlichen, auch interkulturellen Kontexten und Öffentlichkeiten erkennt der Hauptamtliche seine Aufgabe. Aus seiner Sicht stellt sich die Sache so dar: Er verfügt über räumliche Kapazitäten in Gestalt eines Kirchengebäudes; er hat seine Stelle, die er nun seit etwa zwei Jahren ausfüllt, und er hat nicht nur 2000 eingetragene Kirchenmitglieder, sondern einen ganzen Stadtteil voller Menschen, für die er sich mitverantwortlich sieht. Dieser Situation will er gerecht werden. Aber wo ansetzen? »Aber wir haben ein Jahr lang Leute gesucht, wir sind schnuppernd durch diesen Stadtteil gegangen, haben geguckt, wer könnte denn eigentlich, wer hat was einzubringen […]? So, und welchen religiösen und politischen und sonstwas Hintergrund haben die, und da haben wir jetzt so ein paar Leute, die wir uns vorstellen könnten, ach mit denen würde das, glaube ich, Spaß machen.« (Abel, B/H) Als Antwort auf die Frage, wie man religiöse Themen stärker in Schule oder Kindergarten verankern kann, kam ihm die Kirchenmusik in den Sinn. Musik sei eine religiöse Sprache, die konfessionsübergreifend verstanden werden kann. Die Evangelische Kirche habe ihren Kirchenmusiker allerdings schon vor über zwölf Jahren vom Stellenplan streichen müssen. Die Idee, die in ihm gereift ist, ist daher die projektmäßige und aus Fundraising finanzierte Einsetzung eines interreligiösen Stadtteilkantors für Mümmelmannsberg. Der gesuchte Musiker soll jemand sein, der sich nicht nur um die Kirchenorgel und den Gemeindechor kümmert, sondern auch jemand, der religiöse Musik als eine öffentliche Angelegenheit für den Stadtteil versteht und im Medium der Musik soziale Integrationsarbeit leistet. Auf der Suche nach Verbündeten für seine Idee stieß er auf den Leiter eines interreligiösen Musikprojekts in Stuttgart, in dem Juden, Christinnen und Muslime zusammenkommen. Theologische, interkulturelle und musikalische Fragen wurden hier laborartig bearbeitet. Der Leiter des Projekts war nach Auskunft des Pfarrers von der Möglichkeit begeistert, seine ›Labor-Ergebnisse‹ einmal an einem lebenden Stadtteilorganismus auszuprobieren. Er folgte der Einladung des Pfarrers und verbrachte dreimal zwei Tage im Stadtteil. Während dieser Zeit organisierte er ein Konzert mit einem Chor von 100 Sängern aus der Bewohnerschaft des Viertels. Von dessen Erfolg sahen sich die Organisatoren ermutigt, das Ganze nicht nur einmalig, sondern dauerhaft im Stadtteil zu installieren, und zwar mithilfe der Unterstützung eines professionellen Stadtteilmusikers. »Eine Person hier haben, die genau das macht, was [der Leiter des interreligiösen Chorprojekts] macht. Oder gemacht hat da, für dieses Projekt. Der eben in die Schulen geht, in die Kindergärten, in die Seniorenwohnanlagen, in andere Kreise, die es gibt, in Chöre, hier im Stadtteil und die zusammenbringt. Der Stadtteilkantor ist nicht dafür da, hier in der Kirche Kirchenmusik zu machen. Sondern das soll ein interreligiöser Mensch sein, […] der spricht alle Menschen in Mümmelmannsberg an, sie zusammenbringt, durch Musik.« (Abel, B/H). Im Unterschied zur Strategie der Konzentration oder der Transformation kann man das Vorgehen des Pfarrers unter dem Begriff der Exploration zusammenfassen: Er reagiert

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auf die gewandelte religiöse Lage im Quartier, indem er sich auf Entdeckungsreise macht, um neue, aus seiner Sicht bedarfsgerechte Möglichkeiten seines Wirkbereichs zu erkunden, Verbündete zu finden und innovative Formate zu erproben.

4.2.5 Zwischenfazit: Wandel erzählen – eine Frage des Standortes Religion im Wandel – damit ist einerseits die objektive Veränderung der religiösen Lage gemeint, die gesamtgesellschaftlich, aber auch auf lokaler Ebene diagnostiziert werden kann. Pfarrstellen werden zusammengelegt, Gemeindegebiete fusioniert, Kirchen umgewidmet. Zugleich pluralisiert sich das religiöse Feld: Kirchengebäude werden von Migrationsgemeinden genutzt, gläubige Muslime suchen nach Räumen in der Stadt, in denen sie beten können, Freikirchen halten in Lofts und Fabriketagen ihre Gottesdienste ab. Auf der anderen Seite hängt die Art und Weise, wie dieser Wandel im einzelnen erlebt und beschrieben wird, vom jeweiligen subjektiven Standpunkt ab. Die interviewten Personen sind selbst Teil der Situation, die sie beschreiben. Sie stehen ihr nicht neutral gegenüber, sondern die Geschichten, die sie erzählen, sind zugleich das Medium, in dem sie sich selbst zu den beschriebenen Ereignissen positionieren. Geschichten des Wandels sind perspektiviert durch den Standort ihrer Erzählerin. Er entscheidet über die Auswahl des Stoffs und sein dramaturgisches Arrangement (Straub 1998). Was sich aus der einen Perspektive als Verfall und Niedergang darstellt, erscheint aus der anderen als ein Vorgang der Differenzierung oder Transformation. Gerade, wo davon die Rede ist, wie es früher einmal war (bzw. gewesen sein soll), wird immer auch die eigene Gegenwart deutend bearbeitet. Die Perspektive einer Pfarrerin, die den Rückgang von Kirchenmitgliedern, eine Gemeindefusion oder auch die Abwicklung eines Kirchengebäudes erlebt hat, ist eine andere als die des Moscheevorstehers, der aufgrund von Platzknappheit nach größeren Gebetsräumen sucht – oder die der empirischen Religionsforscherin, die eine Differenzierung und Dynamisierung religiöser Strömungen in der Großstadt diagnostiziert. Im vorliegenden Abschnitt wurden Geschichten des stadträumlichen Wandels von Religion unter dem Vorzeichen der Konzentration, der Transformation und der Exploration erzählt. Dabei eröffnen sich mit dem jeweils gewählten Erzählstandpunkt auch unterschiedliche Pfade für Nebenstränge. In der Konzentration werden neue Anfänge möglich, in der Transformation bleibt das Bisherige teilweise bestehen oder wird zumindest als Verlorenes noch gewusst usw. Je reicher ein Narrativ des Wandels, das durch den jeweiligen Erzählstandpunkt eröffnet wird, desto weniger teilt es die Akteure, die es auf die Bühne bringt, schlicht auf eine Gewinner- und eine Verliererseite auf, und desto mehr Nebentöne, Gegengeschichten und Ambivalenzen lässt es zu.

4.3 Religiöser Wandel und seine Deutung durch die betroffenen Akteure Stadträumlicher Wandel wird von den ortsansässigen religiösen Akteuren wahrgenommen, gedeutet, durchlitten, aber auch aktiv mitgestaltet. Sie stellen sich auf die eine oder andere Weise auf geänderte Gegebenheiten ein, ersinnen neue Angebotsformate, nehmen andere Zielgruppen in den Blick, kooperieren mit neuen Partnern. Dabei können sie

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sich eher reagierend oder stärker progressiv verhalten; sie können sich selbst als dynamische Gestaltungskraft im Stadtteil oder als Spielball sie übersteigender gesellschaftlicher Großtendenzen sehen. Strategien der stadträumlichen Selbstpositionierung und eigenes Selbstverständnis weisen auf solche Weise wechselseitig aufeinander zurück. Die folgende Darstellung, in der wir Geschichten stadträumlichen und Wandels aus Perspektive der von uns interviewten Protagonisten nacherzählen, schließt der Sache nach eng an den vorigen Abschnitt an. Allerdings wird das Material aus Hamburg Billsted-Horn durch Beobachtungen aus anderen Quartieren ergänzt. Damit treten noch einmal andere Phänomene urbanen Wandels in den Blick, wie die hohe Fluktuation der Wohnbevölkerung in neuen, stark akademisch geprägten Stadtgebieten, welche die ortsansässigen kirchlichen Akteure vor Herausforderungen ganz eigener Art stellen (4.3.1). Danach kehrt der Blick noch einmal nach Billstedt-Horn zurück, nun geleitet von der Fragestellung, wie die betroffenen Akteure die von ihnen erlebten Umbruchserfahrungen der kirchlich-religiösen Lage aufs Ganze gesehen deuten (4.3.2) und wie diese Deutungen mit Veränderungen ihres professionsspezifischen Rollenverständnisses verbunden sind (4.3.3).

4.3.1 Keine bleibende Stadt Vieles in neuen Stadtquartieren ist von vorläufiger Gestalt: Das Quartier hat noch kein richtiges Zentrum, die lokale Infrastruktur befindet sich erst im Aufbau, es gibt noch keine Formen, Rituale und Feste, in denen sich das öffentliche Leben eine erkennbare Gestalt gegeben hat. Auch die Sozialstruktur ist noch nicht gefestigt. Religionsgemeinschaften haben sich auf eine mitunter starke Fluktuation von Stadtteilbewohner:innen und Gemeindemitgliedern einzustellen (a). Doch nicht nur Menschen, sondern auch Rollen bzw. Funktionen können sich im Fluss befinden: So kann einem kirchlichen Träger temporär die Funktion zufallen, einen Diskursraum für Bürgerbelange bereitzustellen – um später diese Funktion wieder an eine städtische Einrichtung abzutreten (b).

a) Umgang mit reduzierter Verbindlichkeit In den Interviews thematisieren die für die Kirche tätigen Personen immer wieder die (gefühlte) Fluktuation der Bewohner:innen wie auch der Gemeindeglieder und bewerten diese unterschiedlich. Eine kirchliche Mitarbeiterin aus Karlsruhe sagt: »Aber das mit dem Wegziehen ist echt [ein] Problem hier. Also auch im Bereich des [Kleinkinder-]Gottesdienstes sind jetzt im Sommer wieder drei Familien weggezogen, auch zwei, die total engagiert waren, oder jetzt eine, die das [kreative Angebot am] Abend angefangen hat, die sind jetzt nach Wien gezogen. […] [D]as ist halt dann immer so ein ständiges Rekrutieren von neuen Leuten.« (Demant, KA) Während einer Veranstaltung führt sie weiter aus: »Ich sehe das [kirchliche Angebot] als eine Oase, eine Durchgangsstation an. Die Leute erleben hier, dass Kirche etwas für sie mach[t]. Es ist eine hohe Fluktuation. Die Frage ist, wie kann man in dieser Durchgangsstation Gemeinde aufbauen? Meine alltägliche

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Arbeit ist dadurch geprägt, dass Leute kommen und gehen. Ich verabschiede und rekrutiere permanent Leute.« (Demant, KA) Die Mitarbeiterin empfindet den Wegzug der kirchlich engagierten Stadtteilbewohner als Herausforderung für ihre gemeindliche Arbeit, da sie dadurch immer wieder neue Personen als potenzielle Interessenten und ehrenamtliche Mitarbeitende gewinnen muss. Eine andere für die Kirche beruflich Tätige bewertet die Situation eher positiv und argumentiert, dass die Personen, die aus der Gemeinde wegziehen, dafür in einer anderen Gemeinde Anschluss finden würden: [Demant:] »Wir sind in einer Stadt, [in der es] die ganz große Kontinuität über Generationen hinweg […] nicht [gibt], weil es ein zu großes Hinziehen, Wegziehen, Umziehen und so weiter [gibt]. Also, eine ganz große Flexibilität auch in den Gemeinden gibt, von den Gemeindemitgliedern, weil [die Stadt] ist eine Akademikerstadt zu 70, 75 Prozent. Und Akademiker sind oft auf Reisen. Man bleibt an einem Ort für ein paar Jahre und dann geht man woanders hin.« [Interviewfrage:] »Gibt es kirchlicherseits Überlegungen, wie man mit dieser Fluktuation umgehen kann?« [Demant:]: »Ja, das […] wird jetzt immer mehr erwähnt und ich persönlich […] finde das nicht schlimm. Denn wenn Leute auch in den Gemeinden […] vier Jahre Kirche als etwas wirklich Positives und Schönes erleben, dann kann man sagen, man hat diese Menschen ausgerüstet für eine neue Gemeinde. Und da muss man das größere Ganze sehen. Und nicht nur auf mich selber beschränkt bleiben, sondern auch […] sagen, gut, dann gehen wir jetzt halt nach außen mit diesen Menschen. Die woanders wieder vielleicht etwas aufbauen für längere oder für kürzere Zeit. Und es ist ja ein Kommen und Gehen in den, ich glaube inzwischen auch im ganzen Land. Denn die Leute, die hier weggehen, das merkt man schmerzlich. Aber es kommen dann vielleicht ja auch wieder neue, die von woanders herkommen und da weggegangen sind.« (Demant, KA) Die Situation, die hier geschildert wird, führt die Mitarbeiterin nicht auf das neue Quartier zurück, sondern auf die Eigenlogik einer »Akademikerstadt«. Fluktuation meint jedoch nicht nur den Zu- und Wegzug der Stadtteilbewohner und potenziell zugehöriger Gemeindeglieder. Eine saisonale Fluktuation des Kirchenpublikums lässt sich auch innerhalb der ortsansässigen Gemeindemitglieder beobachten, wie innerhalb des folgenden Interviewauszuges deutlich wird: »Aber da finde ich, da gibt es einen großen Stamm an Leuten, die sich zugehörig fühlen. Also es gibt aber auch Karfreitag und es ist Osternacht. Das ist auch noch einmal ein Unterschied […] an Personen, die da jeweils anwesend sind. Die müssen das ganze Jahr nicht auftauchen. Es gibt Einzelne, die sind wirklich regelmäßig, auch jetzt so involviert, es gibt das Ladenteam […], was sich inzwischen mehr wieder so als Gemeinschaft versteht. Es gibt den Weihnachtsgottesdienst, das ist auch eine ganz kuriose Mischung an Leuten, die müssen an Ostern nicht auftauchen […]. [Das] Stadtteilfest ist auch wieder was anderes.« (Zesche, HDB) »Auch beim Mitarbeiterdankfest […] sind auch wieder andere Gesichter da, die auch sonst häufig nicht zu sehen sind.« (Reese, FB)

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Im Hinblick auf das kirchliche Handeln lässt sich festhalten, dass die kirchlichen Mitarbeiter die Fluktuation der Stadtteilbewohner unterschiedlich bewerten. Für das kirchliche Handeln in den neuen Stadtteilen stellt sich die Frage, wie die Mitarbeitenden mit dieser reduzierten Verbindlichkeit umgehen können, oder, in den Worten der zitierten Mitarbeiterin, wie »in einer Durchgangsstation Gemeinde aufgebaut werden kann«.

b) Religion als temporärer Platzhalter Religion in neuen Stadtquartieren hat in mehrfacher Hinsicht einen transitorischen Charakter. Das gilt nicht nur angesichts der Fluktuation von Stadtteilbewohnerinnen und Gemeindemitgliedern, sondern auch für die sozialräumliche Funktion religiöser Angebote und Organisationsformen. Zuweilen hat eine Kirche vorübergehend die Rolle eines Stadtteilvereins oder Bürgertreffs inne; andernorts übernehmen Bürgerinitiativen Aufgaben, die herkömmlich von den Kirchen initiiert wurden (wie einen Begrüßungsdienst für Neuhinzugezogene). Besonders deutlich wird dieser Transfer von Funktionen in der Südstadt in Heidelberg. Die Kirchen haben dort über Jahrzehnte das Sozialleben des Stadtteils gestaltet und geprägt: »Weil es hier keine Vereine und so etwas gibt. Das läuft halt alles hier, und das ist originäre Aufgabe dieser Gemeinden, oder sie haben es sich zumindest zur Aufgabe gemacht, […] diese Stadtteilarbeit […] mit zu leisten, soweit es in unseren Kräften steht.« (Meckel, HDB) »Aber das waren die beiden Kirchen und wir, und die [evangelische] Gemeinde hatte damals auch einen Verein gegründet […]. Und der war aber an der [evangelischen] Gemeinde angesiedelt, und die haben so ein bisschen, die waren zum Beispiel Organisatoren dieses [Stadtteil]festes. Aber in Kooperation mit den Katholiken und auch uns [den Baptisten]. Die haben das bisschen Gemeinschaftsleben über drei Jahrzehnte vorangetrieben, und dann hat sich der Verein aufgelöst im vergangenen Jahr, als der Südstadtverein gegründet wurde. Und das sind teilweise auch dieselben Leute, die da reingegangen sind.« (Lützow, HDS) In diesem Stadtteil fühlen sich die kirchlichen Akteure (zusätzlich zur Bereitstellung ihres religiösen Angebots) nicht nur zuständig für die Stadtteilarbeit. Darüber hinaus übernimmt der Eine-Welt-Laden, der aus einem ökumenischen Kontext heraus entstanden ist, aufgrund der (noch) fehlenden Infrastruktur die Funktion eines Nahversorgers: Gerade ältere Leute nutzen diesen für die Deckung ihres Grundbedarfes an Nahrungsmitteln. Dabei geschieht diese Übernahme von Funktionen, die gewöhnlich andere innehaben, nicht nur durch religiöse Akteure. So lautete eine Aussage im Zusammenhang mit der Bahnstadt: »[Das Kultur- und Konzerthaus] erfüllt eigentlich das, […] was früher die Kirche erfüllt hat. […] Weil […] [das Kultur- und Konzerthaus] ist so […] [das] Zentrum allen kulturellen und inhaltlichen Denkens. Also, […] wenn irgendwelche Veranstaltungen sind, wo man miteinander über […] Entwicklungen spricht, dann findet das in [dem Kultur- und Konzerthaus] statt.« (Vollmer, HDB) Es bleibt zu fragen, was es für die religiösen Akteure bedeutet, wenn ihr Engagement von säkularen Trägern fortgesetzt wird. Ist es als Erfolg zu werten, dass die Gemeinde eine

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wichtige Aufgabe nun abgeben kann, um eventuell neue Aufgaben anzupacken – oder erfährt sie dies als Verlust an sozialräumlicher Bedeutsamkeit?

4.3.2 Von der Volkskirche zur Diaspora-Situation Angesichts des Bevölkerungs- und Gesichtswandels seines Quartiers benutzt ein kirchlicher Mitarbeiter aus Hamburg-Billstedt das religiöse Bild der »Diaspora«, um die gewandelte Position der Kirche im Quartier zu beschreiben: »Und gleichzeitig hat es natürlich auch diesen vielbeschworenen Charme. Und es gibt so das ein oder andere Sommerfest, wo wir diesen Traum hier ein bisschen gefilmt haben. So: ›Guckt mal, wenn es so wie hier ist, ist das doch viel besser als in einem von diesen schnöden Stadtteilen‹, ne? Weil, es ist ja so bunt und so vielfältig. Ja, keine Ahnung, ich würde das ungern überhöhen wollen mit bunt und vielfältig. Weil, ich finde schon, sich mal an so einem Sonntagnachmittag ins Billstedter Einkaufszentrum zu setzen, da staunt man schon. Man kann sich vergleichsweise auch verloren fühlen und kann sich auch die Frage stellen: Wen von diesen Leuten kannst du fairerweise auch im Gottesdienst erwarten? Wen würdest du überhaupt sehen wollen? Und dann merkst du: Ist schon ein bisschen Diaspora hier.« (Ebersbacher, B/H) Das Bild, das hier gezeichnet wird, ist in sich ambivalent: Einerseits wird das eigene Quartier als »bunt und vielfältig« beschrieben und von den »schnöden Stadtteilen« abgegrenzt. Auf der anderen Seite will der Pfarrer dieses Bild aber auch nicht »überhöhen« – es hat vielmehr den Charakter eines »Traums«, der sich an der harten Realität des Einkaufszentrums bricht. Die eigene, religiöse Situation wird angesichts dessen als »Diaspora« beschrieben – also als einer Situation der Fremde, in der das für einen selbst Heimatgebende und Selbstverständliche seine Selbstverständlichkeit verloren hat. Dieser Eindruck spiegelt sich in den Gemeindemitgliederzahlen, die drastisch rückläufig sind – und die einen gesamtgesellschaftlichen Trend widerspiegeln, gegen den der Einzelne sowieso machtlos sei: »Es zeigt sich auch in allen Nachbargemeinden und auch in allen Untersuchungen, dass das im Grunde genommen unabhängig ist von der Qualität der Arbeit. Also, da kann sich der Pastor auch ein bisschen entspannen. Egal wie er kocht, das Restaurant wird nicht voller oder leerer. Das ist in Wirklichkeit so. Die Leute treten einfach aus.« (Ebersbacher, B/H) Das kirchliche Angebot scheint angesichts dessen ungefragt zu verhallen. Aber ganz so einseitig ist die Lage bei näherem Hinsehen dann doch nicht. Quartiersübergreifend begegnet in der vorliegenden Studie das Phänomen, dass das kirchlich-institutionalisierte Christentum vorrangig als »Kasualreligion« (Steck 2011) innerhalb der urbanen Gegenwartskultur in Erscheinung tritt. Zugleich gibt es gerade in den älteren Neubauquartieren einen hohen Bedarf an gemeinwesenorientierten Angeboten: »Tendenz ist, dass hier Krippenplätze zunehmend gefragt werden, und es gibt ’ne eigene Abteilung, die so ein bisschen auf der sozialtherapeutischen Schiene [arbeitet], weil man immer wieder auch Kinder hat, denen es nicht gut geht zu Hause. Da ist dann

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nochmal Brennpunkt angesagt. Aber sonst, der Laden schrumpft nicht. Der wird auch gebraucht.« (Ebersbacher, B/H) Was sich in diesem Zitat greifen lässt, ist ein Wechsel bzw. eine innere Differenzierung der Funktion von Kirche im Quartier: Die Betreuung der kirchensteuerzahlenden Mitglieder tritt zugunsten sozialraumorientierter bzw. »sozialtherapeutischer« Angebote in den Hintergrund. Die Bedeutung der Kirche schwindet nicht pauschal, ändert sich aber in signifikanter Hinsicht: Einerseits gilt es, klassisch volkskirchliche Angebote fortzuführen, etwa Gesprächskreise, Meditationsabende, Choraktivitäten. Auf der anderen Seite schreibt sich der Kirchenvertreter die Aufgabe zu, konkrete soziale Bedarfe abzudecken »für Leute, die es total handfest brauchen können. Das sind dann aber nicht die, die zu den Literaturkursen kommen.« (Ebersbacher, B/H) Der Pfarrer will sich in seiner Arbeit der veränderten Realität im Stadtteil stellen. Zugleich muss er einsehen, dass die eigene kirchlich-religiöse Identität angesichts der gewandelten Bedingungen ihre Selbstverständlichkeit verloren hat: »Wir sind natürlich ständig dabei zu überlegen, wer wir sein könnten, weil das nicht mehr so klar ist.« (Ebersbacher, B/H) Die Identitätsfrage materialisiert sich in ganz konkreten Fragen nach Ausstattung, Personal und Räumen: »Ich glaube, wenn man in dieser Frage weiterkommen möchte, dann muss man vorher noch eine Sache genau erklären. Was möchte meine Kirche, in dem Fall die evangelische Kirche, genau machen? Was sieht sie als ihre Aufgaben an? Und dann muss man sicherlich klären, was man dafür an Räumen, Personal und Finanzen braucht. In dem Zusammenhang finde ich es wichtig, dass man sich endlich mal von dem Gedanken löst, dass man noch eine Volkskirche ist. Das sind wir nicht mehr. Und ich glaube, auch schon ziemlich lange nicht. Und wenn man sich davon freimacht und sich sagt, dass man es nicht mehr jedem recht machen muss. Dann ist man vielleicht in dem, was man tun und was man sagen kann, viel unabhängiger, und kann unterm Strich wahrscheinlich viel mehr erreichen.« (Kruger, B/H) Der Begriff der »Volkskirche«, der genannt wird, stellt einen Gegenbegriff zur Metapher der »Diaspora« dar, der oben in einem anderen Interviewabschnitt genannt wurde. Mit dem Ausdruck Volkskirche ist im vorliegenden Zitat der Anspruch einer umfassenden, flächendeckenden, selbstverständlichen und allgemein anerkannten Präsenz der Kirche verbunden. Diesem Anspruch würde die evangelische Kirche im Quartier schon lange nicht mehr gerecht – worin aber auch die Chance erkannt wird, »dass man es nicht mehr jedem recht machen muss«.

4.3.3 Zur Freiheit befreit: Vom Macher zum Mitmacher Die skizzierten Wandlungen der Bevölkerungsstruktur und der Rückbau volkskirchlicher Strukturen kann von den Beteiligten zum Anlass genommen werden, die eigene Arbeit grundsätzlich neu auszurichten. Ein Pastor aus einem Hamburger Neubauquartier erzählt, dass für ihn traditionelle Kirche nur noch im Sonntagsgottesdienst stattfin-

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det, für alle anderen Aktivitäten geht er hinaus in den Stadtteil, »zu den Leuten«. Weitere innerkirchliche Veranstaltungen unter der Woche habe er vollständig aufgegeben, zu gering sei die Resonanz. »Wer solle da auch kommen, wenn alle müde von der Arbeit sind?« (Abel, B/H) Interessant ist zu sehen, wie der Pfarrer seine berufliche Selbstdefinition der veränderten Situation angepasst hat. Er deutet den Wandel von einer volkskirchlichen Versorgungssituation zu einem eher punktuellen Wirken der Kirche nicht (mehr) primär als Marginalitätserfahrung, sondern als Freisetzung von Potentialen, die neu, anders und zielführender genutzt werden können: »Das empfinde ich für mich als unglaublich befreiend, entlastend und befreiend, weil, es ist auch klärend für meine Rolle. Ich muss nicht mehr alles machen.« (Abel, B/H) Die Versorgung der Gemeinde mit Angeboten unter der Woche hat er engagierten Ehrenamtlichen überlassen. Er selbst sieht seine Hauptrolle demgegenüber in der Vernetzung der Menschen vor Ort mit dem Ziel, Religion – vermittelt über seine Person – überhaupt wieder zu einem Thema von öffentlicher Relevanz zu machen. Diese veränderte Selbstdefinition steht für ihn im Zusammenhang mit Überlegungen zur Zukunft der Kirche im Quartier: »Ich würde meine Aufgabe darin beschreiben, überhaupt strategisch, also nicht taktisch, sondern strategisch wirklich dafür zu sorgen, dass dieses Haus auch in 20, 30, 40 Jahren noch eine Berechtigung hat. So, und da reichen aus meiner Sicht eben überkommene Gemeindevorstellungen von ›wir machen Gemeindeaufbau‹ und solche Geschichten in einem Stadtteil wie diesem, reichen da nicht aus. […] Die Architektur entspricht dem ja, aber unter den neuen Bedingungen, dass hier eben nicht nur evangelisch-lutherische Christen leben, jedenfalls in einem anderen Verhältnis als zu Zeiten, als das hier gebaut wurde. Dem muss man irgendwie Rechnung tragen und muss dafür sorgen, dass die religiösen Fragen, wo ich davon ausgehe, dass sie jeder Mensch irgendwie hat, dass die entprivatisiert werden und wieder einen öffentlichen Ort bekommen, wo sie Raum haben und miteinander besprochen werden können.« (Abel, B/H) Das Ziel des Pfarrers, das in hier zum Ausdruck kommt, ist klar benannt: die Entprivatisierung religiöser Fragen über kirchliche und religiöse Grenzen hinweg. Seine leitende Annahme ist dabei, dass »jeder Mensch« solche religiösen Fragen habe, diese bislang aber nur unzureichend in der kirchlich bzw. gemeindlich gebundenen Praxis zur Geltung kämen. Ein Mittel zum Ziel ist dabei, zunächst einmal Verbündete vor Ort zu gewinnen. Dabei wirft er selbst die Frage auf, »inwiefern dieses Netzwerken Gemeindearbeit ist«, beantwortet sie aber letztlich für sich positiv: »Weil man dadurch hochprofessionelle Leute hier im Stadtteil erreicht, und sie auch in einem bestimmten Geist erreicht, und sie zusammenführt und gemeinsam etwas entwickelt. Wie man diesen Stadtteil voranbringt. Insofern finde ich [das] schon relativ effektiv.« (Abel, B/H)

4. Wandel

Die Ausrichtung der eigenen Arbeit auf den Stadtteil geht mit einer Schwerpunktverlagerung vom traditionellen theologischen Kerngeschäft hin zur Netzwerktätigkeit einher. Allerdings habe eine entsprechende Schwerpunktverlagerung sowieso längst stattgefunden, wie von einem Pfarrer in einem anderen Interviewzusammenhang herausgestellt wird: »Ich würde sowieso sagen, dass sich der Pastorenberuf insofern sehr verändert hat, dass wir einen Haufen Verwaltungszeug haben, ohne Ende. Man trifft sich in Kreisen und beredet Dinge. Tagungen, Sitzungen.« (Ebersbacher, B/H) Die Verflechtung in Netzwerke bringt es mit sich, dass kirchliche Mitarbeiterinnen in neuen Stadtquartieren einzelne Projekte nicht mehr allein und aus eigenen Kräften stemmen, sondern in Kooperation mit nicht-religiösen Trägern. Kirchengemeinden schreiben Stellen für Sozialpädagoginnen aus, die, wie in einem Beispiel aus HamburgBillstedt, zwar innergemeindlich angesiedelt sind, aber aus Bundesmitteln gefördert werden. Dem Pfarrer ist wichtig zu betonen, dass eine solche staatliche Förderung seiner Arbeit keinen Widerspruch zum Neutralitätsgebot darstellt, da die Gelder ja nicht binnenkirchlich verzweckt würden, sondern dem Gemeinwesen zugutekämen: »Es geht nicht um Mitgliedergenerierung, damit wir das noch finanzieren können. So, Punkt. Das ist ganz weit hinten. Das Meiste von dem, was ich zurzeit auch anschiebe und mache, das ist extern finanziert. Deswegen habe ich auch gar keine Probleme mit den anderen Bezirken, weil es nie um Geld geht. Also, ich beantrage für kein Projekt irgendwelche Gelder aus irgendwelchen Kirchenmitteln, sondern versuche alles irgendwie extern […].« (Abel, B/H) In lockerem Anschluss an Helmut Plessner könnte man die Position, die der Kirchenvertreter einnimmt, als »exzentrisch« (Plessner 1975: 288) definieren: Als Pfarrer versteht er sich gleichsam nicht vom Binnenraum der Kirche, sondern vom Stadtraum her. Er agiert als ein urbaner Unternehmer (siehe 9.3.1), der selbständig Gelder aus »externen« Quellen akquiriert und nicht (primär) auf »Mitgliedergenerierung« schielt, sondern dem Stadtteil dienen will. Andernorts phantasiert ein Hauptamtlicher darüber, ein altes, etwas baufälliges Pastorat abzureißen und auf dem Grundstück zusammen mit einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft ein soziales Modellprojekt zu errichten: »Wie wäre das, wenn die Hansa-Baugenossenschaft ein vierstöckiges Modellprojekt entwickelt, was einerseits ein Pastorat beinhaltet, mit Dachterrasse oder so. Und gleichzeitig ein Vorzeigeprojekt ist, für die Hansabaugenossenschaft, die dann sagen kann, hey, wir haben hier Mehrgenerationenwohnungen und frag mich nicht. Und wenn man anfängt, so in solchen Kooperationen zu denken, dann kann man […] Synergieeffekte wäre das Wort. Ich wusste doch, da gibt es so ein Wort. Und alle strahlen schon.« (Ebersbacher, B/H) Die gewandelte Lage der (christlichen) Religion im Stadtteil reflektiert sich hier in der architektonischen Phantasie eines »Modellprojekts«, in der die Kirche zwar keine exklusive Bedeutung mehr hat, aber doch integraler Bestandteil des Hauses ist – symbolisiert durch das Pastorat, immerhin »mit Dachterrasse oder so«. Das »Denken in Kooperationen« und »Synergieeffekten« wird dabei leicht ironisch kommentiert (»alle strahlen

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Religion im urbanen Raum

schon«). Der Übergang von der Rolle des Machers zu derjenigen des Mitmachers mag einerseits befreiend wirken – andererseits hat er aber auch etwas von dem Versuch, aus der Not eine Tugend zu machen.

4.4 Fazit Neue Stadtquartiere unterliegen vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an einer vielfältigen Veränderungsdynamik. Sie wandeln sich in ihrer Bausubstanz, in ihrer Bewohnerschaft und ihrem sozialen Prestige. Ein Teil dieser Veränderung ist durch gesamtgesellschaftliche Großtrends zu erklären – wie etwa den Bedeutungsverlust traditioneller religiöser Institutionen und Bindekräfte oder eine immer weiter fortschreitende Individualisierung, ja »Singularisierung« (Reckwitz 2018) des Lebensstils. Wie in einem Brennglas bündeln sich in den großen Städten und ihren einzelnen Quartieren die Dynamiken, Signaturen und Spannungen des modernen Lebens auf engstem Raum. Noch vor 50 Jahren war es der Normalfall, dass in neuen Stadtquartieren eine Kirche (oder mehrere) bzw. ein Gemeindezentrum (oder mehrere) errichtet wurden. Heute wird vielerorts nach Nachnutzungsformen der akkumulierten Gebäudelast gesucht. Mit dem Quartier ist auch seine religiöse Topographie einer Dynamik des Wandels unterworfen. Lange wurden die Wandlungsprozesse urbaner Religionskultur dabei pauschalisierend in die Großerzählung eines umfassenden Säkularisierungsnarrativs eingefügt. Diese Pauschalisierung hält einem differenzierten Blick auf die Vielfältigkeit, in der urbanes religiöses Leben in Erscheinung tritt, nicht stand: Die Stadt ist nicht nur Ort eines Bedeutungsverlustes kirchlich-institutionalisierter Religion, sondern zugleich ein Ort der Pluralisierung, Dynamisierung, Hybridisierung und punktuellen Vitalisierung (spät-)moderner Religionskulturen. Gerade neue Stadtquartiere können dabei von den etablierten Religionsgemeinschaften zu Laborstätten und Experimentierfeldern für neue religiöse Formationen erklärt werden. Dynamiken des Wandels werden begleitet von unterschiedlichen Geschichten: von Geschichten des Aufbruchs und dem Versprechen einer »neuen Heimat« über Geschichten der Besserung und Neubelebung bis hin zu Geschichten des Abbaus und des Scheiterns. Auch und gerade für die religiöse Lage gilt: An die Stelle der einen Geschichte tritt eine Vielzahl von Geschichten: Geschichten der Exploration, der Transformation, der Konversion, der Innovation, der Konzentration. In ihnen ist nicht von einem pauschalen Religionsverlust, wohl aber vom Umgang mit einer zunehmenden religiösen und kulturellen Pluralisierung die Rede. All diesen Geschichten gemeinsam ist, dass sie eine durch den Standpunkt der jeweiligen Erzähler:innen perspektivierte Deutung der jeweiligen Gegenwart bieten. Darüber hinaus unterscheiden sie sich in ihrer Motivauswahl, Dramaturgie, ihrem Reichtum an Nebensträngen und Ambivalenzen und in ihrer erzählerischen Pointe. Angesichts der Permanenz des Übergangs, in dem sich neue Stadtquartiere über einen langen Zeitraum (womöglich immer) befinden, stellt sich die Wahrnehmung, Deutung und Gestaltung von Phänomenen des Wandels aus Sicht der kirchlich-religiösen Akteure als eine Daueraufgabe dar. Wo anfangs Krabbelgottesdienste und Familienarbeit nachgefragt waren, steht heute die Betreuung der Seniorinnen und Senioren im

4. Wandel

Vordergrund. Dabei stehen für die lokalen Religionsprofessionellen stets auch Fragen der Identität auf dem Spiel: Wie wollen sie sich selbst im Wandel verorten? Welche Rolle wollen sie sich unter den veränderten stadträumlichen Gegebenheiten zuschreiben? Etablierte Berufsbilder wie der ›Macher‹ verlieren an Plausibilität; neue, wie die ›Mitmacherin‹, werden versuchsweise erprobt. Vieles, was Kirchengemeinden tun, tun sie – trotz der langen Zeiträume, für die in neuen Quartieren geplant wird – in Übergangssituationen, für eine begrenzte Zeit: das Stadtfest ausrichten, Ort für stadtplanerische Meinungsbildung, Bürgerzentrum, Nahversorger, einziger kultureller Ort sein. Einiges davon geben sie wieder ab; damit verbinden sich Erfahrungen des Verlusts und der Enttäuschung. Der Bedeutungswandel von Religion in the long run manifestiert sich demgegenüber besonders markant bei der Umwandlung bzw. Nachnutzung von religiösen Gebäuden bzw. Kirchen. Dieser Punkt ist besonders heikel, da er in symbolträchtiger Weise deutlich macht, dass die Kirchen die geänderten gesellschaftlichen Bedingungen nicht nur wahrnehmen und erleiden, sondern auch aktiv ratifizieren. Die Kirche tritt gleichsam noch einmal machtvoll in Erscheinung – im Modus ihrer Selbstabwicklung. Aller Veränderungsdynamik zum Trotz hat die (institutionalisierte) Religion einen langen Atem. Schon aufgrund ihrer baulichen Präsenz sowie ihrer personellen und finanziellen Ausstattung stiften verfasste Religionsformen eine Kontinuität im Wandel. Als soziale Projekte, die auf Dauer angelegt sind, können religiöse Gemeinschaften zu Sammlungsbecken stadtteilbezogener Geschichten werden. Auch die Pastorinnen und Pastoren leben in der Regel über einen längeren Zeitraum, oft zehn Jahre oder mehr, im Quartier, und werden so zu regelrechten Expertinnen und Experten ihres Viertels und seiner Geschichte. Und auch den Kirchengebäuden wächst neben ihrer primären religiösen Funktion die Bedeutung zu, herausragende Formen des symbolischen Gedächtnisses von Stadtteilen und ganzen Städten zu sein (Grünberg 2004). Kurz: Religion ist nicht nur Variable und Faktor von Veränderungsprozessen, sondern auch exponierter Kristallisationsort und elementares Reflexionsmedium ihrer Deutung.

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5.1 Religion und soziale Ungleichheit im städtischen Zusammenleben Städte sind von jeher Orte sozialer Ungleichheit. In der verdichteten Struktur einer Stadt treten insbesondere Reichtum und Armut in zuweilen verstörender Weise nebeneinander auf. Wie das geschieht und wie Stadtmenschen in und mit diesen starken sozialen Differenzen und Divergenzen leben, gehört seit Georg Simmels 1903 erschienenem Aufsatz »Die Großstädte und das Geistesleben« (Simmel 1995) zu den zentralen Themen der Stadtsoziologie. Starke soziale Disparitäten wirken potenziell desintegrierend; sie werden, so Simmels Einsicht, insbesondere durch die Produktion von Abstand handhabbar gemacht. Simmel verortet diese Abstandsproduktion am Ort des großstädtischen Individuums, dessen Lebensweise sich durch eine Haltung der Blasiertheit, Distanziertheit, Gleichgültigkeit und Intellektualisierung auszeichnet. Vermöge dieser Lebensweise immunisiert sich der Großstadtbewohner1 gegen die Zumutungen, die im Aufeinandertreffen der Verschiedenen entstehen. Die Chicago School der Stadtsoziologie, die Simmels Anregungen aufnimmt, und namentlich einer ihrer Nestoren, Robert Ezra Park, verorten diese urbane Abstandsproduktion an anderer Stelle: Sie weisen auf residenzielle Segregation hin (Siebel 2018: 120). Die Verschiedenen halten nicht nur durch individuellen Habitus Abstand; sie gruppieren sich auch in unterschiedlichen Quartieren der Stadt, die dann in sich mehr oder weniger homogene Sozialräume darstellen. Insbesondere die soziale, die ethnische und die demografische Segregation sind hier unterschieden worden (Farwick 2012: 381). Im Folgenden wird der Fokus auf soziale Segregation gerichtet. In der Stadt, so die in einer Vielzahl empirischer Studien in verschiedenen kulturellen Kontexten bestätigte Einsicht, verräumlichen sich soziale Disparitäten. Insbesondere die reichsten und die ärmsten Einkommensgruppen in einer Stadt leben eher segregiert, während mittlere Einkommensgruppen häufiger in sozial gemischten Quartieren leben. Der Segregationsindex, die empirisch operationalisierte Maßzahl für das Phänomen der räumlichen sozialen Entmischung, weist bezüglich des Einkommens eine U-Verteilung auf (Farwick 2012: 384f; 387). Am stärksten segregiert leben die oberen Einkommensgruppen (Helbig, Jähnen 2018: 6–10). 1

Zur (männlichen) Geschlechterperspektive bei Simmel vgl. Siebel 2018: 122.

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Religion im urbanen Raum

Segregation ist dabei nicht allein ein Resultat sozialer Polarisierung, sondern kann diese auch verstärken. Wer in einem ›schlechteren‹ Quartier wohnt, hat oftmals niedrigere Bildungs-, Einkommens- und Partizipationschancen. Der Wohnort kann geradezu zum Stigma werden. Hinweise auf solche Wohnquartierseffekte hat die Stadtsoziologie zu einer »Verstärkerthese« verdichtet (Müller 2012: 439; Farwick 2012: 389). Soziale Segregation zeigt sich damit als ein wichtiger Mechanismus sozialer Exklusion. Allerdings ist darauf hingewiesen worden, dass diese Verstärkungseffekte in Deutschland nicht so stark sind wie etwa in Frankreich oder in den USA. Neben der Exklusion aufgrund von Segregation findet auch eine »exclusion sur place« statt (Foucault, nach Müller 2012: 440), die sich etwa in einem Rückzug in die eigenen vier Wände manifestiert (Müller 2012: 441; 434). Zudem gibt es keine einlinige Relation zwischen niedrigem Einkommen und sozialer Exklusion im Sinne verminderter Teilhabechancen. Dennoch ist deutlich, dass es auch in Deutschland Zusammenhänge zwischen der sozialen Segregation in Stadtquartieren und sozialer Exklusion gibt und die Stadt durchaus nicht immer bzw. nur eingeschränkt als »Integrationsmaschine« (Müller 2012: 442) funktioniert. Aus diesem Grund werden politische Programme aufgelegt, die darauf abzielen, soziale Segregation zwar nicht aufzuheben, aber doch die Verstärkung der Benachteiligung durch Wohnquartierseffekte zu reduzieren. Zu ihnen gehört unter anderem das Bund-LänderProgramm »Soziale Stadt« (Farwick 2012: 395f; 410f).2 Funktional betrachtet ist soziale residenzielle Segregation in der Stadt ein ambigues Phänomen. Sie kann als Modus sozialer Integration wirken, insofern die mit starken sozialen Differenzen potenziell verbundenen Effekte der Desintegration und der Exklusion gemildert bzw. kompensiert werden. In einkommensärmeren Quartieren sind in der Regel Preise für Konsumgüter niedriger und die sozialen Netzwerke der Lebenssituation der Bewohner:innen angepasst: Man hilft sich aus. Auch werden Konflikte durch verschiedene Lebensweisen und Raumnutzungsformen infolge von Segregation potenziell reduziert. Andererseits kann Segregation auch, wie angedeutet, soziale Exklusion verstärken: Segregation wird zur Ausgrenzung, insbesondere dort, wo die Systeme der sozialen Sicherung die Quartierseffekte nicht zu mildern vermögen. »Urbane Lebensweise und Segregation als großstädtische Integrationsmodi haben ökonomische Voraussetzungen, die Simmel und Robert Park, einer der Begründer der Chicagoer Schule der Soziologie, nicht thematisiert haben […]. Gleichgültigkeit, Blasiertheit, Distanziertheit und Intellektualität wirken nur dann als Bedingungen sozialer Integration, wenn die systemische Integration der Beteiligten, d. h. die Integration in die, um mit Simmel zu sprechen: Geldwirtschaft und damit in die Konsumgütermärkte, in die sozialstaatlichen Sicherungssysteme und in den Arbeitsmarkt gewährleistet ist.« (Siebel 2018: 121) Die jüngeren neuen Stadtquartiere, die in dieser Studie untersucht werden, weisen in der Regel hohe Preise für das Wohnen, sei es im Eigentum oder zur Miete, auf. Sie sind für eine wohlhabendere Bevölkerung konzipiert. Im Verbund mit modernen Sicherheitsinfrastrukturen können sich auf diese Weise »Archipele der Sicherheit« (Wehrheim 2

Dieses Programm wurde auch in einigen der in der vorliegenden Studie untersuchten Quartiere implementiert, etwa in München Giesing (siehe 5.3.1) und Neuaubing-Westkreuz (siehe 11.2.1).

5. Ungleichheit

2006, nach Müller 2012: 440) bilden: Es kommt zu einer »Sicherheitszonisierung der Stadt« (Müller 2012: 441).3 Umgekehrt ist insbesondere München Neuperlach als älteres neues Stadtquartier mit dem Ziel errichtet worden, bezahlbaren Wohnraum für niedrigere Einkommensgruppen zu errichten. In beiden Fällen sind neue Stadtquartiere Treiber der sozialen Segregation; ›Reichenviertel‹ und ›soziale Brennpunkte‹ entstehen. Allerdings sind die Kommunen zum Teil bemüht, Segregationseffekte zu mildern. Sie machen es den Investoren zur Auflage, eine Mischung aus Sozialwohnungen, Mietund Eigentumswohnungen zu errichten. Das hat jedoch oftmals innerhalb der neuen Quartiere mikrosegregative Konsequenzen, wenn etwa die günstigeren Wohnungen an den großen Straßen und die hochpreisigen Wohnungen in den dahintergelegenen, ruhigeren Lagen errichtet werden. So oder so ist das Thema der sozialen Ungleichheit und damit der sozialen Exklusion in vielen der untersuchten Stadtquartiere präsent. Die Verräumlichung sozialer Disparitäten, die für Städte insgesamt charakteristisch ist, manifestiert sich in besonderer Weise am Ort neuer Quartiere und kommt dort zu Bewusstsein.4 Hier betrifft sie auch das Verhältnis von Religion und Raum. Verräumlichte soziale Disparitäten, wie sie etwa im Umfeld neuer Stadtquartiere sichtbar werden, sind in dem Maße religiös virulent, wie Religion umgekehrt für soziale Ungleichheit sensitiv ist. Nun gehören soziale Ungleichheit, ihre Deutung, ihre normative Wertung und der Umgang mit ihr mindestens für die Hochreligionen zum klassischen Themenbestand. Grundlegend für Judentum, Islam und Christentum sind die prophetischen und sozialgesetzlichen Traditionen der hebräischen Bibel, die Phänomene zeitgenössischer sozialer Ungleichheit in hoher Differenziertheit wahrnehmen und mit Idealen gerechter, insbesondere: nicht durch Exklusion charakterisierter Sozialbeziehungen konfrontieren. Neben ihnen stehen weisheitliche Traditionen, die soziale Ungleichheit auf unterschiedliche Gottesfürchtigkeit zurückführen und legitimieren.5 Doch auch diese können mit dem Aufruf zur Wohltätigkeit gegenüber den schlechter Gestellten einhergehen. Das Überwindungs- gleichwie das Akzeptanzparadigma sind in vielen Schattierungen und Mischformen im Christentum bis heute präsent (Bieler, Gutmann 2008). Beide gehen jedenfalls mit einer Sensitivität für soziale Ungleichheit einher und sind insbesondere in der Moderne mit umfänglichem diakonisch-caritativen Engagement verbunden gewesen. Diese religiöse Sensitivität für soziale Ungleichheit hat sich in der Moderne in spezifischer Weise mit der Stadt verbunden. Die Geschichte der modernen christlichen Diakonie in Deutschland nimmt ihren Ausgang in den durch Industrialisierung und Pauperisierung geprägten Städten des 19. Jahrhunderts wie Hamburg (Wichern) oder Bielefeld (von Bodelschwingh). Zunächst in freien Vereinen und Stiftungen, später auch in 3 4

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Siehe dazu auch unten, 6.2.1, zum Agfa-Gelände Giesing. Für die Analyse der entsprechenden Diskurse ist von Bedeutung, dass ›gefühlte‹ und ›tatsächliche‹ (an Einkommensunterschieden u.a. ausweisbare) Segregation bzw. Exklusion nicht unbedingt übereinstimmen müssen. »Exklusionserfahrungen und -empfinden decken sich nicht zwingend und nicht ausschließlich mit den objektiv erkennbaren benachteiligenden Sozialindikatoren.« (Müller 2012: 442, vgl. 432f) Insofern geht es im Folgenden aufgrund der Anlage dieser Studie nicht um die Empirie der Sozialindikatoren, sondern um die Wahrnehmung, Thematisierung und Bearbeitung von sozialen Disparitäten. Vgl. dazu in Anschluss an Max Weber Davidson, Pyle 2006.

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Religion im urbanen Raum

den parochialen Stadtgemeinden und übergemeindlichen Einrichtungen der verfassten Kirchen nahm man sich der wechselnden Formen sozialer Verelendung und Exklusion an.6 In der formativen Phase der Diakonie waren diese Initiativen zumeist von konservativ-organizistischen Sozialidealen geleitet, neben die später auch christlich-sozialistische Ideale traten. Beide zielten auf eine gesellschaftlich-kulturelle wie religiöse Integration der als zerrissen und zerspalten wahrgenommenen zeitgenössischen Städte, wenngleich diese Integration auch material sehr unterschiedlich gedacht wurde.7 Diese Integrationsideale waren freilich immer von hoher Kontrafaktizität geprägt. Richard Sennett zufolge ist es insbesondere der stadtspezifische ökonomische Individualismus, der religiösen Sozialidealen entgegensteht. Er sieht bereits in der mittelalterlichen Stadt – und umso mehr noch in der modernen – eine Spannung zwischen Ökonomie und Religion: »Die Wirtschaft der Stadt verlieh den Menschen eine Freiheit des individuellen Handelns, die sie nirgends sonst fanden; die Religion der Stadt schuf Orte, an denen Menschen einander nahe waren. […] Das Motto ›Stadtluft macht frei‹ war der ›Imitatio Christi‹ entgegengesetzt. Diese große Spannung zwischen Wirtschaft und Religion brachte die ersten Zeichen des Dualismus hervor, der die moderne Stadt kennzeichnet: auf der einen Seite das Bedürfnis, sich im Namen der individuellen Freiheit aus der Enge der Gemeinschaft zu lösen, auf der anderen Seite die Sehnsucht, einen Ort zu finden, an dem Menschen einander nahe sind.« (Sennett 1997: 201f, zitiert nach Kemper 2012: 49f) Auch wenn man dieser großen Linie gegenüber skeptisch bleiben mag, ist damit doch ein mentalitätsgeschichtlicher Plausibilitätshintergrund aufgezeigt für den Umstand, dass die Stadt mit ihren ökonomisch induzierten starken sozialen Ungleichheiten ein religiöses ›Problem‹ darstellt.8 6 7

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Zur Geschichte der Diakonie vgl. Schäfer, Herrmann 2006. Für die Gegenwart vgl. das Programm »Kirche findet Stadt« und dessen Handlungsfeld »Wohnen und Bekämpfung der Folgen von Armut und Ausgrenzung« (Potz 2018; 2018a). Exemplarische Fragen dieses Handlungsfeldes sind: »Welche Schnittstellen einer präventiven Quartiersentwicklung in bereichs- und trägerübergreifender Kooperation gibt es? Wo liegen die Ressourcen und Rollenverteilungen, um Wohn- und Lebensverhältnisse und Teilhabe der Bewohner/innen unter schwierigen Rahmenbedingungen zu verbessern? Wie kann Koproduktion von Gemeinwohl in benachteiligten Stadtteilen gelingen?«, https://www.diakonie.de/kirche-findet-stadt#c20609, abgerufen am 21.5.2020; vgl. die exemplarische Initiative in KfS 2018: 19ff. Als Beispiel mag die Stadt-Denkschrift der EKD dienen. Sie beginnt mit einer umfänglichen Wahrnehmung der Stadt als sozial gespaltenem Ort (EKD 2007: 21–24). Die Überwindung dieser Spaltung sei Aufgabe der Kirche, wobei der Text hier einen Ausgleich zwischen sozialreformerischen und binnenreligiösen Anliegen zu wahren versucht: »Zu den wichtigen Formen gehört deshalb neben der Bildungsarbeit der diakonisch-anwaltschaftliche Einsatz für die Menschen in der Stadt. Ob der Arme oder der Fremde, das wohlstandsverwahrloste Kind oder die um ihre Rechte betrogene Frau vor Augen tritt, das prophetische Amt Jesu Christi verpflichtet die Kirche, die Stimme zu erheben und gegen menschenunwürdige Zustände einzutreten. Dabei lebt diese Aufgabe nicht von der Vollständigkeit und Umfänglichkeit ihres Tuns, sondern von ihrer exemplarischen Rolle. Die Kirche in der Stadt muss nicht jeden Missstand selbst überwinden können, um die Stadt und ihre Bürgerinnen und Bürger zur Überwindung des Missstandes aufzurufen. […] Entscheidend ist, dass kirchliche Aktivitäten ihren Ursprung im Glauben sichtbar machen; ihr geistliches Profil als Basis

5. Ungleichheit

Für die parochial organisierten evangelischen Landeskirchen und katholischen Diözesen dürfte sich dieses Problem insbesondere dann zeigen, wenn die Grenzen residenzieller Segregationsareale quer durch die Parochien verlaufen. Die Faktizität sozialräumlicher Polarisierung tritt in diesem Fall potenziell in Spannung zur Idee der wie auch immer integrierten ›Ortsgemeinde‹. Religiöse Integrationsansprüche und soziale Devianzerfahrung müssen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Eben das gilt es im Folgenden zu untersuchen. Für eine angemessene Beschreibung des Problems ist zu beachten, dass Religion soziologisch betrachtet nicht jenseits der sozialen Differenzierung steht. Sie bezieht sich auf diese nicht von einem sozialen point of nowhere aus, sondern entwickelt sich immer schon unter deren Bedingungen und befördert umgekehrt soziale Differenzierung. Seit den klassischen Studien Max Webers zu Religion und Wirtschaftsgesinnung, zugespitzt rezipiert in der These vom Konnex zwischen Calvinismus und Kapitalismus, ist Religion auch als Treiberin von Ökonomie und sozialer Ungleichheit sichtbar geworden. In anderer Perspektive ist Religion eine Form sozialen Kapitals, die auch den sozioökonomischen Status ihrer Praktikantinnen und Praktikanten beeinflusst, auch wenn sich das im Einzelnen als sehr komplex darstellt (Karner, Parker 2008; van Praag 2016; Arens, Baumann, Liedhegener 2016). Für den nordamerikanischen Kontext zeigen James D. Davidson und Ralph E. Pyle eine Doppelfunktion von Religion auf, einerseits soziale Ungleichheit auf Dauer zu stellen und andererseits soziale Gleichheit zu propagieren. Unterschiedliche religiöse Gruppierungen wirkten hier durchaus verschieden: »Religious groups are found at virtually every point along a continuum ranging from the perpetuation of social inequality to the promotion of equality« (Davidson, Pyle 2006: 197; 185.). Wie also bezieht sich Religion auf die verräumlichten sozialen Ungleichheiten in der Stadt? Hierfür ergeben sich aus den bisherigen Ausführungen zwei mögliche Spannungen: Erstens stellt, wie ausgeführt wurde, verräumlichte soziale Polarisierung insbesondere für die parochial verfassten Kirchen ein religiös virulentes Problem dar. Dabei tritt das Ideal einer Überwindung sozialer Desintegration potenziell in Spannung zur eigenen Involviertheit in die sozialen Disparitäten, die dieser Desintegration zugrunde liegen. Zweitens ist die Beziehung zwischen sozialer Segregation und sozialer Desintegration ambigue: Segregation kann einerseits soziale Konflikte reduzieren, andererseits zur Exklusion führen. In dem Maße, in dem religiöse Akteure um der Integration willen auf die Überwindung von Segregation abzielen, verschärfen sie potenziell Konflikte. Im Folgenden wird gezeigt, dass in der Karlsruher Südstadt, die durch starke soziale Ungleichheit und Segregation geprägt ist, beide Spannungen zu Tage treten und für die evangelische Ortsgemeinde zur Herausforderung werden (5.2). Weitere Facetten des Umgangs mit sozialen Ungleichheiten lassen sich in anderen Quartieren dieser Studie

ihres diakonisch-anwaltschaftlichen Engagements muss deutlich werden. […] So wird das diakonische Engagement der Kirche stärker als früher auch eine katechetische Dimension entwickeln.« (A.a.O.: 50) Entsprechend wird dekretiert: »Diese konzeptionelle Gesamtschau muss ebenfalls alle diakonischen Einrichtungen einer Stadt in den Blick nehmen. Auch an dieser Stelle wird sicher vieles auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Diakonisches Engagement muss zunehmend integraler Bestandteil der hier skizzierten Gemeindeformen werden.« (A.a.O.: 62)

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Religion im urbanen Raum

aufzeigen (5.3). Wieder werden die Einsichten des Kapitels abschließend in einem Fazit zusammengefasst (5.4).

5.2 Soziale Ungleichheit als Herausforderung von religiösen Gemeinschaften Das Thema sozialer Ungleichheit wird im Folgenden am Beispiel der Karlsruher Südstadt untersucht. Zunächst wird in die gespaltene stadträumliche Lage eingeführt und werden die dort ansässigen örtlichen religiösen Einrichtungen vorgestellt (5.2.1). Als wesentliches religionstopographisches Thema zeigt sich dabei das Verhältnis von Religion und sozialer Diversität, die sich im Unterschied der beiden Gebiete sinnfällig manifestiert. Insbesondere kirchliche Mitarbeitende nehmen diese Ungleichheit wahr (5.2.2) und schreiben sich angesichts ihrer die Aufgabe zu, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und soziale Milieus zu integrieren (5.2.3). Gleichwohl bilden sich auch und gerade am Ort des Gemeindelebens Phänomene sozialräumlicher Ungleichheit ab (5.2.4). Dieses Integrationsdilemma wird ein einem Zwischenfazit noch einmal knapp zusammengefasst (5.2.5).

5.2.1

Südstadt (Karlsruhe)

Die kreisfreie Stadt Karlsruhe liegt nahe der Grenze zu Frankreich und hat ca. 300.000 Einwohner. Das Forschungsgebiet Südstadt befindet sich zwischen dem Hauptbahnhof und der östlichen Innenstadt. Etwa 19.000 Personen leben hier zum Zeitpunkt der Forschung.9 Die Südstadt besteht aus zwei Teilen, der (alten) Südstadt und ihrem (neuen) östlichen Teil (kurz: Südstadt-Ost). Die beiden Gebiete sind hinsichtlich ihrer Geschichte, baulichen Struktur und Sozialstruktur sehr verschieden. Die alte Südstadt entstand als Arbeiterwohngebiet in der Mitte des 19. Jahrhunderts und stellte die erste Erweiterung des ursprünglichen Stadtgebiets dar. Es ist also ein vergleichsweise altes Viertel mit gravierenden Problemen in der Bausubstanz und entsprechend niedrigen Mieten. Der Anteil an Bewohner:innen mit Migrationshintergrund liegt mit über 25 Prozent über dem städtischen Gesamtdurchschnitt.10 Auch hinsichtlich der Religionszugehörigkeit unterscheidet sich die Südstadt vom übrigen Karlsruhe. Es gibt relativ mehr Nichtchristen im Vergleich zu Karlsruhe insgesamt, und unter den Christen ist der Anteil an Katholiken verhältnismäßig höher, was mit dem hohen Anteil an Familien mit Migrationshintergrund korreliert, da Zugewanderte aus Polen, Spanien und Italien häufiger katholisch als evangelisch sind. Ein Interviewpartner charakterisiert diesen Teil der Südstadt mit folgenden Worten: »Der Stadtteil ist sehr stark [multikulturell] geprägt. Sehr, sehr kommunikativ […] und die Leute sind offen, bisschen abgespaced manchmal, bisschen verrückt, ein bisschen kaputt manchmal auch, aber sehr liebeswürdig, finde ich.« (Parisius, KA)

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https://www.karlsruhe.de/b4/stadtteile/sueden/suedstadt/zahlen, abgerufen am 1.3.2016. www.karlsruhe.de/b4/stadtteile/sueden/suedstadt/leben-sued.de, abgerufen am 8.9.2016.

5. Ungleichheit

Andererseits wird die Südstadt als problembehafteter Stadtteil bezeichnet: »Wir hatten eine Menge Probleme, [zum Beispiel] Familiendramen. Wir kriegen es auch über die ausländischen, türkischstämmigen Kinder mit, dass es dort viel Verwahrlosung gibt. Dass sich wirklich kein Mensch um die Kinder kümmert, also die müssen sich einfach um ihre Geschwister kümmern. […] Oder der Werderplatz mit der Anhäufung [von Alkoholabhängigen]. Diese Szene hat sich verändert. Es ist nicht mehr wie früher mit den [Obdachlosen], der Drogenhandel kam noch rein. Im Grunde genommen gibt es ganz viel Problematisches. Aber darin gibt es noch so einen Kern von so alten Südstädtern. Und dann haben wir viele Studenten. Wohnungen für Familien findet man fast nicht.« (Parisius, KA) Die Südstadt-Ost hingegen ist ein frisch errichtetes und hochpreisiges Quartier, was sich in der Sozialstruktur spiegelt. Früher befand sich auf dem Gelände ein Ausbesserungswerk der Bahn. 2004 wurde mit dem Bau des Stadtteils Südstadt-Ost begonnen, der auch als Citypark bezeichnet wird, in Anspielung auf den hier gelegenen Stadtpark. Das Quartier wurde von einem einzelnen Investor, dem Immobilienunternehmen Aurelis, entwickelt und gebaut.11 Dabei sind 3000 Wohnungen entstanden. Zum Teil handelt es sich um mehrgeschossige Wohnungsbauten in Blockrandbebauung. Die angestrebte exklusivere Atmosphäre dieses Gebiets manifestiert sich unter anderem in den als CarLoft bezeichneten Gebäuden: Einige der dort gebauten Wohnungen verfügen über überdachte Balkone, auf denen das Auto geparkt wird. Die Autos werden dabei über Aufzugssysteme direkt vor die Wohnungen transportiert. Die Südstadt-Ost ist hinsichtlich ihrer Bevölkerung deutlich weniger heterogen als die alte Südstadt. Eine kirchliche Hauptamtliche beschreibt die Bevölkerung wie folgt: »Da gibt es zwei Gruppierungen. Es gibt die Älteren, die ihr Haus verkauft haben und in die Stadt ziehen. Damit sie zum Theater können, damit sie ins ECE [ein Einkaufszentrum] rüber können, dann gehen sie in das vornehme Carré.« (Degen, KA) Ein weiterer kirchlicher Mitarbeiter nennt eine zweite Gruppe, die in der Südstadt-Ost lebt: »Es ist jetzt so, dass viele Familien auch in der Familiengründungsphase dort leben.« (Wenzel, KA) Deutlich wird in den Interviews, aber auch in Stadtteilbegehungen und Go-Alongs, wie sehr sich die beiden Gebiete unterscheiden. Unterschiede finden sich auch in der religiösen Topographie. Fast alle religiösen Orte, Gemeinschaften und Akteure befinden sich in der alten Südstadt. Dies sind die evangelische Johanniskirche und die Vesperkirche, die katholische Kirche »Unserer Lieben Frau« und das zur katholischen Kirche gehörende Canisiushaus, die Beratungsstellen der Diakonie, die charismatische Gemeinschaft »Nehemia-Initiative« mit ihren Räumen, die Gruppe »Gospel Tribe« mit ihren Räumen sowie der evangelische und der muslimische Kindergarten (letzterer »Halima«). Im Neubaugebiet hat nur 11

https://www.aurelis-real-estate.com/development/referenzprojekte/karlsruhe/?no_cache=1, abgerufen am 14.9.2016.

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die evangelische Kirche eine Ladenkirche errichtet: das »Senfkorn«, das zur JohannisPaulus-Gemeinde gehört. Außerdem gibt es noch den »Garten der Religionen«, in dem unterschiedliche Religionsgemeinschaften symbolisch dargestellt werden (siehe 7.3.3).

Abbildung 8: Religiös signifikante Orte der Südstadt (grau) und des Neubaugebiets in der Südstadt-Ost (blau) in Karlsruhe

5.2.2 Soziale Ungleichheit wahrnehmen »Ja. Natürlich […]. Das sind Welten. Das sind total Welten« (Demant, KA): So antwortet eine Hauptamtliche auf die Frage, ob und wie sich die beiden Gebiete der Südstadt und Südstadt-Ost unterscheiden. Diese Welten spiegelten sich deutlich zwischen den unterschiedlichen Gruppen der Gemeinden wider, unter denen es mitunter auch zu Differenzen komme. In den Interviews und der teilnehmenden Beobachtung wird deutlich, dass die Menschen aus den verschiedenen Gebieten kaum Berührungspunkte miteinander haben und das jeweils andere Gebiet des Stadtteils nicht besuchen. Ähnliches gilt für die evangelische Gemeinde, die im Grunde aus zwei Gemeinden besteht. Dies wird deutlich, wenn man die unterschiedlichen Kreise und Projekte, Gruppen und Treffen betrachtet, die in der alten Südstadt und in der neuen Südstadt-Ost verortet sind. Die sozialstrukturelle Teilung wird durch eine physische Barriere noch verstärkt. Dabei handelt es sich um eine große Straße, die das Gebiet durchquert und städtebaulich in zwei Hälften unterteilt.

5. Ungleichheit

Angesichts dieser Lage bemühen sich die hauptamtlichen Mitarbeitenden der Kirche darum, sowohl die unterschiedlichen Gruppen als auch die verschiedenen Gebiete des Stadtteils miteinander zu verbinden: »Als Quartiere, die ja eins sein sollen, zumindest im kirchlichen Aufgabenfeld, wird es darum gehen, dass diese beiden Stadtteile nicht irgendwie auseinanderbrechen. Ja, dass wir die zusammenhalten.« (Olschewski, KA) Initiativen und Gruppenangebote sollen verbindend wirken, und damit habe man, wie betont wird, auch teilweise Erfolg. In den Worten eines Mitarbeitenden: »Und man guckt auch über die Straße zunehmend rüber«. Dennoch besteht die Gemeinde überwiegend aus vereinzelten Kreisen und Gruppen, die wenig miteinander zu tun haben. Als Instrument der Gemeindeentwicklung wurde daher ein Workshop durchgeführt, auf welchem Fragen der Schwerpunkt- und Profilbildung der Gemeindearbeit diskutiert wurden: »Da haben wir im letzten Workshop drüber geredet, ob es diesen Mittelpunkt überhaupt gibt. Es gibt so ganz viele verschiedene Sachen. Aber es gibt eigentlich nicht etwas zentral Verbindendes.« (Degen, KA) Ein anderer Interviewpartner bestätigt diese Beobachtung und sagt mit Blick auf die verschiedenen Gruppen der Gemeinde: »Die haben ihren Bezug durch ihr Engagement zur Gemeinde, und die treffen sich eigentlich nicht automatisch.« (Olschewski, KA) Gerade vor dem Hintergrund des formulierten Integrationsanspruchs werden sowohl die faktische Spaltung des Stadtteils als auch die Zersplitterung des Gemeindelebens sichtbar.

5.2.3 Soziale Ungleichheit überwinden Ein Versuch, die Gemeindegruppen, deren Mitglieder in den unterschiedlichen Gebieten der Stadt und auch im Umland leben, zu vereinen, war ein Hoffest im Sommer 2015. Zu diesem Fest gab es jedoch unterschiedliche Meinungen. Einige Mitarbeitende der Kirche berichteten, dass sich die verschiedenen Gruppen der Gemeinde (noch) nicht als Einheit wahrgenommen hätten. Andere empfanden es hingegen als gelungen: »Die Leute sprechen immer noch davon, vor allem die jungen Familien, mit strahlenden Augen. Wo es darum ging, die Sonntagsgemeinde und Gemeinde des Familiengottesdienstes und auch unter Umständen die Kindergartenfamilien da zusammen zu holen. Und das ist uns sehr, sehr gut gelungen.« (Olschewski, KA) Auch andere Praktiken zielen offenbar darauf ab, die beiden Stadtteile und Gemeindegruppen miteinander zu verbinden, wie z.B. ein Bastelangebot der Ladenkirche »Senfkorn« im neuen Stadtteil. Hier werden Tischsets hergestellt, die schließlich in der Vesperkirche, einem sozialdiakonischen Angebot in der alten Südstadt, ihre Verwendung finden. Auch tagt der Ältestenkreis nun regelmäßig am neuen Standort der Ladenkirche. Zudem informiert die Mitarbeiterin der Ladenkirche die Teilnehmenden der Gottesdienste über das Angebot der gesamten Gemeinde.

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Religion im urbanen Raum

Wichtige Impulse für Verbindung der beiden Stadtteile erhofft man sich von der Institution des evangelischen Kindergartens. Dieser liegt, stadträumlich betrachtet, auf der Grenze zwischen der Südstadt und der Südstadt-Ost. Ein hauptamtlicher Mitarbeiter sagt: »Wir sehen in diesem Kindergarten auch eine ganz entscheidende Schnittstelle zum neuen Stadtteil hin. Weil er eben genau da auf der Schnittstelle liegt. Und es wird darum gehen, aus beiden Stadtteilen Eltern und Familien zu gewinnen, weil die Durchmischung sicherlich auch der Einrichtung sehr guttäte.« (Olschewski, KA) Die Eltern stellen aus Sicht des Mitarbeiters eine potenzielle Trägergruppe zur Förderung der Verbindung zwischen den beiden Stadtteilen dar. Auch stellt er Überlegungen an, wie die Praxis einer nachgehenden Seelsorge bei Kasualien hier einen integrativen Effekt haben könnte: »Speziell Taufen, Kindergartenarbeit, das Senfkorn. Und dann das Bewusstsein, dieser Vater arbeitet bei SAP oder jener da hat die Schreinerei. Da können natürlich Dinge draus erwachsen. Und daraus wächst dann auch dieses Aufeinanderbezogensein, letztlich dieses Bewusstsein in unserer Konstellation: Wir sind Südstadt und Südstadt-Ost und eigentlich sind wir eins.« (Olschewski, KA) Im weiteren Verlauf des Gespräches macht der Interviewte deutlich, dass er sich von den Eltern erhofft, sie würden vermittelt über Gemeindeangebote in einen Erfahrungsaustausch auch über ihre unterschiedlichen Berufe kommen und sich gegenseitig unterstützen. Die Personengruppe, welche die beiden Stadtteile am effektivsten verbinden könnte, seien aber die Kinder: »Gerade die Brücke, die sehe ich schon in den Kindern. […] da ist es eigentlich am unkompliziertesten. Und das müsste doch eigentlich das Interesse aller sein, aller Eltern, dass die Angebote, die da die Kirche macht und die auch integrativ wirken, dass die wahrgenommen werden.« (Olschewski, KA) Hoffnungen auf eine beide Teilquartiere integrierende Funktion liegen daher insbesondere auf dem Familiengottesdienst »Keimling«. Ursprünglich feierten die Gottesdienstteilnehmenden diesen in den Räumen des Kirchenladens in der Südstadt-Ost. Aus Platzgründen wechselten sie jedoch nach einiger Zeit in das Gemeindehaus, das zum Ensemble der Johanniskirche in der (alten) Südstadt gehört. »[Das] Senfkorn ist mit seinen [Familien]gottesdiensten so stark gewachsen, dass sie aus der Raumnot heraus hierüber gekommen sind in den [Gemeinde-]Saal. Und damit diese Magistrale der Rüppurer Straße, die da irgendwie so eine Trennung sein könnte, überwunden haben.« (Olschewski, KA) Diese Familiengottesdienste werden inzwischen von einem erweiterten Personenkreis besucht, wie eine weitere hauptamtliche kirchliche Mitarbeiterin erzählt: »Es kommen auch welche aus der Südstadt, und es gibt auch Familien, die nur zum [Familiengottesdienst] kommen, die jetzt mit dem Senfkorn gar nichts zu tun haben.

5. Ungleichheit

Das gibt es auch. Die das halt im Schaukasten vor der Kirche lesen oder auf der Website von der Gemeinde.« (Demant, KA) In punktuellen Initiativen wird die Gemeinde so zu einem Ort, an dem sich Menschen aus den unterschiedlichen Stadtteilen begegnen und zusammen feiern.

5.2.4 Soziale Ungleichheit reproduzieren Wie eben skizziert, stellt der Familiengottesdienst »Keimling« einen Ort der Begegnung zwischen den Bewohner:innen beider Stadtteile dar. Dabei müssen auf beiden Seiten Barrieren überwunden werden: Gottesdienstbesucherinnen aus dem neuen Stadtteil müssen sich auf den Weg über die trennende Hauptstraße machen; Teilnehmende aus dem alten Stadtteil müssen dem neuen, ursprünglich in der Ladenkirche entstandenen Gottesdienstformat in ›ihren‹ vertrauten Räumlichkeiten Platz geben. Ob und inwieweit der Familiengottesdienst angesichts dieser hintergründigen Spannungen tatsächlich eine integrative Funktion erfüllt, wird von einigen in Frage gestellt. Eine Ehrenamtliche aus der Johanniskirche erzählt, dass sie an dem Brunch, der im Anschluss an den Familiengottesdienst stattgefunden hätte, zwei Mal teilgenommen habe. Sie habe die Gruppe [der aus dem neuen Quartier hinübergekommenen Familien] jedoch als in sich geschlossen wahrgenommen. Da sie selbst keine Kinder hat, habe sie auch keine Gesprächsthemen mit den anderen Anwesenden gefunden (FFT KA). Eine hauptamtliche Mitarbeiterin der Landeskirche sieht dies ähnlich. Sie sagt über die Besucher des Familiengottesdienstes: »Das Surrounding interessiert sie eigentlich überhaupt nicht. Die kommen zum Gottesdienst. Die wissen noch nicht einmal, wer wir sind. Ein ›Guten Tag‹ kommt ganz selten […]. Auch, ich denke, aus Unsicherheit […]. Andere, die sich hier bewegen, da ist ja eher so ein Zusammenhalt. Und die sind dann noch Fremdkörper.« (Degen, KA) Deutlich trennt die Mitarbeitenden zwischen den Besucher:innen des neuen Gottesdienstangebots (»die«) und der sich in der Gastgeberrolle sehenden Gemeinde des alten Stadtteils (»wir«). Ermäßigt wird diese Gegenüberstellung durch eine angedeutete zeitliche Perspektive (»noch«): Die indirekt angedeutete Erwartung scheint in die Richtung zu gehen, dass die »Fremdkörper« mit der Zeit zu einem Teil des als gegeben vorausgesetzten »Wir« werden. Die prekäre Balance aus Kooperation, Koexistenz und Konkurrenz zeigt auch folgende Episode: Da der in die alte Johanniskirche umgezogene neue Familiengottesdienst »Keimling« zeitgleich, aber räumlich getrennt vom normalen 10-Uhr-Gottesdienst stattfand, hatte sich eine Art Konkurrenzsituation der beiden Gottesdienste entwickelt. Von den Gemeindevorständen wurde dies nicht immer gern gesehen. So hatte eine Familie der Südstadt-Ost darum gebeten, dass der Taufgottesdienst für ihr jüngstes Kind im Rahmen des »Keimlings« stattfinden könne. Diesem Wunsch schlossen sich weitere Familien an. Einige der Verantwortlichen der Johannis-Paulus-Gemeinde opponierten, da sie den in der Pfarrkirche stattfindenden sonntäglichen Gottesdienst als Hauptgottesdienst empfanden, wo seit über 40 Jahren die Taufen vorgenommen werden. Andere Gemeindemitarbeitende sahen dies weniger kritisch und freuten sich vielmehr über die Entwicklung. In dem Wunsch, eine Einigung zu erzielen, wurde schließlich beschlossen, dass der Taufgottesdienst wie

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gewünscht im »Keimling« stattfinden konnte, aber keine weitere Werbung dafür gemacht werden sollte. (FFT KA) Allerdings ist die Kirchengemeinde nicht die einzige Akteurin, die sich der Integration der beiden Teilquartiere verschrieben hat. Auch der Stadtteilverein »Bürger-Gesellschaft« ist in ähnlicher Absicht wirksam, wie der Mitarbeiter einer anderen Gemeinde berichtet: »[Ich] finde es genial, wie unsere ›Bürger-Gesellschaft‹ immer wieder Wert [darauf] legt: Es ist nicht ein eigener Stadtteil, sondern es gehört zur Südstadt. Es ist die Südstadt-Ost. Die haben auch ihr Logo verändert. Und unser Magazin ›Rudi‹, ›rund um den Indianerbrunnen‹, hat auch oben noch das Signet des Wasserturms bekommen. Das heißt jetzt ›rund um den Indianerbrunnen und den Wasserturm‹. Das Bürgerzentrum der Südstadt liegt unmittelbar an der Grenze.« (Wenzel, KA) Andernorts wird das Ziel des Stadtteilvereins allerdings infrage gestellt. Ein Mitarbeiter einer charismatischen Gruppierung bezweifelt, dass ein Zusammenwachsen der Teilquartiere überhaupt möglich ist: »Die Verbindung wird kaum gelingen. Ich glaub es nicht. Die Leute kommen, um dort zu wohnen. Jetzt mittlerweile gibt es ein paar Einkaufsmöglichkeiten. Es kann sein, dass sie jetzt wegen dem Einkaufen und zum Teil noch da vorne am Mendelsohn-Platz [zum Einkaufszentrum] vielleicht gehen. Aber richtig eintauchen in die Südstadt um der Südstadt willen, der klassischen Südstadt willen, glaube ich nicht. Ich kenne die Bemühungen vom Bürgerverein, die Leute zusammenzubringen. Aber das ist extrem schwierig. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass es gelingt. Weil es einfach unterschiedliche Menschen sind. Wir zerfallen halt als Gesellschaft in Cluster, und die kann man nicht durchrühren und wieder mischen. Das ist ja in der Kirche das gleiche Problem. Die Volkskirche in dem Sinne gibt es gar nicht mehr.« (Parisius, KA)

5.2.5 Zwischenfazit: Religion als Medium sozialer Differenz In der derzeitigen Situation werden die (alte) Südstadt und die neue Südstadt-Ost als Stadtteile und Gemeindegebiete in der Wahrnehmung der kirchlichen Hauptamtlichen weder als räumliche noch als soziale Einheit wahrgenommen. Zu offenkundig sind die sozialen Unterschiede in der hier und dort angesiedelten Wohnbevölkerung. Hier zeigt sich eine Erkenntnis der Stadtsoziologie in aller Deutlichkeit: Der öffentliche Raum der Südstadt und der Südstadt-Ost ist »kein einheitlicher, homogener Stadtbereich, sondern ein Netz aus Orten mit je unterschiedlicher sozialer Belegung und Bedeutung« (Klamt 2012: 787). Das Quartier zeigt sich den Interviewpartner:innen als geprägt durch residenzielle Segregation, die soziale, ökonomische, ethnische und demographische Faktoren in sich verbindet. Gleichsam als Symbol für diese Segregation, aber auch als deren materielle Verkörperung, fungiert die große Straße, welche die beiden Gebiete trennt. Die hauptamtlichen Mitarbeitenden der Kirche sehen die Segregation als Integrationsproblem an. Sie verstehen es als ihre Aufgabe, die beiden Gebiete zu integrieren und dazu insbesondere die zur Gemeinde gehörenden Gruppen zusammenzuführen.

5. Ungleichheit

Deutlich wurde allerdings auch, dass die Erfolgsaussichten dieses Zieles durchaus unterschiedlich bewertet werden. Auch wurde vermehrt das Unbehagen artikuliert, dass sich soziale Differenzen aus dem Stadtquartier im Gemeindeleben widerspiegeln, was tendenziell als ›Spaltung‹ der Gemeinde wahrgenommen wird. Religiöse Orte und Praktiken, selbst die Zuständigkeit der Hauptamtlichen unterscheiden sich in der ›reichen‹ Südstadt Ost und in der ›armen‹ alten Südstadt. Die Gemeinde, von vielen als Ort sozialer Inklusion beansprucht, fungiert damit zugleich als Repräsentationsfläche für soziale Abgrenzungen. Mehr noch: Insbesondere dort, wo Verbindungen gesucht werden, zeigen sich die Trennungen und Brüche schmerzlich. Gerade am Ort der symbolischen Darstellung von Einheit – etwa im Gottesdienst der Gemeinde – treten unversöhnte Pluralität, Differenz und Disparität hervor: Welcher Gottesdienst ist der gesuchte eine, zentrale, ›eigentliche‹ Gemeindegottesdienst? Versuche, in Gottesdienst, Gemeindefest oder Kinderarbeit Segregationsgrenzen zu überwinden, werden nicht nur als gelungen wahrgenommen, sondern führen zu neuen Konflikten innerhalb der Gemeinde. Es ist der einleitend festgestellte ambigue Zusammenhang von Segregation und sozialer Integration, der sich hier am Ort der Gemeinde manifestiert: Einerseits wird Segregation als desintegrierend wahrgenommen; das Auseinanderfallen der Gemeinde in einen ›armen‹ und einen ›reichen‹ Teil soll nicht hingenommen werden. Menschen sollen zusammengebracht, Spaltungen überwunden werden. Andererseits fungiert die soziale Segregation als urbaner Konfliktminderungsmechanismus. Anstrengungen zu ihrer Überwindung führen demzufolge zu Konflikten. Mithin können unter den sozialen Bedingungen sozialer Segregation gerade Bemühungen der – religiös gesprochen – ›Versöhnung‹ zu Spannungen führen bzw. vorhandene, unter den Bedingungen der Segregation latent gehaltene Konflikte ans Tageslicht bringen. Ein Homogenitätsideal religiöser Gemeinschaft überwindet nicht per se soziale Differenzen, sondern bringt diese möglicherweise überhaupt erst in einer besonders schmerzhaften Art und Weise zu Bewusstsein.12 An dieser Stelle endet die Aussagekraft dieser Studie. Es ist wichtig zu betonen, dass dieses Ergebnis mitnichten als Argument dafür dienen soll, verräumlichte soziale Ungleichheit, wie sie insbesondere in und an neuen Stadtquartieren aufbricht, seitens religiöser Akteure schlicht hinzunehmen oder lediglich als Grundlage für entsprechend differenziert profilierte ›Angebote‹ zu nutzen.13 Deutlich wird jedoch, dass reflexive Fähigkeiten zum Umgang mit solchen unversöhnten Differenzen vonnöten sind. Soziale Ungleichheit ist somit mindestens ebenso ein sozialarbeiterisches bzw. -pädagogisches wie ein theologisches Problem.

5.3 Ungleichheitskatalysatoren Am Beispiel der Südstadt in Karlsruhe wurde deutlich, wie verräumlichte soziale Disparitäten im Medium der Religion wahrgenommen, bearbeitet und reproduziert werden. Das gilt es im Folgenden mit Beobachtungen aus anderen Quartieren anzureichern. 12 13

Vgl. ähnlich die Analyse zu Vesperkirchen von Thomas Schlag 2018. In diese Richtung scheint EKD 2007 zu tendieren (vgl. 51; 54).

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Wenn dabei in der Überschrift von ›Ungleichheitskatalysatoren‹ die Rede ist, soll dieser Ausdruck in einem doppelten Sinn verstanden sein: zum einen im Sinne realer Faktoren, welche Dynamiken sozialer Ungleichheit antreiben und verstärken. Solche im Folgenden unter dem Stichwort der ›Gentrifizierung‹ zusammengefasste Dynamiken lassen sich in vielen der untersuchten Quartiere beobachten und werden mitunter auch als religiöses Problem adressiert (5.3.1). Zum anderen geht es um administrative Entscheidungen, die dazu führen, dass bereits vorhandene sozialräumliche Ungleichheiten noch einmal verstärkt in den Fokus treten bzw. überhaupt erst thematisch werden. Hier zeigt sich, dass durch die Zusammenlegung bzw. »Fusion« von Gemeinden zu größeren Verwaltungseinheiten – im Zuge einer zunehmenden Regionalisierung – das solcherart zusammengefasste Gebiet aus Sicht der religiösen Akteure als ganzes in den Blick tritt, damit aber zugleich in seiner sozialräumlichen Heterogenität sichtbar wird (5.3.2).

5.3.1 Gentrifizierungsdynamiken Während der Terminus der sozialen Segregation zunächst statisch angelegt ist, verweist der Begriff der Gentrifizierung auf einen dynamischen Prozess. Er steht dabei schillernd zwischen stadtsoziologischer Deskription und politischer Positionierung (Holm 2012: 661). Deskriptiv bezeichnet er die Verdrängung einkommensschwacher durch einkommensstarke Haushalte und die damit einhergehenden Veränderungen eines Quartiers (a.a.O., 662). »Über die Phänomene und sichtbaren Folgen der Gentrification besteht eine weitgehende Einigkeit: modernisierte und neu gebaute Wohnungen, steigende Mieten, Umwandlung in Eigentumswohnungen, neue Bewohnerstrukturen sowie eine Veränderung der Einzelhandelsstruktur und die Verwandlung der Stadtteile in eine Bühne expressiver Lebensstile.« (Holm 2012: 663) Wahrnehmungen von Gentrifizierung sind im Kontext der vorliegenden Studie vielfach von religiösen und anderen Akteuren artikuliert worden. Zwar sind neue Quartiere selbst nicht Orte von sozialstrukturellen Verdrängungsprozessen in dem Sinne, dass eine früher dort wohnende Bevölkerung es sich jetzt nicht mehr leisten könnte, dort zu wohnen. Aber sie stehen im Kontext von umfassenderen Gentrifizierungsprozessen, als deren Resultat oder Speerspitze sie erscheinen können. So berichtet ein Architekt aus der Hamburger Hafencity von den Effekten, welche die Entwicklung des neuen Stadtquartiers für die unmittelbare stadträumliche Umgebung hat: »Die Hafencity wird künstlich aufgeblasen, und es funktionieren Dinge. Und in Rothenburgsort stirbt das Viertel und wird nicht weiterentwickelt.« (Saenger, HC) Auch das Agfa-Gelände in München Giesing lässt sich im Zusammenhang einer quartiersübergreifenden, gesamtstädtischen Gentrifizierungsthematik betrachten. Hier berichtet die Mitarbeiterin eines Stadtteilprojekts: »Giesing ist eigentlich ein altes Arbeiterquartier. [… Jenseits des Agfa-Geländes] haben wir in Giesing traditionell einen ziemlich, also [für] München vergleichsweise hohen Anteil an Migranten immer schon gehabt. Es gibt einen hohen Anteil von Altenarmut,

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das ist aber vor allem hier unten das Gebiet, wo wir jetzt sind. […] [zeigt auf eine Karte] [H]ier oben ist es so gemischt, ein paar Altbauten, die nicht zerstört wurden im Krieg, ein paar 50er-Jahre-Häuser, und entsprechend sind die Mieten auch nicht alle horrend hoch. Aber es ist so dieser Münchentrend, dass alle halbwegs innenstadtnahen Stadtgebiete einfach irgendwie überschwemmt werden […].« (Beike, GI) Bundesweit drängten junge, gut ausgebildete Leute in diese Quartiere.14 Das verstärke sich aus Sicht der Mitarbeiterin nun durch das Neubauviertel mit eher hochpreisigen Wohnungen. Dem habe man versucht, mithilfe des Programms »Soziale Stadt« gegenzusteuern. Ziel ist die soziale Integration des Viertels: »Als die soziale Stadt vor zehn Jahren installiert wurde, hatte das auch, das grau hinterlegte hier ist unser Sanierungsgebiet […], da ist das Agfa-Gelände mit drin, aus gutem Grund. Weil dieser städtebauliche Wettbewerb eben gefördert werden konnte und eines unserer Ziele jetzt ist auch zu fördern, dass dieses alte und das neue Quartier irgendwie schön zusammenwachsen, auch sozial gesehen. Dass da nicht so eine Barriere entsteht. Und es ist aber natürlich so, weil es München ist und weil es ein Neubaugebiet ist, die Leute die dort wohnen, tendenziell ein bisschen besserverdienend sind, weil die Mieten auch nicht gerade günstig sind.« (Beike, GI) Im Neubauquartier verstärkt sich also der Eindruck einer sich stark wandelnden Wohnbevölkerung. Es sind tendenziell eben die Gewinner der Verschiebungen, die schon im ›alten‹ Giesing wahrzunehmen sind, die sich nun auch die noch höheren Mieten im neuen Quartier leisten können. Dies gilt, obwohl der Anteil der Wohnungsgenossenschaften im neuen Viertel hoch ist. Man erkenne, so bemerkt ein Akteur im Stadtviertel, die reicheren Agfa-Geländebewohnerinnen und -bewohner sofort an den teuren Marken ihrer Rucksäcke.15 Dennoch ist der Stadtteilmitarbeiter optimistisch hinsichtlich der Integration des neuen Gebiets. Als Begründung für diesen Optimismus wird die bauliche Eingliederung herangezogen: »Ich war zuerst oben auf dem Agfa-Turm. Und der Blick von dort oben eröffnet einen Überblick über die Anlage und die Strukturen des umliegenden Geländes. Meiner Mei14

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Hier wie an anderen Orten wird – mindestens in den Wahrnehmungen der Interviewten – ein Zusammenhang von sozialer und demographischer Segregation deutlich. Es sind jüngere Menschen und Menschen mittleren Alters, die in den höherpreisigen Quartieren dominieren. Für die Rummelsburger Bucht in Berlin berichtet die zuständige Pfarrerin auf die Frage, wer hier wohne: »[Hirsch:] Ja, das ist das klassische Bildungsbürgertum. Überwiegend dann doch oft Familien im klassischen Aufbau, mittleres Alter. Es gibt hier nicht sehr viele Studenten, was sicherlich auch an den Preisen liegt. Im Bereich Erlöser gibt es auch immer weniger Senioren. In der Sewanstraße gibt es ein Seniorenheim, es gibt ein Demenzheim in der Pfarrstraße, aber sonst gibt es hier nicht viele Seniorenunterkünfte. [Interviewfrage:] Sterben sie weg und dann werden deren Wohnungen aufgewertet oder was passiert da? [Hirsch:] Sowohl als auch. Einige ziehen ab einem gewissen Alter in ein Seniorenheim, und die liegen nicht hier im Bezirk. Die Gegend hier ist sehr attraktiv für andere Altersstufen. Auch das hat sicherlich was mit dem Preis zu tun.« (Hirsch, RB) Neben den hier berücksichtigten starken sozialen Disparitäten spielen mithin die »feinen Unterschiede«, wie sie insbesondere Pierre Bourdieu analysiert hat, eine erhebliche Rolle in der Wahrnehmung sozialer (Des-)Integration (Bourdieu 2018).

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nung nach passt sich die Anlage wunderbar in die Umgebung ein. Von oben gesehen. Die Offenheit der Viertel, die Form der Häuser, die Anlage der Straßen. Den einzigen Unterschied, den man vom Agfa-Hochhaus erkennen kann, sind die Dächer. Manche haben Dachgärten und manche haben Satteldächer. Und meiner Meinung nach ist ein Dachgarten mehr wert als ein Satteldach. Ich glaube, dass es eine überwiegend gesunde Struktur ist, auch wenn sich dort Gentrifizierungsprozesse nachvollziehen lassen. Das ist aber andererseits auch die Münchener Gesellschaft. Es gibt viele, die wahnsinnig viel Geld verdienen und sich etwas leisten können. Es gibt die schwulen Paare, die Doppelverdiener sind und sich entsprechende Flächen einverleiben, und dennoch gibt es auch die jungen Familien. Insofern ist das ein klarer Gentrifizierungsprozess, aber es gibt ja auch die Menschen dazu. Insgesamt denke ich, dass es mit der Mischung in dem Viertel schon erfolgreich werden könnte. Aber für eine solche Einschätzung ist noch nicht genug Zeit vergangen.« (Wechsler, 01:03:32) An dieser Stelle wird der topische Charakter der Rede von Gentrifizierung deutlich. Sie gehört zu den quartiersbezogenen Identitätserzählungen davon, ›wer hier eigentlich wohnt‹. Solche Erzählungen sind oftmals unmittelbar plausibel und eingängig. Dabei arbeiten sie mit einfachen Schematisierungen – hier: die schwulen (hedonistischen?) Doppelverdiener vs. die jungen (sozial verantwortlichen?) Familien. So lenken sie die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit. So wichtig es ist, sie wahrzunehmen, so ist zugleich Misstrauen geboten. Auch in dem Quartier, in dem eigentlich ›nur‹ junge Familien aus einem wohlhabenden, akademischen Milieu leben, gibt es vermutlich ältere alleinstehende Menschen, kinderlose Paare und weniger wohlhabende Familien. Gentrifizierung wird als spezifische Herausforderung für religiöse Akteure wahrgenommen. In einer empirischen Studie ist für das Kanada der 1990er Jahre ein starker Zusammenhang von Gentrifizierung und Entkirchlichung sowie »unbelief« festgestellt worden (Ley, Martin 1993). Und für die Gegenwart in Deutschland stellt der Theologe Torsten Meireis fest, es sei »zweifelhaft, ob [die Kirche] in der Welt gentrifizierter Viertel und Malls Attraktion zu entfalten vermag« (Meireis 2018: 244). Sinnfällig wird das in Giesing anhand eines Berichts von den Schwierigkeiten einer Pfarrerin, in Kontakt zu den Bewohnerinnen und Bewohnern des Neubaugebietes zu kommen, da deren Häuser zum Teil nur über Eingänge mit Kameras und Codeschlössern ohne Namen zugänglich seien (siehe 6.2.1 c). In der Rummelsburger Bucht macht ein Vertreter der Kirchengemeinde ähnliche Erfahrungen, als er versucht, Gemeindeglieder auf der Halbinsel Stralau zu besuchen: »Man muss gucken, zu welchen Zeiten man Besuche macht. Manche habe ich auch beim vierten Versuch nicht angetroffen. Das sind Familien, Menschen, die für die Regierung tätig sind oder bei Firmen. Manches sind Pendler, die nur während der Woche in Berlin sind und deswegen auch nicht am Gemeindeleben teilnehmen und sie sagen das dann auch ab.« (Schroder, RB) Gentrifizierung erscheint in diesen Quartieren also nicht nur als Problem im Sinne eines ethisch fragwürdigen Verdrängungsprozesses (Meireis 2018), sondern auch im Sinne der nun dominant werdenden Wohnbevölkerung, deren berufliche Einbindung, Rück-

5. Ungleichheit

zug auf den gesicherten Privatraum und überregionale Mobilität nicht zu den üblichen Angebots- und Adressierungsstrukturen von Kirchengemeinden passen. Umso auffälliger ist es, wenn eine kirchliche Adressierung an dieser Stelle gelingt. Ein Stadtteilmitarbeiter berichtet über einen Giesinger Diakon, der eine Andacht in einem ›gentrifizierten‹ Kulturzentrum veranstaltet hat: »Na das ist natürlich Wahnsinn, was er macht. Reinhard [der Diakon] ist wunderbar. Da gab es ja die Zwischennutzung im Flozweistern, und er geht dort hin und spricht im Frühschoppen. […] Ich fand das toll. Er ist einfach da. Und die Reaktion muss man ja auch erstmal aushalten. Das war ja sehr wohlwollend. Aber das war so ein Nerd-Rahmen, oder eigentlich eher: ein Gentrifizierungsrahmen, mit den ganzen jungen Familien. Und er kommt da hin und beginnt, von Gott zu sprechen. Das war sehr, sehr cool. Und es war auch der richtige Tonfall.« (Wechsler, FH) Hier wird herausgehoben, was gerade nicht als selbstverständlich erscheint. Gentrifizierung ist gerade im kirchlichen Bereich mithin auch eine Chiffre für städtischen Wandel hin zu einer als schwer erreichbar empfundenen Klientel. Soziale Ungleichheit kommt an dieser Stelle weniger als Problem sozialer Integration des Quartiers, sondern vor allem als mangelnde milieumäßige Passung der neuen Bewohner:innen zu den kirchlichen Kommunikationsüblichkeiten in den Blick. Durch Gentrifizierung verdrängt erscheinen dann, überspitzt gesprochen, nicht die einkommensschwächeren Menschen im Quartier, sondern die eigenen religionskulturellen Relevanzen.

5.3.2 Große Parochien Auf einen weiteren Aspekt der Konfrontation von Religion mit sozialer Ungleichheit im städtischen Raum soll abschließend hingewiesen werden. In den parochial organisierten evangelischen Landeskirchen und römisch-katholischen Diözesen gibt es seit Jahren den Trend hin zu einer Vergrößerung der Gemeindegebiete. Grund hierfür ist zum einen die zurückgehende Zahl der Kirchenmitglieder. Zur Refinanzierung gleichbleibender kirchlicher Strukturen werden damit größere Flächenbereiche erforderlich. Zum anderen versucht man, durch die Zusammenlegung von Gemeindegebieten höhere Personalstellenanteile und damit zugleich eine höhere Ausdifferenzierung des kirchlichen Personals zu ermöglichen, was wiederum die Breite des Angebots und der Kontaktflächen in der Parochie vergrößert.16 Drittens werden auch Neubauquartiere in der Regel nicht als neue Parochie eingerichtet, sondern derjenigen Kirchengemeinde zugeschlagen, zu deren Parochie die bisherige Militär-, Gewerbe-, Acker- oder Brachfläche gehört. Je größer nun die Parochien, desto größer sind auch potenziell die sozialen Divergenzen und Disparitäten im Quartier. Neubauquartiere sind eben nicht more of the same, sondern neue, strukturell und sozial gegenüber dem bisherigen Zuständigkeitsbereich in aller Regel anders geartete Areale. Sie werden stadträumlich als abgelegen und unverbunden beschrieben, was etwa für die Rummelsburger Bucht aus der Sicht der zuständigen Paul-Gerhard-Gemeinde (siehe 3.2.1), für Hamburg Hammerbrook für die St.Jacobi-Gemeinde (siehe 8.2.1) oder für die Bahnstadt in Heidelberg für die zuständige 16

Vgl. dazu Hauschildt, Pohl-Patalong 2018: 108f, 300ff.

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Religion im urbanen Raum

Luthergemeinde (siehe 2.2.2) gilt. Diese Unverbundenheit manifestiert sich in den genannten Bezirken sowohl durch materiale Charakteristiken der Stadträume einschließlich ihrer Architektur; aber sie geht jeweils darüber hinaus. Das neue Quartier wird zumeist auch als sozial ›anders‹ und in der Regel als durch eine einkommensstärkere Bevölkerung geprägt wahrgenommen. Insbesondere durch Neubauquartiere verstärkt sich also die soziale Spreizung innerhalb der größer werdenden Parochien. Anders erscheint das dort, wo verschiedene Quartiersteile mit unterschiedlichen Sozialstrukturen (noch?) verschiedenen Parochien zugeordnet sind. In diesem Fall erscheinen soziale Unterschiede und Segregationsphänomene eher zwischen den Parochien als innerhalb ihrer, wie etwa aus dem Münchner Westen berichtet wird: »Also hier ist, glaube ich, nochmal sehr bürgerlich und auch dörflicher Charakter, weil Altaubing wirklich auch früher schon so im Mittelalter so ein kleines Dorf war, und das hat sich ja, also 1000jähriges Jubiläum hatten die glaube ich jetzt erst. Das merkt man auch noch, wenn man durchfährt, hier eben in St. Konrad leben relativ viele Familien mit Kindern, man merkt auch, wenn man einfach mal so in Google Maps immer mal so von oben drauf schaut, viele einzelne Familienhäuser oder Reihenhäuser. Und man merkt auch viele kleine Häuschen, wo Familien wohnen. Das hat man z.B. in St. Lukas, in Westkreuz relativ selten, das sind viele große Wohnblöcke, das z.B. hier neben der Kirche, der heißt Ramses, da sind, glaube ich, 1000 Wohnungen drin zum Teil. Also, das ist ein riesenlanger Wohnblock. Also sieht man auch, wenn man die Straße runterfährt, und dann gibt es eben auch noch viele andere Wohnblöcke, und dort ist der Ausländeranteil relativ hoch, der ist aber in St. Markus auch nochmal viel höher, da sind auch viele Wohnblöcke und eben auch der Ausländeranteil relativ hoch. Und wenn man sich auch so mal schaut, also Arbeitslosenquote ist hier in St. Konrad relativ wenig, aber dafür in St. Markus und St. Lukas eher höher. Und von den Milieus würde ich jetzt sagen, eben hier auch eher die Traditionellen sind in St. Markus, so die bürgerliche Mitte oder auch so die, wie heißen die, Performer glaube ich, und in St. Lukas ist tatsächlich auch so ein bisschen durchmischt, also auch bisschen traditionell, aber auch bürgerliche Mitte, also St. Lukas ist auch stark viele Senioren, oder alleinstehende Senioren, da merkt man auch die Überalterung, ich meine, wurde auch vor 50, 60 Jahren gegründet. Die sind jetzt auch alle im Rentenalter.« (Koppelaar, FH) Sollte es an dieser Stelle Zusammenlegungen der Parochien geben, dürfte sich die Bedeutung sozialer Disparitäten für das Leben der Parochialgemeinden noch einmal deutlich verstärken. Insgesamt dürften mithin die in Karlsruhe in einem relativ kleinräumigen Gebiet aufgezeigten Herausforderungen des Umgangs mit starker sozialer Ungleichheit schon aufgrund der Entwicklung der parochialen Strukturen in Zukunft für die Kirchen von zunehmender Bedeutung werden. Das Problem der Beziehung zwischen religiöser Integration und sozialer Segregation stellt sich ebenso religionspraktisch im Alltag des Gemeindelebens als auch als Aufgabe der theologischen Reflexion.

5. Ungleichheit

5.4 Fazit In Quartieren gibt es Identitätserzählungen davon, ›wer hier eigentlich wohnt‹. Das gilt auch für Erzählungen von sozialer Ungleichheit, Segregation und Gentrifizierung. Diese Erzählungen lenken die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit. So wichtig es ist, sie wahrzunehmen, so ist zugleich geboten, ihnen zu misstrauen. So gibt es auch in dem Quartier, in dem eigentlich ›nur‹ junge Familien aus einem wohlhabenden, akademischen Milieu leben, auch die älteren alleinstehenden Menschen, die kinderlosen Paare, vielleicht die weniger wohlhabenden Familien. Und auch im linksalternativen Biotop gibt es Frösche, die man auf den ersten Blick dort nicht vermutet hätte. Nichtsdestotrotz gibt es in den untersuchten Quartieren starke soziale Disparitäten. Dies gilt auch und gerade in wohlhabenden Städten. Starke soziale Ungleichheit verrräumlicht sich dabei in residentieller Segregation. Insbesondere ›neue‹ neue Stadtquartiere ziehen mindestens zu großen Teilen besserverdienende Menschen an, während die ›alten‹ neuen Quartiere in dieser Studie wie München Neuperlach oder Hamburg Horn und Mümmelmannsberg mindestens in Teilen ihrer Geschichte eine vorwiegend einkommensschwache Bevölkerung aufweisen. Hauptamtliche kirchliche Mitarbeitende sehen es dann oftmals als ihre Aufgabe an, zur Integration sozial desintegrierter Gebiete beizutragen und auch die zur Gemeinde gehörenden Gruppen zusammenzuführen. Dabei zeigt sich, dass sich soziale Differenzen aus dem Stadtquartier im Gemeindeleben widerspiegeln und reproduzieren, was als ›Spaltung‹ der Gemeinde wahrgenommen werden kann. Die Gemeinde, die als Ort sozialer Inklusion verstanden wird, fungiert auch als Austragungsort für soziale Abgrenzungen. Dabei ist Gentrifizierung gerade im kirchlichen Bereich auch eine Chiffre für städtischen Wandel hin zu einer als schwer erreichbar empfundenen Klientel. Soziale Ungleichheit kommt hier nicht als Problem sozialer Integration des Quartiers, sondern als mangelnde milieumäßige Passung der neuen Bewohner:innen zu den kirchlichen Kommunikationsüblichkeiten in den Blick. Durch Gentrifizierung verdrängt erscheinen dann, überspitzt gesprochen, nicht die einkommensschwächeren Menschen im Quartier, sondern die eigenen religionskulturellen Relevanzen. Insbesondere Gemeindefusionen oder -erweiterungen können dabei Menschen zusammenschließen, die in ›unterschiedlichen Welten‹ leben – und werden damit zum Ort gesteigerter Differenzwahrnehmung. Im Gegenzug verstehen sich hauptamtliche kirchliche Mitarbeiter in der Rolle, ›Brücken zu schlagen‹ und Integrationsarbeit zu leisten. Vor diesem Hintergrund ist es eine praktische und reflexive Herausforderung gerade für volkskirchlich geprägte religiöse Akteure, das Ideal einer religiös integrierten Gemeinde und die Faktizität sozialer Ungleichheit zueinander in Beziehung zu setzen. Dabei sind sie mit der Spannung konfrontiert, zugleich Ort der Reproduktion und der (intendierten) Überwindung von Segregationsprozessen zu sein. In ähnlicher Form besteht diese Spannung angesichts des (umstrittenen, uneingelösten) Anspruchs der ›Milieuoffenheit‹ kirchlichen Lebens und der faktischen Milieugebundenheit kirchlicher Praktiken. Am in diesem Kapitel ins Zentrum gestellten Problem der sozialen Ungleichheit wird jedoch deutlich, dass es sich auch bei Milieudivergenzen nicht allein um ästhetische Phänomene, sondern auch um ›harte‹ sozialstrukturelle Disparitäten und Exklusionsverhältnisse handelt.

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6. Öffentlichkeit

6.1 Öffentliche Religion und religiöse Öffentlichkeit Anders als es die These von einer zunehmenden Privatisierung von Religion nahelegt, ist Religion in der Moderne immer auch eine öffentliche Angelegenheit (Casanova 1994). Das gilt auch und gerade für die Stadt. Religiöse Akteure suchen die Öffentlichkeit der Stadt bzw. des Stadtteils: Sie ›gehen nach draußen‹, werben für ihre Angebote oder nehmen Stellung zu öffentlichen Fragen. Darüber hinaus tragen Religionen dazu bei, dass Öffentlichkeit überhaupt erst entsteht: Diskussionsveranstaltungen werden organisiert, Räume zur Verfügung gestellt, öffentliche Angelegenheiten in der religiösen Gruppe diskutiert. Schließlich sind Religionen selbst Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung: Menschen sprechen über sie, Stadtteilmedien berichten, und zuweilen wird kontrovers debattiert, wie viel Religion ein Stadtviertel eigentlich verträgt. Gerade in neuen Stadtquartieren versteht sich Religion dabei nicht von selbst. Diese Beobachtungen sollen einleitend in einen größeren Theorierahmen eingezeichnet werden. Auf den Soziologen Hans-Paul Bahrdt geht die These zurück, dass die Differenz von öffentlichem und privatem Raum für die Entstehung des städtischen Lebens und die Formierung des städtischen Gemeinwesens konstitutiv ist (Bahrdt 1998). Bahrdt bezieht sich v.a. auf Max Weber, der in seinen historischen Studien den öffentlichen Markt als zentrales Definitionsmerkmal des Städtisches herausgearbeitet hatte, und wendet die ökonomische Perspektive Webers ins Soziologische: Das Öffentliche, auf das Private in einem wechselvollen Verhältnis der Beziehung und Abgrenzung bezogen, definiert die moderne, auf der Schwelle von bürgerlicher Gesellschaft zum Zeitalter der Industrialisierung entstehende Großstadt in ihrer sozialen Makrostruktur. Nun ist der Begriff der Öffentlichkeit ebenso geläufig wie unklar, sodass er einer Präzisierung bedarf (Klamt 2012). In der vorliegenden Studie wird der Begriff in einem doppelten Sinne verstanden. In einem ersten Sinne lässt sich Öffentlichkeit als (materieller, sozialer) Raum konzipieren, der prinzipiell allen zugänglich ist (Öffentlichkeit 1). Dieser Raumbezug wird unter anderem in der englischen Metapher der »public sphere« deutlich, die als »öffentlicher Raum« auch in den deutschen Sprachgebrauch Einzug gehalten hat (Schulze 2009: 142). In einem zweiten Sinne wird Öffentlichkeit durch Handlungen definiert: In der Öffentlichkeit tauschen sich Akteure über Angelegenheiten aus, die sie

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Religion im urbanen Raum

gemeinsam betreffen (Öffentlichkeit 2). Sie unterhalten einen Prozess der Meinungs- und Willensbildung, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sich selbst steuert und ihre politischen Ordnungen und Entscheidungen legitimiert (Gabriel 2003: 23–24; Schulze 2009: 143).1 Im Quartier wird Öffentlichkeit in diesem Sinn beispielsweise in »der episodischen Kneipen-, Kaffeehaus- oder Straßenöffentlichkeit« oder auch in der »Präsenzöffentlichkeit von Theateraufführungen, Elternabenden, Rockkonzerten, Parteiversammlungen oder Kirchentagen« sichtbar und zugänglich (Habermas 1992: 452). In beiden Hinsichten ist Öffentlichkeit, gerade in neuen Stadtquartieren, nicht selbstverständlich gegeben, sondern problematisch, zuweilen unsicher, jedenfalls im Wandel begriffen. So sind Räume in der Stadt »nicht per se öffentlich« (Huffschmid, Wildner 2009). Ihre Zugänglichkeit im Stadtraum »ist ein […] Produkt gesellschaftlicher Interaktion« (Huffschmid, Wildner 2009). Zugänglich sind Räume zumeist für spezifische Bevölkerungsschichten bzw. Milieus (Jaffe, de Koning 2016: 56), während sie durch ihr Erscheinungsbild und ihre Nutzung andere am Betreten hindern (Wehrheim 2002: 29). Wenn Räume als öffentlich gelten, insofern sie allgemein zugänglich sind, ist zu fragen, von welcher Allgemeinheit hier faktisch die Rede ist. Der Bereich des Öffentlichen weist entsprechend eine Vielzahl an Differenzierungen wie beispielsweise halb-öffentliche, hybride oder quasi-private Räume auf (Wehrheim 2011: 168; Klamt 2012: 782; für städtische Freiräume Petrow 2012: 810f). Welche Räume öffentlich sind, ist ebenso kulturell pfadabhängig wie historisch wandelbar.2 Auch im zweiten Sinne ist Öffentlichkeit nicht selbstverständlich gegeben. Wenn der Begriff der Öffentlichkeit für diejenigen Praktiken steht, bei denen gemeinsame Belange verhandelt werden, so ›gibt‹ es Öffentlichkeit nur, insofern solche Praktiken beständig aktualisiert werden. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat darauf hingewiesen, dass unter den Bedingungen moderner verschärfter Individualisierung (»Gesellschaft der Singularitäten«) solche Praktiken gerade gefährdet sind (Reckwitz 2017: 441). Es ist nicht selbstverständlich, dass Individuen und soziale Gruppen sich um Belange bemühen, die sie als allgemeine Angelegenheiten verstehen, und es ist nicht selbstverständlich, dass Arenen entstehen und in Geltung gehalten werden, bei denen allgemeine Belange verhandelt werden. Das gilt insbesondere in regionalen und lokalen Zusammenhängen wie der Stadt und dem Stadtquartier. Es bedarf der informellen Netzwerke oder der formellen Gremien (Stadtteilverein, -beirat etc.), der institutionellen Orte episodischer (Café) oder auf Dauer gestellter (Bürgerzentrum) Öffentlichkeit (Habermas 1992: 452); es bedarf der Plattformen öffentlicher Meinungsbildung vom Gespräch an der Straßenecke über das Internetforum bis zur Produktion einer Stadtteilzeitung. Auch unscheinbarere Praktiken wie das urban gardening (Petrow 2012: 809f) oder das »wilde« Plakatieren politischer Stellungnahmen tragen dazu bei, das Stadtquartier als Gegenstand und Austragungsort

1 2

Der öffentliche Raum kann näherhin die politische Öffentlichkeit, die ökonomische Öffentlichkeit und die symbolische Öffentlichkeit umfassen (Schulze 2009: 150). So ist der öffentliche Raum der Großstädte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein Raum, zu dem exklusiv Männer Zugang haben, während als bürgerlich respektabel geltenden Frauen nur der Bereich des Hauses – später ergänzt durch den zwischen Haus und Straßenraum gelegenen, dem Konsum zugeordneten Bereich der Passagen und der Warenhäuser – zugänglich ist (vgl. Siebel 2018: 122).

6. Öffentlichkeit

gemeinsamer Belange in Geltung zu halten. Schon an dieser Liste wird deutlich, dass Öffentlichkeit auch in diesem zweiten Sinne einen vielfach differenzierten und potenziell segmentierten Charakter aufweist. In dieser zweiten Hinsicht hat Öffentlichkeit zudem eine reflexive Struktur. Das Öffentliche ist sich selbst ein Thema. Es wird öffentlich verhandelt, wer mitsprechen darf und was in der Öffentlichkeit legitim ist. Zur Öffentlichkeit gehört mithin die Grenzziehung nach Akteuren und Praktiken (Exklusion und Inklusion) konstitutiv hinzu. Öffentlicher Raum ist immer auch umkämpfter Raum (Klamt 2012: 792; 798f). Insofern ist dieser zweite Öffentlichkeitsbegriff, der auf die Verhandlung gemeinsamer Belange fokussiert, mit dem ersten, der auf Zugänglichkeit abstellt, verschränkt. Die Zugänglichkeit öffentlicher Räume und Arenen ist einerseits Vorbedingung, andererseits Resultat öffentlicher Verhandlungen. Daher ist es sinnvoll, das Öffentliche zugleich unter beiden Hinsichten zu betrachten, dabei aber jeweils zu fragen, ob jeweils die Zugänglichkeit von Räumen oder die Herstellung gemeinsamer Belange im Vordergrund steht. Methodisch wird im Folgenden dieser doppelte Vorbegriff von Öffentlichkeit für die Analyse des empirischen Materials zu Grunde gelegt. In diesem Sinne werden – entlang der einleitend entfalteten Heuristik – öffentliche Räume, Diskurse und Praktiken, aber auch die Symbolisierung und Administration des Öffentlichen in den untersuchten Stadtquartieren betrachtet. Hier wie überall besteht ein hermeneutischer Zirkel zwischen Theorie und Material: Das Thema der Öffentlichkeit hat sich aufgrund der inhaltsanalytischen Bearbeitung des Materials mittels eines offenen Codesystems nahegelegt. Der daraufhin hinzugezogene Vorbegriff des Öffentlichen dient wiederum als Heuristik der Wahrnehmungslenkung, als Strukturierungshilfe für die Analyse und dazu, die Beobachtungen am Material an die theoretischen Debatten um Öffentlichkeit anzuschließen. Ob er sich allerdings bewährt, muss sich wiederum am Material erweisen. Das gilt ebenso für die folgenden strukturellen Vorüberlegungen zum Verhältnis von Religion und Stadtöffentlichkeit. Religion ist, wie einleitend bemerkt, (auch) eine öffentliche Angelegenheit. Idealtypisch betrachtet hat sie selbst einerseits Teil an Öffentlichkeiten, die auch ohne sie bestehen, und ist in diesem Sinne öffentliche Religion. Andererseits zeichnet sie sich durch eine eigene, ›religiöse‹ Öffentlichkeit aus. Diese Gegenüberstellung lässt sich für beide oben entfalteten Öffentlichkeitsbegriffe namhaft machen, sodass sich ein Vierfelderschema ergibt (siehe Tabelle 3). Mit Blick auf die Zugänglichkeit öffentlicher Räume (Öffentlichkeit 1) kann einerseits nach der Zugänglichkeit eines allgemeinen Stadtteilraums für religiöse Akteure und andererseits nach der allgemeinen Zugänglichkeit religiöser Gebäude und Gelände gefragt werden. Hinsichtlich der Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten (Öffentlichkeit 2) kann entsprechend einerseits untersucht werden, inwiefern Religion eine öffentliche Angelegenheit, einen Gegenstand öffentlicher Verhandlung darstellt. Andererseits ist nach dem Beitrag von Religionen zur Herstellung von Öffentlichkeit zu fragen. Alle vier Dimensionen verdienen Beachtung; sie zeigen sich im empirischen Material und sind auch theoretisch, insbesondere im Bereich der christlichen Theologie, thematisiert worden.

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Religion im urbanen Raum

Tabelle 3: Vier Dimensionen des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit im Stadtquartier öffentliche Religion

religiöse Öffentlichkeit

Öffentlichkeit 1: Zugänglichkeit öffentlicher Räume

(1.) Zugänglichkeit eines allgemeinen Stadtteilraums für Religion

(2.) allgemeine Zugänglichkeit religiöser Gebäude und Gelände

Öffentlichkeit 2: Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten

(3.) Religion als öffentliche Angelegenheit

(4.) religiöse Herstellung von Öffentlichkeit

(1.) Zugänglichkeit eines allgemeinen Stadtteilraums für Religion: Hier ist zunächst nach öffentlicher Präsenz von Religionen überhaupt zu fragen. Inwieweit treten sie öffentlich im Stadtraum auf? Erhalten religiöse Gruppen die Gelegenheit zu öffentlichen Aktivitäten, und wo erfahren sie Hindernisse (Meireis 2018: 241–244)? (2.) Allgemeine Zugänglichkeit religiöser Gebäude und Gelände: Inwieweit öffnen religiöse Gruppen ihre eigenen Räumlichkeiten für eine allgemeine Stadtteilöffentlichkeit, inwieweit machen sie Angebote für eine solche Öffentlichkeit? Hier sind im christlichen Bereich insbesondere die Initiative der »offenen Kirchen« (Fugmann 2010), der Citykirchendiskurs (Rebenstorf et al. 2018) sowie als Extremfall einer räumlichen Öffnung die Umwidmung von Kirchengebäuden zu Bürgerzentren einschlägig. (3.) Religion als öffentliche Angelegenheit: An dieser Stelle fällt der Blick auf Diskurse über Religion, religiöse Orte, Personen, Artefakte oder Überzeugungen (Moos 2012; Kanitz 2018). Interessant ist hier unter anderem, inwieweit diese Diskurse Religion mit der Identität eines Quartiers verbinden und inwieweit sie die öffentliche Legitimität der Religion (und damit auch die Zugänglichkeit des öffentlichen Stadtteilraums für Religion, siehe 1.) verhandeln. (4.) Religiöse Herstellung von Öffentlichkeit: Inwieweit tragen Religionen dazu bei, dass in einem Stadtquartier Öffentlichkeit entsteht? Wo und wie verhandeln sie gemeinsame Belange in einer eigenen, ›inneren‹ Öffentlichkeit? Wie tragen sie dadurch möglicherweise zur Konstitution gemeinsamer Belange auch über die eigene Gruppe hinaus bei? Insbesondere dieser Aspekt schließt an die Debatte um Zivilgesellschaft und Religion (Casanova 2001; Liedhegener 2016), für den christlich-theologischen Bereich an die Debatte zur öffentlichen Theologie (Huber 1998; Bedford-Strohm 2011; Meireis 2017), zum öffentlichen Protestantismus (Anselm, Albrecht 2017), zur öffentlichen Kirche (Schlag 2012) oder auch zur öffentlichen Diakonie (Kehlbreier 2013; Moos 2020) an. Im Folgenden wird – zuerst am Paradigma des Agfa-Geländes in München Giesing (6.2), dann auch in Bezug auf weitere Stadtquartiere (6.3) – dieses komplexe Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit untersucht. In einem Fazit werden die Ergebnisse thesenhaft zusammengefasst (6.4).

6. Öffentlichkeit

6.2 Religion und Öffentlichkeit: Strategien und Konflikte Das Agfa-Gelände wird zunächst vorgestellt (6.2.1), bevor die Strategien religiöser Akteure, Öffentlichkeit herzustellen (6.2.2), und die damit verbundenen Reibungsflächen und Konflikte (6.2.3) in den Blick genommen werden.

6.2.1

Agfa-Gelände Giesing (München)

a) Das Agfa-Gelände als öffentlicher Raum Auf dem 11,5 Hektar großen ehemaligen Agfa-Firmengelände in München Giesing entstand in den letzten Jahren ein neues Quartier mit 950 Wohnungen und 1200 Arbeitsplätzen.3 Die Planungen zum Umbau begannen im Jahr 2001. Das umliegende Stadtviertel Giesing, mittlerweile in die Stadtteile Obergiesing-Fasanengarten und Untergiesing-Harlaching aufgeteilt, hat gut 100.000 Einwohner:innen.4 Das neue Wohnquartier heißt – in der Sprache des Stadtteilmarketings – »Parkviertel Giesing«. Als sich abzeichnete, dass sich das Unternehmen aus der Kamera-Sparte zurückziehen würde, kaufte die von stetem Wohnraummangel geplagte Stadt München um 2004 das gesamte Gelände. »Da gab es städtebauliche Wettbewerbe, wie soll das dann da aussehen, wo kommen die Wohnungen hin, wo bauen wir eine Grünfläche hin, wo kommt geförderter Wohnraum hin, wo ist eine Durchwegung? […] Die Ziele: Man soll schön durchlaufen und mit dem Fahrrad durchfahren können. Es soll auf jeden Fall auch Grün geben, es soll eine Kita geben, das Sozialbürgerhaus.« (Beike, GI) Das inzwischen fertiggestellte Gelände und seine Gebäude bieten einen zwiespältigen Eindruck. Ihm entsprechen zwei gegensätzliche Meinungen, die in den Interviews zu Tage treten und die sich zu polarisieren scheinen. Auf der einen Seite wirkt das Gebiet wertig und hochpreisig. Die Architektur der Wohnungen wird beschrieben als hervorragend ausgeführt, was auch für die Grünparks und das übrige Gelände gilt (Buras, GI). Das Gelände ist großzügig angelegt, die Häuser sind nicht allzu dicht gebaut. Zwischen den Häusern befinden sich weitläufige Rasenflächen. Der Eindruck wird verstärkt durch die Nähe zum angrenzenden Weißenseepark. Dieser ist im Zuge der städtebaulichen Maßnahme mit umgestaltet worden und wurde zu einem Familienpark. Auch hier gibt es viel an freier Fläche, die beispielsweise genutzt wird, um im Sommer das regionale Stadtteilfest auszurichten. Andererseits wirkt das neue Wohngebiet wenig eingelebt. Der Spielplatz ist z.B. oft leer. Er sei schlecht benutzbar, sagt ein Vater, weil die Bäume hier noch nicht hoch genug seien und zu wenig Schatten böten. Eine zweite Sicht in den Interviews ist entsprechend eher kritisch: »Da können sie jetzt Neubauten kaufen, die sind ehrlich steril, die haben ein Niveau von früheren Sozialbauten. Verstehen Sie, wenn allein die Balkone vom nächsten Bal3 4

https://www.muenchen.de/rathaus/Stadtverwaltung/Referat-fuer-Stadtplanung-und-Bauordnu ng/Projekte/Ehemaliges-Agfa-Gelaende.html, abgerufen am 23.10.2020. https://www.muenchen.de/rathaus/dam/jcr:6b3c61b2-2ff6-4e69-a50a-395eb979de19/bev_stand _02.pdf, abgerufen am 22.9.2020.

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Religion im urbanen Raum

kon nur fünf Meter weg sind, aber da kostet der Quadratmeter 10.000 Euro […]. Das ist so etwas Liebloses, so eine Gartenstadt. Der Stadtcharakter – also man wirft München vor, und da bin ich absolut dabei, das urbane Bauen verloren zu haben. Wenn Sie sich diese Blöcke anschauen, dazwischen wieder 100 Meter Rasen, keine Läden: Wirklich, das ist einfach tot.« (Buras, GI) Emmanuel Buras, Moderator beim stadtweiten Regionalen Netzwerk für soziale Arbeit in München (REGSAM) nimmt eine urbane Leere wahr, die das Gebiet kennzeichnet. Kein Laden oder Café lädt zum Verweilen ein, Restaurants halten sich nicht. Der erste Laden, dem man begegnet, wenn man durch das Parkgelände fährt, ist ein Discounter vor dem Gebiet sowie ein von der AWO betriebenes Zweitverwertungsgeschäft. Auch weitere Orte potenzieller Öffentlichkeit, an denen man sich außerhalb des eigenen Zuhauses aufhalten könnte, befinden sich außerhalb des Gebietes. Im zweiten Jahr der Forschung entwickeln sich im Parkviertel langsam mehr Aktivitäten. Die Freiflächen werden in unterschiedliche Veranstaltungen mit einbezogen und als wertvoll wahrgenommen. Doch nach wie vor dominiert die Wahrnehmung eines Mangels an urbaner Öffentlichkeit in dem Viertel. Im Sinne des einführend entfalteten Doppelbegriffs von Öffentlichkeit gibt es mithin zwar großzügige städtische Freiräume,5 das heißt hier: allen zugängliche Flächen und damit öffentlichen Raum im ersten Sinne, der aber nicht als Raum für die Austragung gemeinsamer Belange, also als Öffentlichkeit im zweiten Sinne genutzt wird. Im Kontrast zu der urbanen Leere im Parkgelände findet sich im übrigen Giesing an vielen Stellen eine hohe urbane Dichte. Es ist der Sitz der wesentlichen Infrastrukturen, der Cafés und Einkaufsmöglichkeiten, der Schulen und Verwaltungsgebäude, der kulturellen Orte und damit auch: der für eine Öffentlichkeit im zweiten Sinne konstitutiven Orte und Räume. Dadurch wird das Parkviertel zu einem suburbanen Gebiet mitten im Zentrum der Stadt München: eine Schlafstadt, die vom umgebenden lebendigen Stadtteil bzw. der übrigen Stadt abhängig ist. Das Gelände ist charakterisiert durch Suburbanität ohne die Nachteile der entfernt gelegenen Vorstadt. Das gilt auch für das religiöse Leben: Kirchen, Moscheen und andere sichtbare religiöse Orte finden sich nur außerhalb des neuen Quartiers, ebenso wie Kulturzentren oder andere Orte, an denen religiöse Akteure bei Gelegenheit als solche auftreten.

b) Die Wohnbevölkerung In Giesing insgesamt lebt eine bunte Mischung an Bewohnerinnen und Bewohnern. Zum einen sind dies ehemalige Industriearbeiter:innen im Ruhestand. Neben dem Agfa-Gelände gibt es mit den ehemaligen Werksgeländen der Brauerei Paulaner und des Leuchtenherstellers Osram zwei weitere innerstädtische Industrieanlagen, die nun ebenfalls umgestaltet werden. Außerdem beherbergt Giesing eine große Anzahl an Familien mit Migrationserfahrungen und einige junge Familien, die vor allem in den letzten Jahren in das neue Viertel gezogen sind. Auch der Anteil von Alleinerziehenden wie die Altersarmut im Viertel sind im Münchener Vergleich relativ hoch (Beike, GI).

5

Zur Soziologie städtischer Freiräume vgl. Petrow 2012.

6. Öffentlichkeit

Im neu entstandenen Parkviertel versucht die Stadt München, durch eine gemischte Bebauung ebenfalls eine Mischung in der Bevölkerungsstruktur zu fördern. Einzelne Häuser sind daher Mietshäuser, andere Sozialbauten und weitere beherbergen Eigentumswohnungen. Ihre Anordnung führt jedoch zu sozialer Segregation:6 »Also, ich kann ihnen sagen, die Mischung kriegen sie auch nicht hin, nicht so, wie man jetzt baut. Die Mischung würde man nur hinbringen, wenn man die Eigentumswohnungen auch in Sozialwohnungshäusern baut. So baut man ja jetzt immer so: die Blöcke, die zur Straße hin liegen, sind in Neubaugebieten immer Sozialwohnungen. Also zum Ring hin haben sie die Sozialwohnungen. Nicht umsonst steht auch das Sozialbürgerhaus mitten drin.« (Buras, GI) Überwiegend jedoch besteht die Bewohnerschaft des Parkviertels nach der Wahrnehmung des evangelischen Diakons aus gutverdienenden kinderlosen Menschen, die in ihrer »Highperformer-Phase sind, ihr In-Saft-und-Kraft-Stehen ausnutzen, und Job, Job, Job, Karriere, Karriere, Karriere. Oder Familien, die die Aufgabe haben, ich muss diese Wohnung finanzieren, die ja erstmal finanziert sein muss, meistens mit Doppelt-berufstätig-Sein.« (Reinhard, GI)

c) Das Agfa-Gelände als kirchliche Herausforderung Die beschriebenen Charakteristika des Parkviertels führen dazu, dass dessen Bewohnerschaft aus kirchlicher Perspektive schwer erreichbar scheint. »Das wäre die Frage, wie kommst du dort an Menschen« (Reinhard, GI). Religion – mindestens ihre volkskirchliche Variante – hat hier in doppeltem Sinn ein Öffentlichkeitsproblem: Zunächst fehlt wie beschrieben eine urbane Öffentlichkeit im Viertel, an der religiöse Akteure teilhaben und sich auf solche Weise an den Belangen des Quartiers beteiligen könnten. So beschreibt der evangelische Diakon die bisherige kirchliche Quartiersarbeit als »Brache«: »Aber, es ist eine völlige Brache. Also, es gab vor mir noch keinen, der das von evangelisch- kirchlicher Seite getan hätte, es gab sicher immer wieder einzelne Satelliten, wo man mal was mit im Stadtteil gemacht hat.« (Reinhard, GI) Dies wird verstärkt durch den Umstand, dass die dominante Bewohnerschaft der gutverdienenden Kinderlosen oder Familien ein auf ihr eigenes Berufs- und Privatleben zentriertes Leben führt. Prägnant beschreibt der Diakon die Versuche seiner Vorgängerin, sich über die Tiefgaragen einen Weg zu den Wohnungstüren »zu erschleichen, weil sie an den Videokameras am Eingang nicht vorbeikam« (Reinhard, GI). In einem auf privates Leben zentrierten Wohnviertel gibt es, schon aufgrund der modernen Abgrenzungstechnologien für Privatheit, keinen Zugang für eine auf öffentliche oder halböffentliche Begegnungsmöglichkeiten ausgerichtete kirchliche Arbeit. Der Diakon zeigt Verständnis dafür, dass die Bewohnerinnen und Bewohner sich in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation nicht nur an städtischen, sondern auch an innerkirchlichen Öffentlichkeiten kaum je beteiligen: entweder, weil sie aufgrund von finanziellen Überlegungen aus der Kirche austreten – »der letzte Teil Luxus, zweimal Essen gehen beim Inder nebenan« (Reinhard, GI) –, oder weil sie schlicht keine Zeit haben. Viele 6

Zur sozialen Segregation siehe ausführlich Kapitel 5.

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Religion im urbanen Raum

würden sich erst wieder an ihre Gemeinde wenden, wenn sie Kasualien in Anspruch nehmen, also bei Hochzeiten, Taufen oder Trauerfällen (Reinhard, GI). Erst in den Schwellensituationen des eigenen Lebens wird so etwas wie religiöse Öffentlichkeit gesucht. Wenn also religiöses Leben im Parkviertel stattfindet, so vorrangig hinter verschlossenen Wohnungstüren. Die bauliche Anlage des Viertels und die Lebenssituation vieler Bewohnerinnen und Bewohner scheinen nicht kompatibel mit Religion als öffentlicher Angelegenheit.

6.2.2 Strategien öffentlicher Religion Verschiedene religiöse Akteure verfolgen unterschiedliche Strategien, öffentlich präsent zu sein. Das wird im Folgenden an den Beispielen der evangelischen und der römischkatholischen Kirche sowie des Verbandes Islamischer Kulturzentren (VIKZ) aufgezeigt.

a) Öffentliche Religion in Person: Der evangelische Diakon Das Agfa-Gelände liegt genau in der geographischen Mitte zwischen den evangelischen Kirchen Philippus und Luther, die durch eineinhalb Kilometer Entfernung getrennt sind, und auf der Grenze ihrer Gemeindegebiete. Im Norden liegt die Parochie der Luthergemeinde mit ca. 7000 Gemeindegliedern und zweieinhalb Pfarrstellen, im Süden die der Philippusgemeinde mit ca. 2000 Mitgliedern und einer Pfarrstelle. Diakon Wolf Reinhard ist seit September 2016 in den beiden Kirchengemeinden Philippus und Luther angestellt, mit jeweils einer halben Stelle. Laut Landesstellenplan handelt es sich hierbei um zwei reguläre Gemeindediakonenstellen, die vorgesehen sind für die Gemeindearbeit »von der Wiege bis zur Bahre, Gruppen und Kreise, Gottesdienste, Beerdigungen, Seniorenkreis, solche Geschichten« (Reinhard, GI). Beide bislang eigenständigen Gemeinden sind mit sinkenden Mitgliederzahlen konfrontiert; die Möglichkeit einer Fusion steht im Raum. Diakon Reinhard beschreibt seine Wahrnehmung der Gemeinden: »Aber dann hast du zum einen eben dann die Kerngemeinde, die hier in Philippus so um die 100, in Luther vielleicht so um die 200 Personen ist. Und da sind Chöre, Gottesdienstbesucher, Gruppen und Kreise alles eingerechnet, und die haben das so exklusiv. Und das ist ganz interessant, das ist halt oftmals so die Burg.« – »Das sind zwei völlig klassische eigenständige Kirchengemeinden, die für sich schon erkannt haben, sie wollen sich, sie müssen sich in diesen Stadtteil hinein öffnen« – »Die nicht zusammenwachsen, sondern jetzt erstmal offiziell kooperieren wollen, müssen.« (Reinhard, GI) Hinzu kommt die Aufgabe, einen Umgang mit dem neuen Stadtteil zu finden. Diakon Reinhard begreift das als eine sehr herausfordernde Aufgabe: »Und ich glaube, da kannst du zaubern, da kannst du dich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln und dich irgendwie bunt anmalen, das ist den Leuten dann egal, die nehmen das aus dem Augenwinkel wahr und sagen, das ist ja lustig, schau mal was Kirche da macht. Und wenn du dann auf positive Vibes triffst, weil die sagen, ich hab’

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da eine Grundsozialisation, und irgendwie mag ich die, die finde ich lustig und ich tret’ da auch nicht aus.« (Reinhard, GI) Und bunt angemalt ist der Diakon in der Tat: Als Rockabilly ist er am ganzen Körper tätowiert, was für einen Kirchenvertreter in München als ungewöhnlich wahrgenommen wird. Reinhard tritt im Quartier als markante Persönlichkeit und – gerade durch den Topos des kirchlich Unüblichen verstärkt – als Kirchenvertreter in Erscheinung (siehe 9.3.4). Er fungiert gleichsam als öffentliche Religion in Person.

b) Beständige Präsenz: Die römisch-katholische Kirche Die römisch-katholische Kirche ist im Quartier präsent in Form des Pfarrverbandes Obergiesing. Der Pfarrverband besteht aus den drei Kirchen Heiligkreuz, einer großen Kathedrale, St. Helena, in der Gegend um die Frohmundstraße und Königin des Friedens in Untergiesing. Auch die katholische Kirche ist von einer rückläufigen Mitgliederzahl betroffen: »Wir haben ja wirklich dramatische Kirchenaustritte in München. Dadurch sind die Katholen auch jetzt grad nur noch so stark wie die Evangelen« (Buras, GI), was sich auch auf die Personalsituation auswirkt. Wie auch in Perlach wurden die Gemeinden in ihrer Struktur massiv umgestaltet, und Personal wurde abgebaut. Gleichwohl ist die Infrastruktur nach wie vor stark: »Ja, sie haben weniger Personal, aber sie haben mehr Power, die dahintersteht. Auch wenn sie nur einen Pfarrer für vier Gemeindezentren haben, haben sie vier Gemeindezentren, verstehen Sie?« (Buras, GI) Diese infrastrukturelle Stärke macht die Kirche auch für viele andere Akteure in der Stadt interessant. Dabei stehen insbesondere die vielen Immobilien im Vordergrund, die nicht selten als Räumlichkeiten für soziale und kulturelle Zwecke zur Verfügung gestellt werden. Dies ist deshalb so bedeutsam, weil andere hierfür taugliche Räumlichkeiten im Zuge der Stadterneuerung oft in Wohn- oder Gewerberäume umgewandelt werden (Buras, GI). Zudem ist die Kirche im Besitz einer Vielzahl von vermieteten Immobilien, die einen steten Geldstrom einbringen. »Und da meine ich jetzt keine Kirchen, sondern Mietshäuser. Also von daher hat die katholische, im Positiven für die katholische Kirche, viel mehr Energie und Kraft. Auf der anderen Seite steht sie aber vielmehr unter Druck, weil sie muss ja mit diesen ganzen Ressourcen, die sie hat, was anfangen.« (Buras, GI) Beide Kirchen suchten beständig nach Bezugspunkten, um mit den Menschen in der Stadt in Kontakt zu kommen. Einer dieser Bezugspunkte sei für die katholische Kirche in Giesing das Engagement im sozialen Bereich, das – insbesondere in der Wohnungslosenhilfe – eine lange Tradition hat. »Also in München gab es immer schon Wohnungsnot. Seit 100 Jahren ist Wohnen in München ein Problem. Der Wohnungslosenbereich wurde bis vor 30 Jahren allein dominiert durch den katholischen Männerfürsorgeverein. Die Innere Mission fing dann an mit der Street Work, also raus aus den stationären Einrichtungen in den 1980ern. Vor allem im ambulanten Bereich, oder im frauenspezifischen Bereich, also da haben sie den evangelischen Bereich. Mittlerweile gibt es da einen Sozialdienst katholischer

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Frauen, SkF, die haben aber später nachgezogen, weil die Wohnungslosen früher vor allem Männer waren […].« (Buras, GI) In dieser Tradition sind die katholischen Pfarrer, Pastoralreferenten und -assistenten stetige Teilnehmer der Gremien des Regionalen Netzwerks für soziale Arbeit in München (REGSAM) das, von der Stadt finanziert, nach eigenen Angaben rund 3000 Aktive in ganz München vernetzt. Im Zuge der Arbeit mit Geflüchteten in den letzten Jahren ist im Bereich der katholischen Kirche ein großes Ehrenamtlichennetzwerk entstanden. »Dann waren über Weihnachten plötzlich Menschen da, die keine Anziehsachen hatten, und niemand fühlte sich zuständig. Da haben die Kirchen, speziell die katholischen Kirchen in dem Fall, eine ganz tragende Rolle gespielt, weil die hier ein paar Erstaufnahmeeinrichtungen aufgemacht haben über Nacht.« (Buras, GI) Allerdings war diese koordinierende Rolle nur eine vorübergehende: Inzwischen wurde im Kontext von REGSAM ein Facharbeitskreis gegründet, der koordinatorische Aufgaben für alle Akteure auf diesem Gebiet übernimmt (Beike, GI). Dennoch spielen die römisch-katholischen Akteure weiterhin eine Rolle in den entsprechenden Netzwerken, auch wenn das nicht von allen Verantwortlichen so wahrgenommen wird: »Da steh ich noch nicht so ganz in der Mehrheit hier, da bin ich noch ziemlich alleine, dass ich die Kirchen immer mehr entdecke.« (Buras, GI) Eine Stärke katholischer Akteure sieht der REGSAM-Moderator in der Beständigkeit ihrer Hauptamtlichen. Während im evangelischen Bereich die Pfarrerinnen und Pfarrer etwa alle 10 Jahre die Gemeinde wechselten, sei das in der katholischen Kirche anders. »Ein Problem in der Zusammenarbeit ist, dass bei der evangelischen Kirche die Köpfe viel öfter wechseln, dass die evangelische Kirche eben durch die Besetzungen immer neue Köpfe hat. Der Herr Reinhard ist jetzt seit einem Jahr bei uns. Bei den Katholen, wenn ich da einen Pfarrer kenn’, weiß ich, der ist 30 Jahre dran, bei den Evangelen ist ein ständiges Wechseln.« (Buras, GI) Dieser häufige Wechsel habe allerdings den Vorteil, dass auf Umbrüche deutlich besser reagiert werde. So sei der Vorgänger von Diakon Reinhard ebenso in der Obdachlosenarbeit tätig gewesen wie der katholische Kollege, habe aber die neuen Herausforderungen übersehen, die durch das Förderprogramm Soziale Stadt und das Parkviertel Giesing entstanden seien (Buras, GI; FFT GI). Auch bedeutet Beständigkeit nicht immer öffentliche Präsenz: Während Diakon Reinhard nach relativ kurzer Zeit im Stadtteil angekommen ist und als wichtiger Mittler wahrgenommen und auch angesprochen wird, beschwert sich seine Kollegin, dass sie bei ihrem Besuch im Stadtrat auch nach 18 Jahren noch nicht erkannt, geschweige denn namentlich begrüßt wird (FFT GI). Infrastrukturell stark, in die Netzwerköffentlichkeit der im Quartier Aktiven eingebunden, nicht immer auffällig öffentlich präsent, organisatorisch hoch differenziert und entsprechend vielfältig in ihrem Erscheinungsbild,7 dafür aber in traditionellen Ar7

»Sie haben eigene Orden, die wiederum eine ganz andere Politik machen können. […] Also einzelne, katholische Orden sind weitgehend unabhängig, was sie sie natürlich dann auch wieder attraktiver macht gegenüber der Münchner Bevölkerung. Also die Katholiken, die mit dem Ratzinger nicht viel anfangen konnten, waren bei den Benediktiner[n] in München gut aufgehoben. Das

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beitsfeldern wie bei neu auftretenden Bedarfen wirksam: Aus der Perspektive des für die Stadtteilarbeit Verantwortlichen entsteht das Bild einer Religionsgemeinschaft, die im Quartier weniger als öffentliche Religion hervortritt, als dadurch, dass sie verlässlich Ressourcen für die Ermöglichung von Stadtteilöffentlichkeit vorhält: Räumlichkeiten, Hauptamtliche, Professionalität, Vernetzung.

c) Gestaffelte Öffentlichkeiten: Die VIKZ-Moschee Der Verein Islamischer Kulturzentren (VIKZ) in München betreibt in Giesing zwei Einrichtungen in einem Gebäude: eine Moschee samt Küche und Versammlungsräumen sowie den Münchner Integrations- und Bildungsverein (MIB). Der VIKZ ist mit 500 Moscheen der drittgrößte islamische Dachverband in Deutschland, nach der DITIB mit ca. 800 Vereinen und Mili Görus mit ca. 650 Einrichtungen. Die Zentrale in Köln umfasst eine private Hochschule, auf welcher der VIKZ seine eigenen Theologen ausbildet und nach optionalen acht Monaten zusätzlicher Ausbildung in der Türkei in die einzelnen Gemeinden entsendet. Untergliederungen sind der Landesverband VIKZ Bayern und auf kommunaler Ebene der Münchner Integrations- und Bildungsverein (MIB). Dieser trägt alle fünf Münchener Moscheen des VIKZ und wurde 2005 gegründet, um unabhängiger von Vollmachten und Anweisungen der VIKZ-Zentrale in Köln agieren zu können. Das Gebäude in Giesing, zuvor Sitz einer Versicherung, wurde bereits 1996 erworben. Anlass war die steigende Nachfrage nach größeren Versammlungsräumen und der Wunsch, sich nicht immer nur in Wohnungen und Kellerräumen zu treffen (Baran, GI). Das Hauptaugenmerk der Arbeit des VIKZ liegt nicht auf der klassischen Moscheearbeit, sondern auf der Jugendbildung, so betont der Imam Baran, der in Deutschland aufgewachsen ist und als eine Art Öffentlichkeitsreferent des VIKZ fungiert. Entsprechend sind im Haus eine kombinierte Ganztagsbetreuung und ein Internat untergebracht, wo 40 Jungen aus der gesamten Region Münchens wohnen und tagsüber regulär die verschiedenen Schulen der Umgebung besuchen. Zudem gibt es einen Hort, in dem weitere 20 Mädchen betreut werden. Ziel ist es darüber hinaus, auch ein Internat für Mädchen zu etablieren. Teil des Konzeptes ist ein warmes Mittagessen nach der Schule, gefolgt von Nachhilfe, Hausaufgabenbetreuung und Abendessen. Am Wochenende wiederum finden religiöse Unterweisung sowie Gesellschaftskunde statt. »Die erzieherischen Sachen und die Integration machen mehr die deutschen Erzieher, und wir, die Theologen, sind dafür zuständig, dass sie die religiöse Unterweisung bekommen. Wir helfen aber auch mit in der Nachhilfe oder in manchen organisatorischen Sachen.« (Baran, GI) Finanziert wird die Ganztagsbetreuung vom Schulamt per Hortgeldantrag, das Internat durch Beiträge und Spenden der Mitglieder sowie durch einen geringen Elternbeitrag von pauschal 200 Euro pro Monat. Die aufgenommenen Kinder werden nach ihren Noten und ihrer sozialen Situation ausgewählt; insbesondere alleinerziehende Elternteile werden unterstützt (Baran, GI).

können die Evangelen nicht, also bei den Evangelen ist man entweder evangelisch oder nicht.« (Buras, GI)

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Die Giesinger Moschee, die größte VIKZ-Moschee in München, hat einen eigenen, vollständig getrennten Frauenbereich. Das ist keine Selbstverständlichkeit, da viele Moscheen hierfür nicht genug Platz haben. Zugleich sind Moscheen in Deutschland in der Regel der einzige Ort, wo eine solche Trennung überhaupt aufrechterhalten werden kann. Das ist etwa für Menschen interessant, die in einem Land mit muslimischer Dominanzgesellschaft aufgewachsen sind und gewisse öffentliche Anlässe, z.B. Hochzeiten, geschlechtergetrennt feiern wollen, damit die Braut und die anderen weiblichen Hochzeitsgäste ihre Festkleidung nicht um das Kopftuch herum planen müssen (Kanitz 2018). In der Giesinger Moschee können geschlechtergetrennte Hochzeiten oder Feierlichkeiten zur Beschneidung stattfinden. Sie stellt damit im religiösen Kontext die Voraussetzungen für eine Produktion von Öffentlichkeit bereit, welche die Trennung der Geschlechter als Strukturmerkmal aufweist. In der Moschee wechseln sich verschiedene Theologen ab. Die Texte für die Freitagspredigt werden von der Kölner Zentrale des VIKZ in drei Sprachen vorbereitet (Baran, GI). Schon hierdurch, aber auch durch ihre Funktion als Hauptmoschee des Verbandes in München, ist die Giesinger Moschee auf eine das Quartier übersteigende religiöse Öffentlichkeit hin ausgerichtet. Das wird etwa anhand der Einladungsliste zum öffentlichen Fastenbrechen deutlich. Auf dieser Feier treffen sich Gläubige ohne Trennung der Geschlechter; auch können nichtmuslimische Gäste eingeladen werden. Hier wird eine anders strukturierte Öffentlichkeit konstituiert, die mit den Öffentlichkeitskonzepten einer westlichen, nichtmuslimischen Dominanzgesellschaft stärker kompatibel zu sein scheint. Daher liegt es aus Sicht der Moscheegemeinde nahe, sich zu diesem Anlass in die Gemeinwesenarbeit der Gegend einzubringen. Dabei kommt es zu Reibungen und Konflikten in der Wahrnehmung des öffentlichen Raumes, die Gegenstand des nächsten Abschnittes sind.

6.2.3 Reibungsflächen und Konflikte Unweit des Agfa-Geländes befindet sich einer der kulturellen Mittelpunkte Giesings, eine kleine Freifläche, Grünspitz genannt. Er soll im Folgenden im Zentrum der Betrachtung stehen, da auf ihm Schwierigkeiten des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit in zugespitzter Weise deutlich werden. Der Grünspitz ist ein ehemaliger dreieckiger Parkplatz, der im Rahmen des Förderprogramms »Soziale Stadt« zu einem öffentlichen Raum (Öffentlichkeit 1) umgestaltet wird, umgeben von vielbefahrenen Straßen. Auf der einen Straßenseite liegt der Stadtteilladen, der zum selben Förderprogramm gehört. Gegenüber befindet sich die bereits benannte Hauptmoschee der VIKZ in München mit angeschlossenem Schülerheim. Direkter Nachbar ist die Lutherkirche, deren Gemeindehaus auf der Straßenseite des Grünspitz’ liegt. Gemeinde und Gemeindehaus sind durch eine dicht befahrene Straße getrennt, ein Ergebnis der Stadtplanung aus nationalsozialistischer Zeit. Eine Straße versetzt liegt die römisch-katholische Heilig-Kreuz-Kirche Giesing. Dieser kleine Flecken Land ist in seiner Dichte gleichsam das urbane Gegenbild zum Parkviertel Giesing auf dem ehemaligen Agfa-Gelände.

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Abbildung 9: München Giesing (dunkelgrau) mit dem Agfa-Gelände (hellblau) und einigen signifikanten religiösen Orten

Auf dem Giesinger ›Berg der Religionen‹, rund um den Grünspitz, ist die Spannung, die das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit in seinen verschiedenen Facetten bestimmt, mit Händen zu greifen. Dabei entsteht Stadtteilöffentlichkeit in Giesing insbesondere in Aktivitäten im Rahmen des Förderprogramms Soziale Stadt, das mit inhaltlich bestimmten Beteiligungserwartungen, Regeln und Legitimitätsanforderungen öffentlicher Präsenz einhergeht (a). Im Raum dieser Erwartungen und Regeln bewegen sich Religionsgemeinschaften, die ihrerseits eigene Öffentlichkeiten konstituieren, eigene Zugangsbedingungen und spezifische Strukturen haben. Dabei können verschiedene Vorstellungen von und Erwartungen an Öffentlichkeit aufeinandertreffen, wie an zwei Beispielen gezeigt wird (b, c).

a) Die geförderte Öffentlichkeit und ihre Regeln Zentraler Treiber von Stadtteilöffentlichkeit ist das lokale Quartiersmanagement. Angesiedelt ist es im Stadtteilladen am Grünspitz. Im Rahmen des Förderprogramms Soziale Stadt mit Geldern von Bund, Land und Kommune sind zwei Quartiersmanager:innen in Vollzeit tätig (Beike, GI).8 Sie beschreiben ihr Quartiersmanagement als Weiterentwicklung der Stadtsanierung. Im Kern besteht es aus einem Förderprogramm, welches sich um soziale, kulturelle und ökonomische Belange in Giesing kümmert. »Das heißt, es gibt irgendwie Projekte zum Thema Integration, Gesundheit, Bildung, Nachbarschaftsentwicklung. Und das Wichtigste bei dem Ganzen ist eben die Bürgermitwirkung« (Beike, GI). Pro Jahr des in diesem Fall auf zehn Jahre angelegten Projektes stehen 30.000 Euro Fördermittel zur Verfügung. Allerdings sind diese Gelder auch immer wieder von der Streichung bedroht (Buras, GI). Als wesentliche Aufgabe beschreibt eine Stadtteilmanagerin die Koordinierung aller Akteure im Viertel: »Wir sind mit allen möglichen Einrichtungen, Trägern, Vereinen, In8

Zum Förderprogramm Soziale Stadt auch oben, 5.1, 5.3.1 und unten, 11.2.1.

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itiativen und Bürgern im Stadtteil vernetzt.« (Beike, GI) Dies geschieht in projekt- oder themenbezogenen Runden. Bedarfe werden von Einzelnen direkt eingebracht und durch das Quartiersmanagement sortiert, das dann auch bei der Projektkonzeption und der Antragsformulierung unterstützt. Eine wesentliche Plattform ist das Treffen aller Akteure in der Koordinierungsgruppe, die etwa viermal jährlich tagt, und in der alle Projekte, welche durch das Programm gefördert sind, besprochen werden. Sie sei, so beschreibt es die Quartiersmanagerin, »aufgebaut […] wie so ein kleines Parlament aus ganz vielen Akteuren, die meisten sind Vertreter von Einrichtungen« (Beike, GI). Durch die Möglichkeit der Vergabe von Geldern aus dem Förderprogramm entsteht auf diese Weise eine Stadtteilöffentlichkeit, in der gemeinsame Belange des Quartiers verhandelt werden. Was davon allerdings die zehnjährige Förderperiode des Projekts überleben wird, ist nicht absehbar. Auch einige der geförderten Projekte tragen selbst zu einer Stadtteilöffentlichkeit bei. Direkt von der Sozialen Stadt werden eine Stadtteilzeitung, mehrere Prospekte über den Stadtteil sowie ein aufwendig gestalteter Stadtteilführer zur Verfügung gestellt. Zu den von einzelnen Bürgern und auch Organisationen eingereichten Projekten gehört eine Zwischennutzung in der ehemaligen Stadtteilbibliothek (»Flo**«, sprich: Flohzweistern), in der verschiedenste kulturelle Veranstaltungen stattfinden. Ein weiteres Projekt ist die Gestaltung und Nutzung des genannten Grünspitzes, auf dem im Folgenden der Fokus liegen soll. Auf der kleinen Freifläche inmitten des Verkehrs ist ein urbanes Gartenprojekt entstanden, das von dem münchenweit tätigen Verein GreenCity bewirtschaftet wird. Das Projekt wird als für München ungewöhnlich beschrieben: Im öffentlichen Stadtraum gärtnern und imkern, das kenne man aus Berlin, aber nicht aus München (Beike, GI). Geschmückt mit Girlanden und bestuhlt mit selbst gebauten Möbeln ist es ein kleiner Rückzugsort, auf dem auch Veranstaltungen stattfinden. »Jeder, der Bock hat, kann dort theoretisch eine Veranstaltung machen. Die müssen sich aber natürlich mit Green City abstimmen. Wenn es jetzt was Größeres ist, also wenn man da mal einen Nachmittag irgendwie, keine Ahnung, eine Spieleaktion macht, geht man einfach auf die Fläche und macht das, aber wenn man jetzt irgendwie vorhat, dort ein Zelt aufzustellen, oder eine Band spielen zu lassen, muss man sich mit Green City abstimmen. Und die stimmen sich in kritischen Fragen wiederum mit uns ab.« (Beike, GI) Abstimmungsbedarf und kritische Fragen: Die geförderte Öffentlichkeit der Sozialen Stadt ist nicht nur durch formelle Gremien, Medien, Räume und informelle Netzwerke geprägt, sondern auch durch Vorstellungen, Ziele und Regeln hinsichtlich dessen, was in der Öffentlichkeit des städtischen Raumes gewünscht und erlaubt ist und was nicht. Die Stadtteilmanagerin bringt dies bildhaft im Gegenüber zu imaginierten anomischen Verhältnissen andernorts zum Ausdruck: »Es ist nicht ganz Berlin und Kommunismus, weil durch unsere Rahmenbedingungen, die wir durch unser Förderprogramm haben und durch unsere Zielsetzungen, die wir wiederum von städtischen Richtlinien haben, was überhaupt im öffentlichen Raum

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passieren darf, da ist München ein bisschen strenger als Berlin, da müssen wir immer drauf achten, dass, was dort passiert, auch in unsere Zielsetzungen fällt.« (Beike, GI) Solche Regeln werden einerseits explizit gefasst und in Förderrichtlinien vorgegeben; andererseits werden sie in den Netzwerken und Gremien beständig ausgelegt, weiterentwickelt und auf diese Weise in Geltung gehalten. Die reflexive Struktur der Öffentlichkeit, die ihre Grenzen permanent verhandelt und auf diese Weise Inklusionen und Exklusionen hervorbringt (siehe 6.1), tritt unter den Bedingungen geförderter Öffentlichkeit der Sozialen Stadt prägnant hervor. Auch Religion tritt, wenn sie öffentlich wird, in den Raum dieser Regeln. Hier liegt auch der Stoff für Konflikte (siehe b). In der durch das Förderprogramm generierten Öffentlichkeit treten die Religionen als Akteure unter anderen auf. In der Koordinierungsgruppe nehmen Vertreter der Kirchen regelmäßig teil; auch ein Platz für einen Vertreter des Moscheeverbandes VIKZ ist vorgesehen, wird aber nicht wahrgenommen. Das sieht die Stadtteilmanagerin durchaus als Defizit: »Richtig toll wäre, wenn man jemanden von der VIKZ hinkriegt, der sich dann da vielleicht auch nochmal kurz vorstellt und der aber im besten Fall auch vorhat, öfter zu kommen. Weil, das ist schon eine Gruppe mit festen Mitgliedern. […] Wenn wir da jemanden gewinnen könnten, der da dann auch ab und zu vorbeischaut und dann auch weiß, worum es geht, und den die Leute in der Koordinierungsgruppe auch mitgeben, das ist dann halt ein super Synergieeffekt, weil genau in der Gruppe entstehen total viele Projekte und Impulse für Kooperationen.« (Beike, GI) Diesen Erwartungen eher entsprechend war der evangelische Diakon Reinhard an verschiedenen geförderten Projekten beteiligt: So veranstaltete er eine Frühschoppenandacht im »Flo**« und trug zum »Giesinger Kochbuch« bei; auch hat er ein eigenes Projekt, eine Tauschbox vor der Kirche mit Büchern und anderen Objekten, eingereicht. Mit einem Kunstprojekt haben sich die beiden benachbarten Kirchengemeinden Luther und Heiligkreuz erfolgreich um öffentliche Förderung beworben. Im Kontext der geförderten Stadtteilöffentlichkeit treten mithin auch religiöse Akteure auf. Die Kirchen, sagt die Stadtteilmanagerin, seien schon wichtige Partner. Zugleich betont sie, dass Religion in ihrer Arbeit keine Rolle spiele – abgesehen davon, dafür zu sorgen, »dass sich niemand die Köpfe einschlägt« (Beike, GI). »Das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu fördern, das ist quasi so ein Ziel auch, und für Integration zu sorgen, ob es da jetzt um Menschen mit Migrationshintergrund geht oder Menschen, die aus irgendwelchen anderen Gründen sozial vielleicht nicht so ganz beteiligt sind, oder ob es um verschiedene Religionen geht, wobei wir da tatsächlich auch einfach noch nie ein Projekt hatten.« (Beike, GI) Interessant ist diese Unterscheidung von Kirchen als wichtigen, positiv wahrgenommenen Akteuren im Stadtteil und Religion als einem potenziellen Problem des Zusammenlebens: eine Unterscheidung, die wir auch in anderen Quartieren finden (siehe 6.3). Religion, gerade in Verbindung mit Migration, erscheint als potenzieller Sand im Getriebe eines Quartiers und seiner Öffentlichkeit. Das wird am nun darzustellenden Konflikt manifest.

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b) Von der Legitimität »fremder« öffentlicher Religion Die Episode dreht sich um eine Initiative der VIKZ-Moschee, im Fastenmonat Ramadan das täglich stattfindende Fastenbrechen auf dem Grünspitz zu veranstalten. Die Idee entstand ein Jahr vor dem Forschungszeitraum (Beike, GI), hatte aufgrund des zu kurzen Vorlaufs allerdings nicht realisiert werden können. Daher wurde das Projekt mit der Auflage, sich diesmal frühzeitig zu melden, auf das darauffolgende Jahr verschoben. Kern der Initiative ist der Plan, für die vier Wochen des Ramadan auf den Grünspitz ein Zelt aufzustellen, ähnlich wie das bei der alljährlichen Kermes der Fall ist. Dadurch soll unter anderem die überfüllte Moschee räumlich entlastet werden. Aus Perspektive des Stadtteilladens ist die Initiative zu begrüßen. »Und dann haben wir gesagt, ja das ist eine coole Idee, weil das an sich ja super ist, wenn man das mal öffentlich macht, und da darf ja dann jeder zum Essen kommen, unabhängig davon, ob er gefastet hat oder nicht. Und das Essen ist immer eine schöne Gelegenheit, um sich mal kennen zu lernen.« (Beike, GI) Allerdings ist man auch skeptisch, aus Gründen, die mit dem hier vertretenen materialen Verständnis eines öffentlichen Raumes zu tun haben. Wie oben beschrieben, ist es die Zielsetzung des Stadtteilladens für den Grünspitz, eine Stadtfläche zu schaffen, wo »der ganze Stadtteil sich austoben darf, das nutzen darf, und wo bei allen Geschichten die dort passieren, theoretisch jeder eingeladen ist, am besten kostenlos, auch mitzumachen. Das ist so ein bisschen unser roter Faden, der sich durch alle Angebote zieht.« (Beike, GI) Auf den ersten Blick passt das Fastenbrechen also sehr gut zu diesem Verständnis einer stadtteilöffentlichen inklusiven Freifläche. Bei näherem Hinsehen kollidiert es nach Ansicht der Stadtteilmanagerin damit jedoch in mehrfacher Weise. Zum einen ist die Freifläche klein. Das Konzept, vier Wochen lang ein Arrangement aus Zelten aufzustellen, welche nur am Abend bespielt werden, aber tagsüber das Gelände unzugänglich machen, wird darum als problematisch erachtet. »Ne, das Zelt steht, das aber abgesperrt ist tagsüber, wo keiner reinkommt, und so riesig ist die Fläche nicht. Das wäre so ein bisschen, einfach dann, aus unserer Sicht schade, wo wir sagen, ihr könnt euch da nicht so –, also das ist so als würde die Fläche dann so in Anspruch genommen werden, auch in der Außenwahrnehmung. Was wir nicht wollen, denn wir wollen, dass sich da jeder irgendwie willkommen fühlt.« (Beike, GI) Aufgerufen wird also ein Problem der distributiven Gerechtigkeit und der Effizienz angesichts der äußerst knappen Ressource »öffentlicher Raum«. Wem steht wieviel hiervon zu, und wie ist er am effizientesten zu nutzen? Das heißt im Kern: Wer kann wieviel von dieser Ressource legitimerweise beanspruchen? Die Frage zeigt sich schon sprachlich als heikel: Der abgebrochene Satz »[I]hr könnt euch da nicht so […]« im obigen Zitat ist offenbar durch ein nicht ausgesprochenes »breitmachen« zu ergänzen. Dabei wird nicht nur auf die Regeln der sozialen Stadt, sondern auf eine mehrheitsgesellschaftliche »Außenwahrnehmung« rekurriert. Am Ort des lokalen Grünstreifens geht es mithin nicht zuletzt um die öffentliche Legitimität des Islam in einer nichtmuslimischen Dominanzgesellschaft – ein Problem, in dem sich Religions- und Migrationsdiskurse überlappen. Zum anderen ist das materiale Verständnis von Öffentlichkeit selbst umstritten.

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»Genau, die Idee von denen war, wir stellen das Zelt auf und machen da jeden Abend Fastenbrechen. Und dann sagen die immer, und da fängt es jetzt an, das ist tatsächlich irgendwie kommunikationsmäßig manchmal schwierig. Die sagen dann immer, wir machen das öffentlich, und dann glauben wir es, und effektiv ist es dann aber wie eine geschlossene Veranstaltung, weil sich da keiner hintraut.« (Beike, GI) Veranstaltungen der Moscheegemeinde, die diese als öffentlich versteht, werden aufgrund ihres Erscheinungsbildes von anderen nicht als öffentlich wahrgenommen. Das zeigt sich für die Stadtteilmanagerin an den bereits seit einiger Zeit veranstalteten Nachbarschaftsfesten: »Die machen das mehrere Wochenenden im Jahr, da machen sie ein Nachbarschaftsfest auf diesem Grünspitz über ein komplettes Wochenende. Und dann stehen dann Zelte, die so ein bisschen so nach außen hin abgeschirmt sind, und da drinnen wird gegrillt. Und, also ich habe mir das von Leuten aus dem Viertel sagen lassen, die haben sich da gar nicht hingetraut, weil sie gar nicht wussten, dass das für sie auch mit ist, weil da waren dann halt ein Haufen Menschen in schwarzen Anzügen und Frauen mit Kopftüchern, die da rumsaßen und ihr Zeug gegrillt haben. Und da findet dann auch keine Durchmischung statt, weil keiner von beiden Seiten so genau weiß, wie.« (Beike, GI) Hier werden stereotype kulturelle Schematisierungen – »Menschen in schwarzen Anzügen«, »Frauen mit Kopftüchern«, das Grillen – benannt, die nach der hier artikulierten Wahrnehmung Angehörigen der nichtmuslimischen Stadtbevölkerung signalisieren: Das ist nicht meine Veranstaltung, die ist nicht öffentlich. Damit entspricht die Veranstaltung nicht dem im Konzept der Sozialen Stadt manifestierten Anspruch an eine öffentliche Veranstaltung, bei der sich »jeder« willkommen fühlen und bei der es darüber hinaus zur »Durchmischung« kommen soll. Die Veranstaltergruppe wird als zu partikularistisch und unzugänglich anders wahrgenommen, als dass die von ihr ausgerichtete Veranstaltung dem Ideal einer »allgemeinen« Öffentlichkeit entsprechen könnte. Seitens der Sozialen Stadt setzt man zunächst auf kommunikative Überwindung dieses Problems, wenn auch der Erfolg als unzureichend gewertet wird: »Und dann haben wir mit ihnen geredet und haben immer gesagt, Ihr müsst da irgendwie mehr Öffentlichkeitsarbeit machen, und haben ihnen dann geholfen, Plakate zu machen und Pressemitteilungen zu schreiben. Und dann haben sie es auch irgendwann so gemacht, dass sie die Zelte nicht mehr so aufgestellt haben, dass man da gar nicht reinkann. Seitdem sind diese Nachbarschaftsfeste so auch nicht jetzt wahnsinnig was von [ringt nach Worten] [Interviewfrage:] Inklusiv? [Beike:] Inklusiv, integrativ, wie auch immer, aber sie machen es halt, und es ist theoretisch jeder eingeladen, deswegen dürfen sie es gerne jedesmal wiedermachen.« (Beike, GI) Aus diesen Erfahrungen heraus speisen sich nun auch die Bedingungen für das Fastenbrechen: »Was wir bloß dann wollen, dass es dann wirklich so ist, dass jeder kommt. Und wie können wir das erreichen, außer durch Öffentlichkeitsarbeit? Indem wir dann noch ein anderes Rahmenprogramm mit andocken.« (Beike, GI)

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Neben die erhoffte kommunikative Überwindung von kulturell schematisierten Öffentlichkeitsbarrieren durch »Öffentlichkeitsarbeit« tritt hier noch eine zweite Strategie, nämlich die der Entpartikularisierung der Veranstaltung durch ein – wie implizit vorausgesetzt ist: nicht als »muslimisch« wahrzunehmendes – »Rahmenprogramm«, das die geforderte Öffentlichkeit des Raumes auf eine auch mehrheitskulturell anschlussfähige Weise markieren und damit sicherstellen soll. Noch auf eine dritte Weise kollidiert die Moscheegemeinde mit dem materialen Öffentlichkeitsideal der sozialen Stadt. Die reflexive Struktur der Öffentlichkeit bedarf öffentlicher Akteure, die sich an der Verhandlung darum, was im Stadtteil passieren soll, beteiligen, und die dabei auch als solche behaftbar sind. In diesem Zusammenhang wird das Fehlen solcher behaftbarer Gesprächspartner beklagt, mit denen verbindliche Absprachen getroffen werden können (Beike, GI). Ehrenamtliche Struktur, Wechsel der Akteure und sprachliche Verständigungsprobleme führen zu einem nach Wahrnehmung der Stadtteilmanagerin niedrigen Verbindlichkeitsniveau, das, wie in vielen Anekdoten berichtet wird, eine vertrauensvolle Kooperation erschwere. »Und muss ich das dann irgendwie schriftlich festhalten? Weil ich muss ja davon ausgehen, dass das nicht weitergegeben wird. Also, das sind dann auch so Kleinigkeiten, wie: Dann machen die hier einen Nachbarschaftstreff, und es liegt irgendwie eine Woche später immer noch ein Haufen Mülltüten neben da, wo die ihr Zelt hatten. Und die Irene von Green City ruft hier irgendwie drei Mal an und sagt, könnt ihr euren Müll wegbringen, und die machen das einfach nicht. […] Die sagen ja nicht, versteh ich nicht, die sagen immer: ja. Machen aber was anderes, das ist immer schwierig.« (Beike, GI.) Insgesamt wird ein Defizit der muslimischen Akteure hinsichtlich der Öffentlichkeit im zweiten Sinne konstatiert. Die Erwartung, als behaftbare Akteure in einem Netzwerk aufzutreten und das Netzwerk zu pflegen, wird augenscheinlich enttäuscht. Insgesamt bricht am Beispiel des öffentlichen Fastenbrechens auf dem kleinen Grünspitz in Giesing das Problem auf, wieviel Pluralität der Besonderen das Ideal einer universalen Öffentlichkeit verträgt. Wer darf überhaupt legitimerweise im knappen öffentlichen Raum in welchem Umfang auftreten, mit welchen kulturellen Formen darf das geschehen und welche Rollenerwartungen müssen hierfür erfüllt werden? Es sei nicht behauptet, dass es sich hierbei um ein rein »religiöses« Öffentlichkeitsproblem handelt; kulturelle, ethnische, nationale und migrationsbezogene Aspekte sind ebenso involviert. Insgesamt aber trägt diese Gemengelage im Verbund mit der Förderkulisse des Programms »Soziale Stadt« und deren Umsetzung durch einen Verein und dessen Angestellte zu denjenigen Bedingungen bei, unter denen Religion im Stadtteil öffentlich werden und dabei ihre eigene religiöse Öffentlichkeit gestalten kann. Die muslimischen Interviewpartner:innen bringen hingegen andere Vorstellungen von Öffentlichkeit zum Ausdruck. Die Beschwerde über die Unzugänglichkeit der Kermes-Veranstaltungen und die enttäuschte Erwartung von außen, wie ein öffentliches Fastenbrechen ›eigentlich‹ aussehen sollte, sind hier kein Thema. Man mache ja erfolgreich Öffentlichkeitsarbeit: »[Interviewfrage:] Macht ihr jedes Jahr Fastenbrechen? [Baran:] 30 Tage lang. [Interviewfrage:] Mit den Schülern und allen Eltern? [Baran:] Allen Eltern, alle Mitglieder,

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alle die gerne Fastenbrechen anbieten wollen extra noch, und allen die kommen, natürlich. Wir sehen Gesichter, die wir überhaupt nicht sehen das ganze Jahr.« (Baran, GI) Dass jeder kommen kann, ist für den Vorstand der Moschee Ausdruck der Öffnung ins Gemeinwesen hinein.9 Die Öffentlichkeit, die dabei vor Augen steht, ist dabei weniger die Stadtteilöffentlichkeit als solche – auch wenn nichtmuslimische »Gäste« ausdrücklich zum Fastenbrechen eingeladen sind –, sondern vielmehr die interne Öffentlichkeit der dem muslimischen Glauben verbundenen Stadt(teil)bewohner:innen oder aber städtische Prominenz, etwa der Bürgermeister von München. Insgesamt gehen also an dieser Stelle die Vorstellungen öffentlichen Raumes auseinander – wobei unterschiedliche Raumwahrnehmungen divergierenden Vorstellungen von Öffentlichkeit korrelieren (Kanitz 2018).

c) Binnenkirchliche und multireligiöse Öffentlichkeiten Auch im christlichen Kontext stehen Akteure vor dem Problem, sich unter den Bedingungen der Gegenwart in die Öffentlichkeit des Stadtteils einzubringen. Angesichts des Umstandes, dass die eigene, religiös binnendifferenzierte Öffentlichkeit in Gestalt von kirchlichen Angeboten, Kreisen usw. gerade für die Bewohner:innen des neuen Quartiers nicht mehr ausreichend attraktiv erscheint, sucht Diakon Reinhard nach Alternativen: »So, jetzt bist du, kommst nicht auf die Idee am Sonntag hierher zu uns zu gehen oder zu einem lustigen Diskussionsabend über reine Luft in München, aber du bist irgendwo dabei, bei einer Aktion auf dem Grünspitz, wenn es darum geht, Sachen zu pflanzen. Weil du da mit deiner Tochter bist. Weil die das cool findet, oder du auch willst, dass sie, obwohl sie ein urbanes Kind ist, kapiert: Wenn man was in die Erde steckt, wächst da was raus. Und dann macht Green City Munich da drüben eine Aktion. Und dann finde ich, ist es meine Aufgabe, dort zu sein. Ja, weil da treffe ich Menschen aus dem Agfa-Gelände, bin ich sehr sicher, ist nicht empirisch nachgewiesen, aber da bin ich mir einfach sicher. Und wenn du dann da bist und nur einen kleinen Wachstumssegen sprichst, über: ›Gott lässt es wachsen und gedeihen, und er lässt es kommen und gehen‹ und Bla und Bli und Blubb, dann warst du da, dann nehmen die das mit. Das ist wie meine Aktion in der Stadtteilbibliothek, in der ehemaligen, wo ich hingehe und da eine kurze Andacht halte. Wo Menschen überhaupt nicht mit mir rechnen. Und ich bin mir sicher, dass das nicht nur bei mir nachwirkt, sondern auch bei Menschen die das erlebt haben. Und das wird multipliziert.« (Reinhard, GI) Nicht die öffentlichen Veranstaltungen der Kirche wie Gottesdienst oder Diskussionsveranstaltungen, sondern die Öffentlichkeiten des Stadtquartiers sind die Orte, die Diakon Reinhard als wichtig hervorhebt. Hier scheut er sich nicht, dezidiert als religiöser Akteur in Erscheinung zu treten: ein Wachstumssegen auf einer Pflanzaktion von Green City Munich, eine Andacht in der Stadtteilbibliothek oder auch im »Flo**« (siehe oben).

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Normalerweise sind die eigenen Räume hierfür auch ausreichend; nur in den Jahren der Feldforschung waren durch den Zuzug von Geflüchteten die räumlichen Kapazitäten knapp.

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Damit stellen nicht die explizit kirchlich geprägten Orte wie Kirchgebäude und Gemeindezentren, die einen Geltungsschutz für innere Öffentlichkeit bieten, sondern bestehende oder temporär neu entstehende Orte der Stadtteilöffentlichkeit wie die Bibliothek oder das Kulturzentrum die Bühne dar, auf der hier Religion öffentlich wird.10 Im vorliegenden Kontext besonders interessant ist der Umstand, dass der Diakon an stadtteilöffentlichen Orten nicht nur solche Aktionen unternimmt, in denen es explizit um religiösen Praktiken wie Andacht, Segen und Gebet geht. Vielmehr versucht er darüber hinaus als religiöser Akteur an diesen Orten dazu beizutragen, dass Öffentlichkeit im Sinne eines Forums der Verständigung entsteht, erweitert oder vertieft wird. Weil er die Menschen im neuen Quartier nicht mehr oder nicht ausreichend an die Orte kirchlicher Öffentlichkeit locken kann, beteiligt er sich an der Errichtung temporärer Stadtteilöffentlichkeiten, an denen dann auch (teils vermittelt durch seine Person) religiöse Belange und Praktiken ihren Ort haben. Das soll an zwei Aktionen auf dem Stadtfest aufgezeigt werden. Die erste ist die »Wunschwiese«: »Und auf dieser Veranstaltung [dem Weissenseeparkfest] hatte ich zwei Pinnwände dabei, über die ich Kunstrasen gelegt hab, und das Ding nannte ich dann Wunschwiese und habe einfach Blüten hingelegt, mit der Aufforderung, da kannst du uns alles sagen, als Kirche im Stadtteil, was du dir wünscht. […] Und da war dann natürlich das iPhone 7 drauf und dass 1860 wieder aufsteigt. Da war aber auch ein Treff für Mütter und da, Mehrfachnennung, witzigerweise, das Café im oder am Weissenseepark. Weil der ganze Stadtteil da hinten nichts hat. Es gibt keinen Treffpunkt, und damit wär’ auch noch ein Treff, den du über eine gGmbH betreibst, vielleicht preislich anders gelagert als jetzt ein normales, kommerzielles Café, ja, und das ist gerade mein Traum, meine Vision für da hinten, für das Gemeindehaus. Wie du da auch was verändern kannst und das öffnen kannst. Wenn dann eh Menschen im Haus sind, und das ist so die Erfahrung aus dieser Fortbildung in Bremen, der Cafébetrieb ist das A und O. Egal wo du hinschaust, ob Diakoniekirche Mannheim, oder was sie uns für erfolgreiche Projekte vorgestellt haben, ein Café öffnet das Haus, du hast Leben, du hast Ansprechpartner, du hast Gäste, ja da tut sich was.« (Reinhard, GI) Hier zeigt sich eine komplexe Rolle des religiösen Akteurs in der Stadtteilöffentlichkeit, die alle unter 6.1.2 benannten Dimensionen des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit berührt. Erstens sucht er einen öffentlichen Ort auf, um sich dort zu präsentieren: das Fest im Park (1.).11 Zweitens unternimmt er dort eine Aktion, die selbst Stadtteilöffentlichkeit generiert: Er errichtet eine Pinnwand, an der etwas Stadtteilbezogenes verhandelt werden soll (4.). Dabei bringt er drittens Kirche als öffentlichkeitsförderlichen Akteur diskursiv ins Spiel, indem auf der Pinnwand Wünsche an die »Kirche im Stadtteil« artikuliert werden sollen (3.). Viertens zielt die Aktion bereits in der Planung darauf ab, auch die bestehenden kirchlichen Räume für die Stadtteilöffentlichkeit wieder relevant zu machen, indem Bedarfe an öffentlichem Raum erhoben werden (2.). Das

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Freilich ließe sich überlegen, ob nicht auch solche Aktionen noch vom residuellen Geltungsschutz für die christliche Religion im weiteren Sinne leben. Man überlege sich, wie es ankäme, wenn ein Muslim den Segen spräche oder eine Koranstunde in der Bibliothek abhielte. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Nummerierung der Dimensionen in Abschnitt 6.1.

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wird nicht enttäuscht: Insbesondere der Wunsch nach einem Café wird tatsächlich geäußert. Religion und Öffentlichkeit sind in dieser Aktion mithin vierfach miteinander verschränkt. Noch eine weitere Aktion verdient vor diesem Hintergrund Beachtung: »Stadtteilfest: und ich sag, da will ich als Kirche auftauchen. Wir hatten von uns aus ein kunterbuntes Kirchenzelt. Wir sind wieder bei dem Ding, es braucht einen, der es macht und der Zeit dafür hat, das war ich. Und ich bin auf die anderen Partner zu, wie jetzt Johanniter, als diakonische Träger, mit einem Trauerzentrum in Giesing, an die katholische Kirche, an die Alleinerziehendenberatung, der evangelische Dienst in München, da habe ich gesagt: Ja, wollt ihr mit in mein Zelt, unter mein Zeltdach, ich organisiere, dass es das Zelt gibt, ich bin bei den Planungstreffen dabei und ihr kommt, weil ich will eine bunte Mischung in dem kunterbunten Kirchenzelt. Und ja genau, wenn ich es mach, dann funktioniert es, dann ist das Zelt da, dann wird’s aufgebaut, dann wird es wieder abgebaut.« (Reinhard, GI) Hier ist Diakon Reinhard auf einem öffentlichen Fest seinerseits als place giver unterwegs; aber die Öffentlichkeit, die er generiert, ist zunächst eine innerkirchliche. Verschiedene kirchliche Initiativen und Organisationen werden unter einem (Zelt-)Dach versammelt. Der Diakon erzeugt am Ort der allgemeinen Öffentlichkeit eine Öffentlichkeit für kirchliche Akteure, die hier wohl sonst nicht selbständig unterwegs wären. Das ist von Ressourcen abhängig, wie er betont: Er hat eben die Zeit dafür. Doch auch hier sieht er Religion nicht allein im sicheren Schutzraum eines »unter sich« organisierten Zeltes. Sofort zieht es ihn wieder hinaus: »So, und dann war eben die Idee, wie können wir auch noch öffentlich auf dieser Bühne vorkommen, und dann habe ich gesagt, lasst uns doch überlegen, nachdem wir hier so multireligiös sind, ob wir nicht ein multireligiöses Friedensgebet machen können auf diesem Stadtteilfest. […] Dann haben sie gesagt, nur ökumenisch, wir wollen keine exklusive Plattform für christliche Spiritualität bieten, aber wenn ihr interreligiös seid, und am Anfang war ja nur von den Muslimen die Rede, dann ja.« (Reinhard, GI) Schließlich entsteht auf diese Weise ein interreligiöses Friedensgebet – ein eigener Topos, der in einem späteren Kapitel näher analysiert wird (siehe 7.2.2 und 7.3.2 b). Interessant an dieser Stelle ist, dass Religion auf dem öffentlichen Fest damit doppelt vorkommt: einmal unter eigenen Bedingungen im Kirchenzelt (2./4.), und einmal unter den Bedingungen des Vorbereitungskreises auf der Bühne des Festes (1./3.). An beiden Orten wird die Spannung zwischen Universalität und Partikularität, wie sie oben angesichts des öffentlichen Fastenbrechens hervortrat, jeweils unterschiedlich ins Werk gesetzt. Im Kirchenzelt ist man christlich-ökumenisch; auf die Bühne darf man nur interreligiös.

6.2.4 Zwischenfazit: Die Komplexität religiöser Öffentlichkeiten Das Verhältnis von Religion und städtischer Öffentlichkeit stellt sich bei näherer Betrachtung als hochgradig plural und zudem konflikthaft verfasst dar. In der Analyse zeigt sich dabei die einleitend eingeführte heuristische Unterscheidung von öffentlicher Religion und religiöser Öffentlichkeit angesichts der untersuchten Phänomene als nicht

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hinreichend unterscheidungsscharf. Vielmehr gibt es zwischen den Polen von »Religion in der allgemeinen Öffentlichkeit« und »religiöser Binnenöffentlichkeit« eine Vielzahl von Abstufungen und Schattierungen. Wenn sich ein religiöser Akteur entscheidet, »öffentliche Religion« zu praktizieren – und die Person des Diakons Reinhard steht an dieser Stelle exemplarisch für ein so verstandenes öffentliches Christentum –, muss er sich einlassen auf dieses komplexe Wechselspiel von »innerer« und »äußerer«, »eigener« und »allgemeiner« Öffentlichkeit, in dem die Grenzen zwischen beidem gerade nicht trennscharf gezogen werden können. Ebenso tritt Religion unter Bedingungen an die Öffentlichkeit, die nicht von den religiösen Akteuren selbst gesetzt werden. Diese Bedingungen können sich bei unterschiedlichen Religionen allerdings ganz unterschiedlich materialisieren und auswirken, wie in Giesing am muslimischen Fastenbrechen und den christlichen Öffentlichkeitsaktionen Reinhards sichtbar wird. Im Folgenden werden diese Einsichten anhand von Beobachtungen aus anderen Stadtquartieren vertieft.

6.3 Vier Dimensionen des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit Im vorliegenden Abschnitt werden die einleitend ausgewiesenen vier Dimensionen des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit (siehe 6.1) noch einmal systematisch betrachtet. Auch wenn sie sich beim näheren Hinsehen als nicht hinreichend distinkt erwiesen haben (siehe 6.2.3 c und 6.2.4), handelt es sich doch um Idealtypen, die einen heuristischen Wert für das Verständnis dieses Verhältnisses haben. Dabei werden Ergebnisse aus verschiedenen Stadtquartieren berücksichtigt.

6.3.1 Zugänglichkeit des öffentlichen Stadtraums für Religion a) Religiöse Raumpraktiken Religion ist in vielfacher Weise im Stadtraum öffentlich präsent. Dies ist klassischerweise der Fall durch sichtbare sakrale Gebäude wie Kirchen oder Moscheen mit Minaretten. In neuen Stadtquartieren fehlen jedoch solche Gebäude in aller Regel. Hier tritt Religion vor allem in Gestalt von räumlichen Praktiken in die Öffentlichkeit des Quartiers.12 Damit wird die Frage virulent, wie zugänglich der öffentliche Stadtraum für religiöse Praktiken ist. Als Beispiel für eine religiöse Raumpraxis kann der in Kapitel 3 dargestellte Sankt-Martins-Umzug dienen, wie er auch in anderen Stadtvierteln wie etwa in der Karlsruher Südstadt stattfindet: »Also [wir ziehen] richtig so durch die Straßen durch, bleiben dann immer an irgendeiner Ecke stehen, […] singen wieder zwei Lieder, ziehen wieder [ein] Stückchen weiter, und so kriegt irgendwie auch der ganze Stadtteil von uns dann mit, und es laufen da auf jeden Fall auch Leute mit, die sonst nicht im [Kirchenladen] Senfkorn sind. Also, das ist dann schon so, man hat so ein bisschen ja bei mehreren Leuten Interesse geweckt. […]

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»Urbane Praktiken können vielerlei Gestalt annehmen. Räumliche Praktiken heißt, dass Menschen im Raum agieren, sich in ihm positionieren, ihn nutzen und ›bedeuten‹.« (Huffschmid, Wildner 2009)

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Inzwischen gibt es noch ein kleines Sankt-Martins-Spiel hinten auf der großen Wiese […], wo die Eltern also teilweise dann mitspielen und solche Sachen.« (Demant, KA) Durch den Umzug im Stadtteil und das Martinsspiel auf dem Platz beanspruchen die Teilnehmenden den Stadtteil temporär für sich. Sie werden im öffentlichen Raum des Stadtteils für Passanten wahrnehmbar und kommunizieren durch ihre Teilnahme an der Veranstaltung sowie durch das Singen von Liedern die Identität ihrer Gruppe: Sie praktizieren Religion als öffentliche Religion (siehe 6.3.2).13 In der Interviewpassage klingt an, dass der öffentliche Raum nicht selbstverständlich zugänglich ist, sondern sukzessive ›erobert‹ werden muss: Offenbar ist man im Laufe der Zeit (»inzwischen«) ›mutiger‹ geworden, was die Präsenz im öffentlichen Raum angeht. Andere urbane Praktiken finden im direkten Umfeld der kirchlichen Orte statt und dienen auch dazu, dieses Umfeld als religiös zu kennzeichnen. Hierzu gehören beispielsweise Feste im Stadtraum. »Wir haben vor zwei Jahren angefangen mit einem großen Gemeindefest: das Gottseidankfest. Das ist […] so [ein] Konzept, was von unserem Gemeindebund angeboten wurde, mit allen Werbedingen drum herum, zum Erntedankfest. Ich denke mal, Erntedankfest ist bei vielen noch im Kopf. Da dankt man für irgendwas. Das wurde dann einfach Gottseidankfest genannt, und nebenan ist ja ein Parkplatz. Der wurde dann von der Stadt gesperrt, und wir haben dann Gottesdienst gehabt und dann […] ziemlich viel Werbung in der Stadt gemacht und dann dort Live-Musik auf dem Platz, [einen] Flohmarkt, [einen] Kinderkletterturm aufgebaut und so weiter.« (Lützow, HDS) Eine andere Gemeinde kennzeichnet den sie umgebenden Raum des Stadtteils durch öffentlich sichtbare Symbole. Es handelt sich um im Kirchenladen gestaltete Umrisse von Händen, die von den Besuchern des Ladens angefertigt und in einem Baum vor dem Kirchenladen angebracht wurden. Ähnliche öffentliche Zeichen sind Flyer, Plakate oder auch Beiträge in der Stadtteilzeitung. Inwiefern diese für die Wahrnehmung religiöser Gemeinschaften in der städtischen Öffentlichkeit bedeutsam sind, erläutert ein hauptamtlicher Mitarbeiter der katholischen Kirche: »Etwa alle sechs [bis] acht Wochen sammelt die katholische Kirchengemeinde Altpapier im [Stadtteil] ein. Dazu wird etwa eine Woche vorher an die Eingangstüren der Häuser ein Infoblatt gehängt, das den Zeitpunkt der Abholung nennt und darum bittet, das Altpapier vor den Häusern auf der Straße zu deponieren. […] Die Altpapiersammlung war für mich der erste Moment, wo nach unserem Einzug im Mai 2013 Kirche im Stadtteil erlebbar wurde – auch wenn ich lange nicht wusste, wo das [Gemeindehaus] und die katholische Kirche [im Stadtteil] eigentlich liegen.« (Parisius, KA) Neben regelmäßig wiederkehrenden Praktiken der Raumaneignung bzw. -besetzung gibt es auch einmalige, die zu besonderen Gelegenheiten stattfinden. Zum Beispiel veranstalten in Freiburg die »Kirche im Vauban« sowie die dazugehörigen Gemeinden

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Dabei ist es wichtig zu betonen, dass religiöse Raumpraktiken sich nicht nur auf den öffentlichen Raum beziehen. Auch Privatwohnungen können, etwa bei Wohnungssegnungsfeiern oder Hausgottesdiensten, temporär zu religiösen Orten bzw. durch religiöse Praktiken markiert werden.

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im Quartier Vauban und den angrenzenden Stadtteilen einen Sternmarsch. Anlass ist das zehnjährige Jubiläum der Kirche im Vauban, das mit einem Gottesdienst gefeiert werden soll. Beispiele für nichtchristliche religiös-rituelle Präsenzen im öffentlichen Raum sind hingegen schwieriger zu finden. So fand, ebenfalls im Vauban, im Jahr 2002 die »Erdheilungsaktion« einer Schamanin und eines Heilpraktikers statt. In der Stadtteilzeitschrift ist zu lesen: »Auch in diesem Herbst findet ein Nachmittag der Erdheilung statt – im VaubanViertel: Ein alter Akupunkturpunkt der Erde, der in seinem jetzigen Zustand Energie schluckt und zur Energie-Leere in einem Teil des Viertels beiträgt, soll seine alte Kraft finden und zum Fluß und zur Lebensfülle beitragen.« (vauban actuel 4/2002: 5) Es ist in dieser Studie eines der wenigen Beispiele für eine Religionspraxis aus dem nicht-christlichen und nicht-muslimischen Bereich, die dezidiert eine Zuständigkeit für den öffentlichen Raum beansprucht.

b) Zugangsprobleme und -barrieren Die Zugänglichkeit des öffentlichen Raumes für Religion ist mitunter, wie schon anhand des Fastenbrechens auf dem Giesinger Grünspitz deutlich wurde, problematisch. Zuweilen bestehen Zugangsbarrieren, die auf Verhandlungen um die Legitimität von Religion im öffentlichen Raum zurückgehen. Diese werden in 6.3.3 behandelt. In Giesing ist der Fall komplexer, weil die Bedenken sich hier nicht auf den religiösen Charakter der Veranstaltung als solchen beziehen, sondern auf eher kulturell codierte Erwartungen an sichtbare öffentliche Zugänglichkeit. Andere Zugangsbarrieren für religiöse Präsenz in der Quartiersöffentlichkeit sind jedoch wesentlich schlichterer (und kontingenter) Natur, wie anhand der »DIALOG-Bank« sichtbar wird. Diese Sitzbank ist das Werk eines lokalen Künstlers, das im öffentlichen Raum vor dem evangelischen Kirchenladen im Freiburger Vauban aufgestellt werden sollte. In einer E-Mail beschreibt ein hauptamtlicher Mitarbeiter die Gestaltung des Möbels wie auch die Ziele und Wünsche, die mit ihm verbunden sind: »Der Wunsch von Seiten des Ladenteams und [der] hauptamtlichen Seite [war es,] den Raum vor dem Kirchenladen unter der Arkade zu einem Kommunikationsort werden zu lassen. Die Idee einer Bank bestand schon länger. Mit der Bank sollte dann auch ein mehrdimensionaler DIALOG-Ort entstehen […]. Die Bank ist gespickt mit Zitatfragmenten aus Interviews, die [der Künstler] zum Thema Kunst und Kirche mit Personen aus diesem Bereich in [unserer Stadt] führte. […] Wir wollten mehr Präsenz und Sichtbarkeit im Stadtteil schaffen, und die Bank wäre ein Ansatz dafür gewesen: Menschen setzen sich, werden aufmerksam und sitzen vor der ›Kirche‹.« (Reese, FB) Die Idee der DIALOG-Bank verbindet also das Ziel religiöser Präsenz in der Öffentlichkeit der Stadt mit einer religiös konnotierten Herstellung von Öffentlichkeit durch die Erzeugung eines Ortes für Kommunikation (siehe 6.3.4). Doch verschiedene Hindernisse haben bisher dazu geführt, dass die Bank noch nicht im Stadtraum aufgestellt werden konnte. Der hauptamtliche Mitarbeitende benennt vielfältige Gründe:

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»Wir haben versucht, über Fundraising die Bank zu finanzieren, was aufgrund zeitlicher Engpässe nicht funktionierte. [Der Künstler] hat die Bank dann zur Verfügung gestellt. Die Finanzierung steht […]noch aus. Dann kam in der Absprache mit dem Vermieter das Thema ›Kommunikationsort und Ruhestörung‹ auf, weshalb wir zurückhaltend waren. Dann tauchte die Idee mit Rollen auf, um die Bank flexibel im Außenbereich aufzustellen oder zu befestigen. Auch das wurde nicht zu Ende geführt. Zwischenzeitlich war klar: Wir benötigen ein Gesamtkonzept für diesen Bereich auch mit einem Kirchenhinweisschild. Was wiederum Gespräche mit den Behörden beinhaltete. So ist die Bank bisher im Kirchenraum stehen geblieben und hat noch nicht ihre ursprüngliche Funktion erhalten können. Im Rahmen von Liturgien habe ich sie bereits eingesetzt oder als Sitzgelegenheit oder Spielgelegenheit […] wird sie rege wahrgenommen. Die Zitate führen auch zum Gespräch. 2014 haben wir einen Antrag an die [Pfarrgemeinde] gestellt, im Rahmen einer Kirchgeld-Sammlung das Projekt zu finanzieren. Das hat geklappt. Nur kamen wir bisher noch nicht dazu, es umzusetzen. Zur Zeit wird das Thema aber wieder von den Gremien aufgegriffen, und voraussichtlich im nächsten Jahr könnte es gelingen, dass wir die Bank nach draußen bringen.« (Reese, FB) Es ist also keine religionsfeindliche Atmosphäre, die bisher ein religiöses Zeichen im öffentlichen Raum verhindert hat. Vielmehr hat ein hochgradig kontingentes Konglomerat aus Regularien, eigenen Ressourcen, Prioritätensetzungen und Gremienprozessen bisher dieses Projekt verhindert. Nicht nur, aber gerade in neuen Stadtquartieren, in denen keine sichtbaren religiösen Gebäude vorhanden sind, ist Religion an den öffentlichen Stadtraum gewiesen, um allgemein sichtbar zu sein. Infolgedessen muss sich dieser öffentliche Raum immer wieder neu als zugänglich für religiöse Präsenz erweisen.

6.3.2 Öffentliche Zugänglichkeit religiöser Gebäude und Gelände Umgekehrt besteht die Frage nach der Zugänglichkeit der religiösen Gebäude und Gelände für eine allgemeine Öffentlichkeit (oder Teile von ihr). Allgemein lässt sich feststellen, dass »insbesondere architektonische und städtebauliche Merkmale […] Offenheit oder Geschlossenheit, Exklusivität oder Zugänglichkeit« signalisieren (Wehrheim 2011: 170). So bringen Kirchenräume klassischerweise durch ihre »Gestaltung eine deutliche Distinktion zu der umgebenden Bebauung zum Ausdruck« (Beyer 2008: 17). Diese Unterscheidung ist bei mehreren der untersuchten religiösen Orte, die sich an dem Konzept der in den 1960er Jahren von Ernst Lange initiierten Ladenkirche orientieren, bewusst aufgehoben. Das gilt für die Kirchenläden in der Heidelberger Bahnstadt, im Freiburger Vauban wie auch in der Karlsruher Südstadt. Ihre Außen- und Innenarchitektur lehnt sich an die Lebenswelt der Stadtteilbewohner an und ist bewusst niedrigschwellig konzipiert.

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a) Räumliche Zugänglichkeit Die Zugänglichkeit religiöser Räume hat zunächst Voraussetzungen auf der materiellen Ebene. Dazu gehört, dass bestehende Räume offen gehalten werden, das heißt: nicht abgesperrt und sichtbar als »offen« markiert sind. »Dass man [sich] am Mittag in der Mittagspause einfach in eine Kirche setzen und nachdenken kann.« – »Ja, ich denke sichtbar sein, im Sinne von: jeder kann kommen, wann er will und gehen wann er will, sind es natürlich die offenen Gebäude.« (Hessler, HDS) Weiterhin hängt die Zugänglichkeit mit der Infrastruktur im Viertel zusammen. Der Zugang zu religiösen Räumen über Straßen und das System des öffentlichen Nahverkehrs ist sehr unterschiedlich. Schienen sind kaum unüberwindbar, wo keine Brücken oder Bahnübergänge vorhanden sind. Auch große Straßen wie die Rüppurer Straße in Karlsruhe (siehe 5.2.1) wirken trennend. Dabei ist die Zugänglichkeit auch durch den Entwicklungsstand des Viertels bedingt. So liegt der kirchliche Raum in der Heidelberger Bahnstadt aufgrund der städtebaulichen Entwicklung zur Zeit der Datenerhebung noch am Ende einer Straße, die direkt an eine Baustelle anschließt. Unter anderem wegen dieser Baustelle kommen Passanten kaum je spontan am Kirchenraum vorbei. Drittens hat materielle Zugänglichkeit auch (innen-)architektonische Aspekte.14 Die genutzten Räume sind in der Regel multi-funktional angelegt. Sie sollen der Ausübung religiöser Vollzüge ebenso Platz bieten wie anderen Aktivitäten, beispielsweise Krabbelgruppen (Jaffke, de Koning 2016). Diese in der Einrichtung sichtbare Multi-Funktionalität erleichtert potenziell die Zugänglichkeit für unterschiedliche Gruppen. Zugänglichkeit bedarf ferner der »Zwischenräume« oder »Übergangsorte«. Diese, etwa in der gotischen Kathedrale die Treppe, das Eingangstor und die westliche Vorhalle, symbolisieren »einen Wechsel von einem Raum zum anderen und damit sich ggf. verändernde Normen und Zugangsberechtigungen« (Wehrheim 2011: 170). Beispiele für solche Übergangsorte und die Ambivalenzen ihrer Nutzung sind in Kapitel 2.3.1 eingehend beschrieben.

b) Zugangsprobleme und -barrieren Die Zugänglichkeit ist eine Frage »des räumlichen Drinnen- oder Draußenseins« und wird durch baulich-räumliche, rechtliche und symbolische Grenzen reguliert (Klamt 2012: 798). Sie bezieht sich jedoch auch auf den sozialen Raum und kann in diesem Fall mit dem Terminus der Teilhabe beschrieben werden. Dabei meint Teilhabe hier, wie im Folgenden anhand der kirchlichen Projekte in den untersuchten neuen Quartieren

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Für zwei der untersuchten religiösen Räume ist bekannt, dass die kirchlichen Gemeinschaften bei der Planung der Architektur nicht beteiligt waren, sondern diese lediglich angemietet haben und für die Ausgestaltung des Innenbereichs verantwortlich sind. Ein hauptamtlicher Mitarbeiter sagt über den kirchlichen Raum: »[Das ist] [e]in trapezförmiger Saal, […] von Bauseite schlüsselfertig so vorgesehen.« (Vollmer, HDB) Sie sind Beispiele dafür, wie »an der Herstellung, Pflege und Entwicklung öffentlicher Räume sehr verschiedene Akteure beteiligt sein können«, die ihrerseits unterschiedliche Interessen verfolgen (Selle 2010: 60).

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ausgeführt werden soll, dreierlei: Erstens finden sich im kirchlichen Umfeld Veranstaltungen, Treffen und Projekte, an denen Menschen unabhängig von ihrer finanziellen und sonstigen sozialen Situation teilnehmen können (sollen). Zweitens bestehen vielfach Möglichkeiten für Interessierte, die Räume und die dort stattfindenden Aktivitäten mitzugestalten. Drittens sind manche der Aktivitäten so angelegt, dass auch Menschen anderer Glaubensrichtungen und Weltanschauungen daran teilnehmen. Erstens werden also in den untersuchten religiösen Gebäuden und Geländen Veranstaltungen, Projekte und Treffen gestaltet, an denen Menschen ungeachtet ihres sozialen Status teilhaben können. Dies scheint vor dem Hintergrund wichtig zu sein, dass manche der untersuchten Stadtgebiete durch eine Bewohnerschaft geprägt sind, die in ihrer Mehrheit mit überdurchschnittlichen finanziellen Ressourcen ausgestattet sind. »Aber auch Angebote machen, die nichts kosten. Angebote machen, in denen Leistung keine Rolle spielt. Ist auch ganz wichtig, weil in den Fußballvereinen oder beim Hockey oder beim Golfen oder beim Rudern, da wird schon sehr viel Leistungsdruck auf die Kinder ausgeübt. Auch in der Musikschule geht es darum, wer nimmt teil an »Jugend musiziert«. Ja, und hier Angebote zu machen, die nichts kosten, wo man einfach mit dem hingeht, was man hat, und gemeinsam dann etwas auf die Beine stellt, ist auch ganz wichtig. Auch für die Senioren, von denen wir ja immer mehr haben werden.« (Hessler, HDS) Intendiert ist ein Ort, der nicht nach den Selektionskriterien und Rhythmen einer Leistungsgesellschaft funktioniert: »[D]amit wenigstens [unser Angebot] völlig entstresst [ist]. Man kann kommen und gehen, wann man will, und das genießen die Leute sehr. Dass sie halt doch noch um fünf [Uhr] für eine halbe Stunde kommen […]. Also, das ist total offen. Jeder kommt, geht, setzt sich hin, schwätzt, trinkt, Kinder spielen, einer kommt, einer geht […]. Wie in einem normalen Café muss man sich das eher vorstellen.« (Demant, KA) In sozial gemischten Stadtteilen sind kirchliche Projekte, Treffen und Kreise so angelegt, dass auch weniger wohlhabende Menschen an diesen teilhaben können. Angezielt sind Räume der Begegnung zwischen unterschiedlichen sozialen Schichten, wobei die ehrenamtlich Engagierten zumeist einem gut situierten Personenkreis entstammen: »Zurzeit kommen 15–37 Menschen pro Tag, vor allem Randständige […]. Aber es ist wirklich eine gute Stimmung, auch unter den Ehrenamtlichen […]. […] Ziel ist die Zusammenführung der unterschiedlichen Milieus. Aus dem Café sollen ›Mitmachangebote‹ entstehen.« (Degen, KA) Dabei gibt es innerkirchliche Diskussionen, welche Formen kirchlicher Veranstaltungen, Treffen und Kreise in geeigneter Weise Teilhabe ermöglichen, wie ein kirchlicher Workshop zeigte, wo es um die Profilbildungen unterschiedlicher Gemeinden ging. An dieser Veranstaltung nahmen professionell für die Kirche Tätige wie auch ehrenamtlich engagierte Personen teil. Ein Mann merkt an, dass für ihn der Gottesdienst und die Konzerte die größtmögliche Öffentlichkeit seien. Die Zukunft läge für ihn nicht in der Vernetzung der Krabbelgruppen. Eine Frau antwortet darauf, dass es verschiedene Türen gibt, und die Menschen diese Türen wählen würden. (FFT KA) Wer also teilhaben soll, ist durchaus umstritten unter de-

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nen, die für das Zugangsmanagement zuständig sind. Orientierungen an verschiedenen »Zielgruppen« konkurrieren hier miteinander. Teilhabe am sozialen Raum bedeutet zweitens, dass die Kirche den Menschen die Möglichkeiten bietet, Inhalte mitzugestalten. »[Di]eser Gedanke, also von diesem Namen Ladenkirche, den hatte ich schon so übernommen, so von diesem ursprünglichen Gedanken von Ladenkirche, der ja auch so ganz […] basisdemokratisch angelegt war. Also nicht wir machen als Kirche unsere Angebote, wie schon immer, und ihr kommt halt oder kommt nicht, sondern zu gucken, welche Leute wohnen hier, und wir überlegen zusammen. [Das] war schon der Grundgedanke, [das] so zu machen, und auch die Leute mit zu beteiligen und Raum zu geben.« (Demant, KA) Drittens sind manche Aktivitäten der kirchlichen Gemeinschaften in den untersuchten Stadtteilen so angelegt, dass sie für Menschen anderer Weltanschauungen offen sind, wie die Krabbelgruppe: »Aber der Rahmen an sich ist unchristlich, bewusst. Also es können auch muslimische Mütter theoretisch kommen, es war zwar sehr selten bisher der Fall, aber eben auch Konfessionslose so, dass sie nicht denken, ich werde hier irgendwie missioniert.« (Demant, KA) Diese Aussage bestätigte sich bei einer teilnehmenden Beobachtung, während der eine Frau meinte, dass sie keiner religiösen Gemeinschaft angehöre, aber die Möglichkeit, zur Krabbelgruppe kommen zu können, sehr schätze (FFT KA). Ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Kirche erzählt wiederum von einem Gottesdienst, den er für die Kinder eines evangelischen Kindergartens mit unterschiedlicher religiöser Herkunft gestaltet: »[D]ie [Kinder aus dem Kindergarten] kommen hierüber in die Kirche.[…] Und da feiere ich mit ihnen kleine Gottesdienste, viel Singen und Tanzen und natürlich biblische[] Geschichte, die dann mal dargestellt wird in der Mitte mit Figuren oder ein großes Bilderbuch, was ich hochhalte. […] Das ist was sehr Schönes, und da gibt es bislang auch noch keine große Befangenheit. Bei den muslimischen Eltern, es gibt bei einigen die große Offenheit, und das wird so der nächste Schritt sein, dass wir dann eben wechselseitig auch mal eine Moschee besuchen, gemeinsam mit diesen muslimischen Eltern und Kindern.« (Olschewski, KA) Teilhabe gibt Menschen die Möglichkeit, sich mit ihren Ideen einzubringen. Aus Sicht der professionell für die Kirche Tätigen sollen nicht Leistung und Wettbewerb im Vordergrund stehen, sondern das Gefühl der Annahme und der Wertschätzung. Das bedeutet, dass die Gemeinden nicht nur ein Programm anbieten, sondern Raum für andere Ideen und Impulse geben. Die Kreise, Projekte und Veranstaltungen werden teilweise so angelegt, dass sie auch von Personen besucht werden können, die nicht der Kirche angehören. In den Aussagen der Interviewten kommt dabei jedoch auch immer wieder das Bewusstsein zum Ausdruck, dass jede Strategie, Teilhabe zu eröffnen, ihre eigene soziale Selektivität freisetzt. Da gerade in neuen Quartieren, vermittelt über den Wohnungsmarkt, ohnehin eine erhebliche soziale Selektion besteht – man muss es sich leisten können, in

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einem hochpreisigen Neubauquartier zu wohnen –, zeigen sich kirchlich Verantwortliche bestrebt, mindestens diese Art der Selektion nicht auch noch zu verstärken.

c) Raumnutzung und Identität Die untersuchten Kirchengemeinden zeigen sich hinsichtlich der Verwendung ihrer eigenen Orte und Räume durch andere religiöse und nicht-religiöse Gruppen in unterschiedlichem Maße offen. Dabei sind Auseinandersetzungen um die Nutzung von Räumen, Gebäuden und die sie umgebenden Plätze zu beobachten. In der Karlsruher Südstadt sind neben der evangelischen Gemeinde zwei charismatische Gruppen angesiedelt, die Nehemia-Initiative und Gospel Tribe. Gospel Tribe signalisiert dabei Ansprüche auf die zur evangelischen Kirche gehörende Außentreppe, die von dieser zurückgewiesen werden. Im Interview fasst eine professionell für die Gemeinde Tätige dies in folgende Worte: »Die wollen am liebsten immer etwas auf unserer Kirchentreppe machen […]. Und singen dann bei uns fromme Lieder und irgendwie so etwas. […] Natürlich, wenn man etwas präsentieren will auf der Kirchentreppe, ist klasse. Wobei ich dazu sagen muss, ich sage nein. Ich sage, das ist unsere Kirchentreppe. Weil, es kommen Leute zu mir und sagen: ›[W]as ist das für ein Verein? Gehört der zu Euch oder so?‹ Und die Leute denken einfach, das sind wir. Und die Theologie kann ich einfach nicht unterstützen. Ja, das will ich auch nicht. Mit denen haben wir nichts zu tun.« (Degen, KA) Zwar ist die Kirchentreppe zunächst einmal ein Ort in der Öffentlichkeit und Kontaktzone für verschiedene Personengruppen in der Öffentlichkeit. Das »Nutzungsverbot« der Treppe für die Gruppe Gospel Tribe stellt jedoch eine Form der Abgrenzung durch die evangelische Gemeinde dar und ist Teil eines identitätsbildenden Prozesses. Die Kirchentreppe wird »zum Kristallisationspunkt von Brüchen und Differenzen« (Klamt 2012: 792). Aber auch innergemeindlich gibt es Auseinandersetzungen darüber, wer welche Räume benutzen darf. »Die Mitarbeiter [der Vesperkirche] wollen einfach was. […] Im ganzen Haus rennen die rum. Aber dann kommen eben andere und sagen: ›ist doch unser Gemeindehaus.‹« (Degen, KA) Die Antwort auf die Frage, wer kirchliche Räume nutzen darf, verweist auf Aushandlungen und Grenzziehungsprozesse. Diese finden zwischen religiösen Gemeinschaften und innerhalb von Gemeinden, aber auch zwischen religiösen und nicht-religiösen Gruppen statt. Die folgenden Zitate aus Freiburg stehen für viele ähnlich gelagerte Situationen, die in den Interviews Erwähnung fanden: »[D]a gibt es ganz unterschiedliche Erfahrungen. Das Problem sind eher die christlichfreikirchlichen Gruppen. Mit denen umzugehen. Weil, der Ansatz ist schon, hier auch einen theologischen Standard zu vertreten. […] wenn jetzt so eine religiöse Gruppe, sei es esoterisch oder nicht, reinkommt, dann müssen die auch gewissen Standards genügen. Ja […] der Raum, der steht für was. Die Angebote, die hier drin sind, die müssen auch dem entsprechen, was uns wichtig ist. Und das ist, dass wir als Menschen gu-

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ten Willens eine Verantwortung für unsere Gesellschaft miteinander haben. Und wenn die dann quasi gewisse ideologische oder totalitäre Ansprüche habe[n], dann geht das nicht. Und da kommt auch niemand so direkt. […] Ich habe Kontakte zu einzelnen Gruppen […], und die kommen dann auch und wollen den Raum mieten. Dann sage ich, was ist Ihr Angebot? Und macht das Sinn hier in diesem Raum? Können Sie damit, dass dieses Bild da hängt, das ein Kreuz da hängt? […] Das ist das eine, und das andere ist, hat der Raum auch das jetzt, was Sie für Ihr Angebot brauchen? Also, Spiritualität, Meditation ist sehr schwierig. Und dann erledigt sich das quasi auch von selber.« (Reese, FB) Hier wird Wert darauf gelegt, dass die Räume nur von Gruppen genutzt werden, die sich als zur lokalen Gemeinde und ihren Räumlichkeiten kompatibel zeigen. Die Abgrenzung ist nicht präzise formuliert und dürfte je nach Anfrage neu ausgehandelt werden. Diese fortgeschriebene Abgrenzung zu anderen ist mithin Teil eines Prozesses der Bestimmung gemeindlicher Identität. Die Gruppen, die diesen Raum nutzen wollen, können dabei aus unterschiedlichen Bereichen stammen. Während eines Treffens erzählt der Mitarbeiter, dass eine lokale jüdische Gemeinde die Räume für ihre Gottesdienste nutze (FFT FB). Eine ehrenamtliche Mitarbeiterin sagt dazu: »Aber seit einiger Zeit haben wir ja die jüdische Gemeinde […]. [Sie] feiert regelmäßig hier in unserem Raum ihren Sabbat, und das ist jetzt noch ganz jung, und aber das war eine ganz bewusste Entscheidung, die wir auch im Gemeinde-Team getroffen haben und gesagt haben: ›Ja, die haben keine eigene Heimat, räumliche Heimat und wir können denen eine Heimat, zumindest für ihre Feier bieten, dann wollen wir das auch tun‹.« (Jochum, FB) Das Zugangsmanagement verläuft mithin jedenfalls nicht entlang der Grenze christlich-nichtchristlich, sondern zeigt sich als wesentlich komplexer. Anderswo fordert ein Vertreter der Kirche explizit, dass ausschließlich christliche Gruppen die Räume nutzen dürfen: »Wenn Krabbelgruppen anfragen oder wenn jetzt irgendwelche anderen Vereine anfragen, [die] kein[en] Raum haben, dann dürfen die selbstverständlich [der] Meinung [meines Kollegen] nach in [unseren Raum] dauerhaft, wo ich dann echt auch gebremst habe und gesagt habe, ich finde, dass muss ein kirchlicher Raum sein. Und ich würde [das] gerne kirchlich beleben. Und wir müssen dann einen kirchlichen Akzent auch setzen. […] Das müsste religiös sein. Das muss ein christlicher Akzent sein.« (Vollmer, HDB) Als Institutionen im öffentlichen Raum haben Kirchen und Gemeinden ein Interesse, nur mit ›ihnen gemäßen‹ Inhalten und Praktiken assoziiert zu werden. Das kann zu Konkurrenzen führen, wie es die Meinungsverschiedenheiten um die Kirchentreppe in Karlsruhe zeigen. Den Verantwortlichen in den Gemeinden ist es zudem wichtig zu prüfen, inwieweit die anderen Nutzer:innen zur der Gemeinde passen, wenn sie diesen ihre Räume zur Verfügung stellen. Die Kriterien dieser Prüfung sind in der Regel Gegenstand dauerhafter Verhandlungen und nicht unumstößlich.

6. Öffentlichkeit

Insgesamt liegen, wie die Auswertung der Interviews, aber auch der teilnehmenden Beobachtungen kirchlicher Orte zeigt, die in der Kirche tätigen Personen Wert auf die Zugänglichkeit dieser Orte. Die Zugänglichkeit wird dabei auf der materiellen, der symbolischen und der sozialen Ebene ausgestaltet. In anderen Worten: Materielle Arrangements, alltägliche Praktiken und symbolische Markierungen greifen bei der Gestaltung zugänglicher religiöser Räume ineinander (Glasze, Mattissek 2009: 19).

6.3.3 Religion als öffentliche Angelegenheit Religion ist in Stadtquartieren ein öffentlicher Diskursgegenstand. Um ihre Legitimität in der Stadt, besonders im öffentlichen Raum, wird beständig öffentlich verhandelt. Dies wird insbesondere an der Rolle der Kirchen im multireligiösen Freiburger Stadtviertel Vauban deutlich.

a) Religiöse Gruppen als soziale Akteure Denn einerseits spielen die Kirchen eine erhebliche Rolle in diesem Stadtquartier: Sie sind intensiv in die Netzwerke des Stadtteils eingebunden. Hier haben sie gegenüber anderen »spirituellen« Anbietern eine herausgehobene Rolle, die nicht zuletzt auf ihren personellen, räumlichen und finanziellen Ressourcen beruht. Insbesondere kontinuierlich aktive Einzelpersonen haben hier eine große Bedeutung, da sie als Knotenpunkten in Netzwerken fungieren. Temporäre Rollen der Moderation von Konflikten (siehe 6.3.4) sowie der Koordination (Flüchtlingshilfe) werden diesen Einzelnen und mit ihnen der Kirche als solcher nicht nur zugestanden, sondern stoßen auf explizite öffentliche Anerkennung. Kirche ist ein etablierter Stadtteilakteur. Doch ihre Legitimität hängt aus der Perspektive eines hauptamtlichen Kirchenmitarbeiters daran, in der Öffentlichkeit des Stadtteils vornehmlich als sozialer und nicht als religiöser Akteur wahrgenommen zu werden: »In dem Moment, wenn es Sinn macht, dass wir was machen, dann kommt das auch an. Sonntagsgottesdienst spielt relativ wenig bis gar keine Rolle. Wenn es in den Sonntagsablauf einer Familie reinpasst, ist es gut, wenn nicht, muss es auch nicht sein. Aber wenn wir als sozialer Akteur eintreten, wie jetzt bei der Flüchtlingshilfegeschichte – da bin ich jetzt auch selber ganz überrascht – […], da sind die Widerstände nicht mehr so groß, vor fünf Jahren waren die massiver.« (Reese, FB) Doch zuweilen wird der Kirche gerade auch in der Rolle eines sozialen Akteurs mit Misstrauen begegnet: »Wir hatten einmal das Angebot gemacht, den Kirchenladen als Anlaufladen für die soziale Arbeit hier im Stadtteil laufen zu lassen, und es wurde abgelehnt vom Quartiersbeirat und vom Stadtteilverein mit der Begründung, es würde zu viel Geld kosten. Ohne das wir übers Geld gesprochen hatten. Dass es ganz klar getrennt sein müsse zwischen Kirche und Stadtteilangebot. Es könnte ja sein, dass Muslime kommen und nicht in die Kirche eintreten wollen. Aber Muslime gibt es hier nur marginal.« (Reese, FB) Dass sich die Hauptamtlichen dieser Spannung bewusst sind und hier sehr vorsichtig agieren, zeigt sich im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einer Kapelle im Stadt-

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Religion im urbanen Raum

teil, der eines Tages von kirchlich engagierten Bewohnern und Bewohnerinnen auf der Sitzung des ökumenischen Gemeindeteams geäußert wurde. Eine Frau, die sich im ökumenischen Gemeindeteam engagiert, sagt während der Sitzung, dass sie sich vor kurzem mit ihrer Nachbarin unterhalten habe. Dabei seien sie darauf gekommen, dass der Stadtteil eine eigene Kapelle bräuchte. Ihre Idee sei es, das ehemalige Gelände des Abpumpwerks hierfür zu verwenden. Die dort stehende Mauer könne man in die Kapelle integrieren. Der hauptamtliche Mitarbeiter sagt daraufhin, dass man zunächst schauen müsse, ob dieser Ort für eine Kapelle in Frage käme. Er führt weiter aus, dass man den Rückhalt aus dem Stadtteil bräuchte. Es gäbe hier eine Lücke. Jenseits der Möglichkeit, eine Kerze anzünden, bräuchte man hier einen Ort zur Erinnerung an die Verstorbenen. Leute für einen Gottesdienstraum zu gewinnen, sei schwer. Besser sei es zu argumentieren, dass man einen Ort für den Stadtteil gestaltet. Einen Ort für die Bedürfnisse des Stadtteils. Dann gäbe es auch Rückhalt aus dem Stadtteil. (FFT FB) In der Vorwegnahme eines möglichen Konflikts handelt der hauptamtliche Mitarbeiter in diesem Beispiel moderierend. Durch seine langjährige Einbindung in den Stadtteil antizipiert er, dass eine Kapelle als positionell-religiöser Raum wohl keinen Rückhalt bekäme, möglicherweise aber als allgemeiner Erinnerungsort mit einer religiös valenten, nicht aber explizit ›religiösen‹ Funktion.

b) Die öffentliche Legitimität von Religion Das Problem der öffentlichen Legitimität von Religion berührt sich mit dem in Kapitel 1 behandelten Thema von Zentralität und Marginalität von Religion im Quartier. Wieviel Religion verträgt das Viertel, wieviel Religion darf insbesondere an den zentralen stadtteilöffentlichen Ereignissen und Einrichtungen sichtbar werden? So werden die in Abschnitt 1.3.2 verhandelten Paradigmen des Stadtteilfestes und des öffentlichen Kulturkalenders hier noch einmal unter dem Gesichtspunkt der Öffentlichkeit analysiert. Prominent ausgetragen werden die Konflikte um die öffentlichen Legitimität von Religion anlässlich einer Ausrichtung des Stadtteilfestes insbesondere im Freiburger Stadtteil Vauban.15 Dort findet das Stadtteilfest einmal im Jahr statt und ist ein identitätsstiftendes Ereignis für das gesamte Stadtviertel. Auf dem Fest wird wie bei keinem anderen Ereignis in Vauban Öffentlichkeit hergestellt. Viele Stadtteilakteure nutzen diese Öffentlichkeit, um sich zu präsentieren. Die »Kirche im Vauban« versucht hier ebenfalls präsent zu sein, das heißt sakrale Praktiken und Rituale als festen und selbstverständlichen Bestandteils des Fests zu etablieren und zu tradieren. Dabei trifft sie im Stadtteil auf verschiedene Widerstände. Die Kirche im Vauban möchte zwar Teil des Stadtteilfestes sein, ihr ökumenischer Gottesdienst ist aber nicht Teil des offiziellen Programms. Lediglich auf dem Flyer, mit dem für das Fest geworben wird, gibt es einen kleinen Hinweis darauf, dass am Tag nach dem Stadtteilfest auch ein Gottesdienst stattfindet. Dieser Sachverhalt zeigt exemplarisch die Situation, in der sich die »Kirche im Vauban« befindet. Tritt sie als sozialer Akteur auf oder stellt Räume für die Stadtteilarbeit und -vernetzung bereit, wird sie akzeptiert, wie z.B. bei der Organisation des Stadtteilfestes. Sobald die Gemeinde aber versucht, als ›Religion‹ sichtbar zu werden, trifft sie auf Widerstand bzw. wird von der

15

Der folgende Textabschnitt wurde von Simon Wassenhoven (Heidelberg) verfasst.

6. Öffentlichkeit

»offiziellen« Stadtteilarbeit separiert.16 Das zeigt sich auch an der zeitlichen Segregation des Festprogramms. Samstags findet das offizielle Stadtteilfest statt, Sonntag dann gesondert der inoffizielle ökumenische Gottesdienst »zum« Stadtteilfest. Die »Kirche im Vauban« kann zwar im wahrsten Sinne des Wortes die »Bühne« des Stadtteilfestes nutzen, aber nur getrennt von den weltlichen Programmpunkten und erst, wenn das Fest offiziell schon vorbei ist. Umgekehrt schreiben die Mitarbeitenden der »Kirche im Vauban« dem Stadtteilfest eine erhebliche Bedeutung zu, wie ein Blick in das Stadtteilmagazin vauban actuel zeigt. Für kirchliche Akteure ist das Fest ein fester Bestandteil des jährlichen Zyklus ihrer religiösen Rituale. Der »zum« Stadtteilfest stattfindende ökumenische Gottesdienst auf dem zentralen Platz ist wesentlicher Bestandteil der Identitätsbildung der Gemeinde: Besondere Ereignisse werden hier »in der Öffentlichkeit« gefeiert, wie beispielsweise das zehnjährige Jubiläum der »Kirche im Vauban«. Die »Kirche im Vauban« versucht dabei, die durch das Stadtteilfest geschaffene Öffentlichkeit zu nutzen, um ihren Ort im Stadtteil zu behaupten und in transparenter Weise deutlich zu machen. Kirchenintern getroffene Entscheidungen oder auch die Wahl von Amtsträgern werden in der Öffentlichkeit des Stadtteilfestes präsentiert. Zum Gottesdienst am Stadtteilfest wurde z.B. eine »Kooperationsvereinbarung« zwischen der evangelischen Johannesgemeinde und der katholischen Gemeinde St. Peter und Paul unterschrieben. Diese Vereinbarung ist die Grundlage für die ökumenische Zusammenarbeit der beiden Gemeinden (vauban actuel 2010/02). Weiterhin wurden von den katholischen und evangelischen kirchlichen Räten die Personen für das neue ökumenische Gemeindeteam Vauban auf dem Stadtteilfest »berufen« (vauban actuel 2015/01). Auch wird das Stadtteilfest genutzt, um räumlichmaterielle Eingriffe in das Stadtteilbild durch die »Kirche im Vauban« zu präsentieren. Beispielsweise wurde die Gestaltung der Glasfassade des Kirchenladens so ausgeführt, dass sie zum Stadtteilfest fertig gestellt und der Öffentlichkeit präsentiert werden konnte (vauban actuel 2010/01). Das Stadtteilfest bildet so einen Fixpunkt, an dem die »Kirche im Vauban« ihren öffentlichen Ort und ihre Rolle im Quartier zeigt, behauptet und durch beständige Neuverhandlungen legitimiert. Ähnliche Verhandlungen ranken sich um die Frage, ob die kirchlichen Gottesdienste im Kulturkalender des Quartiers angekündigt werden oder nicht. »Also vom Thema Gottesdienst auf dem Kulturkalender. Das ist immer so eine Fragestellung gewesen, kann, darf das auftauchen innerhalb des Kulturprogramms. Das ist jetzt dieses Jahr nicht mehr so ein Thema, es gehört einfach dazu. Das war ein Bohren dicker Bretter. Im Quartiersbeirat hat man so immer das Gefühl gehabt, man ist halt so ein Anhängsel, aber wenn man nicht da wäre, wäre es auch nicht schlimm. Inzwischen werde ich angefragt, jetzt fürs nächste Mal das Programm quasi mitzugestalten.« (Reese, FB)

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Als Vermittlungsbegriff fungiert der Begriff des Spirituellen: Denkbar auf dem Stadtfest ist am ehesten noch so etwas wie Religion, aber ohne Abgrenzung zwischen verschiedenen religiösen Gruppen. Zum Spiritualitätsdiskurs vgl. Peng-Keller 2015. Andere Strategien der Legitimation sind die Unterscheidung von »Kirche« und »Religion« oder die Unterscheidung von »Religion« und »Kultur«. Siehe dazu auch oben Kapitel 3 zu Religionshybriden.

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Religion im urbanen Raum

Insgesamt ist Kirche im Vauban ein etablierter und anerkannter sozialer Akteur. Das Bild wandelt sich, sobald Kirche dezidiert als religiöser Akteur in der Öffentlichkeit auftritt und etwa einen Gottesdienst auf dem Stadtfest abhalten oder mit den eigenen Gottesdiensten im Kulturprogramm des Quartiers repräsentiert sein will. So wichtig diese Selbstverortung in der Stadtteilöffentlichkeit für die Kirche ist, so problematisch ist diese für andere Akteure. Von ihnen wird der öffentliche Raum offenbar als ein säkularer verstanden und muss als ein solcher behauptet werden. Gelingt dies nicht, so muss wenigstens eine religiöse Neutralität dadurch gewahrt werden, dass nicht nur die christliche Kirche, sondern auch andere spirituelle Akteure einen Zugang zur Stadtteilöffentlichkeit erhalten. Da diese jedoch kein Interesse etwa an einer spirituellen Feier zum Stadtteilfest haben, bleibt ein christlicher Gottesdienst, der jedoch durch ein aufwändig verhandeltes Zugehörigkeits- und Abgrenzungsmanagement (anlässlich des Stadtfestes, auf der Bühne des Stadtfestes, aber nach dem offiziellen Ende des Stadtfestes) zum säkularen Ereignis des Stadtfestes auf Distanz gehalten wird. Mehrfach klingt dabei die Beobachtung an, dass die Verhandlungen um ihre öffentliche Legitimität für die Kirche sich in letzter Zeit einfacher gestalten. Ob es sich dabei um einen Kohorteneffekt handelt, ob also eine durch spezifische Abstoßungsreflexe gegenüber Religion geprägte Generation sukzessive durch pragmatischere Jüngere ersetzt wird, oder ob aufgrund einer kontinuierlichen Arbeit das lokale Zutrauen an Kirche wächst, kann hier nicht entschieden werden. Es ist aber festzuhalten, dass in einer pluralen religiösen Topographie, wie sie in Freiburg vorliegt, die Frage nach der öffentlichen Legitimität von Religion komplexer wird und religiöse Akteure sich ihre Orte in der Öffentlichkeit des Viertels aufwändiger erkämpfen müssen, als dies in den nach wie vor stark durch die zweigliedrige Parität von »evangelisch« und »katholisch« geprägten Vierteln der Fall ist. An einer anderen Stelle des Ringens um öffentliche religiöse Legitimität steht die Blankenburger Ahmadiyya-Moscheegemeinde (siehe 9.3.3 b). Vertrauen in die Gemeinde, so heißt es hier, soll aufgebaut werden durch Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten: »Wir wollen der Gesellschaft einfach so viel geben, dass sie endlich erkennt: Hey, das sind Menschen, die zum Geben gekommen sind. Weil das schafft Vertrauen. […] Man beteiligt sich an etwas. Und wenn man sich an etwas beteiligt, wenn man etwas leistet… Dann hat man Vertrauen, Sympathie.« (Zafar, BB) Die Intention ist hier, die Legitimität der eigenen Präsenz als religiöser Akteur im Stadtviertel durch eine spezifische öffentliche Beteiligung – etwa am Dorffest, durch den Betrieb eines Spielplatzes, durch eine Aktion, am Neujahr die Straßen zu fegen – zu stärken. Die Öffentlichkeit des Quartiers ist die Bühne der Legitimation, auf der man nicht im Modus der Forderung, sondern im Modus des »Gebens« auftreten will. Wer sich als guter Nachbar erweist, den wird man dann hoffentlich auch als Muslim akzeptieren. Insgesamt versteht sich Religion in der Stadt nicht von selbst und muss sich beständig legitimieren. Das ist ein Verhandlungsprozess zwischen den verschiedenen öffentlichkeitskonstituierenden Akteuren im Quartier (also etwa zwischen ›Religiösen‹ und ›Nichtreligiösen‹). Dabei lassen sich unterschiedliche Legitimationsstrategien aufzeigen: (1.) Es wird versucht, ›nicht religiös‹ zu erscheinen, sondern als ›sozial‹ oder

6. Öffentlichkeit

›kulturell‹ wahrgenommen zu werden. (2.) Es wird versucht, sich als religiös plural oder interreligiös offen zu zeigen, also für eine »Spiritualität« ohne Abgrenzungen zu stehen (siehe dazu auch Kapitel 7 zur normativen Interreligiosität). (3.) Die Gegenstrategie ist es, sich sichtbar als ›religiös‹ zu präsentieren (Kleidung, Semantiken, Symbole etc.) und den Anspruch auf eine öffentliche Legitimität als Religiöse zu erheben. (4.) In abgeschwächter Form wird versucht, »einfach gute Nachbarn zu sein«, die als solche Anerkennung beanspruchen können und dann eben auch noch religiös sind.

6.3.4 Religiöse Herstellung von Öffentlichkeit Religion fungiert in den untersuchten Quartieren in vielfacher Hinsicht als Produzentin von Öffentlichkeit. Das gilt zunächst in räumlicher Hinsicht. In den untersuchten Stadtteilen artikulieren insbesondere die Vertreter:innen kirchlicher Einrichtungen und Gemeinschaften nahezu durchweg das Anliegen, Begegnungsmöglichkeiten zu schaffen. Diese sollen den Mangel anderer öffentlicher Räume wie beispielsweise Jugendtreffs und Stadtteilzentren ausgleichen: »Aber was braucht es für Familien, für Leute […] jeden Alters, im Grunde im [Stadtteil], wo wir als Kirche dann auch einen Beitrag leisten können. Begegnung schaffen, Raum zur Verfügung zu stellen, Angebote zu machen.« (Kuhnert, HDB) »[E]s waren eben vor allem dann so junge Mütter, die natürlich dann zuhause saßen plötzlich mit ihrem kleinen Kind […]. Und, also da hast du gemerkt, da ist bei vielen doch großer Bedarf da. Und vor allem dann auch noch Leute, die womöglich von einer anderen Stadt kommen und hier gar kein soziales Netz bisher hatten, und für die ist es dann noch mal schlimmer, […] dann nur zuhause zu sitzen, und dann war das für manche schon bisschen so ’ne Rettungsinsel am Anfang.« (Demant, KA) Die Interviewbeispiele zeigen, dass gerade in den neueren Stadtteilen, wo noch Infrastruktur fehlt, ein hoher Bedarf an informeller wie auch strukturierter Begegnung wahrgenommen wird. Dies betrifft nicht ausschließlich junge Familien beziehungsweise junge Mütter, sondern auch weitere Personengruppen, die von einem Interviewpartner als »randständig« bezeichnet werden: »[W]eil immer schon direkt die sozialen Probleme auf der Kirche, schon in der Kirche, auf der Kirchentreppe waren und letztlich auch in die Kirche hineingeragt haben, ist das jetzt kein Zufall, dass gerade bei uns ein diakonischer Schwerpunkt entstanden ist.« (Erdmann, KA) Die allgemeinen Angelegenheiten des Viertels werden als eigene Angelegenheiten der Kirche verstanden. Das ist jedoch keinesfalls selbstverständlich; unterschiedliche Religionsgemeinschaften unterhalten verschiedene Verhältnisse zur allgemeinen Stadtöffentlichkeit und verhalten sich unterschiedlich zu den darin verhandelten Angelegenheiten. Aufgrund der Bedeutung dieses Themas, das nun systematisch zu entfalten wäre, ist ihm ein eigenes Kapitel gewidmet (siehe Kapitel 10).

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Religion im urbanen Raum

6.4 Fazit Religionen sind auf ganz verschiedene Arten und Weisen im öffentlichen Stadtraum präsent. Sie prägen ihn durch signifikante Bauwerke, durch öffentlichkeitswirksame Institutionen und Einrichtungen, durch Mitgestaltung des öffentlichen Lebens. Gerade in neuen Stadtquartieren ist Religion im öffentlichen Raum zumeist ambulant präsent. St.Martins-Umzüge, spirituelle Erdheilungsrituale, Gottesdienste zum Stadtfest und ähnliche Raumpraktiken müssen ohne den Geltungsschutz geprägter religiöser Räume auskommen. Für die Akteure heißt das: Solcherlei ambulante Religion braucht umso mehr Mut, je weniger selbstverständlich sie ist. Öffentliche, das heißt dem Anspruch nach: allgemein zugängliche Räume sind immer begrenzt. Sie sind also Austragungsorte für Konkurrenzen. Wer darf im Viertel eine karitative Altpapiersammlung durchführen, auf wessen Angebote wird im Schaukasten des Stadtteilvereins hingewiesen, wer hat einen Stand oder eine Bühne beim Stadtteilfest? Gerade für Gemeinden sind Fragen der Raumnutzung und -gestaltung Anlässe, die eigene Identität zu verhandeln: Für wen gibt es Angebote im Kirchenladen, wer singt Gospels auf unserer Kirchentreppe, wer darf noch unsere Räume nutzen, hängt da ein Kreuz und wie groß ist es? In vielen vermeintlich pragmatischen Fragen geht es ans Eingemachte. Religion in der Stadt versteht sich in der Regel nicht von selbst und muss sich legitimieren. Beständig wird darüber verhandelt, wie viel »Religion« in der Öffentlichkeit des Viertels sichtbar sein darf (Schaukasten, Stadtteilgottesdienst etc.). Das gilt desto so mehr, je stärker Religion nicht nur als motivationaler Hintergrund sozialer Akteure fungiert, sondern auch in erkennbar ›religiösen‹ Vollzügen wie Gottesdiensten und Andachten öffentlich zu werden beansprucht. Je ›spiritueller‹, das heißt je weniger positionell abgrenzend ein religiöser Vollzug dabei erscheint, desto höher dürften vielfach seine Chancen auf Legitimität sein. Öffentlichkeit selbst ist dabei gerade in neuen Stadtquartieren eine knappe Ressource. Wieviel an Raum kann angesichts ökonomischen Drucks dauerhaft zugänglich gehalten werden (Öffentlichkeit 1), und in welchem Umfang gibt es Orte, Plattformen und Praktiken, in denen um gemeinsame Belange eines Quartiers oder einer Stadt verhandelt wird (Öffentlichkeit 2)? Die Bilder einer »Gated Community« und der »Schlafstadt« sind Imaginationen einer vollständig privatisierten, aller Öffentlichkeit entledigten Urbanität. Initiativen wie die Soziale Stadt suchen das zu verhindern und Öffentlichkeit im Sinne einer »Bürgerstadt«17 zu fördern; es ist zu fragen, wie nachhaltig solche geförderten Formen von Öffentlichkeit auch über den Wegfall der Fördergelder hinaus sind. Vorstellungen von Öffentlichkeit sind durch konkrete, implizite und z.T. explizite Regeln sowie materiale Erwartungen strukturiert. Öffentlich Engagierte richten wechselseitig Beteiligungserwartungen aneinander. Diese können religiöse Gruppen, die solche Öffentlichkeitsfunktionen immer nur bedingt abdecken können, überfordern; nötig sind

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Zur Unterscheidung der Paradigmen »Bürgerstadt« (Herstellung von Öffentlichkeit), »Moderne Großstadt« (Bearbeitung von Entfremdungserfahrungen) und »Pluralistische Stadt« (Umgang mit Segregationseffekten) vgl. Eckardt 2012.

6. Öffentlichkeit

jeweils Entscheidungen: Wo und inwieweit beteiligen wir uns, machen wir Öffentlichkeit mit, welcher Legitimationsdruck besteht, welche public relations sind sinnvoll? Religiöse Gruppen im Quartier leben mit ganz unterschiedlichen Konzepten von Religion und Öffentlichkeit. So lassen sich sehr verschiedene Weisen beobachten, wie diese ihre Öffentlichkeitsbezüge wahrnehmen und gestalten. Zuweilen geht es darum, die Zugänglichkeit der eigenen Gebäude und Gelände zu erhöhen und sich der städtischen Umgebung zu »öffnen«, die dann zu einem Teil der eigenen inneren Öffentlichkeit werden soll; zuweilen darum, stellvertretend für die und/oder als Teil der Stadtgesellschaft den öffentlichen Raum zu gestalten und so selbst zum Teil einer größeren Öffentlichkeit zu werden. Solche Alternativen verweisen auf unterschiedliche Ideen des Öffentlichen, die ihrerseits auch theologisch unterschiedlich gedeutet werden können (siehe 9.3.3). Bei aller Unterschiedlichkeit der Erscheinungsformen von Religion lässt sich doch eine gewisse Affinität von Religion zur Öffentlichkeit wahrnehmen. Diese Affinität ist im Transzendierungsmoment des Religiösen zu suchen. Religion bedeutet, Abstand zu nehmen in Besinnung oder Ekstase, das Vorhandene auf ein Größeres hin zu übersteigen, das Bestehende in einem Raum des Möglichen zu bedenken. Auch das Kommunikationsmoment von Religion ist hier einschlägig: Religion lebt in Kommunikation und in der Regel in der Bildung von Gruppen, in denen dann ›innere‹ Öffentlichkeiten entstehen. Monotheistische Religionen arbeiten zudem mit starken Einheitsfiguren von »Welt« oder »Menschheit«. Alles zusammengenommen besitzt Religion eine strukturelle Affinität zu Praktiken der Produktion von Allgemeinheit und Öffentlichkeit.18

18

Siehe dazu auch Kapitel 10 zum bürgerschaftlichen Engagement.

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7. Interreligiosität

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Religiöse Pluralität und Interreligiosität

Städte sind Orte interreligiöser Aktivitäten, Initiativen, Projekte. Interreligiosität ist, so scheint es, ein gemeinsames Ziel, auf das sich unterschiedlichste religiöse und säkulare Akteure verständigen können. Interreligiosität ist gut; am besten wäre ein »House of One«, wie es in Berlin entsteht.1 Doch woher stammt diese Wertschätzung des Interreligiösen, die im Folgenden normative Interreligiosität genannt werden soll? Wer verbindet welche Erwartungen mit Interreligiosität, und wie wirken diese Erwartungen auf religiöse Akteure zurück? Das wird in diesem Kapitel anhand interreligiöser Initiativen für das neue Stadtquartier »Mitte Altona« in Hamburg dargestellt. Dabei soll die These belegt werden, dass Interreligiosität in mehrfacher Hinsicht als diejenige Form religiöser Präsenz gilt, die als spezifisch »urban«, stadttypisch und stadtangemessen angesehen wird. Die Stadt ist nicht nur ein prominenter Ort religiösen Lebens, sondern bereits seit der Antike ein Ort religiöser Vielfalt, des Nebeneinanders verschiedenster Religionen und Kulte. Durch räumliche Verdichtung existieren Religionen nahe beieinander, durch Schaffung sichtbarer religiöser Orte wird religiöse Vielfalt augenfällig, und durch Ressourcenknappheit und andere Rahmenbedingungen kommen verschiedene Religionen auch in Kontakt miteinander (Nagel 2015: 122f). Wenn die Gegenwart als Situation religiöser Pluralisierung erscheint, so wird diese Pluralisierung vor allem im urbanen Kontext manifest und erfahrbar. Die folgende Beschreibung gilt daher vor allem für die Stadt: »Die Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen ist zu einer alltäglichen Erfahrung geworden. Zuwanderung, ›Entkirchlichung‹ und vielfältige Formen individueller Selbstentfaltung führen zu einer religiösen Pluralität, die inzwischen weithin als Normalfall unser Leben bestimmt und prägt.« (EKD 2015: 13) Die in der vorliegenden Studie untersuchten Stadtquartiere weisen unterschiedliche religiöse Topographien auf, die auch in unterschiedlicher Weise plural verfasst sind. So gibt es Viertel wie die Südstadt in Heidelberg, in der eine Reihe christlicher Gemeinschaften öffentlich sichtbar, andere Religionsgemeinschaften aber allenfalls im Privaten 1

https://house-of-one.org/de, abgerufen am 16.11.2019.

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Religion im urbanen Raum

oder durch anderswo lokalisierte Angebote aktiv sind. Auf der anderen Seite stehen Viertel in Freiburg oder Hamburg, wo eine Vielzahl verschiedenster religiösen Aktivitäten und Gruppen sichtbar ist. Manifeste religiöse Pluralität in der Stadt stellt dabei in vielfacher Hinsicht eine Herausforderung dar. Dies gilt für die Anhängerinnen und Anhänger einzelner religiöser Gruppen, insbesondere sofern diese einen exklusiven religiösen Wahrheitsanspruch vertreten. Die Nähe zu und die alltagsweltliche Konfrontation mit anderen Religionen, deren Repräsentant:innen und Praktiken, sowie gegebenenfalls die Präsenz andersreligiöser repräsentativer Sakralbauten zeigen unmissverständlich, dass die eigenen Wahrheitsansprüche nicht unbestritten und die eigenen starken Bindungen nicht alternativlos sind. Eine religiöse Gruppe muss sich zu den Wahrheitsansprüchen der anderen ins Verhältnis setzen – und sei es im Modus der Ausblendung oder gar der Verteufelung. Sichtbare religiöse Pluralität ist aber auch eine Herausforderung für die Stadtgesellschaft insgesamt, die daran ihrer eigenen Vielfalt und Diversität ansichtig wird.2 Die Diversität der Religionen wird zum Paradigma für gesellschaftliche Diversität überhaupt; das friedliche Zusammenleben unter den Religionen zum Modellproblem für friedliche Koexistenz in einer Gesellschaft. Das gilt insbesondere für die letzten beiden Jahrzehnte, in denen – nicht zuletzt im Rekurs auf den 11. September 2001 und auf eine behauptete »Rückkehr der Religionen« (Riesebrodt 2000) – Konflikte vielfach als Religionskonflikte gerahmt wurden. Der »Clash of Civilizations« (Samuel Huntington) erscheint vor allem als Konfrontation der Religionen. Religion wird als gärendes, unruhiges, konfliktgeneigtes und potenziell gewaltsames Moment von Sozialität wahrgenommen; sie ist darin Attraktion und Bedrohung zugleich. Die Pazifizierung religiöser Vielfalt wird so zur Integrationsaufgabe schlechthin. Verstärkt wird diese Wahrnehmung durch den Zusammenhang von Migration und Religion. Religiöse Pluralität in Städten entsteht nicht zuletzt durch die Vielfalt von Migrationsgemeinden (Thiesbonenkamp-Maag 2014; Polak, Reiss 2015). Umgekehrt werden Migrantinnen und Migranten, die zur Zeiten der »Gastarbeiter« in Deutschland in aller Regel ethnisch bzw. national gelabelt wurden, in den letzten Jahrzehnten vor allem als Vertreter und Vertreterinnen einer Religion, konkret: des Islam, wahrgenommen (Kanitz 2017: 78). Wo von religiöser Pluralität gesprochen wird, sind demzufolge oftmals auch Aspekte ethnischer Differenz und Migration gemeint. »Religion« wird zum SuperLabel für verschiedenste Differenzmarkierungen. In den Städten der Gegenwart als prominenten Orten religiöser Pluralität entsteht also ein doppelter Bedarf: zum einen nach Modellen der Deutung religiöser (und damit gesellschaftlicher) Pluralität, und zum anderen und damit verbunden nach pragmatischen Umgangsformen mit religiöser Vielfalt in ihrer jeweiligen lokalen Ausprägung. Doch religiöse Pluralität wird nicht allein als Motor des Konflikts wahrgenommen. Auch wenn Religion seit der frühen Neuzeit im Gefolge von Reformation und Konfessionskriegen als plural und konflikthaft erscheint, werden immer wieder auch Stimmen 2

Christoph Schwöbel sieht den religiösen Pluralismus als spezifisches Kennzeichen der Neuzeit (Schwöbel 2003), wohingegen Hans Kippenberg den religiösen Pluralismus als Normalfall schon seit der Antike wertet (Kippenberg, von Stuckrad 2003); vgl. dazu Baumann, Behloul 2005: 10.

7. Interreligiosität

laut, die Religion als Motor sozialer Integration verstehen. Neben Irenikern wie Georg Calixt sind hier insbesondere die Frömmigkeitsbewegungen zu nennen. So richtete der Herrnhuter Pietismus verschiedene »Tropen« für differente christliche Konfessionen ein und inszenierte sorgfältig deren Einheit. Auch ein jüdischer »Tropos« war angedacht, wurde aber nicht realisiert. Gerade weil Religion auf die starken Bindungen der Einzelnen zugreift (und damit potenzieller Auslöser von Konflikten ist), vermag eine Integration religiöser Differenz, so diese Hoffnung, Gesellschaften zu befrieden. Wenn dies nicht mehr im Modus konfessioneller Homogenisierung – cuius regio, eius religio – geschehen kann, dann eben dadurch, dass die verschiedenen Konfessionen bzw. Religionen selbst ein konstruktives Verhältnis zueinander unterhalten. Im 20. und beginnenden 21. Jahrhundert steht dies als ein Impuls hinter der christlichen ökumenischen Bewegung, aber auch hinter darüberhinausgehenden Versuchen des interreligiösen Dialoges.3 Für den deutschen Kontext ist hier insbesondere der jüdisch-christliche Dialog nach 1945, insbesondere seit den frühen 1960er Jahren, maßgeblich geworden. Mit ihm sollte eine religiöse Brücke über den monströsen Kulturbruch gespannt werden, den christlicher Antijudaismus und biologistischer Antisemitismus heraufgebracht hatten. Später wurden auch christlich-muslimische Dialoge geführt und versucht, einen jüdisch-christlich-muslimischen Trialog, gar eine »abrahamitische Ökumene« (Hans Küng; Karl-Josef Kuschel), auf Dauer zu stellen. Auf theoretischer Ebene entstanden verschiedenste Ausprägungen einer Theologie der Religionen. Sie versuchten, die alte, in Aufklärung und Romantik je auf ihre Weise formulierte Idee eines Gemeinsamen, gar: Einen, hinter den diversen Religionen zu erneuern (Danz 2006; Wrogemann 2015). Einen religionstheologischen Pluralismus formulierten der Presbyterianer John Hick (Hick 1988) und der Katholik Paul Knitter (Knitter 1988). Auch das auf moralische Übereinkünfte fokussierte »Weltethos«-Projekt Hans Küngs gehört in diese Tradition, ebenso wie Konzepte eines bekenntnisneutralen, überkonfessionellen Religionsunterrichts (Bernhardt 2005). In einer offenen und respektvollen Begegnung der verschiedenen Religionen, so die gemeinsame Hoffnung dieser Denkrichtungen, wird sich mehr als ein harter Partikularismus des Religiösen zeigen, in dem das Verschiedene lediglich unvereinbar nebeneinandersteht. Vielmehr wird auch ein zu erahnendes, formulierbares oder wenigstens praktisch ins Werk zu setzendes Gemeinsames zu Tage treten, das hinter der Vielfalt der Traditionen etwas von der Einheit der Menschheit darzustellen vermag.4

3

4

Zum interreligiösen Dialog im Kontext der ökumenischen Bewegung vgl. die Weltkonferenz des ÖRK 1968 in Uppsala und die Grundsatzerklärung des Zentralausschusses des ÖRK 1971 (Wrogemann 2013). Selbstverständlich sind solche Unternehmungen nicht unwidersprochen geblieben. Kritik kam sowohl von liberaler Seite, wo man mit Friedrich Schleiermacher die Unhintergehbarkeit positiver Religionen betonte (der freilich selbst in seinen »Reden« das Bild einer religiösen Urszene hinter den Religionen beschwor), wie von konservativer Seite, wo man auf dem exklusiven Wahrheitsanspruch der Offenbarung in Jesus Christus bestand (Bürkle 1994: 65). Von kulturwissenschaftlicher Seite kommt der berühmte, zugespitzt von Jan Assmann formulierte Verdacht gegen die monotheistischen Religionen, nicht pluralismusfähig zu sein, da sie die »mosaische Unterscheidung« von wahrer und falscher Religion im Zentrum trügen.

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Religion im urbanen Raum

Noch hiervon inspiriert, aber bescheidener verfährt die sogenannte Komparative Theologie, in Deutschland vertreten von Klaus von Stosch und dem Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn (Bernhardt, von Stosch 2009). Sie verzichtet darauf, ein interreligiös Gemeinsames zu adressieren und »verfolgt die Zielrichtung, konfessionelle Theologie im Gespräch mit anderen Religionen und deren Theologien zu entwickeln«.5 Doch auch dieses Unternehmen muss immerhin die Möglichkeit (und Wünschbarkeit) einer mindestens partiellen und transversalen Verständigung zwischen Religionen voraussetzen. Direkt zusammengedacht werden religiöse und soziale Integration in dem ebenfalls auf Gedanken der Aufklärung fußenden, schillernden Begriff der Zivilreligion. Von Robert Bellah zur Analyse der US-amerikanischen Gesellschaft aufgenommen (Bellah 1967), benennt er einen von den positiven Religionen unterschiedenen, von allen Mitgliedern eines Gemeinwesens geteilten, dem politischen Diskurs vorgelagerten und damit entzogenen Bestandteil politischer Kultur. Die Zivilreligion stellt Symbole, rhetorische Topoi, Rituale und Grundüberzeugungen bereit, die eine Gesellschaft so weit integrieren, dass ihre politischen Institutionen funktionieren können. Ob und inwieweit dieses Konzept auf Deutschland übertragen werden kann, ist umstritten (Schieder 2001).6 So unterschiedlich diese Konzepte sind, so ist doch die ihnen gemeinsame Idee religiöser Integration in pazifizierender Absicht ein Topos, der auch und gerade im urbanen Kontext begegnet. Auf welche Weise dieser in den untersuchten Stadtquartieren wirksam ist, wird im Folgenden zunächst am Beispiel Hamburg Altonas ausgeführt (7.2). Im Anschluss daran wird gezeigt, welche Auswirkungen die Erwartung, interreligiös engagiert zu sein, auf religiöse Akteure und Praktiken in verschiedenen Quartieren hat (7.3). Ein Fazit fasst die wichtigsten Beobachtungen zusammen (7.4).

7.2 Interreligiosität als Bewältigung religiöser Diversität Hamburg Altona, und darin das Neubauquartier »Mitte Altona«, ist ein von sozialer Diversität und religiöser Pluralität gekennzeichneter Stadtteil (7.2.1). Interreligiosität spielt im Kontext der Planungen für das neue Viertel eine wichtige Rolle. Zum einen sind Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften involviert. Zum anderen kommt in den Planungen auch immer wieder die Idee eines interreligiösen Ortes und anderer interreligiöser Aktivitäten auf (7.2.2). Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass die verschiedenen religiösen (7.2.3) und säkularen (7.2.4) Akteure,7 die sich zur Interreligiosität positiv verhalten, damit ganz unterschiedliche Interessen verbinden. Diese gilt es abschließend zu systematisieren (7.2.5).

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https://kw.uni-paderborn.de/zekk/was-ist-das-zekk/, abgerufen am 16.11.2019. Siehe dazu auch Kapitel 10 zum bürgerschaftlichen Engagement. Bei dieser Unterscheidung handelt es sich nur um eine grobe Heuristik, die die Einsichten von Kapitel 3 zur Hybridität des Religiösen nicht unterlaufen soll.

7. Interreligiosität

7.2.1

Mitte Altona (Hamburg)

Hamburg-Altona ist einer von sieben eigenständigen Verwaltungsbezirken der Freien und Hansestadt Hamburg. Er ist wiederum in 14 Stadtteile unterteilt. Das Neubaugebiet, das im Fokus der Untersuchung steht, wird auf der Grenze zwischen den drei Stadtteilen Altona-Altstadt, Altona-Nord und Ottensen errichtet. Hier liegen die Gelände des Fernbahnhofs Hamburg-Altona und des Güterbahnhofs, der aufgegeben und weiter nördlich neu erbaut werden soll. Entlang der alten Bahnschienen verläuft der zunächst als »Neue Mitte Altona« bezeichnete Stadtteil, der seit Anfang 2018 nur noch »Mitte Altona« genannt wird. Er umfasst drei Bauabschnitte: Bereits fertig geplant und größtenteils auch fertig gebaut liegt südlich auf dem ehemaligen Güterbahnhofsgelände der Bauabschnitt 1 (BA 1). Dieser wurde ab 2014 realisiert, ab 2018 bezogen und soll 2022 fertiggestellt sein. Nördlich davon liegt das zweite Gebiet, das ab 2026 bebaut werden soll (BA 2). Schließlich ist 2017 noch ein drittes Gebiet hinzugekommen: das Holstenareal, das durch den Umzug der in der Nachbarschaft von BA 1 ansässigen Holsten-Brauerei an den Stadtrand frei wird. Die Mitte Altona soll insgesamt 4000 neue Wohnungen für etwa 15.000 Bewohnerinnen und Bewohner bereitstellen.8 Verantwortlich für die Planungsprozesse ist zum Teil der Senat der Stadt, zum Teil der Bezirk. Dabei sind die Zuständigkeiten wie die Geschwindigkeit der Prozesse sehr unterschiedlich. Zum Zeitpunkt der Forschung 2017/2018 geht es vor allem um die Konzeption und Planung eines integrierenden öffentlichen Ortes auf dem Gelände von BA 2, der in den späten 2020er Jahren erbaut werden soll. Da die umliegenden alten Stadtteile bereits über Bürgerzentren verfügen, war für BA 1 kein entsprechendes Gebäude genehmigt worden. Hier habe der politische Wille gefehlt, so berichtet eine Mitarbeiterin vom Sozialdezernat im Bezirk (FFT AL). Damit die Neue Mitte am Ende keine reine Schlafstadt wird, ringen die involvierten Akteure darum, eine oder mehrere öffentliche Einrichtungen in den anderen Gebieten BA 2 und Holsten-Areal zu etablieren. Interessant ist nun, dass die Idee eines interreligiösen Ortes in den entsprechenden Diskussionen eine große Rolle spielt und augenscheinlich einen konsensuellen Schnittpunkt zwischen religiösen Akteuren, Stadtplanung und anderen Beteiligten darstellt. Woher aber kommt die Attraktivität dieser interreligiösen Idee im konkreten Kontext von Altona? Dazu ist zunächst die soziale und religiöse Struktur der Bevölkerung in den Blick zu nehmen. Das Selbstbild der Altonaer Bevölkerung wird in vielen Interviews und Gesprächen als bunte Mischung aus politisch links orientierter Arbeiterklasse, neuer grüner Bürgerlichkeit, Migrantinnen und Migranten beschrieben. Hinsichtlich der lokalen Identität verweist man auf den Altonaer Blutsonntag, wo sich Bewohnerinnen und Bewohner im Jahr 1932 gegen SA-Aufmärsche aus dem Umland handgreiflich zur Wehr gesetzt haben. Auch das Altonaer Bekenntnis aus dem Januar 1933 wird erwähnt, bei dem 21 Pastoren einen Aufruf gegen politische Erlösungsreligionen und die politische Instrumentalisierung der Kirche verlasen (FFT AL). Bis heute sehen sich die Pastoren vor Ort in dieser Tradition, etwa wenn sie anlässlich der Krawalle zum G20-Gipfel im Sommer 2017 zwischen Anwohnern, Polizei, Politik und Journalisten zu vermitteln versuchen. Zugleich werden

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Siehe auch: https://www.hamburg.de/planungsprozess/, abgerufen am 26.8.2020.

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Religion im urbanen Raum

Wandlungsprozesse benannt. Besonders in Ottensen habe es in den letzten Jahren eine soziale Verschiebung gegeben: Der Stadtteil entwickle sich, pointiert gesprochen, zu einem »ökofairen Bullerbü« (Herzog, AL). Ein ökologisch orientiertes, postmaterialistisches Milieu verdränge andere Bevölkerungsgruppen durch seine ökonomische Potenz. »Das ist einfach ein anderes Milieu heutzutage, ne?« (Herzog, AL). Die Entwicklung der Mitte Altona hat bereits jetzt vielfachen Einfluss auf die umliegenden Quartiere. So soll eine der Schulen aus Altona-Nord, die aufgrund eines hohen Anteils von Kindern mit nichtdeutschen Erstsprachen als »Problemschule« bekannt ist, in das neue Gebiet (BA 1) verlegt werden und dort einen konzeptionellen Neustart erfahren (Herzog, AL). Mit Besorgnis wird diese Verlegung von den evangelischen Akteurinnen und Akteuren beschrieben. Befürchtet wird, dass dies zu einer Verdrängung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund führt. Wo werden diese künftig nachmittags hingehen, wenn die Schule inmitten eines »Schicki-Micki-Gebiets« (Herzog, AL) steht? Immerhin soll auf dem Gelände der alten Schule in Altona-Nord, nicht ganz im neuen Ortsteil, aber zumindest benachbart, ein Community Center entstehen. Der Bezirk, der es plant, sucht Träger, die es unterhalten. Hier sieht die Pfarrerin eine große Aufgabe der evangelischen Kirche, integrierend zu wirken, sich als Träger zu bewerben und z.B. ein Nachmittagsangebot an Jugendarbeit zu schaffen. Allerdings sei das nur möglich, wenn es politisch von den Gremien im Bezirk gewollt werde. Dasselbe gelte für eine religiöse Präsenz im Neubauquartier selbst: Die Bereitstellung eines verbilligten Grundstücks, welches einen religiösen Bau überhaupt erst möglich machen würde, setze einen entsprechenden politischen Willen voraus. Und hier stünden alle Zeichen auf Interreligiosität (FFT AL). In religiöser Hinsicht ist Altona hochgradig divers verfasst. In den Stadtteilen um das Neubaugebiet herum ist eine unübersichtliche Anzahl an religiösen Akteuren aktiv. Zu ihnen gehören aus dem christlichen Spektrum unter anderem die Evangelisch-Lutherische Kirche, die Mennonitengemeinde Altona, Evangelisch-reformierte Kirchen, die Katholische Kirche, Anglikaner, Alt-Katholiken sowie die freikirchliche Vineyard-Gemeinde Altona. Hinzu kommen verschiedene muslimische und jüdische Gemeinden (siehe unten) wie auch Gruppen wie Sikhimarg e.V, der Buddhistische Dachverband Diamantweg e.V., Zen Dojo Hamburg e.V. und weitere. Doch nur ein kleiner Teil der hier ohne Anspruch auf Vollständigkeit genannten religiösen Gruppierungen ist in interreligiöse Aktivitäten im Quartier eingebunden, wie im Folgenden deutlich wird.

7.2.2 Doing Interreliosity – interreligiöse Initiativen und Aktivitäten Im Umfeld der Planungen zur Mitte Altona kommt an verschiedenen Stellen das Thema Interreligiosität auf. So wird im Umfeld des großen Kulturevents »Altonale 2018« erstmals ein interreligiöser Gottesdienst abgehalten. In der Analyse dieses Gottesdienstes werden einerseits bestehende regionale und lokale interreligiöse Plattformen sichtbar, die auch in stadtplanerische Prozesse involviert sind; andererseits zeigt die Inszenierungsform dieses Gottesdienstes prägnant einige der mit Interreligiosität verbundenen Erwartungen (a). Aber auch für die verschiedenen stadtplanerischen Foren spielt Interreligiosität eine wichtige Rolle – hinsichtlich der Zusammensetzung ihrer Teilnehmer als auch hinsichtlich der verhandelten Themen (b).

7. Interreligiosität

a) Das interreligiöse Friedensgebet auf der Altonale Einer der wichtigsten kulturellen Kommunikationsorte existiert bereits seit 20 Jahren: die Altonale, die ein 14-tägiges Kulturprogramm auf etwa zehn Bühnen sowie ein dreitägiges Straßenfest umfasst und auf diese Weise die Vielfalt des Bezirkes sichtbar machen soll. Hierzu tragen Akteure aus über 180 Sozial- und Kultureinrichtungen sowie aus der Wirtschaft bei; ca. 2000 Künstlerinnen und Künstler treten auf. Auf der Altonale 2018 fand ein interreligiöses Friedensgebet statt, das vom Forum Interreligiöser Dialog Hamburg organisiert worden war. Das Format dieses Gebets war seit 2013 überregional unter Beteiligung von Vertreter:innen der Religionen in Hamburg entwickelt worden; entsprechende Gebete hatten bereits unter anderem zum G20-Gipfel und zu anderen Gelegenheiten stattgefunden. Als die Veranstalter der Altonale überlegten, nicht nur wie bisher einen ökumenischen Gottesdienst ins Programm aufzunehmen, sondern sich interreligiös zu orientieren, gingen sie auf das stadtweit agierende Forum zu. So wurde das seit fünf Jahren jährlich stattfindende Hamburger interreligiöse Friedensgebet erstmals in eine bestehende Veranstaltung eingefügt und fand damit nicht nur vor »Fans« in einem Unihörsaal statt, sondern öffentlich im Stadtraum neben einem Bierzelt (FFT AL). Die Einbindung eines überregionalen interreligiösen Gebets in die Altonale ist allerdings unter den religiösen Akteuren vor Ort umstritten. Die lokale Ökumene sei dadurch vor den Kopf gestoßen worden, findet der Vertreter der Altkatholiken. Man hätte sich an die bisherigen Veranstalter des Gottesdienstes, die Ökumene vor Ort, wenden sollen. Hingegen meint ein evangelischer Pfarrer, dass trotz des regionalen Anspruchs der Altonale die gesamtstädtische Ebene die richtige sei, um mit einem interreligiösen Gebet auf der Altonale zu beginnen. In folgenden Jahren könne man ja darauf aufbauen. Zudem habe er den ökumenischen Gottesdienst auf der Altonale bislang immer als etwas peinlich empfunden (FFT AL). An dieser Vorgeschichte wird sichtbar, dass Foren interkonfessioneller bzw. interreligiöser Zusammenarbeit selbst in Konkurrenz zueinander stehen können. Die Ankündigung des Friedensgebets im Programmheft der Altonale zeigt, welche Absichten und Erwartungen mit der Veranstaltung verbunden sind: »Interreligiöses Friedensgebet: Erstmals werden auch die Religionsgemeinschaften auf der altonale 2018 Grenzen überwinden und ein interreligiöses Friedensgebet gestalten. Aleviten, Baha’i, Buddhisten, Christen, Hindus, Juden und Muslime setzen gemeinsam ein Zeichen des friedlichen Zusammenlebens. Beteiligt sind führende Geistliche. Es erklingt zudem Musik der Religionen.«9 Bebildert ist die Ankündigung mit einem undatierten Foto eines früheren Gebets, offensichtlich aus einem Hörsaal, auf dem sich die involvierten Akteure in einer überlegten und eingespielten Weise zugleich als divers und verbunden präsentieren. In dieser interreligiösen Inszenierung wird ein Dreifaches demonstriert: Zum einen wird religiöse Diversität gezeigt, insofern Vertreterinnen und Vertreter der verschiedenen Religionsgemeinschaften in ihren jeweiligen Amtstrachten auf der Bühne stehen. Zum zweiten wird Gleichrangigkeit inszeniert, indem alle Repräsentantinnen und Repräsentanten in einer

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Programm der altonale 20: 123; https://issuu.com/altonale1/docs/altonale20_programmheft, abgerufen am 17.12.2022.

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Reihe und auf gleicher Höhe nebeneinanderstehen. Und drittens wird Einheit demonstriert: in der Verwendung eines gemeinsamen textilen Zeichens, eines weißen Schals, der die ansonsten zur Schau gestellte textile Differenz wie eine Klammer zusammenhält. Religiöse Diversität wird auf diese Weise inszeniert als eingehegte Vielfalt, als förderliche und kooperative Gemeinschaft gleichwertiger Unterschiedlicher, die das gemeinsame Ziel des Friedens verfolgen. Die potenzielle Konflikthaftigkeit der Religionen ist allenfalls hintergründig präsent. Diese Inszenierung lässt sich in doppelter Weise interpretieren: Auf diese Weise, das mag die Botschaft der allesamt dem Publikum zugewandten Religionsvertreterinnen und -vertreter sein, lässt sich gesellschaftliche Diversität friedlich leben. So, das mag die soziale Erwartung der Stadt an ihre Religionen sein (wie sie als Erwartungserwartung bei den Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmern präsent ist), können wir in der Stadt Religion ertragen: bunt, vielfältig, friedlich, nicht abgrenzend, dem Gemeinwohl und der Verbesserung der Welt zugewandt. In diesem Sinne steht hier ein doppeltes Modell vor Augen: ein Modell von Gesellschaft, das von den Repräsentanten und Repräsentanten der Religionsgemeinschaften der Allgemeinheit angesonnen wird, und ein Modell legitimer öffentlicher Religion, das von der Stadtgesellschaft für »ihre« Religionen errichtet wird. Dieses Doppelmotiv der Interreligiosität lässt sich auch in den Planungsprozessen für das neue Quartier wiederfinden.

b) Foren zur Stadtplanung Im Kontext der Planung des neuen Quartiers entstehen eine Vielzahl von Arbeitskreisen und Initiativen der Vernetzung. In solchen Arbeitskreisen spielt Interreligiosität grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen eine Rolle. Zum einen sitzen verschiedene religiöse Akteure miteinander am Tisch und gleichen ihre Interessen ab; zum anderen werden Ideen für ein interreligiöses Projekt im neuen Stadtteil ventiliert. Im Folgenden wird die etwas unübersichtliche Geschichte einiger dieser Kreise dargestellt. Eine dieser Institutionen ist das vierteljährliche Forum »Eine Mitte für alle«.10 Es wird veranstaltet vom Quartiersprojekt und Bürgerforum Q8 der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Hier sind neben Bürgern auch lokale Institutionen aus Politik und Verwaltung tätig; hier engagieren sich Personen aus der Kreativwirtschaft und aus Stiftungen (Herzog, AL; Jung 2016). Das Forum wurde bereits 2012 gegründet mit der Fragestellung, wie man einen inklusiven Stadtteil im Herzen von Hamburg Altona entwickeln könne. Viele, auch wechselnde Akteure wurden in einem lange währenden, offenen Prozess an einen Tisch gebracht, an dem auch die Investoren saßen. »Und dann gab es eine Phase, wo zum Beispiel die Baugemeinschaften, die sich beworben haben auf Wohnungen in der Mitte Altona, die waren eine Zeit lang sehr aktiv mit dabei, da war das natürlich auch eine große Brautschau. Die sind jetzt natürlich nicht so aktiv im Moment, weil das ist jetzt gerade wieder so: bis man sich auf den BA2 bewerben kann, dauert es noch ein bisschen, ist jetzt grade nicht so dringend.« (Herzog, AL)

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Zum Topos der Religion in der Mitte siehe 1.3.2.

7. Interreligiosität

Weiterhin nahm von Beginn an ein Ansprechpartner der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt teil. Auch die Kirchengemeinden schickten Vertreterinnen und Vertreter (Herzog, AL). Angeregt durch die Arbeit der Q8-Stadtentwicklungsprojekte entstand in der evangelischen Kirche im Jahr 2017 der Arbeitskreis »Neue Mitte Altona« (AK NMA). In ihm trafen sich für einige Monate diejenigen Pastorinnen und Pastoren, die sich aus den umliegenden Gemeinden aus verschiedensten Gründen für das neue Gebiet interessierten, zusammen mit dem Propst. Man lud verschiedene Gesprächspartner ein, so etwa mit Stadtentwicklung befasste Forscher, die vom Senat beauftragte Stadtentwicklerin und das Diakonische Werk. Für den BA 1 war der Arbeitskreis zu spät eingerichtet worden, um etwas Größeres zu planen; also ging es vornehmlich um mögliche Projekte der evangelischen Kirche im BA 2, wobei Ideen vom Garten bis zum Großprojekt ventiliert wurden. Neben dem kirchlichen Engagement in der bereits erwähnten Schule, die neben dem Holstenareal zu einem Community Center umgebaut werden soll, wurde dabei die Möglichkeit eines eigenständigen religiösen Bauprojektes im BA 2 erörtert. In diesem Zusammenhang wurde immer wieder auch der Wunsch nach einem interreligiösen Begegnungsort geäußert (FFT AL). Im Sommer 2017 wurde eher zufällig bemerkt, dass schon seit etwa drei bis vier Jahren eine weitere Arbeitsgruppe bestand, die ähnliche Überlegungen anstellte wie der AK NMA. Die Arbeitsgemeinschaft (AG) »Interreligiöses Forum Ottensen« war von der evangelischen Arbeitsstelle Weitblick in Ottensen gegründet worden, um sich über Religion in Altona auszutauschen. Daraufhin wurden die Kreise vereinigt. An ihnen nahmen nun Vertreter der Altkatholiken, eines buddhistischen Zentrums und der evangelischen Arbeitsstelle Weitblick sowie Pastoren aus dem interparochialen Erprobungsraum um die Mitte Altonas, zuweilen auch Gäste aus der Bezirksverwaltung teil. Bedauernd wurde angemerkt, dass die ursprünglich beteiligten Vertreter der VIKZ-Moschee mit einem Mal nicht mehr gekommen seien. Jedenfalls sei die Teilnahme der Muslime an der Stelle besonders wichtig; ohne sie sei das ganze Projekt fragwürdig. Die Runde stellte sich die Frage, welche Bedarfe wohl gemeinsam angegangen werden könnten, und welche Zielgruppen man adressieren solle: Jugendliche, Frauen, die ältere Generation? Einen reinen Gebetsraum oder gar eine neue Gemeinde sollte es jedenfalls nicht geben, darüber war man sich einig. In einem nächsten Schritt wurde die Stadtverwaltung in Gestalt zweier Vertreterinnen aus dem Rathaus eingeladen. Schnell wurde klar, dass auch die anderen Akteure die Idee eines interreligiösen Raumes in Altona befürworteten. Schon aufgrund der zu erwartenden hohen Kosten aber brauche es einen politischen Willen und dafür einen gesamtbezirklichen Prozess. Ein öffentlicher Workshop im Rathaus könne der erste Schritt sein. Bis 2020 könne dann ein Eckpapier stehen, so schlug es eine Bezirksvertreterin vor. Sie oder die Stadt könne keine Kirche schaffen, aber eventuell einen Ort, der die Chance biete, soziale Arbeit zu machen. (FFT AL) Der Workshop wurde realisiert und erwies sich im Forschungszeitraum als ein zentraler Ort, an dem sich die Religionen trafen. Die mit der Organisation des Workshops beauftragte Arbeitsstelle Weitblick involvierte wiederum das Hamburger Institut für konstruktive Konfliktaustragung und Mediation e.V. (IKM). Denn hier vermutete man die Kompetenz, unterschiedlichste Akteure an einen Tisch zu bringen – insbesondere die verschiedenen islamischen Gemeinden, zwischen denen es Spannungen gebe. Arbeite man mit den einen zusammen, zögen sich die anderen zurück, so erzählt die Leiterin des IKM. (FFT AL) Am Ende fand der Workshop »Interreligiöses Altona Mitt_einander« im Altonaer Rat-

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haus statt. Auf ihm sollte eine Grundlage für ein gemeinsames Wirken der Religionen im neuen Stadtteil gelegt werden. In den im Forschungszeitraum begleiteten Gesprächskreisen zeigte sich, dass, auch wenn viele der beteiligten Akteure ein ähnliches Ziel verfolgen, dabei doch unterschiedliche Interessen leitend waren. Einige der in diesen Kreisen vertretenen Akteure, ihre divergierenden Motivationen und die spezifischen Herausforderungen und Erwartungen, mit denen sie sich konfrontiert sahen, werden im Folgenden näher vorgestellt.

7.2.3 Interreligiöse Interessen der religiösen Akteure a) Evangelische Landeskirche Administrativ gehört Altona zum Kirchenkreis Hamburg West-Südholstein. Der Kirchenkreis gliedert sich in drei Propsteien, das heißt untergeordnete Verwaltungsbezirke. Die Propstei Altona-Blankenese, geographisch ungefähr deckungsgleich mit dem politischen Bezirk Altona, umfasst 15 Gemeinden, von denen sich die Gemeinde Altona-Ost sowie vier weitere Gemeinden um das Neubaugebiet Mitte Altona gruppieren (Herzog, AL): »Dazu gehört die Gemeinde Paulus, welche über der S-Bahn liegt. Und Paul-Gerhardt, die kommen sozusagen von oben von Bahrenfeld dazu. Und dann von der anderen Seite kommen als ganz großer Partner natürlich Ottensen dazu. Die sind deswegen ein ganz großer Partner, weil Bauabschnitt 2 größtenteils auf deren Gemeindegebiet liegt. Und dann kommt von der anderen Seite der Max-Brauer-Allee noch die Petrikirche dazu.« (Herzog, AL) Weil frühzeitig klar war, dass durch die Verlegung des Bahnhofes zusammenhängende Flächen frei werden, sind evangelische Akteure seit 2012 mit dem Thema des neuen, entstehenden Gebietes befasst. Strukturell geschah das auf verschiedenen Ebenen. Auf zwischengemeindlicher Ebene trafen sich alle mit dem Neubaugebiet befassten Pastorinnen und Pastoren einige Zeit lang im Arbeitskreis »Neue Mitte Altona«. Auf gemeindlicher Ebene entstand eine konkrete Initiative: die Gemeinde Altona-Ost stellte Mittel bereit und bewarb sich zusammen mit dem Kitawerk Altona-Blankenese um eine Kita bei der Baugesellschaft Behrendt-Gruppe, einer der Investorinnen in dem Gebiet. Für den Fall, dass die Gemeinde den Zuschlag bekommen sollte, wurde außerdem beschlossen, ein Pastorat neben der Kita zu planen, um im neu geschaffenen Bezirk zumindest eine kleine Anlaufstelle zu haben. Später beschloss man auch auf der Ebene des Kirchenkreises, sich anders als an anderen Orten frühzeitig zu engagieren. Eine Pastorin wurde mit einer halben Stelle beauftragt, sich um die Belange in der Neuen Mitte Altona zu kümmern (FFT AL). »Man hat frühzeitig mitgedacht, die Gemeinden haben Initiative ergriffen und haben gesagt: ›Wir als diejenigen, die alle mit dieser Mitte Altona zu tun haben, wir wollen mal gemeinsam denken.‹ Und diese Initiative, die hat dann der Kirchenkreis letztlich aufgenommen, hat sich dazu verhalten und gesagt: ›Ja, wollen wir gerne unterstützen. Das ist ein Sonderprojekt, das kann man den Gemeinden nicht zumuten, sondern da muss man Ressourcen für freistellen, wenn man das will.‹ Und haben eine zusätzliche

7. Interreligiosität

halbe Stelle eingerichtet, um im Vorfeld, bevor da überhaupt irgendetwas entsteht, in gemeinsame Überlegungen zu kommen.« (Herzog, AL) Da so viele Gemeinden beteiligt, manchen davon aber nur einige Straßenzüge in BA 1 oder BA 2 zugeordnet sind, plante man einen Erprobungsraum zu etablieren, der die bisherigen Parochiegrenzen übergreift. In diesem Kontext entsteht nun auch ein interreligiöses Interesse, das in die oben erwähnten Aktivitäten einmündet. Die beauftrage Pastorin, Frau Herzog, berichtet, sie habe schon früh davon geträumt, ein interreligiöses Konzept für den BA 2 zu realisieren. Da laut Staatskirchenvertrag die Kirchen ab einer bestimmten Größe eines Neubaugebietes ein Anrecht auf ein Grundstück haben, dieses aber aufgrund der derzeitigen Lage der Kirchen nicht allein bebauen wollen und können, stelle sie sich, vielleicht im umzubauenden Wasserturm, einen Raum der Stille für alle vor, einen Veranstaltungsraum oder studentisches Wohnen. Altona mit seiner Geschichte sei der genau richtige Ort dafür. Dafür müssten nun die Kirchenleitenden an den richtigen Stellen werben. (FFT AL) Für ein solches interreligiöses Projekt kommen evangelischerseits eine Vielzahl anderer religiöser Akteure in den Blick. Auf muslimischer Seite sind dies mehrere Moscheen, eine VIKZ-Moschee in der Bahrenfelder Straße, eine weitere an der Brücke Barnerstraße sowie die alevitische Gemeinde in der Nähe der Max-Brauer-Allee. Dabei gelte es aber, nicht nur bis zu den Bezirksgrenzen zu schauen, weil »sich das sozialräumlich ja manchmal auch noch anders verhält, als wenn man dann im Bezirk Altona guckt, wen man dann genau mitzählt und wen nicht«. Auch einige kleinere Moscheeverbände, die in der Nachbarschaft aktiv sind, interessieren Herzog. Zum Beispiel hat sie das Nachbarschaftscafé am Lindenpark an der Schanze im Blick, weil es kurdisch dominiert sei (Herzog, AL). Als man beginnt, über konkrete Projekte nachzudenken, werden noch weitere potenzielle Mitspieler genannt, zum Beispiel das tibetische Zentrum am Harkortstieg, das Zentrum der Baha’i, wo der aktiv erreichbare Mitarbeiter wohl aber kürzlich verzogen sei. Ökumenisch gebe es noch die Baptisten sowie die Altkatholiken (FFT AL). Auch mit einem buddhistischen Zentrum pflege man gute Nachbarschaft. Hingegen sei die liberale jüdische Gemeinde sehr mit sich selbst beschäftigt. Finanziell auf dünnem Eis, käme diese immer mal wieder zur Miete irgendwo unter und sei auch personell nicht sehr gut ausgestattet, im Gegensatz zur orthodoxen jüdischen Gemeinde, die relativ stark sei (Herzog, AL). Das Interesse der evangelischen Landeskirche an der interreligiösen Zusammenarbeit steht zum einen in Kontinuität mit bestehenden interreligiösen Kontakten. Zum anderen ist es mit dem Wissen um die sich wandelnde Legitimität von Religion im öffentlichen Raum verknüpft (siehe dazu Kapitel 6). Um an ein vergünstigtes Grundstück zu kommen und eine räumliche Präsenz aufzubauen, so ließ die städtische Verwaltung wissen, müsse eine politische Mehrheit geschaffen werden, und hier seien interreligiöse Projekte deutlich plausibler als monokonfessionelle.

b) VIKZ Eine muslimische Gemeinde, die schon seit einiger Zeit in der Arbeitsgemeinschaft »Interreligiöses Forum Ottensen« mit den Kirchen an einem Tisch saß, ist die der VIKZMoschee »Ulu-Camii« in der Bahrenfelder Straße.

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Religion im urbanen Raum

Die Moschee ist ein schmaler, relativ neuer Bau, der sich in die eher kleinen Nachbargebäude nahtlos einfügt. Seine Räume sind zu klein für die Zwecke der Gemeinde, die sich als Ortsgemeinde versteht. Gerade in der Geistwerdungsnacht, also der drittletzten und nach der Meinung vieler Muslime einer der wichtigsten Nächte des Ramadan, herrsche viel Betrieb, und der Platz reiche bei weitem nicht aus. (FFT AL) Zur Deckung des Platzbedarfs, so erläutert der Gesprächspartner der VIKZ-Moschee, Vorstand Hazneci, sei ein interreligiöser Raum nur bedingt hilfreich: »Es braucht auch so ein gewisses Angebot. Brautpaarberatung, Familie beraten, Gemeindearbeit muss möglich sein. Wir wollen für die Menschen vor Ort da sein, wie bei der Gemeinde hier: Als Anlaufpunkt, nicht nur als Gebetsraum, den habe ich auch zu Hause, sondern Versammlungsort. Ein Ort wie der interreligiöse Raum wäre vielleicht ein Ort zu beten, aber damit ist es nicht getan.« (Hazneci, AL) Ein interreligiöses Zentrum sei mithin nur eine zusätzliche Aufgabe unter anderen, viel drängenderen. Die Idee löse nicht die Probleme der Gemeinde. Der Grund für die Teilnahme des VIKZ an der AG »Interreligiöses Forum Ottensen« sei ursprünglich der gewesen, eine Plattform für ein unverbindliches Gespräch zu haben, etwa über Karikaturen, Fasten oder den Schulunterricht. Das Thema des neuen Quartiers sei erst später hinzugekommen. Seitdem ist Vorstand Hazneci nach eigener Aussage nicht mehr so oft dabei, da ein solches Projekt an den Bedarfen ihrer Gemeinde vorbeigehe (Hazneci, AL). Ein weiterer Grund für diese Zurückhaltung könnte nach Aussage der Leiterin des Workshops im Rathaus, Katty Nussbaum vom IKM, darin liegen, dass sich inzwischen das Spektrum der Ansprechpartner in der AG erweitert hat: »Weil bis dahin alle dachten, dass sie die Muslime Hamburgs am Tisch haben, wenn sie Hazneci mit am Tisch haben. Und sie wussten gar nicht, dass VIKZ der kleinste Verband ist. […] Ich habe ja die ganzen anderen an den Tisch geholt. Seitdem hält sich VIKZ im Hintergrund, ausgestiegen sind sie nicht.« (Nussbaum, AL). Hazneci selbst erklärt die Zurückhaltung seines Verbandes in den Planungsprozessen so: »Wir sind bei den Beteiligungsverfahren nicht aufgestanden, denn das hängt für uns von der dort wohnenden Bevölkerung ab. Die geschichtliche Entwicklung zeigt, dass die eher geringverdienenden Muslime in bestimmten Stadtteilen gewohnt haben. In neuen Stadtteilen macht es keinen Sinn, auf Moscheeflächen zu pochen, weil man ja eh nicht weiß, wer da wohnt, wir bauen die ja nicht aus Jux und Dollerei. Aber vor allem brauchen wir Moscheen für den Stadtteil, Lurup zum Beispiel, wegen der stadträumlichen Orientierung, als Vor-Ort-Moschee. Aber man braucht Flächen, die dafür vorgesehen sind, falls es Bedarfe gibt. Aber wie man das umsetzen kann: schwierig. Was wir gehört haben: Kirchen sind darauf bedacht, Standorte zusammenzulegen und andere aufzugeben. Wir agieren eher umgekehrt: Wir setzen auf Dezentralisierung. Die Umsetzung liegt aber nicht bei uns, das ist eine städtische Aufgabe. Das wissen die Gesprächspartner, dass wir Flächen brauchen. Es klappt halt mit der Umsetzung nicht.« (Hazneci, AL).

7. Interreligiosität

In der Mitte Altona würde der VIKZ daher wohl nicht bauen, sondern da, wo die Bedarfe hoch sind und wo die Gemeinden entlastet werden müssen. Allerdings stößt der Moschee-Vorsitzende immer wieder auf baurechtliche Schwierigkeiten. So dürfen Gebäude weder in einem reinen Wohngebiet noch in einem Gewerbegebiet, sondern nur in einem Mischgebiet errichtet werden. Gewerbeflächen entsprechen oft nicht den Auflagen, sind aber die einzigen, die groß genug sind. Wenn eine Fläche in Frage kommt, prüfen Bauingenieure und Juristen aus dem Verein die Eignung, bisher aber immer mit negativem Ergebnis (Hazneci, AL). Gleichzeitig sei es extrem schwierig, mit der Wirtschaft zu konkurrieren, da hätten die kleinen Gemeinden keine Chance. Eine für Religion ausgewiesene Fläche stellt Hazneci sich als das Einfachste vor, da man dort nur mit anderen Gemeinden, nicht aber mit finanzstarken Investoren konkurrieren müsse. In Bezug auf ein interreligiöses Bauvorhaben in der Mitte Altonas betont Hazneci, dass Muslime und Christen hier ganz unterschiedliche Interessen verträten. Die Christen hätten leere Gemeindezentren um die Mitte Altonas herum und suchten nach neuen Aufgaben, weshalb so ein interreligiöses Zentrum bedeutsam für sie sei. Hingegen brauchten Muslime dringend Platz, durchaus auch einen Gebetsraum, nicht aber einen Gemeinschaftsraum zum Netzwerken. Zudem sei die Nutzung eines interreligiösen Gebetsraums für Muslimas und Muslime seiner Ansicht nach gar nicht möglich. Die penible Sauberkeit bis in die Waschräume zur rituellen Reinigung, die Ausrichtung der Räume, das Bilderverbot, vor allem aber die Trennung der Geschlechter: All das könne interreligiös nicht funktionieren (Hazneci, AL). Dennoch nähmen sie aber an einem gemeinsamen Workshop zur Erarbeitung einer räumlichen Präsenz der Religionen teil, um im Prozess nicht außen vor zu sein. Wie in München Giesing (siehe 6.2.2) zeichnet sich damit auch für die VIKZ in Hamburg eine grundsätzlich auf soziale Teilhabe ausgelegte »Außenpolitik« ab.

c) BIG Ein vergleichsweise kleines Leuchtschild an der Außenwand zeigt eine grüne stilisierte Moschee und den Namen des Gebäudes, »Yeni Beyazit Camii – Moschee«, zusammen mit einer Telefonnummer. In einem der fast bodentiefen Fenster im Erdgeschoss steht ein blauer Werbeaufsteller, auf dem es heißt: »Herzlich Willkommen, Islamische Gemeinde Nobistor«. Der zweite Vorsitzende erzählt, dass die Gemeinde Nobistor seit 1998 existiert. Der Name der Moschee erinnere an die früher hier befindliche Beyazit-Moschee, die ihrerseits nach einer Istanbuler Moschee aus dem 16. Jahrhundert benannt war. Yeni ist das türkische Wort für neu, der Name bedeutet also Neue-Beyazit-Moschee. Imam Fawzi Yushua Nasr erzählt, dass der Gemeinde ein größerer Ort im Rahmen der Umbauarbeiten im Viertel versprochen worden sei, da man am Nobistor einfach zu wenig Platz habe. Wer das genau wem versprochen habe, könne er nicht sagen; er sei erst seit kurzem hier. Aber eine neue Moschee bräuchten sie unbedingt. Zu den Freitagsgebeten und an den zwei großen Feiertagen im Jahr (Eid al-Fitr, Zuckerfest, und Eid al-Adha, Opferfest) platzten die Räume aus allen Nähten. Aus der Türkei seien deswegen schon Teppiche beschafft worden, die bei schönem Wetter vor die Moschee gelegt würden. Der Durchgang vom Nobistor zur Luise-Schröter-Straße, zwischen Suppenküche und Moschee, wird ebenfalls zum Gebet genutzt. Die Chutba (Predigt) wird dann per Lautsprecher auf die Straße übertragen. Der Imam sagt weiter, er bete jeden Freitag, dass es keinen Regen gibt. Später erzählt der zweite Vorsitzende, dass im Sommer die jungen Leute es sogar bevorzugen, draußen zu beten. Seitdem der neue Imam da sei, werde die Chutba auf türkisch und deutsch gehalten.

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Jetzt noch eine Übersetzung in englischer Sprache für »die dunklen Brüder«, also die afrikanischen Geflüchteten, das wäre perfekt. (FFT AL) Für den Workshop »Interreligiöses Altona Mitt_einander« sei die Teilnahme der Moschee sehr wichtig: Wenn etwas Interreligiöses entwickelt werden soll, dann könnten da ja nicht nur Christen mit am Tisch sitzen. Allerdings sei, so berichtet die Workshop-Moderatorin, die BIG-Gemeinde nicht erfreut gewesen, hierfür mit den nur 20 Meter weiter residierenden Aleviten zusammenarbeiten zu müssen. »Im Nobistor gibt es den […]. Er war die Haßfigur für die Aleviten. Er sagte auch immer, dass eine Zusammenarbeit mit den Aleviten nicht möglich sei.« (Nussbaum, AL) Diese Auseinandersetzungen zwischen den muslimischen Gemeinden werden seitens der anderen Akteure des Quartiers als problematisch bzw. überfordernd benannt. Das gilt für eine evangelische Pfarrerin, die im Stegreifinterview kundgibt, gern einen interreligiösen Dialog mit den anderen religiösen Akteuren führen zu wollen, aber nicht zu wissen, wie sie die schwelenden Konflikte bewältigen solle. Auch eine säkulare Akteurin im Bezirk äußert sich entsprechend: »Man muss wissen, dass das Verhältnis zwischen BIG und den Aleviten vorher wirklich außerordentlich angespannt war. Und sie haben wirklich schlecht übereinander gesprochen. Anfang diesen Jahres war es so, dass beide Gemeinden, inklusive der Vorsitzenden, ungefragt im Bezirksamt Altona [kundgegeben] haben, dass sie mit den anderen nicht an einem Tisch sitzen würden. Das ist ja immer die Auswirkung der Politik in der Türkei. Das geht natürlich gar nicht. So etwas ist ganz schlecht für uns alle.« (Nussbaum, AL). Dass sie am Ende doch erschienen seien, sei nicht zuletzt einer kleinteiligen Vorbereitungsarbeit und einem beständigen Drängen von außen geschuldet (siehe unten). Neben ihrem grundlegenden Interesse an einer Erweiterung der Räumlichkeiten scheint die BIG-Gemeinde also auch durch Druck von außen zu einer interreligiösen Teilnahme motiviert worden zu sein.

d) Aleviten Die alevitische Gemeinde hat ihre Räume über und neben einem Friseurgeschäft in einem mehrstöckigen Bürogebäude. Moschee und Friseurgeschäft teilen sich einen Eingang, im Flur des Treppenhauses hängen zwei Kameras. Im Büro des Dedes steht eine altmodische Überwachungsanlage, welche den Hausflur zeigt. Entlang der Treppe hängen Veranstaltungsplakate, ausschließlich in türkischer Sprache. Vor den Glastüren, die vom Treppenhaus in die hellen Räume führen, steht ein Behördenaufsteller. Hier finden sich alle möglichen Zeitungen, auch zwei regionale Stadtteilzeitungen. An der Tür selbst hängt ein Plakat für die Fortbildung von Ehrenamtlichen, organisiert von der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V. Hier werden Schulungen in allen für die Gemeinden relevanten Themen angeboten: Erste Hilfe, Öffentlichkeitsarbeit etc. All dies weist auf eine gute Eingebundenheit der alevitischen Gemeinde in das Stadtviertel hin. Hinter der Glastür liegt ein weißer Flur, dahinter befinden sich kleine Räume. In einem Büroraum hängen Zeichnungen gemalter Menschenköpfe an den Wänden, möglicherweise eine Abgrenzung gegenüber dem Bilderverbot im sunnitischen Islam. Ein Musiklehrer verweist mich an einen älteren Mann, der mir einige Fragen beantwortet, zögernd, weil er befürchtet, sein Deutsch sei zu

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schlecht. Die Gemeinde existiere in den Räumlichkeiten erst seit sechs oder sieben Jahren. Auch sie habe die Räume gekauft, ebenso wie die anderen Moscheen in Altona das getan haben. Am liebsten würde die Gemeinde die zwei Etagen darüber gleich mit erwerben. Allerdings sei die erste Etage noch nicht einmal abbezahlt, auch hier fehle das Geld, man sei eine kleine, stadtweit agierende Gemeinde. (FFT AL) Etwas Geld gibt es allerdings durch die Stadt Hamburg: Eine halbe Stelle für Belange der Gemeinde wird, wie im Staatsvertrag festgeschrieben, durch die Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration (BASFI) finanziert, ebenso wie bei den anderen Gemeinden. »Und die Aleviten haben hier ja auch einen wirklich guten Stand hier, und sie haben viel Einfluss.« (Nussbaum, AL) Diese finanzierte halbe Stelle sei es dann auch gewesen, die den Ausschlag gegeben habe, am interreligiösen Workshop teilzunehmen, denn mit dem Empfang des Geldes empfinde man auch die Verpflichtung zur Zusammenarbeit.

e) Buddhisten Im Gespräch mit der buddhistischen Gemeinde erfahre ich etwas über die Nöte der kleineren Religionsgemeinschaften: Auch für Buddhisten ist die Teilnahme an Gesprächskreisen eine Gelegenheit, in der Stadt sichtbar zu werden. Jonas Baldewang, den »Funktionär« [Selbstbezeichnung] der Buddhisten, spreche ich in einem Stegreifinterview. Vor einem Jahr habe man sich gegründet, da, seitdem es Staatsverträge mit den christlichen und muslimischen Gemeinden gibt, die Hindus und Buddhisten aus der fairen Beteiligung am Religionsunterricht ausgeschieden seien. Nun strebe man ebenfalls einen Staatsvertrag an, aber hierfür habe der Senat einen einzelnen Ansprechpartner gefordert. Bislang verträten sie zehn von den 60 buddhistischen Zentren in Hamburg. Mit den anderen 50 sei man im Gespräch. Das Altonaer buddhistische Zentrum ist direkt am Harkortstieg, deswegen bekommt Baldewang viel von den neuen Nachbarn mit. Auch er nehme es so wahr, dass da ein Klotz neben dem anderen gebaut worden sei, der sich nun allmählich mit Leuten fülle. Er jedenfalls habe nicht das Gefühl, dass da etwas Raum zum Leben sei. Wenn da etwas geplant worden sei, sei es zumindest bisher nicht sichtbar geworden (FFT AL). Insgesamt besteht das Interesse an einem Forum für den interreligiösen Austausch also bei verschiedenen Religionsgemeinschaften, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen bzw. Motivationslagen.

7.2.4 Interreligiöse Interessen der säkularen Akteure a) Interreligiosität als Integrationsmoment Bei den im Folgenden als »säkular« bezeichneten Akteuren, also bei öffentlicher Verwaltung, Stadtplanung und dem Mediationsverein IKM, ist das Thema Interreligiosität attraktiv. Dabei erscheint es zunächst verbunden mit dem Pathos einer Wahrnehmung und Anerkennung des sozialen Wandels (siehe dazu Kapitel 4). Die Bedarfe an religiösen Orten entwickeln sich in hohem Maße ungleichzeitig:

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»Die Kurzfassung von Altona ist – und das habe ich auch schon dem Propst gesagt: Die haben fünf Kirchen und die sind alle leer. Und überall fehlen Moscheegemeinden. Das hat nicht einen direkten Bezug zu Altona-Mitte, weil so viele Muslime gar nicht in die Altonaer Mitte ziehen, aber im Endeffekt ist die Zukunft der Kirche nur interreligiös. Und das ist das Schiff, auf dem sie mitschwimmen können. Das bringt der Kirche etwas, das ist mir auch klar. Wenn ich Interreligiosität stärken kann, dann ist das auch mein Ziel.« (Nussbaum, AL) Auf einem der Organisationstreffen der Projektgruppe aus zusammengeschlossener AG und AK ›Neue Mitte Altona‹ berichtet eine eingeladene Verwaltungsbeamte, dass es im Bezirksamt einen ersten Workshop gegeben habe. Hier sei deutlich geworden, dass es im Rahmen des bestehenden Integrationskonzeptes einen politischen Willen zur Unterstützung interreligiöser Initiativen gebe (FTT AL). Zudem bestehe von muslimischer Seite aus ein hoher Bedarf an Räumlichkeiten. Diesen gelte es zu decken, damit Religion nicht nur in privaten Wohnungen organisiert wird. Dabei sind es zwei verschiedene Erwartungen, die sich mit öffentlichen interreligiösen Orten verbinden. Zum einen soll religiöse Radikalisierung verhindert werden; es besteht also ein Wunsch nach Pazifizierung von Religion durch ihre öffentliche Einhegung. Zum anderen soll der »Austausch zwischen den Kulturen« gefördert werden: Gesellschaft soll nicht in unverbundene kulturelle Segmente zerfallen, sondern durch Interaktion integriert werden. Im Hintergrund steht eine Sichtweise auf soziale Diversität, die in religiösen Differenzen Potenzial für Konflikte erkennt. Entsprechend bedürfe es für die Bearbeitung von Konflikten einer Kompetenz des Umgangs mit Religion, wie die Mitarbeiterin des IKM betont: »[Wir brauchen eine] hohe Professionalisierung an Mediation, aber vielmehr ein Verständnis und viel praktische Erfahrung hinsichtlich der Konfliktaustragung. Das reicht aber auch nicht. […] Wir haben eine Menge sehr kompetenter Mediatoren, die sehr viel erfahrener und kompetenter sind als ich. Richtig tolle Leute. Die können wir hier aber überhaupt nicht gebrauchen. Ihnen fehlt nämlich die Sensibilität für Religion und Kultur. Die Offenheit mit Fremdheit oder mit Heterogenität als solches. […] Eine extrem starke, sogenannte interkulturelle Kompetenz im Umgang mit Diversität. Es geht um eine Haltung, eine anti-bias-Haltung – wie auch immer man es nennen mag. Das braucht es auch. In der Konfliktarbeit ist Religiosität oder Nicht-Religiosität ja ein großes Thema. Das fehlt in der Mediationsszene, und bei den ganzen Rassismuskritikern [andererseits], da fehlt das Konfliktbewältigungspotential. Das ist es, was aus meiner Sicht unbedingt notwendig ist.« (Nussbaum, AL) Gesellschaftliche Integration durch Einhegung religiöser Konflikte: Vor diesem Hintergrund werden auch interreligiöse Aktivitäten attraktiv. Von hier aus liegt es nahe, darin auch eine öffentliche Angelegenheit zu erkennen, die politischer Unterstützung bzw. Steuerung bedarf. In diesem Sinne sehen das Dezernat für Soziales im Bezirksamt von Altona einerseits sowie die religiösen Akteure andererseits die öffentliche Hand gefordert, interreligiöse Initiativen zu fördern. Dabei geht es nicht zuletzt um Unterstützung beim Erwerb von Bauflächen. Denn ähnlich wie im Falle anderer sozialer Einrichtungen

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gelänge die Entwicklung eines interreligiösen Ortes im Bezirk unter Marktbedingungen schwerlich. Insgesamt gehe also darum, »dass das nicht nur ein Bauflächengeschacher wird, sondern dass diese Räume eben auch als Sozialräume gestaltet werden. Auch die Stadt merkt, dass sie da unter Zugzwang ist.« (Herzog, AL) Interreligiosität erscheint also zugleich als Plattform und Schrittmacher einer Integration gesellschaftlicher Diversität, die öffentliche Unterstützung verdiene. Ein weiterer Aspekt der öffentlichen Attraktivität interreligiöser Projekte kommt in folgendem Interview mit Frau Schroeder von der Senatsbehörde für Stadtentwicklung und Bau zum Tragen. »Also ich sage mal, was ich mir wünschen würde, das wäre wirklich so ein interreligiöses Projekt. Das fand ich damals schon beim Ökumenischen Forum in der Hafencity spannend, das war auch mein Projekt. Und da habe ich mir gesagt, das finde ich so schade, dass das nur die christlichen Kirchen sind. Also, wo ich mir immer dachte, eigentlich bräuchte es mal etwas Übergeordnetes. Das ist sowas, was wir vielleicht wirklich auch mal leisten könnten, dass man so eine Idee auch von Stadtseite vielleicht auch mal sich überlegt, wie könnte man sowas eigentlich mal etablieren. Und da wäre sicherlich unser Projektgebiet auch nicht das schlechteste.« (Schroeder, HH) Hier wird Interreligiosität in der Verlängerung von Ökumene konzipiert. Das ist insofern aufschlussreich, als damit mutmaßlich Grundannahmen der ökumenischen Bewegung in das Feld der Beziehungen zwischen verschiedenen Religionen übertragen werden. Zu diesen Grundannahmen gehört zunächst die Voraussetzung, dass man etwas gemeinsam habe. Wenn hier »etwas Übergeordnetes« gesucht ist, ist eine Taxonomie der Religionen impliziert, in der sich Pluralität auf einer höheren Stufe zu einer Einheit zusammenordnen lässt. So, wie die verschiedenen christlichen Konfessionen auf ein gemeinsames Christliches zurückgeführt werden, würden hier die verschiedenen Religionen auf einen gemeinsamen religiösen Kern, ein religiöses Allgemeines, zurückgeführt. Und für dieses Allgemeine zeichnet sich dann auch die Senatsverwaltung, welche die säkulare »Stadtseite« repräsentiert, in ihrem Selbstverständnis als Anwältin öffentlicher Belange verantwortlich. Gegenüber diesem Allgemeinen, so die zweite Grundannahme der ökumenischen Bewegung, sollten doch die üblicherweise betonten Unterschiede als nachrangig behandelt werden. Das »Übergeordnete« wäre dann das Hochrangigere, Wesensgemäßere. Damit ist zugleich religiöse Diversität ein Stück ins Uneigentliche gerückt und delegitimiert. Im Hintergrund mag auch hier, wie in der Ökumene, eine Konflikttheorie religiöser Vielfalt stehen, wie sie dem europäischen Christentum seit den Konfessionskriegen eingeschrieben ist. Doch die ökumenische Metapher für Interreligiosität dient eben nicht nur als konflikttheoretische Deutung religiöser Vielfalt, sondern behauptet darüber hinaus eine »übergeordnete« Einheit der Religionen.11

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Diese Einheit ist im Berliner interreligiösen Projekt »House of One« namensgebend geworden.

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b) Religiöse Akteure und säkulare Vermittler: Die Perspektive der Mediation Schon die Arbeit an einem möglichen Konzept interreligiöser Zusammenarbeit im Bezirk erscheint als Projekt gesellschaftlicher Integration. Die mit der Ausrichtung des Workshops »Interreligiöses Altona Mitt_einander« im Altonaer Rathaus betraute Hauptamtliche des Mediationsvereins IKM sieht ihren Auftrag darin, den Austausch der verschiedenen religiösen Akteure untereinander zu fördern: »Es ist ganz viel kleinteilige Arbeit. Ich glaube, was wirklich zu sehen ist in meiner Arbeit, ist, dass man einen so langen Atem braucht, um selbst kleinste Bausteine eines größeren Ganzen zu bewältigen. Allein diese Energie, dass überhaupt so viele Leute da waren: Eigentlich war das das einzige Ziel. Das war ein großer Auftrag, dass überhaupt Leute an diesem Tisch zusammenkommen würden.« (Nussbaum, AL) So bemühte sich die Workshopleiterin, unterschiedliche Akteure »mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche, einer Mischung aus Wertschätzung aber auch Druck« (Nussbaum, AL) an einem Tisch zu versammeln. Der vorrangige Zweck ihrer Tätigkeit sei es, die Menschen in persönlichen Kontakt miteinander zu bringen: »Mein einziges Ziel ist, eine Gesprächsatmosphäre aufzubauen, in der ich persönliche Beziehungen zwischen den Teilnehmenden ermöglichen kann. Dass sie schaffen, auch wenn sie einen politisch-existentiellen Konflikt zu bewältigen haben, miteinander zu lachen. Humor ist also ein sehr großes Thema. Zwischen den Kurden und Türken mache ich diese hocheskalierte Mediation, und da wird auch regelmäßig gelacht.« (Nussbaum AL) Dabei kämen aber, laut dem IKM, nur säkulare Partner als Vermittler in Frage. Selbst wenn die Religionen sich untereinander einig wären und es keine Konflikte gäbe, dann bräuchten sie immer noch für alle Kontaktstellen, mit denen sie auf staatlicher Ebene zusammenarbeiten, nicht-religiöse Mittler. Dabei gehe es um eine Struktur, die so vertrauenswürdig ist, dass der Staat finanzielle Förderung einbringen kann. Die Kirchen und mehr noch die Moscheegemeinden müssten ansonsten schwerwiegende Bedenken befürchten. Denn die Religionsgemeinschaften einschließlich der evangelischen Kirche seien aus Gründen der Kompetenz, des unzureichenden Netzwerks oder der freien Ressourcen selbst nicht in der Lage, hier aus eigenen Mitteln fruchtbare Beziehungen zu den entscheidenden staatlichen Stellen zu pflegen. Erkennbar pro domo positioniert sich hier ein freier Verein als Vermittlungsagentur zwischen Staat und Religion(en). Offensichtlich steht ein spezifisches Modell von Interreligiosität im Hintergrund. Interreligiosität entstehe demnach nicht in der unmittelbaren Interaktion diverser religiöser Akteure, also als unvermittelte Interreligiosität. Schon im Workshop bedarf es der Interviewpartnerin zufolge einer konfliktbewussten Moderation, die vermittelnd eingreift. Noch stärker vermittelt erscheint Interreligiosität, indem zwischen den Religionen und dem säkularen Staat eine nicht-religiöse Instanz gedacht wird, die zugleich Distanz aufrecht erhält und berechtigte Interessen transportiert. Der Plausibilitätshintergrund scheint hier ein Modell staatlicher Religionsneutralität zu sein, das den Staat von der Berührung mit den Religionen freihält – ein Modell, das eher einem laizistischen als dem bundesrepublikanischen Neutralitäts-

7. Interreligiosität

modell entspricht. Religionen bedürfen, zugespitzt gesprochen, einer vorstaatlichen Domestizierung, und für diese bietet sich der Verein als neutralisierender Dompteur an.

c) Unterschiedliche Ressourcen: Die Perspektive der Stadtplanung Interessanterweise stellt sich das aus der Perspektive der behördlichen Stadtplanung anders dar. Denn diese pflegt durchaus den direkten Kontakt zu religiösen Akteuren. Wird ein neues Gebiet geplant, werden unterschiedliche gebietsbezogene Bedarfe ermittelt. Diese werden von sogenannten Bedarfsträgern erfragt, die während der Planungsphase angeschrieben werden. Dazu gehören die Schulbehörden und das Straßenbauamt; aber auch die Kirchen sind aufgefordert, ihre Bedarfe anzumelden (siehe auch 11.2.2). Moscheegemeinden werden hingegen nicht angefragt, was mit der besonderen Rolle der Kirchen begründet wird (Schroeder, HH). Selbst wenn sie angefragt werden würden, müssten sie bei einem sogenannten Scoping-Termin erscheinen und einen angemessenen Plan mitbringen: »Wir sind im Grunde genommen die Stadtplaner, die den Planungsteil auch machen, und klar bemühen wir uns auch, alle Belange mit einzubeziehen. Aber auf institutioneller Ebene liegt das richtigerweise eben bei der Senatskanzlei oder dann in den Bezirken. Aber auch wenn wir es anwaltlich tun, brauchen wir einen Partner, der kooperationsfähig ist. Also, nicht im Sinne von ›der kann das nicht‹, sondern dass man jemanden hat, der eine Ressource mitbringt, der vielleicht mal einen Architekten mitbringt oder so.« (Schroeder, HH). In solchen Prozessen gelten die Kirchen den Behörden als verlässliche Partner, die ihre Bedarfe in verständlicher und konkreter Weise anmelden: »Die Kirche oder das Rote Kreuz oder solche Verbände: Die kommen dann ja relativ früh und entwickeln Programme und sagen, ›das ist mein Partner für das Altenwohnen‹, und die kann man dann irgendwann fragen: ›Wieviel Meter Haus braucht ihr denn, und was sind Eure Anforderungen, und braucht ihr viele Stellplätze für Autos?‹ Und das ist schwierig, wenn man dann einen Partner hat, den man all dies nicht fragen kann bzw. der keine Antworten darauf hat und dann zurückfragt: ›Ja, wir nehmen alles. Wir gucken dann.‹« (Schroeder, HH) Nötig für religiöse Akteure ist also eine hohe Kompetenz in Belangen der Bauplanung, um in teils hoch verdichteten und schnellen Entwicklungszusammenhängen etwas bewirken zu können. »Dann fehlt da halt auch manchmal auf der anderen Seite nicht die Kompetenz, aber die Ressource, sich da einzubringen. Und einen Referenten oder einen Mitarbeiter zu haben, der sich den ganzen Tag nur über so etwas Gedanken machen kann.« (Schroeder, HH) Dass die ungleiche Verteilung von Ressourcen zu Ungerechtigkeit führt, wird dabei durchaus eingestanden.

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»Und dann, glaube ich, gibt es schon so etwas wie: Wir haben eine hohe Schuld. Wir müssen die Leute, da muss man ja vielleicht auch ein bisschen umdenken und auch gucken, wer sitzt so mit am Tisch.« (Schroeder, HH) Nichtsdestotrotz sieht die Senatsbehörde die Verantwortung, sich in die Planungsprozesse qualifiziert einzubringen, dezidiert bei den einzelnen Anspruchsträgern: »Ja, aber dann sage ich jetzt mal ganz ehrlich: Wenn ich eine Baugemeinschaft gründen will als Bürgerin, dann muss ich mich auch irgendwie organisieren. Verstehen Sie? Wir haben ganz viele Baugemeinschaften, das sind private Menschen, die sich überlegen: ›Ich will mit meinen Freunden zusammenwohnen und muss mir jetzt halt ein bisschen Kompetenz aneignen.‹ Verstehen Sie? Da, finde ich, kann man jetzt ja auch nicht freie Menschen aus der Pflicht entlassen, sich bewusst zu werden, was will ich, und sich dann entsprechend dann eben auch aufzustellen und an die Institutionen zu wenden.« (Schroeder, HH) Entsprechendes gelte mit Blick auf Moscheebauten, wo die Verantwortung bei den muslimischen Gemeinden liege: »[So] glaube ich schon, dass es so ist, dass die Leute auch einfach eine Struktur entwickeln müssen, in der sie ihre Interessen da professionell mitbringen oder vortragen können. Das, glaube ich, das können wir da nicht leisten oder nicht abnehmen. […] Na, im Grunde kann man sagen, wenn jetzt diese Institutionen Bedürfnisse haben, dann muss man sich natürlich auf eine andere Art einbringen. Dann müssen sie sich im Grunde in den offenen Bürgerbeteiligungsprozess mit einbringen. Also es gibt ja im Rahmen vom B-Plan-Verfahren eine öffentliche Plandiskussion, also das ist eine frühzeitige Bürgerbeteiligung, wo es eine große Versammlung gibt, wo vorgetragen wird. Und ich sage mal, wenn jetzt eben ein Verband mitbekommt, dass hier etwas entwickelt wird, dann wäre das zum Beispiel die Gelegenheit, aufzustehen in dem Raum und zu sagen: ›Übrigens, wir wollen einen Gebetsraum.‹ Wenn man dann nicht über einen Träger öffentlicher Belange dabei ist bisher, dann wäre das die Möglichkeit, sich über die Bürgerbeteiligung da einzubringen bzw. natürlich jederzeit Briefe zu schreiben. Wir bekommen ja auch Briefe von Bürgern oder Institutionen wie Sportverbänden. Und dann würde das eben auch in den Prozess mit eingebracht.« (Schroeder, HH) Hinsichtlich muslimischer Akteure kommt aber über ihre Benachteiligung aufgrund defizitärer Beteiligungschancen ein weiterer Punkt hinzu. Ihre Einbeziehung trifft in öffentlichen Beteiligungsverfahren auch auf inhaltliche Vorbehalte. So hemmt nach Einschätzung eines Interviewpartners schon die bloße Befürchtung, es könnte zu Konflikten kommen, die Einbeziehung muslimischer Akteure in Entwicklungsprojekte: »Dieses Thema: ›Ich nehme eine christliche-kirchliche Organisation mit in ein Projekt hinein‹, ist, glaube ich, für viele Projektentwickler eher vorstellbar, als zu sagen: ›Ich nehme eine muslimische Organisation mit hinein‹. Weil da einfach die Debatten schneller da sind oder auch Anwohnerproteste.« (Schroeder, HH) Im Stadtentwicklungsprozess sind die etablierten christlichen Kirchen also in doppelter Weise begünstigt: zum einen aufgrund der faktischen Ausstattung mit Ressourcen

7. Interreligiosität

zur Beteiligung, zum anderen infolge der höheren sozialen Anerkennung als städtische Akteure (siehe 11.3.1). Gerade ihre organisatorische Festigkeit und behördenähnliche Organisation macht sie beim Thema Interreligiosität für Stadtplanende interessant: »Weil dann ist dann an der Stelle diese Verfasstheit oder diese Organisationsstruktur die schon da ist, ist dann ein bisschen im positiven Sinne gesprochen das Trittbrett, um noch andere religiöse Interessen mitzunehmen.« (Schroeder, HH) In dem Moment, in dem etwa die evangelische Landeskirche an einer interreligiösen Initiative beteiligt ist, erleichtert das die Artikulation »andere[r] religiöse[r] Interessen« in Prozessen der Stadtplanung, da Stadtverwaltung und Kirche sich auf behördlich-organisationaler Ebene gut verstehen. Eben diejenige vermittelnde Rolle zwischen öffentlicher Hand und Religionen, die die Mediatorin ihrem nichtreligiösen Verein zuschrieb, wird hier den etablierten christlichen Kirchen zugeschrieben. Durch sie erhält der Staat Zugang zur religiösen Pluralität in einer für ihn verträglichen Form. Auch hier wird also eine Vermittlungsinstanz eingeführt, aber es ist eben dezidiert keine nicht-religiöse, sondern selbst ein religiöser Akteur. Den etablierten Kirchen wird zugetraut, in sich selbst Religion in einer staatsverträglichen Weise zu domestizieren und dies ansatzweise auch noch für andere Religionen zu leisten. Religion wird hier als Instrument der Pazifizierung urbaner Pluralität gesehen. Gerade dieser Zugang ist es, der auf politischer Ebene das Interreligiöse zu forcieren scheint. So erscheinen die Kirchen aus behördlicher Sicht als das Medium, das Religiöse in der Vielfalt seiner auch interreligiösen Erscheinungsformen zu adressieren.

7.2.5 Zwischenfazit: Divergente Interessen an und Modelle von Interreligiosität Hinter dem vermeintlichen Konsens, interreligiöse Initiativen im Kontext der Stadtplanung für die Mitte Altona zu befürworten, stehen also sehr unterschiedliche Interessen. Das öffentliche Interesse an befriedeter gesellschaftlicher Divergenz und an einem Zugang zum religiösen Feld, das Interesse eines freien Vereins, als religiös neutrale Vermittlungsinstanz zu wirken, das Interesse der christlichen Kirchen an einer Steigerung der religiösen Plausibilität angesichts des Schwindens von Mitgliedern und Ressourcen, das Interesse muslimischer Gemeinden an öffentlicher Akzeptanz auf der einen Seite und an der Lösung ihrer Platznot auf der anderen Seite sowie Verpflichtungsgefühle von Empfängern öffentlicher Förderung: Hinter der Chiffre »Interreligiosität« verbirgt sich eine Vielzahl divergierender Motivationslagen. Hinzu kommen kognitive Modelle, vor deren Hintergrund Interreligiosität wünschenswert erscheint. Auch diese sind verschieden; hierzu zählen unterschiedliche Vorstellungen einer religiösen Neutralität des Staates oder auch das Konzept eines gemeinsamen Einheitsgrundes der Religionen. Dem Umstand, dass der Wunsch nach Interreligiosität divergente Interessen und kognitive Modelle hinter sich zu versammeln vermag, verdanken sich interreligiöse Arbeitskreise und Initiativen im Verborgenen wie auch große öffentliche Inszenierungen, etwa die des interreligiösen Gottedienstes auf der Altonale. Zugleich sind auch hemmende Faktoren zu verzeichnen: die Skepsis aufgrund von Erfahrungen des Scheiterns interreligiöser Projekte, die Aufteilung religiöser Akteure in

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religiös brauchbare und weniger brauchbare,12 die Gegnerschaft verschiedener religiöser Gruppen oder auch nur die Konkurrenz verschiedener interreligiöser Initiativen, die sich wechselseitig nicht kennen oder gegeneinander arbeiten. Interreligiosität, so wird am Beispiel Altonas deutlich, ist mitnichten ›ausgemachte Sache‹, aber sie ist eine Chiffre, eine hinreichend unbestimmte Plattform, auf der unterschiedlichste Interessen eingebracht und kommunikativ verhandelt werden können. Interreligiosität ist nicht zuletzt ein Modell – oder besser: ein Bündel von Modellen –, wie eine Gesellschaft angesichts verschärfter Wahrnehmungen von Differenzen zusammenhalten oder zumindest ihre Konflikte pragmatisch im Zaum halten können soll. Und sie ist ein Modell dessen, wie eine verdichtete Stadtgesellschaft religiöse Pluralität zu ertragen, wenn nicht sogar zu goutieren bereit ist. Diese Aufladung mit ganz unterschiedlichen Erwartungen und Gelingensbildern dürfte wiederum einer der Gründe dafür sein, warum interreligiöse Initiativen scheitern können.

7.3 Interreligiosität als Ideal urbaner Religionskultur Interreligiosität erweist sich, so kann in analytischer Weiterführung des Bisherigen gesagt werden, als spezifisch stadttaugliches Pluralitätsmodell (7.3.1). Mit ihm sind Erwartungen verbunden, die auf die Religionen zurückwirken (7.3.2), was insbesondere an entsprechenden Ordnungsmodellen deutlich wird (7.3.3).

7.3.1

Interreligiosität als Pluralitätsmodell

In Verallgemeinerung der Beobachtungen aus Altona ist Interreligiosität, das heißt hier: ein sichtbar konstruktives Miteinander verschiedener gleichrangiger Religionen, diejenige religiöse Präsenzform, die einer Vielzahl von Akteuren im urbanen Kontext als angemessen und wünschenswert erscheint. Insbesondere interreligiöse Orte, in ihren temporären Formen als interreligiöse Gottesdienste und interreligiöse Dialoge oder in dauerhafter Gestalt als interreligiöse Zentren, Gebetsräume oder Versammlungsorte, erscheinen als Embleme sinnvoll befriedeter urbaner Pluralität. Befriedet sein soll dabei, wie dargestellt, ein Doppeltes: der potenzielle Unruheherd »Religion« wie auch die Stadtgesellschaft in ihrer Diversität als ganze. Interreligiosität ist ein kraftvolles Symbol für die Überführung potenziell konflikthafter Diversität in wechselseitige Anerkennungsverhältnisse. Insbesondere verkörpert sie eine spezifische Zielvorstellung von Integration des und der Fremden, die zwar in einer Weise fremd bleiben dürfen, die gewöhnlich als »bunt« apostrophiert wird, die aber zugleich eingehegt ist durch die Referenz auf ein Gemeinsames. Stadt als der »Ort, an dem Fremde leben« (Siebel 2015), an dem sich dieses Zusammenleben aber auch zu bewähren hat – diese Bewährungsaufgabe findet hier ihren gesteigerten symbolischen Ausdruck. Das Management von Pluralität und Einheit auf der Ankündigung des interreligiösen Friedensgebets der Altonale

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Gefragt nach den Baptisten wird z.B. die Sorge geäußert, es könne auch zu einer christlichen Übermacht kommen (FFT AL).

7. Interreligiosität

2018, das symbolisch durch ein verbindendes Tuch dargestellt wurde (siehe 7.2.2 a), mag hier als Anschauungsbeispiel gelten. Vor dem Hintergrund spätmoderner Diversitätsdiskurse kann das als naive oder gar repressive Vorstellung gewertet werden. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die in der religiösen Versöhnung inszenierte Einheit (der Religionen bzw. des Sozialen insgesamt) gerade durch die religiöse Rahmung als verborgene, entzogene, ungreifbare symbolisiert ist. In der neuzeitlichen Ideengeschichte der Interreligiosität ist dieser Einheit denn auch ein ganz unterschiedlicher Status zugewiesen worden (siehe 7.1). Der zivilreligiöse Charme interreligiöser Inszenierungen liegt also religionstheoretisch gesprochen gerade darin, dass keine manifeste Einheit – ethnischer, nationaler, rechtlicher oder sonstiger Art – postuliert werden muss, um die Ausrichtung auf ein Allgemeines auf die Bühne zu bringen. Darin unterscheiden sich interreligiöse Inszenierungen von der von Robert Bellah für die USA der 1960er Jahre diagnostizierten Zivilreligion, die gerade auf Einheitssymbole wie die amerikanische Fahne, das Buch der Verfassung u.a. setzt. Interreligiöse Inszenierungen symbolisieren (und legitimieren damit) nicht nur Einheit, sondern auch Differenz. Sie sind mithin gerade im städtischen Kontext eine Form des differenzbewussten doing universality, das Andreas Reckwitz zufolge angesichts verschärfter Individualität und Gruppendiversität moderner Gesellschaften ebenso prekär wie notwendig ist.13 Zugespitzt ließe sich formulieren, dass eine Stadtgesellschaft im Modus normativer Interreligiosität von ›ihren‹ Religionen etwas erwartet, dass sie selbst nicht zu realisieren und auch kaum anderweitig zu symbolisieren14 in der Lage ist: die Produktion eines Gelingensbildes befriedeter Koexistenz, wechselseitiger Anerkennung und fruchtbarer Kooperation der Verschiedenen. Diese zivilreligiöse Erwartung wirkt nun auf die Religionen zurück. Denn sie prägt die Form, wie Religion im urbanen Kontext legitim Religion sein darf: Urbane Religion soll interreligiositätsfähige Religion sein.15 Damit ist ein spezifisches Erwartungsspektrum verbunden, mit dem städtische religiöse Akteure konfrontiert sind. Es steht potenziell mit ihrem Selbstverständnis in Konflikt, bietet ihnen aber auch spezifische Möglichkeiten der Neujustierung ihrer eigenen Rolle, wie im Folgenden ausgeführt wird.

7.3.2 Interreligiöse Erwartungen und Praktiken Interreligiosität wird nicht allein dadurch zur stadtgesellschaftlichen Erwartung an Religionen, dass die Stadt selbst etwa interreligiöse Dialoge initiiert oder explizit fördert.16 13 14

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Vgl. Reckwitz 2018: 429ff. Es wäre interessant zu fragen, welche funktionalen Äquivalente für interreligiöse Inszenierungen im städtischen Kontext existieren. Zu diesen gehört sicherlich das differenzbetonte Programm moderner Kulturzentren und Museen oder auch von Stadtfesten (vgl. etwa der »Karneval der Kulturen« in Berlin, der allerdings auch stark in der Kritik durch die postcolonial studies steht). Allzu viele Äquivalente dürften es allerdings nicht sein; und sicherlich ist der interreligiöse Gottesdienst eine recht kostengünstigere Variante. Siehe dazu Kapitel 6 zur öffentlichen Religion. Für Heidelberg vgl. etwa https://www.heidelberg.de/hd/HD/Rathaus/Interreligioeser+Dialog.ht ml, abgerufen am 17.11.2019. Für einen europäischen Blick vgl. Griera, Forteza 2011.

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Religion im urbanen Raum

Die Erwartung, sich interreligiös zu engagieren und in diesem Sinne interreligiositätsfähig zu sein, wird religiösen Akteuren auf verschiedenen Ebenen entgegengebracht und führt zu unterschiedlichen Reaktionen und Praktiken. Auf einige Beispiele hierfür, die zumeist an anderer Stelle im vorliegenden Band entfaltet werden, soll im Folgenden hingewiesen werden.

a) Freiburg: Der Stadtteilgottesdienst, der nie interreligiös wurde Das Stadtteilfest im Freiburger Vauban, einem in der Pilotstudie untersuchten Quartier, findet einmal im Jahr statt und ist ein identitätsstiftendes Ereignis für das gesamte Stadtviertel. An ihm wird, wie in Kapitel 6 gezeigt wurde, insbesondere das Problem der öffentlichen Legitimität von Religion fortwährend verhandelt. Diese öffentliche Legitimität ist hier dezidiert mit einer interreligiösen Ausrichtung verbunden: »Und dann wurde auch die Diskussion, gehört der Gottesdienst [zum Stadtteilfest] dazu oder nicht, wurde jedes Mal diskutiert. […] Jedes Mal habe ich gesagt, hört zu, Leute, wir machen das. Das gehört dazu. Und dann kam im Quartiersbeirat immer das Argument, wenn spirituell, wenn die anderen auch mitmachen dürfen. Habe ich gesagt, ja, dürfen alle gerne mitmachen. Wenn ihr mir Personen nennt, die eine spirituelle Feier mit mir machen, dürfen alle dazukommen. Da hat sich nie jemand drauf gemeldet. Aber ich habe nichts gesagt. Wir können das als Feier machen, wo alle religiösen Gruppen dabei beteiligt sind. Aber ich brauche halt Ansprechpartner. Und daraufhin sind alle seitdem in Löcher versunken.« (Reese, FB) Ein interreligiöser Ritus erscheint hier dem Quartiersbeirat als angemessene Form religiöser Praxis für das Stadtfest, derjenigen zentralen Institution, auf der sich das Quartier selbst inszeniert. Religion soll, wenn sie öffentlich wird, interreligiös öffentlich werden. Das scheitert jedoch nach Aussage des Kirchenmitarbeiters regelmäßig: nicht an seiner Ablehnung, sondern vielmehr daran, dass die anderen im Quartier vertretenen religiösen Akteure kein Interesse an einer gemeinsamen spirituellen Feier auf dem Stadtteilfest haben. Sie sind entweder »Anbieter« auf einem spirituellen Markt oder nach innen gerichtete, nach außen abgeschlossene »Communities«, beide ohne Interesse an einem städtischen Allgemeinen (zu dieser Einteilung siehe 7.3.3). Jedenfalls widersetzen sie sich der Erwartung, an einer paritätischen Inszenierung religiöser Vielfalt teilzunehmen. Damit scheitert auch die vom Quartiersbeirat offenkundig intendierte positionelle Neutralisierung des Gottesdienstes hin zu einer spirituellen »Feier«; was bleibt und Jahr für Jahr stattfindet, ist ein (ökumenischer) christlicher Gottesdienst. Die interreligiöse Erwartung und die jeweilige Erfüllungsbereitschaft verschiedener religiöser Gruppierungen klaffen an dieser Stelle offenkundig auseinander. Hierbei handelt es sich gewissermaßen um eine Kontrastepisode zum oben dargestellten Prozess in Hamburg Altona.

b) Giesing: Die Schwierigkeiten konkreter Interreligiosität Unter vergleichbaren Ausgangsbedingungen kommt es in München Giesing hingegen tatsächlich zu einem interreligiösen Gebet. Die Entstehungsbedingungen sind bereits in Abschnitt 6.2.3 c dargestellt worden: Auf einem öffentlichen Fest organisiert Diakon Reinhard zum einen ein ökumenisches Kirchenzelt, zum anderen aber auch einen religiösen ›Event‹ für die zentrale Bühne.

7. Interreligiosität

»So, und dann war eben die Idee, wie können wir auch noch öffentlich auf dieser Bühne vorkommen, und dann habe ich gesagt, lasst uns doch überlegen, nachdem wir hier so multireligiös sind, ob wir nicht ein multireligiöses Friedensgebet machen können auf diesem Stadtteilfest. […] Dann haben sie gesagt, nur ökumenisch, wir wollen keine exklusive Plattform für christliche Spiritualität bieten, aber wenn ihr interreligiös seid, und am Anfang war ja nur von den Muslimen die Rede, dann ja.« (Reinhard, GI.) Infolge der interreligiösen Erwartung der Vorbereitungsgruppe findet in Giesing jedoch, anders als in Freiburg, tatsächlich ein interreligiöses Gebet statt. Diakon Reinhard fragt dafür zusätzlich zu seinem katholischen und muslimischen Kollegen mit wenigen Tagen Vorlauf auch noch Teilnehmende aus einer buddhistischen Gemeinde an. Dort erklärt man sich zur Teilnahme bereit; allerdings kann aus sprachlichen Gründen kein Wortbeitrag zugesagt werden. »Dann aber irgendwie mit Text oder irgendwas einbringen, das war von der buddhistischen Seite überhaupt nicht denkbar, weil die, wie gesagt, Abt und Mönch, kein Deutsch sprachen.« (Reinhard, GI) So kommt es vorher nicht mehr zu einer inhaltlichen Absprache. »Wir wussten nicht, wer da kommt, wir wussten nicht, wie die drauf sind, wir wussten nicht, was die mitbringen. Ja, wir hatten ja unseren Entwurf, und der war christlichmuslimisch.« (Reinhard, GI) Das Ergebnis schildert der Diakon folgendermaßen: »Und so waren die beiden buddhistischen Mönche schon sehr eindringlich und natürlich spannend, aber die saßen dann, weil die im Sitzen beten, das heißt, die saßen hinter uns auf der Bühne, das war auch ein schräges Bild, da vorne stehen drei, der Imam, der katholische Priester und der evangelische Diakon, und im Hintergrund sitzen zwei Buddhisten. […] Wir haben ja dann unser Ding mehr oder minder unterbrochen, und dann haben wir Platz gemacht, damit man den Blick auf die beiden hat. Und dann haben die begonnen und haben so in drei, vier Minuten ihr Gebet gesungen, und dann haben wir weitergemacht. Es war von dem her komisch, weil wir alles auf deutsch gemacht haben, [der Imam] auch, und die hatten ihren Singsang auf Thai. […] [Der Imam] wusste nicht, dass wir alle in Amtskleidung kommen und hatte […] sein Mäntelchen nicht dabei, das hat ihm keiner gesagt von seiner Moschee, weil das war eigentlich klar. Wir haben dann noch gesagt, ok wir, [der katholische Kollege] und ich, dann auch nur Stola überziehen, dass es nicht so, er hat gesagt, er hat damit aber kein Problem, er hat seine Kappe dabei, die kann er wenn er will, aber die hat er dann noch nicht mal rausgezogen. Und das war dann das Bild auf der Bühne.« (Reinhard, GI) Diese Episode schildert eindrücklich die Schwierigkeiten konkreter Interreligiosität – gerade im Gegenüber zur professionellen Gestaltung des Friedensgebetes auf der Altonale (siehe oben). Verschiedene Sprachen, verschiedene Auffassungen von Gebet, verschiedene Körperhaltungen, verschiedene Gewänder: Das recht spontan und zufällig zustande gekommene interreligiöse Gebet offenbart nicht nur religiöse Differenzen, sondern auch unterschiedliche Intensitäten und Traditionen interreligiösen Miteinanders.

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Religion im urbanen Raum

Dem bunten Chaos eines Stadtteilfestes dürfte das Gebet dabei nicht abträglich gewesen sein. Allerdings sei es mit 17 Minuten zu lang gewesen, berichtet der Diakon.

c) Mümmelmannsberg: Öffnung der Struktur als Anpassung an den Stadtteil In Mümmelmannsberg ist das interreligiöse Engagement der Kirche Kern der Neuerfindung der kirchlichen Rolle im Stadtquartier. Die zentrale Idee, die in Abschnitt 4.2.2 c dargestellt wurde, war die Einsetzung eines interreligiösen Stadtteilkantors. Dieses Amt verbindet sich klar mit der Hoffnung, die Bewohner:innen verschiedenster religiöser und kultureller Herkünfte auf musikalischer Ebene als Gemeinschaft zu integrieren. Konsequenzen für Bauten und Kooperationen sind angedacht. Auch hier ist das Thema Interreligiosität also unmittelbar mit der Integration der Pluralität im Quartier verbunden; darüber hinaus geht es dezidiert um eine Entprivatisierung von Religion, das heißt: um eine Sichtbarmachung derjenigen Differenzen, die als potenziell »schwierige« Vielfalt desintegrierend wirken könnten, in integrativer Absicht. Interreligiöse Praktiken, das zeigt sich hier einmal mehr, sind nicht nur Praktiken der Inszenierung von Einheit, sondern zunächst und vor allem auch Praktiken der Inszenierung von Differenz – allerdings an Orten und auf Plattformen, auf denen diese Differenzen von Anfang an eingehegt sind, wie etwa in einer gemeinsamen Liturgie, im affirmativen Umfeld eines Festes oder im gemeinsamen Musizieren.

7.3.3 Interreligiosität als Ordnungsmodell religiöser Vielfalt »Interreligiöse Zusammenarbeit« ist ein Modell, religiöse Vielfalt in der Stadt zu ordnen. Sie ist eine der unterschiedlichen normativen Vorstellungen, mit deren Hilfe Menschen im Quartier ihr religiöses Umfeld strukturieren und sich selbst beziehungsweise die eigene Gruppe darin verorten. Diese Ordnungsmodelle für religiöse Pluralität, die uns im Laufe der Feldforschung begegneten, sind unterschiedlich komplex.17 Ein Modell unterscheidet binär zwischen Gemeinden, Gemeinschaften, Gruppen und Kreisen, die der eigenen Gemeinschaft zugehörig sind, und anderen Gemeinschaften, von denen man sich abgrenzt, und mit denen die Interviewten zum Teil Fremdheits- und Befremdungserfahrungen verbinden (Degen, KA). Komplexer ist ein Modell, das religiöse Akteure nach dem Grad ihrer Beteiligung am Leben der Stadt in punktuell tätige »Anbieter«, nach innen gerichtete »Communities« und städtisch ausgerichtete »Akteure« unterscheidet (Reese, FB). Ihnen gegenüber ist das Modell ›Interreligiosität‹ ein spezifisch paritätisch ausgerichtetes Modell. Interreligiosität wird hier konzeptualisiert als ein friedliches Nebenund Miteinander unterschiedlicher Religionen. Als Sinnbild dafür kann der Garten der Religionen dienen, der in der Südstadt-Ost in Karlsruhe liegt. Der Garten der Religionen besteht aus sechs Innenkreisen.18 Einer der Innenkreise ist etwas größer als die anderen und soll Begegnungsmöglichkeiten schaffen. Die anderen fünf Innenkreise repräsentieren die fünf großen »Weltreligionen« (Buddhismus,

17 18

Zu den Ordnungsmodellen und ihrer Ableitung aus dem Material der Pilotstudie vgl. Thiesbonenkamp-Maag, Moos, Zarnow 2017. https://www.gartenderreligionen-karlsruhe.de/images/gdr/BroschuerezumBau.pdf, abgerufen am 6.1.2023.

7. Interreligiosität

Hinduismus, Islam, Judentum und Christentum). An der Innenseite der Außenmauer sind weitere Religionsgemeinschaften wie die Baha’i oder die freireligiöse Gemeinde verortet. In der Außenmauer finden sich Textauszüge wie beispielsweise die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Der paritätische Ansatz, ein gleichwertiges Miteinander, ist mindestens für die fünf großen Religionen in der Architektur des Gartens angelegt und setzt sich in der Beschreibung desselben fort: »Der Garten der Religionen soll weder ein sakraler Ort sein, der nur Gläubigen offensteht und dem Gottesdienst einzelner Religionsgemeinschaften gewidmet ist – noch ein Ort der unkritischen und propagandistischen Anpreisung von Religiosität. Vielmehr geht es darum, Unterschiede und Gemeinsamkeiten der einzelnen in Karlsruhe beheimateten Religionsgemeinschaften herauszuarbeiten und sichtbar zu machen und damit zur Auseinandersetzung mit Glauben und Religiosität einzuladen.«19 Der Bezug zwischen den unterschiedlichen Religionen wird in der Anlage des Gartens durch Wege versinnbildlicht, wobei jede der »Weltreligionen« zu mindestens zwei anderen in direkter Verbindung steht. In dem Netzwerk, das so entsteht, wird ein Moment der Inter-Religiosität anschaulich, ein Bezug zwischen den Religionen, der über ein bloßes räumliches Nebeneinander hinausgeht. Religiöse Pluralität, so die normative Aussage der räumlichen Anlage des Gartens, soll als Beziehungsraum zwischen den Religionen sichtbar werden; ein Raum, der Platz für unterschiedliche Formen der Begegnung, womöglich auch der neugierig-distanzierten Begehung offenhält. Zudem wird durch die in der Außenmauer eingelassenen Texte wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ein Allgemeines verräumlicht, auf das die Pluralität der Religionen selbst noch einmal bezogen ist – und von dem sie eingehegt und begrenzt wird. Interreligiosität wird an dieser Stelle aber nicht nur verräumlicht. Der Garten steht in Verbindung mit interreligiösen Praktiken (etwa einer interreligiösen Feier anlässlich seiner Einweihung). Auch fungiert der aus Vertretern verschiedener Religionen zusammengesetzte Verein, der den Garten gestaltet hat und ihn für Feste und interreligiöse Friedensgebete nutzt, für die Stadtverwaltung in Karlsruhe inzwischen als Ansprechpartner für interreligiöse Fragen (FFT KA).20 Interreligiosität zeigt sich damit als eines von verschiedenen Ordnungsmodellen religiöser Vielfalt. Religiöse Akteure brauchen und haben andere Modelle, etwa wenn es um die Frage der Vermietung eigener Räumlichkeiten oder um das eigene Selbstverständnis in der städtischen Öffentlichkeit geht (siehe 6.3.2 c). Schon von daher müssen sie für sich justieren, inwieweit sie Interreligiositätserwartungen entsprechen und inwieweit sie sich diesen entziehen oder widersetzen. Interreligiosität ist mithin nicht das ›letzte Wort‹ zur religiösen Pluralität in der Stadt. Umgekehrt werden Religionen in der Stadt ihr Irritationspotenzial behalten, eben weil sie immer auch wertend unterscheiden zwischen verschiedenen Religionen, oder auch weil sie sich interreligiöser Einbindung verweigern oder diese unterlaufen. Gegenüber der Befriedungserwartung »Interreligiosi-

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https://www.gartenderreligionen-karlsruhe.de/ausstellungstafeln/tafel-16-ein-garten-fuer-alle, abgerufen am 13.9.2016. Dieser Teil der Feldforschung wurde von Simon Mallas, Heidelberg, durchgeführt.

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Religion im urbanen Raum

tät« erweisen sich Religionen schon von daher immer auch als unruhig, unversöhnt und potenziell streitbar.

7.4 Fazit Interreligiosität, das heißt hier: ein sichtbar konstruktives Miteinander verschiedener gleichrangiger Religionen, ist diejenige religiöse Präsenzform, die einer Vielzahl von – religiösen wie nichtreligiösen – Akteuren im urbanen Kontext als angemessen und wünschenswert erscheint. Insbesondere interreligiöse Orte, in ihrer temporären Form als interreligiöse Gottesdienste und interreligiöse Dialoge oder in ihrer dauerhaften Form als interreligiöse Zentren, Gebetsräume oder Versammlungsorte, erscheinen als Embleme sinnvoll befriedeter urbaner Pluralität. Befriedet soll dabei ein Doppeltes sein: der potenzielle Unruheherd »Religion« einerseits wie auch die Stadtgesellschaft als ganze in ihrer Diversität andererseits. Interreligiosität ist ein kraftvolles Symbol für die Überführung potenziell konflikthafter Diversität in wechselseitige Anerkennungsverhältnisse. Im Hintergrund des Ideals von Interreligiosität stehen unterschiedliche Interessen, aber auch unterschiedliche normativ imprägnierte Konzepte und Modelle. Dazu gehören eine grundlegende Affirmation von Diversität (»Es ist normal, verschieden zu sein«), aber auch die Delegitimation unversöhnter Differenz (etwa im Sinne der christlichen Ökumene als einer Metapher für Interreligiosität). Teil davon ist die Vorstellung der Integration heterogener Bevölkerungsgruppen in ein gesellschaftliches Allgemeines (insbesondere in Bezug auf »den« Islam) und ihr religionstheoretisches Pendant, die Idee einer wechselseitigen Neutralisierung religiöser Positionen mit Richtung auf eine gemeinsame »Spiritualität«. Hiermit können unterschiedliche Vorstellungen von religiöser Neutralität der staatlichen Institutionen oder auch der öffentlichen Sphäre insgesamt verbunden sein. Schließlich gehört dazu auch die Vorstellung einer Handhabbarmachung religiöser und sozialer Pluralität durch die Begrenzung der Zahl repräsentierter Religionen (im Karlsruher Garten der Religionen oder im interreligiösen Friedensgebet). Der zivilreligiöse Charme interreligiöser Inszenierungen liegt darin, dass darin keine manifeste Einheit – ethnischer, nationaler, rechtlicher oder sonstiger Art – postuliert werden muss, um die Ausrichtung auf ein Allgemeines auf die Bühne zu bringen. Nicht einmal an »eine Art Quartiers-Gemeinsinn« (Nagel 2015: 124) muss appelliert werden. Interreligiöse Inszenierungen symbolisieren Einheit als entzogene und verborgene. Damit symbolisieren (und legitimieren) sie zugleich – wenngleich limitierte – Differenz. Sie sind im städtischen Kontext eine Form des differenzbewussten doing universality. Normative Interreligiosität ist mit spezifischen Erwartungen daran verbunden, wie Religion in der Stadt verfasst sein soll. Sie produziert also spezifische Formen von »öffentlicher Religion«: Religionen sind vielfältig und »bunt«, ihre Akteure tragen unterschiedliche, prägnante Kleidung, und sprechen und singen gegebenenfalls in unterschiedlichen Sprachen. Religionen erkennen sich wechselseitig als Partner auf Augenhöhe an und verzichten auf zu starke Artikulationen religiöser Positionalität. Sie sind bereit, sich zu interessieren für und sich einzuordnen in eine gemeinsame Bewegung auf universale Ziele hin: Gemeinwohl, Frieden in der Welt etc.

7. Interreligiosität

Diese Erwartungen an interreligiositätstaugliche Religion treten möglicherweise mit dem Selbstverständnis religiöser Akteure in Spannung: etwa wenn ein Akteur starke Vorstellungen religiöser Positionalität vertritt oder sich umgekehrt schon für sich allein als Repräsentant des Gemeinwohls versteht. Letzteres gilt insbesondere für verschiedene Spielarten des modernen Protestantismus.21 Schwierigkeiten ergeben sich auch dann, wenn religiöse Akteure vorrangig mit Problemen der eigenen Gruppe befasst sind. Das gilt etwa für die muslimischen Gemeinschaften in Altona, die stark mit Platzproblemen zu kämpfen haben. Auch die Erwartung, auf eine starke Artikulation religiöser Positionalität zu verzichten, kann mit dem Selbstverständnis religöser Akteure in Konflikt treten. In jedem Fall müssen religiöse Akteure sich dem Erwartungshorizont »Interreligiosität« gegenüber verhalten. Welche Formen von Interreligiosität wollen sie aus eigenen Gründen pflegen, welcher sich verweigern, welche Erfahrungen haben sie Themenfeld bislang gemacht? Was sind ihre theologischen Grundentscheidungen dabei? Wie verstehen sie ihren eigenen »öffentlichen« Auftrag, wie eine mögliche zivilreligiöse Indienstnahme? Wie deuten sie religiöse Pluralität, wie das Verhältnis eigener und fremder Wahrheitsansprüche? Welche Vorstellungen haben sie schließlich vom Zusammenleben in Diversität? Die urbane normative Interreligiosität verlangt religiösen Akteuren mithin erhebliche Klärungsprozesse ab. Letztlich geht es um nichts anderes als um die beständige Reflexion der eigenen Rolle als »Religion« im Kontext urban verdichteter Gesellschaft.

21

Vgl. dazu die Zuschreibung an die Kirchen, sie förderten Integration, etwa im Forschungsprojekt Kirche findet Stadt, Handlungsfeld »Zentren und Orte der Begegnung und Integration« (Potz 2018; 2018a), oder auch im Konzept eines öffentlichen Protestantismus (Anselm, Albrecht 2017).

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8. Organisation

8.1 Der Organisationsbegriff im Diskurs der Praktischen Theologie Religion, wie sie in dieser Studie aufgesucht wird, tritt im Wesentlichen als vergemeinschaftete Religion in Erscheinung. Individuen kommen zusammen in Moschee-, Kirchenund Kultusgemeinden, und noch das Yogastudio hat Mitglieder, jedenfalls ein unterstützendes Umfeld. Diese religiösen Vergemeinschaftungsformen haben sehr unterschiedliche Strukturen, die vom transitorischen Engagement Einzelner in einem lockeren Netzwerk bis zur lebenslangen und als verbindlich empfundenen Mitgliedschaft in einem klar definierten Verband reichen. Der Bezug von Religion und Raum ist durch die jeweiligen Formen religiöser Sozialität geprägt. Für das Christentum sind in der Praktischen Theologie verschiedene Typen gegenwärtiger christlicher Vergemeinschaftung identifiziert und analysiert worden. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong unterscheiden in ihrer einflussreichen Kirchentheorie drei idealtypische Formen von Kirchlichkeit, die durch unterschiedliche »Logiken« charakterisiert sind: erstens die durch hohe Interaktionsdichte, überschaubare Beziehungen und Kommunikation der Nähe sowie strukturelle Flexibilität und Fluidität bestimmte Gruppe bzw. Bewegung, zweitens die rechtlich fest strukturierte, zeitlich stabile, durch selbstverständliche Zugehörigkeit, aber distanzierte Kommunikation charakterisierte, geprägte Handlungsformen und Dienste für alle zur Verfügung stellende Institution sowie drittens die auf ein definiertes Ziel hin ausgerichtete, strategisch geleitete und arbeitsteilig strukturierte, durch klare Mitgliedschaft, aktive Werbung und Zielgruppenangebote bestimmte Organisation. Reale Kirchlichkeit sei jeweils als Hybrid aus diesen Formen zu verstehen (Hauschildt, Pohl-Patalong 2018: 216).1 1

Im vorliegenden Band kommen die verschiedenen Formen der Vergemeinschaftung an unterschiedlichen Stellen in den Blick. Netzwerkförmige Strukturen werden im Kontext der Kapitel zu urbanen Akteuren (Kapitel 9) und zum bürgerschaftlichen Engagement (Kapitel 10) verhandelt. Institutionalisierungsformen sind an anderen Stellen im Fokus, etwa im Kapitel zur normativen Interreligiosität (Kapitel 7). Hier treten eine Vielzahl von Initiativen und Praktiken in den Blick, die darauf abzielen, den interreligiösen Dialog auf Dauer zu stellen. Institutionelle Aspekte sind ferner dort involviert, wo Kirchen als Träger öffentlicher Belange in der Stadtplanung behandelt werden (siehe 11.2.2). Im Folgenden steht der Typ der Organisation im Zentrum. Dabei wird am

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Religion im urbanen Raum

Für die Selbstbeschreibung der Landeskirchen in Deutschland ist in jüngerer Zeit insbesondere der Typ der Organisation in den Fokus der Aufmerksamkeit getreten. Kirche verliere, so die zugrundeliegende Diagnose, zunehmend ihren institutionellen Charakter als »Volkskirche«, in der man selbstverständlich Mitglied ist. Insbesondere in Städten, wo viele Gemeinden nebeneinander auftreten, kommt es zu zielgruppen- und zweckspezifischen Spezialisierungen kirchlicher »Angebote«, und das Nutzungsverhalten der Mitglieder gleicht sich dem anderer Organisationen an: Man tritt ein und aus abhängig davon, ob der Nutzen der Organisation bzw. die eigene Nähe zu den Organisationszielen den finanziellen und anderen Aufwand der Mitgliedschaft rechtfertigt oder nicht. Entsprechend hat Kirchenleitung sich organisatorisch professionalisiert, strategische Ziele formuliert, betriebswirtschaftliche Instrumente implementiert und Unternehmensberatung in Anspruch genommen.2 Organisationen sind soziale Systeme, die sich auf verschiedene Weise dem Wandel ihrer Umwelt anpassen und dadurch eine relative Unabhängigkeit und Dauerhaftigkeit erzielen. Insbesondere differenzieren sie sich aus in Teilsysteme, die unterschiedlichen Logiken folgen und sich auf verschiedene Elemente in der Umwelt der Organisation beziehen. Dieser der Systemtheorie Niklas Luhmanns entstammende Analyserahmen ist in der jüngeren Organisationsforschung vielfach rezipiert und auch in der theologischen Kirchentheorie aufgenommen worden (Luhmann 1984; Schedler, Rüegg-Stürm 2013; Hauschildt, Pohl-Patalong 2018: 129ff). Er soll auch hier leitend sein. Ein neues bzw. sich fundamental wandelndes Stadtquartier ist für religiöse Organisationen und ihre Teile ein potenziell signifikanter Teil ihrer Umwelt. Das gilt insbesondere für die evangelischen Landeskirchen und katholischen Diözesen, die parochial ausgerichtet sind und dem Anspruch nach keine weißen Flecken auf ihrer Landkarte kennen. Wenn ein Quartier neu entsteht bzw. entwickelt wird, stellt es per se eine Anforderung für die Kirche dar. Wie diese Anforderung aber in der Organisation aufgefasst und gehandhabt wird, ist damit noch keineswegs ausgemacht. Insbesondere ist nicht selbstverständlich, welche Teile der Organisation sich auf welche Weise mit der neuen Anforderung befassen; noch auch nur, auf welche Weise die Zuständigkeit für die neue Anforderung innerhalb der Organisation zugewiesen wird. Im vorliegenden Kapitel die Stadtentwicklung in Hamburg Hammerbrook als Anforderung für die evangelisch-lutherische Kirche in Hamburg diskutiert. Die Konzentration auf die evangelische Kirche resultiert daraus, dass diese vor Ort den höchsten Grad an organisationaler Differenzierung aufweist, also der reichhaltigste Studiengegenstand ist, wenn es um die Organisationsförmigkeit von Religion im urbanen Kontext Hamburgs geht. Dabei wird sichtbar, dass nicht nur die Primärzuständigkeit der Kirchengemeinde und des Kirchenkreises, sondern auch Zuständigkeiten funktionaler Einheiten wie des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt und der Diakonie eine Rolle spielen, zueinander in Spannung stehen und sich zuweilen auch wechselseitig blo-

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Beispiel Hamburg Hammerbrooks und der evangelischen Kirche gefragt, welche Herausforderung ein neues Stadtquartier für eine religiöse Organisation hat – präziser: für religiöse Sozialität, insofern sie organisationsförmigen Charakter hat. Eine spezifische Zuspitzung erfuhr die Analyse von Kirche als Organisation in der Debatte darum, ob Kirche ein Unternehmen sei oder sein sollte (Moos 2020).

8. Organisation

ckieren. Diese Prozesse werden hier, soweit sie im Forschungszeitraum greifbar wurden, analysiert. Sie zeigen exemplarisch die Herausforderungen, die ein neues bzw. ein sich entwickelndes Quartier für eine ausdifferenzierte religiöse Organisation darstellt (8.2). Ihnen mit gezielter Entdifferenzierung innerhalb der Organsiation zu begegnen, liegt nahe. Eine Reihe von Entdifferenzierungsexperimenten in verschiedenen Quartieren dieser Studie wird systematisch dargestellt (8.3), bevor das Kapitel mit einem Fazit in Thesen schließt (8.4).

8.2 Spannungsfelder differenzierter kirchlicher Organisation in neuen Stadtquartieren Hammerbrook, Teil des Bezirks Hamburg-Mitte, ist ein altes, vorwiegend durch Firmengebäude geprägtes Stadtquartier, in dem zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden soll. An diesem Quartier und der evangelischen Kirche als ausdifferenzierter Organisation (8.2.1) lassen sich vier Spannungsfelder deutlich machen, die das kirchliche Organisationshandeln charakterisieren: Spannungen zwischen verschiedenen Organisationsebenen (8.2.2), Organisation und Umwelt (8.2.3), raumbezogenen und funktionalen Organisationseinheiten (8.2.4) sowie unterschiedlichen Organisationen (8.2.5).

8.2.1

Hammerbrook (Hamburg)

Hammerbrook, heute ein Büroviertel im Bezirk Hamburg-Mitte, war zwischen 1840 und 1943 ein eigenständiges, vor allem von Arbeitern bewohntes Quartier. Im Zweiten Weltkrieg zerstört, entstand hier nach 1945 kein neues Wohngebiet, sondern ein vor allem durch innerstädtische Industrieflächen und Bürohäuser gekennzeichnetes Quartier, die City-Süd.3 Im Zentrum Hammerbrooks liegt der S-Bahnhof, der den Namen des Viertels trägt. Bahntrasse und Bahnhof mit ihren roten Metallfassaden verlaufen oberirdisch parallel zur Hauptstraße und senkrecht zu den Kanälen, die das Quartier durchziehen. Die Bahnlinie bildet eine städtebauliche Schneise mitten durch die Häuser. Quer unter dem Bahnhof liegt einer der großen Kanäle, der die Bille, einen Nebenfluss der Elbe, führt. Die Kanäle, die Hammerbrook in Inselabschnitte unterteilen, sind im 19. Jahrhundert geschaffen worden, um das ehemalige Sumpfgelände trockenzulegen und dicht bebauen zu können. Der bahnhofsnahe Kanalabschnitt ist begrünt, rechts und links gepflastert und mit Bänken versehen wie eine Fußgängerzone. Entlang des Kanals sieht man neue, architektonisch anspruchslose Zweckbauten für Industrie und Gewerbe. Ein in weiß-goldenen Farbtönen gehaltenes Neubaugebiet liegt hier ebenso wie langgestreckte Kleingartensiedlungen, die einen scharfen Kontrast zum Gewerbe bilden und liebevoll gepflegt aussehen. In den nächsten Jahren soll Hammerbrook weiter baulich verdichtet werden. (FFT HB)

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https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Feuersturm-vernichtet-Hamburg,feuersturm100.ht ml, abgerufen am 21.10.2020.

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Religion im urbanen Raum

Abbildung 10: Blick entlang des Flusses Bille auf den Bahnhof Hammerbrook

Bis zu 25.000 Menschen pendeln täglich in die City Süd (Wagner, HB). Sie arbeiten in den hier angesiedelten großen Firmen und in vielen anderen kleinen Unternehmen. Darüber hinaus gibt es weitere Nutzungsbauten im Quartier wie eine Schauspielschule, einen Wohnmobilstandort oder einen Gebrauchtwagenhändler. Ein kleiner Anteil der alteingesessenen Bevölkerung wohnt in Altbauten am Rande Hammerbrooks. Darüber hinaus siedeln sich viele Menschen übergangsweise im Viertel an: in einem Studentenwohnheim, in Hostels oder in illegal betriebenen Tagelöhnerunterkünften (FFT HB). Außerdem hat Hammerbrook eine Dauerunterkunft für knapp 500 Geflüchtete (Freytag, HB). Weiterhin befindet sich hier eine mit erheblichem finanziellen Aufwand erworbene und sanierte kommunale Tagesunterbringung für Wohnungslose im Rahmen des Hamburger Winternotprogramms.4 Kritisch wird von lokalen Akteuren erwähnt, dass damit an einem Standort drei verschiedene Bevölkerungsgruppen in Konkurrenz zueinander gebracht würden: Wohnungslose, die sich täglich abends für eine Unterkunft anstellen und diese morgens wieder verlassen müssen; Geflüchtete, die in mehrstöckigen Wohncontainern in Dauerunterbringung leben; die Arbeitsbevölkerung, die täglich an beiden Gruppen vorbei pendelt (Wagner und Freytag, HB). Hinzu kommt nun noch eine weitere, vierte Gruppe: »Nun entdeckt man aber, dass man auch diese eher Büro- oder Industriegebiete verdichten kann mit Wohnbevölkerung, und da auch nochmal baut. Und in Hammerbrook passiert das gerade. Für 8000 Menschen werden da Wohnungen entstehen. Und das ist das Viertel, über das wir reden.« (Wagner, HB) Innerhalb Hammerbrooks soll ein Wohnquartier, das Sonninquartier, geschaffen werden. Diese städtebauliche Maßnahme entspricht einem politischen Trend seit den

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https://www.hamburg.de/winternotprogramm-obdachlose/789920/winternotprogramm/, abgerufen am 10.6.2020.

8. Organisation

1980er Jahren. Da dem Stadtstaat Hamburg die Möglichkeiten zu einer großflächigen Ausdehnung fehlen, ist die innerstädtische Nachverdichtung eine Option, eine Abwanderung der arbeitenden Bevölkerung – und damit auch den Verlust ihrer Steuerabgaben – zu verhindern (Freytag, HB). Hammerbrook ist unter anderem deswegen ein attraktiver Standort für die Nachverdichtung, weil es nahe der Innenstadt liegt. Ein Vertreter der Stadt habe diesbezüglich immer von »Hammerbrooklyn« gesprochen (Rathke, HB). Die City-Süd, bislang eher als »Backoffice-Standort« bekannt, solle sich nun zu einem Quartier mausern, in dem schließlich bis zu 20.000 Menschen leben werden. In einem Stegreifinterview äußert eine Anwohnerin, dass sie den Wohnstandort lediglich als mäßig gut empfindet: Am Wochenende brächten ihre Freunde die Frühstücksbrötchen von außerhalb mit, aber ruhig sei es aufgrund der Durchfahrtsstraßen auch nicht (FFT HB). Sie hofft, dass sich die Wohnqualität mit dem geplanten Sonninquartier bessert: »Das wird das große Projekt, entlang der Straße, in Blockrandbebauung, und in der Mitte wird das […] dieser riesige Park, der da jetzt entsteht in der Mitte, 17.000m², das sind drei Fußballfelder, öffentlich zugänglich, also für alle, kann man sich gar nicht vorstellen. Das ist ein riesiger Gewinn für dieses Quartier, wo richtig was stattfinden kann.« (Freytag, HB) Im westlichen Teil Hammerbrooks liegt das Münzviertel, welches bisher einen wesentlichen Teil der infrastrukturellen Versorgung bereitstellt. Hier finden sich Schulen, Restaurants und Einkaufsmöglichkeiten jenseits des wöchentlichen Mittagsmarktes am S-Bahnhof Hammerbrook. Das Münzviertel grenzt an den Hamburger Hauptbahnhof an. Auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs in der Altstadt Hamburgs liegt die Hauptkirche St. Jacobi, zu der Hammerbrook parochial gehört. Da ein Ort kirchlicher Präsenz innerhalb Hammerbrooks bislang nicht realisiert worden ist, ist die außerhalb gelegene Jacobikirche evangelischerseits der zumindest in administrativer Hinsicht wesentliche kirchliche Bezugspunkt für das Quartier. Die ursprünglich gotische, im Verlaufe ihrer Geschichte vielfach umgestaltete Hauptkirche St. Jacobi wirkt in ihrer stadträumlichen Umgebung wie aus der Zeit gefallen. Neben ihr wurde in den 1990er Jahren ein Gebäudekomplex hochgezogen, der sich sehr wuchtig um den Jacobikirchplatz legt. Er trennt auch die Hauptkirche von der Fußgängerzone ab, die zum Hauptbahnhof führt. Da habe man damals nicht aufgepasst, so einer der kirchlichen Akteure, und jetzt liege Jacobi wirklich abseits. Das Kirchengebäude aus Backstein wirkt riesig. Es verfügt über eine metallene Kirchturmspitze, die nach dem Krieg wiedererrichtet wurde, da der Turm eingestürzt war. Mit metallenen Schindeln ragt der Kirchturm hoch über das ohnehin schon sehr große Kirchenschiff hinaus. Innen befinden sich Spitzbögen aus Backstein; die Wände dazwischen sind weiß verputzt. Dunkelbraun gebeizte Kirchenbänke und rote Polster bilden einen Kontrast, der in Spannung zum rostroten Backstein der unverputzten Spitzbögen steht, dazu grünblaue Buntglasfenster. Eine Ausstellung informiert im Inneren über 500 Jahre Reformation und über einflussreiche Protestantinnen im Norden. (FFT HC) Mit St. Jacobi kommt eine ausdifferenzierte kirchliche Organisationseinheit in den Blick. Zum Leitungspersonal gehört unter anderem die Hauptpastorin, die in Personalunion auch Pröpstin ist. Das Hauptpastorat ist ein eher repräsentatives Amt, welches zusammen mit den Citykirchen die gesamtstädtische Präsenz der evangelischen Kirche

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Religion im urbanen Raum

stärken soll. Um es an die Leitung rückzubinden, wurde das Amt vor einiger Zeit mit dem der Pröpste verschmolzen. Hierbei handelt es sich um Funktionspfarrstellen innerhalb der Kirchenhierarchie, deren Inhaber:innen den Pastorinnen und Pastoren in den Gemeinden dienstlich vorgesetzt sind und zu deren Aufgaben die Leitung des Kirchenkreises gehört (Gertz, HC). Neben der Hauptpastorin arbeitet eine Gemeindepastorin in St. Jacobi: »Ich bin die sogenannte Gemeindepastorin, die sich um die von der Personenanzahl her kleine Gemeinde kümmert. Wir haben ca. 800 Kirchenmitglieder. Wobei mindestens die Hälfte, eher mehr, zugemeindete Mitglieder sind, aus anderen Stadtteilen. Die Wohnbevölkerung, die sich hier zur Gemeinde zählt, ist relativ gering, und wenn Sie hier mal herumlaufen, werden Sie feststellen, dass wenige Wohnungen da sind, aber viele kleine Büros und Geschäfte.« (Wagner, HB) Des Weiteren wirkt hier noch ein Pilgerpastor: »Wir haben als Jacobi uns halt wiederentdeckt in unser Pilgertradition, Jacobus ist ja der Schutzheilige der Pilger, und das angefangen aufzubauen. Und wir haben ein Pilgerzentrum und stellen z.B. im Jahr über 2000 Pilgerbriefe aus.« (Rathke, HB) Das Pilgerzentrum ist ebenso wie die Reformationsausstellung Teil des Citykirchenkonzeptes, welches in den 1980er Jahren u.a. in Hamburg entwickelt wurde – beeinflusst und wissenschaftlich begleitet durch den Theologen Wolfgang Grünberg. Das Konzept ist zugeschnitten auf die großen, altehrwürdigen Kirchengebäude, denen im Verlaufe der Jahre durch Krieg, Brände oder Stadtentwicklung große Teile ihrer Wohngemeinden abhandengekommen sind. Die Arbeit der Citykirchen ist konzentriert auf Liturgie, Kultur und auf diakonische Arbeit wie die Obdachlosenhilfe. Zu dieser Citykirchensituation kommt nun das bislang kaum beachtete Hammerbrook hinzu, da es administrativ zur Parochie der Gemeinde gehört. »[Rathke:] Das ist historisch gewachsen. [Interviewfrage:] Wie kommt es dann, dass Hammerbrook…? […] [Wagner:] Das ist eben die Schwierigkeit, dass wir bisher gar keine richtige Anbindung dazu hatten.« (Rathke und Wagner, HB) Der nun zu entwickelnde Teil von Hammerbrook liegt von St. Jacobi aus gesehen in mehrfacher Hinsicht weit entfernt. Diese Entfernung ist zum einen räumlicher Art durch den dazwischengelegenen Hauptbahnhof und das Münzviertel. Eine zweite Form der Distanz entsteht dadurch, dass die Bedürfnisstruktur des Quartieres nicht bekannt ist. Bislang vor allem ein Bürostandort mit wenig Wohnbevölkerung, befindet es sich nun in der Transformation hin zu einem gemischten Viertel. Doch wer wird hier hinziehen, und wie soll die Kirche darauf reagieren? Eine traditionelle parochialgemeindliche Arbeit dürfte hier, so die Erwartung der Pastorinnen, auf wenig Resonanz stoßen. »Na, ich bezweifle, dass es da, … also es wird da nicht viele Kirchenmitglieder geben. Und ich rechne auch nicht damit, dass bei denen, die da zuziehen, dass da richtig viele sind, die darauf warten … [Einwurf Wagner: endlich in die Kirche zu kommen] … gemeindliche Angebote zu haben.« (Rathke, HB)

8. Organisation

Hinzu kommt, dass die bisherige citykirchen- wie mitgliederorientierte Arbeit in St. Jacobi die bisher zur Verfügung stehenden Ressourcen vollständig bindet. Hammerbrook erscheint insgesamt als neues, strukturell bislang nicht kompatibles, für das Bisherige potenziell konkurrenzhaftes Aufgabenfeld: »Da [in Hammerbrook] läuft ja keiner aus der Gemeinde rum, das kannte vorher keiner. Es ist eher so: Huch, was macht jetzt Frau Wagner da? Und ist das da eigentlich sinnvoll? Es bringt plötzlich eine andere Struktur in unsere Arbeit, die bisher so nicht vorgesehen war.« (Rathke, HB) Dabei gibt es, so berichten die Interviewpartnerinnen, durchaus Ideen für das neue Quartier. Ein denkbares Modell für eine stadträumlich orientierte Arbeit in Hammerbrook wäre aus Sicht von St. Jacobi ein klassischer Gemeindeaufbau; ein anderes, sich in die Bedarfe des Gemeinwesens als Mitspieler einzubringen. In diesem Zusammenhang denkt man in St. Jacobi immer wieder einmal über kirchliche Räumlichkeiten in Hammerbrook nach, auch wenn noch unklar ist, für wen diese Räumlichkeiten letztlich da wären. Neben der Option, bestehende Räume anzumieten, gibt es die Idee, ein Hausboot auf einem der Kanäle zu erwerben – ein ebenso stadt- wie christentumsaffines Raumsymbol. Eine weitere Idee ist die der mobilen Architektur, etwa in Form eines Essensstandes auf dem Wochenmarkt. »Also der Foodtruck, der ist eben einmal in der Woche, also ich meine am Mittwoch, ist so ein kleiner Wochenmarkt, da müsste man natürlich, da ist eine Genehmigung einzuholen und Standgebühren zu zahlen, aber das ist im Vergleich zu einer Raummiete noch pillepalle. Das kann man machen, das wäre einmal Fühler ausstrecken. Und da kann man erstmal auf unsere Sachen hinweisen, aber man könnte eben auch gucken, wenn man merkt, die hätten Interesse außer ihrem sehr guten Kaffee am Foodtruck und einem netten Gespräch auch an was anderem.« (Wagner, HB) Diese Ideen bleiben aber vorläufig ohne Umsetzung. Bislang erweisen sie sich nicht als hinreichend überzeugend und vermögen keine Aktivität freizusetzen, offenbar vor allem aufgrund der unklaren Bedarfslage im neuen Quartier. Es ist nicht hinreichend deutlich, welche der knappen personellen und finanziellen Ressourcen der Organisation mit welchem Ziel für den neuen Stadtteil eingesetzt werden sollen. Zudem sind verschiedene Ebenen der Organisation involviert, die jeweils mit unterschiedlichen Perspektiven auf das Problem sehen. Das ist nun näher zu betrachten.

8.2.2 Primat der Konzepte oder der Ressourcen? Welche Ebene der Organisation soll initiativ werden, um das neue Quartier konzeptionell in den Blick zu nehmen? Im Interview wird deutlich, dass zwei kirchliche Ebenen hier wechselseitig aufeinander warten. So sagt die Hauptpastorin zur Gemeindepfarrerin: »Also, ich finde schon, dass Sie da alles Recht haben, auch einen Vorschlag da zu machen. [D]er Kirchengemeinderat wird […] das gar nicht einschätzen können.« […] »Machen sie doch die Erfahrung. Wir können das doch nicht entscheiden, ohne dass wir

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auch Erfahrungen sammeln, ob da eine Energie entsteht. Ich finde, das ist nichts, was man am Reißbrett entscheidet.« (Rathke, HB) Die Hauptpastorin fordert innovativen Einsatz, die Entwicklung einer Idee, aufgrund derer dann Gremien und Verwaltung über den Einsatz von Ressourcen entscheiden können. In einem späteren Stegreifinterview ergänzt sie, dass sie ja verstehen würde, dass ein Konzept sich nicht von allein entwickeln könne, dass sie andererseits aber die personellen Ressourcen nicht bereitstellen könne, ohne zu wissen, wo die Reise hingehen soll. Sie brauche eine Idee, eine Vision, möchte wissen, was die Rolle der Hauptkirche St. Jacobi sein könnte. Sie müsse vorrangig die Frage klären, welche Baustellen und welchen Auftrag St. Jacobi überhaupt habe. St. Jacobi sei derzeit eben keine Ortsgemeinde; keiner der dortigen Akteure habe bisher etwas mit Hammerbrook zu schaffen. Wenn das anders werden solle, müsse insbesondere im Leitungsgremium, also im Kirchengemeinderat, Überzeugungsarbeit geleistet werden; und dafür müsste man sich sicher sein, dass St. Jacobi überhaupt der richtige Player sei, etwas zu organisieren (FFT HB). Die Gemeindepfarrerin hingegen wartet auf eine strukturelle Entscheidung der Leitungsorgane, bevor sie in Sachen Hammerbrook tätig wird. St. Jacobi habe eine Menge Aufgaben, in die sie fest eingespannt sei; sollte sie eine Aufgabe im neuen Quartier übernehmen, ginge das zu Lasten der bisherigen Arbeit. »Das müssen wir eh miteinander [aushandeln], und dann muss auch der Kirchengemeinderat sagen, wo Schwerpunkte sind. Das ist ja nicht eine alleinige Entscheidung, die ich jetzt mal eben freundlich treffe, sondern das ist ja in einem Konzert mit anderen Menschen zusammen zu besprechen.« – »Wenn die Entscheidung so ist, dass wir weiterhin sagen: Hammerbrook gehört zu St. Jacobi, und wenn es zu St. Jacobi gehört, dann würde ich sagen, müssen wir als Gemeinde da auch für sorgen. […] Nur das bedeutet eben auch, dass Sie als Pröpstin, aber auch als Hauptpastorin sagen: Wenn ich das tue, dann fehlt an anderer Stelle meine Arbeitszeit hier. Ich kann mich nicht zerreißen, ich kann nicht an zwei Orten gleichzeitig sein. Das ist die Frage, wieviel Energie darf ich da investieren, die ich hier abziehe. Das ist für mich die offene Frage.« (Wagner, HB) Ohne bereitgestellte zeitliche und sachliche Ressourcen sieht sie sich außerstande, ein Konzept das neue Quartier zu entwickeln. Das liege jedoch nicht an ihrem mangelnden Interesse und ihrer Bereitschaft: »Wie könnte eine kirchliche Bespielung in einem sehr andersartigen Stadtteil eigentlich aussehen? Das hat mich sehr gereizt an der Stelle, und da [habe] ich natürlich […] Herzweh, wenn dann gesagt wird: Na, dann Hammerbrook nicht, weil, wir haben genug zu tun.« (Wagner, HB) In der Organisationsperspektive ist diese Situation nicht als Interaktion zweier Individuen zu verstehen,5 sondern als Konstellation zweier Ebenen einer ausdifferenzierten Organisation. Die fehlende »Energie« resultiert mindestens zum Teil aus einem wechselseitig verschränkten Abwarten dieser Ebenen: der Ebene der über- bzw. beigeordneten

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Dies zumal, als es hier und in allen anderen Kontexten der Studie niemals darum geht, das Handeln individueller Personen zu bewerten.

8. Organisation

Leitung und der Entscheidungsgremien einerseits, die gleichsam auf charismatischen Input, auf eine überzeugend vorgetragene Idee warten, aufgrund derer sie entsprechende Ressourcenentscheidungen treffen können, und der lokalen Ebene der zuständigen Gemeindepastorin andererseits, die sich an ihre bisherigen Aufgaben gebunden sieht und keine freien Kapazitäten hat, im neuen Quartier innovativ tätig zu werden. So bleibt das kirchliche Engagement im neuen Quartier bislang äußerst verhalten: »Außer dass ich zu den Treffen der IG City Süd gehe und mich in regelmäßigen Abständen mit Nele Freytag6 austausche, mache ich noch nichts. Ich kriege netterweise Einladungen: z.B. zum DB-[Businesslunch] da. Das liegt dann parallel zum Kirchenhütertreffen, das heißt, dann kann ich nicht gehen, weil ich hier die Kirchenhüter leite. Wenn ich die vor Monaten eingeladen habe und kriege da vier Wochen vorher den Termin zum DB-Businesslunch, wo ich sehr gern hingehen würde, weil es mich interessiert, kann ich das nicht machen. Solche Geschichten sind einfach doof. Es korreliert nicht miteinander, sondern es geht eben oft terminlich gegeneinander, und da bin ich in der Verantwortung als Gemeindepastorin.« (Wagner, HB) Letztlich plädiert die Gemeindepfarrerin für die Einrichtung einer Sonderbeauftragung mit dem Auftrag der Entwicklung und Entfaltung eines Konzeptes für Hammerbrook: »Aber wenn kirchlicherseits eine Erkennbarkeit für die Unternehmen, die dort angesiedelt sind, sein soll, dann muss da ein Mensch sein, der verlässlich dort ist, und das muss mindestens eine halbe Stelle sein, die wirklich ihre Kraft da reinhängt. Also zumindest für den Aufbau von Ansprechstrukturen, wie auch immer die sein mögen. Ich hab da verschiedenste Ideen im Kopf, wie es sein könnte; die Frage ist, ist das eben mit einer Gemeindestelle zu leisten, die so definiert ist wie ich sie habe.« (Wagner, HB) Eine solche Sonderbeauftragung gibt es im Quartier nun bereits – an einer ganz anderen Stelle, nämlich auf Seiten der Wirtschaft.

8.2.3 Selbststeuerung oder Übernahme externer Erwartungen? Die Netzwerktreffen, an denen die Gemeindepfarrerin als bislang einzige Hammerbrooker Aktivität teilnimmt, werden getragen von der Interessengemeinschaft City Süd und organisiert von deren Sprecherin, Nele Freytag. Frau Freytag war ursprünglich im Kontext einer Unternehmensberatung engagiert worden, um ein Marketingkonzept für ein Bürogebäude innerhalb Hammerbrooks zu entwickeln. Bald machte sie dann den Vorschlag, ein Konzept für ein größeres Gebiet zu entwerfen; denn effektiv kann ihrer Auffassung nach ein Haus nur beworben werden, wenn das ganze Viertel attraktiv ist. So initiierte sie die IG City Süd und begann, das größere Umfeld zu entwickeln. Inzwischen gibt es sogar ein Stadtteilmagazin. Allerdings gehört nicht ganz Hammerbrook zur City-Süd, und auch nicht alle Firmen sind hier involviert; einbezogen ist nur ein bestimmter Anteil an Straßenzügen. Eines ihrer ersten Projekte war die Initiierung des Wochenmarktes, auf dem mehr als nur ein Fischbrötchen erworben werden kann. Ihr erklärtes

6

Siehe 8.2.3.

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Ziel ist es, das Viertel als lebenswerten Standort zu etablieren und eine Community aufzubauen. Das übersteigt jedoch das im engeren Sinne wirtschaftliche Betätigungsfeld, wodurch sich ein potenzieller Anschlusspunkt zu den Kirchen ergibt. So berichtet die Hauptpastorin: »Und wenn ich Nele richtig verstanden habe, ist ihr Interesse, das Quartier attraktiv zu machen. Und dazu gehört eben auch Softskills, also das Gefühl: ›Oh, hier wohn’ ich gern, hier kann ich mich beheimaten.‹ Da stehen wir ja für andere Werte als nur Konsum und Effizienz und sonstwie.« (Rathke, HB) In Bezug auf die Kirchen zeigt sich Freytag allerdings etwas resigniert und benennt schwierige Erfahrungen mit kirchlichen Leitungspersonen. Ihrer Meinung nach könne Kirche aber sehr wohl jemand sein, der »Kultur« in die City Süd bringe. Einiges an Plänen dafür habe sie schon ausgeklügelt; es scheitere aber regelmäßig an der Finanzierung. Ihre Vorstellungen drehen sich vor allem um eine ausstrahlungskräftige kulturelle Arbeit seitens der Kirchen, die den Stadtteil aufwertet und sich dabei insbesondere an Geschäftsleute und Angestellte richtet. Ideen wie eine kirchliche Präsenz vor Ort in einem Raum der Stille oder auf einem Kirchen-Hausboot hält sie hingegen für wenig hilfreich. Es brauche ihrer Meinung nach keinen toten Ort, keine Flughafenkapelle. Insgesamt aber gehe es bei der Entwicklung des Viertels um »Wichtigeres als zugeparkte Fahrradständer und Weihnachtsbeleuchtung« (FFT HB). Frau Freytag ist eine starke Persönlichkeit mit dezidierten Vorstellungen. Sie versteht sich als Gestalterin. Insbesondere hat sie eine feste Vorstellung davon, was die Kirche tun soll. Der kirchlichen Idee einer Sonderbeauftragung, die zunächst einmal eruiert, welche Bedürfnislagen im Viertel vorhanden sind und sich daraufhin für die Form eigenen Engagements entscheidet, steht damit eine bereits gefestigte Rollenzuschreibung kirchlicher Arbeit gegenüber. Zugespitzt könnte man sagen: Was für die kirchliche Organisation als terra incognita und damit auch als potenzielle Gestaltungsaufgabe erscheint (»das ist ja eine missionarische Tätigkeit in noch weißen Flecken«, Rathke, HB), ist von anderer Seite aus bereits fertig kartiert und parzelliert; und dabei ist auch der Kirche selbst ein Segment zugeordnet.7

8.2.4 Orientierung am Raum oder an der Funktion? Während sich die Rollenzuschreibung Freytags auf eine bestimmte Funktion (Kulturarbeit) und einen Adressatenkreis (die wirtschaftlich Tätigen) bezieht, ist der kirchliche Zugang zunächst raumbezogen. Hammerbrook wird als Teil der Parochie und darin als Gegenstand eigener Zuständigkeit wahrgenommen. Die klassische Antwort auf diese räumliche Frage ist wiederum räumlich: die Errichtung eines Ortes kirchlicher Präsenz in dem Raum, für den man zuständig ist: eines Ortes, an dem dann auch die funktionalen Rollen, die Kirche für das Quartier spielt, angesiedelt gedacht werden können.8

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Zu den teils starken Annahmen zivilgesellschaftlicher Akteure darüber, wozu Kirche und Religion im Quartier benötigt werden, siehe 9.2.2. Zu den verschiedenen Aspekten der Ortswerdung von Religion in neuen Quartieren siehe 2.2.2.

8. Organisation

Wenn sich dies nun, wie dargestellt, zunächst nicht realisiert, ist die Rollenfindung für kirchliche Funktionsträger schwieriger, weil sie gleichsam unbehaust agieren: »Für mich stellt sich so die Frage von der Form her, solange wir nicht über einen Standort sprechen, den ich jetzt noch nicht sehe, weil, das müsste man dann auch strategisch und finanziell alles planen, würde ich das eher so flapsig nennen: ›Pastor to go‹. Das heißt, ich würde eher in die Firmen reingehen und erstmal abklopfen: Wenn sie denn was bräuchten von der Kirche, was wäre es denn? Was könnte ich ihnen anbieten, also aus meinem pastoralen Bauchladen, was ich ihnen mitbringe, was ich kann.« (Wagner, HB) Die Pastorin fungierte hier gleichsam als wandelnder kirchlicher Ort. Sie wäre ebenso funktional offen wie es der kirchliche Ort wäre; sie brächte ihren »pastoralen Bauchladen« eben mit. Dieses ambulatorische Vorgehen – hier von der Gemeindepastorin im Konjunktiv dargestellt, weil es für sie die administrative Freistellung entsprechender Ressourcen voraussetzt – diente damit zunächst der Bedarfsermittlung. »Und dann muss man austauschen: Was brauchen die, was kann ich bieten, also in dem Zeitkontingent was ich habe. […] Weil, was soll ich da irgendwas anbieten, was ich meine, was super ist, und die sagen: ›Ja, das brauchen wir grad gar nicht.‹ Da kann ich meine Zeit auch anders [nutzen].« (Wagner, HB) Zugleich stellt sich für sie die Frage, ob eine solche, auf die Bedarfe einer spezifischen Zielgruppe angepasste pastorale Arbeit – »Businessseelsorge« (Wagner, HB) – noch zur Rolle einer Gemeindepfarrerin passt. »Oder ist es eine andere Stelle, die übergemeindlich sein müsste, ist es sogar eine Stelle die vom KDA besetzt werden müsste, Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt, die in Hamburg durchaus auch sehr viel machen. Wäre das da anzusiedeln, so wie wir einen Flughafenpastor haben, zu sagen, wir haben einen Businesspastor in der City Süd?« (Wagner, HB) Während Wagner sich durchaus vorstellen kann, auch als Gemeindepastorin zumindest übergangsweise eine solche Businessseelsorge aufzubauen, widerspricht die Pröpstin: Für diese Art der Arbeit gebe es eben den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt. Die parochiale und auf Gemeindepastor:innen ausgerichtete Struktur sei hier möglicherweise überfordert. »Also mein Gefühl ist ja, wir versuchen etwas, das wir gar nicht schaffen können in der Konstruktion jetzt. Weil, es war ja auch vorher nicht so, dass die Gemeindepastoren sich hier gelangweilt haben, und was soll jetzt Frau Wagner machen, und was bedeutet es, wenn sie da reingeht? Da krieg ich natürlich auch Schluckauf und denk: Huch, was bedeutet das für unseren Auftrag hier für die Stadt?« (Rathke, HB) An dieser Stelle zeigt sich wiederum eine Schwierigkeit der ausdifferenzierten Organisation Kirche, auf die Herausforderung des neuen Quartiers zu reagieren. Die raumbezogene Zuständigkeit der Gemeindepastorin gerät in dem Moment, in dem sie konsequent auf spezifische Bedarfslagen im Quartier reagieren will, potenziell in Konkurrenz

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zu zielgruppen- bzw. sektorenspezifischen Angeboten wie denen des KDA, deren Zuständigkeit eben nicht räumlich, sondern funktional definiert wird. Aus der Perspektive des KDA wiederum ist die Frage, inwiefern seine funktionale Zuständigkeit eine stadträumliche Spezifizierung erlaubt. Die Leiterin des KDA stellt im Interview dessen Aufgabengebiet wie folgt dar: »Wir sind der Fachdienst, der sich den Themenbereichen Wirtschaft und Arbeitswelt widmet. Als übergreifender Fachdienst könnten wir mit allen Kirchengemeinden zu tun haben. […] Wir sind in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern tätig. In Hamburg mit sechs Kolleginnen und Kollegen für diesen Bereich. In Schleswig-Holstein auch sechs Kollegen und in Mecklenburg-Vorpommern leider momentan nur noch einer. Das ist für dieses große Land wirklich ganz schön schwierig.« (Ackerman, HB) Der KDA begreift sich als eine Art Matrix-Organisation, welche einerseits die Zuständigkeit für die verschiedenen Gebiete der Nordkirche abdeckt und andererseits das gesamte Thema Arbeit und Wirtschaft zu fassen versucht. Die einzelnen Referentinnen und Referenten sind einerseits für bestimmte regionale Abschnitte zuständig und verfügen andererseits über thematische Zuständigkeiten. Schwerpunktthemen, die der KDA auf diese Weise abdeckt, sind etwa »prekäre Arbeit«, »Führung und Verantwortung«, »Arbeit und Gesundheit«, »Handwerk und Kirche« sowie »Sonntags- und Feiertagsarbeit«. Eine Beratung zum Thema Mobbing befindet sich im Wiederaufbau. Durch Umstrukturierungen in der Nordkirche um 2005 war die Arbeitsstelle auf die Hälfte ihrer Mitarbeitenden verkleinert worden. Das wird nun zum Teil durch externe Kräfte ausgeglichen: »Aber das hat eben schon eine große Veränderung für den KDA gebracht, denn der gesamte Beratungsbereich, der mal sehr viel stärker ausgebaut war, wo es beispielsweise auch Beratung von Langzeitarbeitslosen gab, ein Erwerbslosencafé, ebenso wurden die Bereiche Konflikt- und Mobbingberatung sehr intensiv ausgebaut. Das ist alles erstmal weggefallen, und das haben wir jetzt mühsam für Hamburg wieder aufgebaut auch mit externen Menschen, mit denen wir dann zusammenarbeiten, weil wir darauf angewiesen sind, das, was wir machen wollen, dann eben mit externer Expertise zu leisten. Das ist auch okay, die Arbeitskraft dafür einzukaufen und dafür erstmal das Grundgerüst zu bieten. Für viele ist es immer nochmal etwas anderes, gerade wenn es um Mobbing- und Konfliktberatung geht, einen kirchlichen Träger anzufragen. Denn davon versprechen sie sich immer noch mehr.« (Ackerman, HB) Dabei ist der Fachbereich von ganz eigenen Veränderungen und inhaltlichen Neuorientierungen betroffen. Das Thema »Digitalisierung und Arbeitswelt« bildet gegenwärtig einen Schwerpunkt der Veranstaltungen; weitere aktuelle Themen sind Grundeinkommen und Pflegenotstand. Aufgrund der Breite der Themen und der Größe des Gebiets fällt der stadträumliche Bezug nach Aussagen von Mitarbeitenden eher unspezifisch aus. »Und es ist schon schwer, in dieser riesengroßen Stadt überhaupt die Kirchenkreise und die Kirchengemeinden immer mit im Blick zu haben und mit bestimmten Themen zu bedienen.« (Ackerman, HB)

8. Organisation

Entsprechend könne auch hier nicht einfach eine Sonderbeauftragung für ein Gebiet wie Hammerbrook eingeführt werden. »Das wurde dann erstmal als Manko erkannt, aber es gibt innerhalb der Kirche erstmal einen Stellenplan. Und jede neue Stelle müsste da auch erstmal ins System eingeschleust werden. Und dazu braucht es erstmal langwierige Beratungen, Entscheidungen.« (Gerste, HB) Dementsprechend weist die Arbeit des KDA eher eine Angebotsstruktur auf, als dass die einzelnen Mitarbeitenden über die Ressourcen verfügen würden, vor Ort Bedarfe zu eruieren und daraufhin etwa in der Businessseelsorge tätig zu werden. Die bislang vorgesehenen Formate konzentrieren sich auf die Durchführung von Veranstaltungen und das Angebot von Vorträgen. Damit spiegelt sich das Problem der Gemeindepastorin, sich nur bedingt auf spezifische einzelne Bedürfnislagen einstellen zu können, umgekehrt am Ort des funktionalen Dienstes, der sich eben nur bedingt auf einzelne stadträumliche Situationen einlassen kann. Die räumliche und die funktionale Logik sind in der Kirche weithin separiert, indem sie durch verschiedene, nur lose verbundene Organisationsteile repräsentiert werden. Auf diese Weise sitzt ein Gebiet wie Hammerbrook aufgrund seiner spezifischen Kombination aus räumlichen und sozialstrukturellen Gegebenheiten gleichsam zwischen den Stühlen. Hier wird ein Dilemma der landeskirchlichen Organisationsformen deutlich, das auch an anderer Stelle relevant ist.

8.2.5 »Kirche« oder »Diakonie«? Ein ähnliches Problem tut sich im Bereich der frühkindlichen Bildung auf. Als sich ein früheres Projekt zerschlagen hatte, war man dazu übergegangen, als Ort kirchlicher Präsenz in Hammerbrook eine evangelische Kita zu planen, um auf den Zuzug junger Familien zu reagieren. »Wir haben mit großem Engagement versucht, eine kirchliche Kita dort zu gründen, weil wir dachten: Aha, neue Leute, neue Familien, das ist doch attraktiv für die.« (Rathke, HB) Dieses Projekt kam jedoch aus ökonomischen Gründen nicht zustande: »Also, der Quadratmeterpreis für die Kita war so teuer, dass die Geschäftsführerin vom Kita-Werk, also das ist ja ein riesengroßes Ding hier in Hamburg, [sagte:] ›Also das ist uns zu heiß, das Eisen.‹ Also, die haben in der Hafencity schon eine Kita gebaut, die von den Erfordernissen ja so […] teuer war, so dass sie gesagt haben: ein zweites Mal genau sowas, also in Wiederholungsschleife, das machen wir nicht. Und dann ist die an das Rote Kreuz gegangen, was ich natürlich bedauere im Nachhinein, aber ökonomisch nachvollziehen kann. Ökonomisch alles nachvollziehbar. Aber vom Inhaltlichen her bedauere ich das immer noch, weil ich denke, es wäre eben schon ein Einstieg gewesen.« (Wagner, HB) Die Errichtung einer Kindertagesstätte, traditionell eine Aktivität der parochialen Gemeinde im Interesse der religiösen Bildung und nicht zuletzt auch der eigenen Nach-

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wuchsgewinnung, ist insbesondere in Städten inzwischen oftmals auf spezialisierte diakonische Träger übergegangen. Die wesentlichen Gründe hierfür sind die erheblichen rechtlichen und administrativen Anforderungen wie auch die ökonomischen Risiken, die mit dem Betrieb einer Kindertagesstätte verbunden sind. Diese Träger sind oftmals Werke der Kirchenkreise, die zugleich den Diakonischen Werken der Landeskirchen als Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege zugeordnet sind. Die kirchenkreisliche Diakonie kann dabei durchaus beachtliche Unternehmensgrößen mit mehreren Tausend Mitarbeitenden und komplexen Holdingstrukturen erreichen. Damit ist eine strukturelle Entkopplung von der parochialen Logik der verfassten Kirche verbunden. Erfahrungen der Entfremdung können die Folge sein (Schildmann 2017). Die Entscheidung, ein – hier: aufgrund der Mietpreise hohes – finanzielles Risiko einzugehen, folgt jetzt der Logik eines überregionalen Trägers und des Portfolios seiner sozialwirtschaftlichen Aktivitäten. Auch das Kita-Werk ist, wie der KDA, ein Teil des differenzierten Organisationsspektrums im kirchlichen Bereich, der sich spröde gegenüber der territorialen Logik der Ortsgemeinde verhält. Einzelne kirchliche Funktionen sind eigenständigen Organisationseinheiten überantwortet, die von den stadträumlich orientierten Gemeinden politisch, inhaltlich und personell weithin entkoppelt sind. Im Falle der Diakonie kommt noch die sozialstaatliche Refinanzierung hinzu, mit der eine hohe Dichte rechtlicher Regulierung und eine hohe ökonomische Professionalisierung einhergehen. Hierdurch nehmen die Entkopplung und die potenziell mit ihr verbundenen Entfremdungserfahrungen tendenziell noch weiter zu (Starnitzke 1996).

8.2.6 Zwischenfazit: Das neue Quartier als Organisationsaufgabe Mit der »Entdeckung« Hammerbrooks für die Kirche trifft eine bestehende, ausdifferenzierte kirchliche Organisation auf ein sich entwickelndes und zudem weithin unbekanntes Quartier. Systemtheoretisch verstanden hat sich die Struktur der Organisation in der Anpassung an ihre Umwelt entwickelt (siehe 8.1). Die differenzierte Struktur ermöglicht es der Kirche, sich auf verschiedene Herausforderungen je spezifisch einzustellen. Neuen Herausforderungen wird in der Regel durch weitere organisationale Differenzierung begegnet. Zugleich entstehen gerade durch die differenzierte Struktur wiederum spezifische Spannungsfelder, wie sie an Hammerbrook exemplarisch sichtbar werden. Diese werden im Folgenden zusammengefasst. Hinsichtlich der räumlichen Zuordnung sind die evangelischen Landeskirchen, die hier im Zentrum der Betrachtung stehen, vertikal gegliedert in Gemeinden mit lokaler und Kirchenkreise mit regionaler Zuständigkeit. Der Gewinn an Flexibilität durch diese Gliederung ist offenkundig: Auf der Ebene des Kirchenkreises können Aufgaben umfänglicher wahrgenommen und Ressourcen bedarfsorientiert mit einem größeren Hebel zugewiesen werden, als das für eine einzelne Gemeinde möglich wäre. Zugleich zeigt sich im vorliegenden Fall eine Schwierigkeit bei der Verarbeitung einer neuen Organisationsaufgabe. Müssen zunächst Ressourcen bereitgestellt werden, um diese neue Aufgabe überhaupt definieren und konzipieren zu können, oder muss erst ein Konzept vorliegen, bevor Ressourcen bereitgestellt werden können? Die institutionelle Logik der Parochialgemeinde weist einen Primat der Ressourcen auf: Wir sind vor Ort »da« und

8. Organisation

sehen dann, was anliegt. Die stärker organisationale Logik des Kirchenkreises ist durch einen Primat des Konzepts charakterisiert: Wir brauchen als Organisation eine Zieldefinition, bevor wir Mittel einsetzen. Beide Logiken konstituieren ein Spannungsfeld, bis dahin, dass sie sich gegenseitig blockieren können. Diese Spannung zwischen institutionell-parochialer und organisationaler Logik spiegelt sich auch im Gegenüber derjenigen Aufgabenbestimmung der Kirche, die die Gemeindepastorin vornimmt, und derjenigen, die die Sprecherin der ökonomischen Interessenvertretung artikuliert. Erstere argumentiert institutionell: Wir sind da und gehen dann auf vorliegende Bedürfnisse ein. Solange wir dort nicht sind, ist das Quartier für uns ein weißer Fleck auf der Landkarte, ein unbestimmtes Gebiet: Die konkrete Rolle ist dann noch zu finden. Die Wirtschaftsvertreterin argumentiert hingegen organisatorisch: Sie hat bereits eine spezifische Organisationsrolle für die Kirche im Quartier definiert und fordert diese – das heißt konkret: die Leistung der Organisation für die Umwelt – von der Kirche ein. Zugleich haben die Kirchen sich funktional ausdifferenziert und eigene Organisationseinheiten etwa für die gesellschaftlichen Bereiche »Wirtschaft« oder »Bildung« ausgebildet. Auch der Wert dieser Differenzierung liegt auf der Hand; geht es doch darum, die Komplexität der Umwelt verarbeiten zu können. Dabei entstehen nun allerdings potenzielle Konkurrenzen und Zuordnungsschwierigkeiten zwischen den räumlich und den funktional orientierten Organisationseinheiten. So wird Hammerbrook als Aufgabe wahlweise der Parochie oder dem KDA zugewiesen. Im Falle der Kindertagesstätte ist nicht die Zuordnung problematisch – der diakonische Träger gilt offenbar fraglos als zuständig –, wohl aber die durch ihn getroffene Entscheidung: Sie ist nicht raumbezogen, aus der Abwägung zwischen verschiedenen möglichen kirchlichen Präsenzen im Quartier getroffen worden, sondern trägerbezogen, in der Balancierung der ökonomischen Risiken im Angebotsportfolio des überregionalen Trägers. Das Ergebnis ist wiederum dasselbe: Das organisatorische Handeln der Kirche gerät in Spannungsfelder, die es erschweren, sich auf Bedarfe des Quartiers einzurichten.9 Zu der Hausforderung, innerhalb der genannten spannungsvollen Konstellationen zu agieren, kommt noch, dass die Kirche zwar eine hoch ausdifferenzierte Organisation ist, aber zugleich mit dem Schwinden ihrer finanziellen und personellen Ressourcen konfrontiert ist und sich daher gezwungen sieht zu sparen (Raffelhüschen, Peters, Gutmann 2017). Das geschieht in der Regel so, dass die Ausdifferenzierung aufrechterhalten, aber die Finanzierung der einzelnen Organisationseinheiten reduziert wird. Das gilt

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Dabei ist zu betonen, dass die Aufteilung in raum- und funktionsbezogene Organisationsteile selbstverständlich historisch kontingent ist. Denn auch die raumbezogene Arbeit der parochialen Gemeinde gliedert sich wiederum funktional, etwa in verschiedene zielgruppenspezifische Angebote. Eine prominente räumliche Repräsentation dessen ist das Gemeindezentrum, das – wiederum unter einem Dach – funktional differenzierte Räumlichkeiten vorhält (dazu Hermelink 2017). Die Pointe der hier besprochenen Differenzierung liegt darin, dass bestimmte Arbeitsfelder aus der funktional differenzierten Parochialgemeinde herausgelöst und in (über-)regionale Organisationseinheiten eingegliedert wurden (im Falle der Kindertagesstätte) oder sich von vornherein historisch neben der parochialen Gemeinde entwickelt haben (im Falle diakonischer Organisationen seit dem 19. Jahrhundert).

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für die Parochialgemeinden, deren personelle Ausstattung insbesondere mit Pfarrstellen von der (rückläufigen) Anzahl der Gemeindeglieder abhängt, ebenso wie für die funktionalen Dienste wie den KDA, der sich, wie dargestellt, gerade verkleinern musste.10 So bleiben zwar die prinzipiellen Zuständigkeiten – für einen Raum oder eine Funktion – bestehen, aber die Möglichkeiten, diesen gerecht zu werden und insbesondere auf neue Bedarfe zu reagieren, nehmen ab. Um im Bild zu bleiben: Die Stühle werden schmaler, und die Möglichkeit, zwischen sie zu fallen, steigt.

8.3 Entdifferenzierungsexperimente Wenn die skizzierten Spannungsfelder mit der ausdifferenzierten Struktur kirchlicher Organisation zusammenhängen, liegt es nahe, ihnen durch spezifische Anstrengungen der Entdifferenzierung zu begegnen. Ein möglicher Umgang besteht also darin, mögliche Blockaden zwischen verschiedenen Teilsystemen der Organisation im Hinblick auf das neue Quartier dadurch zu überwinden, dass eine neue Organisationseinheit geschaffen wird, die gerade diese Differenzierung unterläuft: die also weder eindeutig den vertikalen Ebenen von Gemeinde und Kirchenkreis eingegliedert ist noch eindeutig auf die parochiale oder auf die funktionale Seite der Organisation gehört. Die Hoffnung, die sich mit der Einrichtung einer solchen Organisationseinheit verbindet, ist eine dreifache: Zum einen soll durch die Entdifferenzierung hinreichend Flexibilität entstehen, die verschiedensten Belange des neuen Quartiers wahrzunehmen und auf sie zu reagieren. Zum zweiten soll die in ihrer Ausdifferenzierung unübersichtlich gewordene Organisation umgekehrt für das Quartier einheitlich wahrnehmbar und greifbar werden. Drittens soll dem Problem der knappen Ressourcen dadurch begegnet werden, dass diese an einer Stelle wirksam konzentriert werden. Experimente mit solchen Entdifferenzierungen finden wir in verschiedenen Quartieren; sie werden hier – unter der organisationstheoretischen Perspektive dieses Kapitels – im Überblick zusammengefasst. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Sonderbeauftragungen (8.3.1). Andere, wie die Etablierung »kirchlicher Orte« oder die Orientierung an sozialräumlichen Bedarfen, werden anschließend dargestellt (8.3.2).

8.3.1 Personale Entdifferenzierung: Sonderbeauftragungen Was in Hammerbrook zum Zeitpunkt der Datenerhebung diskutiert wird, ist eine Sonderbeauftragung für das neue Quartier (siehe 8.2.2). Die Idee ist hier, jenseits der organisationalen Differenzierungen in gemeindliche und übergemeindliche Arbeitsfelder und Zielgruppenbeziehungen eine offene Aufmerksamkeit für das zu installieren, was an kirchlicher Arbeit im neuen Viertel »dran« sein könnte. Solche Spezialpfarroder -diakonenstellen (bzw. die Auszeichnung entsprechender Stellenanteile innerhalb

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Etwas anders verhält sich das bei der Diakonie, die weniger von den Konjunkturen der Kirchlichkeit und Entkirchlichung, sondern vielmehr von den Konjunkturen der Ausweitung bzw. des Abbaus des Sozialstaates abhängt.

8. Organisation

bestehender Stellen) werden im Forschungszeitraum vielfach und in verschiedenen Städten eingerichtet. In München-Giesing ist Diakon Reinhard mit einem gemeinsamen Dienstauftrag für zwei Pfarrgemeinden angestellt, wobei die Perspektive auf eine künftige mögliche Fusion beider Gemeinden bereits im Hintergrund stand. Explizit damit verbunden ist der Auftrag, sich um das auf der Grenze beider Gemeinden befindliche Neubauquartier, das Agfa-Gelände, zu kümmern (siehe dazu ausführlich 6.2). Vergleichbar ist die Einrichtung einer Sonderbeauftragung für die (Neue) Mitte Altona in Hamburg. Auf dem hierzu führenden längeren politisch-administrativen Weg war es eine wichtige Zwischenstation, das neue Quartier explizit als Schwerpunktthema der Gemeindearbeit zu definieren. Neben Geflüchteten- und Kulturarbeit setzte man nun auch das neu entstehende Quartier als dritten Schwerpunkt auf die Agenda. Dies wurde auf der Ebene des Kirchenkreises durch eine halbe Stelle untersetzt. Interessant ist hier, dass das Quartier als räumlich beschriebener gemeindlicher Arbeitsschwerpunkt neben zwei funktional bezeichneten Schwerpunkten zu stehen kommt. Darin zeigt sich der spezifisch entdifferenzierte (oder noch nicht differenzierte) Charakter dieses Arbeitsfeldes und der entsprechenden Sonderbeauftragung (siehe 7.2). Nicht immer ist mit einer Beauftragung jedoch eine konkrete Untersetzung durch Stellenanteile verbunden. Für das neue Quartier München Freiham ist der katholische Pastoralreferent im angrenzenden Neuaubing zuständig (siehe 11.3): »Was ich jetzt hier noch im Team eben als Aufgabe habe, jetzt Freiham, der neue Stadtteil, der gebaut wird, um sich da noch ein bisschen Gedanken zu machen, zu überlegen, dort kommen ja fast 25.000 Leute hin, also eine Kleinstadt, und es wird aber keine extra Kirche gebaut, keine eigene Gemeinde aufgebaut, sondern das gehört alles zu uns mit dazu. Und da ist dann die Frage natürlich: Wie macht man dort Seelsorge? Wie ist man für die Menschen da, macht was?« (Koppelaar, FH) Diese diffuse Beauftragung ergibt sich insbesondere aus dem Umstand, dass im neuen Quartier kein Kirchengebäude gebaut wird, an dem die kirchliche Präsenz im neuen Quartier sichtbar würde: »Was ja so nicht möglich ist, wie jetzt hier z.B., wenn eine Kirche da ist und man sagt, kommt einfach in die Kirche. Dann feiern wir Gottesdienste, wir haben hier unsere Angebote, das läuft jetzt da ein bisschen anders.« (Koppelaar, FH) Diffus ist die Beauftragung auch insofern, als sie zu den bisherigen Aufgaben hinzukommt, ohne dass ein Stellenanteil dafür ausgezeichnet wäre: »[Interviewfrage:] Haben sie da viel Zeit, Ressourcen zugeteilt bekommen? Von ihren Aufgaben, oder? [Koppelaar:] Also Stundensatz gibt es jetzt keinen, den ich jetzt dafür verwende, das läuft einfach bei meiner Arbeitszeit mit. Und im Moment ist es eh noch nicht so viel, weil einfach noch keine Leute dort wohnen. [Interviewfrage:] Aber sind sie ausgelastet im Prinzip? [Koppelaar:] Ja. [Interviewfrage:] Schon mit der Arbeit die sie jetzt haben? [Koppelaar:] Eigentlich schon, ja.« (Koppelaar, FH)

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Allerdings wird auch hier mindestens die Hoffnung auf ökumenische Synergien wie auch auf eine organisatorische Verstetigung innerhalb der eigenen Organisation artikuliert: »Was ich auf jeden Fall schon mach’, ist auch schon mal einfach Netzwerkarbeit, auch mal mit der evangelischen Kirche hier mal sich zu treffen, mal zu überlegen: Was macht ihr, was machen wir? Welche Möglichkeiten haben wir? Letztendlich auch zu schauen, welche Unterstützung bekommen wir von unserem Ordinariat, also übergeordneter Stelle? Was unterstützen die, was wird dort gemacht?« (Koppelaar, FH) Die Beauftragung erscheint hier als ein Sondierungsauftrag, der sich ebenso auf das entstehende neue Quartier wie auf die eigene Organisation richtet. Angezielt ist ein spezifischeres Bild: sowohl des Bedarfes als auch der organisatorischen Möglichkeiten, dem zu begegnen. Die in Hammerbrook aufgezeigte verschränkte Wartesituation (Idee oder Ressourcen zuerst) wird hier durch eine unspezifische Erstbeauftragung umgangen. Auch auf den Auswertungsworkshops zur Studie wurde deutlich, dass die Institutionalisierung einer Sonderbeauftragung in Form eines Spezialpfarramtes für neue Quartiere bei den Kirchen inzwischen in einer Vielzahl von Stadtvierteln vorgenommen wurde. Dabei zeigen sich eine Reihe von Herausforderungen, die sich mit der Sonderbeauftragung verbinden. Wie verhält sich die offene Rolle zur Struktur und den Prozessen der Organisation? Zentral erscheint hier die Ein- bzw. Rückbindung der Beauftragten in die sonstige ausdifferenzierte Organisation. Welcher Rückhalt, welche Kontaktflächen, welche Gremienzugehörigkeiten bestehen? Diese Einbindung ist potenziell insbesondere dann prekär, wenn die übrigen Organisationsstrukturen aufgrund von Finanzierungsproblemen ausgedünnt werden. Schnell kann die mit einem Sonderauftrag versehene Pfarrerin für gemeindliche Vertretungsdienste oder andere Aufgaben auf kreiskirchlicher Ebene eingesetzt werden. Damit verbunden ist die Frage des Mandates. Gerade weil eine Sonderbeauftragung funktional nicht eindeutig mandatiert ist, bedarf es offenbar neben der kommunikativen Einbindung und einer starken Rückendeckung durch die nächsthöhere Leitungsebene auch der entschlossenen Selbstmandatierung, jedenfalls der starken Eigeninitiative der Beauftragten, um im diffusen Spektrum der Erwartungen zu konkreten und spezifischen Rollendefinitionen und entsprechenden Aktivitäten zu kommen.11 Im Falle des Giesinger Diakons ist es die Orientierung am Sozialraum, die diese Selbstmandatierung legitimiert. Zugleich ist er sich der begrenzten Legitimationswirkung dieser Mandatierung bewusst: »Genau, ich nehm mir die Zeit. Ich geh nach außen, und das ist genau dieses: Ich bin nicht church in the church. […] Ich sage, schaut euch mal an, wo seid ihr, wo entsteht dieses Neubaugebiet, wer ist näher dran, wo werden sich Menschen hin orientieren, einkaufsmäßig, ja so ganz klassische Sozialraumanalyse. Es ist aber schwierig, solang du im Hintergrund auch von der bayrischen Landeskirche eine Finanzierungslogik hast, die pro Kopf geht. Das heißt, du bekommst pro Kopf Gemeindeglied eine Summe X pro Jahr von der Landeskirche.« (Reinhard, GI)

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Dieser Aspekt wird in Kapitel 9 zu urbanen Akteuren vertieft.

8. Organisation

Zu den Herausforderungen der Einbindung und der Mandatierung kommt, wie oben am Beispiel Freihams deutlich wurde, der Umstand, dass materielle Formen kirchlicher Präsenz wie ein Kirchengebäude, ein Gemeindezentrum oder ein erkennbares Pfarrhaus im neuen Quartier nicht vorhanden bzw. geplant sind und insofern auch keine symbolische oder ressourcenbezogene Unterstützung der Beauftragung leisten. Der Giesinger Diakon arbeitet entsprechend intensiv an anderen, öffentlichen Orten oder mithilfe von temporärer Architektur und wird so zu einem Personalsymbol für Religion im Quartier (siehe 6.2). An dieser Stelle wird die mögliche Überlastung personaler Beauftragungen augenfällig. Was kann eine Einzelperson hier ausrichten? Insgesamt sind die Herausforderungen einer Sonderbeauftragung Implikationen des Freiheitsraums, den die Organisation mit ihrer Einrichtung selbst geschaffen hat. Die diffusen Erwartungen an Funktion und konkrete Inhalte sind zugleich mögliches Hemmnis wie spezifische Chance einer solchen Beauftragung. Darin sind sie dem klassischen parochialen Pfarramt ähnlich, dessen Rolle und Tätigkeitsspektrum selbst bereits von der Anlage her entdifferenziert ist bzw. es mit der Abnahme typisch-volkskirchlicher Erwartungen an Gottesdienst und Zielgruppenarbeit zunehmend wieder wird. Darüber hinaus ist jedoch nicht zu übersehen, dass einige der Herausforderungen vor allem daraus resultieren, dass Sonderbeauftragungen mindestens im christlichkirchlichen Bereich in aller Regel vor dem Hintergrund konkreter Sparnotwendigkeiten und -beschlüsse eingerichtet werden.

8.3.2 Ortsbezogene Entdifferenzierung: Kirchliche Orte Das Konzept der kirchlichen Orte, das die Praktische Theologin Uta Pohl-Patalong formuliert hat, zielt darauf, die die Unterscheidung von Raum und Funktion zu unterlaufen. »Wie aber könnte eine Alternative zu den bisherigen kirchlichen Organisationsformen aussehen, die einerseits eine Dominanz der Ortsgemeinde bedeutet, andererseits jedoch auch sehr ausdifferenzierte nichtparochiale Formen umfasst?« (Pohl-Patalong 2013) Pohl-Patalong plädiert für die Errichtung ausstrahlungskräftiger Orte, an denen eine Kombination aus vereinsähnlichem kirchlichem Leben für den Nahbereich einerseits und inhaltlich-funktionalen Arbeitsbereichen für eine ganze Region andererseits kultiviert wird. Dieses Konzept hat insbesondere eine Affinität zur wechselseitigen Profilierung und Spezialisierung von Kirchengemeinden im urbanen Kontext. Ein solcher Ort liegt im Kontext Hammerbrooks fraglos mit der Citykirche St. Jacobi selbst vor. Die Verbindung von in die Region ausstrahlender Kultur- und Pilgerarbeit, eher sozialräumlich orientierter diakonischer Arbeit und parochialer Gemeindearbeit spiegelt sich, wie oben dargestellt, in der Aufteilung der Pfarrstellen wider. Eine ähnliche »Ortswerdung« lässt sich am Ökumenischen Forum in der Hamburger Hafencity aufzeigen (siehe 2.3.3; 9.2). Auf muslimischer Seite wären etwa die Aktivitäten des VIKZ zu vergleichen, der Moscheen und Bildungseinrichtungen im organisatorischen und räumlichen Verbund betreibt (siehe 6.2). An solchen Orten besteht die Chance, dass die verschiedenen Arbeitsgebiete verstärkt ineinandergreifen. Ob aber diese Chance tat-

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Religion im urbanen Raum

sächlich realisiert wird, ist damit nicht sichergestellt; möglich ist auch, dass die Differenzierung in raum- und in funktionsbezogene Organisationsteile, nun unter dem Dach einer Gemeinde, in unverminderter Form wiederkehrt. Mindestens aber liegt mit dem jeweiligen »Ort«, verbunden mit einem Gebäude oder Gebäudekomplex, ein Integrationssymbol für die verschiedenen Aktivitäten bzw. Organisationsteile vor (siehe Kapitel 2). Damit sind wiederum zwei Herausforderungen verbunden. Je intensiver diese symbolische Integrationsfunktion von Gebäuden mit einer Mischnutzung der Räumlichkeiten einhergeht, desto eher kommt es zu Konflikten, wie sie sich etwa in Karlsruhe am Kirchengebäude (siehe Kapitel 5) sowie im Freiburger Vauban und in der Heidelberger Bahnstadt an den multifunktionalen Kirchenläden (siehe Kapitel 2) zeigen. In Hammerbrook erscheint es aufgrund der stadträumlichen Situation als fraglich, ob die symbolische Integrationsfunktion des Ortes überhaupt in das neue Quartier hineinreicht: Wirkt eine – wenn auch imposante – Hauptkirche über die Schneise des Hauptbahnhofes hinweg? Ähnlich wie für die Person bei der Sonderbeauftragung weisen die durch ein Gebäude markierten Orte ein erhebliches Entdifferenzierungspotential auf. Gerade weil religiöse Gebäude funktional unterbestimmt sind und damit eine potenzielle symbolische Funktion für das Ganze des städtischen Lebens bekommen können (siehe 1.3.1), können sie auch als Symbol für die Einheit einer Organisation jenseits ihrer funktionalen Ausdifferenzierung wirken und damit auch die Wahrnehmung »neuer« Bedarfe in neuen Quartieren legitimieren. Ebenso wie die Person kann aber auch der Ort überlastet oder mindestens in seiner integrativen Leistung überschätzt werden. Nur wer zu verschiedenen Zeiten durch verschiedene Türen unter das gemeinsame Dach tritt, ist damit nicht schon in gehaltvoller Weise miteinander verbunden. Doch inwieweit ist das überhaupt wünschenswert? In normativer Hinsicht – die den Skopos dieser Studie überschreitet – wäre zu betonen, dass, ebenso wenig wie einer Teleologie der Ausdifferenzierung und Organisationswerdung fraglos zu folgen wäre, die prinzipielle Wünschbarkeit organisationaler Entdifferenzierung behauptet werden kann. Nichtsdestotrotz bleibt dort, wo die Ausdifferenzierung in die organisationale Unverbundenheit übergeht, mindestens für den theologischen Blick ein Stachel im Fleisch: Das Konzept »Kirche« lässt sich seit neutestamentlichen Zeiten nicht vollständig von der Vorstellung einer Einheit der Verschiedenen lösen (vgl. nur Galater 3,28), hinter der immer auch die Frage nach der lebendigen Verbindung des Differenten steht. Das gilt auch, wenn man dem ideologischen Überschuss des Begriffs »Gemeinde«, der diese Einheitsvorstellung insbesondere trägt, skeptisch gegenübersteht (Hermelink 2011: 171ff). Wo genau Differenzierung in Entfremdung übergeht, ist ein diffiziles Problem, das zwischen theologischer Sozialethik und kirchlicher Praxis angesiedelt ist.12

12

Die theologische Aufgabe besteht an dieser Stelle, dogmatisch gesprochen, in einer eschatologisch aufgeklärten Theorie und Praxis der Kirche.

8. Organisation

8.4 Fazit Organisationen stehen als soziale Systeme in einem komplexen Verhältnis zu ihrer Umwelt. Vor allem die großen Kirchen reagieren auf diese Komplexität durch Ausdifferenzierung: Sie weisen eine vertikale Ebenenstaffelung der territorialen Zuständigkeiten (evangelisch: Gemeinde, Kirchenkreis, Landeskirche) und eine zusätzliche Vielfalt von funktional orientierten Organisationseinheiten auf. Einerseits resultiert daraus die Fähigkeit, auch mit hoher Komplexität umzugehen. Andererseits ist gerade ein neues Quartier eine Herausforderung für diese ausdifferenzierte Organisation, da ermittelt werden muss, welcher Organisationsteil hier auf welche Weise zuständig ist. Ausgangspunkt ist in der Regel die parochiale Logik, die überhaupt die stadträumliche Zuständigkeit (insbesondere der Ortsgemeinde) vermittelt. Zwischen ihrer – kirchentheoretisch gesprochen – institutionellen Logik mit dem Primat der Ressourcen (wir sind vor Ort »da« und sehen dann, was anliegt) und der stärker organisationalen Logik des Kirchenkreises (wir brauchen als Organisation eine Zieldefinition, bevor wir Mittel einsetzen) kann es zu Spannungen kommen. Ähnliche Spannungen können zwischen parochial und funktional orientierten Organisationseinheiten auftreten. Am Beispiel der Zuweisung Hammerbrooks als Aufgabe an die Parochie oder alternativ an den Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt zeigt sich, dass ein Quartier auch in dieser Hinsicht organisatorisch zwischen die Stühle fallen kann. Die genannten Schwierigkeiten verstärken sich durch die Ausdünnung der in den einzelnen Organisationsteilen verfügbaren Ressourcen. In der Konfrontation mit neuen Quartieren und im Angesicht des Sparzwangs experimentieren Kirchen mit ihrer Organisationsstruktur. So werden Spezialpfarrämter oder -diakonate eingerichtet, die quer zur bestehenden Struktur stehen. Einzelne ausstrahlungskräftige kirchliche Orte wie etwa Citykirchen stehen für das Ganze von Kirche in einer ganzen Region und sind wiederum zugleich funktional spezialisiert. Im Kontext solcher Experimente entstehen Freiräume und Flexibilitätsgewinne, aber auch potenziell Konflikte zwischen »alten« und »neuen« Strukturelementen. Insbesondere wird die klassisch pyramidale Struktur der landeskirchlichen Entscheidungsproduktion und Administration aufgeweicht durch ein fluideres Neben- und Ineinander von Organisationseinheiten ohne vollständig geklärte Kompetenzen. So entstehen Strukturen, die flexibler, aber eben auch konflikthafter, instabiler und in ihrer Legitimität umstrittener sind. Für die kirchliche Praxis ist zu fragen, welche organisationsspezifischen Chancen, aber auch Barrieren hinsichtlich neuer Stadtquartiere bestehen. Welche alternativen Maßnahmen können Kirche und Diakonie als Unternehmen ergreifen, um auf die Herausforderungen neuer Stadtquartiere zu reagieren? Welche Ressourcen werden dafür benötigt, und an welcher Stelle der Organisation sollen sie freigesetzt werden? Am Beispiel Hammerbrooks erscheint zudem fraglich, ob und inwieweit angesichts der Herausforderung neuer Quartiere die primäre kirchlich-parochiale Orientierung an der Wohnbevölkerung hilfreich ist. Denn Quartiere sind mehr als Wohnorte: Sie sind Arbeitsorte, Erholungsorte, Kulturorte, Einkaufsorte etc. Funktionspfarrämter bilden solche Ausdifferenzierungsprozesse nach, sind aber zumeist nicht räumlich orientiert. Viele parochial tätige Pastorinnen und Pfarrer haben de facto funktionale Spezialisierungen

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Religion im urbanen Raum

durchlaufen. Zu erwägen wäre in dieser Hinsicht die stärkere Entkopplung der Finanzierung von Pfarrstellen von der Zahl der die in der Parochie wohnenden Mitglieder. Zugleich ist zu betonen, dass gerade in der diffusen Beauftragung der parochialgemeindlichen Ämter – vor Ort da zu sein und zu sehen, was anliegt – selbst eine wertvolle Ressource für die flexible Wahrnehmung von Bedarfen und Herausforderungen in neuen Quartieren liegt. Soll diese Ressource auch in Zukunft genutzt werden, dann sollte die institutionelle Logik von Kirchlichkeit nicht gänzlich zugunsten eines organisationsförmigen (spezifisch-zielorientierten) Agierens aufgegeben werden.13

13

Eine programmatische Aussage wie: »Die Finanzierung von Kooperationsprojekten wird wichtiger werden als die Erhaltung von Institutionen oder Strukturen« (EKD 2020), erscheint vor diesem Hintergrund als tendenziell unterkomplex.

9. Akteure

9.1 Akteursrollen im Stadtraum Die Stadt ist eine Bühne, auf der verschiedene Akteure auftreten und interagieren. Sie hegen Erwartungen aneinander, was ihr Auftreten und ihr Verhalten angeht; und sie haben jeweils eigene Vorstellungen davon, als wer sie auf welche Weise auftreten wollen. Im Abgleich von Erwartungen und eigenen Ambitionen stabilisieren sich die Rollen, in denen sie sich begegnen. Dabei sind Rollenerwartungen einerseits historisch vorgegeben; niemand tritt als reines Unikat oder Original auf. Andererseits entwickeln sich diese Rollenerwartungen durch die jeweiligen Individuen, die die Rollen ausfüllen, und diejenigen, die in anderen Rollen mit ihnen interagieren. Das Rollenspektrum sozialer Akteure ist beständig in Bewegung.1 Das gilt auch und insbesondere in der Stadt. Wie sich Sozialität hier im allgemeinen verdichtet, so verdichtet sich auch das Rollenspiel sozialer Interaktionen. Die Stadt bietet Bühnen auf ihren öffentlichen Plätzen; sie bietet in der Ausdifferenzierung ihrer Orte, einer Drehbühne gleich, unterschiedlichste Kulissen, in denen Akteure sich begegnen können. Einzelne Individuen können dabei in hoher Geschwindigkeit und routiniert zwischen den Orten und damit auch zwischen verschiedenen Rollen wechseln: Morgens der Vater, der sein Kind zur Schule bringt, vormittags der Student im Seminarraum einer Universität, nachmittags der Mitbegründer eines Startups und abends Mitglied im Kirchenchor. An den unterschiedlichen Orten begegnet er dichten Rollenerwartungen und einer Vielzahl von Antagonisten, die das vor der jeweiligen Kulisse geforderte Spiel ebenso kennen wie er, und die doch laufend miteinander verhandeln, wie es jeweils aktuell in Szene zu setzen ist.2 In dieser Perspektive manifestiert sich sozialer Wandel auch und besonders in der Verschiebung von Rollenspektren, gegebenenfalls auch in der Auflösung oder gänzlichen Uminterpretation bestehender Rollen. Das gilt nun auch für die Akteursformation »religiöser Akteur in der Stadt«, auf die im Folgenden der Fokus gerichtet werden soll. Diese

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Die hier eingenommene Sicht auf die soziale Welt als Bühne ist orientiert an Goffman 2017. Zur Verschränkung von Sozialpsychologie und urbaner Anthropologie vgl. Lindner 2005.

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Religion im urbanen Raum

Rolle, oder besser: dieses Bündel verschiedener Rollen ist aufgrund der sich wandelnden Stellung von Religion in der Gesellschaft in Bewegung geraten. Die Bürgertumsforschung hat die Rolle des protestantischen Pfarrerherrn, wie sie sich im Gefolge der Reformation ausbildete, intensiv untersucht. Gelehrter, Autoritätsperson, moralisches Vorbild in Amts- und Lebensführung, CEO der häuslichen Ökonomie, exemplarischer Familienvater, und in all dem herausgehobene Figur der lokalen, hier: der städtischen Szenerie: Derlei Pfarrherrlichkeit ist spätestens mit dem 19. Jahrhundert untergegangen, auch wenn einige Fragmente dieser Rollenzuschreibung, und sei es nur im Modus der Enttäuschung, nach wie vor lebendig sind.3 Wenn es um das Verhältnis von Religion und Raum geht, so ist also insbesondere nach den Rollen religiöser Akteure im städtischen Raum zu fragen. Dabei ist »Akteur« im Sinne eines mitspielfähigen Subjekts innerhalb des sozialen Gewebes kein stabiler und gegebener Status. Vielmehr verdankt sich schon die Positionierung als Akteur bzw. »Subjekt« einer Vielzahl von sozialen Praktiken der Subjektivierung und Selbstbildung (Reckwitz 2021; Alkemeyer et al. 2013). In dieser Perspektive besteht die Stadt nicht aus gegebenen Subjekten, aus deren intentionalen Interaktionen ein sozialer Zusammenhang entsteht, sondern aus Praktiken, die für die an ihnen teilnehmenden Individuen bestimmte Subjektpositionen vorsehen – oder eben nicht. In diesem Sinne werden Akteure sozial formiert, wobei diese Formierung keine rein passive ist: Akteure sind an der Formation ihres eigenen Akteurseins wiederum in vielfältiger Weise beteiligt. Der Terminus »religiöser Akteur« ist dabei bewusst unscharf gewählt: Im Blick sind solche Akteursrollen, die gemäß dem in der vorliegenden Studie zu Grunde gelegten Religionsbegriff als religionsbezogen gelten, das heißt von den jeweiligen Rollenträger:innen als religionsbezogen ausgefüllt und von anderen Rollenträger:innen als religionsbezogen adressiert werden. Dabei kann es sich um hauptberufliche religiöse Funktionäre (Priester, Pfarrerinnen, Imame, Diakoninnen, Kirchenmusiker etc.), um ehrenamtlich in einer religiösen Gemeinschaft engagierte Personen, sonstige Mitglieder von Religionsgemeinschaften oder auch um einzelne »selbstmandatierte« Individuen handeln, die ein religiöses Anliegen verfolgen. Neben solchen individuellen Rollen können aber auch kollektive Rollen in den Blick genommen werden: Auch die Akteursrolle einer religiösen Gruppe, einer Kirchen- oder Moscheegemeinde in einem Stadtquartier entsteht aus der Verhandlung zwischen Rollenerwartungen und Erfüllungsbereitschaft. Im Folgenden wird keine erschöpfende Beschreibung religiöser Akteursrollen gegeben, sondern allein danach gefragt, inwieweit religiöse Akteure in ihrem Rollenhandeln explizit auf den Raum bezogen sind: indem sie etwa an der Stadtplanung teilhaben, als Raumgestaltende unternehmerisch tätig sind oder qua Amt mit einer spezifischen ›Raumzuständigkeit‹ ausgestattet sind. Dabei sind jeweils einerseits die Erwartungen anderer an religiöse Akteure und andererseits die Selbstinterpretationen derjenigen Individuen, die als religiöse Akteure auftreten, zu beschreiben. Das geschieht zunächst am Beispiel der Hafencity in Hamburg (9.2) und anschließend in einer moderaten Systematisierung für die in der Studie untersuchten Quartiere insgesamt (9.3). Auch dieses Kapitel schließt mit einem Fazit (9.4).

3

Vgl. Kuhlemann 2002.

9. Akteure

9.2 Die Formierung religiöser Stadtakteure In der Planung eines neuen Stadtquartiers spielen auch religiöse Akteure eine Rolle, oder besser: verschiedene Rollen. In dem Maße, in dem sie sich in Prozesse der Stadtplanung verstricken, sehen sie sich mit Erwartungen anderer konfrontiert und müssen sich selber dazu verhalten. Diese Erwartungen sowie die Erfüllungsbereitschaft der Rollenträger:innen stehen in Verbindung mit Vorstellungen, welche Rolle Religion im neuen Quartier einnehmen soll (9.2.2). Dabei kommt es bei den hauptamtlichen Mitarbeitern der Kirche zu regelrechten Sekundärprofessionalisierungen: Pfarrer werden zu Eventmanagern, selbstmandatierten Quartiersentwicklern und »Stadtplanungsprofessoren«, die zusammen mit anderen Vertretern aus der Stadtgesellschaft Netzwerke aufbauen und eigenständige Projekte verfolgen (9.2.3). Dies wird einführend am Beispiel des Hamburger Stadtteils Hafencity und seiner Quartiersentwicklung dargestellt (9.2.1).

9.2.1

Hafencity (Hamburg)

Der Stadtteil Hafencity in Hamburg ist deutschlandweit sicherlich einer der bekanntesten der in dieser Studie vorgestellten: dank seiner exzeptionellen Stellung als größtes europäisches Stadtteilentwicklungsgebiet, wegen seiner Prestigebauten wie der Elbphilharmonie, aber auch aufgrund der Möglichkeit, innerstädtisch modellhaft zu wachsen und sich zu vergrößern (Kaufmann, HC). Er liegt im Bezirk Hamburg-Mitte der Freienund Hansestadt Hamburg. Es handelt sich um ein Konversionsquartier auf einem ehemaligen Hafengelände. Die Planungen begannen im Jahr 1996; 2001 wurde mit dem Bau begonnen.4 Insgesamt soll Wohnraum für 7500 Haushalte bzw. für 15.000 Einwohner:innen geschaffen werden. Die endgültige Fertigstellung des Quartiers ist für den Zeitraum 2025 bis 2030 geplant.5 Der erste Eindruck, wenn man die Hafencity betritt, ist der von Ruhe und Weite. Es gibt hier noch viel Platz durch die vielen Baulücken und Baustellen zwischen den hohen Gebäuden. Einen eindrucksvollen Kontrast zu den breit angelegten Straßen mit ihren noch jungen Bäumen bilden die alten Bestandsgebäude aus Backstein, die zum Teil vor den neuen Gebäuden stehen, wie das Alte Zollhaus vor dem Spiegel-Gebäude. »Also es gibt, wenn man es polemisch sagt, im Grunde in Hamburg zwei Zerstörungswellen. Die eine Welle ist natürlich die brutale Zerstörung des Krieges, und dann gibt es eine stadtentwicklerische Zerstörungswelle der Nachkriegszeit, wo man so ein bisschen im Schwung der Begeisterung für Corbusier und Konsorten hier einfach große Schneisen reingeschlagen hat und die autogerechte Stadt gebaut hat und viele Gebäude auch noch kaputt gemacht hat, die eigentlich noch gestanden haben. Viele Stadtstrukturen, die es noch gab, hat man im Grunde nochmal zusätzlich geopfert. Also Hamburg war schon sehr zerstört, aber es war weniger zerstört, als das, was man noch zerstört hat, um seine neuen Stadtideen durchzusetzen.« (Gertz, HC)

4 5

https://www.hafencity.com/de/chronik-der-hafencity.html, abgerufen am 13.9.2020. https://www.hafencity.com/de/faq-konzepte-planung/wann-wird-der-stadtteil-fertiggestellt-.h tml, abgerufen am 13.9.2020.

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Religion im urbanen Raum

Zum Zeitpunkt der Datenerhebung besteht die Hafencity aus zehn sehr unterschiedlichen Quartieren mit jeweils eigenen Konzeptionen. Auf 170 Hektar Stadtentwicklungsgebiet wurden nach und nach Grundstücke an Bauherren vergeben und Infrastrukturen entwickelt. Im Jahr 2018 ist etwa ein Drittel der Fläche bebaut, ein weiteres Drittel wird zu dieser Zeit auf den Weg gebracht: Architekturwettbewerbe haben stattgefunden, die Grundstücke wurden vergeben und Baugenehmigungen erteilt (Kaufmann, HC). Die städtische Hafencity GmbH verwaltet die Bebauung und vergibt Grundstücke. Nach dem jetzigen Vergabeschlüssel werden 70 Prozent an gute Konzepte und nur 30 Prozent nach gebotenem Höchstpreis vergeben. Das war allerdings einmal anders: Die ersten Grundstücke wurden allesamt im Höchstpreisverfahren ausgeschrieben. Dann engagierte man einen Beauftragten für das Soziale, eine Projektstelle, die um 2010 eingerichtet wurde, um die Bauingenieure um einen Social Engineer zu ergänzen. Seine Aufgaben umfassten die soziale und kulturelle Weiterentwicklung, also alles, was über den rein baulichen Bereich der Quartiersentwicklung hinausgeht. »Als ich im Jahr 2007 angefangen habe mit meiner Arbeit, habe ich als erste Aufgabe bekommen, ein Argumentationspapier zu schreiben, warum hier in der Hafencity in jedem Falle eine soziale Mischung vermieden werden sollte. Das ist mir ziemlich schwergefallen. Peu à peu hat sich diese Haltung entwickelt und mittlerweile ist es dann so, dass die Grundstücksausschreibungen so beeinflusst werden konnten, dass eine soziale Mischung möglich wurde. Das muss meiner Meinung nach auch das Ziel sein.« (Kaufmann, HC) Anstatt sich primär als Sozialarbeiter zu verstehen, der face to face arbeitet, engagierte sich der Beauftragte darüber hinaus in Struktur- und Planungsfragen, z.B. durch Einflussnahme auf die Ausschreibung von Grundstücken mit dem erwähnten Ziel, die soziale Mischung im Quartier zu befördern (Kaufmann, HC). Auch die Entwürfe zu den Freiflächen bedurften seiner Ansicht dringend einer Umarbeitung, auf die er aktiv hinwirkte: »Wissen Sie eigentlich, wie die ersten Entwürfe aussahen, die für die Freiflächen angefertigt wurden? Das müssen Sie sich mal anschauen. Hier vorne, sehen Sie diese Grünfläche? Den Spielplatz? Das war am Anfang ein steinerner Platz. Ganz schlimm. Und das zu öffnen und weicher zu machen, den Stadtteil weicher zu bekommen, das war eine Herausforderung.« (Kaufmann, HC) Inzwischen gibt es neben der hochpreisigen Investorenarchitektur auch geförderten Wohnungsbau, wodurch über die relativ günstigen Genossenschaftswohnungen hinaus die soziale Mischung im Quartier begünstigt wird. »Ich finde, man kann hier in der Hafencity wirklich Entwicklungsgeschichte ablesen. Man kann eine Reflexion des eigenen Handelns und der Stadtentwicklung ablesen. Im Westen war es viel stärker auf die monetären Aspekte ausgerichtet, und man wollte mit dem Verkauf der Grundstücke Geld verdienen. Im Verlauf wurde dies geöffnet, und das Soziale ist mehr in den Vordergrund gerückt.« (Kaufmann, HC)

9. Akteure

Der Stadtteil ist auch als ein Standort für Großunternehmen geplant.6 Die Stadt Hamburg will sich hier als Wirtschaftsförderungsquelle und Ankerplatz der globalen Weltwirtschaft präsentieren. Einer Abwanderung an andere attraktive Wirtschaftsstandorte soll entgegengewirkt werden. Aufgrund dieser Ansiedlung von Unternehmen arbeiten hier mehr Leute, als Anwohner vorhanden sind. Die ersten Bewohner:innen sind um 2007 eingezogen, im Westen, in der Nähe der Elbphilharmonie. Diese Zeit wird von den Akteuren als Pionierphase bezeichnet: »Diese Pionierphase ist natürlich auch eine sehr wichtige und eine einmalige Phase, ich sprech’ da immer gern von goldenen Momenten, die Menschen erleben« (Kaufmann, HC). 2009 wurde die Grundschule erbaut, und erst 2011 wurden der kleine Kiosk und die Restaurants um einen Supermarkt und eine Drogerie ergänzt. Nach und nach stellte sich eine Mischung der Generationen ein, einerseits viele Seniorenhaushalte, andererseits viele Familien, »wo fast eine dörfliche Struktur herrscht, also man kennt sich noch« (Loewe, HC). Stadtbildprägend sind die einkommensstarken Haushalte: »Ich meine, man kann sagen, dass sich in der hochwertigen Gestaltung eine soziale Gruppe repräsentiert. So könnte man das auch sehen. Das ist nicht schön. Das sehe ich als Manko an.« (Kaufmann, HC) Aus Perspektive des social engineering ist eine wichtige Frage, wie ein neues Stadtquartier vor einer spekulationsbasierten Hochpreisentwicklung bewahrt werden kann. Diese ist noch einmal von der Gentrifizierungsthematik im engeren Sinne zu unterscheiden – eine Differenzierung, die auch für andere Quartiere relevant ist: Innerhalb des neuen Quartiers findet keine direkte Verdrängung statt, weil ja noch keine Bevölkerung ansässig ist, die verdrängt werden könnte (Loewe, HC). Vermittelt kommt es doch zu gentrifizierungsähnlichen Effekten, und zwar gesamtstädtisch betrachtet bzw. in Blick auf die Nachbarviertel (siehe 5.3.1). So seien im benachbarten Viertel Rothenburgsort solche Effekte recht deutlich zu bemerken: »Die Hafencity wird künstlich aufgeblasen, und es funktionieren Dinge. Und in Rothenburgsort stirbt das Viertel und wird nicht weiterentwickelt. Oder die Leute ziehen weg – obwohl sie es da gut haben: Sie wollen ihren Kindern gute Schulen geben, dann ziehen sie dahin, wo Schulen sind. Denn niemand lässt sein Kind durch LKW-Quartiere fahren mit dem Fahrrad.« (Saenger, HC) Während große Mengen an Fördergeldern für die Entwicklung der Hafencity ausgegeben werden, werde, so die Kritik, der Nutzen und die Verknüpfung mit den angrenzenden Quartieren nur begrenzt durch die Planer:innen mitgedacht. Für das Stadt(teil)Marketing bedeutet das einen schwierigen Balanceakt. Wenn für die Aufwertung eines Quartiers aktiv geworben wird, zum Beispiel durch die Einbindung der Akteure vor Ort durch geführte Touren (siehe unten), kann das nicht nur als ›harmlose‹ Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit interpretiert werden, sondern auch als Anspruch auf eine elitäre Sonderstellung innerhalb des Stadtganzen, der scharfe Kritik nach sich zieht:

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https://www.hafencity.com/de/leben/arbeitsplatz-hafencity-der-stadtteil-als-unternehmenssta ndort.html, abgerufen am 29.6.2020.

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Religion im urbanen Raum

»Und die Linke hat uns auch kritisiert, irgendwann gab es T-Shirts, ›Gentrifizierung beginnt mit einer geführten Tour‹. Und das war ein eindeutiger Schlag gegen unsere Geschichte. Naja, es stimmt natürlich, aber was soll man machen? Was wäre die Alternative dazu? Die sieht auch nicht besser aus, das Gar-nichts-Machen.« (Saenger, HC) Social engineering kann ganz allgemein als der Versuch verstanden werden, Planungsprozesse sozialverträglich zu gestalten. Allerdings zeigt sich, dass die Genese von neuen Stadtquartieren faktisch nur zu Bruchteilen das Ergebnis absichtsvoller Planungsvorhaben ist. Neben dem Paradigma der Stadtplanung steht daher das der Stadtentwicklung, das stärker die Eigendynamik und Unvorhersehbarkeit komplexer Dynamiken in den Vordergrund stellt (siehe 11.1). »Es gibt viele verschiedene Akteure, die in einem mehr oder weniger koordinierten Zusammenspiel ein Stadtquartier entwickeln. Wir müssen also weg von diesem hoheitlichen Top-Down-Modell hin zu dem Modell, was sozusagen ein kollektives Stadtwerden betrifft. Das ist natürlich noch nicht bei allen so angekommen, wie es wünschenswert wäre. Es gibt immer noch dieses andere Modell in den Köpfen vieler Akteure, und das wird auch noch so praktiziert.« (Kaufmann, HC) Der Interviewte betonte dabei, dass sein Verständnis von Partizipation über das Ausfüllen von bunten Zetteln auf einem Workshop hinausgehe. Ziel sei vielmehr die Etablierung eines dauerhaften Kontaktes und einer niedrigschwelligen Kommunikation, etwa über direkte und konkrete Ansprechpartner und Veranstaltungsformate, die den wechselseitigen Austausch zwischen Planer:innen und betroffenen Bürger:innen sicherstellt: »Es geht um das Thema Selbstwirksamkeit. Dass die Leute das Gefühl haben, sie werden ernstgenommen, und dass die Sachen, die sie sich wünschen, umgesetzt werden. […] Verstehen Sie? Es ist ein Unterschied, ob es eine Marketingveranstaltung ist oder ob es sich um einen ernsthaften Versuch handelt, auf die Menschen und deren Bedürfnisse einzugehen.« (Kaufmann, HC) Darüber hinaus betont er die Notwendigkeit von Formaten, welche die Bewohner:innen in die Verantwortung nehmen. Wenn eine Grundidentifikation hergestellt wurde, sei der nächste Schritt, Möglichkeitsräume zu schaffen, in denen Dinge konkret mitgestaltet werden können und müssen. Als beispielsweise 2008 überraschend viele Familien mit kleinen Kindern in die Hafencity zogen, stand man vor der Problematik, dass ein Spielplatz benötigt wurde. »Die Geschäftsführung hat nach langem Hin und her zugestimmt und ein Grundstück zur Verfügung gestellt. Ich habe daraufhin alle Eltern und Kinder des Quartiers eingeladen, und wir haben gemeinsam überlegt, was der Spielplatz braucht, und was die Elemente sind, die dort installiert werden sollen. Dann haben die Eltern auch noch geäußert, dass auch ein Spielhaus notwendig [sei], denn es regnet in Hamburg ja immer so viel, und da braucht es einen trockenen Ort. Wir haben zugestimmt, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass ein Verein gegründet wird, und dieser dann das Spielhaus betreibt. Es muss jemand verantwortlich sein. Die Eltern haben erst geschluckt und am Ende tatsächlich einen Verein gegründet. Es war eine sanfte Form der Erpressung nach dem Motto ›Ihr bekommt etwas, wenn ihr euch engagiert.‹« (Kaufmann, HC)

9. Akteure

Der Verein sammelte Geld, und einer der Väter entwarf das Haus. Das hatte den Effekt, dass die Hafencity nun nicht nur über einen attraktiven Spielplatz mit einem Spielhaus verfügt, sondern auch über einen Ort, mit dem sich die Menschen identifizieren, weil sie ihn selbst geplant haben. Und die Hafencity GmbH fand gleichzeitig eine Gruppe von Menschen, welche die Verantwortung für diesen Ort übernahmen, ihn gestalteten und mit Leben füllten. »Ziel war es, dass die Menschen Verantwortung für den Ort übernehmen. Dass die Menschen aktiviert werden. Und das funktioniert nur, wenn sie die Möglichkeit haben, etwas zu gestalten. Sie konnten dieses Haus selbst bauen, sie konnten es selbst entwerfen! Im Grunde haben sie den Spielplatz in ihre Verantwortung übernommen.« (Kaufmann, HC) Es sind insbesondere solche und andere Beteiligungsprozesse, in denen religiöse Akteure eine Rolle in der Stadtplanung und Stadtentwicklung erhalten, wie im Folgenden näher ausgeführt werden soll.

9.2.2 Erwartungen von Stadtplanenden an religiöse Akteure Aus der Sicht des social engineers der Hafencity erwiesen sich die religiösen Akteure als wichtige Ansprechpartner:innen und Verbündete in Beteiligungsprozessen, zumal ihre Netzwerke in der Regel über das jeweils betroffene Quartier hinausreichen (Kaufmann, HC). Aufgrund ihrer unterschiedlichen Positionierungen konnte er mit den Kirchen strategisch und taktisch gut kooperieren: »Wir haben uns sehr oft die Bälle zugespielt. Und bei solchen Sachen ist das sehr gut. Ich bin auf der Seite der Hafencity GmbH und kann die Türen öffnen und solche Sachen auf den Weg bringen, und [der Pastor in Katharinen] ist zum Beispiel sehr hilfreich, wenn es um Fundraising geht bei Firmen. Da kann ich schlecht auftreten, aber er kann gut auftreten. Ein sehr wertvoller Akteur also. […] Es ist gut, wenn man eine Mischung aus Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen hat, die solche Projekte tragen. Wenn Sie jetzt fragen, was die Kirche damit zu tun hat, dann stellt sich hier die Frage, wie man Kirche definiert. Oder Religion.« (Kaufmann, HC) Der Beauftragte der Hafencity GmbH identifiziert die punktuelle Kooperation als nützlich für beide Seiten, etwa wenn er als einzelner Sozialwissenschaftler rund 40 Ingenieuren oder Immobilienwirten gegenübersteht und für unterschiedlichste soziale Belange in der Stadtentwicklung kämpfen muss. Das sei ein hartes Terrain, bei dem es nützlich sei, sich außerhalb des eigenen Umfeldes Partner:innen zu suchen, »und da sind die Kirchen wichtig« (Kaufmann, HC). Umgekehrt habe er sich zugunsten der Belange der Stadt in die Meinungsbildung der kirchlichen Akteure eingebracht: »Ich war bei einem Auswertungsworkshop dabei vom Ökumenischen Forum. Dort waren auch alle kirchlichen Vertreter. Ich weiß nicht, wie gut Sie die Kirchen kennen, ich jedenfalls kannte sie nicht so gut und war erschüttert, was das für Strukturen sind. Extrem konservativ und sehr bedacht auf jeden Cent. Es ging ausschließlich um die Kosten und darum, welche Maßnahme der Kirche wieviel genau bringen würde. Ich denke

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Religion im urbanen Raum

jedoch, dass das nicht so einfach funktioniert. Natürlich ist das ein Zuschussbetrieb. Die Kirche macht da nun ein Café und hat aber keine Erfahrung im Betreiben eines Cafés. Die Kirche bringt sich vielfach ein, aber daraus wird kein direkter Ertrag erzielt. Es ist sehr schwierig, den Mehrwert zu messen. Und da haben sich viele Akteure wirklich schwergetan in diesem Workshop. Meine Person war dann auch sehr wichtig, weil ich gesagt habe, wie wichtig das Ökumenische Forum ist. Das meine ich damit, dass man sich wechselseitig stärken muss, um die sozialen Projekte gegen schwergängige Strukturen durchzusetzen.« (Kaufmann, HC)7 Solche als fruchtbar beschriebenen Interaktionen zwischen Akteuren sind getragen von Erwartungen an die Rolle des jeweils anderen. Welche raumbezogenen Rollen werden religiösen Akteuren, insbesondere den Kirchen, im Kontext der Stadtentwicklung zugeschrieben, und welche Erwartungen sind damit im Einzelnen verbunden? Zunächst werden Kirchen als wichtige soziale und moralische Instanzen adressiert, die sich als durchsetzungsfähige Bündnispartner in sozialen Belangen zeigen, weil sie in stadtweite Netzwerke eingebunden sind: »Ich finde, die Kirche hat ihre wichtige Rolle auch deswegen gehabt, weil es immer gut ist, wenn man andere soziale Akteure hat, mit denen man Pingpong spielen kann. Und in Altona und im [Quartiersentwicklungsprojekt] Q8 war es immer so gewesen, dass wir uns die Bälle zugespielt haben. Ich konnte sagen, wir haben so eine Abgabe für das Quartiersmanagement [die die Investoren in der Hafencity gezahlt haben]. Das konnten die dann nehmen und in den Verhandlungen, die sie mit [einem privaten Immobilienentwickler] und den anderen hatten, vorbringen und dann sagen: ›In der Hafencity geht das, warum nicht bei uns?‹« (Kaufmann, HC) Die Erwartung, soziale Belange in der Stadtentwicklung zu fördern, wird verstärkt an die Kirche, sofern sie Grundeigentümerin ist, herangetragen: »Also grundsätzlich geht es darum, dass die Kirche sich begreifen muss, sobald sie Boden besitzt in der Stadt, oder auch in der inneren Stadt, ist sie Teil des Systems und der Bodenfragen und all der Geschichten.« (Saenger, HC) Der Anspruch ist, dass sich Kirche als »Teil des [städtischen] Systems« begreift und von daher eine Mitverantwortung für die Gestaltung des Gemeinwesens trägt. Als urbaner Akteur soll sie sich zugleich in Form von mischgenutzten, öffentlichen Räumen ihrem größeren Umfeld öffnen, andererseits aber auch, wie ein anderer Stadtentwickler formuliert, »moderne heilige Orte« bereithalten. Sie solle als Kraftpunkt fungieren; zugleich solle sich die Gemeinde von einem geschlossenen Club zu einer stadträumlichen Community erweitern, die unabhängig von partikularen Bekenntnissen funktioniere. Religion wird in solchen Ansprüchen als eine Unternehmung adressiert, die durch eine klare Zwecksetzung in der und für die Stadt definiert ist. Dabei kann diese Zwecksetzung inhaltlich geradezu als Zweckfreiheit bestimmt werden: »Es ist eine Art von, schon fast eine Art gesellschaftliche Verpflichtung, das bereitzustellen oder irgendwie, so lang es geht, zu halten. Deshalb bin ich sehr froh über die 7

Zum Ökumenischen Forum selbst siehe 2.3.3.

9. Akteure

Innenstadtkirchen. Auch in ihrer Funktion, wie sie da sind. Auch wenn es […] ein gigantischer Luxus und für einige eine gigantische Raumverschwendung ist – man könnte ja viel mehr daraus machen: Für mich ist das wichtig.« (Saenger, HC) Gerade die »gigantische Raumverschwendung« der großen Innenstadtkirchen wird hier in ihrer positiven Funktion für die Stadt gewürdigt. Wenn Kirchen sich hingegen an Bodenspekulationen beteiligen, statt sie zu verhindern, wird das kritisch wahrgenommen. In den Interviews wird die Erwartung an religiöse Akteure geäußert, einen Gegenpol zur »kapitalistischen Logik« zu bilden – schon in ihrem eigenen Interesse. Denn wird ein Viertel gentrifiziert, ziehen auch die Gemeindemitglieder um in andere Quartiere, wo sie sich das Wohnen noch leisten können. »Man konnte über viele Jahre Geld mit Bürovermietung oder Kaufhausvermietung verdienen, und es haben auch alle Akteure mitgemacht, auch die Kirche im Übrigen. Also St. Jacobi ist einer der Hauptvermieter in der inneren Stadt an der Mönkebergstraße und verdient auch daran sehr gut. Also soviel kann man das auch wieder in die Kirche zurückspiegeln. Die Kirche ist ein Bodenakteur in der Bodenfrage, und in der inneren Stadt geht es genau um solche Projekte, dass man es schafft, dass die Bürgergesellschaft wieder Einfluss auch im Hochpreissegment der inneren Stadt bekommt, das heißt, die Stadt auffordert, keine weiteren Grundstücke zu verkaufen, macht sie eh nicht, oder sehr wenig. Oder dort, wo sie noch Restgrundstücke hat, Anteil öffentlichen Raumes, so wie hier, dass sie den dann einbringt, ihren Einfluss. Und geltend macht. Und in Planungskraft umsetzt.« (Saenger, HC) Der Kirche wird aufgrund ihres Grund- und Bodenbesitzes hier eine wirtschafts- und sozialpolitische Macht zugeschrieben. Sie könne mit ihren Geldern freie Plattformen aufbauen, die wiederum den Bürgerwillen abfragten, um ihn dann in Planungsprozessen umzusetzen (Saenger, HC). Diese Erwartungen deckt sich mit der Selbstsicht eines Pfarrers, dass die Kirche Druck auf die Stadt machen könne und diese Macht auch nutzen müsse. Oft seien z.B. teure Neubauten durch die Bewohner:innen gar nicht gewünscht, so berichten die religiösen Akteure aus ihren Kreisen. Stattdessen wünsche man sich eine punktuelle Sanierung. Und an dieser Stelle dem Bürger:innenwillen Gehör zu verschaffen, liege eben in der Verantwortung, die jene Macht mit sich bringe (Gertz, HC; FFT HC). Damit sind von außen und innen hohe Erwartungen formuliert; und es wird von Seiten Stadtplanender wahrgenommen, dass die Kirchen dem auch in vielfacher Weise nachkommen. Zum Teil seien es die Gemeinden, die aktiv werden und einzelne Stadtentwicklungspfarrer in Sonderbeauftragungen mit dem Anliegen betrauen, Stadt lebenswert zu gestalten.8 Doch auch andere kirchliche bzw. kirchennahe Akteure würden hier aktiv: »Wie die Evangelische Hochschule, die dieses Feld für sich entdeckt und dann etwas wie ein Aktionsforschungsprojekt daraus macht und so etwas beforscht und begleitet 8

Während der Forschung (und auch in partieller Rückkopplung mit ihr) wurden bspw. in Berlin Sonderpfarrämter geschaffen, die mit Aufgaben der Entwicklung von kirchlichen Präsenzstrukturen in Neubauquartieren, der urbanen Vernetzung und Stadtentwicklung betraut sind, siehe 8.3.1.

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Religion im urbanen Raum

und dadurch vorantreibt. Hier in Mitte Altona, da ist es so gewesen, dass die evangelische Stiftung Alsterdorf, die haben nun den Anspruch, das [Quartiersentwicklungsprojekt] Q8 zu machen. Die haben gesagt, OK, wir treiben das hier voran und stoßen einen großen Beteiligungsprozess an. Und damit sind sie der zentrale Träger geworden.« (Kaufmann, HC) Allerdings werden auch Enttäuschungen artikuliert, wenn Kirchen sich nicht zuständig zeigen: »Auch die Kirche ist wenig bereit, da zu investieren.« (Saenger, HC) Und auch wenn das kommunikative Engagement von Kirchen in der Regel gewürdigt wird, gilt das nicht in gleicher Weise für ihre ökonomische Kompetenz. Zum Beispiel wird von kirchlichen Akteuren nicht unbedingt erwartet, dass sie gute Deals aushandeln, um ihre innerstädtischen Grundstücke zu entwickeln, »weil die Leute keine Profis sind. Sie sind keine Projektentwickler, sie wissen nicht, wie man mit Projektentwicklern redet. Und sie haben sich überall über den Tisch ziehen lassen, überall. […] [J]etzt will ich auch nicht den Pastoren zu nahe treten, aber es gibt einen bestimmten Typ von Menschen, die das machen, und die sind im Kommunikativen oft gut und kriegen noch soziale Belange hin, aber das Ökonomische, das ist eher selten.« (Saenger, HC) Die Erwartungen, die hier an die hauptamtlichen Kirchenvertreter herangetragen wird, ist eine hohe Kompetenz im Kommunikativen; was »soziale Belange« angeht, ist die Erwartung schon schwächer ausgeprägt, aber das ›harte‹, sprich: ökonomische Verhandeln-Können mit Projektentwicklern wird ihnen abgesprochen. Da dies ein bekanntes Problem sei, erwarteten die professionellen Stadtentwickler von der Institution, dass sie sich dieses Problems angemessen widmen solle. Deshalb »müsste die Kirche aus meiner Sicht selbst schon solche Abteilungen aufgebaut haben« (Saenger, HC). Es sei eine gesellschaftliche Verpflichtung, diese Arbeit zu machen, die Strukturen dafür zur Verfügung zu stellen und diese so lange wie möglich zu halten.

9.2.3 Rollenanpassungen und Sekundärprofessionalisierungen religiöser Akteure In verschiedenen Quartieren lässt sich beobachten, dass Pfarrer:innen, Diakon:innen oder andere ehrenamtliche Mitarbeiter:innen zu regelrechten Expert:innen für ›ihren‹ Stadtteil und seine Geschichte werden. Sie archivieren stadtteilbezogenes Wissen, forschen zur Lokalgeschichte, bringen sich aktiv in Stadtkonferenzen ein, initiieren Bürgerplattformen oder moderieren in Konfliktfällen. Sie wachsen in Rollen hinein, die neben persönlichen Motiven dabei immer auch durch soziale Außenerwartungen an ›Kirche‹ und ihre Vertreter geprägt sind. Dabei lässt sich der Prozess einer Aushandlung und Anpassung von Rollenerwartungen zwischen den unterschiedlichen religiösen und nicht-religiösen Akteuren beobachten. Mehrere Pfarrer:innen und Diakone, die im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung interviewt wurden, haben über ihren ursprünglichen Beruf eine

9. Akteure

regelrechte Sekundärprofessionalisierung in Sachen Stadtentwicklung durchlaufen. Das kann exemplarisch verdeutlicht werden am Pfarrer von St. Katharinen. Den Beginn der Geschichte markiert ein städtebaulicher Wettbewerb, der das unmittelbare Umfeld der Kirche betraf und an dem die Gemeinde daher selbst aktiv teilgenommen hatte (Gertz, HC). Von den Ergebnissen dieses Wettbewerbs waren die Anwohner:innen allerdings nicht begeistert. Daraufhin wurde die Kirchengemeinde aufgefordert, in kritischer Weise initiativ zu werden. Anfänglich wurde diese Initiative mit dem Hinweis seitens der Stadt zurückgewiesen, dass der Wettbewerb schon vorbei sei. Die Kirchengemeinde habe daraufhin massiv öffentlichen Druck ausgeübt, bis die Pläne nochmal angepasst wurden. »Wenn sie nachher noch mal um die Kirche herumgehen, sehen sie so ein gewisses Wohngebäude. Zur […] Straße hin ist es Büro, als Schallschutz, und dahinter sind so Wohngebäude, die jetzt auch durchaus – aufgrund dieses Kampfes kann man sagen, den wir damals geführt haben, mit Nachbarn um die Kirche zusammen – von der Maßstablichkeit, vom Stadtgefüge eigentlich sich ganz schön anschmiegt an die Katharinenkirche, und auch so eine Maßstablichkeit hat, die stimmt. Aber das war ein ziemlicher Prozess. Das hat uns natürlich total reingeschmissen, da war es endgültig vorbei mit: Wir sitzen in der Kirche, machen schönen Gottesdienst, Vorträge und gute Kirchenmusik, sondern wir waren wirklich auch gefordert. Da ging es tatsächlich auch um die Zukunft von Katharinen im Kontext dieser Stadt, und da mussten wir uns eben engagieren und dadurch haben wir natürlich ganz viel auch gelernt.« (Gertz, HC) Es ist hier ein städtebaulicher Konflikt, der den Pfarrer mit seiner Gemeinde »total reingeschmissen hat« in den urbanen Kontext. Die passivische Formulierung täuscht allerdings darüber hinweg, dass dieser Konflikt von den Beteiligten höchst aktiv als Frage nach der »Zukunft von Katharinen im Kontext dieser Stadt« interpretiert wurde. Die situative Gegebenheit wird als Impuls, initiativ zu werden, gesehen (»da mussten wir uns eben engagieren«). Offensichtlich standen dem Pfarrer die persönlichen und professionellen Ressourcen zur Einnahme dieser Sichtweise zur Verfügung. Auffällig ist auch die Art der Selbstmandatierung, die sich in dem Zitat ausspricht: Der Pfarrer bittet keine Vorgesetzten um Erlaubnis, sondern ergreift eigenständig die Initiative. In Folge dieser Entwicklung differenziert sich die Rolle des Kirchenmannes aus in die eines Gemeindepastors, eines Citykirchenpfarrers und eines urbanen Entrepreneurs. Er hält reguläre Gottesdienste, Hochzeiten, Taufen und Beerdigungen ab. Er fördert im Zuge der Entwicklung zur Citykirche allerlei Kulturformate, die Künstler:innen, Schauspieler:innen und andere Kulturschaffende in den Kirchenbetrieb mit einbindet. Und er nimmt die Haltung des Entrepreneurs ein, nimmt Gelegenheiten wahr, hat einen Blick für individuelle Konstellationen und ihre Potentiale sowie ein Händchen für die kreative Generierung von Ressourcen. Diese unternehmerische Einstellung ist im Falle des Pfarrers nicht zuletzt biographisch bedingt: »Dadurch, dass er in Kopenhagen gelebt hat, in Dänemark, mit seiner Familie, mit seiner Frau, Familie, ist das erst hier entstanden. Und beide haben dort studiert, haben die das auch als positiv wahrgenommen, also wie Stadt sein kann. Wie Stadt noch sein kann, wie Innenstadt noch sein kann, als Innenstadtpastor ist das sein vitales Interesse.

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Religion im urbanen Raum

[…] Und zu gucken, dass er hier eine sehr tote Innenstadt vorgefunden hat – in so einer kleineren Stadt im Norden, bei klimatisch schlechteren Bedingungen, ist da doppelt so viel, dreimal so viel Leben wie hier. Und das, hier hat er nur die Konsumstadt, und das ist ein bisschen einseitig und traurig.« (Saenger, HC) Auffällig an diesem Zitat ist die überschießende Perspektive, die über das Bestehende hinausgeht: die Sensibilität dafür, »wie Stadt noch sein, wie Innenstadt noch sein kann«. Diese Sensibilität, dieses »noch mehr« ist nach der hier vorgetragenen Interpretation durch eine biographische Kontrasterfahrung bedingt. Es ist wohl nicht überinterpretiert anzunehmen, dass die Bereitschaft des Pfarrers, im Stadtkontext aktiv zu werden, schon vor dem unmittelbaren Auslöser, dem Konflikt um ein strittiges Wohnungsbauvorhaben, bestand. Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund auch, dass der Pastor sein Verhältnis zur entstehenden Hafencity nicht mit kirchlich-theologischen, sondern mit stadträumlichen Kategorien beschreibt. Er versteht sich gegenüber dem neuen Stadtquartier selbst als »Nachbar«, der ebenso wie andere Nachbarn auch von der Bebauung beeinflusst ist und, wenn Stadt schlecht geplant ist, darunter auch zu leiden hat: »Insofern bin ich im Verhältnis zur Hafencity auch Nachbar. Beides also ist auch mein Lebensort, mein Kiez, meine Nachbarschaft.« (Gertz, HC) Zur unternehmerischen Einstellung gehört neben den genannten Aspekten der Kontextsensibilität, des Mehr-Sehens und der Selbstmandatierung das Denken und Agieren in Netzwerken. Hier findet der Pfarrer in einem Stadtentwickler und Architekten einen Verbündeten in seinem Einsatz für das Quartier: »Tatsächlich wäre es überhaupt nicht gegangen, wenn es die nicht die entsprechenden Partner gäbe. Also z.B. ein spannender Typ, mit dem mal zu sprechen sich lohnt: Rolf Saenger, guter Freund von mir, Architekt, Stadtentwickler von der Firma […].« (Gertz, HC) Umgekehrt beschreibt der erwähnte Architekt den Pfarrer auch als »Stadtplanungsprofessor« oder »Stadtpastor« (Saenger, HC). Beide stabilisieren sich folglich wechselseitig in ihren Rollenzuschreibungen als Experten für die Entwicklung des Stadtgebiets. Durch die verschiedenen Aufgaben an unterschiedlichen Brennpunkten innerhalb der Stadt, so der Architekt, würden die Pastoren zwangsläufig über ihre ursprünglichen Aufgaben hinauswachsen. Aber auch umgekehrt kommt es zu einer Art Kompetenztransfer bzw. zur Sekundärprofessionalisierung. Stadtentwickler:innen und Stadtorganisator:innen, die sich mit Kirche und Religion beschäftigen, entwickeln im Laufe der Zeit selbst eine Art von Theologie der Stadt. Es entsteht so etwas wie eine religionsbezogene Rolle des Stadtplaners. Gerade die mit nichtkirchlichen Akteuren geführten Interviews zeigen teilweise ein starkes Interesse an Kirche bzw. Religion im Stadtkontext: »Es fehlen nämlich religiöse Orte in diesem neuen Planungsgebieten, das merke ich überall. Während noch bis in die 90er Jahre selbstverständlich Kirchen gebaut worden sind, fingen spätestens in den 2000ern, nach der Wiedervereinigung hörte es auf, da wurde gar nicht mehr an neue Kirchen gedacht, also sind die weg. […] Es war irgendwie immer ein Anliegen und Wunsch, einen physischen Ort der Stille zu bauen. 2002,

9. Akteure

2003 haben wir bestimmt damit angefangen, dass in der City Süd irgendwas fehlt. […] Wir haben die Leute bemerkt, wie sie da sitzen am Ufer, auf der Bank, meditieren und irgendwie einen ruhigen Ort suchen. Genau wie die Innenstadtkirchen für Touristen: für Leute, die einfach nicht nur konsumieren wollen, sondern eine Art Ruheort suchen. […] Also konsumfreie Räume zu haben, Orte, an denen man sich erholen kann, anders nachdenken.« (Saenger, HC) Bemerkenswerterweise fordert der Stadtentwickler nicht nur den Bau von religiösen (im Sinne von: den Kirchen äquivalenten) Orten in neuen Stadtquartieren ein, sondern er hat auch eine ganz klare Vorstellung davon, welchen religiösen Zweck sie erfüllen sollen. Städte brauchen demnach »einen physischen Ort der Stille«, »konsumfreie Räume« und »Orte, an denen man […] anders nachdenken« kann. In diesem Sinne religiöse Orte haben nach der Vorstellung des Stadtentwicklers einen heterotopen Charakter, sie sollen gleichsam eine Gegenwelt zur Umtriebigkeit der Stadt inszenieren: Ruhe ausströmen, Erholung für Geist und Sinne anbieten, Meditation ermöglichen, den Sinn für ›Anderes‹, der Konsumorientierung Entgegengesetztes wecken.9

9.2.4 Zwischenfazit: Die »Rolle« von Religion in der Stadt Die Arbeit gemeinwesenorientierter Akteure ist durchzogen von normativen Ideen, wie Stadt zu denken ist. Die Stadt ist nicht nur ein Ort, »an dem Fremde leben« (Siebel 2015), sondern auch ein Ort, an dem unterschiedliche Vorstellungen über die Art dieses Zusammenlebens ausgehandelt werden. Dabei sind es nicht nur Vertreter und Vertreterinnen der Kirchen, die eine Vorstellung davon haben, wozu Religion dem Gemeinwesen dient – oder worin sie ihm schadet. Auch Architektinnen, Stadtentwickler, Mitarbeiter der städtischen Verwaltung, Künstlerinnen oder freie Gewerbetreibende haben dazu oft eine pointierte Meinung. Definiert man Theologie als Reflexion religiöser Praxis im weitesten Sinn, lässt sich so von einer regelrechten Theologie der Stadtplanenden bzw. ›Stadtschaffenden‹ (ebenfalls im weitesten Sinn) sprechen. Am Beispiel von Altona zeigt sich, dass die normativen Vorstellungen, die seitens der Stadtgesellschaft in Bezug auf öffentliche Religion formuliert werden, geprägt sein können durch die Vorstellung eines friedlichen Mit- und Nebeneinanders der Religionsgemeinschaften (siehe Kapitel 7). Andernorts wird der Religion eine sozialdiakonische Funktion zuschrieben oder ihr heterotoper Charakter als Errichtung eines Gegen-Raums gegenüber dem hochverzweckten urbanen Umfeld betont (siehe Kapitel 2). Solche expliziten oder impliziten Vorstellungen der »Rolle« von Religion in der Stadt stehen im Hintergrund der Rollenerwartungen an religiöse Akteure wie auch des Selbstverständnisses religiöser Rollenträger:innen. In der Hamburger Hafencity kreisen diese Erwartungen vor allem um die sozialen Belange in einer reichen Stadt: Als kommunikativer und als ökonomischer Akteur sollen Kirchen sich insbesondere für die Belange derer stark machen, die keinen hinreichenden ökonomischen oder politischen Einfluss auf die Entwicklung des Quartiers haben. Sie sollen kommunikatives Forum sein und

9

Zum Konzept der Heterotopie siehe 2.3.2.

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Religion im urbanen Raum

als Transmissionsriemen in den Planungsprozessen fungieren, und sie sollen ihre eigene ökonomische Potenz als Grundbesitzer in der Stadt für eine sozial gedeihliche Entwicklung des Quartiers nutzen. Die Möglichkeit, diese Rolle zu erfüllen, geht weit: Wie am Beispiel der Stiftung Alsterdorf deutlich wird, kann einer diakonischen (und damit kirchlichen) Einrichtung die zentrale Trägerschaft für eine Quartiersentwicklung übertragen werden. Diese Rollenerwartung ist dabei nicht allein moralischer Natur. Vielmehr verbindet sie sich mit der Vorstellung von einer genuin transfunktionalen und insbesondere transökonomischen Funktion von Religion in der Stadt: in der »gigantischen Raumverschwendung« der Innenstadtkirchen unverzweckte Räume offen zu halten, in denen das städtische Gemeinwesen seine eigene Vergesellschaftung räumlich transzendieren und symbolisch zur Darstellung bringen kann.

9.3 Typen religiös-urbaner Akteure Hinsichtlich ihres sozialen Orts werden Kirchen und andere religiöse Akteure gerne der Zivilgesellschaft zugerechnet. Sie sind Teil von Netzwerken, die auf Vertrauen basieren und sind getragen von freiwilligem Engagement, Spenden und Mitgliedsbeiträgen.10 Doch die großen christlichen Kirchen in Deutschland sind damit nicht vollständig bestimmt. Aus historischen Gründen weisen sie eine spezifische Staatsnähe und innere staatsanaloge Organisation auf (Kirchenrecht, Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts, demokratieanaloge Mitbestimmung, behördliche Struktur der Verwaltung etc.). Zudem sind sie in Form ihrer sozialen Dienstleister in Diakonie und Caritas auch Teil des sozialen Marktes bzw. Quasi-Marktes und haben sich hier in den letzten Jahrzehnten stark ökonomisch professionalisiert. Als Organisationen weisen sie also einen hybriden Status zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft auf.11 Im Folgenden wird gezeigt, dass auch die verschiedenen Rollen individueller religiöser Akteure marktförmige, staatsförmige und zivilgesellschaftliche Elemente aufweisen. So treten individuelle religiöse Akteure als Stadtunternehmer:innen (9.3.1), aber auch als (staatsanaloge) Stadtbeauftragte (9.3.2) sowie als stadtbezogene zivilgesellschaftliche Intermediäre (9.3.3) auf. Zusätzlich wird im Folgenden eine vierte Rolle untersucht: die der religiösen Charismatikerin im städtischen Raum, die zur dargelegten Typologie noch einmal quer liegt (9.3.4). Diese Rollenelemente liegen vielfach ineinander, lassen sich aber zum Zweck der Beschreibung idealtypisch unterscheiden. So entsteht, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, eine kleine Phänomenologie raumbezogener religiös-urbaner Akteursrollen.12

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Zum Begriff der Zivilgesellschaft siehe ausführlich 10.1. Zur Theorie hybrider Organisationen vgl. Evers, Ewert 2010. Dabei ist noch einmal zu betonen, dass es eine Vielzahl von Rollenzuschreibungen an religiöse Akteure gibt, die sich nicht explizit auf den städtischen Raum beziehen und daher außerhalb des Fokus dieser Studie liegen. Religion in der Stadt geht auch am Ort ihrer Akteure nicht in ihren räumlichen Bezügen auf.

9. Akteure

9.3.1 Stadtunternehmer:in Neue Stadtquartiere versetzen religiöse Institutionen in die Rolle von Start-Up-Unternehmen.13 Der neue, in vielerlei Hinsicht als offen und gestaltbar scheinende Raum weckt unternehmerischen Geist. Eingespielte Pfade werden verlassen, neue Wege gesucht und eingeschlagen, mit neuen Präsenz- und Praxisformen experimentiert. Das entsprechende Handeln religiöser Akteure, wie es oben (9.2.3) exemplarisch beschrieben wurde, ähnelt in manchem der Figur des Entrepreneurs, die seit den 1990er Jahren in den Wirtschaftswissenschaften Karriere gemacht hat. Anders als der Typus des klassischen Managers, der in einer administrativen Funktion als Unternehmensverwalter gesehen wird, gilt der Entrepreneur idealtypisch als Innovator, der Gelegenheitsstrukturen erkennt und analytisch gewonnene Erkenntnisse in neue, risikoreiche Unternehmungen umsetzt (Schumpeter 2000). Das »Mindset« der Entrepreneurin besteht wesentlich im Erfassen und Verfolgen von opportunities, ohne dabei von vornherein auf umfangreiche verfügbare Ressourcen zurückgreifen zu können. Diese zu erschließen, gehört vielmehr selbst zur genuinen Aufgabe: »Entrepreneurship is the pursuit of opportunity beyond the resources you currently control« (Stevenson 1985: 1990). Der Entrepreneur entwirft sich als »unternehmerisches Selbst« (Bröckling 2007), in dem er in Gelegenheiten Möglichkeitsräume erkennt, Ressourcen erschließt, Hemmungen überwindet und im Vollzug dieses Prozesses Neues schafft. Innovative Produktentwicklung, schneller und kontinuierlicher Kundenkontakt sowie der Aufbau von Netzwerken gehören dabei zu wesentlichen Handlungsparametern (Ripsas 1997). Von den Wirtschaftswissenschaften ausgehend hat das Paradigma des Entrepreneurship Eingang in die Selbstbeschreibung von sozialen, kulturellen und religiösen Organisationen gefunden. Start-Ups im Bereich der Sozialwirtschaft entwickeln kreative Geschäftsideen, die erwerbswirtschaftliche Ausrichtung mit sozialen, kulturellen und ökologischen Zielen vereinbaren wollen (Franssen, Scholten 2009). Auch innerhalb der evangelischen Kirche lässt man sich – nicht zuletzt vermittelt durch die in dieser Hinsicht sehr viel innovationsfreudigeren Freikirchen – durch den Unternehmensgeist von Start-Ups anregen.14 Diese Anregung ist im evangelischen Bereich vorgespurt durch die Debatte um Diakonie als christliches Unternehmen (Jäger 1986) bzw. um das »Unternehmen Kirche« seit den 1980er Jahren, die noch einmal in der Auseinandersetzung um das EKD-Papier »Kirche der Freiheit« aufbrach (EKD 2006). In der Hinwendung zum Paradigma des Unternehmertums spiegeln sich dabei weitreichende Strukturveränderungen der institutionell verfassten Landeskirchen: »Stellenreduktion, Regionalisierung, Zusammenlegung von Gemeinden und Kirchenkreisen sind evidente Zeichen dieser Veränderung. Begleitet wird dieser institutionelle ›Umbau‹ von einer breiten Debatte um die ›Krise‹ bzw. die ›Zukunft‹ der Kirche« (Klostermeier 2011: 9).

13 14

Teile des folgenden Textes wurden bereits veröffentlicht in: Juliane Kanitz, Thorsten Moos, Christopher Zarnow 2023. So war auf dem Kirchentag 2019, bei dem ein Barcamp dem Thema »Kirche und Entrepreneurship« gewidmet, vgl. https://static.kirchentag.de/production/htdocs/fileadmin/dateien/zzz_NEUE R_BAUM/Programm/DEKT37_Programmheft.pdf; abgerufen am 29.6.2020.

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Religion im urbanen Raum

So gesehen reagiert die Umstellung auf die Unternehmenslogik bereits auf einen Krisendiskurs der institutionalisierten Religion. Dabei mitverhandelt werden Fragen der theologischen Legitimität einer Selbstbeschreibung von Kirche als »unternehmerisches Selbst« (ebd.). Zur Haltung urbanen Unternehmertums gehört es, professionelle und organisatorische Grenzen zu überschreiten, neue Wege und Bündnispartner zu suchen und Netzwerke zu knüpfen. Pfarrerinnen betätigen sich, wie oben exemplarisch gezeigt wurde (9.2.3), als Quartiersentwicklerinnen, Stadtentwickler als Theologen, die »nach der Stadt Bestem« (Jeremia 29,7) in Kooperation mit unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften suchen. So entstehen quer zu Professionen und Organisationen liegende lokale Netzwerke, die diesseits behördlicher Strukturen Ideen, Projekte und Bauunternehmungen voranbringen. Nicht von ungefähr ist die Thematik des urbanen Unternehmertums in der vorliegenden Studie in Hamburg situiert: gehört ein unternehmerischer Geist doch gleichsam zur »Eigenlogik« (Berking, Löw 2005) der durch Handel und Seefahrt geprägten Hansestadt. Doch das mindset des Entrepreneuers, Projekte15 voranzubringen, Gelegenheitsstrukturen zu erkennen und Ressourcen zu erschließen ist nicht nur in Hamburg zu einem Handlungsparadigma geworden, an dem sich auch Stadtentwickler und Pastor:innen orientieren. Innerhalb dieses Paradigmas wird die Religion selbst als eine Unternehmung konzeptualisiert, die durch eine spezifische Zielsetzung in der und für die Stadt definiert ist. Das Paradigma des unternehmerischen Denkens zeigt sich auch in der Professionalität, mit der Fragen der Markenbildung und des Corporate Designs von den religiösen Akteuren bedacht werden. Das Thema Markenbildung spielt angesichts eines medial inszenierten Konkurrenzkampfes zwischen den Städten zunehmend eine Rolle. Werbeagenturen kreieren Images von Städten, in großangelegten Kampagnen werden Slogans entworfen (»beBerlin«, »München liebt dich«), welche die jeweilige Stadt in ihrer Besonderheit herausstellen und touristisch attraktiv machen sollen (Löw 2010). Auch Kirchengemeinden und Kirchenkreise lassen sich wie andere Unternehmen von Werbeagenturen beraten und erstellen ein Corporate Design, das sie sichtbar und wiedererkennbar machen soll. Am Beispiel der Hauptkirche St. Katharinen lässt sich beobachten, wie der Ausdruck »die Katharinen, dieses Kunstwort« (Gertz, HC) über die Bedeutung als Name eines Gebäudes und der dort beheimateten Gemeinde hinaus zu einem Label weiterentwickelt wurde: »Das ist ein Riesenpotenzial, was wir auch versuchen [… zu benutzen, etwa dass man] den Namen von Katharinen, vielleicht auch Teile des CIs übernimmt. Genau wie Katharinenkita und die Katharinenschule, die haben die gleiche Farbe wie die Katharinen, aber sie sind nicht Katharinen, also in keiner Weise. Und das ist so ein Trick, mit dem man dann arbeiten kann.« (Saenger, HC) Das Corporate Design bzw. die Corporate Identity (CI) schafft also nicht nur eine Wiedererkennbarkeit nach außen hin, sondern es schließt auch ganz unterschiedliche Ein-

15

Vgl. zum Begriff des Projekts Luc Boltanski, Eve Chiapello 1999.

9. Akteure

richtungen wie eine Schule und eine Kita mit dem Kirchengebäude zu einer sichtbaren Einheit zusammen. Das Corporate Design der Katharinengemeinde ist konsequent umgesetzt, alle Flyer sind damit gestaltet. Diese sind sehr leicht wiederzuerkennen und basieren auf der Farbkombination Pink und Orange. Die Kombination sticht unter den Stilen der Gemeinden, die in der vorliegenden Studie untersucht wurden, hervor. Das einzige grafische Element besteht in einem langgezogenen »t« in St. Katharinen, das an einen Kirchturm erinnert. Auch das Motto »klug – mutig – schön« ist augenfällig und immer über dem Namen der Kirche zu finden. St. Katharinen als Label ist also aufgrund sorgfältiger Überlegungen eingerichtet und etabliert worden. »Meine Kollegin […], als sie als Hauptpastorin hier angefangen hat, […] da hat ihr ein Werbemanager zum Dienststart ein CI geschenkt. Also die Entwicklung eines CIs, also einer Corporate Identity, eines Logos und was dazu gehört. Und diesen Spruch: Klug, mutig, schön, den gab es vorher schon. Den hat der Kirchenvorstand sich ausgedacht, und dann haben die diese Farben und das mit dem Turm, der da immer an der Seite ist, uns geschenkt. Seitdem haben wir das. Dadurch hat es so eine gewisse, aber ganz frische Klarheit. Aber das ist schon so auch so eine allgemeine Werbefeier, was wir alles so machen.« (Gertz, HC) Auf der einen Seite betont der Pfarrer die »frische Klarheit« des öffentlichen Auftritts. Auf der anderen Seite werden Teile der eigenen Praxis unter die Überschrift einer »allgemeine[n] Werbefeier« gerückt. Auch darin drückt sich eine unternehmerische Haltung gegenüber der Institution Kirche aus, wie auch das folgende Zitat belegt: »Das ist einfach auch die Frage der Zeit. Kopierte schwarz-weiß Flyer: Die Zeit ist vorbei, wenn es nicht total trashig sein soll. Es kommt immer darauf an, es ist wichtig, Markenbildung, Labelbildung irgendwie. Du kannst ja damit auch was transportieren, wenn Kirche was transportieren will.« (Loewe, HC) Unabhängig von allen näheren inhaltlichen Fragen, wird »Markenbildung, Labelbildung« hier als Gebot der Stunde gesehen, das es zu befolgen gelte, »wenn Kirche was transportieren will«. Interessant ist, dass jegliche Rückbindung der Marke als »Transportmittel« an das, was es inhaltlich zu transportieren gilt, an dieser Stelle ungenannt bleibt. In ihrer Markenbildung wird Kirche als kollektiver religiöser Akteur im Stadtraum sichtbar, ohne die eigene Funktion für diesen Stadtraum genau spezifizieren zu müssen. Insofern steht das Thema der Markenbildung am Übergang von individuellen religiösen Akteuren (die als Stadtunternehmer:innen die Markenbildung vorantreiben) und kollektiven religiösen Akteuren (die durch die Markenbildung sichtbar werden).

9.3.2 Beauftragte:r Von der Stadtunternehmerin, die sich selbst mandatiert und um Ressourcen bemüht, ist der Beauftragte idealtypisch zu unterscheiden, der Mandat und Ressourcen von der Organisation erhält. Das Ziel der Sonderbeauftragung ist, jenseits der organisationalen Differenzierungen in gemeindliche und übergemeindliche Arbeitsfelder und Zielgruppenbeziehungen eine offene Aufmerksamkeit für das zu installieren, was an kirchlicher

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Arbeit im neuen Viertel »dran« sein könnte. Solche Spezialpfarr- oder -diakonenstellen (bzw. die Auszeichnung entsprechender Stellenanteile innerhalb bestehender Stellen) werden vielfach und in verschiedenen Städten eingerichtet. Zur Beauftragung gehören in der Regel – aber nicht immer – ein dafür ausgewiesener Stellenanteil sowie eine Stellenbeschreibung, die sich spezifisch oder auch eher diffus auf das neue Quartier bezieht (siehe dazu ausführlich 8.3.1).

9.3.3 Zivilgesellschaftliche:r Intermediär:in Während das Rollenparadigma des Stadtunternehmers auf selbstmandatierte Aktivität in den stadträumlichen Gelegenheitsstrukturen ausgerichtet ist und das der Beauftragten sich an den Zielen und der Governance der Organisation orientiert, geht das zivilgesellschaftliche Rollenparadigma von der Vorstellung einer spezifischen Rolle von Religion in der Stadtgesellschaft aus. Die damit einhergehenden kollektiven und individuellen Akteursformationen werden im Folgenden exemplarisch anhand des Berliner Quartiers Blankenburg beschrieben.16 Zu diesem Zweck werden das theologische Selbstverständnis des evangelischen Pfarrers (a) sowie des Imams der Ahmadiyya-Moschee (b) dargestellt und kontrastiert. Im Fokus steht dabei, wie sie ihre Rolle als religiöse Akteure im Horizont der Zivilgesellschaft begreifen und sich dabei theologisch selbst verstehen.

a) Der evangelische Pfarrer: Zivilgesellschaftliches Engagement als religiöser Akteur Im Kapitel 10, das dem bürgerschaftlichen Engagement gewidmet ist, werden verschiedene Funktionen analysiert, die Religion in Bezug auf bürgerschaftliches Engagement haben kann: Partizipieren, Moderieren, Integrieren, Regulieren und Repräsentieren. In seiner Selbstreflexion als religiöser Akteur werden diese Funktionen vom evangelischen Pfarrer nicht nur ausdrücklich benannt und reflektiert. Er versieht sie vielmehr auch mit unterschiedlichen theologischen Begründungsmustern: »Na, ich sage mal, Gott will, dass allen Menschen geholfen wird und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, so heißt es im Timotheus-Brief. Das heißt, es gibt schon auch eine Verantwortung der Kirche für die öffentlichen Angelegenheiten. Kirche ist ein wichtiger zivilgesellschaftlicher Akteur, und die Stärkung der Zivilgesellschaft ist eine wichtige kirchlich-gemeindliche Aufgabe.« (Friedmann, BB) Die Verantwortung der Kirche für öffentlichen Angelegenheiten wird in dieser Passage im Rückgriff auf eine Textstelle des Neuen Testaments begründet. Die Perikope trägt in der Lutherbibel die Überschrift: »Das Gemeindegebet«. Dort heißt es wörtlich: »So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in Ehrbarkeit. Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland, welcher sagt, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen.« (1. Timotheus 2, 1–4)

16

Zur näheren Beschreibung des Quartiers siehe 10.2.1.

9. Akteure

Die Pointe, die der Pfarrer aus dieser Passage zieht, lautet, dass der Aufgaben- bzw. Verantwortungsbereich der christlichen Gemeinde zu überschreiten ist hin auf eine gesellschaftlich-allgemeine Ebene. Neben diese biblisch-theologische Begründungslinie des zivilgesellschaftlichen Auftrags der Kirche tritt an anderer Stelle eine kulturtheologische: »Meine Motivation ist eigentlich genau dieser Gedanke, dass die Kirche eigentlich eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe hat. Sie ist einer der großen zivilgesellschaftlichen Akteure. Das heißt: Alle Angelegenheiten, die die Zivilgesellschaft betreffen, sind auch kirchliche Angelegenheiten, denn die Kirche transportiert die geistigen und kulturellen Grundlagen unserer Kultur. Die Kirche ist damit auch ein ganz wichtiger Kulturträger, eine der großen Sozialisationsinstanzen. Das ist ihre Aufgabe. Die Kirche ist die Kinderstube der bürgerlichen Gesellschaft.« (Friedmann, BB) Der Auftrag, ja die Verantwortung der Kirche für die Gestaltung der Zivilgesellschaft wird hier mit ihrer Funktion als »Kulturträger« und »Sozialisationsinstanz« begründet. Zivilgesellschaft und (kirchliche) Religion werden in ein denkbar enges Verhältnis gebracht, fast miteinander identifiziert.17 Jedenfalls kommt der Kirche vor diesem Hintergrund nicht nur eine Neben-, sondern eine Hauptrolle beim Aufbau und der Pflege der Zivilgesellschaft zu. Das könnte nun allerdings hegemonial und übergriffig klingen, daher präzisiert der evangelische Pfarrer sofort: »Und gerade in so einem dörflichen Umfeld kann man zeigen, dass es keine paternalistische, sondern eine durchaus liberale und fortschrittliche Art und Weise gibt, wie die Kirche ihre Gesamtaufgabe wahrnehmen kann. Sie muss nicht die Gesellschaft führen und sie muss nicht die Gesellschaft bevormunden. Sie muss die Zivilgesellschaft nicht führen und leiten, sondern sie ist ein ganz wichtiger Dialogpartner, der der Zivilgesellschaft Impulse gibt. Und sie ist auch jemand, der Impulse gibt, der mit entwickelt. Es ist ein moderner Akteur.« (Friedmann, BB) Unter den Bedingungen einer modernen, ausdifferenzierten, säkularen Gesellschaft vermag die Kirche ihre »Gesamtaufgabe« gleichsam nur noch in vermittelter Weise wahrzunehmen – nicht als alleiniger Platzhirsch, sondern als Impulsgeber und Dialogpartner. Hier schließt sich der Kreis zum bereits oben zitierten Selbstbildes des Pfarrers, das nun auf seine biblisch- und kulturtheologischen Dimensionen hin transparent wird: »Ich verstehe mich da so ein bisschen als Impulsgeber und als Organisator und Netzwerker und Zustandebringer.« (Friedmann, BB) Das gestaltende Element des »Zustandebringers« kommt dabei insbesondere auch in weitreichenden Plänen und strategischen Überlegungen zum Ausdruck: »Ich habe zwei Pläne. Zunächst möchte ich den Vertrag mit der Senatsverwaltung auf den Weg bringen. […] Ich möchte die Diakonie gewinnen, richtig. Oder diakonische Träger gewinnen, die da mitmachen. Das ist der langfristige Plan. Kurzfristig möchte

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Als theologische Referenz im Hintergrund steht, wie der Pfarrer an anderer Stelle erwähnt, für ihn die theologische Gesellschaftstheorie des Tübinger Systematischen Theologen Eilert Herms.

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in eine Kita bauen und ein Stadtteilzentrum. Hier in Blankenburg. So dicht wie möglich am Ortskern.« (Friedmann, BB) Hier wird deutlich, dass hinter den unterschiedlichen Aktivitäten des Pfarrers eine Agenda steht, die kurz- und längerfristige Ziele für seine Amtszeit in Blankenburg beinhaltet. Das dicke Brett bzw. langfristige Ziel besteht darin, eine Entwicklungspartnerschaft zwischen Kirchengemeinde und Berliner Senat zu bewirken: »Der Bestandteil einer solchen Entwicklungspartnerschaft wäre die Festlegung von Entwicklungszielen. Es gibt natürlich auch einen Entwicklungsfonds. […] Ein Sozialraumbudget sozusagen.« (Friedmann, BB) Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung wird auch noch einmal besser verständlich, wieso der Pfarrer so stark an einer Kooperation mit der Senatsverwaltung interessiert ist. In diesem Zusammenhang geht es nun auch nicht mehr bloß um das ›weiche‹ Verhältnis von »Theologie und Stadtkultur. Das ist aber etwas anderes. Hier geht es um Bauleitplanung. Und da geht es ja um harte Fakten. Das heißt, dass geklärt werden muss, was denn nun eigentlich gilt bei Standort und Stadtentwicklung.« (Friedmann, BB) Die Idee, auf eine Entwicklungspartnerschaft von Kirche und Senat hinzuwirken, sei ihm gekommen, als er sich in die »Vorbereitenden Untersuchungen« für den Blankenburger Süden einarbeitete: »Da ist mir klargeworden, dass alles untersucht wird: die Bodenbeschaffenheit, Parkplätze, Naturräume, Heuschrecken, Fledermäuse. Alles wird beprobt. Kitas, Schulen, an alles wird gedacht. An Religion aber nicht. Das ist doch ein Ding! Das kann nicht sein.« (Friedmann, BB) Auf dem Weg zu diesem langfristigen Ziel definiert er als Zwischenziele den Bau einer Kita sowie eines Stadtteilzentrums. Diese Zielsetzungen liegen nun wieder eher auf der oben dargestellten kulturtheologischen Begründungslinie: »Weil beides im Grund wichtig ist. Weil solche Orte wichtig sind. Eine Gemeinde braucht eine Kita. […] Außerdem braucht ein Ort so etwas wie ein Stadtteilzentrum, wo man Aktivitäten aller Art betreiben kann und wo die Kirche ein selbstverständlicher Teil des Angebotes ist.« (Friedmann, BB) Einmal mehr wird deutlich, wie stark sich im strategischen Denken des Pfarrers Fragen der Quartiersentwicklung mit dem Wunsch einer Revitalisierung kirchlicher Religion verbinden. Angesichts des starken Einsatzes für seine Kirche und der Betonung ihrer zivilgesellschaftlichen Bedeutung ist umso bemerkenswerter, dass und wie er sich vehement gegen eine pauschale Gleichsetzung von Religion und Kirche wehrt: »Es gibt ja eine Form von Religion, die nicht so bezeichnet wird. Das sind diejenigen, die ganz bewusst keine kirchliche Orientierung wollen. Die sagen aber durchaus, dass Glauben eine wichtige Sache ist. Sie sagen aber auch, dass der Theismus in die Irre führt. Mich interessiert, was die Leute hier alles noch so glauben in der Region. […] Es gibt nämlich einen Haufen Religionen, der nicht als Religion erscheint. Und das ist aber

9. Akteure

mindestens genauso interessant. […] 75 Prozent der Bevölkerung haben eine Religion, die wir nicht kennen! […] Das ist ein neuer Synkretismus, der besser erforscht werden muss.« (Friedmann, BB) Zum Rollenspektrum und theologischen Selbstverständnis des Pfarrers gehört damit nicht nur der urbanophile Kirchenmann, Quartiersentwickler und politische Stratege, sondern auch der an religionsempirischer Forschung interessierte Praktiker. Sein theologischer Horizont überschreitet die Kirchenmauern gleichsam nicht nur in Richtung Zivilgesellschaft, sondern auch in Richtung auf neue Formen synkretistischer, unsichtbarer, in jedem Fall: nicht-kirchlicher Religiosität. Aber auch diese Neugier ist gewissermaßen sozialräumlich geerdet: Geht es ihm doch um ein besseres Verständnis der religionskulturellen Prägekräfte, die einen Großteil der Bevölkerung in seiner Region beeinflussen.

b) Der Imam: Religiöses Engagement im Horizont der Zivilgesellschaft Auch für den Imam der ortsansässigen Moschee ist der Dienst an der Gesellschaft ein integratives Element seines theologischen Selbstverständnisses: »Wir wollen der Gesellschaft einfach so viel geben, dass sie endlich erkennt: ›Hey, das sind Menschen, die zum Geben gekommen sind.‹ Weil, das schafft Vertrauen. […] Man beteiligt sich an etwas. Und wenn man sich an etwas beteiligt, wenn man etwas leistet… Dann hat man Vertrauen, Sympathie.« (Zafar, BB) Dabei reflektiert sich deutlich die andere Position, aus der der Imam heraus spricht: Der Wunsch, etwas zu leisten, der Gesellschaft zu dienen, ist in besonderer Weise verknüpft dem Bedürfnis nach Anerkennung und gesellschaftlicher Akzeptanz vonseiten der ›Mehrheitsgesellschaft‹. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement wird von der ortsansässigen Bevölkerung auch als solches erkannt und gewürdigt, wie das folgende Zitat eines Vorstandsmitgliedes der Zukunftswerkstatt Heinersdorf deutlich macht: »Gerade die Ahmadiyya-Moschee ist durchaus auch sozial engagiert in Heinersdorf. […] indem sie z.B. hier auch einmal im Jahr zum Neujahrstag hier saubermachen, Straßen fegen. Die betreiben da auch einen Spielplatz, die beteiligen sich bisweilen auch bei uns im Dorffest. […] Die verstehen sich schon als auch sozialer Punkt vor Ort.« (Schulz, BB) Dieses Engagement der Moscheegemeinschaft, das über das Neujahrsfegen und den Spielplatz hinaus sich auch darin äußert, dass ihre Mitglieder einen Tag der offenen Tür veranstalten oder die evangelische Nachbargemeinde zum Frauenfrühstück einladen, steht in enger Verbindung mit dem Wunsch, zu einem positiven Bild vom Islam in der Öffentlichkeit beizutragen: »Irgendwann haben die Menschen zumindest verstanden, dass von dieser Moschee keine Gefahr ausgeht. Das ist, wie jedes Individuum – ja nachdem, wie es handelt – entweder Vertrauen oder Misstrauen herstellen kann. Und wir motivieren die Gemeindemitglieder, dass sie sich vorbildlich verhalten. Dass sie einfach Wesen sind, von denen alle profitieren […]. Dass man einfach zum Wohl der Menschheit da ist.« (Zafar, BB)

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Das Ringen um Akzeptanz hat sowohl eine prinzipiell-globale als auch eine konkret-lokale Seite. In prinzipieller Hinsicht geht es dem Imam zunächst ganz allgemein um den Abbau von Vorurteilen und den Aufbau von Vertrauen gegenüber dem Islam in Deutschland: »Die Kinder sind da sehr vorbehaltlos – die sind da sehr… Die haben nicht solche Gedanken, aber die meisten anderen, auch die Kinder, die etwas älter sind. Terror, Unterdrückung, all das fließt herein. Das ist, was man mit dem Islam assoziiert. Und das hat das Vertrauen der Gesellschaft zerstört. Uns geht es darum, dieses Vertrauen herzustellen.« (Zafar, BB) Der Blick des Imams ist in dieser Hinsicht kein Berlin-spezifischer. Aufgrund seines Zuständigkeitsgebiets für weitere Moscheen der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Brandenburg und Sachsen geht es hier um Akzeptanzprobleme genereller Art. Diese werden noch einmal dadurch verstärkt, dass sie sich nach Verständnis des Imams nicht auf irgendwelche Nebensächlichkeiten beziehen, sondern an Fragen der religiösen Identität festmachen: »Man hat eine Erwartungshaltung von Muslimen, die man sich wünscht in der Gesellschaft… ich spreche von Erwartungshaltungen in der Gesellschaft, dass [sich] Muslime in einer bestimmten Art und Weise anpassen sollen. Von oben herab: So soll ein Moslem sein […]. Ja, er soll ein Moslem sein ohne Islam. Ein Moslem ohne Islam, am liebsten das.« (Zafar, BB) Damit steht die Möglichkeit einer religiösen Codierung des eigenen gemeinnützigen Handelns im Sozialraum auf dem Spiel. Die Handlungsmotive dürfen nur bis zu einem Grad als religiöse sichtbar werden, soll das mühsam aufbaute Vertrauen nicht gleich wieder untergraben werden. Das zeigt sich nun insbesondere auch in lokaler Hinsicht, beim Aufbau und der Pflege guter Nachbarschaftsbeziehungen: »Es geht darum, die Nachbarschaft in unserem Viertel zu erreichen. Das ist die Herausforderung.« – »Der Bau [der Moschee] ist an sich kein Problem. Aber das im Bezirk, in der Verwaltung… Okay, das kann man mit einer Expertise, die man sich aufgebaut hat, auch hinkriegen. Aber dann die Gesellschaft mitzuziehen – das ist etwas, was viel Arbeit kostet.« (Zafar, BB) Ein starkes Symbol für dieses Ringen um Akzeptanz in der Nachbarschaft ist die im Interview diskutierte Idee, einer Haltestelle der geplanten Trambahnlinie, die möglicherweise an der Moschee vorbeiführt, den Namen derselben zu geben: »Klar würde ich mich freuen, wenn das klappen sollte. Es würde vieles vereinfachen für Besucher, die zur Moschee kommen. Ich würde es auch gerne versuchen. Aber ich weiß, dass es nicht einfach wird. Dass Leute dann zum einen sagen: ›Okay, jetzt haben die eine Moschee hier gebaut, und jetzt wollen sie immer und immer mehr haben.‹ Und das ist auch nicht das Problem. Das Problem, dass die Leute haben werden, ist, dass in ihrem Stadtteil und in ihrer Heimat eine Haltestelle ist mit einem Namen, den sie als einen Fremdkörper sehen.« (Zafar, BB)

9. Akteure

Hier zeigt sich die im Interview immer wiederkehrende Grundspannung, einerseits um gesellschaftliche Akzeptanz zu kämpfen und andererseits selbstbewusst und nicht als Bittsteller auftreten zu wollen. Sie bestimmt auch das strategische Denken des Imams in längerfristigen Zeiträumen: »Sehen Sie, ich sehe das so. Wenn wir eine sehr, sehr gute Arbeit in den letzten zehn Jahren geleistet haben, dann ist das sehr gut realisierbar. Weil das dann von den Leuten selbst kommen würde. Die Frage ist, ob wir wirklich schon so weit sind. Ob der Boden so fruchtbar ist, dass die Leute das akzeptieren würden. […] Mir würde es mehr gefallen, wenn es von außen kommen würde als von mir selbst. Klar kann ich es fordern, aber…« (Zafar, BB) Das theologisch motivierte Selbstverständnis, zum »Wohl der Menschheit« da zu sein, die Intention, öffentlicher Kritik und Vorurteilen entgegenzuwirken, sowie das Streben nach gesellschaftlicher Akzeptanz verstärken sich in dieser Argumentation wechselseitig. Zugleich grenzt sich der Imam scharf von der Vorstellung ab, ein solches nach außen hin werbendes, in seinen Worten: »vorbildliches« Handeln mit dem Etikett der Mission zu versehen: »Missionieren ist ein Begriff, der sehr negativ konnotiert ist. Für uns ist das eigentlich verboten. Weil, missionieren bedeutet ja… Wegen dieser negativen Konnotation bedeutet das jemanden heimtückisch für sich zu gewinnen. Eine Notsituation oder Ignoranz auszunutzen oder einfach für sich zu gewinnen. Das wollen wir nicht.« (Zafar, BB) Diesem negativen Missionsbegriff stellt er als positives theologisches Leitbild gegenüber: »Man möchte gern das teilen, was wertvoll ist. Für uns ist Gott wertvoll, für uns ist der Islam wertvoll. Und klar haben wir den Gedanken, das zu teilen.« (Zafar, BB) Ein zentrales Bild, das bei der Praxis eines solchen »Teilens« mehrmals genannt wird, ist das Bild der zwei Hände: »Ich möchte, weil der Prophet das auch gelehrt hat, immer geben. Und die Gemeinde möchte immer gerne geben. Weil der Prophet gesagt hat, die obere Hand ist besser als die untere Hand. Er hat zwar immer motiviert zu spenden. Aber er hat immer gesagt, dass die obere Hand besser ist als die untere Hand. Für diejenigen, die sich daran gewöhnen zu nehmen. Klar geht es uns darum, so viel wie möglich zu geben.« (Zafar, BB) Die Pointe dieses Bildes ist eine doppelte: In positiver Hinsicht geht es um das Ideal der Freigebigkeit. Zugleich enthält es eine Warnung: Gegenüber Dritten soll man nicht als hilfsbedürftig oder gar als fordernd auftreten. Hier offenbart sich einmal mehr die tief im theologischen Selbstverständnis verwurzelte Spannung, durch welche das Außenwirken der Religionsgemeinschaft der Ahmadiyya geprägt ist: Auf der einen Seite wirbt man um gesellschaftlichen Akzeptanz, will dies aber gerade nicht in der Position eines Bittstellers, sondern aus der souveränen Rolle desjenigen tun, der den anderen etwas aus der eigenen Fülle heraus zu geben hat:

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»Der Moslem, der immer nur will – und will aber nicht geben. Genau das wollen wir ändern.« (Zafar, BB) Neben dem Begriff des Teilens und dem Symbol der gebenden Hand kann der Imam auch den Begriff des »Dienens« verwenden, um den Auftrag der Gemeinde für die Gesellschaft und zugleich die theologische Grundlage des ehrenamtlichen Engagements zu beschreiben: »Weil wir es als ein Segen empfinden, die Möglichkeit zu haben, der Gemeinde und der Gesellschaft zu dienen. Der Geist ist vorhanden.« (Zafar, BB) Dieser Geist des Dienens materialisiert sich insbesondere im Geist des Ehrenamtes, in dessen Pflege der Imam eine seiner zentralen theologischen Aufgaben erkennt: »Ja, aber wir machen unglaublich viel ehrenamtlich. Das ist einfach eher kosteneffizient, und wir wollen diesen Geist des Ehrenamts auch beibehalten. Wir wollen den nicht verlieren. Also wir glauben, dass es etwas Ehrenvolles ist. Dass man es gerne tun und machen soll. Und diesen Geist beizubehalten, ist natürlich Aufgabe der Theologen.« (Zafar, BB) Mit der »Aufgabe der Theologen« verweist der Imam auf Aufbau und Pflege des Ehrenamtes nicht nur in seiner Gemeinde, sondern in allen Ahmadiyya-Gemeinden weltweit. Diese sind in differenzierten Abteilungen und Gruppierungen organisiert und schließen eine Vielzahl von Ehrenämtern in sich ein – weit über die die Ämter der jeweiligen Vorsitzenden und Kassenwarte hinaus. Besonders betont der Imam das Moment der »Ehre« im Ehrenamt und verknüpft damit eine demütige, bescheidene, sich selbst zurücknehmende Haltung. Diese Verknüpfung zeigt sich bereits beim Wahlvorgang für ein bestimmtes Ehrenamt, zu dem man sich nicht selbst aufstellt oder gar durch die positive Herausstellung der eigenen Qualitäten aktiv bewirbt: »Weil niemand… Das würde keiner machen! Weil es für uns… Ja, wie soll ich das erklären? Da würde bei uns niemand überhaupt auf die Idee kommen! Weil es als überhaupt nicht ehrenvoll, total unwürdig betrachtet wird. Es wird als arrogant empfunden und nicht als demütig. […] Weil man sagt, wenn man den Wunsch für das Amt hat, dann stimmt was nicht. Der Wunsch soll nicht da sein.« (Zafar, BB) Im Vergleich zum evangelischen Pfarrer fallen Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Selbstverständnis des Imams gegenüber der Zivilgesellschaft auf. Gemeinsam ist beiden, dass sie aus einem pointiert theologischen Blickwinkel heraus die sozialräumliche Situation betrachten und gestalten. Während der evangelische Pfarrer aber stark mit unterschiedlichen Gruppierungen und Institutionen vernetzt ist und sich in diesem Netzwerk in der Rolle eines Moderators und wirkmächtigen Strategen wahrnimmt, verfügt der Imam nicht über dieselben institutionellen, persönlichen und symbolischen Ressourcen, die ihm ein solches Handeln ermöglichen würden. Während der evangelische Pfarrer als zivilgesellschaftlicher Akteur handelt, ist der Imam erst auf dem Weg, sich als ein solcher zu etablieren – erschwert dadurch, dass er als Vertreter einer von starken Vorurteilen belasteten religiösen Minderheit wahrgenommen wird.

9. Akteure

9.3.4 Charismatiker:in Die bisher dargestellten Rollenparadigmen konzipieren religiöse Akteure nach expliziten oder impliziten Vorbildern: ökonomisch als Unternehmerin, behördlich als Beauftragten, zivilgesellschaftlich als Mittler und Knotenpunkt in Netzwerken. Individuelle religiöse Akteure haben ihre Rolle dabei jeweils vor dem Hintergrund eines spezifischen Verständnisses religiöser Vergemeinschaftung und deren Einbettung in soziale Bezüge. Theologisch gesprochen ist die Akteursrolle damit als – jeweils unterschiedliches – Amt ausgestaltet. Komplementär dazu steht eine andere Formation des individuellen religiösen Akteurs, die sehr stark auf die Person konzentriert ist. Die Bühne des Stadtraums gibt die Möglichkeit, als singuläres religiöses Individuum, als Charismatiker:in, aufzutreten.18 Eine solche »Rolle«, die sich über die absichtsvolle Inszenierung individueller Persönlichkeit aufbaut, nimmt etwa der evangelische Diakon Reinhard im Münchner Stadtteil Giesing ein (siehe dazu 6.2.2).

Abbildung 11: Diakon Reinhard im Alltagsoutfit und im liturgischen Gewand

Bild: Stephanie Probst

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Vgl. Reckwitz 2018.

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Religion im urbanen Raum

Seine Selbstinszenierung wird für einen Kirchenvertreter in München als ungewöhnlich wahrgenommen. »Wenn man dich einmal gesehen hat, vergisst man dich aber auch so schnell nicht wieder« (Beike, GI), kommentiert die Stadtteilmanagerin sein Äußeres. »Und wenn sie sich jetzt mal den Habitus vom Herrn Reinhard anschauen, der entspricht ja nicht dem, was man sich von der Kirche vorstellt« (Buras, GI). Reinhard tritt im Quartier als markante, charismatische Persönlichkeit und dann – gerade durch den Topos des kirchlich Unüblichen verstärkt – als Kirchenvertreter in Erscheinung. Sein souveränes Spiel mit Individualität und Amt ratifiziert den Umstand, dass der Geltungsschutz traditioneller religiöser Akteursrollen (Amt) insbesondere im Kontext der Stadt im Schwinden begriffen ist. Zugleich inszeniert er den Überschuss, den das Individuum über alle funktionalen Rolleneinbindungen (als Unternehmerin, Beauftragte oder Intermediärin etc.) aufweist; insofern ist die als Original inszenierte Persönlichkeit nicht nur ein spezifischer Rollentypus, sondern zugleich ein Moment, das in jedem an sozialen Stereotypen orientiertem Rollenhandeln mitzutransportieren ist.19

9.4 Fazit Religiöse Akteure in der Stadt formieren sich in einem Wechselspiel aus externen Erwartungen und Umfeldbedingungen einerseits und eigenen Vorstellungen davon andererseits, welche Rolle Religion insgesamt, aber auch einzelne religiöse Akteure in der Stadt spielen sollen. Solche Rollenerwartungen und Identitätszuschreibungen bauen sich in sozialen Vermittlungskontexten auf; sie sind Gegenstand beständiger expliziter und impliziter Verhandlungen. In wechselseitiger Bezugnahme aufeinander weisen sich unterschiedliche Akteure Plätze zu und bestärken sich dabei in ihrer jeweils zugeschriebenen Funktion. Dabei kann es zu regelrechten Sekundärprofessionalisierungen kommen: Pfarrer:innen werden zu »Stadtentwicklungsprofessor:innen«, Städteentwickler:innen zu urbanen Theolog:innen, die eine präzise Vorstellung darüber entwickeln, wozu es der Präsenz von Religion im Stadtraum bedarf. Näherhin sind verschiedene Akteursformationen möglich, die sich idealtypisch anhand des Dreiecks von Staat, Markt und Zivilgesellschaft klassifizieren lassen. Neue Stadtquartiere versetzen religiöse Institutionen in die Rolle von Start-Up-Unternehmen. Wenn Entrepreneurship bedeutet, in situativen Gegebenheiten Möglichkeitsräume zu erkennen und innovative Ideen zu entwickeln, dann betätigen sich viele in der vorliegenden Studie zu Worte kommenden Pfarrerinnen, Diakone und andere religiöse Akteure als urbane Entrepreneure. Einen Unterschied macht dabei, in welchem Umfang auf vorhandene Ressourcen – in Gestalt von Personal-, Finanz- oder Baumitteln – zurückgegriffen werden kann, oder ob die Erschließung von Ressourcen selbst als genuine Aufgabe der Unternehmung angesehen wird. Eher einer staatsorganisatorischen Logik folgt die Einrichtung spezifischer Sonderbeauftragungen, die unterschiedlich mandatiert sein können. Eine Sonderbeauftragte für

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Zum Konzept balancierender Ich-Identität, in dem Momente der Rollenerfüllung und der Rollentranszendenz permanent in Ausgleich zu bringen sind, vgl. Krappmann 1993.

9. Akteure

Stadtentwicklung, Netzwerkarbeit oder die Erarbeitung von kirchlichen Präsenzstrukturen, die von einem Kirchenkreis oder Dekanat für ihre Aufgabe bestellt ist, handelt aus einem anderen Selbstbewusstsein heraus als eine Diakonin, die sich selbst als Stadtunternehmerin mandatiert. Eine dritte idealtypische Rollenzuschreibung ist die des Intermediärs, der für die Entwicklung von Zivilgesellschaft vor Ort Verantwortung übernimmt, sich als Impulsgeber und Dialogpartner für Prozesse kollektiver Meinungsbildung gerade im Kontext der Stadtentwicklung versteht und hier zwischen lokalen Initiativen, Behörden und Marktteilnehmenden vermittelt. Ihr Einsatz bzw. ›Dienst‹ für die Zivilgesellschaft kann von den religiösen Akteuren dabei unterschiedlich begründet bzw. gedeutet werden – etwa durch Hinweis auf einzelne Bibelstellen (»Suchet der Stadt Bestes«, Jeremia 29,7) oder auch im Rückgriff auf kulturtheologische Argumentationen (Religion als Wertefundament und Kulturträger). Diese Begründungen bzw. Deutungen sagen weniger etwas über die ›tatsächliche‹ Leistungskraft der Religion als vielmehr über das theologische Selbstverständnis einzelner religiöser Akteure aus – es sind Selbstdeutungen. Sie entwerfen einen Blick auf die Szene, prägen den Blick auf andere Akteure und bestimmen die Ausrichtung des eigenen strategischen Handelns. So kann der Einsatz für die Planung eines säkularen Bürgerzentrums Ausdruck der theologischen Grundüberzeugung sein, dass das religiös gebundene Engagement ganz in das Gemeinwesen eingehen, ja womöglich in ihm aufgehen solle. Zugleich geht ein Individuum nicht in einer spezifischen Rolle auf. Auf diesen Umstand verweist eine vierte mögliche religiöse Akteursrolle in der Stadt: die der singulären, charismatischen religiösen Persönlichkeit. An ihr wird nicht zuletzt deutlich, dass Religion sich nicht darin erschöpft, eine bestimmte Funktion für das soziale Gewebe der Stadt zu erfüllen. Die Funktions- und Rollentranszendenz von Religion wird damit wiederum selbst – zumindest partiell – als Rolle manifest.

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10.1 Religion und bürgerschaftliches Engagement Die Planung neuer Stadtquartiere ist ein dynamischer und in vielerlei Hinsicht offener Prozess. Von behördlicher Seite aus werden zunächst sogenannte »vorbereitende Untersuchungen« (siehe 10.2.1) eingeleitet und unterschiedliche Bedarfe ermittelt: Wie viele Wohneinheiten sollen in dem neuen Quartier entstehen? Wie groß soll die Fläche sein, die bebaut wird, und was für eine Art von Gebäuden sollen dort errichtet werden? Wie ist das geplante Quartier an die städtische Infrastruktur angeschlossen, was Verkehr und Energie angeht? Wieviel Parkfläche wird benötigt werden? Welche Bevölkerungsgruppen und Einkommensschichten sind im Blick? Wie hoch wird voraussichtlich der Anteil an jungen Familien sein? Soll das Quartier eine eigene Kita bekommen, eine Pflegeeinrichtung – oder vielleicht sogar einen Ort zur öffentlichen Religionsausübung? Fragen stellen sich auch aus Sicht der ansässigen Wohnbevölkerung, die von der geplanten Baumaßnahme betroffen sein wird. Damit können Ängste verbunden sein: Wer wird da kommen? Wird es im Zuge der städtischen Entwicklungsmaßnahme zur Enteignung von Wohnraum kommen? Werden die Mietpreise steigen? Aber mit neuen Stadtquartieren sind auch Geschichten der Verheißung verbunden: ›Vielleicht belebt sich dadurch ja auch unser altes Quartier. Und wir kriegen endlich einen fußläufig erreichbaren Stadtpark mit Spielplatz – vielleicht sogar einen Anschluss an den öffentlichen Nahverkehr!‹ Unter besonderen Umständen formieren sich die betroffenen Bürger:innen zu Initiativen und Gruppen, die ihre Interessen gegenüber von Politik und Verwaltung geltend machen und auf die Umsetzung der Entwicklungsmaßnahme Einfluss nehmen wollen. Bei der Bündelung, Moderation und Artikulation solcher Interessen kann Religion – insbesondere in ihrer institutionalisierten Form – eine wichtige Rolle spielen. Kirchengemeinden, die ohnehin schon einer Vielzahl von ehrenamtlichen Aktivtäten Raum geben, werden zu Kristallisationspunkten bürgerschaftlichen Engagements. Urbanophile Pfarrerinnen und Pfarrer übernehmen die Funktion von Quartiersbürgermeistern, die runde Tische initiieren, Bürgergespräche gestalten, Kirchen- und Gemeinderäume für Kiezgespräche zur Verfügung stellen und dabei in einer Mischung aus Gastgeber und Moderator auftreten.

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Religion im urbanen Raum

Das Verhältnis von bürgerschaftlichem Engagement und Religion ist jedoch nicht konfliktfrei. Schon die Debatte darüber, ob eine Bürgerversammlung im kirchlichen Gemeindesaal stattfinden darf, kann für beteiligte Gruppen ein rotes Tuch sein. Wieviel Religion verträgt die Zivilgesellschaft? Diese Frage, die uns in Varianten auch in anderen Zusammenhängen der vorliegenden Studie begegnete, ist immer wieder neu zu verhandeln (Schieder 2001). Ihrem eigenen – oder auch von außen zugeschriebenen – Anspruch nach kann Religion dabei einerseits eine umfassende Integrationsfunktion erfüllen: Aufgrund der ihr eigenen Universalitätsperspektive vermag sie partikulare Standpunkte zu überwinden und symbolische Überparteilichkeit zu inszenieren. Andererseits werden religiöse Akteure selbst als Vertreter eigenmächtiger Interessen wahrgenommen, denen es um den Erhalt von Standorten und Stellen geht. Inwieweit Religion zivilgesellschaftliche Integration fördert oder nicht, ist eine letztlich nur im Einzelfall zu beantwortende, empirische Frage (Arens, Baumann, Liedhegener 2016; Moos 2018).1 Darüber hinaus sind mit den begrifflichen Konstrukten ›Zivilgesellschaft‹ und ›bürgerliches Engagement‹ eine Reihe von weiteren Problemfeldern verknüpft, auf die im vorliegenden Zusammenhang zumindest kurz eingegangen werden soll.2 Bürgerschaftliches Engagement und eine sie fördernde »Engagementpolitik« erleben seit knapp 20 Jahren eine Renaissance in Deutschland (Olk et al. 2010). 2002 erschien der Bericht der Enquete-Kommission »Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements«, das zur Gründung des »Bundesnetzwerkes Bürgerliches Engagement« führte. Der Sache nach ist das Phänomen der Zivilgesellschaft freilich älter. Bereits die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts kannte unterschiedliche Formen des freiwilligen Engagements, wobei die Staatsräson wesentlich bestimmte, »ob und in welchem ›Umfang‹ Zivilgesellschaft entstehen, bestehen und wirksam werden kann« (Aner, Hammerschmidt 2010: 92). Weitere wichtige Impulse und Transformationen erfuhr die Zivilgesellschaft in der »partizipatorischen Revolution« der 1968er Jahre sowie in der Nachwendezeit (Brand 2010), um nur zwei besonders prägnante Stationen zu benennen. Insbesondere die Städte gelten dabei von jeher als Keimzellen eines bürgerschaftlich organisierten Gemeinwesens, dessen Spuren sich bis ins Spätmittelalter zurückverfolgen lassen (Moeller 2011). Der Begriff der Zivilgesellschaft steht im komplexen Wechselgefüge mit den Begriffen des Staates und des ›Dritten Sektors‹, worunter Vereine, Verbände, Stiftungen, Interessengemeinschaften und andere Arten von Non-Profit-Organisationen zusammengefasst werden können. Manchmal wird er auch direkt mit diesem Sektor identifiziert (Liebig, Rauschenbach 2010). Gerade das Verhältnis zur Staatlichkeit ist aber auch Gegenstand zahlreicher Kontroversen: Während die einen betonen, dass bürgerschaftliches Engagement eine Integrationskraft darstellt, welche einem Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenwirkt, sehen es andere eher kritisch als Lückenbüßer für das lokale Versagen staatlicher Institutionen.3 1 2

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Zur Integrationsthematik siehe auch oben, 5.1. Auf den dem Wortfeld nahestehenden Begriff der Zivilreligion wird an dieser Stelle nicht näher Bezug genommen, weil er in den Interviews selbst nicht vorkommt und auch inhaltlich noch einmal in eine andere Richtung weist. Zur Sache siehe auch 7.1 und 7.3.1. Die Konjunktur des Engagement-Begriffs kann dabei als partielle Ablösung der traditionellen Kategorie des Ehrenamtes gelesen werden, das gegenüber neueren, eher fluiden und projektförmigen Beteiligungsformen als veraltet erscheint (Lang 2010). Eine ähnlich gelagerte Problemanzei-

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Auf Ebene des Regierungshandelns reflektiert sich die verstärkte Orientierung an Prozessen der Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure in einem Paradigmenwechsel »von Government zu Governance« (Haus 2010). Gerade die Planung und administrative Entwicklung neuer Stadtquartiere können dabei als Experimentierfelder einer solchen Governance-Politik gelten, da sie auf ein hohes Maß an Akzeptanz in der lokalen Bevölkerung angewiesen sind. Die großen Erwartungen, die durch die Eröffnung von politischen Beteiligungsmöglichkeiten geweckt werden, sind allerdings auch besonders anfällig für Enttäuschungen, wenn Vertrauen missbraucht wird oder vermeintliche Mitbestimmungsrechte sich in der Praxis als gegenstandlos erweisen. Entsprechend regt sich der »Argwohn, dass Machtfragen und Ungleichheitsaspekte in der Rede von Governance aus dem Fokus der Aufmerksamkeit gerade verbannt werden, indem sie sich auf die Suche nach ›pragmatischer‹ Lösung von Problemen beschränkt« (Haus 2010: 211). Diese Problematik wird auch im folgenden Kapitel eine wichtige Rolle spielen. Im Zusammenhang der vorliegenden Studie begegnen die Termini ›Engagement‹ und ›Zivilgesellschaft‹ zunächst einmal in den Selbstbeschreibungen der Interviewten. Sie deuten ihr eigenes Handeln als soziales Engagement und verstehen sich (bzw. die Religionsgemeinschaft, die sie repräsentieren oder die sie von außen beschreiben) als zivilgesellschaftliche Akteure. Damit verorten sie sich in einem größeren Kontext und eröffnen zugleich eine zweite Ebene der Codierung ihres Tuns: Der Aufbau der religiösen Gemeinschaft gilt zugleich als Pflege der Zivilgesellschaft, insofern sich erstere als integraler Bestandteil von letzterer versteht. Es ist mithin (auch) eine Frage der Deutung, ob das Neujahrsfegen im öffentlichen Straßenraum, die Ausrichtung eines Kirchweihfestes oder die evangelische Christenlehre als zivilgesellschaftliche Praxis interpretiert werden. Von dem Selbstverständnis der Akteurinnen und Akteure zu unterscheiden ist der sozialwissenschaftliche Außenblick. Zivilgesellschaftliche Organisationen verleihen »dem freiwilligen Engagement der Bürger Ausdruck und Stabilität. Dabei erfüllen sie gleichzeitig mehrere gesellschaftliche Funktionen: Inklusions-, Bildungs-, advokatorische, Innovations-, Problemlösungs- und Rekrutierungsfunktionen« (Olk, Klein, Hartnuß 2010: 16). Die These des vorliegenden Kapitels ist, dass die vergemeinschaftete Religion in eben diesem Funktionspluralismus als Katalysator zivilgesellschaftlicher Prozesse in neuen Stadtquartieren in Erscheinung tritt. Dies wird exemplarisch verdeutlicht anhand des »Blankenburger Südens«, eines vom Berliner Senat ausgewiesenen Entwicklungsgebiets im Norden Berlins. Nach einer Darstellung der Ausgangssituation wird nachgezeichnet, wie es in dem ausgewiesenen Gebiet zu einer sukzessiven Aktivierung der Bürgerschaft kommt, die sich in der Gründung einer Vielzahl von Initiativen, Runden Tischen und Gremien niederschlägt. Als vorantreibendes Moment spielen dabei Konflikte und Bedrohungsszenarien, die Widerstandsreaktionen provozieren und zur Bildung von Interessenkoalitionen führen, eine wichtige Rolle (10.2). Stabile Form und Ausdruck gewinnt das Engagement der Bürgerschaft insbesondere dann, wenn es sich in Vereinen organisiert – oder an vorhandene, vereinsähnliche Institutionen anschließt. ge spiegelt sich in der – auch innerhalb der protestantischen Kirchen – geführten Debatte um ein ›neues‹ Ehrenamt. Zugrunde liegt in jedem Fall die Wahrnehmung einer zunehmenden Pluralisierung und Dynamisierung des Feldes zivilgesellschaftlicher Handlungs- und Beteiligungsformen.

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Religion im urbanen Raum

Hier, so zeigt das Beispiel Blankenburgs, kommen der evangelischen Kirchengemeinde und ihrem Pfarrer eine Schlüsselstellung zu. Das gilt gleichermaßen für die Moderation von Interessen, die Bündelung von Engagement und seine theologische Deutung (10.3). Wieder schließt ein Fazit in Thesen das Kapitel ab (10.4).

10.2 Konflikte als Treiber bürgerschaftlichen Engagements Im ersten Teil des folgenden Abschnittes wird das Berliner Stadtentwicklungsgebiet »Blankenburger Süden« vorgestellt, das die Straßendörfer Blankendorf und Heinersdorf einschließt (10.2.1). Hier haben sich in den letzten Jahren eine Vielzahl von Initiativen, Gremien und Vereine aus der Mitte der Bürgerschaft heraus gegründet. Als wichtiger Katalysator, der zur Aktivierung der ortsansässigen Bürgerschaft beitrug, lässt sich der Streit um einen Moscheebau identifizieren (10.2.2). Doch auch der Prozess, in dem die Senatsverwaltung die Planung des geplanten Neubauquartiers mit den ortsansässigen Bewohnerinnen kommuniziert, führt im Fahrwasser von Missverständnissen zu einer vermehrten Aktivierung der Bürgerschaft (10.2.3). So sind es gerade Konflikte, die zu einer Formierung von bürgerschaftlichem Engagement führen, das dann allerdings unter unterschiedlichen inhaltlichen Vorzeichen (re-)aktiviert werden kann (10.2.4).

10.2.1 Blankenburger Süden (Berlin) Das Quartier Berlin-Blankenburg liegt im Bezirk Pankow in der Stadt Berlin. Es handelt sich um ein altes Stadtquartier mit viel Nachverdichtung. Das geplante Neubauquartier – der »Blankenburger Süden« – liegt ›auf der grünen Wiese‹ zwischen den Ortsteilen Blankenburg und Heinersdorf. Die Planungen begannen 1990, weiterentwickelt wurden sie im Jahr 2016. Die derzeitig landwirtschaftlich genutzte Kernfläche von 430 Hektar soll zukünftig Platz für bis zu 6000 Wohneinheiten bieten. Zwischen dem städtischeren Heinersdorf und dem noch recht dörflichen Blankenburg befinden sich die kleine Stadtrandsiedlung Malchow, viele Ackerflächen in städtischer Hand sowie Kleingarten- und Einfamilienhaussiedlungen, die als Erholungsgebiete deklariert sind. Auf den Ackerflächen gibt es eine größere zusammenhängende Fläche in städtischem Besitz. Durch wilde Siedlung besteht zudem ein hoher nachträglicher infrastruktureller Entwicklungsbedarf. Die ehemals dörflichen Strukturen befinden sich in Auflösung, einerseits aufgrund der hohen Nachverdichtung der letzten Jahre, was ein erhebliches Anwachsen der absoluten Bevölkerungszahl zur Folge hatte, andererseits aufgrund der Ausdehnung der Siedlungsstruktur insgesamt, indem neue Wohngebiete zu den vorhandenen Flächen hinzugekommen sind. Das Entwicklungsgebiet Blankenburger Süden ist das vom Planungsstand her betrachtet jüngste Gebiet von allen untersuchten Quartieren dieser Studie, denn die Überlegungen hierzu befinden sich im Untersuchungszeitraum noch im Stadium der »vorbereitenden Untersuchungen«. Dabei handelt es sich nach § 141 des Baugesetzbuchs um ein planerisches Instrument der Stadtentwicklung, das Elemente der Analyse, Leitbildformulierung und Bürgerbeteiligung beinhaltet. Laut Webseite des Berliner Senats (»Stadt behutsam weiterbauen im Blankenburger Süden«) ist das Gebiet seit den 1990er Jahren

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als Baugelände ausgewiesen. Außerdem gibt es mehrere Bebauungspläne zu den unterschiedlichen Teilgebieten, die nun zu einem übergreifenden Bauplan zusammengefasst werden.4 Dieser Plan beinhaltet mit Blankenburg und Heindersdorf zwei (ehemals) dörflich geprägte Gebiete, die mit unterschiedlichen Voraussetzungen in diese Stadtentwicklungsphase eintreten. Blankenburg ist als nächstgelegenes größeres Dorf im Norden des Entwicklungsgebiets Namenspate der Stadtentwicklungsmaßnahme. Blankenburg selbst ist ein Straßendorf mit einer mittelalterlichen Kirche auf einem breiten Dorfanger. Flankiert wird die Kirche von einer vielbefahrenen T-Kreuzung, dem örtlichen griechischen Restaurant und dem Gemeindezentrum. Auf der anderen Straßenseite, jenseits der Kreuzung, liegen Dorfanger, Feuerwehr, Albert-Schweizer-Stiftung und das örtliche AFD-Büro. Blankenburg verfügt über eine eigene S-Bahnstation, die aber etwas abseits von dem beschriebenen Dorfkern liegt. Von der Dorfkirche Blankenburg führt eine Straße in südlicher Richtung nach Heinersdorf. Westlich dieser Straße befindet sich eine ehemalige Kleingartenanlage, östlich der Straße die Stadtrandsiedlung Malchow und das große, als Baugebiet ausgezeichnete Rieselfeld. Diese große Ackerfläche und das ihr gegenüber liegende Kleingartensiedlungsgebiet sollen nach Willen der Stadtverwaltung im Rahmen der Entwicklungsmaßnahme bebaut bzw. umgebaut werden. Im südlich liegenden Heinersdorf sieht es ähnlich aus wie in Blankenburg. Es ist schon einige Jahre zuvor zu einem Straßendorf geworden, da seine Hauptstraße die einzige Zufahrt zur nahe gelegenen Autobahn bildet. Außerdem führt eine Route nach Osten und eine in das südliche Stadtinnere. Eine schnelle Innenstadtanbindung würde die Straßenbahn bieten, wenn sie nicht nur alle 20 Minuten führe. Ein höherer Takt wird aber durch die eingleisige Schienenführung kurz vor der Endhaltestelle verhindert. Problematisch ist die Verkehrssituation zudem wegen der abseits gelegenen S-Bahn-Haltestelle Berlin-Heinersdorf, die keine Straßenbahnanbindung zum Zentrum Heinersdorfs hat und auch auf keiner befestigten Straße angefahren werden kann. Um von der Straßenbahnverbindung zur S-Bahn zu gelangen, müssen 20 Minuten Fußweg zurückgelegt werden. Neben einigen Mietshäusern im Ortskern ist Heinersdorf durch eine lockere (Einfamilienhaus-)Wohnbebauung bestimmt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand und seit der Wiedervereinigung stellenweise stark verdichtet wurde. Aus den 1990er Jahren stammen auch zwei größere Neubausiedlungen. Ein Wertstoffhof und ein Gewerbegebiet wurden errichtet; zugleich schlossen Läden, soziale Einrichtungen, Post und Bank. Die Heinersdorfer leiden erheblich unter diesem infrastrukturellen Mangel und erhoffen sich eine Verbesserung ihrer Situation durch die geplante Stadtentwicklungsmaßnahme.

10.2.2 Verkehrsprobleme und der Streit um einen Moscheebau Das Bürgerengagement, das sich in Blankenburg und Heinersdorf in Gestalt von unterschiedlichen Vereinen, Gremien und Initiativen formiert, speist sich aus unterschiedlichen und teils weit in die Vergangenheit zurückreichenden Quellen. Einerseits nährt es 4

https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnungsbau/blankenburger-sueden, abgerufen am 8.5.2020.

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sich durch die erwähnte, schon lange schwelende Unzufriedenheit mit der Verkehrssituation: »Das heißt für den Fernverkehr, dass das hier alles Mist ist. Murks. Der rast hier überall durch […]. Das heißt also, dass hier ein Verkehrskonzept hermuss für den gesamten Bereich. Es muss sowieso gemacht werden, schon jetzt. Denn es gibt ja jetzt schon Probleme.« (Friedmann, BB) Dieser infrastrukturelle Problemdruck erklärt zu einem guten Teil, wieso den Blankenburgern und Heinersdorferinnen sehr an einer städtischen Entwicklungsmaßnahme gelegen ist – allerdings nur an einer solchen, die hier auch tatsächlich Abhilfe schafft. Politisch aktiviert waren die Bürgerinnen und Bürger aber auch vor einem ganz anderen Hintergrund, der mit der Planung und dem Bau einer Moschee in Heinersorf zusammenhängt. Im Jahre 2008 wurde direkt am Autobahnzubringer, und damit weit hinter der Endhaltestelle der Straßenbahn in Heinersdorf, die örtliche Ahmadiyya-Moschee eröffnet. Die Ortswahl war seitens der Religionsgemeinschaft von pragmatischen Überlegungen geleitet: »Hier hat man sich auch Heinersdorf nicht ausgesucht. Man hat in ganz Berlin geschaut, wo man einen geeigneten Ort finden kann. Das hat nirgends gepasst. Alle anderen Optionen waren nicht realisierbar. Und hier in Heinersdorf hat einfach alles gepasst. Das war reiner Zufall, dass wir in Heinersdorf gelandet sind. Da sind keine Absichten dahinter.« (Zafar, BB) Gebaut wurde die Moschee auf einem ehemaligen Sauerkrautfabrikgelände, das jahrelang brachlag. Sie ist verkehrsgünstig gelegen, recht nah an der S-Bahn-Haltestelle Berlin-Heinersdorf, also weitab vom Dorfkern. Dennoch wurden in Heinersdorf mehrere Demonstrationen organisiert, auf denen gegen den Bau protestiert wurde. Der Protest gegen den Moscheebau, so interpretiert es ein Interviewpartner, ließe sich dabei auch als Frustventil angesichts stadtplanerischer Versäumnisse interpretieren: »Also da muss man auch wieder historisch ein bisschen zurückgucken und feststellen, dass Heinersdorf städteplanerisch immer wieder ziemlich vernachlässigt wurde. […] Und es war auch nach der Wende so, als hier stadtplanerisch viel passieren sollte, aber dann doch nicht passiert ist, immer mit ganz vielfältigen Ursachen, was dazu führte, dass Heinersdorf nach wie vor verstopft ist von Straßen, weil das hier ja ein zentraler Kreuzungspunkt ist. Dann, naja, das war natürlich auch eine Wahrnehmung der Menschen: Wenn hier was herkommt, dann sind es Flüchtlingsunterkünfte oder Moscheen.« (Schulz, BB) Die Planungen des Baus begannen im März 2006, die Baugenehmigung wurde im Dezember 2006 erteilt, worauf sich eine kritische Gegenbewegung konstituierte, die auf Demonstrationen auch von der NPD flankiert wurde. Sie organisierte antimuslimische Flugblätter und leitete sogar ein Bürgerbegehren ein. »Also, das Ganze begann ja im Jahre 2006 oder so, soweit muss man gedanklich zurück blicken, als es hier diesen Moscheebaukonflikt gab bzw. als der begann, als die Ahmadiyya-Gemeinde hier einen Bauantrag gestellt hat und das langsam publik wurde und

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sich in Folge dessen daraus ein größerer Konflikt ergab, der nämlich so aussah, dass sich hier Menschen organisiert haben und so eine Art Bürger – naja, Verein würde ich nicht sagen, weil das formal nie, ja doch, sie waren es sogar formal –, gegründet haben, die sich hier sehr massiv gegen den Moscheebau engagiert haben, und das auf eine ziemlich polemische und zumeist auch ziemlich widerwärtige Weise.« (Schulz, BB) Gegen die deutschlandweite Reaktion der Presse, die Heinersdorf infolge dieser Ereignisse als »braunen Fleck Berlins« bzw. »Da wo die Nazis wohnen« darstellte, formierte sich zunächst eine lose Initiative für Meinungsfreiheit, Toleranz und Religionsfreiheit mit dem Namen »Heinersdorf, öffne dich«. Aus ihr heraus entwickelte sich die Zukunftswerkstatt Heinersdorf (ZWH), die bis heute als Bürgerverein aktiv ist, Dorffeste organisiert und Engagierte vernetzt. »Die Zukunftswerkstatt ist entstanden aus der Erkenntnis, wie katastrophal es ist, wenn man Bürgerversammlungen zu einem solchen Stadtentwicklungsthema durchführt, ohne dass vorher etwas wie eine inhaltliche Vorbereitung existiert.« (Friedmann, BB) Auch wenn der Moscheebaukonflikt somit bei der Entstehung der ZWH von zentraler Bedeutung war, erschöpft sich deren Tätigkeit doch nicht in diesem einen Thema, sondern gibt einer Vielfalt von Interessen und Anliegen Raum: »Wir sind gewachsen, wir haben immer mehr Projekte an Land gezogen, das heißt, wir haben uns einerseits städteplanerisch hier sehr eingesetzt, aber andererseits haben wir ein Nachbarschaftshaus betrieben, wo wir Kurse angeboten haben. Für Kurse, Angebote, alles Mögliche für Kinder, für Erwachsene. Haben dann irgendwann festgestellt, dass uns das zu klein ist, und wieder gab es Menschen, die gesagt haben: Naja, dann müssen wir größer werden.« (Schulz, BB) Darüber hinaus habe die Zukunftswerkstatt aus Sicht ihres stellvertretenden Vorsitzenden während der heißen Phase des Moscheebaukonflikts sogar zeitweise die Aufgaben der evangelischen Gemeinde übernommen: »Das Problem war, dass im Laufe der Zeit die klaren Köpfe, die es da noch gab, immer weniger wurden, weil die alle resigniert hatten. Und zwar nicht nur wegen des Moscheestreites, sondern einfach, weil der Pfarrer jegliches ehrenamtliche Engagement weggebissen hat und da ziemlich schnell eine Alleinherrschaft aufgebaut hat bzw. über ziemlich schlimme Sachen und Kungeleien die Stellen mit Leuten besetzt hat, die ihm wohlgesonnen waren. […] Wie gesagt, das ging ja auch nicht so sehr um diesen Moscheekonflikt, sondern es ging generell um das, was der Pfarrer damals mit der Gemeinde angestellt hat. Und wie er sie nachhaltig, also tatsächlich kaputt gemacht hat, man kann das gar nicht anders sagen.« (Schulz, BB) Viel ehrenamtliches Engagement habe sich vor diesem Hintergrund nicht in der evangelischen Gemeinde, sondern in der Zukunftswerkstatt gesammelt. Das bestätigt auch die jetzige Pfarrerin. Das Verhältnis zwischen Verein und Gemeinde habe sich dabei inzwischen zu einer guten Kooperation gewandelt – was sich auch darin zeigt, dass der Vorsitzende des Vereins gleichzeitig im Gemeindekirchenrat tätig ist.

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Ein Beispiel für die Wirkmächtigkeit der Zukunftswerkstatt zeigt sich auch in folgender Episode: Direkt neben der Heinersdorfer Kirche befindet sich ein altes Spritzenhaus, in dem früher die Feuerwehrschläuche getrocknet wurden, das dann aber leer stand. Aufgrund von persönlichen Kontakten in die Stadtverwaltung konnte die ZWH das Haus für null Euro pachten mit der Auflage, es zu restaurieren, aber mit Befreiung vom Winterdienst. In dieser Erzählung wird die Wertschätzung deutlich, welche die ZWH von den Behörden erfährt. Nach Ansicht der Pfarrerin erklärt sich diese Wertschätzung aus dem städtebaulichen Engagement der Zukunftswerkstatt. Das gehe soweit, dass die Pläne der ZWH in Bezug auf die Verkehrsleitplanung für das Gebiet vom Senat aufgenommen und partiell umgesetzt werden sollen, wie man sich erzählt. Auch der stellvertretende Vorsitzende der Zukunftswerkstatt betont, dass die hier Aktiven an diversen Veranstaltungen und Beteiligungsformaten von Anfang an teilgenommen und mitgeplant hätten: »Das heißt, wir haben uns in diese ganzen Planungsrunden, die es da gibt und gab, von vornherein engagiert eingebracht. Wir werden ja auch als Partner hier durchaus anerkannt, weil wir auch sehr fähige Menschen hier im Verein haben, die da inhaltlich was zu beitragen können. Wir haben das ja in den letzten Jahren auch viel getan. Bei allen Fragen rund um Heinersdorf.« (Schulz, BB)

10.2.3 Kommunikationskonflikte zwischen Senatsverwaltung und lokaler Bevölkerung Bei der Aufnahme einer Maßnahme zur Stadtentwicklung orientiert sich die Berliner Senatsverwaltung an einem festen Schema. Am Anfang steht, wie oben bereits erwähnt, das vom Baugesetzbuch vorgeschriebene Instrument der »Vorbereitenden Untersuchungen«.5 Ziel derselben ist – im vorliegenden Fall – die Beantwortung der Frage, ob eine »Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme zur Realisierung des Blankenburger Südens sinnvoll ist«.6 Dafür werden von einer vom Senat eingesetzten Arbeitsgruppe unterschiedliche Analysen zur infrastrukturellen Lage und Verkehrsanbindung des Quartiers, zu Fragen von Natur- und Umweltschutz, aber auch zur Energieversorgung und zur Beschaffenheit des Baugrundes durchgeführt. Eine weitere Aufgabe der Arbeitsgruppe ist die Einleitung von Maßnahmen der Bürgerbeteiligung mit dem Ziel, die von dem Entwicklungsplan betroffenen Anwohner:innen frühzeitig zu informieren und sie bis zu einem gewissen Grad in den weiteren Prozess mit einzubeziehen (siehe dazu auch 11.3.2). Um sich eine erste Übersicht über die Lage vor Ort zu verschaffen und in einen ersten Kontakt mit den lokalen Anwohnerinnen zu kommen, veranstaltete die Arbeitsgruppe eine Besichtigungstour durch das betroffene Gebiet, zu der die Mitglieder der Arbeitsgruppe mit dem Rad anreisten. Das kam bei den Beteiligten vor Ort gut an:

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https://www.stadtentwicklung.berlin.de/wohnen/wohnungsbau/blankenburger-sueden/de/unt ersuchung.shtml, abgerufen am 22.8.2022. Ebd.

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»Ja. Das fanden wir cool und gut. Das war auch schön. Und die haben auch eine Menge verstanden, glaube ich. Danach haben wir dann gesagt, dass wir regelmäßige Treffen brauchen. Dieses Treffen hieß dann ›Forum Blankenburger Süden‹. Und auf diesem Forum kamen dann immer die Vertreter der Senatsverwaltung und alle Interessierten wie z.B. Bürgerinitiativen und Vereine aus Malchow, Heinersdorf und Blankenburg sowie der Verein der Grundstücksnutzer und Eigentümer. Wir haben dann gemeinsam darüber nachgedacht, wie eine solche Bürgerbeteiligung organisiert werden kann.« (Friedmann, BB) In dem Zitat wird deutlich, wie die Erstinitiative durch die Arbeitsgruppe des Senats – sozusagen als Impuls top down – von den bereits in unterschiedlichen Aktionsbündnissen und Vereinen organisierten Ortsbewohner:innen aufgegriffen wurde. Die offensichtlich positive Erfahrung des ersten Treffens führte zum Wunsch nach Verstetigung des Austauschs zwischen den Betroffenen vor Ort und dem Senat. Zugleich weckte die Initiative die Erwartung, die weiteren Schritte und Maßnahmen in einen Prozess einzubinden, der eine durchgängige Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger vorsieht. Man verabredete, auf mehreren Bürgerwerkstätten die geplanten Entwicklungsmaßnahmen weiter zu diskutieren. Auf einem ersten öffentlichen Strategietreffen, der »Auftaktarena«, kam es allerdings zu einer folgenschweren Überraschung: »Und nun gab es diese Auftaktarena und in dieser Auftaktarena […] kam nun für uns überraschend eine Planung zum Vorschein, die all das, sowohl nach Ausmaß und nach Fläche, überschritten hat, was wir uns bislang vorgestellt haben.« (Friedmann, BB) Anlässlich dieses Treffens wurde zum ersten Mal eine Übersichtsskizze gezeigt, welche die ganze Größe des Planungsgebietes einschließlich der möglichen Verkehrsleitplanung aufzeigte: »Da waren auch schon Trassen eingezeichnet und all das. Wir haben dann nein dazu gesagt. Es war immer davon die Rede, dass maximal 6000 Wohnungen entstehen sollen. Maximal. Auf der neuen, in der Auftaktarena präsentierten Gesamtplanung stehen mit einem Mal 10.000 Wohnungen. Das führte zu einem Rieseneklat. Und momentan sind wir mit der Aufarbeitung dieses Themas beschäftigt.« (Friedmann, BB) Um eine Überraschung handelte es sich auf beiden Seiten: Die ortsansässigen Bewohner:innen fühlten sich hintergangen, weil das Gebiet, das von der Senatsverwaltung als Entwicklungsgebiet ausgewiesen wurde, nicht nur das bislang unbebaute Rieselfeld vorsah, sondern auch das Gebiet der Kleingartenanlage mit in die Bauplanung einbezog. Die Senatsverwaltung hingegen war davon ausgegangen, dass durch die frühzeitige Bürgerbeteiligung die Voraussetzungen für eine breite Akzeptanz der Entwicklungsmaßnahmen bereits geschaffen worden sei. Der Blankenburger Süden sollte sogar als Modellprojekt in Sachen Bürgerbeteiligung dienen. In einem Stegreifinterview erzählt einer der Akteure aus der Senatsverwaltung, dass er mühevoll ein Jahr lang versucht habe, Vertrauen zu den Akteuren vor Ort aufzubauen. Dabei sei aus seiner Sicht aber gar nicht über Inhalte der Bauplanung gesprochen worden, sondern ausschließlich über mögliche Beteiligungsverfahren. Genau hier prallen die unterschiedlichen Ansichten aufeinander. Nach Ansicht des evangelischen Pfarrers habe das vom Berliner Senat genehmigte

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Partizipationskonzept nämlich noch weitreichendere, auch inhaltliche Gesichtspunkte betreffende Beteiligungsformen in Aussicht gestellt. Unter anderem sei darin die Gründung eines Projektbeirats vorgesehen gewesen, der über weitgehende Entscheidungsund Mitsprachrechte verfügen sollte und damit auch auf die inhaltliche Planung der Stadtentwicklungsmaßnahme Einfluss nehmen könne. Besonders für Aufruhr sorgt die vom Senat vorgelegte Bauplanung dabei, wie angedeutet, da sie die Kleingartenanlage mit einbezieht und damit deren Pächterinnen und Eigentümer der Verlust bzw. die Enteignung ihrer Grundstücke droht. Ein Mitarbeiter der Zukunftswerkstatt Heinersdorf kommentiert: »Das liegt nun mal im Wesen eines Pachtvertrages, dass der Pachtvertrag endet und dass ich das Grundstück dann auch beräumen muss. Das ist natürlich im Einzelfall immer total blöde, aber etwas abstrakt von außen geguckt, ist das eben immer leider bei Pachtverträgen so. Und wenn ich beim Land Berlin pachte und einen befristeten Pachtvertrag habe, der eben leider vielleicht auch schon lange läuft, muss ich auch damit leben, dass der irgendwann ausläuft.« (Schulz, BB) Angesichts der Bedrohung der Kleingartenanlage durch die geplante Baumaßnahme übernimmt die evangelische Kirchengemeinde eine sozialanwaltschaftliche Rolle für die Pächter bzw. Eigentümer gegenüber der Senatsverwaltung. Aber die sozialpsychologischen Effekte der »Vorbereitenden Untersuchung« für Blankenburg gehen über das Schicksal der Kleingartenanlage hinaus: Jetzt, durch die »Bedrohung« des Dorfes von außen, sei der »soziale Organismus geweckt worden«, so der evangelische Pfarrer. Mit einem Mal gebe es ein Identitäts-, ein Wir-Gefühl. Direkt nach der Auftaktarena habe sich beispielsweise ein Bürgerverein gegründet, der Magazine zur Information der Bürger herausbringe (FFT BB). Auch die religiösen Akteure sind in den Belangen des Stadtteils engagiert und gehen unterschiedlichste Diskurskoalitionen ein. Ein Grund dafür ist, dass sich zumindest die Blankenburger Gemeinde massiv vergrößern wird, wenn das Stadtquartier wie vorgesehen gebaut werden sollte: »Die Blankenburger Gemeinde wird – wenn das Stadtquartier in dem Umfang kommt – sich verdreifachen, das heißt rein demographisch gesehen. Das ist einerseits eine sehr große Herausforderung für uns als Gemeinde, diese neuen Mitglieder überhaupt zu verkraften. Aber ist natürlich auch eine große Chance. Denn es ist vollkommen klar, dass eine gewisse Gemeindegliederzahl auch eine ganze Pfarrstelle rechtfertigen würde.« (Friedmann, BB) Der voraussichtliche Zuwachs der evangelischen Gemeinde durch die neuen Bewohner:innen ist also durchaus von existenzieller Relevanz für den Pfarrer, weil dadurch eine zukunftsstabile Stellenplanung möglich wird. Und so agiert er in einer Vielzahl von Funktionen als religiöser Akteur, Stadtplaner und Kirchenmann, bringt sich an unterschiedlichen Stellen ein und nimmt dabei eine Rolle zwischen Anwalt, Moderator und Ersatzbürgermeister ein.7

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Zu seinem dabei leitenden theologischen Selbstverständnis siehe 9.3.3.

10. Engagement

10.2.4 Zwischenfazit: Ambivalentes Engagement – engagierte Ambivalenz Die Aktivierung des bürgerschaftlichen Engagements in Heinersdorf und Blankenburg speist sich aus unterschiedlichen Quellen und vollzieht sich in mehreren Schüben. Einen wichtigen Auslöser stellten dabei schwelende (Infrastruktur-) und akute (Moscheebau-)Konflikte dar. Die Plattformen, Initiativen und Gremien, in denen sich dieses Engagement bündelt, erschöpfen sich allerdings nicht in der Fokussierung auf ein einziges Thema. Sie konstituieren sich vielmehr als eine eigene Form zivilgesellschaftlicher Agency, die – vorangebracht durch das hohe Engagement einzelner Personen – sich unterschiedlicher Belange annehmen kann und Orte der Kommunikation unterschiedlicher Interessen schafft. Der öffentliche Widerstand, der sich gegenüber der Polemik gegen einen Moscheebau formiert, verwandelt sich in eine Zukunftswerkstatt, die unterschiedliche Bürger:innen-Interessen moderiert und sich aktiv in die Planung der städtischen Infrastruktur einbringt. Ein Bürgerverein kann stellenweise Funktionen der Kirchengemeinde übernehmen, wie letztere unter wieder anderen Bedingungen der Sammelpunkt lokaler Stadtpolitik werden kann. Die Formierung und Aktivierung von Engagement vollzieht sich in Kippbewegungen von gegenläufigen Widerstandskräften, die sich wechselseitig hochschaukeln und verstärken. Einmal gebildete Beteiligungsstrukturen – wie die Zukunftswerkstatt – können in neuen Situationen unter anderem Vorzeichen aktiviert bzw. neu mobilisiert werden. Den konkreten Anlass zu einer solchen Mobilisierung stellt eine Initiative der Berliner Senatsverwaltung dar, welche die ortsansässigen Bewohner:innen frühzeitig in die Planung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme einbinden will. Auch hier ist es ein Konflikt – in diesem Fall ein Kommunikations- bzw. Vertrauenskonflikt –, der zu einer Mobilisierung der Bevölkerung führt. Im Endeffekt erweist sich auch hier ein kommunikativer Eklat als Katalysator für die Formierung, Differenzierung und zugleich Bündelung des bürgerschaftlichen Engagements. In Reaktion darauf bilden sich unterschiedliche Initiativen und lokale Interessenkoalitionen, ja so etwas wie eine kollektive Identität des Stadtteils. Wie bei aller Identitätskonstruktion wirken dabei verschiedenen Elemente zusammen: ein negatives (Widerstand gegen die behördliche Bauplanung), ein integratives (»Wir in Blankenburg«) und ein narratives (es gibt eine Geschichte zu erzählen – und es gibt sachkundige Erzähler:innen dieser Geschichte). Ferner ist hervorzuheben, dass in dieser neuen Engagement-Phase Religion nun nicht mehr als Teil des ›Problems‹ in Erscheinung tritt, wie im Falle des Moscheebaus in Heinersdorf, als der damalige Pfarrer zusammen mit den rechten Demonstranten lief und die Polarisierung im Stadtteil verschärfte. Nun erscheint sie vielmehr als Teil der ›Lösung‹, insofern die evangelische Kirchengemeinde und ihr Pfarrer als Moderationsplattform und Sprachrohr der Bürgerbelange fungieren und diese auch nach außen gegenüber der Senatsverwaltung vertreten.

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10.3 Funktionen bürgerschaftlich engagierter Religion Zivilgesellschaftliche Organisationen erfüllen, wie einleitend dargelegt, eine Vielzahl gesellschaftlicher Funktionen. Der Funktionspluralismus, in dem Religion in Bezug auf bürgerschaftliches Engagement greifbar wird, begegnet auch in den unterschiedlichen Quartieren der vorliegenden Studie. Er reicht vom Sich-Beteiligen (10.3.1) übers Moderieren (10.3.2) und Bündeln (10.3.3) bis hin zum Grenzen-Ziehen (10.3.4) und Repräsentieren (10.3.5). Im letzten Unterabschnitt wird der Blick dann noch einmal auf Probleme und Spannungen gelenkt, die zwischen religiösem und bürgerschaftlichem Engagement auftreten können (10.3.6).

10.3.1 Sich-Beteiligen Religiöse Akteure und Gruppen beteiligen sich an bürgerschaftlichem Engagement. Sie sind Teil von Bürgerplattformen, Zukunftswerkstätten, runden Tischen – als gleichberechtigter Interaktionspartner neben anderen: »Das machen wir momentan sehr intensiv, weil ich ja viel mit dem runden Tisch gemeinsam mache. Da haben wir so ein Team, das ist das Redaktionsteam Runder Tisch, und da ist jemand von der Feuerwehr dabei, jemand von der Albrecht-Schweitzer-Stiftung, da sind Leute aus dem Dorf dabei usw. Und aus diesem Runden Tisch heraus organisieren wir auch vieles.« (Friedmann, BB) In solchen »runden Tischen« spiegelt sich nicht zuletzt die dörfliche Struktur von Blankenburg und Heinersdorf. Die Pflege von lokalen Beziehungen ist hier wichtig, man unterstützt sich wechselseitig, wo nötig und möglich. »Ja, ich bin auch der Meinung, dass das etwas mit dieser Dörflichkeit zu tun hat. Die Identifikation ist sehr hoch.« (Friedmann, BB) Solche lokalen Unterstützungssysteme muss auch und gerade ein religiöser Player verstehen und sich aktiv darin einbringen. Für Pfarrerinnen und Pfarrer auf dem Land, die als Teil der Dorfgemeinschaft akzeptiert werden wollen, sind die Teilnahme an Schützenfesten und Jubiläumsveranstaltungen der freiwilligen Feuerwehr berufliche Pflichtveranstaltungen. Hier zeigt sich, wer dazu gehört – und wer außen vor bleibt. In abgeschwächter Form gilt das auch noch für die eingemeindeten Straßendörfer und Vororte Berlins. Das Einfühlen in die Rolle des Dorfpfarrers fällt allerdings nicht allen gleichermaßen leicht: »Mein Vorgänger hat das nicht so betrieben, das wir nicht so sein Schönstes. Ich bin da ja ein ganz anderer Typ, weil ich auf dem Dorf aufgewachsen bin. Für mich war daher völlig klar, mit der Feuerwehr und allen Akteuren gemeinsam werden hier Dorffeste gemacht.« (Friedmann, BB) Aber nicht nur die evangelische Gemeinde – insbesondere in Gestalt ihrer Hauptamtlichen – wird als Größe wahrgenommen, die sich aktiv am lokalen Leben beteiligt. Auch die ortsansässige Moschee gilt als Akteur, der sich sozial vor Ort engagiert:

10. Engagement

»Gerade die Ahmadiyya-Moschee ist durchaus auch sozial engagiert in Heinersdorf. […] indem sie z.B. hier auch einmal im Jahr zum Neujahrstage hier saubermachen, Straßen fegen. Die betreiben da auch einen Spielplatz, die beteiligen sich bisweilen auch bei uns im Dorffest. […] Die verstehen sich schon als auch sozialer Punkt vor Ort.« (Schulz, BB) Kurz: Religiöse Akteure und Gemeinschaften sind Knotenpunkte in lokalen Netzwerken, die kontinuierlich oder auch punktuell in Erscheinung treten können. Gerade in (ehemals) dörflich geprägten Quartieren bündelt sich bürgerliches Engagement in Kooperationen unterschiedlicher lokaler Player, von denen die Kirche bzw. Moschee einer neben anderen ist.

10.3.2 Moderieren Über das Sich-Beteiligen an bestehenden Netzwerken hinaus kommt der kirchlich-institutionalisierten Religion aber auch eine integrierende sowie moderierende Rolle beim Aufbau und der Pflege von bürgerschaftlichem Engagement zu. Diese Rolle spiegelt sich paradigmatisch im Selbstverständnis des evangelischen Pfarrers in Blankenburg: »Ich verstehe mich da so ein bisschen als Impulsgeber und als Organisator und Netzwerker und Zustandebringer.« (Friedmann, BB) Impulse geben, Menschen zusammenbringen und Zivilgesellschaft gestalten – all das begreift der Kirchenmann als seine genuine Aufgabe, ja als Aufgabe von Kirche in neuen Stadtquartieren überhaupt. Auch bei der Moderation des bürgerlichen Engagements im Ortsteil Heinersdorf kommt der evangelischen Gemeinde eine Schlüsselstellung zu: »Die Auftaktveranstaltung dereinst fand auch in der Heinersdorfer Kirche statt, also die allererste öffentliche Veranstaltung, wo sie [die evangelische Pfarrerin] als Hausherrin begrüßt hat. Und sie hat da nur eine dreiminütige oder fünfminütige Ansprache gehalten, die sehr fabelhaft war, weil sie von vornherein den Druck aus dem Kessel genommen hat. […] Und sie vertritt die Interessen der Gemeinde, oder der Heinersdorfer, wo wir auch in enger Abstimmung stehen, also natürlich auch durch mich in der Zukunftswerkstatt.« (Schulz, BB) Die Gemeinde fungiert als place giver 8 der Bürgerversammlung, was dadurch prägnant zum Ausdruck kommt, dass die Pfarrerin die Anwesenden begrüßt und eine kurze Ansprache hält. Dabei wird sie zugleich als Interessenvertreterin der kirchlichen Gemeinde und der Heinersdorfer Bevölkerung wahrgenommen. Dass sie in dieser Doppelrolle akzeptiert wird, führt der Interviewte auch auf die enge Kooperation zwischen Kirchengemeinde und Heinersdorfer Zukunftswerkstatt zurück. Die Erwartung, unterschiedliche Menschen an einen Tisch zu bringen und einen Bürger:innendialog zu moderieren, wird auch explizit von außen an die religiösen Vertreter:innen herangetragen:

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Zu den von Irene Becci unterschiedenen Typen städtisch-religiösen Raumhandelns siehe 2.1.

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»Dennoch glaube ich […], dass eben gerade er als Gemeindevertreter und als wichtiger Player vor Ort vorangehen sollte und klar sagen sollte: ›Leute, wir müssen uns damit auseinandersetzen, dass hier gebaut wird […]. Lasst uns so viel wie möglich Einfluss nehmen, wie gebaut wird und wie für unseren Ortskern, für unseren historischen Ortskern Blankenburg da Gutes draus erwachsen kann.‹ […] Und da, finde ich, hat Kirche generell einfach eine moderierende Verpflichtung. Übrigens auch in so einem Moscheebaukonflikt. […] Das ist ja eine ganz entscheidende Rolle, die die Heinersdorfer Kirche hier nicht eingenommen hat, unter dem damaligen Pfarrer, hier zu moderieren und sich mindestens neutral zu verhalten.« (Schulz, BB) Die Erwartung an die Kirche geht also über eine bloße Lobby-Arbeit in eigener Sache hinaus: Sie soll moderieren und sich um einen Ausgleich der Interessen vor Ort bemühen. Wo sie das aber nicht kann – aufgrund mangelnder Kompetenz oder Befangenheit –, soll sie sich heraushalten. Zwischen Moderationsrolle und Neutralitätsgebot rückt sie damit in eine staatsanaloge Funktion ein, was sich auch in folgender Anekdote spiegelt, die der evangelische Pfarrer erzählt: »Der [Inhaber des griechischen Restaurants] kommt auch immer, wenn die Luft brennt. Zum Beispiel die Wasserbetriebe bedrohten ihn und brachten ihn um seine Parkplätze. Da kam er zu mir und sagt, Priester, da müssen wir was machen, das geht so nicht. Ich brauche hier Parkplätze! Da haben wir die Feuerwehr ins Boot geholt, sind bei der Stadt vorstellig geworden, und [er] konnte seine Parkplätze wiederbekommen. Der ging ganz selbstverständlich davon aus: Wenn es hier brennt, gehe ich zur Kirche. Nicht ins Rathaus.« (Friedmann, FTT, BB) Die Rolle, die dem Vertreter der Kirche hier zugeschrieben, geht an dieser Stelle über eine moderierende Funktion sogar noch hinaus. Wer ein Problem hat, so die Erwartungshaltung, geht nicht ins Rathaus, sondern zum Pfarrer – der wird sich der Sache anwaltschaftlich annehmen und eine Lösung herbeiführen.

10.3.3 Bündeln Religion bündelt Engagement. Religiöse Gemeinschaften geben einer Vielzahl von ehrenamtlichen Aktivitäten und Angeboten Raum. Unterschiedliche Gruppen treffen sich in kirchlichen Gemeindehäusern, teilen sich gemeinsam genutzte Räume und Teeküchen. Auch die Heinersdorfer Moschee ist ein Kristallisationspunkt unterschiedlicher Betätigungsfelder und Ehrenämter, wobei der Begriff des Ehrenamts hier noch einmal in eigener Weise theologisch qualifiziert ist und sich vorrangig auf die interne Verwaltungsstruktur der weltweiten Ahmadiyya-Gemeinde bezieht (siehe dazu auch 9.3.3): »Ja, aber wir machen unglaublich viel ehrenamtlich. Das ist einfach eher kosteneffizient, und wir wollen diesen Geist des Ehrenamts auch beibehalten. Wir wollen den nicht verlieren. Also wir glauben, dass es etwas Ehrenvolles ist. Dass man es gerne tun und machen soll. Und diesen Geist beizubehalten, ist natürlich Aufgabe der Theologen.« (Zafar, BB)

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Dabei sind es vor allen Dingen ältere Menschen und Senioren, die sich ehrenamtlich beteiligen. Demgegenüber sind die Gruppe der 30–50jährigen, die in Blankenburg mit einem Anteil von 26 Prozent an der Berliner Gesamtbevölkerung sowieso schon unterrepräsentiert sind, schwerpunktmäßig mit Familienplanung und Karriere beschäftigt und haben darüber hinaus kaum freie Kapazitäten, sich ehrenamtlich zu engagieren. Ein Diakon aus München erzählt aus seinen Erfahrungen mit Menschen in dieser Lebensphase: »Und ich glaube, da kannst du zaubern, da kannst du dich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln und dich irgendwie bunt anmalen, das ist den Leuten dann egal, die nehmen das aus dem Augenwinkel wahr und sagen: Das ist ja lustig, schau mal was Kirche da macht.« (Reinhard, GI) In Bezug auf seine Blankenburger Gemeinde beschreibt der evangelische Pfarrer eine ähnliche Situation: »Der Löwenanteil der Ehrenamtlichen sind die, die nach der Kinderphase dann wieder mitmachen und sich einbringen. […] Wenn sie denn junge Familien sind mit Haus, dann gehören sie eher in die Phase lebenszyklischer Frömmigkeit, die – abgesehen von der Bindung der Kinder dann und der Notwendigkeit, sie zu konfirmieren – eher eine lose Beziehung zur Kirche pflegen. […] Ja, weil sie so beschäftigt sind, haben sie nicht so viel für Kirche übrig. Da habe ich dann auch ein gewisses Verständnis für. Interessant ist dann die Generation danach, wenn die Kinder weg sind, dann werden sie auch wieder aktiver.« (Friedmann, BB) Trotz dieser demographischen Großtendenzen befindet er sich in der komfortablen Situation, dass es in seiner Gemeinde einen relativ großen Pool an aktivierbaren Ehrenamtlichen gibt: »Wir haben einen Gemeindekirchenrat und wir haben knapp 100 Ehrenamtliche. […] Also wir sind ja eine sehr junge Kirchengemeinde inzwischen. Das ist Ergebnis der Nachverdichtung. Dadurch ist unsere Gemeinde viel jünger geworden. Wir sind knapp 900 Gemeindemitglieder und davon sind über die Hälfte unter 45 Jahre.« (Friedmann, BB) Allerdings verlassen die allermeisten Jugendlichen ihre Blankenburger Elternhäuser nach der Schule aufgrund fehlender beruflicher Perspektiven und nicht vorhandener Mietwohnungen. Wenn sie dann noch einmal ehrenamtlich aktiv werden, dann an ihrem neuen Wohnort: »Deshalb sage ich immer, dass unsere Christenlehre eigentlich einerseits Familienarbeit [ist] und andererseits Dienstleistung für andere Gemeinden.« (Friedmann, BB)

10.3.4 Grenzen ziehen Insofern Religionsgemeinschaften aufgrund ihrer räumlichen Kapazitäten die Rolle von place givern für die Zivilgesellschaft einnehmen können, fungieren sie zugleich als gate keeper, die darüber entscheiden, wer ihre Räumlichkeiten nutzen darf – und wer nicht.

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Das geht nicht immer ohne Konflikte ab, wie ein Beispiel aus der Karlsruher Südstadt verdeutlicht (siehe 6.3.2). Hier sind neben der evangelischen Gemeinde auch charismatische Gruppen angesiedelt u.a. die Gruppe »Gospel Tribe«. Diese signalisiert Ansprüche auf die zur evangelischen Kirche gehörende Außentreppe. Im Interview nimmt eine kirchliche Mitarbeiterin dazu wie folgt Stellung: »Die wollen am liebsten immer etwas auf unserer Kirchentreppe machen […]. Und singen dann bei uns fromme Lieder und irgendwie so etwas. […] Natürlich, wenn man etwas präsentieren will auf der Kirchentreppe, ist klasse. Wobei ich dazu sagen muss, ich sage nein. Ich sage, das ist unsere Kirchentreppe. Weil, es kommen Leute zu mir und sagen: ›[W]as ist das für ein Verein? Gehört der zu euch oder so?‹ Und die Leute denken einfach, das sind wir. Und die Theologie kann ich einfach nicht unterstützen. Ja, das will ich auch nicht. Mit denen haben wir nichts zu tun.« (Degen, KA) Bei dem genannten Beispiel handelt es sich um einen Raumnutzungskonflikt zwischen religiösen Gruppen. Einen noch einmal anders gelagerten Fall schildert der evangelische Pfarrer in Blankenburg. Ausgangslage ist hier die Präsenz der AfD auf Stadtteilfesten: »Ja, die haben dann bei dem Feuerwehrfest im vergangenen Jahr, haben sie parallel just am Tage des Festes ihr AfD-Bürgerfest gemacht. Und mit einem Mal wusste man nicht mehr so richtig, was hier eigentlich was ist.« (Friedman, BB) Als Veranstalter gerate man so in die Zwickmühle, »dass man eine Werbeveranstaltung für diese Partei macht, wenn man sich mal versammelt.« (Friedmann, BB) Auch auf dem Weihnachtsmarkt, der früher auf dem Dorfanger stattfand, war die AfD öffentlichkeitswirksam präsent. Die Lösung, die der evangelische Pfarrer für diese Situation fand, bestand darin, den Weihnachtsmarkt kurzerhand vom Dorfanger auf das Grundstück der Kirchengemeinde zu verlagern. Hier kann die Gemeinde von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und der AfD die Teilnahme verweigern. An diesem Beispiel wird deutlich, dass religiöse Gemeinschaften der Zivilgesellschaft nicht nur ein Forum geben, sondern zugleich auch eine regulierende Funktion ausüben können. Solche regulierenden Maßnahmen sind allerdings nicht unumstritten – wie etwa der in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Ausschluss von AfD-Politiker:innen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag 2019 in Dortmund deutlich machte.9

10.3.5 Repräsentieren Bürgerschaftliches Engagement erschöpft sich nicht im Handeln – es muss sich auch seiner selbst als Engagement ansichtig werden. Das beginnt schon mit den Überschriften, unter denen man sich versammelt: Der Titel »Heinersdorf, öffne dich« vermittelt eine andere Botschaft als »Zukunftswerkstatt Heinersdorf«. Bei den unterschiedlichen Formen der symbolischen Selbstpräsentation von zivilgesellschaftlichem Engagement kann Religion eine unterstützende, teilweise auch tragende Funktion einnehmen. Ein

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https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kirchentag-ohne-afd-einladungspolitik-mit-schlagse ite-16245474.html, abgerufen am 6.7.2020.

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praktisches Beispiel dafür ist die Ausrichtung von Festen, die für das Bewusstsein der kollektiven Identität von großer Bedeutung sind: »Also, wir haben hier so eine Gruppe, die sich ›Rat und Tat‹ nennt und Feste organisiert. Martinsfest, Kirchweihfest, Weihnachten, Ostern, Erntedank.« (Friedmann, BB) Alle Feste, die in dieser Reihe genannt sind, sind kirchlichen Ursprungs, haben aber zugleich in dörflich geprägten Gegenden den Charakter öffentlicher Ereignisse, die mit Märkten, Umzügen, Ständen usw. verbunden sind. Über die Gestaltung einer Festkultur hinaus, in der lokale Traditionen und Geschichten gepflegt werden, hält Religion symbolische und kommunikative Ressourcen bereit, die insbesondere im Konfliktfall von allgemeinem Nutzen sein können: »Wir greifen Sorgen und Nöte auf. Ebenso entwickeln wir symbolische Formen der Bewältigung. Wir machen außerdem auch Konfliktmanagement, Dinge wie Streitschlichtung, soweit das möglich ist. Versachlichung, solche Dinge.« (Friedmann, BB) Besonders im Aufbau und Pflege eines kollektiven Zusammengehörigkeitsgefühls erkennt der Pfarrer eine Schlüsselrolle der Religion – und damit auch seiner eigenen (Amts-)Person: »Na, wir halten ja gut zusammen. […] Ja, und ich betreue ihre Kinder gut und mache ein bisschen was hier im Dorf und für die Kirche, was zum besseren Ansehen der Kirche beiträgt. Ich stelle dar, dass wir hier alle gut zusammenleben und wohnen können.« (Friedmann, BB) Dabei schreibt er sich selbst eine wichtige Rolle bei der Repräsentation des Gemeinsamen, Verbindenden der Blankenburger:innen zu, wie auch im folgenden Interviewabschnitt zum Ausdruck kommt: »Weil dann nämlich die Frage gestellt werden müsste, wie man ehemalige Dörfer so miteinander verbindet, dass hier nicht ein Raumschiff landet mit dreimal Kaufland und einem Platz in der Mitte, der dann Zentrum genannt wird. Das ist ja immer das Horrorszenario. So ein zugiger Platz wie in Französisch Buchholz […], wo fünf Geschäfte dann sind, vorzugsweise Aldi, Lidl und Netto, und alles andere ist öde Wüste. Unwirtlich und zugig, eigentlich eher Banlieue. Das wollen wir nicht.« (Friedmann, BB) Für die vorliegende Thematik ist dieses Zitat in dreifacher Hinsicht interessant. Erstens greift der Pfarrer mit der Zentrumsthematik zielsicher einen neuralgischen Punkt bei der Planung neuer Stadtquartiere heraus (siehe Kapitel 1), wodurch er sich als Experte auf dem Gebiet der Stadtentwicklung zu erkennen gibt. Zum zweiten ist es inhaltlich nun gerade die Frage danach, wie eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Dörfern geschaffen werden kann, die er stellt. Er fokussiert die Thematik also auf die Frage, wie ein größeres Ganzes aus den einzelnen Dörfern erwachsen kann, das sich dann auch auf eine angemessene Weise symbolisiert (im Gegensatz zum zugigen Platz in Buchholz). Schließlich drittens nimmt er für sich selbst eine repräsentative Position in Anspruch, wenn er aus seinen Überlegungen das Fazit zieht: »Das wollen wir nicht.« Er beansprucht mithin, mit seiner eigenen Stimme für ein größeres Ganzes zu sprechen – wobei aus dem Zitat nicht hervorgeht, ob dieses Ganze die evangelische Gemeinde oder

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Religion im urbanen Raum

die Blankenburger Bevölkerung sein soll. Dass diese Frage wohl mit einem ›sowohl als auch‹ zu beantworten wäre, erhellt aus einem weiteren Zitat. Auf die Frage, ob sich Gemeindearbeit von Gemeinwesenarbeit unterscheide, lautet die Antwort: »Nein, das kann man so nicht sagen. Für mich ist das [Gemeinwesenarbeit] auch Gemeindearbeit. Das hat etwas damit zu tun, dass unsere Gemeinde ja einen Auftrag hat.« (Friedmann, BB) Die Aktivitäten der Gemeinde sollen damit immer auch als repräsentativ für zivilgesellschaftliches Engagement überhaupt gelten – und auch entsprechend für Dritte ›lesbar‹ sein.

10.3.6 Spannungen und Konflikte Bürgerschaftliches Engagement ist mit unterschiedlichen Konfliktpotentialen verbunden. Dies gilt schon für die Art seines Zustandekommens, wie oben dargelegt wurde: Sei es der Bau einer geplanten Moschee oder die vom Senat forcierte Stadtentwicklungsmaßnahme – durch die (imaginierte) Bedrohung von außen wird der »soziale Organismus« des Stadtquartiers geweckt und sammelt seine Kräfte. Aber Spannungen gibt es – um im Bild zu bleiben – auch zwischen den einzelnen Gliedern des so aktivierten Organismus. Die Positionen der unterschiedlichen Gruppierungen und Initiativen gehen nicht ineinander auf, sondern streben in unterschiedliche Richtungen: »Es gibt ja da diverse Gremien, also z.B. dieses Forum Blankenburg, wo wir mit dabei sind.« (Schulz, BB) Die aktivierte Bürgerschaft sammelt sich in »diversen Gremien«, wobei der Interviewte deutlich unterscheidet zwischen »diesem« Forum und der eigenen Gruppe (»wir«). Trotz aller Kooperation ist klar, dass es sich hier um unterschiedliche Interessenverbände handelt, die verschiedene Zielsetzungen verfolgen, auch wenn sie in partieller Hinsicht an einem Strang ziehen. Diese Unterschiede können sich zu Gegensätzen und Konflikten steigern. So besteht ein potenzieller Interessenkonflikt zwischen den Heinersdorfern, welche die Planung des neuen Stadtquartiers grundsätzlich begrüßen, weil sie sich davon die Lösung ihrer Verkehrsproblematik erhoffen, und den Blankenburgerinnen, die sich durch das unbekannte Szenario vor der eigenen Haustür eher bedroht fühlen. Aus Perspektive des Vorsitzenden der Heinersdorfer Zukunftswerkstatt stellt sich das wie folgt dar: »Meine Wahrnehmung ist, dass da vermehrt Menschen die Oberhand gewinnen – also im Prinzip sind es ja Bürger und vor allen Dingen Vereine, Zusammenschlüsse von Menschen, die sich dort treffen –, die da ziemlich polemisch gegen dieses Bauvorhaben agieren. Ich verstehe natürlich durchaus, dass Betroffene, also die dort unmittelbar vor Ort wohnen, da viel eher was dagegen haben. […] Und meine dringende Empfehlung an die Menschen ist, sich damit abzufinden, dass da gebaut wird […] dass man sich da versucht, positiv zu engagieren, also das ist am Ende, letztendlich von der Idee her, zu vergleichen mit dem Moscheebaukonflikt.« (Schulz, BB)

10. Engagement

Der Interviewte unterscheidet zwischen »eigener Wahrnehmung« und der Perspektive der anderen, die unmittelbar von der Baumaßnahme betroffen sind und für die er ein gewisses Maß an Verständnis zeigt. Dabei positioniert er sich klar auf Seiten der städtischen Entwicklungsmaßnahme und empfiehlt den Blankenburgern »dringend«, sich »damit abzufinden« und der Sache etwas Positives abzugewinnen. Er wird sogar noch konkreter, wie diese Empfehlung gemeint ist: »Und am Ende, das ist jedenfalls meine Sicht der Dinge, wäre ja dieses ganze Bauvorhaben ja auch eine Chance, diese Strukturen dort mal zu klären.« (Schulz, BB) Mit »diesen Strukturen«, so geht aus dem Kontext hervor, sind Pacht- und Eigentumsverhältnisse auf der Kleingartenanlage gemeint. Ein anderes Beispiel für auseinanderstrebende Interessen lokaler Initiativen schildert der evangelische Pfarrer aus Blankenburg: »Das Dorf Malchow arbeitet mit zwei Bürgerinitiativen mit. Die haben die Bürgerinitiative Malchower Luch, die die Frösche retten wollen und verhindern, dass hier eine Ortsumgehung hier gebaut wird. Es gibt dann auch noch den Bürgerverein Malchow, der die Ortsumgehung gerne haben möchte […]. Die sind der Meinung, dass diese Umgehung gebraucht wird.« (Friedmann, BB) Neben solche Interessenskonflikte treten mit bürgerschaftlichem Engagement verbundene Rollenkonflikte, die in besonderer Weise die religiösen Akteure betreffen. Sie liegen zunächst ganz allgemein in der Spannung von Privatperson und religiösem Ehrenamt begründet. Besonders virulent ist die Problematik in Freikirchen bzw. religiösen Gruppierungen, die mit hoher sozialer Verbindlichkeit einhergehen. Der landeskirchliche Pfarrer führt dazu aus: »Wenn die Gruppe sich schließt, dann gibt es keine Grenze mehr zwischen Privatheit und Engagement. Und das ist so lange gut, so lange Freundschaft und Gemeinde dasselbe ist. Aber in dem Augenblick, wenn eine Freundschaft auseinandergeht, dann kann das schnell schwierig werden. […] Dann hat man dann ein Problem, da sonntags hinzugehen. Und das ist dann alles Mist. Und aus diesen Gründen wandern die Menschen ab und kehren wieder zur Landeskirche zurück.« (Friedmann, BB) Die Gefahr geschlossener Gruppen, die hier anklingt, liegt im Verlust an sozialem Abstand, wodurch dem einzelnen Individuum ein flexibles Rollenhandeln, das immer auch durch Momente der Rollendistanz bedingt ist, erschwert wird (Krappmann 1993). Diese Tendenz ist in religiösen Beteiligungszusammenhängen besonders groß, da die Religion extrem starke Bindungskräfte entfalten kann und die ›religiöse Rolle‹ zu einer totalen Rolle zu werden droht, die keine Distanzspielräume mehr zulässt. Ein noch einmal anders gelagerter Fall von Rollenkonflikten sind Doppelrollen, wenn sich etwa ein Mitglied des Gemeindekirchenrats zugleich in einem Bürgerverein engagiert. Soll er/sie die Protokolle des Vereins dem Gemeindekirchenrat vorlegen – oder umgekehrt? Spricht er/sie im Bürgerverein als Privatperson oder als Repräsentant:in der Gemeinde?

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Religion im urbanen Raum

»Also, ich erlebe die Heinersdorfer Kirchengemeinde als einen religiösen Akteur. Wie gesagt, ich würde mich ja da als Mitakteur bezeichnen, weshalb ich in dieser ganzen Sache immer ein bisschen eine blöde Rolle habe. Und was die Zukunftswerkstatt betrifft, die versuche [ich] bei dieser ganzen Angelegenheit möglichst wenig zu vertreten. [… Dabei] will ich immer nicht in so eine komische Rolle, ich bin hier als Zukunftswerkstatt oder als evangelische Kirchengemeinde Heinersdorf aktiv.« (Schulz, BB) Ehrenamtliches Engagement, das in solche oder ähnliche Konstellationen eingebunden ist, geht mit einem erhöhten Bedarf an reflexiver und performativer Identitätsarbeit einher. Es sind gleichsam immer wieder die ›Hüte‹ zu klären, die man in einer bestimmten Situation aufhat, aus welcher Position und für welche Gruppe man spricht. Rollen sind immer wieder neu auszuhandeln und zu legitimieren. Gerade Doppel- oder Mehrfachrollen ermöglichen aber zugleich eine Anschlusskommunikation über unterschiedliche Beteiligungszusammenhänge hinweg und erscheinen daher als ein wichtiges Element bei der Koordination bürgerschaftlichen Engagements.

10.4 Fazit Städtebauliche Maßnahmen stellen Veränderungen lokaler Gegebenheiten in Aussicht, auf die mit einer möglichen Aktivierung der Bürgerschaft reagiert wird. Der Plan eines Moscheebaus im Quartier, die vorbereitende Untersuchung einer Brache oder die angekündigte Sanierungsmaßnahme eines in die Jahre gekommenen Neubauviertels werden besorgt oder auch freudig wahrgenommen, öffentlich diskutiert, mit Protesten und Gegenprotestanten flankiert. Insbesondere Konflikte zwischen Interessengruppen wirken als Antriebsdynamiken und Katalysatoren der Aktivierung von Engagement. Einmal gebildete Beteiligungsstrukturen können dabei in neuen Situationen unter anderem Vorzeichen aktiviert bzw. neu mobilisiert werden. Um einen sichtbaren Ausdruck und dauerhafte Stabilität zu gewinnen, ist das Engagement der Bürger:innen auf zivilgesellschaftliche Organisationsformen angewiesen, in denen es sich bündelt, ausrichtet, eine definierte Zielsetzung und Agenda gibt. Zu diesem Zweck können entweder neue (Vereins-)Strukturen (Quartiers-Initiativen, Bürgervereine) geschaffen oder bereits vorhandene lokale Institutionen (runde Tische in der evangelischen Kirchengemeinde) genutzt werden. Die vielen offenen Fragen und Problemfelder, die von der Planung neuer Stadtquartiere berührt sind (Infrastruktur, Umweltschutz, soziale Integration), finden dabei Ausdruck in einer Pluralität von möglichen Positionen, so dass sich das Engagement insgesamt als ein komplexes Geflecht teils überlagernder, teils widerstreitender Interessenkoalitionen und -bündnisse darstellt. Die Rolle von Religion in diesem Geflecht ist selbst eine hochgradig differenzierte. Religiöse Akteure können als partikulare Interessenvertreter in Erscheinung treten, die sich mit einer bestimmten Interessengruppe verbinden – wie der Pfarrer, der zusammen mit der AfD-Demonstration gegen den Moscheebau protestiert. Sie können aber auch eher eine moderierende Rolle einnehmen, zu Gesprächsrunden einladen und ihre Räumlichkeiten für Bürgergespräche zur Verfügung stellen. Teilweise nehmen sie auch eine advokatorische bzw. sozialanwaltschaftliche Rolle ein, wenn sie sich besonders

10. Engagement

für benachteiligte Interessengruppen einsetzen. Ob Religion dabei eher zur zivilgesellschaftlichen Integration beiträgt oder parallelgesellschaftliche Strukturen aufbaut, lässt sich nicht auf einer abstrakten Ebene entscheiden, sondern hängt an je individuellen Konstellationen. Religion gibt bürgerschaftlichem Engagement aber nicht nur Raum, sondern sie begrenzt ihn auch – etwa wenn die Kirchengemeinde von ihrem Hausrecht Gebrauch macht, um die AfD-Ortsgruppe vom Weihnachtsmarkt fernzuhalten. Darüber hinaus stellt sie einen symbolischen und rituellen Rahmen bereit, in dem ehrenamtliche Aktivitäten bedacht und explizit gewürdigt werden können. Als zivilgesellschaftliche Akteure, die unterschiedliche Engagementformen und Ehrenämter an sich binden, sind Religionsgemeinschaften dabei selbst stark binnendifferenziert. Die vom Seniorenkreis, von der Schwangerschaftsgymnastik und der Teamer-Gruppe gemeinsam genutzte Teeküche des Gemeindehauses ist dafür ein Bild. Neben traditionelle Formen des Ehrenamtes treten alternative, projektförmige und zeitlich flexible Weisen der freiwilligen Beteiligung. Die Hochengagierten sind dabei nicht selten in Doppel- und Mehrfachrollen unterwegs – als Mitglied des Gemeindekirchenrates und Vorsitz des Bürgervereins oder des Elternbeirats in der Schule. Solche Mehrfachrollen sind mit potenziellen Interessenkonflikten verbunden, stellen aber zugleich wichtige Knotenpunkte lokaler Engagement-Netzwerke dar.

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11. Planung

11.1 Religion und Stadtplanung Mit dem vorliegenden Kapitel wird der Fokus auf den Planungsprozess gelegt, in dem neue Stadtquartiere entstehen. Doch bevor dieser Prozess selbst anhand eines konkreten Beispiels nachgezeichnet und insbesondere danach gefragt wird, wie sich religiöse Akteure in ihm positionieren, soll zunächst der titelgebende Begriff der (Stadt-)Planung selbst erläutert und auch partiell problematisiert werden. Denn dieser verweist auf zwei Spannungsfelder. Das erste betrifft das Verhältnis von Stadtplanung als ingenieurswissenschaftlicher auf der einen und Stadtsoziologie als ›verstehender‹ Disziplin auf der anderen Seite. Aus ingenieurswissenschaftlicher Perspektive verbinden sich mit dem Konzept der Stadtplanung konkrete Fragen des Städtebaus, der Anlage der städtischen Infrastruktur und Versorgung, der Schaffung von neuem Wohnraum durch Nachverdichtung usw. Hier dominiert ein pragmatisches Paradigma: Vermeintlich ideologiefrei, »rein problemorientiert und interesselos« besteht das Ziel darin, durch bauliche Maßnahmen auf Entwicklungstendenzen zu reagieren, um »gesundheitliche, soziale und moralische Probleme zu lösen« (Harth 2012: 341). Auf der anderen Seite basieren solche Maßnahmen auf der empirisch-analytischen Erfassung von vorausgesetzten Problemlagen, womit das klassische Themenfeld der Stadtsoziologie berührt ist. Seit ihrer formativen Phasen zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht hier das Bemühen um ein – oft historisch geleitetes – Verstehen von Stadt im Vordergrund (Weber 1972: 727ff). Beide Blickrichtungen, die ingenieurswissenschaftliche und soziologische, ergänzen sich im Idealfall, so dass die soziologische Analyse die Grundlage baulicher Entwicklungsmaßnahmen darstellt und letztere sich am Komplexitätsgrad von ersterer bemisst. Faktisch haben sich beide Disziplinen allerdings sowohl aufgrund ihrer unterschiedlichen Zielbestimmung als auch aufgrund unterschiedlicher Zeithorizonte, in denen sie sich bewegen, ausdifferenziert und sind, wenn überhaupt, nur locker aufeinander bezogen. Der Versuch einer beide Standpunkte integrierenden »Stadtplanungswissenschaft«, wie sie unter anderem auf der Linie von Hans-Paul Bahrdts Klassiker zur Soziologie des Städtebaus lag (Bahrdt 2006), hat sich jedenfalls nicht durchsetzen können. Das zweite Spannungsfeld, das hier in den Blick genommen werden soll, ist mit den gegensätzlichen Begriffen ›Stadtplanung‹ und ›Stadtentwicklung‹ verbunden. Während

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Religion im urbanen Raum

der Planungsbegriff ein technokratisches Ideal widerspiegelt und in den 1970er Jahren zu einem »Schlagwort für alle Lebensbereiche (Bildungsplanung, Finanzplanung, Familienplanung)« (Harth 2012: 351) avancierte, basiert der Entwicklungsbegriff auf einer organologischen Logik: Die Stadt erscheint, analog zu einem lebendigen Organismus, als ein umfassendes, wachsendes und sich selbst steuerndes Ganzes, das in diesem Sinne auch nicht zentral geplant oder gar gesteuert werden kann. Damit steht ganz grundsätzlich die Frage nach der Reichweite, ja Möglichkeit von Planung im Raum. Diese angedeuteten Spannungsfelder zwischen einem problemlösenden und verstehenden Ansatz auf der einen, zwischen Planungs- und Entwicklungsparadigma auf der anderen Seite spiegelt sich auch in der neueren Geschichte des europäischen Städtebaus. Nach einer »Laissez-faire-Haltung«, welche »bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts die Stadtentwicklung [dominierte]« (a.a.O.: 338), kommt es insbesondere nach der Zerstörung der Städte im Zweiten Weltkrieg zu einer »zweite[n] Gründung« (Jens Dangschat, zitiert nach a.a.O.: 348) innerhalb des Städte(auf)baus und damit zugleich der stadtbezogenen Wissenschaften. Sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der DDR werden umfassende Planungskonzepte vorgelegt, die Wiederaufbau und innerstädtische Verdichtung durch Großraumsiedlungen sowie Flächensanierungen ganzer Viertel vorsahen. Das Leitbild der autofreundlichen Stadt wird zu einem Hauptziel der Stadtplanung und führt zum massiven Ausbau der Infrastruktur für den Individualverkehr. Dabei tritt spätestens ab den 1960er Jahren »ein wachsendes Missverhältnis von Raumstrukturen und gesellschaftlichen Anforderungen [in den Blick]: Die Stadtzentren boten nicht mehr genug Flächen für die rapide Entwicklung des Dienstleistungssektors, der Automobilisierungsschub schuf erhebliche Verkehrsprobleme und die erhalten gebliebenen, aber oft maroden und stark verdichteten Gründerzeitgebiete hielt man mehr und mehr für nicht mehr zeitgemäß für modernes Wohnen und Arbeiten« (a.a.O.: 350). Die 1980er Jahre leiteten in eine Phase der »Ernüchterung« gegenüber der bis dato vorherrschenden »Planungseuphorie« über: »In den Stadtplanungsdisziplinen rückte man mehr und mehr ab vom ›Gott-Vater-Modell‹, bei dem als Aufgabe der Planung das Umsetzen von sachlich richtigen Zielen gesehen wird« (a.a.O.: 353). An die Stelle von stadtplanerischen Großentwürfen, die top-down umgesetzt werden sollen, tritt das Paradigma einer »behutsame[n] Stadterneuerung«, die sich vermehrt Fragen von »Bestandsentwicklung […] und Denkmalschutz« zuwendet (a.a.O.: 354). Auch die Frage nach dem Subjekt von Stadtplanung stellt sich in diesem Zusammenhang neu: In dem Maße, in dem die Stadt als Beteiligungszusammenhang gesehen wird, der sich nicht zentral steuern lässt, pluralisieren sich auch die Akteure, die Stadt ›machen‹. Die behördliche, durch die politische Administration betriebene Stadtplanung wird de facto zu einem »Akteur der Stadtentwicklung unter vielen anderen (wie marktbezogenen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren)« (ebd.). Die angedeuteten Problem- bzw. Themenfelder – Stadtplanung zwischen Verwaltungshandeln und zivilgesellschaftlichem Engagement, die Frage nach Art und Reichweite von Beteiligung, die Pluralisierung von Akteuren – kehren in den Beobachtungen, die im Rahmen der vorliegenden empirischen Untersuchungen gemacht wurden, wieder. Sie bilden auch den Analyserahmen, um die Lage von Religion bei der Planung neuer Stadtquartiere zu beschreiben. Im Idealbild der europäischen Stadt des Mittelalters war Religion ein integraler Bestandteil des Planungs- und Baugeschehens.

11. Planung

Auch wenn hier schon unterschiedliche Gruppen (religiöse Institutionen, Bürgerschaft, landesfürstliche Verwaltung) miteinander um Einflussmöglichkeiten konkurrierten (Heigl 2008: 226), kam den Kirchen eine zentrale, stadtbildprägende Funktion in der städtischen Gesamtanlage zu. Demgegenüber sind die Interessen und Raumbedarfe von Religionsgemeinschaften heutzutage vom Baugesetz eingereiht neben andere »schutzbedürftige Anlagen« wie Schulen oder Kindertagesstätten.1 Den Ergebnissen der folgenden Ausführungen vorgreifend ist zu beobachten, dass religiöse Akteure als eine Interessengruppe neben anderen in Planungsprozessen in Erscheinung treten, und zwar je nach organisationaler Verfasstheit mit mehr oder weniger stark hörbarer Stimme. Angesichts der Veränderungen, die durch die geplante städtische Baumaßnahme auf sie zukommen wird, ringen sie um ihre Selbstpositionierung. Zugleich handeln sie innerhalb eines Möglichkeitsraumes, der durch unterschiedliche Vorgaben wie baurechtliche Rahmenbedingungen, administrative Zuständigkeiten innerhalb der Organisationsstruktur, finanzielle und personelle Ressourcen, Regionalisierungs- und Fusionspläne usw. abgesteckt ist. Welche Handlungsstrategien sie verfolgen, wie sie sich innerhalb von Planungsszenarien verorten und als Akteure mit eigenen Zielvorstellungen ins Spiel bringen, soll im Folgenden anhand eines Beispiels aus dem Westen Münchens dargestellt werden. Im ersten Abschnitt wird das dortige Planungsszenario beschrieben und gefragt, wie sich die religiösen Akteure vor Ort angesichts des geplanten Neubaugebietes in Stellung bringen (11.2). Welche unterschiedlichen verfahrenstechnischen, strategischen, aber auch emotional-evaluativen Aspekte mit der Planungsthematik verbunden sind, wird daran anschließend unter Hinzuziehung von Beobachtungen aus anderen Quartieren in den Blick genommen (11.3). Im Fazit werden einige zentrale Beobachtungen zusammengefasst und thesenhaft verdichtet (11.4).

11.2 Religiöse Selbstpostionierungen in städtischen Planungsprozessen Wie positionieren sich die ortsansässigen religiösen Akteure, das heißt hier: die beiden großen christlichen Kirchen, angesichts des geplanten Neubauviertels Freiham im Westen Münchens? Um diese Frage beantworten zu können, soll zunächst das Planungsszenario näher dargestellt und stadträumlich kontextualisiert werden (11.2.1). Eine wichtige Rahmenbedingung kirchlichen Handelns in neuen Stadtgebieten, die nicht nur in Freiham eine Rolle spielt, stellt das Baurecht dar, das freilich von den unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich tief durchdrungen ist und verschieden interpretiert wird (11.2.2). Für die Positionierung beider Kirchen in Bezug auf Freiham stellt sich schließlich als maßgeblich heraus, dass die Entscheidungsgewalt, ob im neuen Stadtgebiet ein neues Kirchengebäude oder eine andere Form der kirchlichen Präsenz errichtet werden soll, auf einer der Ortsgemeinde übergeordneten Ebene der kirchlichen Administration liegt – was den Aktionsradius der lokalen kirchlichen Akteure maßgeblich bestimmt und restringiert (11.2.3).

1

Vgl. § 9 Abs. 2 BauGB.

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Religion im urbanen Raum

11.2.1 Freiham (München) Wenn man sich dem Baugebiet nähert, sieht man zunächst viele Felder, durchbrochen von Einrichtungshäusern. Hier hat man sich offenbar bereits auf das Entstehen des neuen Stadtquartiers eingestellt. Die großen Einkaufsblöcke bilden einen starken Kontrast zu den Feldern, denn es handelt sich in der Tat noch um eine ›grüne Wiese‹ – das Sinnbild für die Stadtplanung auf freiem Gelände. (FFT FH) Die Bebauung des Geländes erfolgt in unterschiedlichen Abschnitten: »Also, es soll ein sukzessives Wachstum sein. Nicht, dass auf einen Schlag nur Familien herziehen, die dann alt werden und, so wie es am Westkreuz ist, dass sie jetzt alle miteinander alt geworden sind. Und jetzt eben das Problem ist, dass es dort überaltert ist.« (Burger, FH) Die Aufteilung in mehre Bauabschnitte soll also Synchronizitätseffekten entgegenwirken, wie sie in älteren Neubauquartieren beobachtet werden können (siehe etwa zu Neuperlach, 1.2.1). Der Bau einer Kirche oder eines Gemeindezentrums in dem Neubaugebiet ist nicht geplant, wie gleich noch näher ausgeführt werden wird. In den Interviews mit kirchlichen Akteuren werden infolgedessen Befürchtungen geäußert, dass es schwierig werden könnte, »wirkliche Bindungen zwischen Freiham und Neuaubing [dem benachbarten Quartier mit der ortsansässigen Kirchengemeinde] aufzubauen. Was sicher so ein theoretisches Interesse der Politik ist und natürlich auch unsers, aber das wird halt wahrscheinlich so eine Schlafstadt, und die haben keinen Anlass nach Neuaubing rein zu fahren, weil da einfach wenig ist, was attraktiv genug ist.« (Jung, FH) Bevor geschildert werden kann, wie sich die kirchlichen Akteure gegenüber dem Bauvorhaben der Stadt positionieren, ist zunächst der städtebauliche Kontext Freihams noch näher zu beschreiben. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich die Standorte nachvollziehen, von denen aus die involvierten Personen und Parteien im einzelnen agieren.

a) Neuaubing Das im letzten Zitat erwähnte Neuaubing grenzt direkt an das geplante Neubauquartier. Es ist in mehreren Etappen entstanden und von der Jahrhundertwende bis in die 1970er Jahre immer weiter ausgebaut worden. Den Beginn der Entwicklung markierte die Errichtung eines Bahnausbesserungswerkes der Königlich Bayerischen Staatseisenbahnen, das um eine Siedlung für die Bahnmitarbeiter ergänzt wurde. 1922 wurde hier die katholische Pfarrei St. Konrad gegründet. Eine weitere, in städtebaulicher Hinsicht prägende Phase der Geschichte Neuaubings war die NS-Zeit, in der die Dornier-Werke nebst Arbeiterunterkünften errichtet wurden. Ende der 1940er Jahre wurde hier auch die evangelische Adventskirche gebaut. Der jüngste Bauabschnitt des Viertels liegt auf der Grenze zwischen Neuaubing und dem geplanten Neubaugebiet Freiham. Inmitten der dort befindlichen Wohnblöcke steht das katholische Kirchengebäude St. Markus, also die zweite katholische Gemeinde im Münchner Westen, recht nah an St. Konrad. Ihr gegenüber befindet sich ein SOSFamilienzentrum und -Kinderdorf. Dieses Gebiet gilt als eines der ärmsten Münchens. Die zugehörige Grundschule hat man schon auf das Feld gebaut, auf dem das Neubau-

11. Planung

quartier entstehen soll. Der evangelische Pfarrer unterrichtet dort bereits das Schulfach Religion. Er muss mit dem Rad über den Acker hinfahren, denn eine Straße gibt es noch nicht. Auf die Frage hin, wie die Kinder denn da hinkämen, witzelt er: zu Fuß. So arm seien die Leute hier, wie er mit Verweis auf einen Lageplan ausführt: »Also, da hat man wiederum das Gefühl, da wurden die sozial schwächsten Gebiete förmlich rausgeschnitten (lacht auf) aus dem Schulsprengel, als der gegründet wurde. Aber die Hauptschule ist als beste Hauptschule Deutschlands ausgezeichnet worden, die machen sehr gute Arbeit […], aber ist an sich eben so – hm. Da muss man sehr engagiert sein als Lehrer, um da zu unterrichten.« (Jung, FH) Die katholische Gemeinde St. Markus besteht vor allem aus älteren Mitgliedern, deren Zahl in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen ist. Auch deshalb hat man seitens der katholischen Kirche beschlossen, in Freiham nicht neu zu bauen – es gibt eben bereits das wenig genutzte Gemeindehaus von St. Markus, genau an der Grenze zu Freiham, und gleich dahinter eine katholische Kindertagesstätte mit gutem Ruf.

b) Am Westkreuz Integraler Bestandteil von Neuaubing ist außerdem die Siedlung Am Westkreuz, ein ehemaliges Neubaugebiet, in dem viele Menschen aus Zeit des Erstbezugs noch immer leben und darum ebenfalls, wie in München-Perlach oder Hamburg-Mümmelmannsberg, gemeinsam gealtert sind. Das Viertel hat einen im Stadtvergleich hohen Anteil an Bewohnerinnen mit Migrationshintergrund. »Ich unterrichte an der Schule für den Bereich, also das sind eben so 75 Prozent mit Migrationshintergrund. Und alle Evangelischen an dieser Schule mit zweihundertfünfzig Kindern, da sind acht Kinder mit evangelischem Religionsunterricht, alle Klassen zusammen.« (Wechsler, FH) Neuaubing-Westkreuz gilt als Sanierungsgebiet, das bis 2016 im Programm »Aktive Stadt- und Ortsteilzentren« gefördert wurde. Zum Jahresbeginn 2017 erfolgte ein Wechsel in das Förderprogramm »Soziale Stadt«. Die Spannung, die zwischen dem älteren und einkommensschwachen Sanierungsgebiet und dem neugeplanten, tendenziell hochpreisigen Stadtquartier in Freiham angelegt ist, beobachtet der Sozialraumkoordinator des Gebietes mit Aufmerksamkeit und Sorge: »Ich bin erstmal nicht für Freiham zuständig. Der Grund, warum hier soziale Stadt ist, ist einfach schon das Neubaugebiet Freiham, um bestimmte Konflikte oder bestimmte Spannungen im Vorfeld mit aufzunehmen und zu fördern. Natürlich nicht die Konflikte, sondern die Lösungen. Damit der Stadtteil nicht zu sehr abfällt zum Neubaugebiet.« (Wechsler, FH) Hier deutet sich die Befürchtung einer Segregationsdynamik und Verschärfung sozialer Ungleichheiten an (siehe 5.3.1): Die benachbarten Gebiete fürchten, gegenüber dem geplanten hochpreisigen Neubaugebiet noch weiter an Prestige zu verlieren sowie in der Verteilung knapper Fördermittel schlechter abzuschneiden. Dem sollen bereits im Vorfeld, während der Planungsphase, entschärfende Maßnahmen der Stadtentwicklung entgegengesetzt werden.

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c) Aubing (alter Dorfkern) Die städtische Verwaltungseinheit, welche die hier einzelnen aufgeführten Viertel Freiham, Neuaubing und Am Westkreuz übergreift, heißt Aubing. Das ursprüngliche Zentrum ist ein alter Dorfkern nördlich Neuaubings. Das Dorf ist 1000 Jahre, die dazugehörige Kirche St. Quirin rund 800 Jahre alt. Während die dort lebenden Katholiken nicht zu St. Konrad und St. Markus, sondern zu einem anderen Pfarrverband zählen, übergreift das Gemeindegebiet des evangelischen Pfarrers neben Freiham und Neuaubing eben auch das alte Aubing. Auch hier ist in den letzten Jahren nachverdichtet worden. Die Bauern seien schon sehr reich, erzählt der evangelische Pfarrer. Wer seinen Acker vergolden konnte, habe dies getan, indem er ihn geteilt und verkauft habe. Leider gehörten nicht so viele Reiche zu seiner Gemeinde, sagt er mit einem Schmunzeln, dafür stehe das katholische St. Quirin aufgrund von Spenden finanziell gut da. (FFT FH) »Aubing verfügt über eine gewachsene Struktur, die man als alt-bäuerlich, dörflich, beschreiben könnte. Diese Struktur besteht nach wie vor, und wir merken das in der Vereinsstruktur, in der politischen Struktur und in der Art, wie das Gemeinwesen vor Ort funktioniert. […] Viel [läuft] auf persönlicher Ebene und viel auf alten Verbindungen. Man kennt sich.« (Wechsler, FH) Die Besonderheit dieser dörflichen Strukturen spiegelt sich auch auf dem alten Dorffriedhof wider, der zwischen Aubing und Neuaubing liegt. Nur Einwohner, die mindestens 20 Jahre in Aubing gelebt haben, dürfen hier beerdigt werden. Eine gebietsübergreifende Zusammenarbeit zwischen den Alteingesessenen und den ›Neuen‹ sei schwierig, berichtet der evangelische Pfarrer, und verweist auf das Beispiel der von ihm angeregten ökumenischen Kinderbibelwochen. Zwei solcher Wochen bietet er in seinem Gemeindegebiet an, einmal mit dem katholischen Pfarrverband in Neuaubing/Westkreuz und einmal mit dem in Aubing und Lochhausen. Zur ersten Woche kommen vierzig, zu zweiten um die hundert Kinder, obwohl es sich um ein deutlich kleineres, dünner besiedeltes Gebiet handelt. Die katholische Kirche sei eben noch sehr stark in der dörflichen Struktur Aubings verankert. (FFT FH) »Also, es ist mir schon, als ich hierherkam, aufgefallen, dass es noch so sehr stark dörflich strukturiert ist. Weil katholische Kirche, die Bauern, die CSU und die Vereine, die bilden also schon so ein Netzwerk. Und es gibt dann auch noch ein Siedlungsgebiet, das dem katholischen Siedlungswerk oder was gehörte, und wo praktisch nur Katholiken hingezogen sind. Es wird der Vatikan genannt im Volksmund. Das ist eine sehr stark katholisch-dörflich geprägte Ecke. Und da ist auch so dieses Selbstbewusstsein ›mir san mir‹ – immer schon da, seit tausend Jahren [lacht], und so weiter – vorhanden. Und Neuaubing, eben unsere Seite, ist dann einfach offener, vielfältiger und ein bisschen … ja.« (Jung, FH) Auch in der Kindergartenplatzvergabe spiegle sich diese Spannung wider: »Wer in Aubing ein richtiger Aubinger ist, dann ist das alles ganz klar. Und es ist zum Beispiel so, dass wer zum Beispiel in der katholischen Kirchengemeinde engagiert ist, aber ein Zugereister ist, niemals einen Platz kriegen würde, selbst wenn die Mutter arbeitet, sondern es bekommt dann zum Beispiel ’ne Hausfrau aus Aubing, die kriegt ’nen Platz dort, weil sie halt ’ne eingesessene Aubingerin ist.« (Burger, FH)

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Zusammenfassend lässt sich sagen: Das geplante neue Quartier wird in einem Gebiet errichtet, das durch eine komplexe stadträumliche Struktur gekennzeichnet ist. Das spiegelt sich im Alter und Prestige seiner unterschiedlichen Ortsteile, in der Sozialstruktur und Einkommensschichtung der Bewohner:innen, aber auch – auf kirchlich-administrativer Ebene – in unterschiedlich geschnittenen Zuständigkeitsbereichen der katholischen und evangelischen Kirche. Entsprechend vielfältig sind die Reaktionen, Phantasien und Projektionen, die das geplante Bauvorhaben bei den Beteiligten auslöst, wie sich in der weiteren Darstellung zeigen wird.

11.2.2 Baurechtliche Rahmenbedingungen Nicht von ungefähr liegt der Fokus des vorliegenden Kapitels auf der institutionalisierten Religion in Form der beiden großen christlichen Kirchen. Denn diese vor allen verfügen über die organisationalen Strukturen und finanziellen Mittel, als selbstständiger Akteur der Bauplanung in neuen Stadtquartieren in Erscheinung zu treten. Dabei ist zunächst von Bedeutung, dass die Planung des Gebiets eine städtebauliche Maßnahme der Stadt München ist, an die politisch-rechtliche2 Vorgaben geknüpft sind: »Generell gibt es ja verschiedene Bereiche im Städtebau. Im Baugesetzbuch. Und da gibt es einmal Neubaugebiete, so wie in Freiham, Stadtentwicklungsgebiete. Und es gibt Städtebaufördergebiete. Bei uns gibt es davon ziemlich viele. Das ist der gesetzliche Rahmen. Und finanziert wird das durch die EU, in diesem Fall gekoppelt durch Bund, Länder und kommunale Förderung. Das sind Städtebauförderprogramme, die dann umgesetzt werden. Es gibt jeweils verschiedene Schwerpunkte. Wir sind die ›Soziale Stadt‹, das ist ein Programm. Wir waren vorher ›Aktive Zentren‹, da geht es mehr um die Aktivierung von ehemaligen Förderbedürftigen. Einkaufszentren waren das oder Stadt- und Ortszentren.« (Wechsler, FH) Zu einem frühen Zeitpunkt der Planung einer städtebaulichen Maßnahme lädt das Planungsreferat der Stadt unterschiedliche Institutionen, darunter auch die Landeskirchen, zu einem Vorgespräch ein: »Die Landeshauptstadt München, wenn sie neue Flächen ausschreibt, da werden die beteiligten Institutionen zu Vorgesprächen eingeladen. Ob das große Institutionen, Wohlfahrtsverbände oder die Kirchen sind, die werden da eingeladen. Und wir wurden da schon vor vielen, vielen Jahren eingeladen, und da wurde uns von der Stadt erstmalig vorgestellt, wie man mit der Fläche Aubing, Freiham, mit dem Neubaugebiet umgehen möchte. Und dort wurde dann zum ersten Mal […], weil es ja noch anders als z.B. in Ostdeutschland ist, wenn sie jetzt in Leipzig wären, da ist das ja wahrscheinlich nicht so. Bei einer Neuausweisung einer größeren Fläche wird automatisch eine religiöse Fläche von der Landeshauptstadt München, oder hier in Bayern ist das so Usus, 2

An dieser Stelle wird gemäß der konzeptionellen Gesamtanlage der Studie keine theoretische Rekonstruktion des Baurechts geboten. Der Fokus liegt allein darauf, mit welchen baurechtlichen Fragen die interviewten Akteure beschäftigt sind und welches subjektive Rechtsverständnis dabei für sie leitend ist. Weder wird dieses Verständnis im vorliegenden Kontext bewertet, noch auf seine ›Richtigkeit‹ hin überprüft.

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vorgesehen. Interessant ist es noch, dass [diese Praxis] die beiden großen Kirchen betrifft und die anderen noch nicht so.« (Wied, M) Nach dem Zitat ist das Planungsreferat nicht nur gegenüber den Kirchen aus eigenem Antrieb aktiv geworden und hat zu einem Gespräch eingeladen, sondern es hat auch eine Fläche für die mögliche Bebauung mit einem kirchlichen Bau bereitgehalten. Dies sei in Bayern so üblich. Darin zeige sich auch eine Bevorzugung der »beiden großen Kirchen« gegenüber anderen religiösen Gemeinschaften, für die offenbar nicht dasselbe gilt. Eine ähnliche baurechtliche Situation findet sich auch in anderen Städten der vorliegenden Studie, etwa in Hamburg. Ein Blick ins Baugesetzbuch zeigt, dass bei der Aufstellung der Bauleitpläne die »von den Kirchen und Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts festgestellten Erfordernisse für Gottesdienst und Seelsorge« berücksichtigt werden sollen (§ 1 Abs. 6 BauGB). Als der »Allgemeinheit dienende[] bauliche[] Anlagen und Einrichtungen des Gemeinbedarfs« sind sie Schulen sowie sonstigen »sozialen, gesundheitlichen und kulturellen Zwecken dienenden Gebäuden« (§ 5 Abs. 2 Nr. 2a BauGB) gleichgestellt. In § 26 ist darüber hinaus festgehalten, dass die Stadt ihr Vorkaufsrecht auf ein Grundstück verliert, wenn es von der Kirche zu gottesdienstlichen Zwecken gekauft wird. Auch der Staatskirchenvertrag stützt nach Aussage eines Hamburger Propstes einen kirchlichen Anspruch auf Baugrund: »Es gibt ja einen Staatskirchenvertrag, und in dem ist es so, dass wenn die Stadt Grundstücke zu vergeben hat, beziehungsweise neue Stadtteile entstehen, die Kirche, laut Staatskirchenvertrag, ein gewisses Grundstücksrecht hat.« (Schuster, AL) Die Hamburger Senatsverwaltung sieht das allerdings nicht ganz so eindeutig. In einem Gruppeninterview mit Stadtplaner:innen und Architekt:innen innerhalb der Baubehörde wird folgende Meinung zum Thema geäußert: »Anrecht, finde ich, ist jetzt ein schwieriges Wort, weil wir uns in der Stadtplanung [befinden], das ist ja ein ganz komplexer Prozess aus politischen Auftragslagen, auch aus Raumbedarfen heraus.« (Schroeder, HH) Die Auffassungen über das geltende Baurecht – oder mindestens die verwendeten Semantiken – gehen also partiell auseinander. Noch einmal eine andere Frage ist, wer aus städtisch-behördlicher Sicht überhaupt als religiöser Akteur in den Blick kommt. Hier zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwischen den beiden großen, als Körperschaften öffentlichen Rechts verfassten Kirchen und den anderen, nach Vereinsrecht organisierten Religionsgemeinschaften. So räumt eine Stadtplanerin anlässlich eines Treffens in der Hamburger Senatskanzlei ein: »Also, ich hatte im Sommer ja diesen Termin in der Senatskanzlei, und da war eben die Situation so, dass die muslimischen und auch die jüdischen und auch andere Glaubensrichtungen da tatsächlich nicht mit drin waren. Da werden immer die christlichen Kirchen angeschrieben. Weil man ja irgendwann das Verhältnis zwischen Staat und christlichen Kirchen in Deutschland ganz stark geregelt [hat]. […] Und ich glaube einfach, dass es Schura und DİTİB, dass die eben diesen Status nicht haben. Das ist wahrscheinlich auch ein Problem, denn die Institutionalisierung anderer Glaubensgemein-

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schaften ist vielleicht nicht immer so vertraut auch im Verwaltungshandeln wie die christlichen Kirchen.« (Schroeder, HH) Aufgrund ihrer aus behördlicher Sicht schwerer greifbaren Organisationsstruktur werden die nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften also gar nicht erst als »Träger öffentlicher Belange« adressiert und aktiv in Planungsprozesse eingebunden. Allerdings gäbe es, führt die Interviewte weiter aus, ja auch andere Möglichkeiten, sich mit in Planungsprozesse einzubringen. Wenn die Bedarfe der Religionsgemeinschaft auch nicht im ersten Schritt zur Geltung kämen, so gäbe es doch immer noch ein späteres Beteiligungsverfahren, bei dem alle Bürger:innen aufgefordert sind, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren: »Na, im Grunde kann man sagen, wenn jetzt diese Institutionen Bedürfnisse haben, dann muss man sich natürlich auf eine andere Art einbringen. Dann müssen sie sich im Grunde in den offenen Bürgerbeteiligungsprozess mit einbringen. Also, es gibt dann ja im Rahmen vom B-Plan-Verfahren [Bebauungsplanverfahren] nochmal öffentliche Planungsdiskussionen. Das ist eine frühzeitige Bürgerbeteiligung, wo es eine große Versammlung gibt, auf der das Vorhaben vorgetragen wird. Und ich sage mal, wenn jetzt eben ein Verband mitbekommt, dass hier etwas entwickelt wird, dann wäre das zum Beispiel die Gelegenheit, aufzustehen in dem Raum und zu sagen: ›Übrigens, wir wollen einen Gebetsraum.‹ Wenn man dann nicht über einen Träger öffentlicher Belange dabei ist bisher, dann wäre das die Möglichkeit, sich über die Bürgerbeteiligung da einzubringen bzw. natürlich jederzeit Briefe zu schreiben.« (Schroeder, HH) Anzumerken ist allerdings, dass die Hürde für die nicht-christlichen religiösen Akteure, ihre baulichen Bedarfe im Rahmen einer öffentlichen Bürgerversammlung anzumelden, faktisch sehr hoch ist. Hier zeigt sich ein Widerspruch zwischen dem Planungsrecht mit seinen grundsätzlich offenen Beteiligungsstrukturen und den verfahrenstechnisch bedingten Benachteiligungen, mit denen die »Migrationsanderen« (Kalpaka und Mecheril 2010) in Deutschland regelmäßig konfrontiert sind (hierzu auch Terkessidis 2004). Dadurch, dass einzig die großen Landeskirchen verlässlich als »Träger öffentlicher Belange« angeschrieben werden, erhalten sie faktisch gegenüber anderen religiösen Akteuren einen zeitlichen und planerischen Vorsprung – der allerdings von den großen Kirchen gar nicht (mehr) zwingend genutzt wird, wie die Mitarbeiterin aus der Senatsbehörde für Stadtentwicklung weiter ausführt: »Bei den christlichen Kirchen erleben wir ja jetzt in den letzten zehn Jahren eher den Rückzug. Dass Objekte aufgegeben werden, dass Friedhofsflächen freigegeben werden. Da ist es ja eher so ein ganz anderer Trend, dass man eher damit konfrontiert ist, dass gesagt wird, wir ziehen uns zurück, wir konzentrieren uns [räumlich] an bestimmten Stellen. Durch das Inklusionsthema gibt es dann eher als neuere Formen so etwas wie Community Center, gefördertes Wohnen, Zusammenlebensprojekte jeglicher Couleur. Wir erleben ja eher nicht, außer jetzt für den zweiten Bauabschnitt, dass die Kirche auf uns zukommt und sagt: ›Jetzt muss ich aber noch ein Kirchenschiff dranbauen‹ – mal überzeichnet gesagt.« (Schroeder, HH)

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Trotz ihrer faktisch privilegierten Stellung machen die Kirchen also nicht zwingend von ihren Möglichkeiten Gebrauch, in neuen Stadtquartieren Baugrund zu erwerben. Wer bestimmt aber innerhalb einer Kirche, wie im konkreten Fall vorgegangen werden soll?

11.2.3 Kirchliche Bauplanung zwischen Ortsgemeinde und höheren Ebenen der kirchlichen Verwaltungshierarchie Die Entscheidung über die Art der kirchlichen Präsenz in Freiham wird nicht von den lokalen Kirchengemeinden, sondern auf höherer kirchlicher Verwaltungsebene getroffen. Katholischerseits hat man sich gegen den Bau eines eigenen kirchlichen Gebäudes im Neubaugebiet entschieden. Die tonangebende Instanz war dabei das Ordinariat: »Also, genau die Hintergründe weiß ich nicht, aber die Entscheidung ist schon 2013 gefallen, also vor fünf Jahren schon, als da eigentlich noch gar nichts gebaut wurde, weil einfach vermutlich auch klar war, die Pfarrei St. Markus, die ist jetzt überaltert, die ist nicht ausgelastet, da steht eine Kirche direkt neben dem Stadtrand. Und dann daneben nochmal eine zu bauen, klar, könnte man das machen, aber in Zukunft wird die auch eher leer stehen, und dann wäre es nochmal mehr Arbeit.« (Koppelaar, FH) Die Entscheidung war laut diesem Zitat also primär nicht die Entscheidung für eine bestimmte Strategie der kirchlichen Präsenz im Neubauquartier, sondern gegen einen weiteren Standort angesichts sich abzeichnender Überkapazitäten bei kirchlichen Gebäuden. Dass dabei nicht die Ortsgemeinde, sondern das Ordinariat der eigentliche Player ist, zeigt sich auch daran, dass die Vernetzungstreffen, bei denen die weitere kirchliche Strategie für Freiham geplant wird, hier angesiedelt sind. Aus Sicht des Pastoralreferenten ist das auch sinnvoll. Beispielsweise finde die Caritas, die in Freiham eine Zweigstelle errichten will, auf dieser Ebene die passenden Ansprechpartner:innen. »Da sind wir jetzt eben gerade auch dabei, auch mit dem Bischofsvikar, der eben für die ganze Region München zuständig ist, mal einfach uns auszutauschen, wer plant denn was, und wo kann man mal was zusammenarbeiten oder auch vernetzen.« (Koppelaar, FH) Dem Wegfall eines Baus, der eine Menge Ressourcen gebunden hätte, kann der interviewte Pastoralreferent dabei durchaus positive Seiten abgewinnen. Er leitet daraus für sich die Erlaubnis ab, mit neuen, alternativen Formen kirchlicher Präsenz in Freiham zu experimentieren – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass ein gewisses Maß an Unterstützung in Form von Personal- und Sachmitteln durch das Ordinariat gewährleistet wird. »Also klar, man kann sagen: ›Okay, wir machen jetzt gar nichts‹, das wäre auch eine Möglichkeit, aber dann verspielt man einfach etwas. Und jetzt hat man einfach mal die Möglichkeit, etwas Neues auszuprobieren. Klar braucht man da auch ein bisschen die Rückendeckung von den Oberen und von den anderen, aber es ist mein Eindruck, das hat man auf jeden Fall. Und ich glaube, das kommt jetzt auch in die Köpfe vieler auf der höheren Ebene, dass man eben Sachen ausprobieren muss, und es nicht mehr so machen kann wie früher auch.« (Koppelaar, FH)

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Ähnlich stellt sich die Sachlage auch in der evangelischen Kirche dar. Auch hier wurde beschlossen, kein eigenes Gebäude im Neubauquartier zu bauen. Tonangebend war hier die mittlere Ebene, das Dekanat. Dabei basierte die Entscheidung auf einer strategischen Vergleichsabwägung. Anstatt neu zu bauen, sei es klüger, in das dringend sanierungsbedürftige Gemeindehaus der Neuaubinger Gemeinde zu investieren: »Wir haben dann in dem ganzen Prozess zum ersten Mal im Dekanatsbezirk München entschlossen, in einem großen Neubaugebiet das Angebot der Landeshauptstadt nicht aktiv anzunehmen und dort ein Kirchenzentrum zu bauen. […] Und wir haben zum ersten Mal uns überlegt, zum Thema Konzentration, dass wir die Kirchengemeinde in Aubing ertüchtigen, das Gemeindehaus, weil das auch schon ein älteres war, ausbauen und umbauen und verzichten, in Freiham selber ein Gemeindehaus hinzustellen. Das war die erste Idee, um zu sagen, wir konzentrieren die Mittel und stärken die Gemeinde vor Ort, die dann eine Ausstrahlung da nach Freiham dann haben muss.« (Wied, M) Die Entscheidung des Dekanats lautete also, eine Aufwertung des vorhandenen Gebäudebestandes vorzunehmen, anstatt ein neues Gebäude in Freiham zu errichten. Diese Entscheidung sei bereits vor seinem Dienstantritt vom Dekanat gefällt worden, so berichtet der evangelische Pfarrer: Die Gemeinde sei zu stärken. Das Dekanat habe das so entschieden und eine weitere finanzielle Förderung von dieser Linie abhängig gemacht. Das sei auch entsprechend protokollarisch notiert: dass es keinen neuen Gemeindestandort geben solle, dass der »Schlüssel zur Förderung durch die Landeskirche« die Stärkung der Gemeinde sei, dass es außerdem einen Architekturwettbewerb zur Sanierung des Gemeindehauses in Neuaubing geben solle. »Und natürlich, über die vielen Jahre war der Investitionsstau in der Adventskirche auch schon größer. Und wir haben die Adventskirche teilweise nach vorne genommen, auch wenn es die Adventskirche gar nicht so sehen wird, weil wir gesagt haben: Wenn wir jetzt gemeinsam euer Gemeindehaus attraktiver machen, renovieren, und wir dann gleichzeitig verzichten, drüben in Freiham extra zu bauen, dann können wir als eines der Projekte euch vorziehen und das gut angehen, weil dann die Landeskirche sich Investitionskosten für Freiham spart und wir diese Gelder in die Gemeinde, ins Gemeindehaus stecken können. Aber mit der Auflage, dass natürlich die Gemeinde nicht nur für ihr bisheriges Gemeindegebiet, sondern explizit den Auftrag hat, für Freiham tätig zu sein.« (Wied, M) Im weiteren Prozess zeigt sich allerdings, dass die Sanierung des Gemeindehauses den durch das Dekanat veranschlagten Kostenrahmen weit übersteigt. Die Folgen sind Spannungen zwischen der Ortsgemeinde und dem Dekanat, was die Aufteilung des erhöhten finanziellen Aufkommens betrifft. Über die Frage, wie diese Spannungen zwischen den unterschiedlichen Ebenen der kirchlichen Amtshierarchie auszuhandeln sind, kommt es in der Folge auch zu Konflikten innerhalb der Gemeinde. Der Gemeindehausausbau wird über Jahre zu einem beherrschenden Thema des Kirchengemeinderates und bindet die Kräfte. Das wird auch von außen so gesehen. So erzählt der Sozialraumkoordinator für das Sanierungsgebiet Neuaubing-Westkreuz, dass der evangelische Pfarrer auf den städti-

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schen Netzwerktreffen im Grunde nicht präsent sei. Das könne er auch gar nicht, so der Sozialraumkoordinator. Den Gemeindehausneubau in Neuaubing sieht er daher als Beispiel »für die Überlastung von fachfremden Themen, was sie Seelsorge schädigt. Es ist nicht die Aufgabe eines Pfarrers, eine Kirche zu bauen. Jetzt muss er das aber machen. […] Allein für den kleinen Teil, den wir ja mitbetreuen, das ist ein solcher Wahnsinn! Für jemanden, dessen Kernbereich das nicht ist, ist es eigentlich nicht zu bewältigen. Er ist ja nicht nur fachfremd. Und selbst, wenn er sich gut eingearbeitet hat, so kostet das dennoch Zeit. Und das ist nicht seine Aufgabe, wie ich finde.« (Wechsler, FH) Die Überforderung der Ortsgemeinden, was Bau, Instandhaltung und Sanierung von Gebäuden angeht, ist ein Thema, das in vielen Städten der vorliegenden Studie eine Rolle spielt. Die Beratung und Unterstützung in Baufragen wird damit zu einer Schlüsselaufgabe der der mittleren Ebene. So hat dann auch das Münchner Dekanat ein Programm aufgelegt, das den Gemeinden mittelfristig dabei helfen soll, ihre Raumkapazitäten den tatsächlichen Bedarfen anzupassen.3 »Wir haben eine Immobilienstelle, der eine Beratung in jedem Prodekanat und auf Anfrage in jeder Gemeinde durchführt, um zu entdecken, wie steht die Gemeinde, wie steht sie mit den Gebäuden, wie steht sie mit dem Gemeindeleben, und wo sind Potenziale, die man ausnutzen könnte.« (Wied, M) Allerdings sind die Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten der mittleren Ebene gegenüber der Ortsgemeinde begrenzt. Man könne Unterstützung anbieten und einen finanziellen und personellen Rahmen schaffen; die letztliche Entscheidung über die Gebäude und ihre Nutzung läge bei den Ortsgemeinden, führt der Ansprechpartner für Baufragen aus dem Dekanat aus. »Das ist unsere Verfasstheit, wir sind synodale Kirche. Wenn wir jetzt katholische Kirche wären, würden wir das zentral alles durchsetzen. Wir bieten immer nur den Rahmen, bieten dann vielleicht Stellen noch dazu, die beraten und dann gemeinsam sich mit einer Kirchengemeinde aufmachen müssen, um das anzugehen und umzusetzen.« (Wied, M) Hier zeigt sich eine Strukturparadoxie in der Verfasstheit vieler evangelischer Landeskirchen: Während die baulichen Problemlasten zunehmend die Ortsgemeinden überfordern und damit zur Aufgabe der nächsthöheren Verwaltungseinheit werden, fehlt es dieser aufgrund der synodalen bottom-up-Struktur an konkreter Gestaltungshoheit. Ob der daraus resultierende erhöhte Kommunikations- und Koordinationsaufwand produktiv oder dysfunktional ist, dürfte je nach Situation und Perspektive sehr unterschiedlich zu bewerten sein.

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Ein ähnliches Modell zur Ermittlung und Anpassung des Raumbedarfs hat auch die mittlere Ebene der Nordkirche in Hamburg entwickelt, siehe 4.2.2.

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11.2.4 Zwischenfazit: Planung im Spannungsfeld von Bestimmtheit und Unbestimmtheit Die Planung des neuen Quartiers in Freiham eröffnet ein Szenario, zu dem sich die ortsansässigen religiösen Akteure und Institutionen verhalten müssen. Dabei handeln sie in einem in vielerlei Hinsicht offenen und unbestimmten Horizont: Zuständigkeiten zwischen verschiedenen Ebenen kirchlicher Entscheidungsträger müssen geklärt, bauplanerische Maßnahmen erwogen, Modi der Einbindung und Beteiligung in bereits laufende städtische Planungsvorgänge abgestimmt werden. Die meisten dieser Fragen klären sich erst im Prozess – der umgekehrt auch neue Fragen aufwirft: Wie soll der Umbau des Gemeindehauses finanziert werden, der sich teurer als geplant herausstellt? Offen sind aber auch Fragen, die sich weniger auf die technische Seite der Bauplanung, als vielmehr auf die zukünftige Bewohnerschaft und die Struktur des Sozialraums beziehen: Wie können befürchtete Segregationsdynamiken entschärft werden? Wie kann vermieden werden, dass das neue Quartier eine bloße Schlafstadt wird, die von ihrer näheren städtischen Umgebung und deren religiöser Topographie weitegehend abgekoppelt ist? Als (relativ) offen erscheinen diese Fragen allerdings bereits im Rahmen eines durch zahlreiche Determinanten bestimmten Möglichkeitsraums. Die Lage der religiösen Akteure lässt sich mit derjenigen von Spielfiguren auf einem virtuellen Spielfeld vergleichen, das je nach eingenommener Position unterschiedliche Spielzüge zugleich ermöglicht und verhindert. Zu solchen konstitutiv-limitativen Faktoren gehören städtebauliche und baurechtliche Vorgaben, vorhandene oder auch nicht vorhandene lokale Kooperationspartner, finanzielle und personelle Ressourcen, kreative Potentiale einzelner Mitarbeiterinnen, nicht zuletzt: Zufälle und der ›Kairos‹ der Stunde. All diese Faktoren bestimmen Selbstpositionierung und Aktionsradius der handelnden Akteure. Wie religiöse Akteure, Gemeinschaften und Organisationen auf die Planung eines neuen Stadtquartiers reagieren, hängt daher maßgeblich davon ab, wie sie die Situation aufgrund unterschiedlicher rechtlicher, administrativer und personeller Voraussetzungen für sich konstruieren, welches virtuelle Spielfeld sie dabei entwerfen und wie sie sich selbst auf diesem Feld als Player begreifen und bewegen. Dies gilt es im Folgenden noch weiter zu entfalten.

11.3 Religion als Faktor und Subjekt von Planung Mit der Planung neuer Stadtquartiere sind Verfahren der Beteiligung verbunden, in denen es um die Anhörung Betroffener, die Ermittlung örtlicher Bedarfe und generell die Herstellung von Akzeptanz für die geplante Baumaßnahme geht. Auch religiöse Akteure sind in diese Verfahren als ›Bedarfsträger‹ involviert, allerdings, wie sich zeigt, auf sehr unterschiedliche Art und Weise (11.3.1) Wie sie von ihren Beteiligungsmöglichkeiten im einzelnen Gebrauch machen, steht dabei im größeren Zusammenhang mit der strategischen Haltung, die sie gegenüber der geplanten Baumaßnahme einnehmen, und die vom Abwarten über das Sammeln von (Widerstands-)Kräften bis hin zu Versuchen reicht, aktiv auf das (Bau-)Geschehen Einfluss zu nehmen (11.3.2). Als im Hintergrund

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leitend lassen sich unterschiedliche Bilder und Projektionen identifizieren, in denen das Neue emotional antizipiert und evaluativ qualifiziert wird (11.3.3).

11.3.1 Modi von Beteiligung Die Planung eines neuen Stadtquartieres folgt behördlicherseits einer pragmatischen Logik: Planen heißt hier in erster Linie, Probleme zu lösen – angefangen beim Ausgangsproblem zu knappen innerstädtischen Wohnraums bis hin zur Ermittlung benötigter PKW-Stellplatzflächen. Dabei wurden die in den 1970er Jahren eingeführten »›vorbereitenden Untersuchungen‹ und die ›Erörterung mit den Betroffenen‹ […] zum Auftakt einer Fülle sozialwissenschaftlicher Bestands- und Entwicklungsanalysen« (Harth 2012: 353). Neben Untersuchungen zur infrastrukturellen Lage und Verkehrsanbindung des Quartiers, zur Energieversorgung und Beschaffenheit des Baugrundes sind im Rahmen der »Erörterung mit den Betroffenen« Maßnahmen der Bürgerbeteiligung vorgesehen, um lokale Bedarfe zu ermitteln und zugleich eine möglichst breite Akzeptanz des geplanten Bauvorhabens sicher zu stellen. Entsprechend suchen die staatlichen Baubehörden bereits früh Kontakt mit der lokalen Bevölkerung. Im folgenden Beispiel ist die Arbeitsgruppe der Berliner Senatsverwaltung mit dem Fahrrad nach Blankenburg angereist, um sich einen Überblick über die Lage vor Ort zu verschaffen. Die Aktion wird von der örtlichen Wohnbevölkerung positiv aufgenommen: »Das fanden wir cool und gut. Das war auch schön. Und die haben auch eine Menge verstanden, glaube ich. Danach haben wir dann gesagt, dass wir regelmäßige Treffen brauchen. Dieses Treffen hieß dann ›Forum Blankenburger Süden‹. Und auf diesem Forum kamen dann immer die Vertreter der Senatsverwaltung und alle Interessierten wie z.B. Bürgerinitiativen und Vereine aus Malchow, Heinersdorf und Blankenburg, sowie der Verein der Grundstücksnutzer und Eigentümer. Wir haben dann gemeinsam darüber nachgedacht, wie eine solche Bürgerbeteiligung organisiert werden kann.« (Friedmann, BB) Das Interesse der Senatsverwaltung, durch ein Anhörungs- bzw. Beteiligungsverfahren Akzeptanz für das Bauvorhaben zu schaffen, konfligiert allerdings mit den Eigeninteressen der Bürgerschaft, die viel weitergehende Mitsprachrechte als von dieser vorgesehen einfordert (siehe 10.2.3). Doch nicht nur die inhaltliche Reichweite von Beteiligung erweist sich bei der Planung neuer Stadtquartiere als strittig. Auch die Frage, wer überhaupt als potenzieller Adressat von Beteiligung in den Blick gerät, ist in Bezug auf die interviewten religiösen Akteure sehr unterschiedlich zu beantworten. Hier zeigt sich, wie oben ausgeführt (11.2.2), eine faktische Bevorzugung der institutionell verfassten Landeskirchen gegenüber anderen Religionsgemeinschaften: Während die christlichen Landeskirchen die ersten Ansprechpartnerinnen sind, wenn es um die Anmeldung religiöser Bedarfe für das neue Quartier geht, müssen andere Religionsgemeinschaften dafür kämpfen, überhaupt als eigenständige religiöse Bedarfsträger wahrgenommen und anerkannt zu werden. Dazu kommt, dass ihre Bedarfe auch inhaltlich anders als diejenigen der Kirchen gelagert sein und darüber hinaus quer zur Logik der Quartiersplanung liegen können:

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»Wir sind bei den Beteiligungsverfahren nicht aufgestanden, denn das hängt für uns von der dort wohnenden Bevölkerung ab. Die geschichtliche Entwicklung zeigt, dass die eher geringverdienenden Muslime in bestimmten Stadtteilen gewohnt haben. In neuen Stadtteilen macht es keinen Sinn, auf Moscheeflächen zu pochen, weil man ja eh nicht weiß, wer da wohnt, wir bauen die ja nicht aus Jux und Dollerei. Aber vor allem brauchen wir Moscheen für den Stadtteil, Lurup zum Beispiel, wegen der stadträumlichen Orientierung, als Vor-Ort-Moschee. Aber man braucht Flächen, die dafür vorgesehen sind, falls es Bedarfe gibt. Aber wie man das umsetzen kann: schwierig. Was wir gehört haben: Kirchen sind darauf bedacht, Standorte zusammenzulegen und andere aufzugeben. Wir agieren eher umgekehrt: Wir setzen auf Dezentralisierung. Die Umsetzung liegt aber nicht bei uns, das ist eine städtische Aufgabe. Das wissen die Gesprächspartner, dass wir Flächen brauchen. Es klappt halt mit der Umsetzung nicht.« (Hazneci, AL). Ein städtisches Beteiligungsverfahren, das aus Sicht des Moschee-Vereins sinnvoll wäre, müsste folglich zunächst einmal dessen Interesse nach mehr dezentraler Fläche im Stadtraum wahrnehmen. Schon das Format eines nur auf ein einzelnes Neubaugebiet fokussierten Beteiligungsprozesses stellt sich demgegenüber als wenig zielführend dar. Planungs- und Beteiligungsprozesse müssen allerdings auch nicht notwendigerweise von behördlicher Seite aus initiiert werden. Wie einleitend festgestellt wurde, gehört die Frage nach dem Subjekt der Stadtplanung – wer ist es hier eigentlich genau, der plant? – vielmehr zu dem unter dieser Chiffre zusammengefassten Problemfeld. Entsprechend formieren sich auch nicht-behördlich eingesetzte, zivilgesellschaftliche und religiöse Akteure als Planungssubjekte, wie im folgenden Zitat ein evangelischer Pfarrer: »Ich habe zwei Pläne. Zunächst möchte ich den Vertrag mit der Senatsverwaltung auf den Weg bringen. […] Ich möchte die Diakonie gewinnen, richtig. Oder diakonische Träger gewinnen, die da mitmachen. Das ist der langfristige Plan. Kurzfristig möchte in eine Kita bauen und ein Stadtteilzentrum. Hier in Blankenburg. So dicht wie möglich am Ortskern.« (Friedmann, BB) Zum Erreichen dieser Ziele setzt der Pfarrer auf Beteiligungsprozesse, die nicht ›von oben‹ eingesetzt werden, sondern bottom up, aus der Mitte der örtlichen Bürgerschaft heraus entstehen: »Das machen wir momentan sehr intensiv, weil ich ja viel mit dem runden Tisch gemeinsam mache. Da haben wir so ein Team, das ist das Redaktionsteam Runder Tisch, und da ist jemand von der Feuerwehr dabei, jemand von der Albrecht-Schweitzer-Stiftung, da sind Leute aus dem Dorf dabei usw. Und aus diesem Runden Tisch heraus organisieren wir auch vieles.« (Friedmann, BB) Hinter dem Schlagwort der Beteiligung verbergen sich mithin eine Reihe von Fragen: Wer tritt als Subjekt von Stadtplanung und Initiator von Beteiligungsprozessen in Erscheinung? Welcher Verfahrenslogik unterliegen Beteiligungsverfahren? Welche potenziellen Interessengruppen werden von ihnen adressiert – und welche Gruppen vergessen bzw. übersehen? Wie weit reicht die in Aussicht gestellte Beteiligung inhaltlich? Entspre-

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chend vielfältig zeigen sich auch die Möglichkeiten und Positionen, in denen religiöse Akteure in Planungs- und Beteiligungsprozessen in Erscheinung treten können.

11.3.2 Haltungen gegenüber dem Kommenden In welcher Form religiöse Akteure von ihren Beteiligungsmöglichkeiten Gebrauch machen, hängt (auch) davon ab, welche strategische Haltung sie gegenüber geplanten Bauvorhaben aufs Ganze gesehen einnehmen. Im Folgenden werden – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – drei mögliche solcher Haltungen beschrieben: eine Haltung des (Ab-)Wartens (a), des Sich-Rüstens (b) sowie des Einflussnehmens (c).4

a) Warten Eine abwartende Einstellung gegenüber dem geplanten Neubaugebiet kommt im folgenden Zitat eines hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiters zum Ausdruck: »Noch ist das eben noch kein so Riesenthema, weil eben auch noch keine Leute dort wohnen, aber was ich auf jeden Fall schon mach, ist auch schon mal einfach Netzwerkarbeit, auch mal mit der evangelischen Kirche hier mal sich zu treffen, mal zu überlegen, was macht ihr, was machen wir.« (Koppelaar, FH) Die Überlegungen des Mitarbeiters in Bezug auf das Neubaugebiet bleiben eher im Ungefähren: Noch wohnen eben auch keine Leute dort, das Neubauprojekt ist noch abstrakt. Die angedeutete Netzwerkarbeit beinhaltet erste tastende Versuche, »mal zu überlegen«. In dieser Situation – gleichsam während des Wartens auf einen Koloss, der noch nicht auf den Plan getreten ist – erscheint es als ein Akt der Selbstbehauptung der eigenen Handlungssouveränität, wenn sich die betroffenen Akteure auf bewältigbare Aufgaben und Projekte im Nahbereich konzentrieren: »Ich denke auch, wenn wir uns jetzt auf diesen Bau [des im alten Quartier vorhandenen Gemeindehauses] fokussieren, Freiham noch nicht durchgeplant haben, ich denke, dass man so ’ne Prioritätenliste machen muss. Und es würde jetzt noch gar nichts bringen, mit Freiham komplett fertig zu sein, Konzept wie wir es machen wollen.« (Burger, FH) Die Unbestimmtheit der Situation wird in eine strategische Überlegung eingekleidet: Weil sich die durch die Baumaßnahme zu erwartenden Effekte sowieso nicht in summa antizipieren lassen, erscheint es zum derzeitigen Zeitpunkt auch nicht sinnvoll, weitergehende Konzepte zu entwickeln. Stattdessen wird der Fokus pragmatisch neu ausgerichtet – auf den Ausbau des bereits vorhandenen Gemeindehauses. Eine Strategie im Umgang mit dem Unbekannten heißt folglich: Warten. Dass solches Warten mehr ist als ein bloß passives Verharren, wird nicht nur daran deutlich, dass es mit einer konstruktiven Fokusverschiebung einhergehen kann, sondern dass der so

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Weitere Strategien sind in anderen Kapiteln ausgeführt. Auch die Einrichtung von Stellen für Sonderbeauftragte, die sich besonders um die Entwicklung von Präsenzformaten in neuen Stadtquartieren kümmern sollen, kann dazu gerechnet werden (siehe 9.3.2).

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entstehende Warte-Raum auch selbst kreativ genutzt werden kann, wie das folgende Zitat verdeutlicht: »Letztlich eine Idee, die mir vorschwebt, die wurde in Bamberg mal ausprobiert, das ist auch ökumenisch gelaufen, als sie eben eine Kirche renoviert haben, und dann mussten sie eh die Bänke, auch Kirchenbänke rausnehmen. Und dann haben sie eine genommen und anscheinend in diese Schillerwiese, die dort irgendwie in Bamberg in der Mitte ist, eben wirklich in diesen Park gestellt und gesagt: Jeden Tag hockt davon, ich weiß nicht, welche Uhrzeiten, aber eine Stunde am Tag oder zwei Stunden am Tag, ein Seelsorger da und wartet einfach und schaut, ob Leute kommen oder nicht.« (Koppelaar, FH) Hier wird das Warten selbst als eine mögliche Grundhaltung des Kirche-Seins reflektiert, wie auch in folgendem, demselben Interviewkontext entnommenen Zitat, zum Ausdruck kommt: »Weil man anders herausgefordert ist, jetzt nicht erstmal in der Rolle: Oh, ich biete was an und mach was Tolles, sondern: Ich warte, was passiert.« (Koppelaar, FH) Die Kirchbank auf der grünen Wiese wird so zu einem Sinnbild für eine abwartende Präsenzhaltung: »Wir sind ansprechbar, und das niederschwellig. Ich muss jetzt nicht erst in ein Pfarrhaus oder eine Kirche rüberkommen, sondern der kommt da hin, wo ich eigentlich schon lebe. Oder auch vorbeigehe.« (Koppelaar, FH) Auffällig ist, wie hier eine (mögliche) defizitäre Sicht auf die Situation abgewehrt und durch eine alternative Perspektive ersetzt wird: Das (Noch-)Kein-Konzept-Haben, das Nichtvorhandensein eines Kirchenbaus (oder Pfarrhauses), kurz: das Undeterminierte der Situation wird nicht als etwas Negatives, sondern als eine im Grunde der Offenheit der Situation angemessene Haltung des neugierigen und zugewandten Abwartens beschrieben. Insgesamt reicht das mögliche Spektrum der Haltungen des Abwartens mithin von der Abblendung des unbestimmt Neuen in der Fokussierung auf das bereits Vorhandene bis hin zur gesteigerten Präsenz gegenüber dem Unbestimmten der Situation.

b) Sich rüsten Mit der bereits angeklungenen Fokus-Verschiebung – weg von dem kaum antizipierbaren Großbauprojekt hin auf bewältigbare Projekte im Nahraum – kann noch eine weitere strategische Überlegung einhergehen: dass man sich vor dem Unbekannten bzw. für das Kommende ›rüsten‹ will. So betont der Pfarrer einer evangelischen Gemeinde, dass sein Fokus nicht primär auf den Neuhinzuziehenden liege, sondern auf den 3800 Seelen, die nominell seiner Gemeinde zugehören, von denen sich allerdings nur 200 aktiv am Gemeindeleben beteiligen würden (FFT FH). Dies sei allerdings nicht als Ausschluss der ›Neuen‹ gemeint, im Gegenteil. Vielmehr sei eine solche innere Zurüstung die Voraussetzung für allen weiteren Gemeindeaufbau. Sinnbildlich wird eine solche Strategie des Sich-Rüstens in der oben dargelegten Grundentscheidung der evangelischen Gemeinde bzw. des Dekanats, keinen kirchlichen Neubau in Freiham zu errichten, sondern in die Sanierung des vorhandenen Gemein-

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dehauses zu investieren (11.2.3). Den vorhandenen Standort stärken – einschließlich der sozialräumlichen Netzwerke, in die hinein er geknüpft ist –, anstatt eine zunächst einmal isolierte Dependance zu öffnen, so lautet das Kalkül. Der Blick auf die Neuhinzuziehenden ist so durch eine klare räumliche Alterisierung bestimmt: Wir sind (und bleiben) hier und laden die Neuen (von ›dort‹) zu uns ein: »Was wir ja machen ist, dass wir versuchen [die] Neuzugezogen zu besuchen, und ihnen so ne kleine Mappe, oder so einen Umschlag ist das, [geben]. Da ist dann so ein Flyer drin, in dem wir sie begrüßen [und informieren] über: wer die Hauptamtlichen sind, was es so gibt bei uns.« (Burger, FH) Die Stärkung nach innen soll also nicht zuletzt eine Öffnung nach außen zur Folge haben. Man fühlt sich ein wenig an den Slogan der Stadt München: »München liebt dich« erinnert: Eine gefestigte Identität soll es ermöglichen, die Arme weit auszubreiten. So ähnlich klingt es auch in folgender Interviewpassage an: »Gebaut wird jetzt. Die Schulen sind jetzt gebaut. Ich denke mir, dass jetzt im Laufe dieses Jahres, spätestens nächstes Jahr dann angefangen wird, die Häuser zu bauen. Und dann denke ich mir, im Laufe nächsten Jahres oder übernächsten Jahres, dass dann die Leute dort wohnen. […] Aber man kann ja schon mal vorher dort Präsenz zeigen. Man kann auch die aus dem alten Stadtgebiet mal mitnehmen: Schaut mal, hier passiert was. Und dann einfach schon mal dieses Bewusstsein machen, dass nicht eine Bedrohung niederkommt, sondern: gut, mit denen müssen wir jetzt zwar auskommen, aber man kann auch gut mit denen auskommen. Und letztendlich auch schon vorher da was zu machen und zu sagen: Ja, wir sind aber schon hier. Ihr kommt, wir sind bereit für euch.« (Koppelaar, FH) Auffällig ist zunächst die Wahrnehmung einer potenziellen »Bedrohung«, die das Neubaugebiet für die Alteingesessenen bedeutet. Die Haltung den Neuen gegenüber klingt zunächst auch wenig warm, sondern eher nüchtern und pragmatisch: »mit denen müssen wir jetzt auskommen«. Aber dabei bleibt es nicht: Im selben Atemzug verheißt der kirchliche Mitarbeiter: »aber man kann auch gut mit denen auskommen«. Der Unterschied von »uns« und »denen«, von »hier« und »dort« ist dabei durchgängig vorausgesetzt: »Ja, wir sind aber schon hier«. Aber diese Selbstpositionierung ist am Ende der Passage keine verängstigte mehr, welche die Neuen als Bedrohung empfindet, sondern eine einladende, fast schon ein wenig paternalistisch wirkende: »wir sind bereit für euch«. Gleichwohl bleibt eine Unsicherheit, so dass das Pendel auch wieder zurückschlagen kann: »Kümmern sich diese Neuen um die Kirche oder nicht? Bringen sie sich ein oder nicht? Was bedeutet das für die Struktur? […] Ziehen sie sich zurück in ihr Häuschen? […] Wir sind immer offen. Das ist unsere Grundhaltung. Aber wir verstehen natürlich auch, dass es andere Themen gibt, die erstmal dringender sind.« (Wechsler, FH) Neben der strategischen Überlegung, die vorhandenen baulichen und finanziellen Mittel auf einen Standort zu konzentrieren, ist die Entscheidung aber auch durch den landeskirchlichen Stellenplan bedingt. Viele neue Formen kirchlicher Präsenz ließen sich denken, aber:

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»Welche Stelle kann das noch zusätzlich leisten, wer macht dort die Entwicklungsarbeit? […] Es gibt viele kreative Ideen, was man noch machen könnte.« (Wied, M) Aber die personellen Ressourcen sind begrenzt. Auch vor diesem Hintergrund kann es als Gebot der Stunde erscheinen, die vorhandenen Kräfte zu bündeln und lieber in die Vitalisierung vorhandener Strukturen zu investieren als in den Aufbau neuer.

c) Einfluss nehmen Die lokalen Akteure warten nicht nur, was auf sie zukommt, sie ›rüsten‹ sich auch nicht nur vor dem Unbekannten, sondern sie versuchen darüber hinaus, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv auf das Kommende Einfluss zu nehmen. An erster Stelle steht hier die Knüpfung bzw. Aktivierung von Netzwerken, die sich engmaschig über den neu entstehenden Sozialraum ausdehnen sollen: »Also, was der ursprüngliche Plan war…, was mein Gedanke, mit der Caritas zusammen was zu machen, weiß nicht, Café oder Stadtteilladen oder so aufzumachen… Die haben ja auch Schuldnerberatung, Migrationsberatung, Behindertenberatung, diese Sachen, und wir eben von seelsorgerlicher Seite dort präsent sein können.« (Koppelaar, FH) Auch wenn sich dieser Plan des katholischen Geistlichen im konkreten Fall aus finanziellen Gründen nicht realisieren ließ, kommt in ihm doch eine Haltung gegenüber dem Unbekannten zum Ausdruck, die auch in anderen Vierteln der vorliegenden Studie angetroffen wurde: eine explorative Haltung des Ausprobierens und Sich-Einbringens, wobei die Suche nach lokalen Verbündeten an erster Stelle steht (siehe etwa 4.2.3). Zu den möglichen Plänen, sich aktiv in den neu entstehenden Sozialraum einzubringen, gehört auch die Überlegung, zu gegebener Zeit Gebäude anzumieten: »Weil Bedarfe ja erst dann sichtbar werden, wenn die Bewohner auch da sind. […] Sie [die Kirchen] könnten sich Geschäftsräume anmieten, die als Ladenzentren geplant waren, aber hinterher nicht funktionieren. […] Es kann sich also etwas entwickeln, was momentan noch nicht sichtbar ist.« (Wechsler, FH) Die Situation der Kirchen unterscheide sich in diesem Punkt im Übrigen nicht von derjenigen anderer Kulturträger, die ebenfalls mit provisorischen Zwischenlösungen arbeiten: »Das macht die Kultur ja auch nicht anders. Die Kultur war auch oft nicht in den Planungen vorgesehen und hat sich dann ihren Raum gesucht. Das waren dann Zwischennutzungen, in Baracken, verlassene Werkstätten. Und das ist ganz unabhängig davon, ob sich die Kirchen im Moment Grundstücke sichern oder nicht. Es wird funktionieren, wenn der Bedarf da ist. Es wird immer Verschiebungen geben. Es wird immer jemand verkaufen, weil es eine Lage geben wird, die nicht funktioniert und dadurch bleibt die Sache in Bewegung.« (Wechsler, FH) Die Möglichkeiten, im neu entstehenden Stadtgebiet Raum zu greifen, hängt nicht nur von Verbündeten und Netzwerkpartnern, sondern auch vom Abpassen des richtigen Zeitpunktes ab. Bis dahin sind kreative Zwischenlösungen gefragt – und die Kunst, sich mit dem Provisorischen zu arrangieren.

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11.3.3 Imaginationen und Projektionen Das bislang noch nicht existente, aber in Form von Erzählungen, Skizzen und Modellen in Aussicht gestellte Viertel setzt eine Fülle von Prozessen, Aktivitäten und Projektionen in Gang, die wesentlich zur Entstehungsgeschichte eines neuen Stadtquartiers beitragen. Um einen vielleicht etwas pathetischen Vergleich zu wählen: Auch das Leben eines Menschen beginnt weit vor seiner Geburt (Leonhardt 2019: 358). In den Wünschen und Erwartungen der Eltern, der Einrichtung des Kinderzimmers, dem Ausmalen der ersten Zeit in neuer Familienkonstellation wird das gemeinsame Leben mental vorweggenommen und praktisch vorgeformt. Auch, wenn es dann ganz anders kommt, als ursprünglich geplant, ist das, was wird, präfiguriert durch zahlreiche Wünsche, Erwartungen, Befürchtungen, Sorgen und Phantasien. Diese Situation lässt sich bis zu einem gewissen Grad auf die Planung neuer Stadtquartiere übertragen – im Übrigen unabhängig davon, ob es sich, um im Bild zu bleiben, um ein Wunschkind handelt oder nicht. Je früher das Planungsstadium eines Gebietes ist, das städtebaulich neu erschlossen werden soll, desto offener ist auch der Raum für solche Phantasien und Projektionen. Das geplante Stadtentwicklungsprojekt wird als Herausforderung, aber auch als mögliche Chance der Gemeindeentwicklung und als bestandsschutzerhaltende Maßnahme antizipiert, wie in folgendem Zitat deutlich wird: »Die Blankenburger Gemeinde wird – wenn das Stadtquartier in dem Umfang kommt – sich verdreifachen, das heißt rein demographisch gesehen. Das ist einerseits eine sehr große Herausforderung für uns als Gemeinde, diese neuen Mitglieder überhaupt zu verkraften. Aber ist natürlich auch eine große Chance. Denn es ist vollkommen klar, dass eine gewisse Gemeindegliederzahl auch eine ganze Pfarrstelle rechtfertigen würde.« (Friedmann, BB) Die Planung des Quartiers wird in diesem Zitat einerseits mit Sorge – werden wir die Neuen »verkraften«? – und als »große Herausforderung« gesehen. Andererseits erkennt der Interviewte in der Situation auch eine »große Chance«, weil die Vergrößerung der Gemeinde eine langfristige berufliche Handlungsperspektive eröffnet. Die Herausforderungen, die ein geplantes neues Stadtquartier für die lokale Kirchengemeinde bedeutet, kann aber auch primär als Bedrohung empfunden werden, wie in folgendem Zitat zum Ausdruck kommt: »Dort kommen ja fast 25.000 Leute hin, also eine Kleinstadt, und es wird aber keine extra Kirche gebaut, keine eigene Gemeinde aufgebaut, sondern das gehört alles zu uns mit dazu. Und da ist dann die Frage natürlich: Wie macht man dort Seelsorge? Wie ist man für die Menschen da, macht was?« (Koppelaar, FH) Das gigantische Ausmaß der städtebaulichen Maßnahme kann Angst machen und Überforderungsphantasien auslösen. Dazu kommt, dass die hauptamtlichen kirchlichen Vertreter ohnehin schon von ihrer derzeitigen Tätigkeit ausgelastet sind – und ihnen von daher auch die zeitlichen Potentiale für die Entwicklung neuer Handlungsstrategien fehlen.

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Die Offenheit der Situation bringt es für die Betroffenen darüber hinaus mit sich, sich auf verschiedene mögliche Szenarien und religiösen »Bedarfe« der künftigen Bewohnerschaft einzustellen: »Weil Bedarfe ja erst dann sichtbar werden, wenn die Bewohner auch da sind. […] Sie [die Kirchen] könnten sich Geschäftsräume anmieten, die als Ladenzentren geplant waren, aber hinterher nicht funktionieren. […] Es kann sich also etwas entwickeln, was momentan noch nicht sichtbar ist. Sage ich. Also schaun mer mal. Das würde ich dazu sagen. Wenn kein Bedarf da ist, dann wird natürlich auch nichts gebaut. […] Aber ich bin mir sicher, dass es nicht so sein wird, dass ein klassischer Kirchenbau entstehen wird. Ich bin mir auch sicher, dass da noch etwas kommen wird.« (Wechsler, FH) Die Planung neuer Stadtquartiere, so zeigt sich, ist (auch) ein emotionales Thema für die vor Ort betroffenen religiösen Akteure: Sie knüpfen an das in Aussicht gestellte Viertel Erwartungen und Hoffnungen an eine neue Belebung der Gemeinde oder auch nur an die Stabilisierung des Stellenplans; sie fragen sich, wie sie die veränderte sozialräumlichen Lage gemeindeintern verkraften werden, aber auch, wie sie den Bedarfen der künftigen Bewohnerschaft gerecht werden können. Auf solche Weise wird viel mentale Arbeit geleistet, noch bevor der erste Spatenstich für das neue Viertel getan ist.

11.4 Fazit Die Planung neuer Stadtquartiere ist ein langwieriger und in vieler Hinsicht offener Prozess. Phasen konzertierten Handelns wechseln sich mit Phasen ab, die eher den Charakter von explorativen Suchbewegungen haben. Die behördlicherseits in den Blick genommene Bebauungsfläche steht in einem städtebaulichen Kontext, der in vielerlei Hinsicht von der geplanten Maßnahme ›betroffen‹ ist. Befürchtete bzw. erhoffte Dynamiken reichen von Segregationsängsten bis hin zur positiven Erwartung, dass durch die städtische Entwicklungsmaßnahme endlich auch die örtlichen Verkehrsprobleme gelöst werden (siehe 10.2.2). Für die religiösen Akteure im städtebaulichen Kontext stellt sich die geplante Baumaßnahme in mehrfacher Hinsicht als eine terra incognita dar. Das lässt sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Forschungsheuristik zum Ausdruck bringen: Das geplante Gebiet ist noch unbebaut, hat gleichsam kein ›Gesicht‹, keine Infrastruktur, keine prägnanten Gebäude (materielle Ebene). Auch der Prozess der Quartiersplanung selbst reichert sich erst nach und nach mit Bestimmtheit an, von ersten Sondierungsgesprächen über die Einbindung lokaler Institutionen und Verfahren der Bürgerbeteiligung bis hin zur Terminierung eines Bebauungsplans (administrative Ebene). Auch das ›Wissen‹ bzw. die Informationen über das Planungsvorhaben ist ungleich verteilt: Das neue Stadtquartier ist für viele Betroffene über lange Zeit ein Art Numinosum, über das man nur bruchstückhafte Informationen hat oder nur vom Hörensagen weiß (diskursive Ebene). Insbesondere die zukünftigen Bewohner:innen sind noch unbekannt und von daher eine ausgezeichnete Projektionsfläche für Befürchtungen, aber auch für Hoffnungen (soziale Ebene). Die gesamte Identität des neuen Quartiers ist zunächst eine rein virtuelle und

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kann mit ganz unterschiedlichen Bildern besetzt werden, wie sie etwa von den Planungsbüros ausgehängt oder auf der Homepage präsentiert werden (symbolische Ebene). Beteiligte und Betroffene müssen sich zu dem Planungsszenario in der einen oder anderen Weise verhalten, es in Form von Bildern und Erzählungen antizipieren und so für sich partiell von Unbestimmtheit in Bestimmtheit überführen. Dabei bewegen sich die religiösen Akteure in einem durch zahlreiche Faktoren zugleich bedingten und begrenzten Möglichkeitsraum. Zu diesen Faktoren gehören städtebauliche und baurechtliche Vorgaben, organisationale und administrative Strukturen, vorhandene oder auch nicht vorhandene lokale Kooperationspartner, finanzielle und personelle Ressourcen, kreative Potentiale einzelner Mitarbeiterinnen, nicht zuletzt: Zufälle und der ›Kairos‹ der Stunde. Wie religiöse Gemeinschaften und Organisationen auf die Planung eines neuen Stadtquartiers reagieren, hängt daher maßgeblich davon ab, wie sie die Situation aufgrund unterschiedlicher rechtlicher, administrativer und personeller Voraussetzungen für sich konstruieren, welches virtuelle Spielfeld sie dabei entwerfen und wie sie sich selbst auf diesem Feld als Player bewegen. Dabei sieht der behördlich initiierte Planungsprozess selbst unterschiedliche Formen von Beteiligung vor. Darin kommt (auch) ein verändertes Selbstverständnis der behördlichen Stadtplanung zum Ausdruck, die sich als ein Akteur neben anderen begreift. Hinter dem Schlagwort der Beteiligung verbergen sich allerdings eine Reihe offener Fragen: Wer tritt als Subjekt von Stadtplanung und Initiator von Beteiligungsprozessen in Erscheinung? Welcher Verfahrenslogik unterliegen Beteiligungsverfahren? Welche potenziellen Interessengruppen werden von ihnen adressiert – und welche Gruppen vergessen bzw. übersehen? Wie weit reicht die in Aussicht gestellte Beteiligung inhaltlich? Entsprechend zeigt sich, dass religiöse Akteure in Beteiligungsverfahren sehr unterschiedlich positioniert sein können. In der Frühphase, bei der Entwicklung eines Bauleitplans, kommen als religiöse Ansprechpartner v.a. die institutionell verfassten Landeskirchen in den Blick. Sie werden als Träger öffentlicher Belange adressiert, die den Bedarf auf eigene Räumlichkeiten bzw. Gebäude im neuen Quartier anmelden können. Beteiligungsmöglichkeiten für andere, nicht institutionell verfasste Religionsgemeinschaften stellen sich faktisch anders dar: Für sie geht es erst einmal darum, überhaupt als eigene Bedarfsträger gesehen und anerkannt zu werden (siehe dazu auch 7.2.3). Beteiligung kann aber auch nicht top down initiiert, sondern bottom up eingefordert werden, sofern und soweit sich religiöse Akteure selbst als Subjekte von Stadtplanung und Quartiersentwicklung begreifen. In welcher Form religiöse Akteure von ihren Beteiligungsmöglichkeiten Gebrauch machen, hängt (auch) davon ab, welche Haltung sie sich dem geplanten Bauvorhaben gegenüber aufs Ganze gesehen einnehmen. Auch hier zeigt sich eine Reihe von Optionen: Eine mögliche Strategie kann darin bestehen, die kommende Entwicklung zunächst einmal abzuwarten, weil zu viele Fragen noch offen und ungeklärt erscheinen, um zum jetzigen Zeitpunkt bereits ein inhaltliches Konzept zu entwickeln. Solches Warten ist mehr als ein bloß passives Verharren, insbesondere, wenn der sich so öffnende Zeitraum des Wartens als Erprobungsraum für kreative Ideen genutzt wird. Eine andere Strategie kann darin bestehen, sich für das Kommende zu rüsten – wobei der Fokus zugleich nach innen, auf die Sicherung und Stärkung des Bestehenden, als auch nach außen, auf den Aufbau von ›Willkommensstrukturen‹ für die neuen Bewohner:innen gerich-

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tet sein kann. Dazu kann es auch gehören, (Verwaltungs-)Bereiche neu zu definieren, Claims abzustecken oder neue Stellen einzurichten, die mit der Sondierung des Neuen und dem sukzessiven Aufbau von Strukturen beauftragt sind (siehe 8.3.1). Wieder ein anderer strategischer Schwerpunkt kann darauf liegen, sich aktiv in Planungsprozesse einzubringen und den Planungsverlauf im eigenen Sinn zu beeinflussen. Das kann über die Teilnahme an Planungsgremien, aber auch über die Suche nach Verbündeten und Netzwerkpartner:innen geschehen. In alldem eröffnet die Planung neuer Quartiere einen Raum für Projektionen. Mit den Neuen, die kommen, kann der Wunsch nach Erneuerung der Kirchengemeinde, nach einer Auffrischung des Gemeindelebens und einem Wandel der Altersstruktur verbunden sein. Statt eines Kirchengebäudes setzt man eher die Hoffnung in den Bau einer konfessionellen Kita, um die jungen Familien, deren Ansiedlung man sich erhofft, zu erreichen. Aber das Neue kann auch Angst machen: Eine neue Kleinstadt entsteht vor der eigenen Haustür – wie wird sich dadurch das Leben ändern? Werden die vorhandenen kirchlichen Angebote angenommen werden, die etablierten Strukturen noch passen? Die Klaviatur der Emotionen reicht von optimistischer Zuversicht über Überforderungsängste bis hin zu dem Gefühl, von dem Unbekannten bedroht zu werden. Das Agieren angesichts der Planung und Entstehung eines neuen Stadtquartiers fordert von den betroffenen religiösen Akteuren und Organisationen folglich insgesamt viel ab. Zusätzlich zu einem sowieso schon übervollen Arbeitspensum wächst ihnen nun auch noch diese Aufgabe hinzu. Dabei handeln sie in einem unbestimmten Horizont und zugleich durch viele Voraussetzungen determinierten Raum. Fertige Rezepte oder auch nur klar definierte Erfolgskriterien gibt es in einer solchen Situation nicht. Handeln im Horizont von Unbestimmtheit ist immer ein Wagnis – das Wagnis, in unbekanntes Terrain vorzustoßen, ja in gewisser Weise das Terrain überhaupt erst durch die eigenen Schritte als Handlungsszenario zu entwerfen. Tastende Suchbewegungen besitzen hier ihre eigene Würde, weil sie der Anfang für alles Weitere sind.

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12. Schluss

Religion existiert nicht im luftleeren Raum. Religiöse Praktiken sind vielmehr an Orte gebunden. Kirchengebäude, Synagogen, Moscheen und Friedhöfe sind sichtbare Manifestation der Transzendenz im Inneren der Stadt. In Gestalt von Festen und Prozessionen wird der öffentliche Raum zur temporären Bühne religiöser Liturgien. Religiöse Symboliken prägen urbane Architektur- und Kleidungsstile. Aber auch die Stadt als Diskursraum ist durch die Verhandlung religiöser Fragen geprägt: Welche Art von religiöser Präsenz kann in welcher Dosis öffentlich ertragen werden? Die vorausgegangen Kapitel haben die Art und Weise, in der Religion Raum greift, am Ort neuer Stadtquartiere untersucht. Die Methoden, die dabei zum Einsatz kamen, wurden der Ethnographie und empirischen Sozialforschung entliehen. Zugrunde gelegt war dabei eine Forschungsheuristik, die sechs Beschreibungsebenen der Beziehung zwischen Religion und städtischem Raum unterscheidet: die materielle, die politisch-administrative, die soziostrukturelle, die diskursive, die symbolische und die Ebene der Praktiken (siehe 0.2.5). Mithilfe dieser Heuristik wurden dreizehn neue Stadtgebiete aus sechs deutschen Städten (Hamburg, Berlin, Karlsruhe, Heidelberg, München, Freiburg) untersucht. Die Quartiere befanden sich in unterschiedlichen Entwicklungsstadien: Während einige zur Zeit der Forschung noch gar nicht materiell existierten, sondern nur behördlicherseits als Stadtentwicklungsgebiete ausgeschrieben waren, sind die ältesten hier in den Blick genommenen Neubauquartiere schon ein halbes Jahrhundert alt. Bei der Analyse der einzelnen Stadtteile zeigten sich sowohl individuelle Besonderheiten als auch quartiersübergreifende Themenfelder. Letztere haben sich in einem zirkulären Verfahren aus empirischer Beobachtung, Codierung und Interpretation des Interviewmaterials sowie der Bezugnahme auf unterschiedliche Stränge sozial- und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung herausgeschält. Rückblickend hat sich die Forschungsheuristik dahingehend bewährt, dass sie produktive Suchbewegungen nach unterschiedlichen Manifestationen des Religiösen am Ort der untersuchten Quartiere in Gang gesetzt hat. Im Ergebnis weisen die gefundenen Themen allerdings ihre jeweils eigene, in sich differenzierte Logik auf und liegen damit gewissermaßen quer zu den Ebenen der Heuristik. Die Darstellungslogik des vorliegenden Buchs ist auf der obersten Gliederungsebene nicht an den einzelnen untersuchten Stadtquartieren, sondern an diesen quartiers-

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übergreifenden Themen orientiert, die daher auch den Kapiteln ihren Namen geben (in Gestalt der Titel Zentralität, Orte, Hybride, Wandel usw.). Dennoch wurde das empirische Material, das die Basis der Kapitel bildet, nicht gänzlich in eine systematische Darstellung hinein aufgelöst. Vielmehr kommen die Quartiere auch in ihrer jeweils individuellen Topographie vor: So wurden die Themen, die in den Kapiteln verhandelt werden, jeweils paradigmatisch am Ort eines der untersuchten Quartiere eingeführt.1 Die Reichweite und Repräsentativität der durch dieses Verfahren bedingten Ergebnisdarstellung lässt sich in folgenden Thesen zusammenfassen: (1) Die Themen, die identifiziert und analysiert werden, erheben kein Anspruch auf Allgemeinheit, sind aber von stadtteilübergreifender Bedeutung. (2) Die gewählten thematischen Schwerpunkte stellen ein nicht abgeschlossenes, offenes, prinzipiell erweiterungsfähiges Tableau dar. Dennoch zeichnet sich in ihnen sich ein gewisses Gesamtbild der Herausforderungen von Religion in neuen Stadtquartieren ab. (3) Keines der elf Hauptthemen kommt exklusiv in dem Stadtteil vor, in dem es in der vorliegenden Darstellung eingeführt wurde – hier erscheint es aber in zugespitzter und besonders prägnanter Weise. (4) Zwischen den Themen besteht keine scharfe Trennung, aber sie implizieren doch jeweils einen neuen und anders ausgerichteten Fokus auf die Empirie. Anstatt an dieser Stelle das Theoriedesign und die Ergebnisse der einzelnen Kapitel im Detail noch einmal zu wiederholen, soll im Folgenden das Narrativ, das ihrer jetzigen Anordnung zugrunde liegt und die einzelnen Abschnitte miteinander verbindet, in seinem groben Verlauf nachgezeichnet werden. Der Fokus liegt also weniger auf den einzelnen Kapiteln selbst (siehe dazu das jeweilige Kapitelfazit), als vielmehr auf den Übergängen zwischen ihnen (12.1; 12.2). Am Schluss werden einige Impulse für mögliche Anschlussforschungen genannt (12.3).

12.1 Grundlegende Aspekte der Forschungsfrage (Kapitel 1-4) Wie greift Religion Raum in neuen Stadtquartieren? Die leitende Forschungsfrage wird in den ersten vier Kapiteln in ihren Kernelementen näher entfaltet: einmal in Bezug auf den Raumbegriff bzw. die räumliche Dimension religiöser Praktiken und Präsenzstrukturen, wobei sich in der Durchführung die Differenzierung des Themas in die Unteraspekte der Zentralität (als Strukturelement bedeutungsvoller Raumgliederung, Kapitel 1) und der Orte, in bzw. an denen Religion eine identifizierbare Gestalt gewinnt (Kapitel 2), nahelegte. Ein zweites Kernelement der Forschungsfrage verweist auf den Religionsbegriff, wobei urbane Religiosität in hybriden Erscheinungsformen ihren Ausdruck findet (Kapitel 3). Die diachrone Dimension der Forschungsfrage – schließlich stehen neu entstehende bzw. entstandene Stadtquartiere im Fokus – wurde im darauffolgenden Kapitel unter dem Stichwort »Wandel« aufgegriffen (Kapitel 4). Die Hauptthese von Kapitel 1 lautet, dass Religion an dem die urbane Raumstruktur insgesamt kennzeichnenden Gefälle von Zentralität und Peripherie partizipiert. Sie er1

Von den 13 untersuchten Quartieren wurden nur zwei nicht in einem eigenen Unterabschnitt vorstellt, die Heidelberger Südstadt und Vauban in Freiburg. Eine ausführliche Darstellung dieser Quartiere erfolgte an anderer Stelle, vgl. Thiesbonenkamp-Maag et al. 2017.

12. Schluss

hebt Anspruch auf umfassende Zentralität für das (öffentliche) Leben – und strebt daher auch städtebaulich ins Zentrum. Zugleich lässt sich beobachten, dass die Entwicklung einer bedeutungsvollen Raumgliederung in neuen Stadtquartieren oftmals ein prekäres Thema darstellt, das sich in der Suche nach einem Zentrum in besonderer Weise zuspitzt. Die Suche nach der Mitte wird damit (auch) zu einem Anlass, Erfahrungen von Marginalisierung und Randständigkeit zu verhandeln. Eng daran schließt die Thematik von Kapitel 2 an: Dass Religion im städtischen Raum ›vorhanden‹, präsent und sichtbar ist, hängt an Orten, an bzw. in denen sie punktuell identifizierbar wird. Dabei lässt sich beobachten, dass in allen der hier untersuchten Quartieren auf traditionelle religiöse Orte wie klassische Kirchengebäude verzichtet wird. Die ›Ortswerdung‹ von Religion gestaltet sich damit als ein spannungsvoller Prozess: Auf der einen Seite soll der neue religiöse Ort möglichst niedrigschwellig sein und keinen Fremdkörper im Quartier darstellen, andererseits soll er als religiöser Ort identifizierbar sein. In diesem Spannungsfeld entstehen unterschiedliche Ortsprofile, die teilweisen einen hybriden Charakter aufweisen – was bereits in das nächste Kapitel überleitet. Ausgangspunkt von Kapitel 3 ist die Beobachtung, dass sich das Religiöse in neuen Stadtquartieren in vielfacher Weise als verschränkt mit etwas anderem – sei es mit Nichtreligiösem oder mit Andersreligiösem – zeigt. Oftmals ist nicht klar entscheidbar: Ist dieses alte Gebäude mit Turm eine Kirche oder ein Museum? Phänomene dieser Art werden hier als religiöse Hybride bezeichnet. Dabei zeigt sich, dass manches, was als modernespezifische »Säkularisierung« beschrieben worden ist, besser als Hybridisierung zu fassen wäre – unbenommen davon, dass auch Phänomene der Ausdifferenzierung, des Bedeutungsverlusts, der Deinstitutionalisierung oder der Ablösung von Religion ihren Anhalt an der Empirie haben. Gerade deswegen ist es aber von Bedeutung, den Formenreichtum der Transformationen im religiösen Feld wahrzunehmen, ohne jeweils sofort ›Verlust‹ zu diagnostizieren. Mit der Frage, wie stadträumlicher Wandel im einzelnen (religiös) zu deuten ist, ist bereits der Übergang zu Kapitel 4 markiert. Neue Stadtquartiere unterliegen vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an einer vielfältigen Veränderungsdynamik. Mit dem Quartier ist auch seine religiöse Topographie einer Dynamik des Wandels unterworfen – wie sich gerade in ›älteren‹ Neubauquartieren beobachten lässt. Die Dynamiken urbanen Wandels werden dabei von unterschiedlichen Geschichten begleitet: von Geschichten des Aufbruchs und dem Versprechen einer »neuen Heimat«, von Geschichten der Veränderung und Überfremdung bis hin zu Geschichten des Abbaus und des Scheiterns. Religiöse Gemeinschaften gestalten (und erleiden) dabei nicht nur Prozesse des Wandels, sie sind auch reflexiver Ort seiner Verarbeitung, gerade weil sie sich von ihrem Selbstbild her oft als ›bleibende‹ Institutionen verstehen.

12.2 Dimensionen städtischer Verräumlichung von Religion (Kapitel 5-11) Die folgenden Kapitel sind unterschiedlichen, mal mehr, mal weniger dicht zusammenhängenden Einzelthemen gewidmet. Gleichwohl lassen sich auch hier übergreifende Verbindungslinien ziehen. Diese ergeben sich einmal in Bezug auf die neuere Kirchen-

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Religion im urbanen Raum

theorie: So tritt Religion teilweise als Organisation (Kapitel 6), als öffentliche Institution (Kapitel 7) sowie als Netzwerk von (Einzel-)Akteuren (Kapitel 9) in Erscheinung. Zum anderen variieren mehrere Kapitel das Thema, wie sich religiöse Akteure als solche formieren und mandatieren (Kapitel 9), sich dabei zivilgesellschaftliche Aufgaben zuschreiben (Kapitel 10) und als Subjekte von Stadtplanung in Erscheinung treten (Kapitel 11).2 Kapitel 5 setzt bei der Beobachtung an, dass Städte seit jeher als Orte sozialer Ungleichheit gelten. In der verdichteten Struktur einer Stadt treten insbesondere Reichtum und Armut in zuweilen verstörender Weise nebeneinander auf. Damit gehört soziale Ungleichheit sowohl zu den Bedingungen als auch zu den explizit adressierten Problemfeldern religiösen Lebens in der Stadt. Insofern neue Stadtquartiere der jüngeren Zeit tendenziell eher für wohlhabende Schichten konzipiert werden, tritt soziale Ungleichheit hier besonders stark auf. Das Kapitel ist daher ist der Frage gewidmet, wie Religion als Medium sozialer Ungleichheit wirkt, in dem Ungleichheiten wahrgenommen, überwunden, aber auch strukturell reproduziert werden. Anders als es die These von einer zunehmenden Privatisierung von Religion nahelegt, ist Religion in der Moderne immer auch eine öffentliche Angelegenheit. Religiöse Akteure suchen, wie Kapitel 6 zeigt, die Öffentlichkeit der Stadt bzw. des Stadtteils: Sie ›gehen nach draußen‹, werben für ihre Angebote oder nehmen Stellung zu öffentlichen Fragen. Darüber hinaus tragen Religionen dazu bei, dass Öffentlichkeit überhaupt erst entsteht: Diskussionsveranstaltungen werden organisiert, Räume zur Verfügung gestellt, öffentliche Angelegenheiten diskutiert. Schließlich sind Religionen selbst Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung: Menschen sprechen über sie, Stadtteilmedien berichten, und zuweilen wird kontrovers debattiert, wie viel Religion ein Stadtviertel verträgt. Insgesamt stehen Religion(en) und Öffentlichkeit(en) in neuen Stadtquartieren in einer komplexen und spannungsreichen Beziehung. Wenn Religion in der Stadt öffentlich wird, tritt sie oftmals unter einen interreligiösen Imperativ. Nicht nur sind Städte Orte interreligiöser Aktivitäten, Initiativen und Projekte; Interreligiosität ist auch, so scheint es, ein gemeinsames Ziel, auf das sich unterschiedlichste religiöse und säkulare Akteure verständigen können. Kapitel 7 zeigt, dass sich diese Wertschätzung des Interreligiösen divergierenden Motiv- und Interessenslagen auf Seiten unterschiedlicher religiöser und nichtreligiöser Akteure verdankt. Diese Interessenslagen können zu Konvergenzen, aber auch zu Spannungen innerhalb interreligiöser Initiativen führen. Oberhalb dieser Divergenzen zeigt sich Interreligiosität gleichwohl als diejenige Form religiöser Präsenz, die als spezifisch ›urban‹, stadttypisch und stadtangemessen, angesehen und gewünscht wird. Die interreligiösen Erwartungen sind ein Teil des Spektrums vielfacher Umwelteinflüsse, mit denen es religiöse Organisationen in der Stadt zu tun haben. In Kapitel 8 werden religiöse Organisationen allgemein als soziale Systeme in den Blick genommen, die in einem komplexen Verhältnis zu ihrer Umwelt stehen. Vor allem die großen Kirchen reagieren auf Komplexität durch Ausdifferenzierung: Sie weisen eine vertikale Ebenenstaffelung der territorialen Zuständigkeiten und eine Vielfalt von funktional orientierten 2

Darüber hinaus wurde zahlreiche Querverbindungen zwischen den Kapiteln direkt im Text markiert.

12. Schluss

Organisationseinheiten auf. In der Konfrontation mit neuen Quartieren und im Angesicht zurückgehender Ressourcen experimentieren sie mit dieser Organisationsstruktur. Dabei kommt es zu spezifischen Herausforderungen und Aporien, die sich aus einer organisationstheoretischen Perspektive verstehen und analysieren lassen. Eine der möglichen Strategien einer ausdifferenzierten religiösen Organisation, auf die Herausforderung eines neuen Stadtquartiers zu reagieren, ist die Einrichtung von Sonderbeauftragten, die als personelle Knotenpunkte im Netz urbaner Akteure fungieren können. Die Formation religiöser Stadtakteure im allgemeinen ist Gegenstand von Kapitel 9. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass einzelne religiöse Akteure bzw. Funktionär:innen nicht nur Expert:innen für bestimmte Stadtteile und ihre Geschichte sind, sondern darüber hinaus einen regelrechten Unternehmergeist entwickeln, aus dem heraus sie Projekte voranbringen, das Quartier entwickeln, Netzwerk- und Lobbyarbeit betreiben. Die Rolle des religiösen Stadtunternehmers steht neben anderen möglichen religiösen Akteursrollen im Quartier, zu denen auch die des religiösen Charismatikers gehört. Das Spektrum der Rollen lässt sich in Anlehnung an die Theorie hybrider Organisationen systematisieren. Mit der Frage, wie sich religiöse Akteure in neuen Stadtquartieren formieren, mandatieren und selbst verstehen, ist bereits der Übergang zu Kapitel 10 gegeben: Denn als religiöse Akteure verstehen sie sich dabei oft zugleich als Protagonisten der Zivilgesellschaft, die Räumlichkeiten für öffentliche Versammlungen zur Verfügung stellen und in Konfliktfällen moderieren. Religion zeigt sich hier als Katalysator, teilweise auch als treibender Motor der Formierung und Bündelung stadtteilbezogener Interessenkoalitionen – gerade auch im Vorfeld der Umsetzung von stadtplanerischen Entwicklungsmaßnahmen. Kapitel 11 schließt daran an und geht zugleich sachlich an den Anfang zurück. Die leitende Perspektive ist hier: Wie bewältigen religiöse Gemeinschaften die Offenheit und Unbestimmtheit, die mit der Planung eines neuen Quartiers in ihrem Gemeindegebiet einhergeht? Welche Phantasien, Befürchtungen und Hoffnungen werden dadurch freigesetzt? Das Kapitel zeichnet nach, wie sich religiöse Akteure durch unterschiedliche Strategien auf das Kommende einrichten, die von der engagierten Beteiligung an Planungsprozessen über das selbstbewusste oder verunsicherte Abwarten bis hin zur dezidierten Konzentration auf das Bestehende reichen. Der Umgang mit dem Neuen, dem Unbestimmten, erweist sich dabei durch viele rechtliche, administrative, finanzielle und personelle Faktoren bedingt, die insgesamt den Möglichkeitsraum flankieren, in dem sich die Akteure bewegen und sich als Akteure überhaupt erst entwerfen.

12.3 Impulse für die weitere Forschung Abschließend sollen in knapper Form Anschlussfragen und Impulse für die weitere empirische Religionsforschung im urbanen Kontext benannt werden. Zunächst einmal erschiene es gewinnbringend, ergänzend zu den vorliegenden, stark an Gestalten der institutionalisierten Religion orientierten Beobachtungen den Schwerpunkt noch stärker auf nicht-kirchliche Formen urbaner Religiosität zu legen. Dabei müssten dann womöglich auch noch einmal andere, offenere bzw. ›funktionalere‹ Fassungen des Religionsbegriffs

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zugrunde gelegt werden – was freilich die Herausforderung mit sich bringt, diese auf eine gehaltvolle und zugleich methodisch kontrollierte Weise empirisch zu operationalisieren. Trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten kann die Erforschung urbaner Religionskultur(en) nur von einer solchen hermeneutischen Weitung des Blicks für Phänomene von Religiosität ›unterhalb des kirchlichen Radars‹ profitieren. Darüber hinaus wäre es reizvoll, in einer Anschlussstudie einen dezidierten Schwerpunkt auf Diakonie und Caritas sowie auf soziale Leistungen anderer Religionen zu setzen. In vieler Hinsicht sind diese religiöse Vorreiter, was ihre Sensibilität für die Bedarfe des Sozialraums angeht. Entsprechend traten sie auch in dieser Studie an vielen Stellen in Form von Einrichtungen und einzelnen Personen in Erscheinung. Nichtsdestotrotz wäre das vorliegende Buch mit einem dezidierten Fokus auf urbanen Topographien des Sozialdiakonischen ein anderes geworden. Aber auch Bewegungen freikirchlicher, neopositivistischer und fundamentalistischer Religiosität wären in Bezug auf Strategien ihres städtischen Raumhandelns noch genauer zu untersuchen. Viele evangelikale und charismatische Gruppen haben in den letzten Jahren den urbanen Raum neu für sich entdeckt und haben hier teilweise hochgradig innovative Öffnungs- und Transformationskonzepte entwickelt. Erst recht, wenn der Blick über deutsche Verhältnisse hinausgeht, rücken die schwächer institutionalisierten, vereinsmäßig organisierten Player stärker ins Blickfeld – was zu einem weiteren Forschungsdesiderat führt. Viele Debatten der gegenwärtigen Urbanistik haben längst ein internationales Profil. Dabei werden nicht nur unterschiedliche Formen städtischer Raumordnung und Governancestrukturen, sondern auch die Entstehung und Transformation religiöser Topographien im länderübergreifenden Städtevergleich diskutiert. Eine Einzeichnung der vorliegenden Beobachtungen und Ergebnissen in den internationalen Diskurs wäre vor diesem Hintergrund eine weitere lohnende Aufgabe. Während dabei in vielen der hier untersuchten neuen Stadtquartieren die alteuropäische Stadt mit ihrer zentralistischen Raumordnung als Hintergrundfolie für Veränderungsprozesse durchscheint, dürften sich diesbezüglich im Vergleich mit anderen Idealbildern und Planungsmodellen des Städtischen – etwa in Nordamerika – weitreichende Perspektivverschiebungen ergeben. Über die genannten Punkte hinaus sind viele weitere Anschlussfragen am Ort und im Zusammenhang der einzelnen Kapitel und ihrer thematischen Einzelschwerpunkte markiert worden. Die empirische Erforschung der Verräumlichung von Religion steht zwar nicht mehr in ihren Kinderschuhen, ausgewachsen ist sie aber noch lange nicht. Wenn die vorliegende Untersuchung zur Erschließung des inhaltlichen Themenspektrums sowie zur Entwicklung eines empirisch brauchbaren Forschungsinstrumentariums einen Beitrag geleistet hat, hat sie ihren Zweck erfüllt.

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Abkürzungs- und Siglenverzeichnis

Zum Nachweis der Interviewzitate werden die (pseudonymisierten) Nachnamen der Interviewten sowie ein Kürzel für das Quartier, in dem das Interview geführt wurde, angegeben. Die Berufsbezeichnungen der Interviewten sind im folgenden Verzeichnis aufgeschlüsselt. Dabei werden nur diejenigen Interviews aufgeführt, aus denen im vorliegenden Band zitiert worden ist. Verweise auf Feldforschungstagebücher sind mit »FFT« bezeichnet. Abel, B/H Abele, HDB

Peter Abel, Pfarrer, Hamburg Billstedt-Horn Konstanze Abele, Mitarbeiterin im Stadtteilverein, Heidelberg Bahnstadt Ackerman, HB Christine Ackermann, Mitarbeiterin im KDA, Hamburg Hammerbrook Baier, RB Antje Baier, Mitglied des Gemeindekirchenrates, Berlin Rummelsburg Baldewang, AL Jonas Baldewang, Sprecher der Buddhisten, Hamburg Altona Baran, GI Demian Baran, Vorstand des Moscheevereins, München Giesing Beike, GI Eva Beike, Stadtteilmitarbeiterin, München Giesing Bertram, FH Ernst Bertram, Stadtrat, München Freiham Buras, GI Emmanuel Buras, REGSAM-Mitarbeiter, München Giesing Burger, FH Jan Burger, Kirchenvorstand, München Freiham/Neuaubing Degen, KA Sabine Degen, kirchliche Mitarbeiterin, Karlsruhe Südstadt Demant, KA Maria Demant, kirchliche Mitarbeiterin, Karlsruhe Südstadt Dymke, B/H Evelyn Dymke, Bezirksausschussvorsitzende, Hamburg BillstedtHorn Ebersbacher, B/H Jonas Ebersbacher, Pfarrer, Hamburg Billstedt-Horn Engelhardt, RB Verena und Bernd Engelhardt, WiR-Verein, Berlin Rummelsburg Erdmann, KA Sigurd Erdmann, ehrenamtlicher kirchlicher Mitarbeiter, Karlsruhe Südstadt FFT AL Feldforschungstagebuch Hamburg Altona FFT B/H Feldforschungstagebuch Hamburg Billstedt-Horn FFT BB Feldforschungstagebuch Berlin Blankenburger Süden

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Religion im urbanen Raum

FFT FH FFT GI FFT HB FFT HC FFT HDS FFT KA FFT PE FFT RB Freytag, HB Friedmann, BB Gerste, HB Gertz, HC Hazneci, AL Herzog, AL Hessler, HDS Hirsch, RB Jochum, FB Jung, FH Kaufmann, HC Khouri, B/H Koppelaar, FH Krause, HDB Kruger, B/H Kuhnert, HDB Lange, HDB Loewe, HC Lützow, HDS Martina, HDB Meckel, HDB Müller, HD Nussbaum, AL Olschewski, KA Opitz, HDB Parisius, KA Rathke, HB Reese, FB Reinhard, GI Saenger, HC

Feldforschungstagebuch München Freiham Feldforschungstagebuch München Agfa-Gelände Giesing Feldforschungstagebuch Hamburg Hammerbrook Feldforschungstagebuch Hamburg Hafencity Feldforschungstagebuch Heidelberg Südstadt Feldforschungstagebuch Karlsruhe Südstadt Feldforschungstagebuch München Perlach Feldforschungstagebuch Berlin Rummelsburger Bucht/Stralau Nele Freytag, Pfarrerin, Hamburg Hammerbrook Kristian Friedmann, Pfarrer, Berlin Blankenburg Angelika Gerste, Mitarbeiterin im KDA, Hamburg Hammerbrook Tom Gertz, Pfarrer, Hamburg Hafencity Ufuk Hazneci, Vorstand VIKZ, Hamburg Altona Anna Herzog, Pfarrerin, Hamburg Altona Ulrike Hessler, kirchliche Mitarbeiterin, Heidelberg Südstadt Johanna Hirsch, Pfarrerin, Berlin Rummelsburg Simone Jochum, ehrenamtliche kirchliche Mitarbeiterin, Freiburg Vauban Matthias Jung, Pfarrer, München Freiham/Neuaubing Sven Kaufmann, Beauftragter der Hafencity GmbH, Hamburg Hafencity Benjamin Khouri, Moscheevorstand, Hamburg Billstedt-Horn Philipp Koppelaar, Kath. Pfarrvikariatsassistent, München Freiham Kaja Krause, Anwohnerin, Heidelberg Bahnstadt Lukas Kruger, Redakteur, Hamburg Billstedt-Horn Ernst Kuhnert, kirchlicher Mitarbeiter, Heidelberg Bahnstadt Kathrin Lange, Mitarbeiterin in der Stadtverwaltung, Heidelberg Phillipp Loewe, Mitglied im Trägerverein des Ök. Forums, Hamburg Hafencity Hubert Lützow, Ehrenamtlicher in einer ev. Gemeinde, Heidelberg Südstadt Martina Stellmach, kirchliche Mitarbeiterin, Heidelberg Bahnstadt Christina Meckel, kirchliche Mitarbeiterin, Heidelberg Bahnstadt Heinrich Müller, kirchlicher Mitarbeiter, Heidelberg Yvonne Nussbaum, Leiterin eines Mediationsinstituts, Hamburg Altona Konrad Olschewski, kirchlicher Mitarbeiter, Karlsruhe Südstadt Peter Opitz, Mitarbeiter in der Stadtverwaltung, Heidelberg Bahnstadt Frank Parisius, kirchlicher Mitarbeiter, Karlsruhe Südstadt Johanna Rathke, Hauptpastorin, Hamburg Hammerbrook Gerhard Reese, kirchlicher Mitarbeiter, Freiburg Vauban Wolf Reinhard, Diakon, München Giesing Jörg Saenger, Stadtentwickler, Hamburg Hafencity

Abkürzungs- und Siglenverzeichnis

Schroder, RB Schroeder, HH Schulz, BB Schuster, AL Spiegel, HDB Vollmer, HDB Wagner, HB Wechsler, FH Wenzel, KA Wied, M Zafar, BB Zesche, HDB

Klaus Schroder, Verein zum Erhalt der Dorfkirche, Berlin Rummelsburg Diana Schroeder, Senatsverwaltung, Hamburg Nicolas Schulz, Vorstand Zukunftswerkstatt Heinersdorf, Berlin Blankenburg Jens Schuster, Hauptpastor, Hamburg Altona Cornelia Spiegel, Mitarbeiterin im Stadtteilverein, Heidelberg Bahnstadt Lars Vollmer, kirchlicher Mitarbeiter, Heidelberg Bahnstadt Jasmin Wagner, Pfarrerin, Hamburg Hammerbrook Heiko Wechsler, Stadtteilmitarbeiter, München Freiham/Neuaubing Harald Wenzel, kirchlicher Mitarbeiter, Südstadt Karlsruhe Robert Wied, kirchlicher Verwaltungsmitarbeiter, München Fadi Zafar, Imam, Berlin Blankenburg Walter Zesche, kirchlicher Mitarbeiter, Heidelberg Bahnstadt

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Abbildungsverzeichnis1

Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3:

Abbildung 4:

Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11:

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Übersicht über religiöse Standorte in Neuperlach ............................. 33 Städtebauliche Visionen: Ursprüngliche Planung des Hanns-Seidel-Platzes und der Freifläche im Wohnring ............................................... 37 Links der Ökumenische Gottesdienst auf dem Theodor-Heuss-Platz neben dem Stephans-Zentrum innerhalb des Wohnrings (Juli 2017), rechts die Einladung zur feierlichen Grundsteinlegung des neuen Zentrums Neuperlach auf dem Hanns-Seidel-Platz (Flyer, Ausschnitt) ......................................... 39 Karte der Rummelsburger Bucht mit den beiden Entwicklungsgebieten Wasserstadt Rummelsburg und Halbinsel Alt-Stralau (hellblau) sowie einigen signifikanten religiösen Orten................................................. 76 Flyer zum Lampionumzug in der Wasserstadt (links) und zum Laternenumzug auf Stralau (rechts)........................................................... 81 Museum oder Kirche? Dorfkirche Stralau während des Gottesdienstes zur (Wieder-)Eröffnung der Kirche mit Dauerausstellung im Vorraum............... 84 Stadtplan mit religiösen Standorten in Horn (Al-Nour-Moschee), Billstedt (Kreuzkirche) und Mümmelmannsberg (Kirchenzentrum) ....................... 97 Religiös signifikante Orte der Südstadt (grau) und des Neubaugebiets in der Südstadt-Ost (blau) in Karlsruhe ........................................ 124 München Giesing (dunkelgrau) mit dem Agfa-Gelände (hellblau) und einigen signifikanten religiösen Orten................................................. 149 Blick entlang des Flusses Bille auf den Bahnhof Hammerbrook .................208 Diakon Reinhard im Alltagsoutfit und im liturgischen Gewand .................. 251

Bildnachweis: Alle Fotografien, die in der Bildunterschrift nicht anderweitig nachgewiesen sind, sind von Juliane Kanitz aufgenommen worden. Bei den Karten handelt es sich um eigene Darstellungen unter Verwendung von OpenStreetMap-Kartenmaterial (© OpenStreetMap-Mitwirkende; Stand zwischen Juni 2017 und September 2020).

Tabellenverzeichnis1

Tabelle 1:

Heuristik der sechs Bezugsebenen von Religion und Raum, dazugehörige Beispielfragen und Auswahl an Referenzmethoden ................................. 20 Tabelle 2: Überblick über die untersuchten Stadtquartiere .................................... 22 Tabelle 3: Vier Dimensionen des Verhältnisses von Religion und Öffentlichkeit im Stadtquartier ..................................................................140

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Bei allen Tabellen handelt es sich um eigene Darstellungen.

Danksagung

Die Autorin und die Autoren des vorliegenden Berichts danken herzlich den Finanzgebern der Studie. Dies sind der Kirchenkreis Hamburg-Ost, der Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein, der Evangelisch-Lutherische Dekanatsbezirk München, der Kirchenreis Berlin Stadtmitte, der Kirchenkreis Berlin Nord-Ost, die Evangelische Kirchengemeinde Boxhagen-Stralau, die Evangelische Paul-Gerhardt-Kirchengemeinde Lichtenberg, die Evangelische Kirchengemeinde Berlin-Blankenburg, die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen sowie die HOWOGE Wohnungsbaugesellschaft mbH. Auch auf landeskirchlicher Ebene haben wir Unterstützung erfahren. Dafür danken wir dem Sprengel Hamburg und Lübeck der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und dem Regionalbischofssprengel München und Oberbayern der EvangelischLutherischen Kirche in Bayern. Die Pilotstudie zu den Quartieren Heidelberg Südstadt, Heidelberg Bahnstadt, Karlsruhe Südstadt und Freiburg Vauban wurde von der Evangelischen Landeskirche in Baden finanziert; auch ihr gilt unser herzlicher Dank. Weiterhin danken wir den Institutionen, in deren Kontext diese Studie wissenschaftlich erstellt wurde: der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST), der Arbeitsstelle Theologie der Stadt des Evangelischen Kirchenkreises Tempelhof-Schöneberg, der Evangelischen Hochschule Berlin (EHB), dem Institut für Diakoniewissenschaft und DiakonieManagement (IDM) der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel, jetzt an der Universität Bielefeld, und der Universität Heidelberg. An den Druckkosten haben sich die Evangelische Kirche in Deutschland, die EHB und die Universität Heidelberg in großzügiger Weise beteiligt – vielen Dank dafür! Wesentliche wissenschaftliche Beratung hat diese Studie erfahren durch Prof. Dr. Irene Becci, Prof. Dr. Beate Binder, PD Dr. Frank Martin Brunn, Prof. Dr. Marian Burchardt, Christian Kaufmann, Ricarda Pätzold und Dr. Sebastian Schlüter. Hierfür danken wir herzlich und betonen, dass alle Fehler und Ungenauigkeiten samt und sonders nicht ihnen, sondern der Autorin und den Autoren zur Last zu legen sind. Ein großer Dank geht an Dr. Julia Thiesbonenkamp-Maag, die die Pilotstudie empirisch durchgeführt und damit wesentliche Vorarbeiten auch für die Hauptstudie geleistet hat. Auch Simon Wassenhoven und Simon Mallas haben sich als Praktikanten sowie Simeon Prechtel, Cedric Reif, Frederik Fuß, Lea Roth, Raphael Keiner und Robin Böttger

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Religion im urbanen Raum

als wissenschaftliche Hilfskräfte mit großem Engagement und einer Vielzahl von Kompetenzen in die Studie eingebracht. Herzlich danken wir dem transcript-Verlag, insbesondere Julia Wieczorek, Johanna Mittelgöker und Mark Schäfers, für die hervorragende Zusammenarbeit. Großer Dank gebührt nicht zuletzt allen Forschungspartnerinnen und -partnern, die namentlich ungenannt bleiben müssen: den Gemeinden und ihren Gremien, allen Interviewten und im Feld Begleiteten sowie auch allen Teilnehmer:innen der Auftakt- und Abschlussworkshops: für ihre Bereitschaft, Auskunft zu geben, ihre Eindrücke und Belange zu schildern, zu beraten und kritische Fragen zu stellen. Ohne ihre Offenheit, ihre Zeit und ihr Engagement hätte diese Studie nicht durchgeführt werden können. Berlin und Heidelberg, im April 2023 Juliane Kanitz, Thorsten Moos, Christopher Zarnow