Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Zwangsvollstreckung [1 ed.] 9783428462407, 9783428062409

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Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Zwangsvollstreckung [1 ed.]
 9783428462407, 9783428062409

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Schriften zum Prozessrecht Band 88

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Zwangsvollstreckung Von Peter Weyland

Duncker & Humblot · Berlin

PETER WEYLAND Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i n der Zwangsvollstreckung

Schriften

zum

Prozessrecht

Band 88

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i n der Zwangsvollstreckung

Von Peter Weyland

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Weyland, Peter: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Zwangsvollstreckung / von Peter Weyland. — Berlin: Duncker und Humblot, 1987. (Schriften zum Prozeßrecht: Bd. 88) ISBN 3-428-06240-X NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1987 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Irma Grininger, Berlin 62 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06240-X

Vorwort Die vorliegende A b h a n d l u n g beruht auf meiner Dissertation, die i m Sommersemester 1986 abgeschlossen wurde. Veröffentlichte Literatur u n d Rechtsprechung sind, soweit dies noch möglich war, bis Dezember 1986 berücksichtigt worden. Die Bearbeitung des Themas hat Herr Professor D r . Peter Arens angeregt. I h m möchte ich auch an dieser Stelle sehr herzlich für die stets wohlwollende Betreuung u n d Förderung meiner Arbeit danken. Ferner danke ich H e r r n Professor D r . Dieter Leipold für wertvolle Hinweise.

Peter Weyland

Inhaltsverzeichnis § 1 Einfuhrung I. Allgemeines; Eingrenzung des Themas II. Zur Notwendigkeit einer breiter angelegten Untersuchung des Themas .... III. Gang der Darstellung

13 14 19

§ 2 Zur grundsätzlichen Einwirkung der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf das Vollstreckungsrecht I. Kurzer Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsprinzips

21

1. Die Grundrechte

21

2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

24

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung

26

1. Ablehnende Auffassungen und ihre dogmatische Fundierung durch Henckel

26

2. Stellungnahmen in der Literatur zu den Thesen Henckels

29

a) Arens

29

b) Bötticher c) Münzberg d) Lippross

29 29 29

3. Eigene Auffassung III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

30 36

1. Die Grundrechtskollision als Regelfall in der Zwangsvollstreckung ....

36

2. Die in der Zwangsvollstreckung betroffenen Grundrechte

37

a) Betroffene Grundrechte des Gläubigers (1) Art. 14 G G (2) Art. 2 Abs. 1 G G b) Betroffene Grundrechte des Schuldners aa) Grundrechtseingriffe im Zuge von Vollstreckungsmaßnahmen, die unmittelbar auf Befriedigung des titulierten Anspruchs abzielen

37 37 37 38

38

(1) Art. 14 G G

38

(2) Art. 12 G G

40

8

Inhaltsverzeichnis bb) Grundrechtseingriffe im Zuge von Vollstreckungsmaßnahmen, die nur mittelbar auf die Befriedigung des titulierten Anspruchs gerichtet sind

42

(1) Art. 13 G G

42

(2) Art. 2 Abs. 2 S. 2 G G

43

cc) Grundrechtsbeeinträchtigungen als atypische, ungewollte Begleiterscheinungen der Vollstreckung (1) Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G (2) Art. 1 Abs. 1 G G

44 44 50

Exkurs: Das unbeschränkte Recht auf Einsicht in das Schuldnerverzeichnis aus grundrechtlicher Sicht

51

3. Allgemeine Grundsätze zur Auflösung von Grundrechtskollisionen in der Zwangsvollstreckung

53

a) Die Nichtübertragbarkeit des Prinzips praktischer Konkordanz auf das Vollstreckungsrecht

53

b) Vollstreckungsanspruch und Verhältnismäßigkeitsprinzip

55

IV. Der Einfluß des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Auslegung und Anwendung des Vollstreckungsrechts

58

1. Die Verpflichtungsadressaten und die grunsätzliche Wirkungsweise des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Zwangsvollstreckung

58

2. Materiellrechtliche und gerichtsinstitutionelle Probleme im Zusammenhang mit der Einwirkung der Verfassung auf das Vollstreckungsrecht

61

§ 3 Der Grundsatz der Geeignetheit — Zum Verbot aussichtsloser Vollstreckungsmaßnahmen I. Allgemeines

68

II. Der Vollstreckungsgegenstand ist nicht Bestandteil des Schuldnervermögens

69

III. Die Ungeeignetheit der Vollstreckung wegen fehlender Befriedigungsaussichten für den Gläubiger

77

1. Die zur Befriedigung des betreibenden Gläubigers ungeeignete Zwangsversteigerung nach dem Z V G

78

a) Die gesetzliche Ausgangslage b) Die Interessenlage c) Rechtsfolge 2. Die offenbar aussichtslose Anschlußpfandung und zwangsweise Verwertung von Gegenständen des beweglichen Vermögens

78 78 84 86

a) Der offenbar aussichtslose Pfandungsakt

86

b) Die Versteigerung der beweglichen Sache nach durchgeführter Anschlußpfändung

89

Inhaltsverzeichnis IV. Die Ungeeignetheit von Maßnahmen, welche die Vermögenslage des Schuldners aufklären sollen

91

1. Verbot des Einsatzes ungeeigneter gesetzlicher Aufklärungsmaßnahmen

91

2. Umgehung der gesetzlichen Regelung durch „Ausforschungspfändungen"?

93

§ 4 Der Grundsatz der Erforderlichkeit — Die Pflicht zum Gebrauch des schonendsten Mittels I. Die Problemstellung II. Gesetzliche Ausprägungen des Grundsatzes der Erforderlichkeit und seine Berücksichtigung bei der Anwendung vollstreckungsrechtlicher Bestimmungen 1. Das Verbot der Übermaß Vollstreckung

97

99 99

2. Ratenzahlungen zur Abwendung der Versteigerung beweglicher Sachen als Alternative zum gesetzlich vorgesehenen Ablauf des Vollstreckungsverfahrens

105

3. Die Bindung der Vollstreckungsorgane an den Grundsatz der Erforderlichkeit bei der Wahl zwischen mehreren Alternativen

110

a) Die allgemeine Bedeutung des Erforderlichkeitsprinzips als Auswahldirektive in der Zwangsvollstreckung b) Die besondere Bedeutung des Erforderlichkeitsprinzips bei der Zwangsvollstreckung zur Erwirkung von Handlungen oder Unterlassungen

114

III. Verpflichtet der Grundsatz der Erforderlichkeit zur Einhaltung einer bestimmten Vollstreckungsreihenfolge?

120

110

1. Allgemeines

120

2. Der Streit um die Auffassung Böhmers

122

3. Stellungnahme

124

§ 5 Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. I. Die Frage nach der Tauglichkeit abstrakt-genereller Maßstäbe zur Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips i.e.S

128

1. Allgemeines

128

2. Die Berufung auf die abstrakte Höher Wertigkeit eines Rechtsguts

129

3. Generelle Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung wegen sog. Bagatellforderungen?

130

a) Die Problematik bei der Festlegung von abstrakten Wertgrenzen .. b) Der Grundrechtsschutz des Schuldners bei der Zwangsvollstreckung wegen sog. Bagatellforderungen

130

4. Versuche zur Mathematisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips i.e.S.

136

134

10

Inhaltsverzeichnis a) Die Auffassung Wiesers

136

b) Der Einfluß des Verhältnisses von Nutzen und Schaden auf die Zwangsvollstreckung

138

aa) Stellungnahme zur Auffassung Wiesers

138

bb) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. und die gesetzlichen Mindestgebotsvorschriften in § 817 a ZPO und § 85 a Z V G

141

II. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. und Abwägung

143

1. Inhaltliche Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch die Abwägungsmethode

143

2. Fälle geminderter Schutzwürdigkeit des Gläubigers

148

a) Zum Verhältnis von Treu und Glauben (§ 242 BGB) und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Zwangsvollstreckung

148

b) Die gesetzliche Zuständigkeitsverteilung und die materielle Rechtskraft als Grenze von Schutzwürdigkeitsüberlegungen im Vollstrekkungsrecht

150

c) Geminderte Schutzwürdigkeit des Gläubigers durch zweckwidrigen Gebrauch seines Titels

159

d) Mangelnde Schutzwürdigkeit des Gläubigerinteresses an der Befriedigung durch Zwangsvollstreckung

163

3. Fälle besonderer Schutzbedürftigkeit des Schuldners

165

a) Vorbemerkung

165

b) Besondere Schutzbedürftigkeit des Schuldners aufgrund nachteiliger Folgewirkungen der Vollstreckung

167

aa) Zur grundsätzlichen Berücksichtigung nachteiliger Folgewirkungen der Vollstreckung durch Gewährung von Vollstrekkungsschutz

167

bb) Der Schutz vor Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz des Schuldners

170

(1) Die gesetzlichen Pfändungsverbote

170

(2) Allgemeiner Vollstreckungsschutz außerhalb spezialgesetzlicher Pfandungsverbote?

173

(3) Beschränkter Pfändungsschutz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

176

c) Zur Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Erteilung von richterlichen Durchsuchungsanordnungen

177

aa) Die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von Amts wegen und die Verteilung der Behauptungs- und Beweislast ...

177

bb) Differenzierung nach der Art des Titels?

183

cc) Mehrmaliger Vollstreckungsversuch und Anhörung des Schuldners

183

dd) Zeitliche Grenzen der Durchsuchungsanordnung

188

Inhaltsverzeichnis (1) Kurzfristig wiederholte Vollstreckungsversuche und grundrechtlicher Wohnungsschutz

188

(2) Verbrauch und Befristung der richterlichen Durchsuchungsanordnung

192

§ 6 Der Einfluß der Grundrechte auf die Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens I. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

194

II. Die Rechtfertigung eines selbständigen Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz

199

1. Zur grundsätzlichen Annahme einer Grundrechtseinwirkung auf das Verfahrensrecht

199

2. Die Abgrenzung zu anderen verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien III. Folgerungen

200 202

§ 7 Zusammenfassung

207

Literaturverzeichnis

214

§ 1 Einführung I. Allgemeines; Eingrenzung des Themas Die Frage nach der „Verfasungsmäßigkeit des Vollstreckungszugriffs" 1 gehört zweifellos zu den aktuellsten und umstrittensten Themenbereichen des Zwangsvollstreckungsrechts 2. Eingeleitet wurde diese Entwicklung durch eine Vielzahl von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die sich insbesondere mit der Frage der Einwirkung der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf das zwangsvollstreckungsrechtliche Verfahren nach der ZPO und dem ZVG befaßten. Dabei nahm das Bundesverfassungsgericht mitunter besonders kraß gelagerte Einzelfälle zum Anlaß, grundlegende Ausführungen zum Verhältnis von Verfassung und Zwangsvollstreckungsrecht zu treffen, was ihm von Seiten der Literatur viel Kritik einbrachte. Das Schrifttum wurde von dieser Rechtsprechung weitgehend unvorbereitet getroffen. Knemeyer stellte im Jahre 1967, als er der Frage der Verfassungsmäßigkeit von Wohnungsdsurchsuchungen bei der Vollstreckung von Geldforderungen nachging, zutreffend fest, daß sich in Lehrbüchern und Kommentaren zu § 758 ZPO kein Hinweis auf Art. 13 Abs. 2 G G fände 3 und Quack warf dem konkursrechtlichen Schrifttum noch im Jahre 1975 eine regelrechte Blindheit für verfassungsrechtliche Probleme vor 4 . Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist mit der Frage nach dem Geltungsbereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Zwangsvollstreckung ein Ausschnitt aus dem Problemkreis, welcher Fragen der Verfassungsmäßigkeit des Vollstreckungszugriffs betrifft; denn nach mittlerweile wohl allgemeiner Meinung kommt dem Grundsatz Verfassungsrang zu 5 . Dabei wird im Folgenden der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seinem weiteren Sinne zugrundegelegt 6. Dieser umschließt insgesamt drei Teilgrundsätze, und zwar den Grundsatz der Geeignetheit, den Grundsatz der Erforderlichkeit und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (i.e.S.). Alle drei Prinzipien nehmen ihren 1

So der Titel der gleichnamigen Abhandlung von Vollkommer Rpfleger 1982, 1. Vgl. z.B. die umfangreichen Literaturnachweise bei Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 91, S. 56 Fn 13 alleine zur Problematik der richterlichen Durchsuchungsanordnung aufgrund des Art. 13 Abs. 2 GG. 3 Knemeyer NJW 1967, 1353 in Fn. 5. 4 Quack Rpfleger 1975, 185. 5 Siehe dazu unten § 2 I 2, I I 1. 6 Die Terminologie ist uneinheitlich (siehe dazu ausführlich Hirschberg, S. 19 ff.). 2

§ 1 Einfuhrung

14

Ausgangspunkt bei der Fragestellung, ob ein bestimmtes Mittel zur Erreichung eines vorher festgelegten Zwecks rechtmäßigerweise eingesetzt werden darf oder nicht. Jeder Teilgrundsatz richtet dabei im Hinblick auf den verfolgten Zweck seine eigenen Anforderungen an die Zulässigkeit des Mittels. Ganz allgemein gesprochen verbietet der Grundsatz der Geeignetheit den Einsatz eines Mittels, wenn es sich von vorneherein als untauglich erweist, den verfolgten Zweck irgendwie zu fördern. Der Grundsatz der Erforderlichkeit verpflichtet den Handelnden dazu, unter mehreren, zur Zweckerreichung gleich wirksamen Mitteln dasjenige zu wählen, welches die Rechtsgüter des Betroffenen am wenigsten belastet. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne schließlich versagt den Einsatz eines Mittels, wenn dieses zur Erreichung des verfolgten Zwecks unangemessen oder unzumutbar wäre 7. Nach dieser allgemeinen Definition, mit der vorerst gearbeitet werden kann 8 , muß weiter darauf hingewiesen werden, daß sich die vorliegende Untersuchung nur mit dem Einfluß des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf die zivilprozessuale Vollstreckung nach der Zivilprozeßordnung und dem Zwangsvollstreckungsgesetz befaßt. Eine Einbeziehung der Vollstreckung von Entscheidungen in anderen Gerichtsbarkeiten sowie der Verwaltungsvollstreckung 9 würde der Übersichtlichkeit schaden und den Rahmen der Arbeit sprengen. Auch auf vollstreckungsrechtliche Bestimmungen in Spezialgesetzen wird nur insofern Bezug genommen, als diese im unmittelbaren Zusammenhang mit dem vorliegenden Thema stehen.

II. Zur Notwendigkeit einer breiter angelegten Untersuchung des Themas Weil man sich in Literatur und Rechtsprechung erst seit relativ kurzer Zeit mit der Einwirkung der Verfassung auf das Vollstreckungsrecht befaßt, sind auch die damit zusammenhängenden Zweifelsfragen vergleichsweise neu. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Bereitschaft nicht sehr weit verbreitet ist, den heute unbestrittenen Vorrang der Verfassung vor dem sogenannten einfachen Gesetzesrecht1 auch in der Zwangsvollstreckung anzuerkennen. Dahinter mag 7 Den Ausführungen im Text liegen ähnliche Formulierungen aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde. (Vgl. z.B. BVerfGE 25,1 (17 f.); 30, 292 (316 f.); 67, 157 (173 ff.) 8 Nähere Einzelheiten folgen bei der Erörterung der einzelnen Teilgrundsätze. 9 Siehe dazu allgemein aus dem zivilprozessualen Schrifttum: Stein/Jonas/Münzberg vor § 704 Rdnr. 4 ff.; Gaul JZ 1973, 473 (477 f.); Stürner DGVZ 1985, 6 f. 1

Siehe dazu näher unten § 2 I 1.

II. Zur Notwendigkeit einer breiter angelegten Untersuchung

15

die Befürchtung stehen, daß damit eine letztlich nicht mehr kontrollierbare Umwälzung des gesamten Vollstreckungsrechts verbunden sein könnte. Schon alleine um zu erfahren, ob diese Befürchtung berechtigt ist und inwiefern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Korrektur althergebrachter vollstreckungsrechtlicher Regeln zwingen könnte, lohnt sich eine breiter angelegte Untersuchung. Diese Frage ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern stellt sich ebenso immer wieder in der Vollstreckungspraxis. Als Beispiel hierfür seien drei Fälle aus der Rechtsprechung wiedergegeben. Diese sind so ausgewählt, daß sie jeweils repräsentativ für einen der drei Teilgrundsätze des Verhältnismäßigkeitsprinzips stehen und so in einige der damit verbundenen grundsätzlichen Problemstellungen einführen. Fall l 2: In einem Zwangsversteigerungsverfahren nach dem ZVG machten zwei Gäubiger, die dem Verfahren beigetreten waren, Forderungen in Höhe von DM300,— bzw. D M 1.100,— geltend. Als Inhaber von nur persönlichen Ansprüchen gingen ihnen dabei an dinglichen Belastungen ca. D M 265.000,— im Range vor. Der Verkehrswert des Grundstücks war dagegen lediglich auf D M 135.000,— festgesetzt worden, betrug also etwa nur die Hälfte. Der Schuldner stellte daraufhin einen auf § 765 a ZPO gestützten Vollstreckungsschutzantrag, den er u.a. damit begründete, daß die Gläubiger wegen der Höhe der vorrangigen Belastungen nicht mit einer Befriedigung rechnen könnten und die Zwangsvollstreckung dieser Gläubiger deshalb gegen die guten Sitten verstoße. Das Amtsgericht hatte zunächst dem Antrag des Schuldners stattgegeben und das Zwangsversteigerungsverfahren durch Beschluß insoweit aufgehoben, als es von den beigetretenen Gläubigern betrieben wurde. Das von den Gläubigern mit der sofortigen Beschwerde angerufene L G Oldenburg hob den Beschluß des Amtsgerichts hingegen wieder auf, obwohl es bei dem Wertverhältnis zwischen geringstem Gebot (vgl. § 44 ZVG) und Verkehrswert des Grundstücks (vgl. §74 a Abs. 5 ZVG) als ausgeschlossen angesehen werden mußte, daß der Versteigerungserlös zu einer auch nur teilweisen Befriedigung der Gläubiger ausreichen könnte. Wie noch zu zeigen sein wird, steht das Landgericht mit dieser Auffassung keineswegs alleine da. In der Vollstreckungspraxis treten Fälle solcher — zumindest auf den ersten Blick — offensichtlich aussichtsloser Vollstreckungsmaßnahmen häufiger auf 3 . Schiffhauer 4 berichtet von Fällen, bei denen der Grundstückswert etwa nur 10 bis 50 % des geringsten Gebotes betrug. Ähnliche Probleme stellen sich auch im Rahmen der Mobiliarvollstreckung, wenn eine Anschlußpfändung für den 2 3 4

LG Oldenburg ZIP 1982, 626 — Beschluß vom 16.4.1982. Vgl. Schiffhauer Rpfleger 1983, 236. Schiffbauer Rpfleger 1983, 236.

16

§ 1 Einfuhrung

nachrangig pfändenden Gläubiger aussichtslos erscheint, da der zu pfändende Gegenstand bereits hoffnungslos überbelastet ist. Aber auch hier steht die ganz h.M. auf dem Standpunkt, daß die Anschlußpfändung gleichwohl durchzuführen sei. Im Hinblick auf den Grundsatz der Geeignetheit stellen sich diese Fragen möglicherweise aus einer anderen Sicht als bisher. Die Aussichtslosigkeit der Vollstreckung führt unter seiner Berücksichtigung u.U. zwingend zur Unzulässigkeit der Vollstreckung. Damit sind aber zahlreiche Zweifelsfragen verbunden: Muß die Vollstreckung hier nicht gleichwohl durchgeführt werden, weil jede Prognose über den voraussichtlichen Versteigerungserlös mit Unwägbarkeiten vorbelastet ist? Darf der Gläubiger mit Hüfe der Zwangsvollstreckung nicht wenigstens Druck auf den Schuldner ausüben, um dessen Zahlungsbereitschaft zu fördern? Wie steht es, wenn die Versteigerung aus rechtlichen Gründen ohne Erfolg bleiben wird, weil das Vollstreckungsobjekt nicht Bestandteil des Schuldnervermögens ist? Die Vollstreckungsorgane zur Prüfung der materiellen Rechtslage grundsätzlich aber ein weitgehend anerkanner Grundsatz des Vollstreckungsrechts, daß die Vollstreckungsorgane zur Prüfung der materiellen Rechtslage grundsätzlich nicht befugt sind. Die damit angesprochenen Probleme sind weitgehend ungelöst. Aufgabe dieser Untersuchung wird es deshalb sein, der Frage nachzugehen, wie sich der Grundsatz der Geeignetheit in das geltende Vollstreckungsrecht einpaßt, an welcher Stelle er im Gesetz seinen Niederschlag gefunden hat und wo er u.U. zur Korrektur von bisherigen Rechtsansichten zwingt. Fall 25: Mit der Verfassungsbeschwerde wandte sich die Beschwerdeführerin gegen die Versteigerung des von ihr bewohnten Grundstücks. Dessen Wert war auf DM41.000,— festgesetzt worden und wegen einer Forderung von knapp D M 1.000,— zu einem Höchstgebot von D M 21.000,— zugeschlagen worden. Der betreibende Gläubiger hatte zuvor keinen Versuch unternommen, seine Forderung durch Mobiliarvollstreckung oder Forderungspfandung zu realisieren. Gleichzeitig mit dem Zuschlag wies der Rechtspfleger einen Antrag der Beschwerdeführerin nach § 30 a ZVG, der auf Einstellung des Zwangsversteigerungsverfahrens gerichtet war, als unbegründet zurück. Die gegen den Zuschlagsbeschluß eingelegte Beschwerde und die weitere Beschwerde blieben erfolglos. Das Bundesverfassungsgericht gab der Verfassungsbeschwerde mit der Begründung statt, die angefochtenen Entscheidungen hätten den Einfluß der Eigentumsgarantie in Art. 14 G G auf das Verfahrensrecht verkannt. Weil der

5

BVerfGE 49, 220 — Beschluß vom 27.9.1978.

II. Zur Notwendigkeit einer breiter angelegten Untersuchung

17

Rechtspfleger gleichzeitig mit der Zuschlagsentscheidung über den Einstellungsantrag entschieden habe, sei der Beschwerdeführerin die Möglichkeit genommen worden, einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765 a ZPO mit Aussicht auf Erfolg zu stellen. In einem Sondervotum stimmte Böhmer 6 zwar der Entscheidung in vollem Umfang zu. Jedoch sah er die verfassungsrechtliche Problematik des Falles nicht als erschöpft an. Die Zwangsversteigerung sei hier unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig gewesen, weil aufgrund einer „dubiosen" Bagatellforderung in das von der Beschwerdeführerin bewohnte Grundstück vollstreckt worden sei. Unter diesen Umständen hätte wenigstens der Versuch einer weniger belastenden Vollstreckungsmaßnahme unternommen werden müssen. Dieses Sondervotum löste wie kaum ein anderes ein lebhaftes Echo in Literatur und Rechtsprechung aus. Diskutiert wird u.a., ob nach geltendem Vollstreckungsrecht überhaupt die Möglichkeit für die auf Antrag des Gläubigers handelnden Vollstreckungsorgane besteht, im Einzelfall nach Vollstreckungsmaßnahmen zu forschen, die den Schuldner weniger belasten. Das könnte möglicherweise der Grundsatz der Erforderlichkeit gebieten, nach dem hoheitlich handelnde Organe zur Erreichung ihres Zweckes das mildeste Mittel einzusetzen haben, wenn dieses gleich effizient ist. Das geltende Zwangsvollstreckungsrecht bietet hierfür aber nur unzureichende Möglichkeiten. Es kennt i.d.R. keine Vollstreckungsreihenfolge und überläßt dem Gläubiger die Wahl der Vollstreckungsmittel, mit deren Hilfe er zur Befriedigung seiner Geldforderung zu kommen glaubt. U.a. aus diesen Gründen hat Böhmer Bedenken hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit des meist vorkonstitutionellen Vollstreckungsrechts geäußert. Es stellt sich die Frage, ob diese begründet sind oder ob dem Erforderlichkeitsgrundsatz nicht auch im Rahmen des geltenden Vollstreckungsrechts auf anderem Wege Genüge getan werden kann. Diese Fragen rühren an die verfahrensrechtlichen Grundlagen des geltenden Vollstreckungsrechts. Um eine befriedigende Lösung zu finden, bedarf es einer eingehenderen Beschäftigung mit der Problematik. Fall 31: Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde rügte der 60jährige Beschwerdeführer die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 1 und Art. 2 Abs. 2 G G sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Der Verfassungsbeschwerde zugrunde lag folgender Sachverhalt: Nachdem der Beschwerdeführer zur Räumung der von ihm gemieteten Wohnung rechtskräftig verurteilt worden war, beantragte er beim Voll6 7

Böhmer in: BVerfGE 49, 228. BVerfGE 52, 214 — Beschluß vom 3.10.1979.

2 Weyland

18

§ 1 Einfhrung

streckungsgericht, die Zwangsvollstreckung aus dem Räumungsurteil nach § 765 a ZPO zu untersagen. Zur Begründung trug er vor, er leide seit Jahren an einer progressiven endogenen Depression, die therapeutisch nur unzureichend beeinflußbar sei und von einem gleichzeitig bestehenden schweren Herzschaden und einer cerebralen Durchblutungsstörung begleitet werde. Nach drei ernsthaften Selbstmordversuchen müsse bei der zwangsweisen Räumung der Wohnung mit schweren psychischen Reaktionen und akuter Lebensgefahr gerechnet werden. Zur Bestätigung dieses Vorbringens legte er zwei Bescheinigungen ihn behandelnder Ärzte vor. Das Vollstreckungsgericht stellte gemäß § 765 a ZPO die Räumungsvollstreckung zwar vorübergehend ein, meinte aber, eine dauerhafte Einstellung sei unzulässig, da auf diese Weise der Vollstreckungstitel praktisch außer Kraft gesetzt werde. Die vom Beschwerdeführer hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Landgericht ohne Erhebung eines Beweises zurück. Demgegenüber hatte die Verfassungsbeschwerde Erfolg. Wie bereits in den Entscheidungen, die zeitlich vorher zur Verfassungsmäßigkeit der Zwangsversteigerung von Grundvermögen ergangen waren 8, sah das Bundesverfassungsgericht auch hier wieder nicht hinreichend den Einfluß der Grundrechte auf das Vollstreckungsverfahren beachtet. Darüber hinaus enthalten die Entscheidungsgründe aber auch grundsätzliche Ausführungen zum Geltungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Die Belange des Gläubigers und die des Schuldners werden dabei einander gegenübergestellt und mittels des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S. gegeneinander abgewogen. Dabei sah es das Bundesverfassungsgericht „als keineswegs fernliegend an", daß hier ein unverhältnismäßig schwerwiegender Eingriff vorgelegen haben könnte. Diese Ausführungen werfen die grundsätzliche Frage auf, ob im Verfahren der Zwangsvollstreckung in jedem Fall eine eingehende Abwägung von Schuldnerund Gläubigerbelangen stattzufinden hat, die dann zu dem Ergebnis führen könnte, daß der mit der Zwangsvollstreckung verbundene Eingriff in die Grundrechte des Schuldners in keinem vertretbaren Verhältnis zu dem damit für den Gläubiger angestrebten Erfolg steht. Diese Überlegungen stellen Rechtsprechung und Schrifttum vor allem bei der Vollstreckung von sog. Bagatellforderungen an. Damit ist die Problematik aber bei weitem nicht erschöpft. Insbesondere im Rahmen gerichtlicher Vollstreckungsschutzverfahren (z.B. §§ 765 a, 813 a ZPO; 30 a ff. ZVG) stellt sich das generelle Problem, ob das Vollstreckungsgericht jedem Hinweis des Schuldners nachgehen muß, es liege z.B. eine „sittenwidrige Härte" vor, um dann nach einer umfassenden Abwägung mittels des Verhältnismäßigkeitsprinzips das Verfahren gegebenenfalls vorübergehend oder sogar auf Dauer einzustellen. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, daß dies zu einer für den Gläubiger unzumutbaren Verfahrensverzögerung führen kann und eine umfassende Abwägung Erkenntnismöglichkeiten voraussetzt, die im Vollstreckungsverfahren u.U. gar nicht bestehen. 8

BVerfGE 42, 64; 46, 325; 49, 220; 49, 252; 51, 150.

III. Gang der Darstellung

19

Über den Geltungsbereich des Verhältnsimäßigkeitsgrundsatzes und seiner Anforderungen an das Vollstreckungsrecht bestehen auch insofern wieder große Unsicherheiten. Zu einem nicht unerheblichen Teil liegt das an der Unbestimmtheit gerade des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S.. Aufgabe dieser Untersuchung wird es sein, hier Möglichkeiten und Wege zu suchen, um zu einer gewissen Berechenbarkeit im Umgang mit dem Grundsatz zu kommen. Die alleine mit diesen drei Beispielsfällen aufgeworfenen Fragen lassen die Notwendigkeit erkennen, dem vorliegenden Thema eine Untersuchung größeren Umfangs zu widmen. Sie stehen stellvertretend für eine ganze Reihe von Problemen, die im Rahmen dieser Arbeit erörtert werden sollen. Schon an dieser Stelle läßt sich sagen, daß von großer Wichtigkeit sein wird, inwieweit das Vollstrekkungsrecht den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes genügt und welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, diesen im Rahmen des geltenden Rechts zum Tragen zu bringen. Dabei ist stets im Auge zu behalten, daß es um einen Ausgleich von Schuldnerund Gläubigerinteressen geht. Zwar kommt dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auch im Vollstreckungsrecht primär eine eingriffsbegrenzende Funktion zu; er dient damit den Interessen des Schuldners. Wo im einzelnen die Grenzen verlaufen, läßt sich jedoch nur entscheiden, wenn auch die Belange des Gläubigers mitberücksichtigt werden. Damit unvereinbar ist eine vorschnelle Entscheidung zugunsten des Schuldners.

III. Gang der Darstellung Die folgende Untersuchung nimmt ihren Ausgang bei der Erörterung der Frage, ob und inwieweit die Grundrechte und das Verhältnismäßigkeitsprinzip grundsätzlich in der Lage sind, das Vollstreckungsrecht zu beeinflussen. Dabei wird sich im Rahmen eines kurzen Überblicks über die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zeigen, daß diese Fragestellung ihre Bedeutung erst in neuerer Zeit gewonnen hat, woraus sich Schwierigkeiten für die Anwendung des Vollstreckungsrechts ergeben können. Daran anschließend folgt eine Auseinandersetzung mit der Auffassung, die schon vom Ansatz her die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung verneint. Erst wenn die in dieser Hinsicht erhobenen Einwände ausgeräumt sind, kann auf nähere Einzelheiten eingegangen werden. Hierzu zählt zunächst die Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den in der Zwangsvollstreckung hauptsächlich betroffenen Grundrechten. Hierauf einzugehen ist notwendig, denn es wird sich dabei zeigen, daß der Grundsatz nicht unabhängig vom spezifischen Schutzbereich des jeweils in Rede stehenden Grundrechts gesehen werden kann. Daran schließt sich die Erörterung der bereits erwähnten Teilgrundsätze des Verhältnis2*

20

§ 1 Einfhrung

mäßigkeitsprinzips an und es werden demzufolge Probleme diskutiert werden, die sich bei der Anwendung des Grundsatzes der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit i.e.S. stellen; hier wird der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit liegen. Die Untersuchung abschließen wird eine Betrachtung der Grundrechtseinwirkung speziell auf die Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens. Auch insofern wird sich die Frage stellen, welche Bezüge zwischen den Grundrechten im Hinblick auf ihre verfahrensrechtliche Dimension und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bestehen.

§ 2 Zur grundsätzlichen Einwirkung der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf das Vollstreckungsrecht I. Kurzer Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Grundrechte und des Verhältnismäßigkeitsprinzips 1. Die Grundrechte

Die Civilprozeßordnung vom 30.1.18771 und das Zwangsversteigerungsgesetz vom 24.3.18972 fielen in den zeitlichen Geltungsbereich der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871, die einen Grundrechtskatalog nicht vorsah. Zwar enthielten Einzelgesetze auf Reichsebene grundrechtsähnliche Verbürgungen 3, jedoch war man weit davon entfernt, diesen und ähnlichen Rechten der „Untertanen", die sich in den frühkonstitutionellen süddeutschen Verfassungen und in der preußischen Verfassung von 1850 fanden, einen höheren Rang als dem übrigen Gesetzesrecht zuzuweisen4. Auch fehlte es an einer Befugnis der Gerichte, Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin zu überprüfen 5. Das geschriebene Verfassungsrecht des 19. Jahrhunderts kannte den Begriff „Grundrechte" überhaupt nicht 6 . Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, wenn man die Frage nach dem Einfluß von Grundrechten oder grundrechtsähnlichen Verbürgungen auf das Vollstreckungsrecht jedenfalls so nicht stellte. Besonders deutlich zeigt sich dies daran, wie der Schutzzweck der Pfändungsverbote in den damaligen §§ 715, 749 CPO interpretiert wurde, die im wesentlichen bereits den heutigen §§811, 850 ff. ZPO entsprachen. Während es nach heutiger Auffassung ein Gebot der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) ist, den Schuldner mit Hilfe von Vollstreckungsschutzbestimmungen vor einer Kahlpfändung zu bewahren 7, sah man über eine lange Zeit hinweg in den Pfändungsschutzbestimmungen das Ergebnis sozialpolitischer Zweckmäßigkeitserwägungen und brachte diese nicht 1

RGBl. S. 83. RGBl. S. 97. 3 Siehe dazu Huber, S. 132 (138 f.). 4 Vgl. Scheuner in: FS für E. R. Huber, S. 139 (140,147); Wahl in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815—1914), S. 346 (351). 5 Vgl. Scheuner in: FS für E. R. Huber, S. 149; Friesenhahn Jura 1982, 505. 6 Vgl. Wahl in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815—1914), S. 347. 7 Stein/Jonas/Münzberg § 811 Rdnr. 1; Zöller/Stöber § 811 Rdnr. 1; Henckel, S. 357 f.; Dürig 'm: Maunz/Diirig Art. 1 Rdnr. 44; Zippelius in: Bonner Kommentar (Zweitbearb.) Art. 1 Rdnr. 17. 2

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

mit dem Begriff der Menschenwürde in Zusammenhang8. Daneben findet sich eine starke Betonung öffentlicher Interessen. So heißt es in den Materialien zur CPO bezüglich der Pfändungsverbote in den §§ 715, 749 CPO: „ . . . sie beruhen auf einer billigen Nachsicht gegen den Schuldner" 9. Im gleichen Sinne, aber unter stärkerer Betonung öffentlicher Interessen, interpretiert das Reichsgericht im Jahre 1909 die Bestimmung des § 811 Nr. 1 ZPO: Bei § 811 Nr. 1 ZPO handele es „ . . . sich nicht um eine Rechtsnorm, die nur dem Schuldner eine Wohltat erweisen will, sondern um eine Regelung der Zwangsvollstreckung, die in einem wesentlich öffentlichen Interesse, in den Bedürfnissen des Allgemeinwohls ihren Grund hat. Sie beruht auf dem sozialpolitischen Gedanken, daß die Zwangsvollstreckung nicht zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz des Schuldners und seiner Familie führen darf. Der Staat hat ein wesentliches Interesse daran, daß der einzelne nicht durch völlige Kahlpfändung auf einen Grad der wirtschaftlichen Mittellosigkeit herabgedrückt wird, der ihm die Grundlagen geordneter Beschaffung seines Unterhalts zerstört" 10 . Eine grundrechtsorientierte Definition des Schutzzwecks vollstreckungsrechtlicher Normen im heutigen Sinne ist auch sonst nicht feststellbar 11. In der grundrechtslosen Zeit bis zum Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung hätte sich ein Einfluß grundrechtlicher Verbürgungen auf die Auslegung vollstreckungsrechtlicher Bestimmungen ohnehin nur über den Umweg von landesrechtlichen Vorläuferbestimmungen der CPO bemerkbar machen können 12 . Aber auch das hätte ein Verständnis vorausgesetzt, das den Grundrechten einen höheren Rang zugewiesen hätte, als dem sonstigen Gesetzesrecht; daran fehlte es aber gerade. Im Gegensatz zur Reichsverfassung von 1871 enthielt die Weimarer Reichsverfassung von 1919 in ihrem zweiten Teil einen umfangreichen Grundrechtskatalog. Wenn gleichwohl die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Zwangsvollstreckung, soweit ersichtlich, nicht gestellt wurde, so hatte das verschiedene Ursachen. Einmal blieb die Frage nach dem Vorrang der Verfassung gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht bis zum Ende der Weimarer Republik umstrittten 13 . Als wohl bedeutendster Gegner dieser Auffassung ist Anschütz zu nennen, der seine Lehre, die Verfassung sei ein Gesetz wie jedes andere und stünde damit zur Dis8

Vgl. Zippelius aaO.; siehe aber auch Jauernig § 31 I, S. 127. Hahn, Materialien zur CPO, S. 453 zu § 715 CPO; im gleichen Sinne auf S. 460 zu § 749 CPO. Hervorhebungen nicht im Original. 10 RGZ 72, 179 (183) — Hervorhebungen nicht in der Entscheidung. 11 Vgl. Hellmg/ Oertmann, 2. Teil, S. 182; Gaupp § 175 CPO Anm. 1; Falkmann/Mugdan, S. 673; aber auch R. Schmidt, S. 939 — Billigkeitsgründe und Rücksichten der Humanität. 12 Nachw. zu den landesrechtlichen Vorläuferbestimmungen der Pfandungsbeschränkungen der CPO bei Renaud § 168, S. 461 in Fn. 27 f. 13 Vgl. dazu Ipsen, S. 57 ff. m.w.N.; zum Vorrang der Verfassung allgemein Wahl in: Der Staat Bd. 20 (1981), 485 ff. 9

I. Überblick über die Entwicklungsgeschichte

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position des Gesetzgebers, auch für die Weimarer Reichsverfassung aufrechterhielt 14 . Mit diesem Streit im engen Zusammenhang stand die Frage, ob der Richter eine Überprüfung des einfachen Rechts anhand der Verfassung überhaupt vornehmen dürfe 15 . Ungeachtet dieses Meinungsstreits erkannte das Reichsgericht nach anfänglichen Andeutungen 16 schließlich im Jahre 1925 explizit ein Recht des Richters an, einfaches Gesetzesrecht auf seine Vereinbarkeit mit der Verfassung hin zu überprüfen und es bei einem etwaigen Verfassungsverstoß nicht anzuwenden17. Gleichwohl blieben viele Fragen bis zum Ende der Weimarer Republik ungeklärt, u.a. die nach dem Geltungsbereich der Grundrechte in zeitlicher Hinsicht 18 , was gerade für die meist 19 vor 1919 ergangenen vollstreckungsrechtlichen Bestimmungen von großer Bedeutung gewesen wäre. Auch war die Verfassungsgerichtsbarkeit der Weimarer Republik vergleichsweise schwach ausgeprägt 20. Der Staatsgerichtshof hatte keine Zuständigkeit für eine (abstrakte oder konkrete) Normenkontrolle und das Institut der Verfassungsbeschwerde, das in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht gerade zur Verfassungsmäßigkeit der Zwangsvollstreckung einen hervorragenden Raum einnimmt 21 , fehlte auf Reichsebene ebenfalls. Das alles führte dazu, daß den Grundrechten außerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit keine allzu große Bedeutung zukam 22 . Zusammenfassend läßt sich demnach festhalten, daß die Frage nach der Einwirkung der Grundrechte auf das Zwangsvollstreckungsrecht deshalb relativ neu ist, weil man in der Vergangenheit von einem anderen Grundrechtsverständnis ausging. Die moderne Auffassung von einer alle Rechtsgebiete durchdringenden, umfassenden Grundrechtsgeltung ist eine Erscheinung, die erst unter der Herrschaft des Grundgesetzes zur Entfaltung gekommen ist. Deshalb ist die Fragestellung nach dem Verhältnis von zivilprozessualem Vollstreckungsrecht und Grundrechten zwar modern, gleichwohl aber kein „Modethema" 23 . Ihre Notwendigkeit ist vielmehr historisch bedingt. Dabei wird die historische Ent14 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Nr. 4 zu Art. 70, S. 371; ders. schon in: Meyer/Anschütz, S. 743 f. 15 Vgl. Ipsen, S. 57 m.w.N. 16 RGZ 102, 161 (164); 107, 377 (399); siehe dazu auch die eingehende Rechtsprechungsanalyse von Bettermann in: FS für Broermann, S. 491 (429 ff.). 17 RGZ 111, 320(322 ff.). 18 Siehe dazu bei Hensel in: FS für das Reichsgericht, Bd. 1, S. 1 (11). 19 Vgl. aber zur Reformgesetzgebung während der Weimarer Republik Lippross, S. 50 ff. 20 Dazu ausfuhrlich Scheuner in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 1 (44 ff.) m.w.N. 21 Von den einschlägigen neueren Entscheidungen ergingen mit Ausnahme von BVerfGE 48, 396; 61, 126 alle aufgrund einer Verfassungsbeschwerde. 22 Scheuner in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 47, 61. 23 Siehe aber auch Stürner NJW 1979, 2334 (2338).

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

wicklung des Vollstreckungsschutzes, die zu einer fortlaufenden Humanisierung der Vollstreckung führte (Abschaffung der Schuldknechtschaft, Einschränkung der Personalexekution bis zum modernen Vollstreckungsschutz 24) nicht verkannt. Dennoch wäre eine Vorstellung verfehlt, die davon ausginge, daß sich diese Entwicklung unter der Herrschaft der Grundrechte vollzogen hätte. Die Charakterisierung als ein paralleles Nebeneinander ist hier eher angebracht. Zutreffend konstatiert deshalb Münzberg einen Wandel in der Auffassung bei der Interpretation des § 811 ZPO vom bloß negativ gefaßten Schuldnerschutz aus sozialpolitischer Zweckmäßigkeit hin zur Konkretisierung eines Verfassungsgebots25. Ob sich daraus Konsequenzen für die Interpretation vollstreckungsrechtlicher Bestimmungen ergeben, wird zu untersuchen sein. Nach Inkrafttreten des Grundgesetzes war es Pohle 26 als einer der ersten Zivilprozessualisten, der sich mit dem Einfluß der Grundrechte auf das Zwangsvollstreckungsrecht befaßte und diese als Auslegungsrichtlinie für das geltende Vollstreckungsrecht heranzog 27. 2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Von einem echten Nebeneinander kann dagegen in der Entwicklungsgeschichte der ZPO und der des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht gesprochen werden. Das mögen einige Beispiele zeigen. Bereits in der CPO von 1877 findet sich mit dem § 708 Abs. 2 CPO eine dem heutigen § 803 Abs. 2 ZPO entsprechende Vorschrift, nach der eine Vollstreckung zu unterbleiben hat, die im Ergebnis lediglich Kosten verursachen würde. Eine solche Vollstreckung vermag zur Befriedigung der Gläubigerforderung nichts beizutragen und ist damit völlig ungeeignet, ihren Zweck zu erfüllen. Damit ist von Beginn an eine konkrete Ausprägung des Grundsatzes der Geeignetheit in der Zivilprozeßordnung anzutreffen. Weiter heißt es in den Materialien zu § 779 CPO (heute § 894 ZPO), betreffend die Vollstreckung zur Abgabe einer Willenserklärung: „ . . . der Zwang zur Erklärung würde den Gläubiger nur aufhalten und den Schuldner ohne Noth belästigen"28. Die Anwendung von Zwangsmitteln, um den Schuldner zur Abgabe der von ihm geschuldeten Willenserklärung zu bewegen, ist also nicht notwendig; es gibt mit der Möglichkeit einer gesetzlichen Fiktion einen einfacheren, billigeren und mindestens gleich effektiven Weg, dieses Ziel zu erreichen. Nichts 24 Henckel, S. 357 f.; Jauernig § 311, S. 127; eingehend zur Geschichte des Schuldnerschutzes Lippross, S. 7—82. 25 Stein/Jonas/Münzberg § 811 Rdnr. 6. 26 Pohle in: Jonas/Pohle, insbes. S. 22, 32, 62. 27 Siehe zur Erörterung von Grundrechten im Rahmen des zivilprozessualen Erkenntnisverfahrens auch schon Habscheid ZZP 67 (1954), 188 (195 ff.). 28 Hahn, Materialien zur CPO, S. 466 — Hervorhebung nicht im Original.

I. Überblick über die Entwicklungsgeschichte

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anderes besagt aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seinem zweiten Element, dem Grundsatz der Erforderlichkeit. Schließlich fand mit der Novelle 1898 der heutige § 812 ZPO, betreffend die Pfändung von Hausrat, Eingang in die ZPO. Auch hier wieder geben die Materialien näheren Aufschluß über den Sinn dieser Vorschrift. Dort heißt es: „ . . . und es wird bei der Versteigerung häufig nur ein Erlös erzielt, dessen Geringfügigkeit außer allem Verhältnisse zu dem Werthe steht, den sie für den Schuldner haben. Wo eine solche Sachlage von vornherein offensichtlich ist, hat das Vollstreckungsverfahren nur eine zwecklose Verschleuderung der Gegenstände zur Folge, durch welche die Lage des Gläubigers nur wenig gebessert, die Lage des Schuldners aber schwer geschädigt wird" 2 9 . Deutlich wird hier das Interesse des Gläubigers an der Erfüllung seiner Forderung in ein Verhältnis zu dem Schaden für den Schuldner gesetzt. Der Zweck der Zwangsvollstreckung, die Befriedigung des Gläubigers, könnte zwar zum geringen Teil erreicht werden, jedoch mit einem Mittel, der Pfändung und Verwertung von Hausrat, das unangemessen ist, dieses Ziel zu erreichen. Nichts anderes besagt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. Diese Beispiele dürfen gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, daß man den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Vollstreckungsrecht — soweit feststellbar — nicht als allgemeingültiges Prinzip verstand. Als allgemeinen Grundsatz kannte ihn zunächst nur das Polizeirecht 30 und auch dort war zunächst sein Anwendungsbereich im wesentlichen auf den heutigen sachlichen Geltungsumfang des Grundsatzes der Erforderlichkeit beschränkt 31. Weitgehend ungeklärt war auch die Frage, ob es sich bei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit um ein übergesetzliches Prinzip handelte, wenngleich wir schon 1791/92 bei Svarez lesen, es handele sich dabei um einen „Grundsatz des öffentlichen Staatsrechts" 32 . Die Folgen für ein in seinem Sinne „ungerechtes" Polizeigesetz33 werden aber auch bei Svarez nicht aufgezeigt. Erst das Bundesverfassungsgericht maß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verfassungsrechtlichen Rang bei. Nach anfänglichen Andeutungen 34 heißt es im Jahre 1965 apodiktisch: „In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst..." 35 . 29 30 31 32 33 34 35

(134).

Hahn/Mugdan, Materialien zur Novelle 1898, S. 152. Siehe dazu v. Krauss, S. 3 ff.; Hirschberg, S. 2 ff. —jeweils m.w.N. Hirschberg, S. 2 ff. Svarez, S. 486 f. Svarez, S. 487. BVerfGE 2, 266 (280); 6, 389 (439). BVerfGE 19, 342 (348 f.); seither st. Rspr.: vgl. aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 61, 126

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§ 2 Zur greis. Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung 1. Ablehnende Auffassungen und ihre dogmatische Fundierung durch Henckel

Mit der Erhebung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf verfassungsrechtliche Ebene hatte das Bundesverfassungsgericht einen entscheidenden Schritt getan, denn damit wurde dieser zur „übergreifenden Leitregel allen staatlichen Handelns", wie es das Gericht in späteren Entscheidungen formulierte 1. Dies wurde namentlich von Forsthoff als die unzulässige Übernahme eines polizeilichen Instituts in das Verfassungsrecht scharf kritisiert, die es nunmehr jedem Richter gestatte, zwingendes Gesetzesrecht unter Berufung auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip außer Anwendung zu lassen2. Gleichwohl vermochte seine Kritik nichts daran zu ändern, daß sich die ganz herrschende verfassungsrechtliche Lehre der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts anschloß3. Nur konsequent erscheint es daher, wenn das Bundesverfassungsgericht die Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch für die staatliche Tätigkeit im Rahmen des Zwangsvollstreckungsrechts anerkannte 4. Dennoch finden sich in der zivilprozessualen Literatur gewichtige Stimmen, welche die prinzipielle Anwendbarkeit dieses Grundsatzes in der Zwangsvollstreckung verneinen. Nach der Auffassung Jauernigs paßt das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht für das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner in der Zwangsvollstreckung, in das sich der Staat nur „hineinschiebe", weil er dem Gläubiger Selbsthilfe verbiete und durch kostenträchtige Staatshilfe ersetze5. Ganz ähnlich meint Gerhardt unter Bezugnahme auf Jauernig 6, für eine Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes unter Abwägung der konkreten Gläubiger- und Schuldnerinteressen sei im Vollstreckungsrecht kein Raum. Es gehe hier insoweit um das „staatsdistanzierte horizontale Zusammenwirken der einzelnen Rechtsgenossen" und nicht um die vertikale Komponente zwischen Staat und Grundrechtsträger, welche u.a. auch unter dem Postulat der

1

BVerfGE 23, 127 (133); 38, 348 (368). Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 137 ff.; weniger kritisch ders. in: Lehrbuch des Verwaltungsrechts I, S. 70 f. 3 Herzog in: Maunz/Dürig Art. 20 V I I Rdnr. 71 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck Art. 1 Rdnr. 182; v. Münch in: v. Münch Vorb. 55, Art. 20 Anm. 27; Hesse Rdnr. 185, S. 73; Stern, Bd. 1, § 20 IV 7, S. 861 ff. 4 BVerfGE 51, 97 (113); 52, 214 (219 ff.); siehe auch BVerfGE 57, 346 (356). 5 Jauernig § 1 X, S. 8; § 8 I I 3, S. 38; im gleichen Sinne: § 24 III, S. 106; § 311, S. 127; vgl. auch schon das Vorwort zur 15. Aufl.; zustimmend Schumann NJW 1981, 1031. 6 Jauernig aaO. 2

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Prinzips

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Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stehe7. Beide Autoren machen nur insofern eine Ausnahme, als es um die Frage geht, ob das Gericht bei der Vollstreckung einer unvertretbaren Handlung nach § 888 Abs. 1 ZPO in der Wahl zwischen Zwangsgeld und Zwangshaft frei sei. Sie sehen die Verhängung von Zwangsgeld als vorrangig an, wenn dieses als ausreichende Beugemaßnahme erscheine. Die Annahme eines Stufenverhältnisses in diesem Fall versucht Gerhardt damit zu rechtfertigen, daß es dort nicht um die Realisierung bestehender Vermögenshaftung gehe, sondern um den Einsatz staatlicher Mittel zur Erreichung einer bestimmten Handlung bzw. Unterlassung, bei der die sonst die Zwangsvollstreckung beherrschende Gläubigerinitiative zurücktrete 8. Jauernig beruft sich dagegen ohne nähere Begründung auf Art. 2 Abs. 2, 19 Abs. 2 GG 9 . Die Auffassung, der Staat fungiere bei der zivüprozessualen Zwangsvollstreckung gewissermaßen als unbeteiligter Dritter, der dem Gläubiger lediglich zur Durchsetzung seines verbrieften Rechts zu verhelfen habe, findet sich bereits vor Erlaß der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit der Zwangsvollstreckung bei Gaul 10. Der Staat verfolge bei der Zwangsvollstreckung im Gegensatz etwa zum Strafprozeß keine eigenen staatlichen Zwecke, sondern handele in einer „neutralen Mittlerrolle". Das dogmatische Fundament für die geschüderten Ansichten hat Henckel bereitet, auf den sich Jauernig zur Unterstützung seiner Auffassung auch ausdrücklich beruft 11 . Henckel befaßt sich im sechsten Kapitel seines Buchs „Prozeßrecht und amterielles Recht" mit den Grundlagen des Vollstreckungsschutzes12. Henckel unterscheidet dabei zwischen solchen Vorschriften des Vollstreckungsrechts, die unmittelbar der Begrenzung des Einsatzes staatlicher Machtmittel dienen, und solchen Normen, die unmittelbar auf die Abgrenzung subjektiver Privatrechte gerichtet sind 13 . Unter die erste Kategorie faßt Henckel diejenigen Vorschriften, die eine gesetzliche Ermächtigung für den Eingriff in Grundrechte des Schuldners bieten; Henckel nennt dabei als Beispiele für betroffene Grundrechte des Schuldners dessen Eigentumsrecht (Art. 14 GG), sein Recht auf äußere Bewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) und das Recht auf Unverletzlichkeit seiner Wohnung (Art. 13 GG). Eingriffe in diese Grundrechte 7 Gerhardt ZZP 95, 467 (490) unter Hinweis auf Bethge NJW 1982,1 (3). Bethge gebraucht diesen Terminus aber in anderem Zusammenhang, ohne auf das Zwangsvollstreckungsrecht Bezug zu nehmen. 8 Gerhardt ZZP 95, 467 (484). 9 Jauernig § 27 I I I 1, S. 116; § 27 IV, S. 119. 10 Gaul JZ 1974, 279 (284 f.). 11 Jauernig § 31 I, S. 127. 12 Henckel, S. 349 ff. 13 Henckel, S. 350 ff.

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage seien in jedem Fall unzulässig, es bestünde bei diesen „absoluten Grenzen der Vollstreckungsgewalt des Staates" kein Raum für eine Abwägung von Schuldner- und Gläubigerinteressen 14. Thematisch angesprochen ist damit der Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes, der sich nach h.M. mittelbar aus Art. 20 Abs. 3 G G erschließen läßt 15 . Nach diesem Grundrecht bedürfen staatliche Organe, wenn sie hoheitlich handeln, hierzu einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Insofern erkennt Henckel den öffentlichrechtlichen Charakter der Zwangsvollstreckung also durchaus an. Anders verhält es sich dagegen bei jener zweiten Normenkategorie, die nach Henckel den Schutzbereich des Schuldners und das subjektive Recht des Gläubigers voneinander abgrenzt. Zu dieser zählt Henckel die Vorschriften des Vollstreckungsschutzes16. Die Voraussetzungen des Schuldnerschutzes seien an materiellrechtlichen Wertmaßstäben orientiert, denn im Gegensatz zu dem formalen Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung für einen staatlichen Eingriff (siehe oben), der dem Gläubiger noch nichts von seinem Recht nehme, seien die Vollstreckungsschutznormen geradezu darauf ausgerichtet, den Vollstreckungserfolg nicht eintreten zu lassen. Die Haftung des Schuldners könne nämlich nicht realisiert werden, wenn nur unpfändbare Gegenstände vorhanden seien17. Die Grenzen, die der Vollstreckungsschutz damit dem Gläubigerrecht setze, bildeten deshalb zugleich Grenzen der Rechtsausübung und damit Grenzen des subjektiven Gläubigerrechts selbst18. Diese These führt Henckel zu der Frage, warum dem Gläubiger durch die Vorschriften des Vollstreckungsschutzes bei der Durchsetzung seines Rechts Schranken gezogen sind. Diese sieht er im Schutz der Menschenwürde des Schuldners und nicht im öffentlichen Interesse begründet. Es gehe beim Vollstreckungsschutz nicht um den Schutz des sozial Schwächeren, denn dem Staat sei es verwehrt, auf Kosten des Gläubigers Sozialpolitik zu betreiben 19. Überschreite nun der Gläubiger die gesetzlichen Grenzen, die um der Menschenwürde des Schuldners gesetzt seien, so begehe er damit eine unzulässige Rechtsausübung. Die Normen des Vollstreckungsschutzes stellten deshalb Speziairegeln über die unzulässige Rechtsausübung dar 20 . Auf diese Weise lasse sich der Schuldnerschutz in das System des Privatrechts einordnen. 14 Henckel, S. 350; nur als zusätzliche absolute Grenze der Vollstreckungsgewalt, die durch die Grundrechte geboten ist, sieht Henckel, aaO. das Verbot der Vollstreckung am Sterbebett, im Trauerhaus und anläßlich einer Ordensverleihung oder das Verbot, ohne richterliche Erlaubnis zur Nachtzeit und an Sonn- und Feiertagen zu vollstrecken. 15 Hesse, Rdnr. 201, S. 78, Rdnr. 508, S. 196; Stern, Bd. 1, § 20IV 4, S. 802. Benda 'm: Handbuch des Verfassungsrechts, Teil 1, S. 491; Schnapp in: v. Münch Art. 20 Rdnr. 43; a.A. in der Begründung Herzog in: Maunz/Dürig Art. 20 IV Rdnr. 34, 64, 76 ff. 16 Henckel, S. 351 ff., 358, 368; vgl. zum Ganzen auch die Zusammenfassung auf S. 426 ff. 17 Henckel, S. 351 f. 18 Henckel, S. 356. 19 Henckel, S. 359 ff., 362. 20 Henckel, S. 362 ff., 368.

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Prinzips

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2. Stellungnahmen in der Literatur zu den lliesen Henckels

Henckels Thesen haben in der Literatur ein lebhaftes Echo ausgelöst. Soweit sich diese Stellungnahmen auf die Frage nach den Grundlagen des Vollstrekkungsschutzes beziehen, seien sie hier zunächst kurz wiedergegeben. a) Arens stimmt Henckel darin zu, daß die Vollstreckung nicht im öffentlichen Interesse, sondern zugunsten des Gläubigers erfolge. Auch könne man sicherlich — im Sinne der geschilderten Zweiteilung Henckels — einen Unterschied zwischen den Vorschriften des Zwangsvollstreckungsrechts sehen, die eine gesetzliche Ermächtigung zum Eingriff in die Grundrechte des Schuldners gäben, und jenen, die dem Schuldnerschutz dienten. Jedoch sei es nicht zwingend, Einbußen im Bereich des materiellen Rechts aufgrund prozessualer Ergebnisse nur mit materiellen Wertungen zu rechtfertigen. Auch würde dem Gedanken der unzulässigen Rechtsausübung etwas zuviel aufgebürdet, wenn man ihn zur Erklärung der beschränkten Vollstreckung, die kaum noch als Ausnahme bezeichnet werden könne, heranzöge 21. b) In dem zuletzt genannten Punkt trifft sich die Kritik von Arens mit der von Bötticher, der ebenfalls die Anwendung des Instituts der unzulässigen Rechtsausübung auf Ausnahmefälle beschränkt sieht22. c) Demgegenüber greift Münzberg bereits den Ausgangspunkt Henckels an. Die gesetzlichen Pfändungsverbote der §§ 811, 850 f. ZPO beruhten nicht auf privatrechtlichen Wertungen, sondern stellten sich als zwingende öffentlichrechtliche Schranken der staatlichen Vollstreckungsgewalt dar, die sich heute aus den Grundrechten der Art. 1 und 2 G G sowie aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20,28 GG) ergäben. Dabei sieht Münzberg im Gegensatz zu Henckel unmittelbar eine Parallele zwischen der staatlichen Schutz- und Fürsorgepflicht, der insbesondere das Bundessozialhilfegesetz nachkomme, und den Pfändungsverboten, die ebenfalls den Schutzgedanken des Sozialstaatsprinzips verwirklichten 23 . d) Lippross schließlich meint ebenfalls, der Vollstreckungsschutz beruhe nicht auf materiellrechtlichen Wertungen. I m Gegensatz zum materiellen Recht komme es bei der Pfändung von Gegenständen für die Gewährung von Vollstreckungsschutz nicht auf deren materiellrechtliche Zuordnung zum Schuldnervermögen, sondern auf deren tatsächliche Nutzung durch den Schuldner an. Darin liege ein grundlegender Unterschied zum materiellen Recht 24 . Auch sei die Differenzierung Henckels zwischen öffentlichrechtlichen absoluten Schranken und privatrechtlich bedingtem Vollstreckungsschutz nicht durchführbar 25 . In 21 22 23 24 25

Arens AcP 173, 250 (270 f.). Bötticher ZZP 85, 1 (4 f.). Stein/Jonas/Münzberg § 811 Rdnr. 1 ff., 8; § 850 Rdnr. 1. Lippross, S. 84 f. Lippross, S. 85 ff.

§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

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einer eingehenden historischen Analyse der Vollstreckungsschutzvorschriften gelangt Lippross weiter zu der Feststellung, daß Vollstreckungsschutz auch um der Wahrung öffentlicher Interessen und nicht nur um der Menschenwürde des Schuldners willen gewährt werde 26. Schließlich stimmt Lippross Arens und Bötticher darin zu, daß der Gedanke der unzulässigen Rechtsausübung überfrachtet werde, wenn man ihn als Grundlage des Vollstreckungsschutzes verstehe27. Gegen die Auffassung von Lippross hat Stürner eingewandt, daß im Rahmen des Vollstreckungsschutzes stärker das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner den Gegenstand einer Interessenabwägung bilde als das Verhältnis zwischen Staat und Bürger. Diese Interessenlage sei aber privatrechtstypisch und es frage sich deshalb, ob sich den Thesen Henckels nicht doch einiges abgewinnen lasse28. 3. Eigene Auffassung

Eine Einbeziehung der Thesen Henckels bei der Erörterung der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Vollstreckungsrecht könnte sich erübrigen, wenn Henckel bei der Frage nach der dogmatischen Einordnung des Vollstreckungsschutzes stehenbliebe. Welche Wertungen den Vorschriften des Vollstreckungsschutzes zugrunde liegen, kann zwar für die Auslegung von Vollstreckungsschutzbestimmungen von Bedeutung sein, betrifft aber jedenfalls nicht unmittelbar die Frage nach der grundsätzlichen Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Zwangsvollstreckung. Jedoch geht Henckel noch einen Schritt weiter. Seine These, den Vorschriften des Vollstreckungsschutzes lägen materiellrechtliche Wertungen zugrunde und dienten der Abgrenzung subjektiver Privatrechte, führt ihn zu einer Einordnung der Vollstreckungsschutzvorschriften in das Privatrecht. Das wird besonders an der Stelle deutlich, wo sich Henckel mit den inhaltlichen Wertungen des Vollstreckungsschutzes und dort mit den Grundrechten als Grenze der Rechtsausübung für den Gläubiger befaßt 29 . Hierzu führt Henckel aus, mit dem Rückgriff auf Grundrechte, insbesondere der Menschenwürde des Schuldners, werde kein Fremdkörper in das „Privatrecht" hineingetragen. Zwar gehe es im Vollstreckungsschutz nicht um das Verhältnis des Bürgers zum Staat, dem die Grundrechte in erster Linie gewidmet seien, sondern um die Abgrenzung subjektiver Privatrechte. Die Grundrechte könnten aber für die Ordnung „privatrechtlicher Beziehungen" in gleicher Weise Richtschnur sein, wie für staatliches Han26 27 28 29

Lippross, S. 94 f., 100 ff. Lippross, S. 109. Stürner ZZP 97, 501. Henckel, S. 357 ff.

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Prinzips

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dein. Konsequent spricht Henckel daher von einer „Drittwirkung" der Grundrechte zwischen Gläubiger und Schuldner 30 und läßt eine mögliche Grundrechtsbindung des Staates bei seiner hoheitlichen Tätigkeit im Rahmen der Zwangsvollstreckung außer Betracht, soweit es um Fragen des Vollstreckungsschutzes geht. Die Einordnung des Vollstreckungsschutzes in das Privatrecht könnte nun allerdings für die Frage nach dem Geltungsumfang des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung von Belang sein. Diese Ansicht trifft sich mit den am Anfang dieses Abschnitts wiedergegebenen Auffassungen, nach denen sich der Staat lediglich in das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner schiebt, um jenem zu seinem Recht zu verhelfen. Ganz i.S. Henckels wird hier das materiellrechtliche Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner in den Vordergrund gestellt, das sich in der Zwangsvollstreckung als sog. Vollstreckungsverhältnis fortsetzt 31. Auch zeigen sich zwischen beiden Auffassungen insofern Parallelen, als es bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips ebenso wie bei der Problematik des Vollstreckungsschutzes um Fragen der Begrenzung des Vollstreckungszugriffs geht. Im Unterschied zu Henckel rechnen die Autoren aber, die die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung prinzipiell verneinen, das Vollstreckungsrecht mit der ganz h.M. 3 2 insgesamt dem öffentlichen Recht zu 33 . Auch gehen Gerhardt 34 und Jauernig 35 davon aus, daß mit der Zwangsvollstreckung unmittelbar in Grundrechte des Schuldners eingegriffen wird. Beides zieht als Konsequenz aber an sich zwingend die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips nach sich 36 . Es ist jedoch einzuräumen, daß letztlich ausschlaggebend für die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung nicht die abstrakte Zuordnung des Vollstreckungsrechts zum öffentlichen oder zum privaten Recht sein kann; diese ist ohnehin oft genug fraglich. Weniger große Bedeutung räumt offenbar auch Rimmelspacher dieser Frage ein 37 . In Auseinandersetzung mit den Thesen Jauernigs geht zwar auch er von einem zivilrechtlichen Verständnis des 30

Vgl. zu der bloß mittelbaren Grundrechtswirkung, wie sie für das Privatrecht kennzeichnend ist: BVerfGE 7, 198 (205 ff.); 30, 173 (187 ff.); 32, 311 (316); 34, 269 (280); Hesse, Rdnr. 351 ff., S. 139 ff.; v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 1 Rdnr. 191 ff; v. Münch in: v. Münch Vorb. 28 ff. 31 Vgl. Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 12 ff, S. 11 f.; Gerhardt, Grundbegriffe, Rdnr. 22, S. 15. 32 RGZ 128, 85; 156, 395; Stein/Jonas /Münzberg vor § 704 Rdnr. 16; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann Einl. I I I 2 B; Zöller / Stöber ν or § 704 Rdnr. 1; a. Α. aber Larenz, AT, § 1 I a, S. 4 f.; gegen ihn Gaul Rpfleger 1971, 1 (2 in Fn. 3). 33 Jauernig § 8 I I 1 a, S. 36; § 18IV A, S. 77 f.; Gerhardt, Grundbegriffe, Rdnr. 9, S. 5; Gaul Rpfleger 1971, 1 ff. 34 Gerhardt ZZP 95, 467 (487 ff). 35 Jauernig § 17 II, S. 73; 22 IV 5, S. 100. 36 Siehe auch die Kritik von Lippross, S. 173 f. 37 Rimmelspacher ZZP 97, 355 (358).

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Verhältnisses von Gläubiger und Schuldner in der Zwangsvollstreckung aus. Rimmelspacher weist aber darauf hin, daß auch dem Zivilrecht der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht völlig fremd sei. Er nehme dort nur den Gläubiger im Verhältnis zum Schuldner weniger in Pflicht als den Staat. Anders als bei der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt müsse dem Gläubiger deshalb auch dann noch die Ausübung seines Rechts zugestanden werden, wenn Mittel und Zweck in einem eklatanten Mißverhältnis zueinander stünden. Die Vollstreckung sei deshalb auch dann noch zulässig, wenn die dabei entstehenden Kosten ein Vielfaches der Gläubigerforderung betragen sollten. Auch wenn hier zunächst offen bleiben mag, ob dieser Ansicht im Ergebnis zugestimmt werden kann, so hat doch Rimmelspacher den richtigen Weg zur Lösung des Problems gewiesen. Entscheidend für die Frage nachdem Geltungsumfang des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Zwangsvollstreckung sind die Ursachen, die zu einer unterschiedlichen Anwendungsdichte des Grundsatzes im öffentlichen und im privaten Recht führen. Dem Privatrecht ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip, wie Rimmelspacher zu Recht hervorhebt, keineswegs unbekannt 38 . So kann beispielsweise vor Ausspruch einer Kündigung oder eines Rücktritts eine Abmahnung erforderlich sein39, eine Vertragspartei muß sich u.U. mit einer Minderung, Nachbesserung oder Nachlieferung begnügen, anstatt die Wandelung zu erklären 40 , oder es kann u.U. nicht die Beseitigung eines Überbaus verlangt werden, wenn dies mit einem unverhältnismäßig großen und billigerweise nicht zumutbaren Aufwand verbunden wäre 41 . In diesen und ähnlichen Fällen werden Rechte ausgeübt, die einem Rechtssubjekt als Reaktion auf das Fehlverhalten eines Gegners im weiten Sinne eingeräumt worden sind 42 . Hier hat sich der Reagierende eines schonenden und angemessenen Mittels zu bedienen. Nicht dagegen gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allgemein dort, wo sich Rechtssubjekte im Privatrechtsverkehr freiverantwortlich begegnen, um etwa bei einem gegenseitigen Vertrag eine bestimmte Gegenleistung für eine bestimmte Leistung zu vereinbaren; hier 38 Vgl. MünchKomm/Zto/A § 242 Rdnr. 409 ff.; Sorgel/Knopp § 242 Rdnr. 258; Staudinger/Schmidt § 242 Rdnr. 683 ff.; Palandt/Heinrichs § 242 Anm. 4 Cd; und ausführlich Metzner, Das Verbot der Unverhältnismäßigkeit im Privatrecht; speziell zu der erforderlichen Güter- und Interessenabwägung Larenz in: FS für Klingmüller, S. 235 ff.; Hubmann AcP 155 85 ff.; siehe auch Henckel, S. 373 ff., der ebenfalls die Bedeutung der Zweck-Mittel-Relation für die Zulässigkeit der Rechtsverfolgung durch den Gläubiger hervorhebt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist uneinheitlich. Die Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Privatrecht wird verneint von BVerfGE 30,173(199), dagegen bejaht von BVerfGE 35, 202 (221). 39 BGH W M 1967, 457 (459). 40 RGZ 61, 92; 87, 337; 91, 110; RG JW 1905, 488 Nr. 8. 41 BGHZ 62, 388 (390); BGH W M 1977, 536 (537); W M 1979, 644 (647). 42 Staudinger/Schmidt § 242 Rdnr. 683 ff.

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Prinzips

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setzen andere Bestimmungen (z.B. § 138 BGB) äußerste Grenzen 43. Man kann daher nur von einer eingeschränkten Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Privatrechtsverkehr sprechen 44. Das wiederum hat seinen Grund darin, daß das Verhältnismäßigkeitsprinzip dort nicht in seiner geschichtlichen Funktion angesprochen ist, hoheitliche Eingriffe auf das notwendige und angemessene Mittel zu beschränken 45. Ähnlich verhält es sich bei den Grundrechten: Sie gewähren in ihrer klassischen Funktion subjektive Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, nicht jedoch nach h.M. direkte Abwehrrechte gegen den gleichgeordneten Privaten 46. Mit dem Beginn der Zwangsvollstreckung ist die Gleichordnung zwischen Gläubiger und Schuldner jedoch erheblich eingeschränkt. Die Zwangsvollstreckung geschieht nicht nur vornehmlich im Interesse des Gläubigers, sondern dieser beherrscht auch das Vollstreckungsverfahren, jedenfalls was deren Beginn und Ende anbelangt47. Die staatlichen Vollstreckungsorgane schieben sich also gerade nicht als unbeteiligte Dritte in ein gleichgeordnetes Rechtsverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, sondern werden auf Verlangen des Gläubigers aktiv zu dessen Gunsten tätig, wenn sie die Zwangsvollstreckung gegen den Schuldner betreiben. Diese Einschaltung des Staates zur Durchsetzung des Gläubigerrechts ist darüber hinaus zwingend notwendig, da dem Gläubiger aufgrund des staatlichen Zwangsmonopols grundsätzlich die Durchsetzung seiner Forderung im Wege der Selbsthilfe nicht gestattet ist 48 . Eben deshalb ist aber staatliche Tätigkeit zur zwangsweisen Rechtsdurchsetzung untrennbar an einen hoheitlichen Eingriff in die Rechte des Betroffenen gekoppelt 49 , denn nur aufgrund seiner Hoheitsgewalt ist der Staat — vertreten durch seine Vollstreckungsorgane — zu dem befugt, was dem Gläubiger verwehrt ist. Diesen Sachverhalt hat bereits Stein im Jahre 1913 in wenigen Worten präzise geschildert. Stein stellte fest, daß zwar Ausgangspunkt und Endpunkt der Zwangsvollstreckung auf dem Gebiet des Privatrechts lägen. Weiter heißt es 43 Staudinger/Schmidt § 242 Rdnr. 686; Metzner, S. 54 ff.; mit Recht weist auch Canaris ZHR 1979, 113 (122 ff.) zunächst auf den grundsätzlichen Vorrang der Privatautonomie hin, ehe er die dort behandelte Problematik unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit untersucht (Canaris ZHR 1979, 113 (128 ff.)). 44 Vgl. MünchKomm/Roth § 242 Rdnr. 79; Rimmelspacher ZZP 97, 355 (358). 45 Vgl. dazu schon oben § 2 I 2; der Gedanke des „rechten Maßes" hat freilich auch im Privatrecht eine lange Tradition — vgl. Wieacker in: FS für R. Fischer, S. 867 (874 ff.). 46 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 30. 47 Vgl. Arens, Zivilprozeßrecht, Rdnr. 503, S. 318; Baumann/Brehm § 3 I I I 2 b, S. 16; vor § 5, 2, S. 27; Schlosser Rdnr. 30, S. 22; Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 7, S. 6; Rdnr. 102, S. 62; Stürner ZZP 99, 291 (298). 48 Selbst dort, wo das Gesetz ausnahmsweise die Selbsthilfe gestattet (z.B. in den §§ 229 f., 561, 859 f. BGB), handelt es sich sachlich nicht um eine Zwangsvollstreckung (vgl. Rosenberg § 169 I 2, S. 880). 49 Zöller/Stöber vor § 704 Rdnr. 1; Stein/Jonas/Münzberg vor § 704 Rdnr. 16; Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 10, S. 7 f.; Gaul Rpfleger 1971, 1 f.

3 Weyland

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

dann: „Der Weg aber, der von dem zivilrechtlichen Ausgangspunkte zum zivilrechtlichen Erfolge führt, erhebt sich aus den Niederungen des Privatrechts in die hohe Sphäre staatlicher Rechtsausübung, wenngleich er sich am Schlüsse wieder zum Privatrecht hinabsenkt" 50 . Es läßt sich demnach feststellen, daß es etwas grundsätzlich anderes ist, ob sich zwei Rechtssubjekte im Privatrechtsverkehr frei verantwortlich begegnen oder ob zugunsten der einen Partei aufgrund staatlicher Hoheitsgewalt in Rechte der anderen Partei eingegriffen wird. Daher besteht auch ein Unterschied, ob der Gläubiger im Wege einer gedachten Selbsthilfe seinen Anspruch befriedigt oder ob der Staat diesen gerade wegen und aufgrund seiner hoheitlichen Befugnisse durchsetzt. Es fragt sich aber, ob die Vorstellung von einem „horizontalen Zusammenwirken der Rechtsgenossen" in der Zwangsvollstreckung, von dem sich der Staat distanziert 51 , nicht auf der Annahme einer gedanklichen Gleichsetzung von Rechtsdurchsetzung durch den Gläubiger und Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt beruht. Schon aus diesen Gründen muß man sagen, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in dem Umfang, in dem er im öffentlichen Recht Anwendung findet, nicht nur für die Beziehung des einzelnen zum Staat „paßt", sondern auch für die Dreiecksbeziehung zwischen Gläubiger, Staat und Schuldner 52. Ohne an dieser Stelle schon allzuviel vorwegnehmen zu wollen, sei hierzu noch auf folgendes hingewiesen: Die Grundkonstellation in der Zwangsvollstreckung, daß der Staat, um die Rechte des einen Bürgers (des Gläubigers) zu wahren, in Rechte des anderen Bürgers (des Schuldners) eingreift, ist kein Spezifikum des Vollstreckungsrechts, sondern findet sich auch sonst im öffentlichen Recht und nicht nur im Privatrecht 53 . Dieses Phänomen wird mit dem Begriff der „Grundrechtskollision" beschrieben 54. Es ist dadurch gekennzeichnet, daß sich zwar die Kollison zwischen den Grundrechten mehrerer Bürger ereignet; als Berechtigte und Verpflichtete aus den Grundrechten stehen sich aber nicht die Bürger untereinander, sondern Staat und Bürger gegenüber 55. Nur so ist es auch zu erklären, daß dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wohl allgemein eine wichtige Funktion bei der Auflösung von Grundrechtskollisonen zugesprochen wird 5 6 ; worin diese 50

Stein, Grundfragen der Zwangsvollstreckung, S. 6 f. Vgl. Gerhardt ZZP 95, 467 (490); siehe zu ähnlichen Formulierungen oben § 2 I I 1. 52 a. A. Jauernig § 1 X, S. 8; § 8 I I 3, S. 38; auch Stürner ZZP 97,501 mahnt zur Zurückhaltung bei der Annahme einer Grundrechtsverletzung, weil in der Zwangsvollstreckung stärker das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner als das zwischen Staat und Schuldner betroffen sei. 53 Siehe dazu insbesondere Bethge, S. 366 ff. 54 Kritisch zu diesem Terminus v. Mangoldt/Klein/Starck Art. 1 Rdnr. 201. 55 Rüfner in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, S. 453 (455). 56 Rüfner in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, S. 467; Wendt AöR 104 (1979), 414 (448 f., 452 f.); Lerche, S. 151 ff.; grunds. auch Bethge, S. 319; ähnlich Lepa DVB1 1972, 161 (167); siehe ferner BVerfGE 24, 119 (146); 35, 202 (225 f.). 51

II. Die grundsätzliche Anwendbarkeit des Prinzips

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im einzelnen besteht, wird sogleich näher zu erörtern sein. Das schließt freilich nicht aus, daß dort, wo eine Interessenabwägung zur inhaltlichen Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erforderlich ist, auch oder sogar vorrangig Interessen des Gläubigers und des Schuldners einander gegenübergestellt und zum Ausgleich gebracht werden. Nur ist es eben der Staat, der diese Abwägung vornimmt, und es ist vor allem der Staat — vertreten durch die Vollstreckungsorgane —, an den sich das Gebot zur Wahrung der Grundrechte und damit auch die Pflicht zur Achtung des Verhältnismäßigkeitsprinzips richtet. Deshalb liegt in der Betrachtung der Interessenlage zwischen Gläubiger und Schuldner alleine noch nicht zwingend eine Annäherung an das Privatrecht 57 . Nach alledem bleibt festzuhalten, daß die von Henckel dogmatisch fundierte Auffassung nicht zu überzeugen vermag, die in der Zwangsvollstreckung ein staatsdistanziertes horizontales Zusammenwirken von Gläubiger und Schuldner sieht. Sie steht zunächst im formalen Widerspruch zur Zuordnung des Vollstreckungsrechts zum öffentlichen Recht, wie sie auch von den Vertretern der genannten Auffassung vorgenommen wird. Entscheidend gegen sie sprechen aber die Gründe, die zu einer nur eingeschränkten Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Privatrecht im Unterschied zum öffentlichen Recht führen. Die frei verantwortliche Begegnung zweier Rechtssubjekte im Privatrecht, die auf dem Prinzip der Gleichordnung beruht, ist qualitativ verschieden von der Situation in der Zwangsvollstreckung, in welcher der Staat zugunsten des Gläubigers tätig wird, um diesem unter notwendigem Gebrauch seines hoheitlichen Instrumentariums zur Rechtsdurchsetzung zu verhelfen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz findet daher in der Zwangsvollstreckung allgemein Anwendung 58 .

57 a.A. wohl Stürner ZZP 97,501. Gegen die hier vertretene Lösung kann auch nicht vorgebracht werden, sie laufe darauf hinaus, den Staat wegen seiner Bindung an die Grundrechte (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) für verpflichtet zu halten, auch zwischen Subjekten des Privatrechts eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte erst herzustellen, sobald er deren Beziehungen zueinander regelt (zu dieser Gefahr Hesse Rdnr. 353, S. 141). Das wäre in der Tat unzulässig, denn damit würde auf einem Umweg den Grundrechten und in ihrem Gefolge auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eben doch eine Funktion für die horizontale Ebene zwischen Privatrechtssubjekten beigemessen, die ihnen dort nicht zukommt. Es bestehen jedoch Unterschiede zum Erkenntnisverfahren, soweit es um die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum Schutze des Schuldners im Vollstreckungsrecht geht. Während der Verfahrensgegenstand im Erkenntnisverfahren durch die Frage nach dem Bestehen oder Nichtbestehen subjektiver Privatrechte bestimmt wird und der streitentscheidende Richter deshalb von einer nur eingeschränkten, mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte ausgehen muß, soweit es um den Inhalt der Entscheidung und nicht um den Weg bis zur Entscheidung geht (vgl. Lorenz NJW 1979, 865 (869)), wird im Vollstreckungsverfahren über den Einsatz oder die Nichtausübung von staatlicher Hoheitsgewalt befunden. 58 So im Ergebnis auch: Arens in: Effektivität des Rechtsschutzes, S. 287 (295); Lippross, S. 174; Pawlowski ZZP 90, 345 (371); Baumbach/Lauterbach/Albers-Hartmann § 704 Anm. 4 Β b. Zöller /Stöber vor § 704 Rdnr. 28.

3*

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte 1. Die Grundrechtskollision als Regelfall in der Zwangsvollstreckung

Mit der grundsätzlichen Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Zwangsvollstreckung ist noch nicht die Frage nach seiner Bedeutung für das Vollstreckungsrecht beantwortet. Wie sogleich zu zeigen sein wird, muß dazu zunächst auf die Bezüge zwischen dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und den Grundrechten eingegangen werden. Dabei haben sich bereits bei der verfassungsrechtlichen Ableitung des Grundsatzes, wie sie das Bundesverfassungsgericht vornimmt, Parallelen zwischen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Grundrechten ergeben1. Dieser Zusammenhang wird speziell für die Zwangsvollstreckung noch dadurch verstärkt, daß der Konflikt zwischen dem Interesse des Gläubigers an der Durchsetzung seiner Forderung und dem Interesse des Schuldners, in der Zwangsvollstreckung möglichst schonend behandelt zu werden, gleichzeitig ein Grundrechtskonflikt ist 2 . Das hat seine Ursache darin, daß sowohl der titulierte Anspruch des Gläubigers als auch die Rechtsgüter des Schuldners grundrechtlich geschützt sind 3 . Der Annahme einer Kollision zwischen Grundrechten des Gläubigers und des Schuldners steht dabei nicht entgegen, daß dieser Konflikt überhaupt erst durch Einschaltung der Vollstreckungsorgane entstehen kann. Grundrechtskollisionen stellen sich fast nie in der Art dar, daß Grundrechte zweier Bürger unmittelbar aufeinander treffen 4. Dies geschieht gerade in der Zwangsvollstreckung erst dadurch, daß der Staat vollstreckend tätig wird, um die Grundrechte des einen Bürgers (des Gläubigers) auf Kosten des anderen Bürgers (des Schuldners) durchzusetzen. Weil deshalb in der Zwangsvollstreckung regelmäßig von einer Grundrechtskollision auszugehen ist, stellt sich nunmehr die Frage, nach welchen Grundsätzen diese aufzulösen ist, wer hierfür zuständig ist, und welche Rolle der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dabei spielt. Dazu müssen zunächst die wichtigsten der in der Zwangsvollstreckung auftretenden Grundrechtskollisionen aufgezeigt werden. Denn die grundrechtlichen Schranken, denen der Vollstreckungseingriff unterworfen ist, können nicht losgelöst vom spezifischen materiellen Gehalt des betroffenen Grundrechts untersucht werden. Erst wenn dieser jeweils ermittelt ist, kann die Frage nach den zulässigen Grundrechtsbegrenzungen gestellt werden 5. Dies leuchtet ohne weiteres ein, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es 1

Siehe oben § 2 I 2. Vgl. Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 11, S. 9; Gerhardt ZZP 95,467 (487); ders., Grundbegriffe, Rdnr. 9, S. 5 f.; sachüch gleichbedeutend Suhr NJW 1979, 145 (146). 3 Siehe dazu sogleich im Text. 4 Vgl. Rüfner in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, S. 453 (454 f.); Hesse Rdnr. 353, S. 151. 5 So deutlich BVerfGE 32, 54(72); Wendt AöR 104(1979),414(449f.,458);5^wrö//?/7mer /Rüthers, S. 256, 258; siehe auch Grabitz AöR 98 (1973), 568 (589 ff.). 2

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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z.B. etwas grundsätzlich anderes ist, ob in das verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsrecht (Art. 14 GG) eingegriffen wird, was bei der Geldvollstreckung nahezu regelmäßig der Fall ist, oder ob die Zwangsvollstreckung die Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) des Schuldners gefährden oder sogar seine Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) verletzen würde. Im folgenden wird daher zunächst die Grundrechtsintensität der Zwangsvollstreckung vom Schutzbereich der einzelnen Grundrechte her untersucht. Dabei bleiben zunächst die Umstände weitgehend außer Betracht, die zu einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips führen können, um statt dessen die grundsätzliche Wirkungsweise des Prinzips im Rahmen des jeweiligen grundrechtlichen Gewährleistungsbereichs darzustellen. 2. Die in der Zwangsvollstreckung betroffenen Grundrechte

a) Betroffene

Grundrechte des Gläubigers

(1) Die grundrechtliche Eigentumsgarantie in Art. 14 G G ist weiter zu verstehen als der zivilrechtliche Eigentumsbegriff (vgl. § 903 BGB). Nach allg. M. schützt Art. 14 G G nicht nur das Eigentum an einer Sache, sondern darüber hinaus jedes Vermögenswerte Privatrecht 6. Vom Schutzbereich des Art. 14 G G umfaßt sind daher auch Vermögenswerte Ansprüche des Gläubigers in der Zwangsvollstreckung. Wird daher z.B. die Vollstreckung von Geldforderungen durch Haftungsbeschränkungen auf Seiten des Schuldners behindert, dann ist damit das Eigentumsrecht des Gläubigers aus Art. 14 G G betroffen. M.a.W. führt dann die Haftungsbeschränkung beim Schuldner zu einer Eigentumsbeschränkung beim Gläubiger 7. (2) Werden dagegen nichtvermögensrechtliche Ansprüche vollstreckt, so kommt das (Auffang-)Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG zum Zuge. Für die Abgrenzung beider Grundrechtsgewährleistungen lassen sich die allgemeinen Regeln zur Unterscheidung von vermögensrechtlichen und nichtvermögensrechtlichen Ansprüchen fruchtbar machen. Danach kommt es darauf an, ob die geltend gemachten Ansprüche auf Geld oder Geldwert gerichtet sind oder jedenfalls wirtschaftliche Interessen den Rechtsstreit maßgeblich bestimmen8. Ganz im Sinne dieser Definition bestimmt auch das Bundesverfassungsgericht den Schutzbereich des Art. 14 GG. So sah das Gericht z.B. die vermögensrechtliche Seite des Urheberrechts durch die Eigentums6 BVerfGE 45,142 (179); siehe auch BVerfGE 58,300 (335); Papier in Maunz/Dürig Art. 14 Rdnr. 190; Kimminich in: Bonner Kommentar Art. 14 (Drittbearb.) Rdnr. 56; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 94 ff.; Bryde in: v. Münch Art. 14 Rdnr. 11 ff.; Hesse Rdnr. 444, S. 172. 7 Vgl. Suhr NJW 1979, 145 (146); Arens in: Effektivität des Rechtsschutzes, S. 287 (295). 8 Vgl. aus der neueren Rspr. etwa: BGH NJW 19812062; NJW 1985,978 (979); Stein/Jonas /Schumann § 1 Rdnr. 43 ff.; Zöller / Vollkommer § 1 Rdnr. 13 ff.; Baumbach/Lauterbach/ Albers/Hartmann Übers. § 1 Anm. 3 —jeweils m.w.N. und Differenzierungen im Einzelfall.

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

garantie geschützt, weil insofern die „wirtschaftliche Verwertung der geistigen Leistung" im Vordergrund stehe9. b) Betroffene

Grundrechte des Schuldners

aa) Grundrechtseingriffe im Zuge von Vollstreckungsmaßnahmen,die unmittelbar auf Befriedigung des titulierten Anspruchs abzielen Bei der Rechtsdurchsetzung mit Hilfe der staatlichen Vollstreckungsorgane trifft der grundrechtlich geschützte Anspruch des Gläubigers in unterschiedlicher Weise auf Grundrechte des Schuldners. Das ist zunächst dann der Fall, wenn Vollstreckungsmaßnahmen selbst unmittelbar auf die Befriedigung des titulierten Anspruchs gerichtet sind. (1) Zweifellos am häufigsten betroffen ist in dieser Hinsicht auch auf Seiten des Schuldners die Eigentumsgarantie in Art. 14 GG. Dies gilt wohl in fast jedem Fall für die Zwangsvollstreckung wegen Geldforderungen, in der stets auf Vermögenswerte Rechte des Schuldners und damit auf dessen Eigentum i.S.d. Art. 14 GG Zugriff genommen wird. Entgegen anderslautenden Stimmen 10 kann jedoch in der Zwangsvollstreckung keine Enteignung (Art. 14 Abs. 3 GG) liegen, auch wenn dem Schuldner u.U., wie z.B. im Wege der Versteigerung, endgültig Eigentum entzogen wird. In Ermangelung einer gesetzlichen Entschädigungsregelung (vgl. Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG) wäre anderenfalls die Rechtsmäßigkeit einer Vollstreckung, welche in Eigentumsrechte des Schuldners eingreift, zweifelhaft 11. Auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hat die Zwangsvollstreckung keinen enteignenden Charakter. Dieses Ergebnis wird unter Zugrundelegung der in ständiger Rechtsprechung vertretenen sog. Sonderopfertheorie 12 damit begründet, daß eine Enteignung nur dann vorliege, wenn einem Einzelnen im Interesse der Allgemeinheit ein Sonderopfer auferlegt werde. Dies sei nicht der Fall, obwohl die Zwangsvollstreckung auch im staatlichen Interesse liege. Auch gehe es bei der Enteignung im Gegensatz zur Zwangsvollstreckung, bei der sich nur die durch den Vollstreckungstitel genau bezeichneten Personen gegenüberständen, in der Regel nur um den Erhalt der Leistung an sich; dagegen komme es grundsätzlich nicht auf die Person des Leistungsverpflichteten an. Auch daran zeige sich, daß die gesetzmäßige Vollstreckung eines gerichtlich festgestellten 9

BVerfGE 31, 229 (239). Lühe ZZP 67, 356 (363 in Fn. 41); Fenge, S. 67 f. mit der Einschränkung, daß man das Vorliegen einer Enteignung nach der sog. Einzelakttheorie bestimmt. 11 Siehe zur Rechtswidrigkeit einer Enteignung ohne gesetzliche Entschädigungsregelung BVerfGE 52, 1 (27 f.); 58, 300 (324). 12 Seit BGHZ 6, 270 (280); siehe aus neuerer Zeit etwa BGHZ 72, 211. 10

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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Individualanspruchs niemals Enteignung sein könne 13 . Diese Aussagen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß die Zwangsvollstreckung eben kein hoheitliches Ersatzgeschäft zur Beschaffung bestimmter für einen öffentlichen Zweck erforderlicher Gegenstände ist 14 . Daraus darf allerdings nicht geschlossen werden, daß Eingriffe in das grundrechtlich geschützte Eigentum schrankenlos zulässig sind. Vielmehr handelt es sich bei den vollstreckungsrechtlichen Vorschriften, die den Bestand der Vermögenswerten Gegenstände des Schuldners der Vollstreckung unterwerfen und damit den Eigentümerbefugnissen des Schuldners Grenzen ziehen, um Inhalts- und Schrankenbestimmungen i.S.d. Art. 14 Abs. 1 S. 2 G G 1 5 . Diese müssen sich am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips messen lassen16. Zusätzlich unterstrichen wird die Bedeutung der Eigentumsgarantie in Rechtsprechung 17 und Literatur 18 dadurch, daß immer wieder auf den inneren Zusammenhang zwischen Eigentumsgarantie und persönlicher Freiheit hingewiesen wird. Danach kommt Art. 14 G G die Aufgabe zu, dem Grundrechtsträger einen Freiheitsraum im vermögensrechtlichen Bereich zu gewährleisten und ihm damit die Entfaltung und eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens zu ermöglichen. Die These von der freiheitssichernden Bedeutung der Eigentumsgarantie im vermögensrechtlichen Bereich ist vom Bundesverfassungsgericht auf die Zwangsversteigerung nach dem Z V G übertragen worden 19 ; dabei hat das Gericht aus Art. 14 G G Anforderungen an die Ausgestaltung des Vollstreckungsverfahrens abgeleitet, um eine Verschleuderung von Grundvermögen zu verhüten 20. Diese Argumentation ist im Vollstreckungsrecht allerdings nicht unproblematisch. Insbesondere ist die Grundrechtskollision zwischen den Eigentumsrechten des Gläubigers und des Schuldners im Auge zu behalten. Demzufolge gehen mit der Erhaltung von Freiheiten im vermögensrechtlichen Bereich zugunsten des Schuldners Eigentumsbeschränkungen zu Lasten des Gläubigers notwendig einher. Die Freiheitsbetätigung des Schuldners geht daher letztlich auf Kosten des Gläubigers, wenn diesem dadurch die Durchsetzung seines Rechts erschwert oder sogar unmöglich gemacht wird. Wo hier im einzelnen die Grenzen verlau13 BGHZ 32, 240 (244 f.); bestätigt in BGH BB 1967,941; siehe auch schon BGH NJW 1959, 1985; Stein/Jonas /Münzberg vor § 704 Rdnr. 143; Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 9, S. 7; Suhr NJW 1979, 145 (146). 14 Vgl. Hesse Rdnr. 450, S. 174. 15 Siehe auch Alisch, S. 30 ff. 16 BVerfGE 21, 150 (155); 50, 290 (341); 52, 1 (29 f.); 53,257(292); 58, 137 (150);Pterin: Maunz/Dürig Art. 14 Rdnr. 258 ff.; Bryde in: v. Münch Art. 14 Rdnr. 60 ff. m.w.N. 17 BVerfGE 14, 288 (293); 24, 367 (389); 30,292 (334); 31,229 (239); 50, 290 (339) und auch BGHZ 6, 270 (276). 18 W. Weber in: Die Grundrechte II, S. 353; Dürig in: FS für Apelt, S. 13 (27 f.); Hesse Rdnr. 442, S. 171; siehe auch Papier in: Maunz/Dürig Art. 14 Rdnr. 2. 19 BVerfGE 42, 68 (76 f.); 46, 326 (334), siehe auch BVerfGE 49, 220 (225). 20 Zur Einwirkung der Grundrechte auf die Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens siehe unten § 6.

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fen, wird vor allem bei der Behandlung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S. noch zu erörtern sein. (2) Weniger häufig stellt sich das Problem, ob Vollstreckungsmaßnahmen in die durch Art. 12 Abs. 1 G G geschützte Berufs- und Gewerbefreiheit 21 des Schuldners eingreifen können. Die Fragestellung ist jedoch für die Untersuchung von Bedeutung, weil insbesondere die Zerstörung von Einkommensgrundlagen des Schuldners eine besonders schwerwiegende Folge darstellt, die im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes von Relevanz sein kann. Wäre hier Art. 12 Abs. 1 G G einschlägig, so müßte sich die Zwangsvollstreckung an den besonderen Beschränkungsvorbehalten dieses Grundrechts messen lassen22. Die Berufsfreiheit des Schuldners könnte zunächst dann betroffen sein, wenn die Zwangsvollstreckung mittelbar zu einem Verlust der Erwerbstätigkeit führt. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn der Schuldner aufgrund von zahlreichen Lohnpfändungen seinen Arbeitsplatz durch Kündigung des Arbeitgebers verliert. Das Bundesarbeitsgericht hat hier zwar gefordert, daß zusätzliche näher beschriebene Umstände vorliegen müßten, damit eine Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt sei 23 . Sind diese aber erfüllt, dann steht einer ordentlichen Kündigung nichts im Wege. Auch macht das OLG Düsseldorf mit Recht darauf aufmerksam, daß sich Lohnpfändungen nachteilig auswirken können, wenn der Arbeitgeber im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen Arbeitskräfte entläßt 24 . Im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 G G sind diese Sachverhalte jedoch trotz ihrer Beziehung zur Berufstätigkeit des Schuldners wohl kaum von verfassungsrechtlicher Relevanz. Zum einen ist die Zwangsvollstreckung nicht darauf angelegt, die berufliche Existenz des Schuldners zu zerstören. Zwar ist für die Annahme einer Grundrechtsbeeinträchtigung nicht unbedingt Voraussetzung, daß zielgerichtet in den Schutzbereich eines Grundrechts eingegriffen wird 2 5 . Auch hat das Bundesverfassungsgericht Vorschriften am Maßstab des Art. 12 Abs. 1 G G gemessen, die infolge ihrer tatsächlichen Auswirkungen geeignet waren, die Berufsfreiheit zu beeinträchtigen 26. Gefordert wird aber, daß die Bestimmungen 21

Art. 12 GG schützt auch die Gewerbefreiheit (vgl. BVerfGE 30,292 (312) m.w.N.; 50,290 (363)). 22 Das Bundesverfassungsgericht vertritt in ständiger Rechtsprechung die sog. Drei-StufenTheorie, nach der an einen Eingriff in Art. 12 GG unterschiedlich hohe Anforderungen gestellt werden, je nachdem, ob es sich bloß um eine Beschränkung der Berufsausübung handelt oder ob mit einer Regelung subjektive oder sogar objektive Berufszulassungsvoraussetzungen aufgestellt werden (seit BVerfGE 7, 377 (405 ff.); aus neuerer Zeit etwa: BVerfGE 59,302 (316); 69, 209 (218)). 23 Vgl. BAG AP Nr. 4 zu § 1 KSchG; siehe dazu nunmehr eingehend Reetz, S. 69 ff. mit zahlreichen Nachweisen. 24 OLG Düsseldorf M DR 1977, 147. 25 Siehe dazu: Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte; Bleckmann, S. 270 ff. 26 BVerfGE 13, 181 (185 f.); 16, 147 (162); 46, 120 (137); 61, 291 (308).

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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zumindest in einem engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs stehen und objektiv eine berufsregelnde Tendenz aufweisen 27. Beides ist bei den vollstreckungsrechtlichen Vorschriften offensichtlich nicht der Fall. Zum anderen greift auch der vollstreckungsrechtliche Einzelakt selbst nicht in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 G G ein. Dieser weist zwar zur Berufsausübung des Schuldners eine größere Nähe auf als die Pfändungsvorschriften aufgrund deren er erfolgt. Jedoch löst in den geschilderten Sachverhalten letztlich nicht das Vollstreckungsorgan das Arbeitsverhältnis des Schuldners, sondern vielmehr der Arbeitgeber durch Aussprache der Kündigung, und zwar aufgrund eines eigenen Willensentschlusses, auf welchen die Vollstreckungsorgane keinen Einfluß haben. Es handelt sich deshalb hier um eine im Rahmen des Art. 12 Abs. 1 G G unbeachtliche bloße Reflexwirkung 28 der Zwangsvollstreckung. Anders könnten die Dinge dagegen liegen, wenn dem Schuldner unmittelbar durch Maßnahmen der Zwangsvollstreckung die Fortführung seines Berufs oder seines Gewerbes unmöglich gemacht wird. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn der einzige Lastwagen eines Transportunternehmers 29 oder Maschinen des Schuldners, die dieser zur Fortführung seines Betriebes benötigt, gepfändet und versteigert werden. Überwiegt in diesen und ähnlichen Fällen die Ausnutzung der Sach- und Kapitalmittel die persönliche Leistung des Schuldners, so kommt nach allg. M. die Schuldnerschutzvorschrift des § 811 Nr. 5 ZPO nicht zum Zuge 30 . Der Schuldner ist hier also nicht vor einem Verlust der Gegenstände geschützt, die er zur Fortsetzung seiner Erwerbstätigkeit braucht. Hier ist der Verlust der beruflichen Existenz die notwendige und unmittelbare Folge der Zwangsvollstreckung. Deshalb kann auch nicht, wie bei den zuvor behandelten Sachverhalten, von einer bloßen Reflexwirkung der Vollstreckung gesprochen werden, die außerhalb des Schutzbereiches von Art. 12 Abs. 1 G G läge. Aber auch wenn dem Schuldner die Ausübung seines Berufs auf diese Weise u.U. für die Zukunft unmöglich gemacht wird, so ist doch festzustellen, daß die Zwangsvollstreckung in diesem Fall mehr in „die Innehabung und Verwendung vorhandener Vermögensgüter" eingreift; dagegen geht es weniger um einen Eingriff in die „individuelle Erwerbs- und Leistungsfähigkeit" des Schuldners 31. Beeinträchtigt aber ein Akt öffentlicher Gewalt primär das Erworbene, also das Ergebnis der Betätigung, und weniger die Betätigung selbst, dann ist Art. 14 G G und nicht Art. 12 Abs. 1 GG betroffen 32. Die Zwangsvollstreckung trifft den 27

BVerfGE 13, 181 (186); 16, 147 (162); 22, 380 (384); 52, 42 (54). Siehe dazu Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen im Bereich der Grundrechte, S. 13 ff., 109 ff. 29 Vgl. OLG Neustadt NJW 1951, 80; Henckel, S. 380. 30 Stein/Jonas/Münzberg § 811 Rdnr. 42 f.; Wieczorek § 811 Anm. J; Zöller/Stöber § 811 Rdnr. 25 f.; Baumbach/Lauterbauch/Albers/Hartmann § 811 Anm. 8 A —jeweils m.w.N. 31 Zitate aus BVerfGE 30, 292 (335). 32 BVerfGE 30, 292 (335); 38, 61 (102); 65, 237 (248); kritisch zu dieser Unterscheidung: 28

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Schuldner in seiner Eigenschaft als Eigentümer bestimmter Gegenstände, nicht aber in seiner Eigenschaft als Unternehmer oder sonst beruflich Tätigen. Sie richtet sich gegen ihn, weil er mit seinem Vermögen für die Forderung des Gläubigers einzustehen hat, nicht aber, um ihm dadurch die Ausübung seines Berufs unmöglich zu machen. Das rechtfertigt die Annahme, im Bereich der Zwangsvollstreckung Art. 12 Abs. 1 G G generell durch Art. 14 G G als verdrängt anzusehen. Die Frage, wie Art. 12 Abs. 1 G G zulässigerweise beschränkt werden darf, stellt sich daher nicht mehr. Jedoch wird im Hinblick auf die besonders einschneidenden Folgen der Zwangsvollstreckung für den Schuldner zu überlegen sein, ob in den geschilderten Fällen ein Ausgleich von Gläubiger- und Schuldnerinteressen nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz möglich ist 33 . bb) Grundrechtseingriffe im Zuge von Vollstreckungsmaßnahmen, die nur mittelbar auf die Befriedigung des titulierten Anspruchs gerichtet sind (1) Grundrechte des Schuldners können nicht nur, wie in den meisten der bisher behandelten Fälle durch Maßnahmen betroffen sein, die selbst unmittelbar der Gläubigerbefriedigung dienen. Darüber hinaus können sich Grundrechtseingriffe auch auf dem Weg bis zum eigentlichen Vollstreckungsakt als nötig erweisen. Diese Notwendigkeit zeigt sich regelmäßig dann, wenn der Gerichtsvollzieher zur Pfändung beweglicher Sachen gegen den Willen des Schuldners 34 in dessen Wohnung eindringen will. Seit dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 3.4.197935 ist für die Vollstreckungspraxis verbindlich (vgl. 31 Abs. 1 BVerfGG) 36 festgestellt, daß aufgrund des Art. 13 Abs. 2 G G auch für Wohnraumdurchsuchungen des Gerichtsvollziehers zum Zwecke der Mobiliarpfändung (§ 758 ZPO) außer bei Gefahr im Verzug eine richterliche Durchsuchungsanordnung erforderlich ist 37 . Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht auch gefordert, daß die Einschaltung des Richters keine bloße Scholz in: Maunz/Dürig Art. 14 Rdnr. 138 ff.; Leisner JZ 1972, 33 (35 f.). Z.T. läßt das Bundesverfassungsgericht die Abgrenzungsproblematik zwischen Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 14 GG auch offen (z.B. in: BVerfGE 50, 290 (365); 34, 252 (257)). 33 Siehe dazu unten § 5 I I 3 b bb. 34 Art. 13 Abs. 2 GG stellt bei Einwilligung des Schuldners keine besonderen Anforderungen (vgl. LG Köln DGVZ 1979, 183; Zöller / Stob er § 758 Rdnr. 20, Bischof ZIP 1983, 522 (528)). 35 BVerfGE 51, 97 (105 ff.); bestätigt in BVerfGE 57, 346 (354 ff.); vgl. zum Streitstand bis dahin Kühne, Grundrechtlicher Wohnungsschutz und Vollstreckungsdurchsuchungen. 36 Siehe zur erweiterten Bindungswirkung bundesverfassungsgerichtlicher Entscheidungen Schiaich 6. Teil I I 2, S. 203 ff. 37 Angesichts der Bindungswirkung der Entscheidungen für die Vollstreckungspraxis nach § 31 Abs. 1 BVerfGG erscheint eine Diskussion über deren grundsätzliche Berechtigung müßig (vgl. E. Schneider NJW 1980,2277 (2278); Peters in: FS für Baur, S. 549). Siehe aber auch Seip DGVZ 1980, 60 f., 82 ff., der eine Änderung des Grundgesetzes fordert; kritisch auch Thomas/ Putzo § 758 Anm. 1 b („unpraktikable Übertreibung der Rechtsstaatsidee").

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Formsache sein dürfe. Der Richter habe vielmehr neben den formellen und materiellen Vollstreckungsvoraussetzungen zu prüfen, ob die Anordnung der Durchsuchung gegen den Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts findet die Zwangsvollstreckung also auch hier wiederum ihre Grenzen im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Das Recht des Schuldners, in seinen Wohnräumen „in Ruhe gelassen zu werden" 38 , tritt bei der Auflösung der Grundrechtskollision mit dem grundrechtlich geschützten Gläubigerrecht daher nicht immer zurück. Wann der grundrechtliche Wohnungsschutz zugunsten des Schuldners überwiegt, hat das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht abschließend entschieden. In den Entscheidungsgründen sind lediglich zwei Beispiele genannt. Danach soll eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zum einen in Betracht kommen bei einer Wohnungsdurchsuchung trotz Krankheit des Schuldners oder eines Familienangehörigen und zum anderen bei der Vollstreckung wegen einer Bagatellforderung 39. Hierauf wird im einzelnen später zurückzukommen sein40. (2) Nicht nur im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung nach § 758 ZPO sind u.U. Grundrechtseingriffe auf dem Weg bis zur eigentlichen Gläubigerbefriedigung erforderlich. Gleiches gilt z.B. auch für die Vollstreckung von unvertretbaren Handlungen nach § 888 ZPO (siehe auch §§ 889 Abs. 2, 888 ZPO) und für die zwangsweise Erwirkung einer eidesstattlichen Versicherung nach § 901 ZPO, wenn der Schuldner zu ihrer Abgabe aufgrund der §§ 807, 883 Abs. 2 ZPO verpflichtet ist. In den genannten Fällen sieht das Gesetz Eingriffe in die persönliche Freiheit des Schuldners als Vollstreckungsmittel vor, damit die Gläubigerforderung auf diesem Umweg durch Einwirkung auf den Willen des Schuldners befriedigt wird. Dabei dient die zwangsweise Erwirkung einer eidesstattlichen Versicherung nach den §§ 807, 883 Abs. 2 ZPO selbst nur der Sachaufklärung und bereitet damit mögliche weitere Zwangsvollstreckungsmaßnahmen vor. Darüber hinaus kann die persönliche Freiheit des Schuldners auch aufgrund des § 890 ZPO zur Erzwingung von Unterlassungen und Duldungen eingeschränkt werden. Im Unterschied zu den zuvor genannten Zwangsmaßnahmen hat die Ordnungshaft in diesem Fall nach h.M. aber auch einen strafähnlichen, repressiven Charakter 41 . Eingriffe in die persönliche Freiheit müssen den in Art. 2 Abs. 2 S. 2,104 G G niedergelegten grundrechtlichen Anforderungen genügen. Obwohl die einschlä38

Vgl. BVerfGE 27, 1 (6); 32, 54 (75); 51, 97 (107). BVerfGE 51, 97 (113); 57, 346 (356). 40 Siehe dazu unten § 5 I 3. 41 BVerfGE 20,323 (331) zu § 890 ZPO a.F. und BVerfGE 58,159 (162 f.) zu § 890 ZPO n.F.; BGH NJW 1983, 1859 (1860); Stein/Jonas/Münzberg, 19. Aufl., § 890 Anm. I; Zöller/Stöber § 890 Rdnr. 5; Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 693, S. 277; Göhler NJW 1974,825 (826); Brehm NJW 1976, 1730 (1731); ders. NJW 1975, 249 (250 f.); a.A.: Baumbach /Lauter bach/Albers/ Hartmann § 890 Anm. 2 B; Pastor, S. 7 ff. — jeweils m.w.N. zu den vertretenen Ansichten. 39

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gige verfassungsrechtliche Rechtsprechung insofern überwiegend zu anderen Verfahrensgesetzen und hier vor allem zum Strafprozeßrecht ergangen ist 42 , kann man doch allgemein sagen, daß dem Grundrecht der persönlichen Freiheit nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ein hoher Rang zukommt, der einer strikten Prüfung am Maßstab des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterliegt 43 . In seiner bislang letzten Entscheidung zum Verhältnis von verfassungs- und zivüprozessualem Zwangsvollstreckungsrecht 44 hat das Gericht aber dennoch die Verfassungsmäßigkeit des § 901 ZPO bestätigt, wenngleich in einem der beiden Vorlagebeschlüsse, die zu der Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 G G führten, ein Fall zugrunde lag, bei dem es lediglich um eine relativ geringfügige Forderung ging. Ob man hierin — entgegen der Ansicht des Bundesverfassungsgerichts — einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. hätte sehen können, wird zu erörtern sein.

cc) Grundrechtsbeeinträchtigungen als atypische, ungewollte Begleiterscheinungen der Vollstreckung (1) Bislang war in erster Linie von solchen Grundrechtseingriffen die Rede, die entweder im unmittelbaren Zusammenhang mit der Befriedigung der Gläubigerforderung stehen oder doch wenigstens eine notwendige, gesetzlich vorgesehene Vorstufe auf dem Weg bis zur Erfüllung des titulierten Anspruchs bilden. Daneben existiert eine dritte Gruppe von Fällen, in denen der Grundrechtseingriff mit dem eigentlichen Zweck jeder Vollstreckung, der Gläubigerbefriedigung, nur wenig oder überhaupt nichts zu tun hat. Hierzu zählen Grundrechtsbeeinträchtigungen, die als unbeabsichtigte Begleiterscheinungen der Zwangsvollstreckung auftreten und zu denen auch keine gesetzliche Grundlage ermächtigt. Auch solche Fälle können in der Vollstreckungspraxis vorkommen, wie der in Fall 3 der Einleitung wiedergegebene Sachverhalt zeigt 45 . Der Schaden, der dort für Leben und Gesundheit des Schuldners (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zu befürchten stand, hätte nur eine ungewollte, gesetzlich nicht vorgesehene Nebenfolge der beabsichtigten Zwangsvollstreckung dargestellt. 42 Siehe in erster Linie die Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit der Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO), die sich überwiegend auch mit der eingriffsbegrenzenden Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes befassen (BVerfGE 19, 342 (347 ff.); 20, 45 (49 ff.); 20, 144 (147 ff.); 21, 184 (187 ff.); 21,220 (222 f.); 21,223 (225 ff.); 22,180 (219 f.); 35,185 (188 ff.); 53, 152 (158 ff.); siehe dazu: Degener, S. 143 f.; Niemöller/Schuppert AöR 107 (1982), 387 (489 ff.) — jeweils m.w.N.). Wegen der Besonderheiten des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens (Gebot einer effizienten Strafverfolgung im Widerstreit zur Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten, Berücksichtigung des zu erwartenden Strafmaßes für die Dauer der Untersuchungshaft etc.) lassen sich die dort getroffenen Aussagen nur sehr bedingt auf die Problematik im Rahmen der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung übertragen. 43 Vgl. BVerfGE 22, 180 (219 f.); 45, 187 (223); 53, 152 (158). 44 BVerfGE 61, 126 (133 ff.). 45 Vgl. BVerfGE 52, 214 ff.

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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Fälle, in denen die Gesundheit oder sogar das Leben des Schuldners auf dem Spiel stehen, werden in der Literatur allerdings unterschiedlich beurteilt. Um nicht sachlich Zusammenhängendes unnötig zu trennen, sei schon an dieser Stelle hierauf näher eingegangen. Wieser will nach der Schwere der zu erwartenden gesundheitlichen Schäden differenzieren. Danach sollen der Tod und eine schwere Verletzung der menschlichen Gesundheit stets die Annahme rechtfertigen, daß die Zwangsvollstreckung unverhältnismäßig (i.e.S.) sei, weshalb sie in diesem Fall stets zu unterbleiben habe. Hierzu rechnet Wieser auch die Gefahr eines Suizids, zu deren Nachweis er das Vorliegen eines amtsärztlichen Zeugnisses verlangt 46 . Dagegen soll eine mögliche UnVerhältnismäßigkeit der Vollstreckungsmaßnahme nicht zu berücksichtigen sein, wenn nur geschätzt werden könne, ob die Gesundheitsbeeinträchtigung schwerer wiege als das berechtigte Interesse des Gläubigers an der beitreibbaren Leistung. Das sei bei Gesundheitsverletzungen leichterer Art stets der Fall. Weil aber bei einer Schätzung die Rechtssicherheit beeinträchtigt werde und außerdem die Gefahr bestehe, daß gleiche Fälle ungleich behandelt würden, worunter wiederum die Gerechtigkeit leide, sei eine Schätzung nicht durchführbar. Unverhältnismäßige Vollstreckungsschäden, die der Schuldner durch freiwillige Erfüllung seiner Pflicht abwenden könne, müßten daher eher hingenommen werden als die unabwendbaren Nachteile einer Schätzung47. Wiesers Lösung schafft jedoch nur auf den ersten Blick Klarheit und Rechtssicherheit. Dadurch, daß leichte Gesundheitsverletzungen wegen der bestehenden Unsicherheiten im Ergebnis stets unberücksichtigt bleiben, schwere Gesundheitsschäden dagegen immer zur UnVerhältnismäßigkeit der Vollstreckung führen sollen, kommt alles auf die Frage an, wann eine schwere und wann nur eine leichte Gesundheitsverletzung vorliegt. Während sich dies noch von Fall zu Fall entscheiden ließe, worunter dann aber die von Wieser beschworene Rechtssicherheit und Gerechtigkeit leiden würde, ist darüber hinaus problematisch, wie sich die von ihm vorgeschlagene Differenzierung im voraus praktizieren läßt. Zu den begrifflichen Abgrenzungsschwierigkeiten kommen dann solche bei der Einschätzung der zu erwartenden Vollstreckungsintensität hinzu. In diesem Dilemma empfiehlt es sich u.U., je nach der Schwere der zu befürchtenden Gefahr für die Gesundheit des Schuldners, Abstufungen im Beweismaß vorzunehmen. Andeutungen in diese Richtung finden sich auch bei Wieser an anderer Stelle48. Möglicherweise könnte dann eine Abwägung zwischen Gläubigerinteressen einerseits und Intensität und Gefährdungsgrad der Vollstreckung für den Schuldner andererseits zu einigermaßen befriedigenden 46

Wieser ZZP 98, 50 (61). Wieser ZZP 98, 50 (73 f.); siehe zu Wiesers allgemeinem Ansatz zur Bestimmung des Verhältnismäßigkeitsprinzips i.e.S. auch unten § 5 I 4. 48 Wieser ZZP 98, 50 (61). 47

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Lösungen führen. Aber auch hiergegen lassen sich abweichende Auffassungen anführen. Lippross meint, nur außergewöhnliche Umstände, insbesondere eine existentielle Gefährdung des Schuldners oder seiner Angehörigen, könnten als sittenwidrige Härte im Rahmen des § 765 a ZPO Berücksichtigung finden. Aber auch insofern macht Lippross Einschränkungen. Bei einer Suizidgefahr sei eine Abwägung zwischen vermögensrechtlichem Anspruch einerseits und Lebensgefährdung andererseits ungenügend. Es müsse auch berücksichtigt werden, daß die Drohung mit Selbstmord ein „sittlich anstößiges Verhalten des Vollstreckungsschuldners" darstelle. Dieser Vorwurf entfalle nur, wenn die Suizidgefährdung auf einer ernsthaften psychischen Erkrankung beruhe. Hier gibt Lippross jedoch u.a. den erheblichen Zeit- und Kostenaufwand bei der Sachverhaltsfeststellung zu bedenken49. Damit sind jedoch die Argumente für eine Güterabwägung nicht widerlegt. Eine solche findet, wie noch zu zeigen sein wird, meist gar nicht statt, wenn die Selbstmorddrohung i.S.v. Lippross ein „sittlich anstößiges Verhalten" des Schuldners darstellen würde; denn darunter fallen hauptsächlich die Fälle, in denen es dem Schuldner ausschließlich darauf ankommt, die Vollstreckung zu vereiteln. Ist der Schuldner dagegen wirklich ernsthaft selbstmordgefährdet, dann müssen angesichts des höchsten Rechtsguts Leben alle Einwände, wie die eines erheblichen Zeit- und Kostenaufwandes, scheitern. Einwände grundsätzlicher Natur gegen eine Güterabwägung hat Gerhardt erhoben. Im Hinblick auf eine drohende Suizidgefahr verlangt Gerhardt eine nahezu völlige Sicherheit. Für eine Abwägung zwischen Eigentum und Leben sei dann kein Raum. Dagegen sei es nicht möglich, „qua Wahrscheinlichkeit" die Intensität der Gefahr gegen die Beeinträchtigung des festgestellten Gläubigerrechts abzuwägen. Das werde deutlich, wenn man die Selbstmordmöglichkeit zu einer entsprechenden Sicherheit verdichte. Dann sei auf jeden Fall Vollstreckungsschutz zu gewähren und es komme keinesfalls auf Inhalt, Art und Umfang des Gläubigerrechts an 50 . Noch strenger fällt die Stellungnahme von Stürner aus. Stürner spricht Gerhardts Argumentation, das menschliche Leben könne niemals gegen Eigentum abgewogen werden, die stringente Schlüssigkeit ab und stellt dabei als Beispiel dem suizidbedrohten Mieter den ebenfalls suizidbedrohten Vermieter oder Mitmieter gegenüber, der unter der Anwesenheit des Mieters gesundheitlich leidet 51 . Hiergegen ist jedoch einzuwenden, daß eine Grundregel nicht ihre grundsätzliche Aussagekraft verliert, nur weil sie in besonders gelagerten Einzelfällen 52 49

Lippross, S. 145 f. Gerhardt ZZP 95, 467 (488). 51 Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 11, S. 10. 52 Siehe dazu auch den von Spiecker NJW 1984,852 mitgeteilten Beschluß des LG München v. 15.4.1983 — 14 Τ 4630/83. 50

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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Durchbrechungen erfahren kann. Die Argumentation Gerhardts vermag aber aus anderen Gründen nicht zu überzeugen, denn sie gibt ohne Not eine differenzierende Lösung preis 53. Aus der zutreffenden Erkenntnis, daß eine Abwägung bei einer nahezu völligen Sicherheit des Todes auszuscheiden hat, kann nicht zwingend der Umkehrschluß gezogen werden, daß eine Abwägung bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit unzulässig sei. Denn wenn die Belange des Schuldners in eindeutiger Weise überwiegen, weil dessen Tod für den Fall der Zwangsvollstreckung mit nahezu völliger Sicherheit vorausgesagt werden kann, muß dies nicht umgekehrt auch für die Belange des Gläubigers gelten, wenn aus der Sicherheit eine „bloße" Wahrscheinlichkeit wird. Es hat sich gezeigt, daß letztlich keine der vertretenen Lösungen vollends zu überzeugen vermag. Dabei liegt den geschilderten Auffassungen das durchaus berechtigte Anliegen zugrunde, dem Schuldner keine ungerechtfertigten Druckmittel gegen die Zwangsvollstreckung in die Hand zu geben. Dieser Absicht läßt sich jedoch am besten durch eine Lösung Rechnung tragen, die von Fall zu Fall unterscheidet. Dabei muß zunächst geklärt werden, welche Gesundheitsbeeinträchtigungen überhaupt zugunsten des Schuldners Berücksichtigung finden können. Hält man im Rahmen des Art. 2 Abs. 2 S. 1 G G auch solche nichtkörperlichen Eingriffe für relevant, die das Befinden einer Person in einer Weise verändern, die der Zufügung von Schmerzen entspricht 54 , dann können hierunter z.B. auch heftige Erregungen aus Anlaß der Zwangsvollstreckung fallen. Daß solche Grundrechtsbeeinträchtigungen aber grundsätzlich ohne Einfluß auf die Rechtmäßigkeit der Vollstreckung sind, läßt sich bereits aus dem bisher Gesagten entnehmen. Es hat sich nämlich gezeigt, daß sich Grundrechtseingriffe auch auf dem Weg bis zur eigentlichen Gläubigerbefriedigung als notwendig erweisen können und deshalb auch bewußt in Kauf genommen werden, ohne daß darin gleich auch eine Grundrechtsm7e/zwwg gesehen werden müßte. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt hier lediglich Grenzen, ohne dabei aber die grundsätzliche Zulässigkeit von Grundrechtseinschränkungen in Frage zu stellen. Hierzu zählen auch alle Störungen des gesundheitlichen Wohlbefindens in dem genannten Sinne, die auftreten können, ohne dabei jedoch ungewöhnlich zu sein. Solche Eingriffe halten sich bedenkenlos im Rahmen der zulässigen Grundrechtsbegrenzung nach Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG. Anders kann es dagegen bei jener im vorliegenden Zusammenhang behandelten Fallkonstellation liegen, bei der sich der Grundrechtseingriff als atypische, nicht gewollte Begleiterscheinung der Zwangsvollstreckung darstellt. 53 Die Auffassung von Gerhardt läßt sich im übrigen aus seiner ablehnenden Stellungnahme zur Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in der Zwangsvollstreckung erklären. Hierauf wurde bereits eingegangen (siehe oben § 2 II). 54 So BVerfGE 56, 54 (75); zustimmend v. Münch in: v. Münch Art. 2 Rdnr. 54; siehe zu den vertretenen Meinungen auch v. Mangoldt/Klein/Starck Art. 2 Rdnr. 130.

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

Hier spricht bereits der Grundrechtseingriff an sich zugunsten des Schuldners 55, denn die Befriedigung des Gläubigeranspruchs wird mit dem Preis der Rechtsgüter des Schuldners „erkauft", deren Beschränkung oder Aufopferung weder gesetzlich vorgesehen ist noch als notwendiges Durchgangsstadium der Vollstreckung in Kauf genommen werden könnte. Dann aber kann u.U. schon alleine der Eingriff in Grundrechte des Schuldners ausreichen, um die Vollstreckungsmaßnahme zu einer unangemessenen oder unverhältnismäßigen werden zu lassen. Darin liegt der entscheidende Unterschied zu den bisher erörterten Konfliktlagen, in denen sich die Aufopferung von grundrechtlich geschützten Rechtspositionen des Schuldners zugunsten des Gläubigers sozusagen als der vollstreckungsrechtliche Normalfall erwies 56. Nicht gelöst ist damit aber das Problem, wann in einem solchen Fall von einer unangemessenen Benachteiligung des Schuldners gesprochen werden kann. Dies ist eine Frage der Abwägung von Gläubiger- und Schuldnerbelangen, die immer dann zur inhaltlichen Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips i.e.S. dient, wenn — wie hier — besondere Härten für den Schuldner durch die Zwangsvollstreckung zu befürchten sind 57 . Allgemein wird man danach sagen können, daß die Interessen des Gläubigers an der zwangsweisen Durchsetzung seines Rechts um so größer sein müssen, je intensiver die Vollstreckung ungewollt in Rechtsgüter des Schuldners eingreift und je gewichtiger diese sind. Dabei können auch Art und Inhalt des festgestellten Gläubigerrechts eine Rolle spielen58. Daher wird die Gefahr einer schwereren Gesundheitsverletzung eher in Kauf genommen werden müssen, wenn z.B. ein Unterhaltsgläubiger vollstreckt, für den die Durchsetzung seines Rechts existentielle Bedeutung haben kann 59 . Auch kann zuungunsten des Schuldners sprechen, daß es ihm möglich ist, der Gefahr einer Gesundheitsverletzung auszuweichen60. Schließlich kann ein Ausgleich darin gefunden werden, daß die Vollstreckung nur kurzfristig eingestellt wird. Dies wird vor allem dann in Betracht kommen, wenn bloß vorübergehend mit Schäden für den Schuldner gerechnet werden muß. Damit alleine wäre die Abwägung jedoch unvollkommen. Einbezogen werden müssen vielmehr ebenso die Unsicherheiten bei der Prognose über den zu erwartenden Schaden. Solange dieser nicht entstanden ist, kann dessen Eintritt und Umfang nur mit mehr oder weniger großer Wahrscheinlichkeit 55 Auch nach der h.A. im Strafprozeßrecht müssen die unbeabsichtigten Nebenfolgen zugunsten des Betroffenen voll berücksichtigt werden (vgl. Degener, S. 70 m.w.N.). 56 Siehe dazu ausführlicher unten § 2 I I I 3 b. 57 Siehe dazu im einzelnen unten § 5 I I 1. 58 a.A. Gerhardt ZZP 95, 467 (488). 59 Die besondere Schutzwürdigkeit des Unterhaltsgläubigers wird auch vom Gesetz z.B. in den §§ 850 d, 850 i ZPO anerkannt. 60 Vgl. LG Hannover DGVZ 1985,171. Das Gericht hielt es hier dem Schuldner für zumutbar, die Gefahrdung seiner erkrankten aber nicht bettlägerigen Ehefrau dadurch abzuwenden, daß er sie für die Dauer der Vollstreckungshandlung aus der Wohnung verbrächte.

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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vorausgesagt werden. Bis dahin kann nur von einer Grundrechtsgefährdung gesprochen werden, die nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts im allgemeinen noch im Vorfeld verfassungsrechtlich relevanter Grundrechtsbeeinträchtigungen liegt. Jedoch kann nach dieser Auffassung unter besonderen Umständen eine Grundrechtsgefährdung einer Grundrechtsverletzung gleich zu erachten sein, wenn ernsthaft zu befürchten steht, daß ein von einer Maßnahme Betroffener sein Leben verliert oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nimmt 6 1 . Eine absolute Grenze, bei der diese Grundrechtsgefährdung keinesfalls mehr hinnehmbar sei, liege Jedenfalls nicht unerheblich unterhalb der Prognose eines mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu bestimmenden Kausalverlaufs" 62. Diese Aussagen gehen davon aus, daß trotz Ausschöpfung aller vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten 63 (z.B. Gutachten behandelnder Ärzte; amtsärztliches Zeugnis) nicht unwesentliche Zweifel am Schadenseintritt zurückbleiben können. Die Gesundheit und vor allem das Leben als höchstes Rechtsgut sind jedoch von so entscheidender Wichtigkeit, daß sie stets besondere Beachtung verdienen und ab einer gewissen Gefahrenschwelle absolut überwiegen. Andererseits muß aber auch die bloße nicht auszuschließende Möglichkeit einer gesundheitlichen Schädigung gänzlich außer Betracht bleiben64. Ansonsten würde dem Schuldner die Chance eröffnet, mit der bloßen Drohung, sich im Falle der Vollstreckung das Leben zu nehmen, die Vollstreckung zu vereiteln. Besondere Vorsicht ist deshalb etwa bei der Annahme einer ernsthaften Selbstmordgefahr am Platze, wenn den Ankündigungen des Schuldners keine krankhaften Depressionen vorausgegangen sind. Zwischen diesen beiden Polen liegt der eigentliche Abwägungsbereich, in dem je nach Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und den oben beispielhaft genannten Abwägungskriterien entweder die Belange des Gläubigers oder die des Schuldners überwiegen können. Genauere Aussagen lassen sich hier nicht treffen, denn insofern kommt es wesentlich auf die Umstände des Einzelfalls an 6 4 3 .

61 BVerfGE 51, 324 (346) — zum Strafprozeß; siehe auch BVerfGE 49, 89 (141 f.); 52,203 (220 f.). 62 BVerfGE 51, 324 (349). 63 Das Bundesverfassungsgericht hat aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG eine Pflicht der Vollstreckungsorgane abgeleitet, alle Erkenntnismöglichkeiten auszuschöpfen und Beweisangeboten des Schuldners nachzugehen (BVerfGE 52,214 (220 ff.)). Hierauf wird an anderer Stelle bei der Behandlung der verfahrensrechtlichen Wirkung der Grundrechte näher eingegangen (siehe unten § 6). 64 Vgl. BVerfGE 51, 324 (348). 643 Wie diese Methode im Einzelfall praktiziert werden kann, zeigt neuerdings das LG Arnsberg DGVZ 1986, 170. Das Gericht begnügt sich dort nicht damit, die Ernsthaftigkeit der Selbstmordabsichten des Schuldners darzustellen, sondern stellt auch die Interessenlage auf Seiten des Gläubigers in Rechnung. Im konkreten Fall berücksichtigte das Gericht zu Lasten des Gläubigers, daß er die Ursachen für die schließlich eingetretene Entwicklung kannte.

4 Weyland

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

(2) Zu der hier erörterten Fallgruppe können ferner Verletzungen der Menschenwürde zählen (Art. 1 Abs. 1 GG). Auch diese werden häufig nur eine gesetzlich nicht vorgesehene, atypische Nebenfolge darstellen. Freilich trägt das Gesetz weitgehend Vorsorge, damit Verletzungen der Menschenwürde vermieden werden 65. Vor allem die Pfändungsschutzvorschriften in den §§ 811, 850 ff. ZPO garantieren dem Schuldner das durch Art. 1 Abs. 1 G G verfassungsrechtlich gewährleistete 66 Existenzminimum 67 . Wenig praxisrelevant sind ferner die häufig zitierten Beispiele, daß Vollstreckungsakte am Sterbebett 68, im Trauerhaus69 oder anläßlich von Ordensverleihungen oder sonstigen Ehrungen 70 wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde zu unterbleiben haben, obwohl vergleichbare Fälle in der Rechtsprechung hin und wieder entscheiden werden 71. Etwas eingehender soll dagegen der Frage nachgegangen werden, ob die Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeichnis (§915 ZPO; sog. „schwarze Liste") nach Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung (§ 807 ZPO; § 284 AO) oder nach Anordnung eines Haftbefehls (§ 901 ZPO) bedenklich sein kann. In neuerer Zeit wird in diesem Zusammenhang von einer wirtschaftlichen Diskriminierung bzw. Diffamierung des Schuldners gesprochen, denn dieser werde auch dann in das Schuldnerverzeichnis eingetragen, wenn er seine Vermögensverhältnisse freiwillig offenbart und damit seine Mitwirkungsbereitschaft dokumentiert habe72. Wäre dieser Vorwurf berechtigt, so könnte hierin ein Verstoß gegen die Menschenwürde liegen73. Allerdings beruht die genannte Auffassung offenbar auf Schutzwürdigkeitsüberlegungen. Denn anderenfalls ließe sich nicht erklären, warum gerade der kooperationswillige Schuldner sonst im Unterschied zu demjenigen Schuldner, der die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung verweigert, diffamiert werden 65

Vgl. Vollkommer Rpfleger 1982, 1 (2). Diirig in: Maunz/Dürig Art. 1 Rdnr. 43; Zippelius in: Bonner Kommentar (Zweitbearb.) Rdnr. 17; v. Münch in: v. Münch Art. 1 Rdnr. 32; v. Mangoldt/Klein/Starck Art. 1 Rdnr. 24, 119; Benda in: Handbuch des Verfassungsrechts, Teil 1, S. 115. 67 Siehe dazu auch schon oben § 2 I 1. 68 Jonas/Pohle § 765 a Anm. 4 c, S. 36. 69 Jonas/Pohle § 765 a Anm. 4 a, S. 34. 70 Henckel, S. 350. 71 Siehe z.B. AG Groß-Gerau Rpfleger 1983,407 betr. die Räumung eines Altenpflegeheims während der Nachtzeit; siehe auch: A G Groß-Gerau DGVZ 1984, 29; A G Bad Schwalbach DGVZ 1984, 61, bestätigt von LG Wiesbaden DGVZ 1984, 119. 72 Behr Kritische Justiz 1980, 156 (167); siehe auch ders. Rpfleger 1981, 417 (422); Vollkommer Rpfleger 1982, 1 (2). Daneben wird z.T. eine wirtschaftliche Diskriminierung des Schuldners darin gesehen, daß der Versteigerungsvermerk bei der Immobiliarvollstreckung (vgl. §§ 19, 34 ZVG) auch nach seiner Löschung für immer auffindbar bleibe (Schiffhauer Rpfleger 1978,397 (404 f.); ders. ZIP 1981, 832 (834); Vollkommer Rpfleger 1982, 1 (2). 73 Vgl. Vollkommer Rpfleger 1982, 1 (2); siehe zum Schutz des Individuums vor Diskriminierung und Diffamierung durch Art. 1 Abs. 1 GG allgemein auch: BayVerfGH BayVBl 1982, 47 (50); BayVBl 1982, 365 (367) — jeweils m.w.N. 66

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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sollte. Solche Überlegungen werden aber dem Schutzzweck des § 915 ZPO nicht gerecht. Die Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeichnis dient nach wohl allg. M. vornehmlich der Sicherheit des Rechtsverkehrs vor künftigem rechtsgeschäftlichem Kontakt mit dem vermögenslosen Schuldner 74. Sie hat demnach keinen Strafcharakter 75, obwohl ihre nachteiligen Auswirkungen insbesondere für die Kreditwürdigkeit des Schuldners von ganz erheblicher Bedeutung sind 76 . Ebensowenig kann deshalb umgekehrt die Verschonung des Schuldners von der Eintragung in das Verzeichnis eine Belohnung für gefügiges Verhalten darstellen. Insofern können deshalb die geschilderten verfassungsrechtlichen Bedenken nicht geteilt werden. Der Anknüpfungspunkt für eine verfassungsrechtliche Beurteilung ist dagegen ein anderer. Es muß die Frage gestellt werden, ob und inwieweit eben jener Zweck des § 915 ZPO, den Rechtsverkehr vor einem rechtsgeschäftlichen Kontakt mit dem Schuldner zu schützen, die Beeinträchtigung von Grundrechten des Schuldners gebietet. Abweichend von den bisher behandelten Fällen liegt insofern keine Kollision mit Grundrechten des Gläubigers vor. Denn die Eintragung in das Schuldnerverzeichnis ist kein Akt der Zwangsvollstreckung, was sich schon daran zeigt, daß sie von Amts wegen vorgenommen wird 7 7 . Das Interesse des Gläubigers an der Aufklärung der Vermögenslage seines Schuldners ist mit der Abgabe der eidesstattlichen Versicherung nach § 807 ZPO befriedigt. Exkurs: Das unbeschränkte Recht auf Einsicht in das Schuldnerverzeichnis aus grundrechtlicher Sicht

Sucht man einen Ansatz für die verfassungsrechtliche Überprüfung des § 915 ZPO, dann steht die Eintragung des Schuldners in das Schuldnerverzeichnis, wie sich bisher schon gezeigt hat, nicht so sehr im Vordergrund 78 . Der Schutz der Menschenwürde verbietet zwar dem Staat, den Schuldner gleichsam als ein bloßes Objekt zu behandeln und ihn in seiner ganzen Persönlichkeit zu registrieren und zu katalogisieren 79. Das geschieht durch die Eintragung in das Schuldnerverzeichnis jedoch nicht, wenngleich mit den Vermögensverhältnissen des Schuldners ein wichtiger Teil seiner Persönlichkeitssphäre registriert wird. Denn ein umfassendes Persönlichkeitsbild wird mit der Eintragung nicht erstellt.

74

Zöller/Stöber § 915 Rdnr. 1; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 915 Anm. 4; Jonas/Pohle Vorbem. § 807 I I 1 b, S. 51; Lent NJW 1959, 178; Lorenz NJW 1962, 144; und schon Hahn/Mugdan, Materialien zur Novelle 1898, S. 170. 75 Jonas/Pohle Vorbem. § 807 I I lb, S. 51. 76 Vgl. Gilleßen DGVZ 1981, 161 (163). 77 Jonas/Pohle Vorbem. § 807 I I 1 b, S. 51; Lent NJW 1959, 178. 78 Siehe auch Polizius DGVZ 1982, 97 (99). 79 BVerfGE 27, 1 (6); Pestalozza NJW 1983, 729. 4*

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

Verfassungsrechtlich 80 bedenklich ist jedoch, daß nach § 915 Abs. 3 ZPO jedermann über das Bestehen oder Nichtbestehen einer bestimmten Eintragung Auskunft zu erteilen ist und hierfür nicht der Nachweis eines berechtigten Interesses vorgeschrieben wird 8 1 . Hierin könnte ein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Schuldners liegen (Art. 2 Abs. 1 GGi.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). Dieses schützt nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts jedermann vor unbegrenzter Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten. Dieses Recht, vom Bundesverfassungsgericht als Recht auf „informationelle Selbstbestimmung" bezeichnet, gewährleistet die Befugnis des einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Dabei sind jedoch grundsätzlich Beschränkungen im überwiegenden Allgemeininteresse hinzunehmen. Diese haben aber ihrerseits wiederum dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu genügen82. Legt man diese Anforderungen zugrunde, dann läßt sich das unbeschränkte Einsichtsrecht in das Schuldnerverzeichnis wohl kaum rechtfertigen. Zwar dient die Einsichtnahme dem Schutz der Allgemeinheit vor rechtsgeschäftlichem Umgang mit dem Schuldner. Weiter reicht ihr Zweck und damit das Interesse der Allgemeinheit an den persönlichen Daten des Schuldners aber nicht. Daher kann auch nur ein berechtigtes Interesse an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Schuldners ein Recht auf Einsichtnahme begründen. Anderenfalls muß dem Einsicht Begehrenden der Einblick in das Schuldnerverzeichnis verwehrt bleiben. Demgegenüber wird zwar gesagt, daß die Möglichkeit eines Einsichtsrechts für jedermann über den geschilderten Schutzzweck hinaus auch einen zusätzlichen „Anreiz" für den Schuldner bilden solle, seine Schuld zu begleichen83. Diese Auffassung ist jedoch abzulehnen. Anderenfalls müßte in der Eintragung in das Schuldnerverzeichnis doch wieder eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung gesehen werden, was sie jedoch nicht ist (siehe oben) 84 . Es bleibt also dabei, daß ein Recht auf Einsicht nur für denjenigen besteht, der ein

80 Ein anderes Problem, welches hier nicht weiter vertieft werden soll, ist das, wie das unbeschränkte Einsichtsrecht mit dem geltenden Datenschutzrecht und hier insbes. mit dem Bundesdatenschutzgesetz in Einklang zu bringen ist (siehe dazu Luke NJW 1983, 1407 (1408 f.), der auch de lege ferenda eine Beschränkung des Einsichtsrechts nicht befürwortet; siehe zu dem Problemkreis auch L G Bonn ZIP 1984, 182). 81 Vgl. Stein/Jonas/Münzberg, 19. Aufl., § 915 Anm. I I I ; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann § 915 Anm. 3; Zöller/Stöber § 915 Rdnr. 12; Frohn RpflJB 1982, 343 (360); OLG München NJW 1982, 244 (245). 82 BVerfGE 65, 1 (43 f.) — „Volkszählung"; siehe dazu Simitis NJW 1984, 398 (399 ff.); Krause JuS 1984,268 und die Nachweise bei Gola NJW 1985,1196 (1197) in den Fußnoten 17, 18, 19 und 22. 81 OLG München NJW 1982, 244 (245); zustimmend Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann § 915 Anm. 3. 84 So auch Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 815 Anm. 4A im Widerspruch zu der in Anm. 3A vertretenen Auffassung.

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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berechtigtes Interesse nachweisen kann. § 915 Abs. 3 ZPO ist dahingehend verfassungskonform zu interpretieren 85. Darüber hinaus könnte daran gedacht werden, das Vorliegen eines berechtigten Interesses auf Seiten des Einsicht begehrenden Gläubigers von dem Umfang des vom Schuldner beabsichtigten Geschäfts abhängig zu machen86. Eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips wird man unter diesem Aspekt allerdings nur in Ausnahmefällen annehmen können. Anderenfalls wäre der Schutz des Rechtsverkehrs vor rechtsgeschäftlichem Kontakt mit dem zahlungsunfähigen Schuldner, den § 915 ZPO bezweckt, nur noch unvollkommen gewährleistet. Außerdem könnte dann der Schuldner die Möglichkeit zur Einsicht in das Schuldnerverzeichnis dadurch ausschließen, daß er sich statt um den Abschluß eines größeren Geschäfts um eine Vielzahl von Verträgen mit geringerem Volumen bemüht, die er aber insgesamt aufgrund seiner Zahlungsunfähigkeit nicht zu erfüllen vermag. 3. Allgemeine Grundsätze zur Auflösung von Grundrechtskollisionen in der Zwangsvollstreckung

a) Die Nichtübertragbarkeit des Prinzips praktischer Konkordanz auf das Vollstreckungsrecht Im voranstehenden Abschnitt hat sich gezeigt, daß mit der zwangsweisen Durchsetzung des grundrechtlich verankerten titulierten Gläubigerrechts in unterschiedlicher Weise und Intensität in Grundrechte des Schuldners eingegriffen wird, wodurch es zur Kollision zweier Grundrechtssphären kommt. Nunmehr stellt sich die Frage, nach welchen allgemeinen Grundsätzen die so entstandene Konfliktslage aufzulösen ist. Dabei gilt nach wohl herrschender verfassungsrechtlicher Lehre der Grundsatz, daß die miteinander kollidierenden Grundrechte des Gläubigers und des Schuldners unter dem Aspekt der Einheit der Verfassung möglichst schonend zum Ausgleich zu bringen sind. Ziel dieses Vorgehens ist es, jedes der kollidierenden Grundrechte in ihrer Wirkungsentfaltung zu optimieren 87 . Diese häufig als „Prinzip praktischer Konkordanz"

85 Auch für das Grundbuchrecht wird zunehmend anerkannt, daß Mißbrauchsgefahren im Umgang mit Daten durch das Erfordernis eines berechtigten Interesses zur Einsicht in das Grundbuch (vgl. § 12 GBO) wirksam begegnet werden kann (vgl. Schreiner Rpfleger 1980, 51 ff.; Schmid Rpfleger 1980, 290 f.; siehe auch BVerfGE 64,229 (238 ff.) mit Anm. Schmid in: Rpfleger 1983, 389; Lüke/Dutt Rpfleger 1984, 253 f.). 86 Vgl. Simitis, BDSG, § 32 Rdnr. 37 für die Frage, wann die Übermittlung von Daten im Rahmen des § 32 Abs. 2 BDSG zulässig ist. 87 Vgl. BVerfGE 35, 202 (225); 49,24 (56); Hesse Rdnr. 72, S. 27; Rdnr. 317, S. 127; Lerche, S. 153; Rüfner in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, S, 453 (465); Lepa DVB1 1972, 161 (166 f.); Ossenbühl AöR 98 (1973), 361 (377); Scholz AöR 100 (1975), 80 (117); kritisch Bethge, S. 273 f., 315 ff.

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

bezeichnete Maxime 88 ist mit dem Inhalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht deckungsgleich. Während der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzte Anforderungen an einen Eingriff stellt, die mit den Begriffen geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i.e.S. gekennzeichnet werden, geht das Prinzip praktischer Konkordanz darüber hinaus und fordert die Suche nach einem optimalen Verhältnis zweier miteinander konkurrierender Grundrechtssphären, in dem jede von beiden ein Höchstmaß an Geltungskraft für sich beanspruchen kann 89 . Der Versuch, mit Hilfe dieser Grundsätze im Vollstreckungsrecht zu brauchbaren Ergebnissen zu gelangen, ist jedoch in den meisten Fällen von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dort wo es um die Durchsetzung des einen Rechts auf Kosten des anderen geht, ist i.d.R. 90 kein Ansatz vorhanden für die Herstellung eines optimalen Grundrechtsausgleichs; dies ist bereits bei der Darstellung der einzelnen grundrechtlichen Konflitklagen deutlich geworden. Obwohl die Vollstreckung deshalb regelmäßig mit intensiven Grundrechtseingriffen zu Lasten des Schuldners verbunden ist, besteht doch kein Anlaß, hier mit Hilfe des Prinzips praktischer Konkordanz grundlegende Veränderungen vorzunehmen. Die Beschränkung oder sogar die Aufopferung von Grundrechten des Schuldners zugunsten des Gläubigers ist die notwendige Folge des Verbots der Selbsthilfe durch den Gläubiger und deren Ersetzung durch staatliche Zwangsgewalt. Dies läßt sich nur rechtfertigen, wenn dem Gläubiger grundsätzlich auch der Einsatz staatlichen Zwangs garantiert wird 91 . Zutreffend wird deshalb ein Vollstreckungsanspruch des Gläubigers gegen den Staat angenommen 92 , der sogar verfassungsrechtlichen Rang genießt93. Entnimmt man nämlich — wie das Bundesverfassungsgericht — den in der Zwangsvollstreckung betroffenen Grundrechten des Schuldners unmittelbar einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz94, dann muß Gleiches auch für den vollstreckbaren Anspruch des Gläubigers gelten, der — wie gezeigt — ebenfalls 88

Vgl. Hesse Rdnr. 72, S. 27. Vgl. H Schneider, S. 203; Gentz AöR 98 (1973), 568 (576); auch Bethge, S. 313 hält den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz alleine zur Bereinigung grundrechtlicher Konfliktlagen für unzureichend. Ferner grenzt auch Hesse Rdnr. 72, S. 27 das Prinzip praktischer Konkordanz deutlich vom Verhältnismäßigkeitsprinzip ab, auch wenn er davon spricht, die Grenzziehungen müßten „verhältnismäßig" sein. Hierunter versteht Hesse „eine Relation zweier variabler Größen ... die jener Optimierungsaufgabe am besten gerecht wird". 90 Ausnahmsweise kann aber auch anderes gelten (vgl. unten § 4 I I 2). 91 Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 1, S. 4; bezogen auf das Erkenntnisverfahren ebenso: Stein/Jonas/Schumann Einl. Rdnr. 204; Rosenberg/Schwab § 1 III, S. 2; Baur AcP 153, 393 (396); kritisch Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, S. 59 ff. m.w.N. 92 Vgl. Stein/Jonas/Münzberg vor § 704 Rdnr. 16; Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 1, S. 4; Rdnr. 8, S. 6 f.; Jauernig § 1IV, S. 3; A. Blomeyer § 1 III, S. 3; Bruns/Peters § 1IV 3, S. 4; kritisch Schönke, Zwangsvollstreckungsrecht, 5. Aufl., S. 4 m.w.N. 93 Vgl. Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 1, S. 4; siehe auch Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, S. 132 f. 94 Siehe dazu ausführlich unten § 6. 89

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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durch Art. 14 Abs. 1 G G grundrechtlich geschützt ist. Auch spricht der Zusammenhang mit dem verfassungsrechtlich fundierten 95 Justizanspruch, der ein Recht auf die Ausübung staatlicher Rechtspflege verleiht 96 , dafür, die Grundlage des Vollstreckungsanspruchs in der Verfassung zu sehen. Denn ohne die Aussicht auf spätere Rechtsdurchsetzung wäre die Schaffung einer isolierten Rechtsweggarantie für den Gläubiger praktisch wertlos 97. Das Prinzip praktischer Konkordanz wird daher im Vollstreckungsrecht nicht etwa deshalb außer Anwendung gelassen, weil man vor verfassungsrechtlichen Anforderungen die Augen verschlösse, sondern dies geschieht aufgrund von Prämissen, die ihrerseits im Verfassungsrecht wurzeln. Hieran zeigt sich einmal mehr, daß man auch unter uneingeschränkter Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Maximen im Vollstreckungsrecht zu sinnvollen Ergebnissen gelangt. b) Vollstreckungsanspruch

und Verhältnismäßigkeitsprinzip

Kann das Prinzip praktischer Konkordanz aus den genannten Gründen keine Anwendung finden, dann tritt um so deutlicher der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Begrenzungsfaktor bei der Auflösung von Grundrechtskollisionen zu Lasten des Schuldners in den Vordergrund. Dabei stellt sich dann allerdings die Frage, ob und inwieweit der Grundsatz in der Lage ist, dem Vollstreckungsanspruch des Gläubigers Grenzen zu setzen. Dabei wird sich zeigen, daß diese Frage nicht nur von rein theoretischem Interesse ist. Es ist eine vom Verwaltungsrecht her bekannte Erscheinung, daß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz der Durchsetzung eines gegen den Staat gerichteten Anspruchs Grenzen zu setzen vermag, wenn dieser nur durch Eingriff in die (Grund-)Rechte Dritter realisiert werden kann. Trotz aller Unterschiede im einzelnen zeigen sich hier gewisse Gemeinsamkeiten zwischen dem zivilprozessualen Vollstreckungsanspruch des Gläubigers gegen den Staat und dem ebenfalls gegen den Staat gerichteten sog. Folgenbeseitigungsanspruch 98.

95 Siehe zu den einzelnen Begründungswegen die Darstellungen von Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, S. 67 ff. und Stürner, Die Aufklärungspflicht der Parteien des Zivilprozesses, S. 32 ff. 96 Dagegen soll der sog. Rechtsschutzanspruch ein Recht auf eine günstige Entscheidung verleihen (siehe dazu Rosenberg/Schwab § 3 II, S. 12 ff). 97 Vgl. Peters in: FS für Baur, S. 543 (552). 98 Der Streit um den Folgenbeseitigungsanspruch wird bei der Beteiligung von Dritten (dazu sogleich im Text) hauptsächlich um das Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für die Verwaltung geführt (siehe dazu Bender, Staatshaftungsrecht, 2. Aufl., Rdnr. 224 ff., S. 87 ff.; Ossenbuhl, Staatshaftungsrecht, § 34 2 b, S. 204 — jeweils m.w.N.). Dieses Problem stellt sich bei der zivilprozessualen Vollstreckung nicht, denn hier existiert bereits ein Titel gegen den Schuldner, und es bestehen auch gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen zur zwangsweisen Rechtsdurchsetzung (z.B. in § 753 ZPO).

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

Ein Folgenbeseititgungsanspruch steht im Verwaltungsrecht einem Rechtssubjekt dann zu, wenn es rechtswidrig und rechtsgrundlos durch ein hoheitliches Handeln in seinen Rechten verletzt wird; der Folgenbeseitigungsanspruch geht dann auf Wiederherstellung des vor dem Eingriff bestehender Zustandes". Dieses zwischen Bürger und Staat bestehende zweiseitige Verhältnis wird entsprechend den Verhältnissen in der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung zu einem dreiseitigen erweitert, wenn der Anspruch nur durch den Eingriff in die Rechte eines Dritten verwirklicht werden kann. Das ist z.B. der Fall, wenn ein den einen Nachbarn in seinen subjektiven Rechten verletzender baurechtswidriger Zustand nur dadurch beseitigt werden kann, daß gegen den anderen Nachbarn eine Abbruchverfügung erlassen und — nach Bestandskraft — notfalls vollstreckt wird. Auch hier sieht die h.M. zwar die Grundlagen des Folgenbeseitigungsanspruchs im Verfassungsrecht 100. Dennoch sind der Durchsetzung dieses Anspruchs nach wohl überwiegender Ansicht Grenzen gezogen, und zwar insbesondere durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 101. In dem gegebenen Beispiel darf deshalb der unter Verstoß gegen nachbarschützende Maßmen errichtete Bau nur mit Maßnahmen beseitigt werden, die den Bauherrn nicht übermäßig belasten. Gerade dieses Beispiel zeigt aber auch, daß von der grundsätzlichen Zulässigkeit des Eingriffs in die (Grund-)Rechte des Bauherrn ausgegangen werden muß. Denn die prinzipielle Annahme eines Folgenbeseitigungsanspruchs wird nicht dadurch in Frage gestellt, daß ihm durch Rechte Dritter Grenzen gezogen werden können. Ebenso wie bei der Folgenbeseitigung zugunsten des Anspruchsträgers, aber zu Lasten des Betroffenen, läßt nun aber auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei der zivüprozessualen Vollstreckung den grundsätzlichen Anspruch des Gläubigers auf Rechtsdurchsetzung unberührt. Das zeigt sich daran, daß der Grundsatz überhaupt nur in einer Gruppe von Fällen ausnahmsweise zu einer endgültigen Verhinderung der Rechtsverwirklichung führen kann. Genauer gesagt ist dies im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S. dann der Fall, wenn die Vollstreckung für den Schuldner auf Dauer unzumutbar wäre 102 . Eine solche Unzumutbarkeit kann allerdings nicht schon in dem Eingriff in die Grundrechte des Schuldners an sich gesehen werden, auch wenn dieser z.B. bei der Zwangsversteigerung von erheblicher 99

Vgl. nur Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, § 34, S. 201. BVerwG NJW 1972,269; DVB1 1984,1178 (1179); Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, § 32, S. 194 ff.; Rüfner in: Erichsen/Martens § 53 V, S. 541 — jeweils m. zahlr. N.. 101 Schrödter, BBauG, § 31 Rdnr. 17 a; Schlez, LBO/Ba-Wü., § 59 Rdnr. 244 m.w.N.; Bender, Staatshaftungsrecht, 2. Aufl., Rdnr. 227, S. 89; siehe auch VGH Mannheim VerwRspr. 24, 815 (818). 102 Wieser ZZP 98, 50 (57 f.) will den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. sogar grundsätzlich (vgl. die von Wieser, s. 75 gemachte Einschränkung) überhaupt nicht zum Zuge kommen lassen, wenn seine Anwendung zu einer endgültigen Verhinderung der Rechtsdurchsetzung führen würde. 100

III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Grundrechte

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Intensität ist. Dann nämlich müßten nahezu stets Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der Vollstreckung angemeldet werden. Das aber wäre wiederum mit dem verfassungskräftigen Vollstreckungsanspruch des Gläubigers unvereinbar. Für die Annahme eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip i.e.S. müssen deshalb zusätzliche Umstände vorliegen. Solche besonderen Umstände können sich z.B. in den bereits genannten Fällen finden, in denen die Zwangsvollstreckung zu atypischen, ungewollten Begleiterscheinungen führt 103 . Auf weitere Fälle wird noch zurückzukommen sein 104 . Hier genügt einstweilen die Feststellung, daß die zwangsweise Rechtsdurchsetzung nur ausnahmsweise am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. scheitert und dieser den Vollstreckungsanspruch des Gläubigers grundsätzlich unberührt läßt. Auf den Vollstreckungsanspruch des Gläubigers überhaupt ohne Einfluß ist dagegen der Grundsatz der Erforderlichkeit. Dieser verpflichtet lediglich zur Wahl der mildesten Maßnahme, wenn mehrere gleich wirksame Mittel zur Verfügung stehen, setzt also gerade voraus, daß der titulierte Anspruch des Gläubigers auf andere, schonendere Weise durchgesetzt werden kann. Der Grundsatz der Geeignetheit schließlich ist ebenfalls ohne jeden Einfluß auf den Vollstreckungsanspruch des Gläubigers gegen den Staat. Scheitert die Rechtsdurchsetzung von vorneherein daran, daß jede der in Betracht kommenden Vollstreckungsmaßnahmen offensichtlich ungeeignet wäre, die Gläubigerforderung zu befriedigen, dann ist dies letztlich nicht Ausdruck einer Begrenzung des Vollstreckungsanspruchs des Gläubigers durch den Grundsatz der Geeignetheit, sondern hat andere Gründe. Der Vollstreckungsanspruch stößt hier an seine Grenzen, weil vom Schuldner aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen „nichts zu holen ist". Zusammenfassend läßt sich daher feststellen, daß in der zivilprozessualen Zwangsvollstreckung zwar regelmäßig eine Kollision zwischen Gläubiger- und Schuldnergrundrechten besteht. Die zur Auflösung einer Grundrechtskollision in der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur vertretene Auffassung, in diesem Fall sei der nach beiden Seiten hin schonendste Ausgleich herzustellen, und die betreffenden Grundrechte müßten in ihrer Wirkungsentfaltung optimiert werden, kann für die zivilprozessuale Zwangsvollstreckung jedoch grundsätzlich keine Gültigkeit beanspruchen. Hier dominiert die Aufopferung von (Grund-)Rechten des einen Grundrechtsträgers (des Schuldners) zugunsten des anderen Grundrechtsträgers (des Gläubigers). Abweichungen von diesem Grundsatz sind zwar insbesondere im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. möglich, müssen aber den verfassungskräftigen Anspruch des Gläubigers auf Rechtsdurchsetzung unberührt lassen und sind deshalb trotz der erheblichen Grundrechtsintensität der Vollstreckung die Aus103 104

Siehe dazu oben § 2 I I I 2 b cc. Siehe dazu unten § 5 II.

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§ 2 Zur g r s . Einw. der GRe und des V.prinzips auf das Vollstr.R.

nähme 105 . Auf den Vollstreckungsanspruch des Gläubigers ohne Einfluß und insofern unbedenklich ist dagegen der Umgang mit den Grundsätzen der Geeignetheit und Erforderlichkeit im Vollstreckungsrecht.

IV. Der Einfluß des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Auslegung und Anwendung des Vollstreckungsrechts 1. Die Verpflichtungsadressaten und die grundsätzliche Wirkungsweise des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in der Zwangsvollstreckung

Wie sich gezeigt hat, findet in der Zwangsvollstreckung i.d.R. eine Auflösung der Grundrechtskollision zu Lasten des Schuldners statt, ohne daß dies verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre. Damit büßt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aber nichts von seiner grundsätzlichen Bedeutung bei der Festlegung der Grenzen ein, die der zwangsweisen Verwirklichung des Gläubigerrechts gesetzt sind. Es stellt sich nunmehr die Frage, welches staatliche Organ im Vollstreckungsrecht primär der Verpflichtungsadressat des Grundsatzes ist. Wäre dies in erster Linie der Gesetzgeber und nicht das im Einzelfall tätig werdende Vollstreckungsorgan, so würden sich möglicherweise Befürchtungen bestätigen, das Vollstreckungsrecht könnte durch eine undifferenzierte Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips aus den Angeln gehoben werden 1. Dann nämlich müßte vor allem die Frage gestellt werden, inwieweit das meist vorkonstitutionelle Vollstreckungsrecht den mit Verfassungsrang ausgestatteten Anforderungen des Prinzips genügt. Diese Fragestellung könnte dann an Schärfe verlieren, wenn man einer Konzeption folgen würde, die im verfassungsrechtlichen Schrifttum Lerche entwickelt hat. Nach seiner Auffassung wirkt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Bereich der Grundrechte in unterschiedlicher Weise und Intensität, je nachdem in welcher Form und zu welchem Zweck der Gesetzgeber im grundrechtlichen Bereich tätig wird 2 . Im Bereich derjenigen Normen, welche, wie die meisten vollstreckungsrechtlichen Bestimmungen, die Auflösung einer Grundrechtskollision regeln, soll nach der Auffassung Lerches zwar der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gelten. Dies jedoch nur mit der Maßgabe, daß dem Gesetzgeber ein Spielraum zur eigenverantwortlichen Abwägung im Rahmen der Konfliktschlichtung verbleibt. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip reduziert dabei lediglich die Schlichtungsmöglichkeiten auf eine bestimmte Zahl 3 . 105 Insofern kommt der Konstruktion eines Vollstreckungsanspruchs wohl doch größere praktische Bedeutung zu, als ihr z.T. zugestanden wird (vgl. Jauernig § 1 IV, S. 3; Schänke/ Baur, 10. Aufl., § 1 I I 3, S. 4 — anders nunmehr Stürner in: BaUr/Stürner Rdnr. 8, S. 6 f.). 1 Vgl. Fahland VOP 1981, 328 (329) unter Hinweis auf Gaul JZ 1974, 279 (282). 2 Lerche, S. 106 ff., 134 ff. 3 Lerche, S. 130 f., 151 ff.

IV. Der Einfluß des Grundsatzes auf das Vollstreckungsrecht

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Diese einschränkende Lösung geht allerdings davon aus, daß der Gesetzgeber überhaupt eigenverantwortlich entschieden hat, welchem der kollidierenden Rechtsgüter im konkreten Einzelfall der Vorzug zu geben ist. Das ist im Bereich des Vollstreckungsrechts und hier vor allem des Vollstreckungsschutzrechts aber oft nicht der Fall. Zahlreiche Schuldnerschutzbestimmungen enthalten Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe, wobei letztere im Laufe der Rechtsentwicklung sogar in die ursprünglich weitaus einfacher gefaßten Pfändungsverbote des § 811 ZPO Eingang gefunden haben4. Gibt das Gesetz aber insofern nur Richtlinien und Leitpunkte zur Ermittlung der Entscheidung im Einzelfall 5, dann sind die für die Entscheidungsfindung zuständigen Organe in diesem weiten Rahmen zur eigenständigen Abwägung aufgerufen, um so die Grenzen der Vollstreckung festzulegen. Das Postulat eines eigenständigen Abwägungsspielraums des Gesetzgebers ist daher im Vollstreckungsrecht ohne Wirkung, da dieser in weiten Bereichen des Vollstreckungsschutzes keine letztverbindliche Entscheidung getroffen hat. Entgegen der Auffassung von Lerche 6 kann in der so erfolgten Überantwortung der Konfliktschlichtung auf andere Organe als den Gesetzgeber wohl auch kein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz gesehen werden. Zwar ist die gesetzgeberische „Flucht in die Generalklauseln" immer wieder kritisiert worden 7 , es entspricht jedoch der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß dem Gesetzgeber von Verfassung wegen die Verwendung von Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen nicht verwehrt ist 8 . Diese Auffassung hat gerade auch für das Vollstreckungsrecht ihre Berechtigung. Die denkbaren Interessenlagen, die zu einer Beschränkung der Vollstreckung führen können, sind zu vielgestaltig, als daß sie einer inhaltlich streng festgelegten Normierung zugänglich wären. Damit ist aber zugleich auch ein Weg gefunden, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Vollstreckungsrecht zur Entfaltung gebracht werden kann, denn zwischen den Vorschriften des Schuldnerschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sind entweder durch den Gesetzeswortlaut deutliche Parallelen 4 Siehe dazu Henckel S. 243 f.; Stein/Jonas/Münzberg § 811 Rdnr. 6 ff.; Gaul Rpfleger 1971, 81 (92). 5 Vgl. Henckel, S. 375. Eine andere Frage ist es, ob dem Vollstreckungsgericht (für das heute der Rechtspfleger tätig wird — vgl. §§ 3 Nr. 1 i, Nr. 3 a; 20 Nr. 17 RpflG) im Rahmen des sog. richterlichen Vollstreckungsschutzes bei der Entscheidungsfindung ein Ermessen zusteht (so F enge, S. 117 ff.) oder nicht (so Henckel, S. 375). 6 Lerche, S. 131. 7 Vgl. Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, speziell zum zivilprozessualen Vollstreckungsrecht auf S. 29 ff.; Bueckling ZRP 1983, 190 ff.. Auch Baur in: Schänke/ Baur, 10. Aufl., § 451, S. 222 f. spricht — bezogen auf § 765 a ZPO — von einem Mißtrauen des Gesetzgebers in die Vollständigkeit und Ausgewogenheit seiner Regelung und stellt die Existenzberechtigung von Generalklauseln im Vollstreckungsrecht überhaupt in Frage (dagegen Peters ZZP 89, 498 (499); einschränkend nunmehr Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 803, S. 317). 8 BVerfGE 3, 225 (243 f.); 8, 274 (326); 13, 153 (161); 21, 73 (79); 31, 255 (264).

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unmittelbar vorgegeben, oder es lassen sich durch den unbestimmten Wortlaut dieser Bestimmungen doch solche Verknüpfungen herstellen. Zu der erstegenannten Gruppe zählen jene Vollstreckungsschutzbestimmungen, die nach ihrem Wortlaut eine inhaltliche Verwandtschaft zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aufweisen. Hier kann man sagen, daß der Grundsatz eine geradezu „klassische Ausprägung" gefunden hat 9 . So kann z.B. in den Fällen der §§ 721 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; 794 a Abs. 1 S. 1 ZPO bei der Räumungsvollstreckung eine „angemessene" Räumungsfrist gewährt werden. § 811 Nr. 1 ZPO stellt ebenfalls auf das Bedürfnis des Schuldners zu einer „angemessenen" Lebens- und Haushaltsführung ab, und nach § 811 a Abs. 2 S. 2 ZPO soll das Gericht eine Austauschpfändung nur zulassen, wenn sie nach Lage der Verhältnisse „angemessen" ist. Der Begriff der Angemessenheit wird aber auch vom Bundesverfassungsgericht zur Umschreibung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.e.S. verwandt, wenn es fordert, das angewandte Mittel müsse in „angemessenem Verhältnis" zu dem verfolgten Zweck stehen10. Sich noch enger an das Verhältnismäßigkeitsprinzip i.e.S. ausrichtend, verbietet § 812 ZPO die Pfändung von Hausrat, wenn offensichtlich ist, daß bei dessen Verwertung nur ein Erlös erzielt werden würde, der „außer allem Verhältnisse" zu dem Wert der Gegenstände steht. Ebenso verbietet § 30 a Abs. 2 Z V G die Einstellung der Zwangsversteigerung, wenn dies dem Gläubiger einen „unverhältnismäßigen Nachteil" bringen würde. Darüber hinaus kennt das Gesetz auch eine Reihe von Vorschriften, in denen die Belange des Gläubigers gegen die des Schuldners gestellt und im Einzelfall zum Ausgleich gebracht werden (z.B. in den §§ 765 a Abs. 1, 788 Abs. 3, 813 a, 850 b, 850 f ZPO; §§ 30 a, 30 d ZVG; § 54 SGB-I). Weil sich mit Hilfe dieser zum großen Teil sehr unbestimmten Vorschriften nicht nur ein Interessen- sondern zugleich auch ein Grundrechtsausgleich herstellen läßt, erweisen sich die genannten Bestimmungen als besonders geeignet für eine Interpretation, die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Entfaltung kommen läßt. Insofern gilt die Auffassung, die in Generalklauseln sowie in wertausfüllungsfähigen und -bedürftigen Rechtsbegriffen Einbruchstellen zur Verwirklichung grundrechtlicher Entscheidungen der Verfassung sieht, auch und im besonderen Maße für das Vollstreckungsrecht 11. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Interpretation 9 Vollkommer Rpfleger 1982, 1 (8); noch weitergehend Brehm Rpfleger 1982,125 (127): „Im Grunde genommen tragen alle Schuldnerschutzvorschriften ... dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung." Siehe zum Ganzen auch schon oben § 2 I 2. 10 Vgl. BVerfGE 16, 194 (202); 20, 162 (187); 32, 87 (94); siehe ferner StGH BadenWürttemberg NJW 1975, 1205 (1211); Lerche, S. 19; Gentz NJW 1968, 1600 (1604, Fn. 36 m.w.N.) — das Mittel dürfe zur Erreichung eines bestimmten Zwecks nicht „unangemessen" sein. 11 Vgl. Böhmer in: BVerfGE 49,228 (240); Lippross, S. 174 und — bezogen auf § 765 a ZPO — Peters in: FS für Baur, S. 549 (555, 557); Schlosser Rdnr. 45, S. 31. Siehe ferner allgemein: BVerfGE 7,198 (205 f.); 18, 85 (92); 42,143 (148); BVerwGE 56,246

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einfachen Vollstreckungsrechts unter Verhältnismäßigkeitsaspekten nicht in das Belieben der hierfür zuständigen Organe gestellt ist. Um dem mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsatz Rechnung zu tragen, sind diese vielmehr dazu verpflichtet, das Vollstreckungsrecht insoweit „verfassungsorientiert" 12 auszulegen13. Ob dies in zutreffender Weise geschehen ist, muß dann gegebenenfalls im Rechtsbehelfszug überprüft werden.

2. Materiellrechtliche und gerichtsinstitutionelle Probleme im Zusammenhang mit der Einwirkung der Verfassung auf das Vollstreckungsrecht

Der in den vorstehenden Ausführungen gewiesene Weg, den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes i.w.S. in erster Linie mit den Mitteln des Vollstreckungsrechts Rechnung zu tragen, ist allerdings nicht unproblematisch. Genau besehen stellen sich dabei zwei Fragen, die jedoch miteinander zusammenhängen. Die erste Frage ist materiellrechtlicher Natur und betrifft das Ausmaß, in welchem durch das Verfassungsrecht Auslegung und Handhabung des (einfachen) Vollstreckungsrechts beeinflußt werden. Die zweite Frage ist gerichtsinstitutioneller Art und behandelt den zulässigen Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle von Entscheidungen der sog. Fachgerichtsbarkeit 14 ' 15 . Was die materiellrechtliche Problematik anbelangt, so darf einerseits kein Zweifel daran bestehen, daß die Eigenständigkeit des Vollstreckungsrechts erhalten bleibt 16 . Bei der Argumentation mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen im Vollstreckungsrecht und hier insbesondere im Vollstreckungsschutzrecht kann es nur darum gehen, den durch die Verfassung vorgegebenen Rahmen zur Geltung zu bringen 17 . Nicht aber läßt sich jede vollstreckungsrechtliche Entscheidung, die sich mit der Abgrenzung von Gläubiger-und Schuldner-

(248 ff.); Dürig in: Maunz/Dürig Art. 1 Rdnr. 132, Art. 2 Rdnr. 56; Herzog in: Maunz/Dürig Art. 20 V I I Rdnr. 27; Hesse Rdnr. 356, S. 142. 12 Siehe zur „verfassungsorientierten" Auslegung, die sich häufig mit der „verfassungskonformen" Auslegung überschneidet: Simon EuGRZ 1974, 85 (86 f.); Schiaich 5. Teil D IV 4, S. 187 f.; Wank JuS 1980, 545 (547 f.). 13 BVerfGE 52,214 (219 f.); siehe ferner Simon EuGRZ 1974,85 (87): „Zur verfassungsorientierten Auslegung ... ist jeder berechtigt und verpflichtet, der Gesetze anwendet und auslegt." 14 Dieser wenig aussagekräftige Begriff hat sich mittlerweile eingebürgert (vgl. die Kritik von Schumann ZZP 96, 137 (184)) und soll deshalb auch hier gebraucht werden. 15 Vgl. zu dieser Unterscheidung Wahl NVwZ 1984, 401 (408). Die dort ebenfalls angesprochene Frage nach den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts im Verhältnis zum parlamentarischen Gesetzgeber kann hier nicht weiter verfolgt werden. 16 Die Eigenständigkeit des Gesetzesrechts gegenüber der Verfassung betont in neuerer Zeit insbesondere Wahl NVwZ 1984, 401 ff. 17 Siehe zum Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung: Böckenförde NJW 1976,2089 (2091, 2099); Wahl in: Der Staat, Bd. 20 (1981), S. 485 (505 ff.).

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belangen befaßt, einfach aus der Verfassung ablesen18. Hierzu bedarf es vielmehr der Gesetzesinterpretation auf der Ebene des Vollstreckungsrechts. Andererseits muß aber auch bedacht werden, daß sich hinter der Aussage, die Verfassung bilde (auch) für das Vollstreckungsrecht eine Rahmenordnung, konkrete Inhalte verbergen. Die damit angesprochene begrenzte Tragweite des Verfassungsrechts läßt sich, gerade was das hier zu erörternde Verhältnismäßigkeitsprinzip (i.w.S.) anbelangt, unmittelbar aus seinen beschränkten inhaltlichen Anforderungen gewinnen, wie sie sich bei der Erörterung der einzelnen Teilgrundsätze noch ergeben werden. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip kann deshalb ebensowenig wie die sonstigen verfassungsrechtlichen Einrichtungen mit einem allgemeinen Hinweis auf den Rahmencharakter des Grundgesetzes aus dem Vollstreckungsrecht eliminiert werden. Aus diesen Gründen kann Stürner nicht gefolgt werden, wenn er neuerdings in Auseinandersetzung mit Wieser 19 meint, es sei „zumindest irreführend", von einem Grundsatz der Geeignetheit in der Zwangsvollstreckung zu sprechen, weil dies die Identität von fehlendem einfachrechtlichem Vollstreckungsinteresse und Verfassungsverstoß wegen eines Vollstreckungsaktes suggeriere, der die Geeignetheit als Unterfall der Verhältnismäßigkeit nicht beachte. Es bestehe aber ein einfachrechtlicher Gestaltungsspielraum, so daß nicht jede unzutreffende Bejahung des Vollstreckungsinteresses Verfassungsniveau erreiche, wie auch umgekehrt nicht jede fehlerhafte Verneinung des Vollstreckungsinteresses die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgewährung verletze. Es dürfe nicht unbeachtet bleiben, daß die Grundsätze des einfachen Vollstreckungsrechts historisch älter seien und die Verfassung nur „schwerste Grundsatzverstöße" erfassen könne 20 . Ganz abgesehen davon, daß es nicht irreführend, sondern nur logisch folgerichtig ist, von einem Grundsatz der Geeignetheit in der Zwangsvollstreckung zu sprechen, wenn man von der Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips i.w.S. im Vollstreckungsrecht ausgeht21, so wird mit der Anerkennung des (Teil-)Grundsatzes der Geeignetheit die Eigenständigkeit des Grundsatzes, daß Vollstreckungsanträge des Gläubigers für ihre Zulässigkeit eines Rechtsschutz- bzw. eines Vollstreckungsinteresses bedürfen, nicht in Frage gestellt. Nur kann die Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses im Einzelfall als Mittel dazu dienen, den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Geeignetheitsgrundsatzes Geltung zu verschaffen 22. Der „einfachrechtliche Gestaltungsspielraum", von dem 18

Vgl. auch Lerche, S. 131. Wieser ZZP 98, 427 ff. 20 Stürner ZZP 99, 291 (319). 21 Siehe dazu bereites oben § 2 II. Auch Stürner ZZP 99, 291 (296) meint, die Kritik am Bundesverfassungsgericht könne sich schwerlich an der Geltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entzünden. 22 Vgl. BVerfGE 61, 126 (135). 19

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Stürner spricht, geht dabei nicht verloren, sondern wird unmittelbar durch die restriktiven Voraussetzungen gewährleistet, an die das Eingreifen des Verhältnismäßigkeitsprinzip i.w.S. im allgemeinen und des Grundsatzes der Geeignetheit im besonderen geknüpft ist (völlige Untauglichkeit des eingesetzten Mittels zur Förderung des verfolgten Zwecks; Erfordernis einer ex-ante-Betrachtung bei der Geeignetheitsprüfung etc.) 23 . Daher ist auch der Blickwinkel, unter dem die Einwirkung der Verfassung auf das Vollstreckungsrecht gesehen werden muß, ein anderer als derjenige, gegen den sich die Kritik Stürners richtet. Die Frage lautet nicht, ob in jeder unzutreffenden Fehlinterpretation althergebrachter Vollstreckungsprinzipien ein Verfassungsverstoß liegt, sondern zu fragen ist vielmehr umgekehrt danach, ob bei der Auslegung und Anwendung dieser Maximen auf den Einzelfall der durch die Verfassung vorgegebene äußere Rahmen verkannt worden ist. Die so gekennzeichnete Funktion des Vollstreckungsrechts bei der Wahrung verfassungsrechtlicher Belange läßt allerdings um so deutlicher die eingangs aufgeworfene zweite Frage nach dem zulässigen Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Entscheidungen der sog. Fachgerichtsbarkeit in den Blickpunkt treten. Diese vielerörterte Problematik 24 ist nun auch für das Vollstrekkungsrecht aktuell geworden. In mehreren Fällen hat das jeweils mit der Verfassungsbeschwerde angerufene Bundesverfassungsgericht gerichtliche Entscheidungen aufgehoben, die auf dem Gebiet des Vollstreckungsrechts ergangen sind. Dabei hat es — entsprechend dem auch hier beschrittenen Weg — wiederholt auf die Bedeutung des einfachen Rechts für die Herstellung verfassungskonformer Zustände hingewiesen und hat dabei auch Vorschriften der Zivilprozeßordnung sowie des Zwangsversteigerungsgesetzes auf den Einzelfall angewandt 25 . Hier wird das Bedürfnis nach einer Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Prüfungstätigkeit 26 auf den Maßstab der Verfassung besonders augenfällig. Auch das Bundesverfassungsgericht hat diese Notwendigkeit in den zitierten Entscheidungen zum Vollstreckungsrecht wiederholt hervorgehoben und ausgeführt, die Auslegung und Anwendung des einfachen materiellen und formellen Rechts bleibe grundsätzlich Sache der Fachgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen27. In Abgrenzung zu seinen eigenen Prüfungskompetenzen hat es wiederum in anderen Entscheidungen die Formel 23

Siehe zu diesen Voraussetzungen im einzelnen im nächsten Kapitel. Vgl. die bei Schumann ZZP 96,137 (180 f.) in Fn. 150 zusammengestellte Literatur; ferner Schiaich 4. Teil 5. Abschnitt E, S. 132 ff.; Waldner ZZP 98, 200 ff. 25 BVerfGE 46, 325 (330 ff.); 49, 220 (225 ff.); 52, 214 (219 ff.) sowie zur Teilungsversteigerung nach den §§ 180ff. ZVG: BVerfGE42,64(72ff.); 51,150(156ff.); vgl. ferner BVerfGE49, 252 (255 ff.). 26 Allgemein kann man hier mit Schumann ZZP 96, 137 (159 mit Fn. 87) von „Kognitionsgrenzen" sprechen; so auch Waldner ZZP 98, 200. 27 BVerfGE 42, 64 (74); zitiert in: BVerfGE 46, 325 (333); 52, 214 (219). 24

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geprägt, es könne nur bei einer Verletzung von „spezifischem Verfassungsrecht" durch die Gerichte auf Verfassungsbeschwerde hin eingreifen. Der Fehler müsse daher gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen28. Diese Aussagen sind jedoch eher als Ankündigung zu verstehen, den eigenen Prüfungsumfang zu beschränken, enthalten aber keine hinreichend sichere Abgrenzung zu den Kompetenzen der Fachgerichtsbarkeit 29. Eine klare Umschreibung ist vom Bundesverfassungsgericht offenbar auch gar nicht beabsichtigt, wenn es ausführt, ihm müsse bei der Festlegung der Grenzen seiner Eingriffsmöglichkeiten ein gewisser Spielraum verbleiben 30. Vor allem bei der Überprüfung von Entscheidungen auf dem Gebiet des Zivürechts hat das Gericht diesen Spielraum in der Folgezeit näher umschrieben, wobei es die Kontrolldichte nach der Intensität der Grundrechtsbeeinträchtigung abstuft. Danach soll im allgemeinen nur geprüft werden, ob die angefochtene Entscheidung Auslegungsfehler erkennen läßt, die „auf einer grundsätzlich unrichtigen Auffassung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind" 31 . Diese Grenze ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts dann noch nicht überschritten, wenn die durch den Richter vorgenommene Abwägung widerstreitender Interessen fragwürdig erscheint, und das Fachgericht möglicherweise der einen oder der anderen Seite zu wenig Gewicht beigelegt hat 32 . Dagegen sollen in Fällen höherer Eingriffsintensität auch einzelne Auslegungsfehler nicht außer Betracht bleiben dürfen 33 , und in Fällen höchster Eingriffsintensität hält sich das Bundesverfassungsgericht sogar für befugt, die von den Zivilgerichten vorgenommene Wertung durch seine eigene zu ersetzen34. Ohne die zu diesem Problemkreis vertretenen zahlreichen Meinungen an dieser Stelle weiterverfolgen zu können 35 , läßt sich doch folgendes sagen: Das Bundesverfassungsgericht hat vor allem deshalb gerade bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle zivilrechtlicher Entscheidungen immer wieder Gelegenheit, seine Prüfungskompetenzen abzustecken, weil bei der Streitentscheidung zwischen Privaten mit grundrechtlichen Bezügen besonders häufig eine Abwä28

BVerfGE 18,85 (92 f.) und schon BVerfGE 1,418 (420). In neuerer Zeit wird diese Formel vor allem noch vom Zweiten Senat gebraucht — z.B. in: BVerfGE 57,250 (272); 60,175 (214); 65, 196 (211). 29 Vgl. Schiaich § 4. Teil 5. Abschnitt Ε I, S. 135 m.w.N. 30 BVerfGE 18, 85 (93); vgl. aus neuerer Zeit BVerfGE 61, 1 (6); kritisch zu dieser Rspr. Schumann ZZP 96, 137 (181) m. zahlr. N. 31 BVerfGE 18, 85 (93); 54, 148 (152); 66, 116 (131); 68, 226 (230). 32 Vgl. BVerfGE 18, 85 (93); 30, 173 (197). 33 BVerfGE 42, 163 (169); 54, 129 (136); 54, 208 (216 f.). 34 BVerfGE 42, 143 (149). 35 Siehe dazu insbesondere Steinwedel, „Spezifisches Verfassungsrecht" und „einfaches Recht", und auch den Überblick bei Schiaich 4. Teil 5. Abschnitt E, S. 132 ff.

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gung der widerstreitenden Belange erforderlich ist, die auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Wertentscheidungen stattfindet 36 . Die Abgrenzungsproblematik zwischen „spezifischem Verfassungsrecht" und sog. einfachem Gesetzesrecht ist daher hier besonders groß. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich auch im Vollstreckungsrecht, wenn man den Anforderungen der Verfassung und hier vor allem denen des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit Hilfe des einfachen Rechts Geltung verschaffen will. Sind für eine derartige verfassungsorientierte Auslegung — wie gezeigt — insbesondere die Schuldnerschutzbestimmungen besonders geeignet, dann darf wegen der geschilderten Eigenständigkeit des Vollstreckungsrechts gleichwohl nicht jede Gewährung bzw. Nichtgewährung von Vollstreckungsschutz dem Totalvorbehalt verfassungsgerichtlicher Überprüfung unterliegen. Dies auch dann nicht, wenn der Verfassungsbeschwerdeführer lediglich behauptet, die nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. erforderliche Abwägung 37 sei nicht korrekt vorgenommen worden. Um dem zu entgehen, muß den Fachgerichten ein gewisser, der verfassungsgerichtlichen Kontrolle entzogener Spielraum bei der Beurteilung der Frage zugestanden werden, ob die Belange des Schuldners im Einzelfall von solchem Gewicht sind, daß sie eine zumindest zeitweilige Außerkraftsetzung des Vollstreckungsanspruchs des Gläubigers gegen den Staat 38 rechtfertigen. Dieser Beurteilungsspielraum ist jedoch ebenso wie bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Entscheidungen auf dem Gebiet des Zivilrechts um so enger, je härter die Vollstreckung den Schuldner trifft, denn mit zunehmender Eingriffsintensität wird die Möglichkeit immer wahrscheinlicher, daß die Vollstreckung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt. Eine genauere Umschreibung der verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenzen läßt sich wohl nur erzielen, wenn man dem Bundesverfassungsgericht generell die Befugnis abspricht, die durch die Fachgerichte vorgenommene Abwägung auch auf evidente Fehlgewichtungen hin zu kontrollieren 39 . Das erscheint jedoch als ein zu hoher Preis, weil damit die Frage, ob die durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. gezogenen Grenzen im Einzelfall eingehalten worden sind, weitgehend aus der verfassungsgerichtlichen Prüfungszuständigkeit ausgeklammert würde. Man wird daher dem Bundesverfassungsgericht nach Maßgabe der genannten Einschränkungen die Kontrolle vollstreckungsrechtlicher Abwägungsentscheidungen grundsätzlich nicht ganz versagen können. Damit werden auch die Bedenken, die namentlich Schumann gegen den Verzicht des Bundesverfassungsgerichts auf die klare Umschreibung seiner Ein36 37 38 39

Vgl. Steinwedel, S. 43; zustimmend Schuppert AöR 103 (1978), 43 (48). Siehe dazu ausführlich unten § 5 I I 1. Siehe dazu oben § 2 I I I 3. So Papier in: FS für das Bundesverfassungsgericht, Bd. 1, S. 432 (451 ff.).

5 Weyland

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griffsbefugnis vorgebracht hat, nicht einfach ignoriert. Schumann macht auf die Bindung der Staatsorgane — insbesondere auch des Gesetzgebers — an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nach § 31 BVerfGG aufmerksam und warnt vor der Gefahr, daß dies angesichts der extensiven Spruchtätigkeit des Gerichts zu einer „Versteinerung des Zivilprozeßrechts" führen könnte 40 . Diese Gefahr ist jedoch bei der beschränkten Kontrolle von vollstreckungsrechtlichen Abwägungsentscheidungen, wie sie hier für zulässig gehalten wird, nicht allzu groß einzuschätzen. Eine richtig verstandene Abwägung hat sich stets an den Umständen des Einzelfalls zu orientieren 41, so daß auch die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts hierzu entsprechend konkret ausfallen müssen. Die insofern über die konkrete verfassungsgerichtliche Entscheidung hinausgehende Bindung der Staatsorgane wird daher nur gering sein. Nicht ganz so groß sind die sich bei der Abgrenzung von Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit ergebenden Schwierigkeiten, wenn mit der Verfassungsbeschwerde Verstöße gegen den Grundsatz der Geeignetheit oder gegen den Grundsatz der Erforderlichkeit gerügt werden. Obwohl das Bundesverfassungsgericht auch hier gelegentlich eine von den Fachgerichten vorzunehmende Abwägung zu fordern scheint 42 , kann doch die Frage, ob das eingesetzte Mittel von vornherein untauglich ist, den erstrebten Zweck zu fördern, oder welches mildere Mittel hierfür in Betracht kommt, weitgehend ohne Abwägung entschieden werden 43. Die Grenzen verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenzen ergeben sich insofern unmittelbar aus den restriktiven Voraussetzungen dieser Teilgrundsätze, wie sie im folgenden zu erörtern sein werden. Zuvor bleiben jedoch noch die in diesem Abschnitt gefundenen Ergebnisse festzuhalten: In der Zwangsvollstreckung sind in erster Linie die zur Konkretisierung der Schuldnerschutzbestimmungen zuständigen Organe als Verpflichtungsadressaten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes anzusehen. Deshalb ist auch der Standort der Verhältnismäßigkeitsprüfung i.d.R. ein anderer als man zunächst vermuten könnte. Nicht die direkte Heranziehung des Verhältnismäßigkeitsprinzips steht bei der Zwangsvollstreckung thematisch im Vordergrund, sondern dessen Einwirkung auf die Auslegung einfachen Gesetzesrechts. Erst dann, wenn diese Methode versagt, etwa weil das Zwangsvollstreckungsrecht lückenhaft ist oder die verfassungsorientierte Auslegung zu einem Ergebnis führen würde, das mit dem Wortlaut oder dem Sinn einer vollstreckungsrechtlichen Vorschrift un-

40 Schumann ZZP 96, 137 (185 ff.); siehe auch Gerhardt ZZP 95, 467 (478, 480 ff.) und Waldner ZZP 98, 200 (213 f.). 41 Siehe zur Gegenmeinung aber auch unten § 5 I. 42 Vgl. BVerfGE 27, 211 (219); 27, 344 (352 f.); 28, 264 (280). 43 Vgl. Steinwedel, S. 126 f.

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vereinbar wäre 44 , kann über die direkte Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes diskutiert werden. Aus der Bedeutung der Verfassung für die Auslegung des Vollstreckungsrechts ergeben sich Probleme sowohl materiellrechtlicher als auch gerichtsinstitutioneller Art. Materiellrechtlich ist darauf zu achten, daß die Eigenständigkeit des Vollstreckungsrechts gewahrt bleibt. Diese wird jedoch nicht in Frage gestellt, weil die Verfassung im allgemeinen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im besonderen lediglich eine Rahmenordnung bilden. Aus gerichtsinstitutioneller Sicht stellt sich das Problem der Abgrenzung zwischen Verfassungsund Fachgerichtsbarkeit. Dabei ist den Fachgerichten im Hinblick auf die vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i.e.S. geforderte Abwägung ein eigenständiger Spielraum bei der Gewichtung der widerstreitenden Belange einzuräumen, der jedoch um so enger ist, je intensiver die Vollstreckung den Schuldner in seinen Grundrechten beeinträchtigt. Im Rahmen des Grundsatzes der Geeignetheit und der Erforderlichkeit ergeben sich die Grenzen verfassungsgerichtlicher Prüfungstätigkeit dagegen unmittelbar aus dem beschränkten Inhalt dieser beiden Teilgrundsätze. Der somit auch in seiner Problematik allgemein beschriebene Weg, wie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für das Vollstreckungsrecht fruchtbar gemacht werden kann, ist für die vorliegende Untersuchung von grundlegender Bedeutung, denn damit muß das Augenmerk in erster Linie auf die Möglichkeiten gerichtet werden, die das geltende Recht zur Verwirklichung des Grundsatzes bietet. Diese Möglichkeiten im einzelnen aufzuzeigen, wird u.a. die Aufgabe der folgenden Erörterungen sein, die sich mit der Bedeutung der einzelnen Teilgrundstäze des Verhältnismäßigkeitsprinzips für das Vollstreckungsrecht befassen.

44 Als Grenze verfassungskonformer Auslegung betont von: BVerfGE 8, 28 (34 f.); 9, 83 (87); 18, 97 (111); 34, 165 (199 f.); 42, 176 (189 f.); 54, 277 (299 f. m.w.N.).

5*

§ 3 Der Grundsatz der Geeignetheit — Zum Verbot aussichtsloser Vollstreckungsmaßnahmen I. Allgemeines Es kann vorkommen, daß dem Gläubiger jedes schutzwürdige Interesse an der Durchführung der von ihm beantragten Vollstreckungsmaßnahme fehlt. Einen solchen Fall regelt § 803 Abs. 2 ZPO. Danach hat eine Pfändung zu unterbleiben, wenn die Vollstreckung im Ergebnis lediglich Kosten verursachen würde. Die Pfändung wäre hier zwecklos, weil sie dem pfändenden Gläubiger nichts einbrächte 45, dem Schuldner aber Schaden zufügen würde. Darüber hinaus verlangt der Grundsatz der Geeignetheit ganz allgemein, daß hoheitliche Maßnahmen zur Erreichung ihres Zwecks tauglich sein müssen, wobei allerdings eine teilweise Eignung des eingesetzten Mittels genügt 46 . Für den Bereich der Zwangsvollstreckung wegen einer Geldforderung bedeutet das z.B., daß eine zumindest teilweise Befriedigung des Gläubigers ausreicht, um einen Verstoß gegen den Grundsatz auszuschließen47. Die Feststellung, daß ein Vollstreckungsakt dann zu unterbleiben hat, wenn er dem Gläubiger „nichts bringt", ist zumindest vom Ergebnis her einleuchtend. Bei vordergründiger Betrachtungsweise könnte man meinen, in solchen Fällen fehle dem Antrag des Gläubigers stets das Rechtsschutzbedürfnis 48, so daß sich auf diese Weise dem Grundsatz der Geeignetheit unschwer Rechnung tragen lasse. Die Dinge liegen aber weitaus komplizierter, denn nicht selten ist unklar, wann von einer ungeeigneten Vollstreckungsmaßnahme gesprochen werden kann. Das hängt einerseits damit zusammen, daß die Prüfung der Zwecktauglichkeit von einer Zukunftsprognose abhängt 49 . So läßt sich z.B. nie mit letzter Sicherheit sagen, ob ein Gläubiger, der die Zwangsversteigerung eines Grundstücks von 45

Vgl. KG Rpfleger 1956, 47 (48). Herzog in: Maunz/Dürig Art. 20 V I I Rdnr. 74; GentzNJW 1968,1600(1603);Hirschberg, S. 51 f. m.w.N. 47 Wieser ZZP 98, 427 (430). 48 Siehe allgemein zum Erfordernis eines Rechtschutzbedürfnisses in der Zwangsvollstreckung: Zöller/Stöber vor § 704 Rdnr. 17; Thomas/Putzo Vorbem. § 704 Anm. 2 f.; Schönke, Das Rechtsschutzbedürfnis, S. 74 ff.; Gehring, Rechtsschutzbedürfnis und Vollstreckungsgewalt. Auch das Bundesverfassungsgericht (E 61, 126 (135) — zur Erzwingungshaft nach § 901 ZPO) verneint ein Rechtsschutzbedürfnis des Gläubigers an der Anwendung eines ungeeigneten Mittels; dadurch lasse sich dem Grundsatz der Geeignetheit hinreichend Rechnung tragen (siehe dazu auch unten § 5 I I 2 a). 49 Vgl. Hirschberg, S. 52 ff. 46

II. Vollstreckung in fremdes Vermögen

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einer offenbar völlig aussichtslosen Rangstelle aus betreibt, nicht doch Befriedigung aus dem Versteigerungserlös zu erlangen vermag. Andererseits ließe sich auch argumentieren, wenn schon nicht die Vollstreckung als solche erfolgreich sei, so werde damit doch zumindest Druck auf den Schuldner ausgeübt. Bestehe somit immerhin die Möglichkeit, daß der Schuldner auf dem Umweg der Zwangsvollstreckung zur freiwilligen Befriedigung seiner Verbindlichkeiten angehalten werde, so könne von einem untauglichen Mittel nicht die Rede sein. Schließlich können sich auch Probleme aus der grundsätzlichen Aufgabenverteilung zwischen Vollstreckungsorgan und erkennendem Gericht ergeben, um nur einige Punkte zu nennen, die im folgenden erörtert werden. II. Der Vollstreckungsgegenstand ist nicht Bestandteil des Schuldnervermögens Gehört der Vollstreckungsgegenstand nicht zum Schuldnervermögen, so erweist sich der Vollstreckungszugriff zumeist als ein Schlag ins Wasser. So ist z.B. die Pfändung einer fremden oder nichtexistenten Forderung (§ 829 ZPO) gegenstandslos50. Wird in eine fremde Sache vollstreckt 51 , so ist die Zwangsvollstreckung in diesen Gegenstand auf Klage des Eigentümers nach § 771 ZPO für unzulässig zu erklären; nach vollständiger Durchführung der Zwangsvollstreckung verbleiben dem Berechtigten immer noch Bereicherungs- und Schadensersatzansprüche 52. In diesen und ähnlichen Fällen war die Zwangsvollstreckung rückwirkend betrachtet objektiv ungeeignet, ihren Zweck zu erfüllen, denn sie hat den Gläubiger seinem Ziel keinen Schritt näher gebracht. Nach dem bisher Gesagten liegt der Schluß nahe, der Grundsatz der Geeignetheit fordere hier, daß bereits der Vollstreckungsakt zu unterbleiben habe. Dann aber müßte man die zur Durchführung der Zwangsvollstreckung zuständigen Vollstreckungsorgane für befugt halten, die Zugehörigkeit des Vollstreckungsobjekts zum Schuldnervermögen zu prüfen. Ein solches umfassendes Prüfungsrecht wird jedoch von der h.M. zutreffend verneint 53 . 50 Allg. M: Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 67, 119; Baumbach/Lauterbach/Albers / Hartmann § 829 Anm. 1 B; Zöller/Stöber § 829 Rdnr. 4; Thomas/Putzo § 829 Anm. 5 cc; Stöber Rndr. 485, S. 195 f. Siehe auch Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 68 zur Ausnahme bei Pfändung künftiger oder aufschiebend bedingter Forderungen. 51 Dabei ist bekanntlich streitig, ob in diesem Fall ein Pföndungspfandrecht entsteht (vgl. nur Stein/Jonas/Münzberg § 804 Rdnr. 10 f. m.w.N.). 52 RGZ 156,395 (399 f.); BGHZ 55,20 (24 ff.) — Schadensersatzansprüche nach § 823 ΒGB; BGHZ 66, 150 (151) — Bereicherungsansprüche nach § 812 BGB bzw. § 816 BGB; Stein/Jonas/Münzberg § 771 Rdnr. 73, 76; Zöller/Schneider § 771 Rdnr. 23; Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 792, S. 313 — jeweils m.w.N. 53 Stein/Jonas/Münzberg § 771 Rdnr. 1, § 808 Rdnr. 3; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann § 808 Anm. 1 A; Zöller/Stöber vor § 704 Rdnr. 18; Gaul Rpfleger 1971, 81 (91); Hoff mann, S. 53.

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Der Grundsatz der

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Zum einen hat das Vollstreckungsorgan oft nicht die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten, die zur Klärung der materiellen Rechtslage erforderlich wären 54 . So kann der Gerichtsvollzieher vor Ort zwar den Gewahrsam des Schuldners an der zu pfändenden Sache prüfen (vgl. § 808 Abs. 1 ZPO), i.d.R. aber nicht die materiellen Rechtsverhältnisse an der Sache feststellen. Zum anderen wäre die Durchschlagskraft der Vollstreckung gefährdet, wenn erst nach einer umfassenden Aufklärung des Sachverhalts vollstreckt werden dürfte 55 . Schließlich sprechen auch die in den §§ 767, 771 ZPO gesetzlich vorgesehenen besonderen Klagearten gegen ein umfassendes materielles Prüfungsrecht der Vollstreckungsorgane 56. Entgegen dem ersten Anschein ist dies auch mit dem Grundsatz der Geeignetheit grundsätzlich vereinbar, denn dieser fordert in der Auslegung, wie er sie im Verfassungs- 57 und im Polizeirecht 58 erfahren hat, nicht, daß Maßnahmen unter Zugrundelegung einer ex post-Betrachtung zur Erreichung ihres Zwecks geeignet sein müßten. Geeignet ist danach eine hoheitliche Maßnahme vielmehr schon dann, wenn das handelnde Organ aus seiner Sicht davon ausgehend durfte, daß das eingesetzte Mittel den angestrebten Erfolg wenigstens teilweise erreichen wird. Stellt sich also etwa bei der Forderungspfändung und -Überweisung (§§ 829, 835 ZPO) erst im Einziehungsprozeß heraus, daß dem Schuldner gegen den Drittschuldner kein Anspruch zusteht, so ist es unter dem Blickwinkel des Grundsatzes der Geeignetheit grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn das Vollstreckungsgericht, gestützt auf die Angaben des Gläubigers, nur die angebliche Forderung des Schuldners gegen den Drittschuldner 59 gepfändet hat. Die getroffenen Aussagen gelten jedoch nicht ohne Einschränkung. Zum einen muß bedacht werden, daß durch die geschilderte Aufgabenverteüung zwischen Vollstreckungsorgan und erkennendem Gericht die Interessen Dritter berührt sein können. Der Eigentümer einer Sache läuft z.B. Gefahr, durch die Vollstreckung sein Eigentum zu verlieren. Will er das verhindern, so muß er Klage nach § 771 ZPO erheben, wobei ihm die Beweislast für das Bestehen seines Rechts zufällt 60 . Auch bei der Forderungspfändung wird der Drittschuldner u.U. gezwungen, einen Prozeß mit allen sich daraus ergebenden Belastungen zu führen. Das alles kann zudem zu einer unerwünschten Häufung von Prozessen 54

Vgl. Gaul Rpfleger 1971, 81 (91); kritisch zu dieser Begründung Hoff mann, S. 53 in Fn. 2 und S. 16 ff. 55 R. Schmidt, S. 947; Hoffmann, S. 19 ff.; J. Blomeyer Rpfleger 1969, 279 (282). 56 J: Blomeyer Rpfleger 1969, 279 (280). 57 BVerfGE 25,1 (12 f.); 30,250 (263); 39,210 (230) — jeweils im Rahmen der Überprüfung gesetzgeberischer Maßnahmen; Grabitz AöR 98 (1973), 568 (572). 58 BVerwG NJW 1975, 2158 (2159); Drem/Wacke/Vogel/Martens § 25 5 b ß, S. 420; Ossenbühl DÖV 1976, 463 (469); siehe auch VGH Bad.-Württ. VB1BW 1981, 182. 59 Nur diese wird gepfändet — vgl. Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 37; Zöller / Stöber § 829 Rndr. 4; Stürner in Baur/Stürner Rdnr. 497, S. 210; Stöber Rdnr. 485, S. 181. 60 Stein/Jonas/Münzberg § 771 Rdnr. 3; Wieczorek § 771 Anm. Ε IV b.

II. Vollstreckung in fremdes Vermögen

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führen 61 . Zum anderen ist auch denkbar, daß schutzwürdige Interessen des Schuldners auf dem Spiel stehen; dessen wirtschaftliches Ansehen wird durch die Vollstreckung gemindert 62 . Dies muß zwar grundsätzlich in Kauf genommen werden, denn dadurch, daß der Schuldner für seine Verbindlichkeiten nicht aufkommt, ist es ja überhaupt erst zur Vollstreckung gekommen. Die Nachteile für den Schuldner erweisen sich jedoch im Ergebnis als unnötige Härte, wenn dem Gläubiger aus der Vollstreckung nicht der geringste Vorteil erwächst 63. Demnach kann die geschilderte Aufgabenverteilung zwischen Vollstreckungsorgan und erkennendem Gericht auf schutzwürdige Interessen Dritter und des Schuldners treffen. Diesen muß unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Geeignetheit dann der Vorzug gegeben werden, wenn das Vollstreckungsorgan aus seiner Sicht davon überzeugt sein darf, daß die Vollstreckung letzten Endes zu keinem Erfolg führen wird. Dementsprechend hält auch die ganz h.M. die Pfändung der sich im Gewahrsam des Schuldners befindenden Sachen (vgl. § 808 Abs. 1 ZPO) dann für unzulässig, wenn nach Lage der Dinge kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann bzw. offensichtlich ist, daß Rechte dritter Personen der Inanspruchnahme bestimmter Gegenstände entgegenstehen64. Nach § 119 Nr. 2 S. 1 der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA) sollen Gegenstände z.B. dann offensichtlich zum Vermögen eines Dritten gehören, wenn Sachen dem Handwerker zur Reparatur, dem Frachtführer zum Transport oder dem Pfandleiher zum Pfand übergeben worden sind. Allerdings muß nach § 119 Nr. 2 S. 2 GVGA die Pfändung dennoch vorgenommen werden, falls der Gläubiger dies ausdrücklich verlangt 65 . Dies kann unter Beachtung des Grundsatzes der Geeignetheit jedoch nur dann gelten, wenn das Vorbringen des Gläu61

Vgl. Gaul Rpfleger 1971, 81 (91). Siehe dazu OLG Düsseldorf MDR 1977, 147. Ein Beispiel dafür, daß Forderungspfändungen zu Vermögensschäden auf Seiten des Schuldners führen können, bietet auch BGHZ 85, 110. Dort war nach den Behauptungen der Klägerin ein Geschäftsabschluß deshalb nicht zustande gekommen, weil der potentielle Geschäftspartner von der Forderungspfandung durch den Beklagten erfahren hatte. Das für vorläufig vollstreckbar erklärte Urteil, das die Beklagte im Vorprozeß erwirkt hatte, wurde dann in der Berufungsinstanz aufgehoben. Der Bundesgerichtshof verneinte hier einen Anspruch der Klägerin aus § 717 Abs. 2 ZPO, da der geltend gemachte Schaden nicht vom Schutzzweck der Vorschrift umfaßt sei. 63 a.A. wohl Wieser ZZP 98, 427 (431), der meint, Belange des Schuldners seien auch bei solchen Nachteilen von geringerem Interesse, die eine ungeeignete Vollstreckung hervorruft, denn der Schuldner habe diese seinem eigenen pflichtwidrigen Verhalten zuzuschreiben. 64 BGH L M Nr. 2 zu § 804 ZPO = ZZP 70, 251 (252); OLG Bremen DGVZ 1971, 4 (6); Stein/Jonas/Münzberg § 808 Rdnr. 3 („... sollten nicht gepfändet werden ..."); Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann § 808 Anm. 1 A; Zöller/Stöber § 808 Rdnr. 3; Thomas/Putzo § 808 Rdnr. 3 a; Stürner in:Baur/Stürner Rdnr. 447, S. 192 f.; a . A . / Blomeyer Rpfleger 1969, 279 (283). 65 So auch Stein/Jonas/Münzberg § 808 Rdnr. 3; Zöller/Stöber § 808 Rdnr. 3; Wieczorek § 808 Anm. A II a 3; Müller DGVZ 1976,1 (3); OLG Colmar OLGRspr. 18,399 f.; LG Berlin DGVZ 1966, 74; dagegen fordern Baumbach /Lauterbach/Albers /Hartmann § 808 Anm. 1 A einen „nicht ganz klar liegenden Fair, damit das Verlangen des Gläubigers trotz des Widerspruchs eines Dritten zur Pfändung führt. 62

§

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Der Grundsatz der

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bigers die sich aus den tatsächlichen Umständen ergebende Gewißheit zu erschüttern vermag und der Gerichtsvollzieher deshalb aus seiner Sicht nicht mehr zweifelsfrei davon ausgehen darf, daß sich die im Gewahrsam des Schuldners befindenden Sachen im Vermögen eines Dritten stehen. Daher wird man es insbesondere nicht als ausreichend ansehen können, wenn der Gläubiger sein Verlangen, warum trotz der offensichtlich gegen die Pfändung sprechenden Umstände vollstreckt werden soll, nicht begründet. Die hiergegen vorgebrachten Einwände 66 vermögen nicht zu überzeugen. Der Gerichtsvollzieher entscheidet damit keinen Rechtsstreit über materiellrechtliche Fragen, was alleine dem Verfahren nach § 771 ZPO vorbehalten ist. Er ist nur nicht bereit, aufgrund nicht begründeter Behauptungen von seiner Überzeugung abzugehen, welche er sich anhand von objektiv vorliegenden Umständen gebildet hat, die eindeutig für seine Auffassung sprechen und die für jedermann nachvollziehbar sind. Alleine auf das Verlangen des Gläubigers an sich könnte man allenfalls dann abstellen, wenn die Pfändung im Ergebnis lediglich ihm Nachteile bereiten würde, etwa weil er in einem Rechtsstreit nach § 771 ZPO als Unterlegener die Kosten zu tragen hätte. Wie gezeigt, stehen aber mit der aussichtslosen Pfändung sowohl Interessen des Schuldners als auch Interessen des Dritten auf dem Spiel, dem die Sache gehört. Darüber hinaus sind auch öffentliche Interessen berührt, wenn es um die Durchführung zweckloser Pfändungen und unnötiger Prozesse geht. Schließlich muß die Pfändung auch nicht schon deshalb vorgenommen werden, um dem Gläubiger die Möglichkeit zu erhalten, im Interventionsprozeß einen nach dem Anfechtungsgesetz evtl. anfechtbaren Rechtserwerb des Dritten einredeweise geltend zu machen (vgl. § 5 AnfG) 6 7 . Hierauf ist der Gläubiger nicht angewiesen. Vielmehr kann er ein möglicherweise bestehendes Anfechtungsrecht auch mit einer selbständigen Klage geltend machen68. Deshalb muß der Gläubiger sein Verlangen wenigstens begründen, wenn eine Sache gepfändet werden soll, obwohl nach den äußeren Umständen kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann, daß ihrer Inanspruchnahme Rechte Dritter entgegenstehen. Noch etwas anders liegen die Dinge bei der Forderungspfändung (§ 829 ZPO). Das Vollstreckungsgericht als Vollstreckungsorgan hat hier im Unterschied zur Sachpfändung immerhin insofern einen Anhaltspunkt für eine materielle Prüfung, als der Gläubiger in seinem Pfändungsantrag die zu pfändende Forderung auch nach ihrem Rechtsgrund so genau zu bezeichnen hat, daß ihre Identifizierung zweifelsfrei möglich ist 69 . Auf der Basis dieser Angaben soll nun 66 67 68 69

Vgl. Müller DGVZ 1976, 1 (3). So aber Müller DGVZ 1976, 1 (3) unter Hinweis auf OLG Colmar OLG Rspr. 18,399 f. Vgl. nur Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 414, S. 178 f. Vgl. RGZ 108, 318 (319); 139, 97 (99); 140, 340 (342); 157, 321 (324); 160, 37 (39 f.); RG

II. Vollstreckung in fremdes Vermögen

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eine Schlüssigkeitsprüfung in dem Sinne zulässig sein, daß das Pfändungsgesuch des Gläubigers dann zurückzuweisen ist, wenn nach jeder vertretbaren Rechtsansicht die Forderung nicht bestehen kann. Die umfassende Klärung der Sachund Rechtslage sei dagegen Aufgabe des Erkenntnisverfahrens 70. Es muß jedoch bezweifelt werden, ob alleine mit dieser Umschreibung eine klare Abgrenzung durchführbar ist 71 . Einige Beispiele aus der Rechtsprechung mögen die Probleme veranschaulichen, die sich in der Praxis bei der Beschreibung der beschränkten Prüfungskompetenzen des Vollstreckungsgerichts ergeben können. In einem Fall, über den das O L G Frankfurt zu befinden hatte, begehrte der Gläubiger u.a. die Pfändung und Überweisung eines Anspruchs des Schuldners gegen das Finanzamt auf Lohnsteuererstattung für das laufende Kalenderjahr. Der Rechtspfleger gab diesem Antrag statt. Nach erfolglos eingelegter Erinnerung hob das Landgericht auf sofortige Beschwerde des Drittschuldners den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß auf. Das vom Gläubiger daraufhin mit der sofortigen weiteren Beschwerde angerufene O L G Frankfurt bestätigte den Beschluß des Landgerichts 72. Nach Darstellung der oben wiedergegebenen allgemeinen Grundsätze zur beschränkten Prüfungskompetenz des Vollstreckungsgerichts stellte das Oberlandesgericht zunächst fest, daß eine Pfändung des Lohnsteuererstattungsanspruchs als künftige Forderung nach § 46 Abs. 6 S. 1 AO (a.F.) nicht in Betracht komme 73 . Anschließend setzte sich das Gericht ausführlich mit den in Rechtsprechung und Literatur vertretenen gegensätzlichen Auffassungen auseinander, ob der Anspruch bereits während des laufenden Kalenderjahres entstanden und deshalb als gegenwärtiger Anspruch pfändbar sei. Trotz der umstrittenen Rechtslage meinte das Gericht, das gegenwärtige Nichtbestehen des Lohnsteuererstattungsanspruchs stehe „mit Sicherheit fest" 74 . In einem anderen Fall, den das O L G Köln zu entscheiden hatte 75 , waren angebliche Ansprüche des Schuldners auf Unterhaltsgeld gegen das Arbeitsamt WarnRspr. 1920, Nr. 164; BGHZ 13,42(43) und jüngst BGH NJW 1986,97y (978) —jeweils zu den inhaltlichen Bestimmtheitsanforderungen an den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß, die aber mit den Anforderungen, die an den Pfändungsantrag gestellt werden, identisch sind (Stöber Rdnr. 461, S. 182); siehe fernen Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 42; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 829 Anm. 2 A; Wieczorek § 829 Anm. D12, C I b 1,2; Thomas/Putzo § 829 Anm. 2 a cc. 70 Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 37 f.; sachlich übereinstimmend: Wieczorek § 829 Anm. D I I b; Stöber, Rdnr. 485, S. 181 i.\A. Blomeyer § 5511 b, S. 221\Hornung Rpfleger 1977, 286 (293); BAG NJW 1977, 75; OLG Hamburg MDR 1952, 368; OLG Naumburg JW 1936, 401; a.A. Allorio ZZP 67, 321 (335); Mes Rpfleger 1968, 292. 71 Zweifel äußert auch Alisch DGVZ 1985, 107. 72 OLG Frankfurt OLGZ 1978, 363. 73 Vgl. nunmehr auch § 46 Abs. 6 S. 2 AO n.F. 74 OLG Frankfurt OLGZ 1978, 363 (365). 75 OLG Köln ZIP 1980, 578.

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Der Grundsatz der

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als Drittschuldner gepfändet worden. Das nach erfolglos eingelegter Erinnerung mit der sofortigen Beschwerde angerufene Landgericht hob den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß auf, da nach seiner Ansicht der pfändungsfreie Betrag möglicherweise zu niedrig festgesetzt worden war. Bis zur Entscheidung des Oberlandesgerichts war dann eine Änderungsmitteilung des Arbeitsamtes ergangen, nach deren Inhalt die Anspruchsvoraussetzungen für die Unterhaltszahlungen an die Schuldnerin wieder entfallen waren. Das Oberlandesgericht meinte zwar, das Landgericht habe fehlerhaft entschieden. Dennoch komme aber der Erlaß eines neuen Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses nicht ohne weiteres in Betracht. Zuvor habe das Landgericht nämlich „zu klären", ob der Anspruch des Schuldners gegen das Arbeitsamt ruhe oder erloschen sei76. Demgegenüber hatte das O L G Hamm zuvor die Auffassung vertreten, von einem offenkundigen Nichtbestehen des gepfändeten und überwiesenen Anspruchs könne dann nicht gesprochen werden, wenn sich dies erst nach einer Vertragsauslegung und gegebenenfalls nach einer Aufklärung des Sachverhalts feststellen lasse77. Derselbe Senat glaubte dagegen in einer späteren Entscheidung, von einem sicheren Nichtbestehen der gepfändeten Forderung ausgehen zu müssen. Diese Ansicht stützte das Gericht alleine auf eine behördliche Mitteilung des Finanzamtes als Drittschuldner 78 . Die vorstehenden Beispiele aus der Rechtsprechung verdeutlichen, daß mit der Behauptung, das Nichtbestehen der gepfändeten Forderung stehe zweifelsfrei fest, oft erhebliche Unsicherheiten bei der Feststellung der Prüfungskompetenzen des Vollstreckungsgerichts verdeckt werden. Das zeigt sich einmal dann, wenn die tatsächlichen Angaben des Gläubigers, auf die sich der Pfändungs» und Überweisungsbeschluß stützt, bestritten sind, etwa weil der Drittschuldner auf Verlangen des Gläubigers nach § 840 ZPO erklärt, die Forderung bestehe nicht. Rein theoretisch ließe sich sagen, in einem vom Schuldner oder Drittschuldner eingeleiteten Erinnerungs- und Beschwerdeverfahren 79 könnten die tatsächlichen Umstände soweit aufgeklärt werden, bis eine derart hohe Wahrschienlichkeit für die Nichtexistenz der Forderung erzielt sei, daß von einem „offensichtlichen" Nichtbestehen der Forderung gesprochen werden könne. Die umfassende Aufklärung der Sachlage ist jedoch Aufgabe des

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Kritisch dazu Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 3 in Fn. 157. OLG Hamm Rpfleger 1956, 197 (198) mit zustimmender Anm. von Berner. 78 OLG Hamm Rpfleger 1962, 951. 79 Eine Aufklärung des Sachverhalts vor Erlaß des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses scheitert von vorneherein daran, daß der Schuldner vor der Pfändung über das Pfändungsgesuch nicht gehört werden darf (§ 834 ZPO). Das Anhörungsverbot soll nach wohl h.M. auch dann noch gelten ,wenn die Forderungspfändung abgelehnt wird und der Gläubiger dagegen vorgeht (Stein/Jonas/Münzberg § 834 Rdnr. 1; Thomas/Putzo Anm. zu § 834; K G OLGZ 1980, 332 (336); a.A. Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 834 Anm. 2). 77

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Erkenntnisverfahrens, hier also des Einziehungsprozesses des Gläubigers gegen den Drittschuldner; das Vollstreckungsverfahren, das primär auf Rechtsdurchsetzung gerichtet ist, wäre damit überfrachtet (siehe oben). Auch wäre ein solches Vorgehen mit erheblichen Gefahren für den Gläubiger verbunden. Würde z.B. der Pfändungs- und Überweisungsbeschluß im Rechtsbehelfszug zunächst aufgehoben 80, dann aber in der nächsthöheren Instanz bestätigt, so könnten andere Gläubiger in der Zwischenzeit auf die Forderung Zugriff nehmen und mit rangwahrender Wirkung pfänden. Das alles spricht gegen eine umfassende Sachverhaltsaufklärung im Vollstreckungsverfahren. Ergeben sich dagegen tatsächliche Anhaltspunkte für ein Nichtbestehen der Forderung des Schuldners gegen den Drittschuldner, so wie es in der wiederggegebenen Entscheidung des O L G Köln der Fall war, dann wird man es zulassen müssen, daß im Vollstreckungs- und dem sich u.U. anschließenden Rechtsbehelfsverfahren wenigstens geklärt wird, ob der Gläubiger dagegen etwas vorzubringen hat. Kann er das nicht, dann darf der Pfändungs- und Überweisungsbeschluß nicht ergehen oder muß später wieder aufgehoben werden. Bestreitet dagegen der Gläubiger das Nichtbestehen der Forderung und müßte aus diesem Grund eine Beweisaufnahme stattfinden, so ist die Klärung des Sachverhalts dem Erkenntnisverfahren vorbehalten. Was die Klärung materiellrechtlicher Rechtsfragen anbelangt, so wird — wie bereits erwähnt — auch hier wieder gesagt, dies sei nicht Aufgabe des Vollstrekkungsgerichts, sondern bleibe dem Erkenntnisverfahren vorbehalten 81. Aber auch im Rahmen der von der h.M. geforderten Schlüssigkeitsprüfung in dem Sinne, daß geprüft werden muß, ob das zu pfändende Recht nach irgendeiner vertretbaren Rechtsansicht bestehen kann, stellen sich u.U. komplizierte Rechtsfragen; das zeigt sich deutlich an der wiedergegebenen Entscheidung des O L G Frankfurt 82 . Wenn das Gericht dort zu einem Meinungsstreit Stellung nahm, so bildet dies alleine noch keinen Grund zur Beanstandung83. Eine solche Lösung ist klarer als die bloße Behauptung, jede andere Rechtsansicht sei „unvertretbar", denn mit ihr werden die Wertungen offengelegt, die hinter dieser Behauptung stehen. Wenn damit doch wieder in begrenztem Umfang materielle Rechtsfragen in das Vollstreckungsverfahren hineingetragen werden, so ist dies nicht unbedingt systemwidrig. Das Gesetz kennt auch sonst Fälle, in denen über materiellrechtliche Probleme im Vollstreckungsverfahren befunden werden muß. So hat das Vollstreckungsgericht z.B. das Pfändungsverbot in § 851 Abs. 1 ZPO von 80 Nach erfolgreich eingelegter Erinnerung kann das Gericht jedoch die Vollziehung seiner Entscheidung bis zum Ablauf der Beschwerdefrist oder einer anderslautenden Entscheidung des Beschwerdegerichts aussetzen (vgl. Stürner in: Baur/Stürner Rdnr. 727, S. 289). 81 Stein/Jonas/Münzberg § 829 Rdnr. 37; Gaul Rpfleger 1971,81 (91); KG OLGZ 1980,332 (335). 82 Siehe dazu auch LG Kempten Rpfleger 1968, 291 mit ablehnender Anm. Mes. 83 a.A. Wieser ZZP 98, 427 (435 in Fn. 26).

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Der Grundsatz der

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Amts wegen zu beachten84, wenn sich die Unpfändbarkeit der Forderung aus dem Sachvortrag des Gläubigers ergibt 85 . Das Gesetz macht hier aber die Pfandbarkeit der Forderung von ihrer Übertragbarkeit abhängig, eine Frage, deren Beantwortung sich eindeutig nach materiellem Recht richtet 86 . Als weiteres Beispiel sei auf § 859 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 ZPO hingewiesen. Auch hier kann aus Rechtsgründen fraglich sein, ob das Vollstreckungsobjekt zum Gesellschaftsvermögen oder zum Nachlaß gehört 87 . Wenn nach dem Gesagten u.U. auch materielle Rechtsfragen im Vollstrekkungsverfahren eine Rolle spielen können, ohne daß dem zwingend das System des Vollstreckungsrechts entgegenstehen müßte, so gilt dies allerdings nur mit zwei Einschränkungen. Zum einen darf die Effektivität der Vollstreckung keinen Schaden nehmen. Sollte sich deshalb eine Rechtsfrage als derart komplex herausstellen, daß darüber nicht in einem für den Gläubiger zumutbaren Zeitraum entschieden werden kann, dann bleibt deren Klärung dem Erkenntnisverfahren vorbehalten. Zum anderen muß stets berücksichtigt werden, daß die Entscheidung über das Bestehen oder Nichtbestehen des Anspruchs im Vollstreckungsverfahren auf den Angaben des Gläubigers beruht. Vor einer Ablehnung des Antrags auf Erlaß des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses ist dem Gläubiger daher Gelegenheit zu geben, seinen Antrag schlüssig zu machen (vgl. §§ 139, 278 Abs. 3 ZPO) 88 . Darüber hinaus ist eine unzutreffende rechtliche Würdigung der angeblichen Forderung im Antrag auf Erlaß eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses unschädlich89. Das Vollstreckungsgericht kann also keinesfalls den Antrag ablehnen, weil es der Rechtsauffassung des Gläubigers nicht zustimmt, eine Forderung des Schuldners gegen den Drittschuldner aber aus anderen Gründen nach den Angaben des Gläubigers für gegeben hält. Zusammenfassend läßt sich demnach folgendes feststellen: Der Grundsatz der Geeignetheit verbietet die Vornahme zweckloser Vollstreckungsmaßnahmen nur mit der Einschränkung, daß sich deren Aussichtslosigkeit aus der Sicht des handelnden Organs im voraus erkennen läßt. Es ist deshalb grundsätzlich nicht zu beanstanden, daß die Zugehörigkeit des Vollstreckungsobjekts zum Schuldnervermögen in den Verfahren der Geldvollstreckung i.d.R. nicht geprüft wird, auch wenn dadurch der Gefahr ungeeigneter Vollstreckungsmaßnahmen Vorschub geleistet wird. Einschränkungen dieser Regel können sich aber aus der gebotenen Berücksichtigung schutzwürdiger Interessen Dritter sowie des Schuld-

84 85 86 87 88 89

Thomas/Putzo § 829 Anm. 4 b mit Anm. 2 e; Wieczorek § 851 Anm. D. Stein/Jonas/Münzberg § 850 Rdnr. 15 mit § 851 Rdnr. 8. Vgl. nur Zöller/Stöber § 851 Rdnr. 2 ff. Vgl. z.B. LG Oldenburg Rpfleger 1981, 79 zur Pfändbarkeit eines „Und-KontosM. Zöller/Stöber § 829 Rdnr. 5; Stein/Jonas/Münzberg 829 Rdnr. 32. Vgl. RGZ 108, 318 (319 f.); BAG Rpfleger 1975, 220; Thomas/Putzo § 829 Anm. 2 a cc.

III. Ungeeignetheit wegen fehlender Befriedigungsaussicht

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ners ergeben. Daher sind insbesondere im Rahmen der Forderungspfandung leicht auszuräumende Zweifel an der Existenz der Forderung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen — soweit möglich — bereits im Vollstreckungsverfahren oder aber im Rechtsbehelfszug gegen den Pfändungsakt zu klären.

III. Die Ungeeignetheit der Vollstreckung wegen fehlender Befriedigungsaussichten für den Gläubiger Vollstreckungsmaßnahmen wegen einer Geldforderung können ungeeignet sein, wenn der Gläubiger aus dem Vollsteckungsobjekt keine Befriedigung zu erlangen vermag. Mit der Vorschrift des § 803 Abs. 2 ZPO, der die Vollstreckung insgesamt1 untersagt, wenn sie im Ergebnis lediglich Kosten verursachen würde, ist das Problem, ob ungeeignete Vollstreckungsmaßnahmen wegen fehlender Befriedigungsaussichten für den Gläubiger zu unterbleiben haben, jedoch nur teilweise gesetzlich gelöst. Zum einen sind vom Wortlaut des § 803 Abs. 2 ZPO nicht die Fälle umfaßt, in denen zwar der Verwertungserlös voraussichtlich die Kosten der Vollstreckung übersteigen wird, der betreibende Gläubiger aber dennoch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht die geringste Aussicht auf eine auch nur teüweise Befriedigung seiner Ansprüche hat 2 . So liegt es bei der Anschlußpfändung (vgl. § 826 ZPO), wenn das Vollstreckungsobjekt zuvor bereits mehrfach von anderen Gläubigern gepfändet wurde, deren Forderungen den voraussichtlichen Versteigerungserlös um ein vielfaches übersteigen. Zum anderen gilt das Verbot zweckloser Pfändungen in § 803 Abs. 2 ZPO, wie sich aus Gesetzeswortlaut und -systematik eindeutig entnehmen läßt, nur für die Mobiliarvollstreckung; eine direkte Anwendung der Vorschrift im Bereich der Immobiliarvollstreckung scheidet daher aus3. Dort ergeben sich nun ähnliche Probleme wie bei der Anschlußpfändung, wenn der die Zwangsversteigerung beantragende Gläubiger an aussichtsloser Rangstelle (vgl. § 10 ZVG) steht und demzufolge mit seiner Befriedigung aller Voraussicht nach nicht gerechnet werden kann 4 . Die wohl überwiegende Meinung hält aber auch in diesem Fall mit unterschiedlicher Begründung an der Durchführung der Zwangsversteigerung fest 5. 1 Da die Pfändung einer Sache notwendige Voraussetzung für deren Verwertung ist, enthält § 803 Abs. 2 ZPO ein Pfändungs- und Verwertungsverbot (Wieser ZZP 98, 427 (429)). 2 Vgl. Brehm DGVZ 1985, 65 (66); Wieser DGVZ 1985, 37 (38). 3 Siehe zur grundsätzlichen Anwendbarkeit von Bestimmungen der ZPO auf die Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen: Steiner/Hagemann Einl. Rdnr. 5 ff.; Zeller § 1 Rdnr. 75; Dossier/Schiffhauer/Gerhardt Einführung IV. 4 Siehe dazu auch schon oben § 1 I I (Fall 1). 5 OLG Köln Rpfleger 1972, 378; OLG Koblenz Rpfleger 1986, 25 mit Anm. Meyer-Stolte; LG Lüneburg MDR1976,1027; L G Limburg Rpfleger 1977,219; LG Oldenburg ZIP 1982,626; LG Hannover MDR 1984, 764; Zeller § 1 Rdnr. 61 (5); Steiner/Hagemann §§ 15, 16 Rdnr. 135 ff.; Mohrbutter/Drischler Muster 29 Anm. 1 a, S. 136; Stöber /Zeller Rdnr. 111, S. 46. A.A. LG Limburg DGVZ 1970, 186; AG Nördlingen/LG Augsburg, 30.8.1973 Κ 7/72 bzw. 5.11.1973, 4 Τ 225/73 — zitiert bei Zeller Ε 4; LG Augsburg Rpfleger 1986, 146; Dossier/

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In den beiden genannten Fallgruppen wird teilweise ähnlich argumentiert. Dennoch empfiehlt sich wegen der unterschiedlichen Interessenlage eine getrennte Erörterung der Problematik. 1. Die zur Befriedigung des betreibenden Gläubigers ungeeignete Zwangsversteigerung nach dem ZVG

a) Die gesetzliche Ausgangslage Für die hier zu erörternde Fallgruppe, in der der Versteigerungserlös nicht ausreicht, um den Gläubiger auch nur teilweise zu befriedigen, enthält das Gesetz in § 77 Z V G eine Regelung. Danach ist das Verfahren einstweilen einzustellen, wenn Gebote entweder überhaupt nicht abgegeben oder sämtlich erloschen sind (Abs. 1); im Wiederholungsfall ist das Verfahren mit der Einschränkung aufzuheben, daß es auf Antrag des Gläubigers als Verfahren der Zwangsverwaltung fortgesetzt werden kann, wenn die Voraussetzungen hierfür vorliegen (Abs. 2). Übersteigt nun das geringste Gebot (vgl. § 44 Abs. 1 ZVG) den Grundstückswert bei weitem, dann werden aller Wahrscheinlichkeit nach keine wirksamen Gebote abgegeben werden 6. Trotzdem müßten gem. § 77 Z V G zwei Versteigerungstermine abgehalten werden, ehe das Verfahren aufgehoben werden könnte. b) Die Interessenlage Gegen das soeben geschilderte Verfahren bestehen jedoch Bedenken, wenn sich von vorneherein absehen läßt, daß der die Zwangsversteigerung betreibende Gläubiger mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus dem Versteigerungserlös keine Befriedigung erlangen wird. In diesem Fall verursacht die Abhaltung zweier aussichtsloser Versteigerungstermine nur unnötige Kosten. Zwar könnte man hier argumentieren, die Kostenlast treffe bei erkennbarer Aussichtslosigkeit der Zwangsversteigerung ohnehin den Gläubiger, da diese Kosten nicht „notwendig" i.S.d. §§ 788 Abs. 1 S. 1, 91 ZPO 7 seien. Dem Schuldner erwachse insofern also kein Nachteil 8 , während der Gläubiger nicht schutzwürdig sei, Schiffbauer/Gerhardt § 30 Anm. 2 b;Niederée DRpflZ 1976,14 ff.; Schiffhauer Rpfleger 1983, 236 ff.; ders. Rpfleger 1978, 397 (403); Wieser Rpfleger 1985, 96 ff.; ders. ZZP 98,427 (436 ff.); Lippross, S. 133. 6 Ein sog. Untergebot ist nach § 44 Abs. 1 ZVG unzulässig und muß nach § 71 Abs. 1 ZVG zurückgewiesen werden. Damit ist es i.S.d. § 77 Abs. 1 ZVG „erloschen" (vgl. § 72 Abs. 2 ZVG). 7 Siehe dazu Zeller § 1 Rdnr. 42 (2)\Stein/Jonas/Münzberg § 788 Rdnr. 19; Wieczorek § 788 Anm. Β I I I b 2; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann § 788 Anm. 2 A. 8 Das LG Oldenburg ZIP 1982, 626 (627) meint demgegenüber, der Schuldner werde mit den Kosten „in der Realität" nicht belastet, weil er „ohnehin unpfandbar" sei. Die

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wenn er den Versteigerungsantrag trotz evidenter Zwecklosigkeit des Verfahrens stelle. Eine solche Argumentation würde aber verkennen, daß nach geltendem Recht häufig nur ein Teil der tatsächlich entstehenden Kosten auf die Beteiligten abgewälzt werden kann 9 . Es besteht deshalb auch ein öffentliches Interesse an der Verhinderung unnötiger Kosten 10 . Öffentliche Interessen sind zudem durch den nutzlosen Zeit- und Arbeitsaufwand berührt, den eine von vorneherein aussichtslose Zwangsversteigerung mit sich bringt 11 . Die vorstehenden Erwägungen beruhen indes auf der Prämisse, daß sich die Erfolglosigkeit der Zwangsversteigerung unter Zugrundelegung der durch den Grundsatz der Geeignetheit gebotenen ex ante-Betrachtung 12 voraussehen läßt. Die Gegenmeinung ist demgegenüber teilweise der Ansicht, in dieser Zukunftsprognose liege regelmäßig eine unzulässige Vorwegnahme des Versteigerungsergebnisses13. Dem kann in dieser Allgemeinheit jedoch nicht gefolgt werden. Zwar läßt sich nie mit letzter Sicherheit voraussagen, ob nicht doch ein Gebot abgegeben wird, das den Grundstückswert bei weitem übersteigt. In der Regel ist die Zwangsversteigerung aber ein Verlustgeschäft 14. Berücksichtigt man diesen Umstand und hält man zudem eine Zukunftsprognose nur dort für statthaft, wo Grundstückswert und geringstes Gebot weit auseinander liegen, dann muß ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewißheit genügen15, wie er bei der Beweiswürdigung im Erkenntnisverfahren verlangt wird 1 6 . Für einen solchen Grad von Gewißheit kommt es allerdings entscheidend auf ein möglichst feststehendes Verhältnis von Verkehrswert und GrundstücksVollstreckungsgläubiger, welche Vollstreckungskosten einzuzahlen hätten, schadeten sich deshalb nur selbst. Dem hält Schiffhauer Rpfleger 1983,236(238) mit Recht entgegen, daß man nie wisse, ob ein zunächst zahlungsunfähiger Schuldner nicht später doch wieder zu Geld komme. Darüber hinaus hat der Gläubiger nicht nur „in der Realität", sondern auch rechtlich die Kosten zu tragen (siehe die Ausführungen im Text). 9 Siehe dazu für das Erkenntnisverfahren: Franzen NJW 1974, l%4ü.\Baumgärtel JZ 1975, 425 (426 f.). 10 Wieser ZZP 98, 427 (432). 11 Schiffhauer Rpfleger 1983, 236 (239); Wieser Rpfleger 1985, 96 (98); LG Augsburg Rpfleger 1986, 146 (147). Das von Wieser Rpfleger 1985, 96 (98) und in ZZP 98, 427 (431) zusätzlich ins Feld geführte Argument, ein „Schlag ins Wasser" könne das Ansehen der Justiz mindern, vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Zum einen ist es zu unbestimmt, als daß sich aus ihm konkrete Ergebnisse erzielen ließen. Man könnte z.B. auch sagen, das Ansehen der Justiz nähme dann Schaden, wenn der Staat nicht in jedem Fall mit der Vollstreckung Emst mache. Zum anderen nimmt das Gesetz selbst erfolglose Vollstreckungsmaßnahmen in Kauf, wie sich im vorangegangen Abschnitt gezeigt hat. 12 Siehe dazu oben § 3 II. 13 OLG Köln Rpfleger 1972, 378; OLG Koblenz Rpfleger 1986, 25; LG Lüneburg MDR 1976, 1027; LG Limburg Rpfleger 1977, 219; LG Hannover MDR 1984, 764; Mohrbutter/ Drischler Muster 29 Anm. 1 a, S. 136. 14 Vgl. Schiffhauer Rpfleger 1983,236 (237 in Fn. 28): Die Zwangsversteigerung erbringe im allgemeinen ein Meistgebot, das 70 — 80 % des Grundstückswertes betrage. 15 Zutreffend Wieser ZZP 98, 427 (436); siehe auch Niederée DRpflZ 1976, 14 (15 f.). 16 Siehe dazu Stein/Jonas/Leipold § 286 Rndr. 4 m.w.N.

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belastungen an. Während der Verkehrswert nach § 74 a Abs. 5 Z V G vom Vollstreckungsgericht durch Beschluß festzusetzen ist, der in(formelle) Rechtskraft erwächst 17, könnte problematisch sein, ob die Höhe der tatsächlichen Belastungen wirklich klar erkennbar ist. Auskunft hierüber erteilt in erster Linie das Grundbuch. Insbesondere bei nur (noch) teilvalutierten Grundpfandrechten könnten sich aber Unsicherheiten ergeben, wenn sich dies nicht aus dem Grundbuch ersehen läßt. Zwar entstehen bei (nichtakzessorischen) Grundschulden mit der Zahlung auf die persönliche Forderung nur Rückgewähransprüche und bei der Hypothek Eigentümergrundschulden, die ebenfalls in das geringste Gebot aufgenommen werden 18 ; insofern scheint eine Unsicherheit bei der Schätzung der tatsächlichen Belastungen des Grundstücks nicht zu bestehen. Anderes könnte sich aber im Falle des Bestehens gesetzlicher Löschungsansprüche nach den §§ 1179 a, b BGB ergeben. Hier bliebe ein Eigentümergrundpfandrecht bei der Feststellung des geringsten Gebotes dann als löschungsreifes Recht unberücksichtigt, wenn dem Vollstreckungsgericht die zur Löschung nötigen Urkunden vorgelegt werden 19. Dann wäre das geringste Gebot entsprechend niedriger, ohne daß dies immer aus dem Grundbuch ersichtlich sein müßte. Darin könnte in der Tat ein Unsicherheitsfaktor bei einer vor Beginn der Zwangsversteigerung angestellten Zukunftsprognose liegen, ob die Zwangsversteigerung für den betreibenden Gläubiger ergebnislos verlaufen wird 2 0 . Diese Fälle werden aber nicht sehr häufig vorkommen, denn fallen sowohl das begünstigte als auch das durch den gesetzlichen Löschungsanspruch belastete Recht in das geringste Gebot, so braucht sich der Gläubiger des begünstigten Rechts nicht weiter um den Versteigerungsantrag des nachrangigen Gläubigers zu kümmern, denn beide Rechte werden durch den Zuschlag nicht berührt (§§ 44 Abs. 1, 52 Abs. 1 S. 1,66,89,90,91 Abs. 1 ZVG) 2 1 . Eine Berücksichtigung des gesetzlichen Löschungsanspruchs von Amts wegen scheidet in der Zwangsversteigerung ebenfalls aus22. Ist der betreibende Gläubiger dagegen selbst Inhaber eines Löschungsanspruchs, so liegt es an ihm, dem Vollstreckungsgericht durch Vorlage sämtlicher Urkunden Kenntnis von der Löschungsreife des Eigentümergrundpfandrechts zu verschaffen und damit möglicherweise die Erfolglosigkeit seines Vollstreckungsantrages zu widerlegen. Hat der Gläubiger schließlich keine dinglich 17 Vgl. dazu Zeller § 74 a Rdnr. 2 (7) b; siehe aber auch Meyer-Stolte Rpfleger 1986,26, der darauf hinweist, daß der Verkehrswert beim Eintritt neuer Tatsachen geändert werden müsse. 18 Vgl. nur Zeller § 45 Rdnr. 3 (3). 19 Zeller § 44 Rdnr. 5 (13), § 45 Rdnr. 6 (2); Steiner/Eickmann § 44 Rdnr. 34. 20 Vgl. Steiner/Hagemann §§ 15, 16 Rdnr. 136. 21 Siehe dazu Mohrbutter KTS 1978, 17 (21); teilweise wird in diesem Fall sogar das zur Ausübung des Löschungsanspruchs erforderliche rechtliche Interesse verneint (vgl. MwicWLomm/Eickmann § 1179 a Rdnr. 4, § 1179 Rdnr. 40 m. Rdnr. 36). 22 Staudinger/Scherübl § 1179 a Rdnr. 34.

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gesicherte Forderung gegen den Schuldner und steht ihm deshalb auch kein Löschungsanspruch nach den §§ 1179 a, b BGB zu, dann bleibt ihm immer noch die Möglichkeit, sich durch die Eintragung einer Zwangshypothek unter den Voraussetzungen des § 866 Abs. 3 ZPO zu sichern, um dann nach Durchsetzung seines Löschungsanspruchs in eine aussichtsreichere Rangstelle aufzurücken. Nach den bisherigen Ausführungen sind also durchaus Fälle denkbar, in denen kein vernünftiger Zweifel daran bestehen kann, daß der betreibende Gläubiger aus dem Versteigerungserlös keine Befriedigung erlangen wird. Fraglich ist aber, ob das Verfahren der Zwangsversteigerung nicht wenigstens als Druckmittel eingesetzt werden darf, um den Schuldner zur freiwilligen Begleichung seiner Verbindlichkeiten zu bewegen23. Aber auch dieses Argument vermag nicht zu überzeugen. Zum einen wird der Druck auf den rechtskundigen Schuldner nur sehr gering sein. Achtet er darauf, daß an jene Gläubiger, die an aussichtsreicher Rangstelle stehen, pünktlich gezahlt wird 2 4 und haben diese deshalb keine Veranlassung, selbst die Zwangsversteigerung zu betreiben, so geht der Versteigerungsantrag des an aussichtsloser Rangstelle stehenden Gläubigers ins Leere; das Verfahren wird nach § 77 Abs. 1 Z V G zunächst eingestellt und im Anschluß an den erfolglosen zweiten Termin nach Maßgabe des § 77 Abs. 2 Z V G endgültig aufgehoben. Zum anderen muß aber auch die grundsätzliche Frage gestellt werden, ob die Versteigerung überhaupt als Druckmittel eingesetzt werden darf. Zwar ist der auf den Schuldner durch den drohenden Verlust seiner Sache ausgeübte Druck grundsätzlich unbedenklich, denn dieser geht mit jeder in Aussicht gestellten Zwangsversteigerung einher 25. Es bleibt in diesem Fall dem Schuldner überlassen, den Gläubiger freiwillig zu befriedigen, um dadurch die Versteigerung abzuwenden. Bedenken gegen den Einsatz der Zwangsversteigerung als Druckmittel bestehen aber dann, wenn dieses sich hierin erschöpft. In diesem Fall käme das Zwangsversteigerungsverfahren einer reinen Beugemaßnahme gleich. Der Schuldner würde nicht zahlen, um sein Grundstück zu retten, sondern um den auf ihn ausgeübten Zwang zu beenden. Dazu fehlt es aber, anders als bei der Vollstreckung wegen unvertretbaren Handlungen und Unterlassungen (§§ 888, 890 ZPO), an der gesetzlichen Grundlage 26. Deshalb ist dieses Vor23 So OLG Koblenz Rpfleger 1986,25 f.; LG Lüneburg Rpfleger 1977,219 (220); LG Oldenburg ZIP 1982, 626 (627); L G Hannover MDR 1984, 764; Zeller § 1 Rdnr. 61 (5); Steiner/Hagemann §§ 15, 16 Rdnr. 136; grundsätzlich auch Schiffbauer Rpfleger 1983, 236 (238). 24 Siehe zur Beschreibung dieser Schuldnergruppe Schiffhauer Rpfleger 1983, 236. 25 Vgl. schon Klein/Engel, S. 541: „Die große Masse der Immobiliarexekutionen ist... als Pression gewollt oder wirkt wenigstens als solche. Der Verpflichtete wird durch sie mürbe, findet nun mit äußerster Anstrengung Mittel, um den Gläubiger zu bezahlen oder beschwichtigt ihn wenigstens 26 Wieser Rpfleger 1985,96 (97) meint demgegenüber, es liege ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (gemeint ist wohl der Grundsatz der Erforderlichkeit) vor, denn

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gehen unzulässig27. Darüber hinaus besteht auch die Gefahr, daß der Gläubiger auf dem Umweg einer aussichtslosen Zwangsversteigerung nicht nur die Befriedigung derjenigen Forderung erstrebt, derentwegen er das Verfahren beantragt, sondern er damit zugleich auch die Durchsetzung nicht titulierter Ansprüche zu erreichen sucht. Aus diesen Gründen ist ein Versteigerungsantrag, der den alleinigen Zweck verfolgt, Druck auf den Schuldner auszuüben, unzulässig28. Schutzwürdige Interessen des betreibenden Gläubigers könnten aber insofern bestehen, als ihm mit der Durchführung des Verfahrens die Möglichkeit eröffnet werden könnte, das Grundstück selbst zu ersteigern 29. Davor wird er sich jedoch im Regelfall hüten, denn bei der hier untersuchten Problematik übersteigt das geringste Gebot den Grundstückswert bei weitem, so daß die Ersteigerung des Grundstücks für den betreibenden Gläubiger nur ein Verlustgeschäft wäre. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, wie die Zwangsversteigerung aus diesem Grund geeignet sein sollte, den Gläubiger zu befriedigen. Das Gesetz regelt zwar in § 114 a Z V G den Fall, daß der Zuschlag einem zur Befriedigung aus dem Grundstück Berechtigten 30 erteilt wird. Diese Vorschrift besagt aber nur, daß der erwerbende Gläubiger mit seiner Forderung so zu behandeln ist, als wären 7/10 des Grundstückswertes geboten worden, wenn das tatsächlich abgegebene Gebot darunter liegt. Übersteigt das geringste Gebot dagegen den Grundstückswert, so muß der an aussichtsloser Rangstelle stehende Gläubiger sogar mehr als den Grundstückswert bieten, um das Grundstück zu erwerben. § 114 a Z V G kommt daher für diesen Fall nicht zum Zuge. Anderes könnte freilich für den Fall gelten, daß die Zwangsversteigerung auch von einem besserrangigen Gläubiger betrieben wird, bei dem geringstes Gebot und Grundstückswert in einer vernünftigen Relation zueinander stehen. Schiffhauer ist der Ansicht, der an aussichtsloser Rangstelle stehende Gläubiger könne hier das Grundstück erstehen, um es dann zu einem höheren Preis weiter zu veräußern; an dem Gewinn könne er sich dann schadlos halten 31 . Dem hat jedoch Wieser überzeugend entgegengehalten, daß der Gläubiger diesen Gewinn anders als bei den §§ 888 ff., 890 ff. ZPO sei eine Abstufung der Zwangsmittel bei der Zwangsversteigerung nicht möglich. Diese Frage stellt sich aber erst gar nicht, da sich die genannten Vorschriften nicht auf den vorliegenden Fall übertragen lassen. 27 Vgl. Gaul Rpfleger 1971, 1 (9), der zutreffend daraufhinweist, daß Eingriffe in Freiheit und Eigentum strenger Gesetzmäßigkeit unterliegen. Gaul spricht daher wie im Sachenrecht von einem „numerus clausus" und einem „Typenzwang" der Vollstreckungsarten. 28 So im Ergebnis auch Wieser Rpfleger 1985 96 (97); ders. ZZP 98, 427 (437); Niederée DRpflZ 1976, 14 f.; Lippross, S. 134; L G Augsburg Rpfleger 1986, 146. 29 OLG Köln Rpfleger 1972,31%;Zeller § 1 Rdnr. 61 (5);Steiner/Hagemann §§ 15,16Rdnr. 137. 30 Dazu zählt auch ein persönlicher Gläubiger mit der Rangklasse § 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG (Zeller § 114 a Rdnr. 2 (4)); Dossier/Schiffbauer/Gerhardt § 114 a Anm. 3 a; Jonas/Pohle § 114 a Anm. 1 a). 31 Schiffhauer Rpfleger 1983, 236 (238).

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aufgrund seines Geschicks und nicht aufgrund seiner Gläubigerstellung erziele. Es bestehe deshalb kein Grund, den Gewinn aus der Weiterveräußerung über § 114 a Z V G hinaus auf die Forderung anzurechnen 32. Sind nach dem Gesagten keine schutzwürdigen Interessen des Gläubigers an der Durchführung einer von vorneherein aussichtslosen Zwangsversteigerung erkennbar, und ist diese daher in jeder Hinsicht ungeeignet, ihren Zweck zu erfüllen, so muß schließlich noch überlegt werden, ob nicht wenigstens schutzwürdige Interessen anderer (potentieller) Gläubiger zu einem anderen Ergebnis führen können. Das L G Oldenburg meint, mancher Gläubiger sei eher bereit, mit dem Schuldner Verträge abzuschließen, falls er wüßte, daß dieser Eigentümer eines Grundstücks sei. Es sei deshalb nicht unbillig, „wenn einem leistungsunfähigen Schuldner dieser Bonus genommen wird" 3 3 . Aber ganz abgesehen davon, daß das Zwangsversteigerungsverfahren seiner Intention nach der Gläubigerbefriedigung und nicht dem Schutz dritter Personen dient, die am Verfahren nicht beteiligt sind 34 : Wie sollte dem Schuldner der „Bonus" des Grundstücks genommen werden? Betreibt ein an aussichtsloser Rangstellung stehender Gläubiger alleine die Zwangsversteigerung, so wird das Verfahren ohnehin nach § 77 Z V G zunächst eingestellt und später ganz aufgehoben werden. Potentielle Gläubiger könnten daher allenfalls durch den im Grundbuch eingetragenen Versteigerungsvermerk (§ 19 ZVG) gewarnt werden, der auch nach seiner Löschung (vgl. § 34 ZVG) auffindbar bleibt 35 . Der Versteigerungsvermerk kann potentiellen Gläubigern jedoch erst dann als Warnung dienen, wenn diese Einblick in das Grundbuch nehmen. Aus dem Grundbuch sind aber auch die dinglichen Belastungen ersichtlich, die auf dem Grundstück ruhen. Damit können potentielle Gläubiger hinreichend zuverlässig die ihnen durch das Grundstück gebotene Sicherheit abschätzen. Eines zuvor eingetragenen Versteigerungsvermerks bedarf es dazu nicht. Es bleibt daher festzuhalten, daß weder schutzwürdige Belange des betreffenden Gläubigers noch solche dritter Personen die Durchführung einer aussichtslosen Zwangsversteigerung rechtfertigen. Damit tritt das öffentliche Interesse an der Vermeidung unnötiger Kosten und zwecklosen Arbeitsaufwandes ganz in den Vordergrund. Daneben bestehen Interessen des Schuldners, von einer aussichtslosen Zwangsversteigerung mit ihren negativen Folgen verschont zu bleiben36. 32

Wieser Rpfleger 1985, 96 (97) und nunmehr auch LG Augsburg Rpfleger 1986, 146. LG Oldenburg ZIP 1982, 626 (628). 34 Vgl. Schiffhauer Rpfleger 1983, 236 (238). 35 Vgl. Schiffbauer Rpfleger 1978, 397 (404). 36 Vgl. Wieser Rpfleger 1985,96 (97 f.); teilweise anders aber ders. in: ZZP 98,427 (437). Das Interesse des Schuldners sei zwar nicht völlig unerheblich, aber doch von geringerem Gewicht, denn der Schuldner könne die Zwangsversteigerung jederzeit durch freiwillige Leistung abwenden, wozu er sogar verpflichtet sei. Dieses Argument überzeugt nur wenig, denn der zahlungsunfähige Schuldner haftet zwar mit seinem ganzen Vermögen, muß eine Zwangsversteigerung nach dem Gesagten jedoch nur 33

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c) Rechtsfolge Es stellt sich nun noch die Frage, wie im Falle einer im voraus absehbaren Aussichtslosigkeit der Zwangsversteigerung zu verfahren ist. Diskutiert wird die Möglichkeit, auf Antrag des Schuldners nach § 765 a ZPO zu verfahren 37, das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses 38 und eine analoge Anwendung des § 803 Abs. 2 ZPO 3 9 . Unterschiede ergeben sich hier insofern, als nach der erstgenannten Auffassung ein Antrag des Schuldners erforderlich wäre, wohingegen bei den beiden letztgenannten Ansichten die Aussichtslosigkeit der Zwangsversteigerung von Amts wegen zu berücksichtigen wäre. Mit dem Erfordernis eines Antrages stellt es § 765 a ZPO dem Schuldner anheim, selbst darüber zu entscheiden, ob er zur Wahrung seiner Belange auf das Vollstreckungsverfahren Einfluß nehmen will 4 0 . Sind dagegen, wie hier, auch öffentliche Interessen berührt, dann kann der Schuldner über diese nicht verfügen. Ihr Schutz kann daher nicht von seinem Antrag abhängig gemacht werden 41. Für das Erkenntnis verfahren ist es deshalb auch anerkannt, daß niemand die Gerichte als Teil der Staatsgewalt unnütz bemühen darf. Anderenfalls fehlt einer Klage das Rechtsschutzbedürfnis 42. Gleiches muß für eine aussichtslose Zwangsversteigerung gelten. Der Antrag ist hier aus demselben Grund als ungeeignet von Amts wegen zurückzuweisen. Einer analogen Anwendung des § 803 Abs. 2 ZPO bedarf es daher nicht.

dulden, soweit sich diese Haftung realisieren läßt. Daß eine „freiwillige" Leistung des Schuldners mit Hilfe einer aussichtslosen Zwangsversteigerung erzwungen werden dürfe, nimmt auch Wieser nicht an (vgl. Wieser Rpfleger 1985, 96 (97); ZZP 98, 427 (437)). 37 Schiffbauer Rpfleger 1983,236 (239);